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Title: Peter Voß, der Millionendieb
Author: Seeliger, Ewald Gerhard
Language: German
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*** Start of this LibraryBlog Digital Book "Peter Voß, der Millionendieb" ***
MILLIONENDIEB ***



                              Peter Voß,
                           der Millionendieb

                                 Roman
                                  von
                        Ewald Gerhard Seeliger

                          16. bis 19. Tausend


                                 1913


                   Verlag Ullstein & Co, Berlin-Wien



            Alle Rechte, insbesondere das der Uebersetzung
             vorbehalten.--Copyright 1913 by Ullstein & Co



1.


In der Office der Bankfirma Stockes & Yarker in St. Louis war
Feierabend gemacht worden. Nur zwei elektrische Lampen brannten noch,
und zwar vor dem gewaltigen, sechstürigen Geldschrank, der in der Mitte
des größten Saales stand.

Jim Stockes, der Inhaber der Firma, und Peter Voß, sein erster
Kassierer und Buchhalter, saßen davor und schauten hinein und hatten
längst festgestellt, daß die zwei Millionen Dollar, die morgen an Dick
Patton, den Baumwollkönig von Missouri, gezahlt werden sollten, nicht
darin waren.

„Mr. Stockes, Sie sind ein Dieb!“ sagte Peter Voß mit der größten
Gemütsruhe, die ihm als amerikanisiertem Hamburger zur Verfügung stand,
und strich sich seinen braunen, halblangen, wohlgepflegten Vollbart.
„Sie haben innerhalb zweier Jahre zwei Millionen verspekuliert. Sie
haben die grundsolide Firma Stockes & Yarker darum bestohlen. Man
sollte Sie von Rechts wegen einsperren!“

Jim Stockes nickte zerknirscht. Er kannte Peter Voßens Sprechweise und
nahm keinen Anstoß mehr daran. Im übrigen hatte er bitter recht.

„Jede Ihrer Spekulationen, vor der ich Sie warnte,“ fuhr Peter Voß
unbeirrt fort, „ist mißglückt. Es wird Ihnen nichts übrig bleiben, als
die Depositen anzugreifen.“

„Niemals!“ rief Stockes und hob abwehrend die Hände. „Ich werde morgen
Konkurs anmelden und übermorgen eine Chance als Kornumstecher bei den
Elevatoren suchen. In ein paar Jahren bin ich wieder oben.“

Dabei hatte Mr. Stockes das fünfzigste Jahr bereits hinter sich. Aber
er war ein Amerikaner und obendrein ein Junggeselle.

„Mr. Stockes!“ sagte Peter Voß ganz ernst und dämpfte plötzlich seine
Stimme. „Sie werden morgen nicht Konkurs anmelden.“

„Sie wissen einen Ausweg!“ rief Jim Stockes ungläubig. „Ach, es gibt
keinen. Es ist ausgeschlossen. Die verdammten Kupferpapiere. Ja wenn
ich ein paar Monate Aufschub erlangen könnte. Sie steigen wieder, sie
müssen steigen, sonst geht die ganze Industrie zum Teufel. Aber Dick
Patton ist ein Dickkopf. Er wird es nicht einsehen. Ich sage Ihnen,
lieber Voß, ich bin fertig.“

„Da es keinen Ausweg gibt,“ sprach Peter Voß verschmitzt lächelnd,
„müssen wir einen machen. Bitte, schauen Sie in dieses Fach. Was
erblicken Sie? Vier Pakete zu je fünfhundert Tausend-Dollarnoten, also
in Summa zwei Millionen.“

„Damn!“ rief Jim Stockes und stürzte sich darauf. „Wie ist das möglich!“

„Pst!“ machte Peter Voß und vertrat ihm den Weg. „Bleiben Sie in
einiger Entfernung. Es könnte nämlich sehr leicht der Fall eintreten,
daß Sie nur den oberen Schein für echt ansehen, und das wäre mir sehr
fatal.“

„Ach!“ stöhnte Stockes und sank vernichtet in den Stuhl. „Jetzt können
Sie noch solche Scherze machen?“

„Sie müssen nämlich felsenfest davon überzeugt sein,“ fuhr Peter Voß
mit seinem ernsthaftesten Gesicht fort, „daß in diesem Schrank wirklich
zwei Millionen liegen, eben dieselben, mit denen Sie morgen Dick Patton
bezahlen wollen.“

„Ich bin überzeugt!“ seufzte Stockes achselzuckend.

„Und diese zwei Millionen Dollar werde ich Ihnen heute nacht stehlen!“
flüsterte Peter Voß mit triumphierender Miene. „Ich, Ihr Kassierer,
werde den Dieb spielen, um das Haus Stockes & Yarker vor dem Konkurs zu
retten.“

Jim Stockes starrte sprachlos in Peter Voßens übermütige Augen und
schüttelte den Kopf.

„Sie scheinen die Tragweite dieser überaus famosen Fiktion noch nicht
völlig zu übersehen,“ flüsterte Peter Voß wie ein Verschwörer. „Sie
gehen morgen zu Dick Patton und erzählen ihm meine nichtswürdige
Defraudation. Und was wird geschehen?“

„Er wird es nicht glauben!“

„Sie werden vorher den Diebstahl bei der Polizei anmelden und mir den
großen Bobby Dodd nachschicken.“

„Der kriegt Sie! Der kriegt Sie noch vor New York!“ rief Jim Stockes
erregt. „Bedenken Sie, welche Folgen das für mich haben kann. Und erst
für Sie!“

„Bobby Dodd kriegt mich nicht!“ behauptete Peter Voß keck.

„Er ist der geriebenste Detektiv von Nordamerika!“ stöhnte Stockes.
„Nehmen Sie lieber einen anderen.“

„Gerade der geriebenste muß es sein!“ lachte Peter Voß. „Der
berühmteste! Die allererste Kraft auf diesem Gebiet! Von dem die
Zeitungen am meisten schreiben! Verstehen Sie das nicht, Mr. Stockes?
Ueber Bobby Dodd veröffentlichen die Zeitungen spaltenlange Berichte,
sie bringen seine Photographie, sie loben ihn über den grünen Klee,
sie verhimmeln ihn. Wer schreibt die Berichte? Er selbst, oder die
von seinem Genie inspirierten Reporter. Er läßt es sich schweres Geld
kosten. Die Zeitungen machen nichts umsonst. Schön dumm wären sie.
Geschäft, Mr. Stockes! Er bezahlt nicht nur mit Geld, o nein, sondern
auch mit interessanten, pikanten Neuigkeiten. Für einen solchen Mann
gehen die Zeitungen durchs Feuer. Da sehen Sie, was er kann. Sein Ruhm
ist Papier.“

„Ja aber!“ rief Stockes außer sich. „Tatsache ist, daß er bis jetzt
jeden Verbrecher erwischt hat.“

„Steht in den Zeitungen!“ lächelte Peter Voß. „Ueber die, die er
nicht gekriegt hat, wird er schon nichts veröffentlichen lassen. Aber
zugegeben, er hat sie alle gekriegt! Diese Verbrecher standen eben
auch alle unter der Zeitungshypnose. Sie hielten ihren Verfolger für
einen Menschen mit höheren Fähigkeiten. Das machte sie unsicher.
Sie vertappten sich, und schon hatte er sie beim Wickel. Aber ich
garantiere Ihnen, daß Bobby Dodd nur ein ganz gewöhnlicher Mensch ist.
Nicht dumm, durchaus nicht, anständiger Durchschnitt, dafür ist er
Amerikaner, er versteht nicht nur bei den Zeitungen sein Geschäft zu
machen. Die Zeitungen aber dürfen sich nur für die gute Mittelmäßigkeit
begeistern. Das liegt in der Natur ihres Geschäfts. Ich gehe jede
Wette ein, daß ich Bobby Dodd ein ganzes Jahr an der Nase herumführe,
ohne daß er auch nur einen Rockzipfel von mir zu Gesicht bekommt.
Ein ganzes Jahr, Mr. Stockes, bis Ihre Kupferpapiere in die Höhe
geklettert sind! Denn ich stehe im Gegensatz zu Dick Patton nicht unter
Zeitungshypnose. Und eben deswegen muß es Bobby Dodd sein.“

„Das wollen Sie für mich tun?“ stöhnte Stockes auf und wischte sich den
Schweiß von der Stirn.

„Mr. Stockes!“ sagte Peter Voß einfach und strich sich durch das
braunlockige Haar. „Sie haben mich vor zwei Jahren drüben auf der St.
Louis Bridge festgehalten, als ich, vor Krankheit und Hunger schwach
und auch sonst total verzweifelt, in den Mississippi springen wollte.
Sie haben sich von mir zwei Ohrfeigen eingesteckt und doch nicht
losgelassen. Ohne Sie wäre ich heute ein toter Mann. Und das wäre mir
höchst unangenehm, besonders da ich seit acht Wochen sehr glücklich
verheiratet bin.“

„Aber Dick Patton!“ seufzte Jim Stockes.

„Wenn er überzeugt ist, daß ich Ihnen das Geld wirklich gestohlen habe,
wird er Ihnen Stundung gewähren, bis ich erwischt bin. Natürlich wird
er auf Bobby Dodd bestehen. Solange er noch die kleinste Hoffnung hat,
das Geld zu bekommen, muß er Stockes & Yarker halten, sonst wäre er ein
schlechter Kaufmann, und das ist er nicht. Wenn Sie aber morgen zu ihm
gehen und ihm Ihre verfehlten Spekulationen gestehen, wird er Sie ohne
Gnade und Barmherzigkeit fallen lassen, und froh sein, zehn Prozent aus
dem Konkurs zu fischen.“

„Aber Bobby Dodd!“ warf Stockes ein, schon halb für den mehr als
abenteuerlichen Plan gewonnen. „Sie unterschätzen den Mann wirklich.“

„Und Sie unterschätzen mich!“ lachte Peter Voß. „Bobby Dodd hat bei
all seinen bisherigen Jagden auf der Gegenseite immer einen guten
Verbündeten gehabt, das war das böse Gewissen. Bei mir fehlt es
vollständig. Ich besitze sogar einen Ueberfluß vom Gegenteil. Und
außerdem werde ich Ihnen jetzt ein Geständnis machen, Mr. Stockes.
Sie sind zwar kein richtiger Yankee, denn als solcher hätten Sie mich
damals ruhig ins Wasser springen lassen müssen. Aber ein smarter
Gentleman sind Sie doch, denn Sie haben mich Ihres höchsten Vertrauens
gewürdigt, ohne die geringste Neugier nach meinem Vorleben zu bekunden.
Und darüber sollen Sie jetzt das Nötigste erfahren, nur damit Sie
einsehen, daß ich mich vor zehn Bobby Dodds nicht zu fürchten brauche.
Ich bin nämlich ein Junge, der mit allen Hunden gehetzt ist, obschon
ich sehr gewöhnlich aussehe. Mit meinem Allerweltsgesicht kann ich in
jede Maske hineinkriechen. Jawohl, auch Schauspieler bin ich gewesen,
auf einer ungarischen Schmiere. Bis zu meinem siebenten Jahr war
ich bei meinen Eltern. Mein Vater war ein höherer Medizinalbeamter
in Hamburg. Im Cholerajahr starb er, ebenso meine Mutter. Ich kam
dann zu meinem Onkel nach Strienau, einer Mittelstadt an der Oder in
Schlesien. Mein Onkel war dort Amtsrichter, ein ganz gescheiter und
anständiger Kerl. Nur mit seinen Erziehungsgrundsätzen war ich nicht
ganz einverstanden. Anstatt in die Obersekunda zu gehen, lief ich nach
Hamburg, kroch in den Kohlenraum eines englischen Trampdampfers und
kam erst im Atlantik an Deck. Erst gab’s was zu essen, dann Prügel.
Aber ich hatte meinen Willen durchgesetzt. Acht Jahre habe ich mich so
in der Welt herumgetrieben, als Stiefelputzer und Kameltreiber, als
Kellner und Bierkutscher, als Polizeimann und Tramp. Ich war Cowboy
in Texas und Heizer auf einem Mississippiboot. In Frisco habe ich
Kisten genagelt, und in New York bin ich als Sandwichman herumgelaufen.
Zwischendurch war ich immer wieder an Bord, auf See, als Matrose,
als Steward, als Kohlenzieher und sogar als Zahlmeister. Ich habe in
China Opium geschmuggelt und war in Odessa Krankenwärter in einer
Cholerabaracke. In Iquique lag ich drei Tage in Eisen, weil ich dem
englischen Kapitän den Pott mit den madigen Bohnen an den Kopf geworfen
hatte. Das war Meuterei. Am vierten Tag war ich draußen, und in der
Mauer des Gefängnisses war ein großes Loch. Ich spreche und schreibe
vier Sprachen und kann mich außerdem in einem halben Dutzend ganz
passabel verständigen. Ich habe in Chicago als Großreeder Konkurs
gemacht und in Key West ein Vermögen verspielt. Bis ich schließlich auf
die St. Louis Bridge ging. Und das übrige wissen Sie.“

„Aber wie kamen Sie auf die Brücke?“ rief Jim Stockes erstaunt. „Ein
Mensch von Ihren Fähigkeiten!“

„Die Liebe ist eine schwere geistige Krankheit!“ sagte Peter Voß
beinahe ernst. „Damals wollte Polly nichts von mir wissen. Erst als ich
Ihr Buchhalter wurde, hat sie sich mit mir verheiraten wollen.“

„Und wenn er Sie trotz alledem erwischt?“ rief Stockes.

„Dann werde ich die erste Gelegenheit benutzen, ihm wieder
auszukneifen,“ erwiderte Peter Voß siegesgewiß.

„Aber bedenken Sie, den Zufall haben Sie nicht in der Gewalt!“ warnte
Jim Stockes. „Angenommen, er bringt Sie hierher zurück und stellt Sie
vor den Strafrichter. Dann werde ich als Betrüger entlarvt.“

„I wo!“ lachte Peter Voß gerade heraus. „Ich nehme den ganzen Trick
auf meine eigene Rechnung. Denn woher wissen Sie denn den Stand Ihrer
Firma? Aus den Büchern, die ich führe. Wenn ich nun diese Bücher schon
seit zwei Jahren systematisch gefälscht hätte zugunsten der Firma! Wie
sieht dann die Sache aus? Ich habe den ganzen Schwindel ohne Ihr Wissen
eingefädelt, um die Firma Stockes & Yarker zu retten. Und wenn Sie mir
dann den besten Anwalt besorgen, rechne ich sogar auf einen Freispruch
mit auffälliger Rührung im Zuhörerraum.“

„Damned!“ stieß Jim Stockes zwischen den Zähnen hervor. „Sie sind ein
dreimal verteufelter Kerl. Ihr Deutschen seid uns Yankees über, ihr
habt mehr Phantasie. Wenn Sie Ihren Hals für mich in die Schlinge
stecken wollen, dann sehe ich nicht ein, was mich davon zurückhalten
sollte, es ebenfalls zu tun. Ich werde morgen Dick Patton breitreden
wie einen Pfannkuchen.“

„Großartig!“ rief Peter Voß vergnügt, umarmte ihn und klopfte ihm
ermunternd auf den Rücken. „So gefallen Sie mir, Mr. Stockes. In
spätestens zwei Jahren haben wir die Firma saniert. Dann bringe ich
Ihnen als reuevolles Schaf die zwei Millionen zurück.“

„He!“ machte Mr. Stockes überrascht und schnappte nach Luft. „Wozu das?“

„Na!“ lächelte Peter Voß und tippte sich an die Stirn. „Meinen Sie
vielleicht, daß ich auch nur eine Minute länger als Millionendieb in
der Welt herumrasen will, als es unbedingt nötig ist? Im Gegenteil, ich
will rehabilitiert werden. Ich bringe das Geld zurück und stelle mich
den Richtern. Wenn sie mich auch nicht freisprechen, ich bin doch der
Held des Tages.“

„Ja, aber!“ rief Stockes verzweifelt. „Dann kommt ja der Schwindel
heraus. Die zwei Millionen existieren doch gar nicht.“

„Aber sie existieren in Ihrer Einbildungskraft, Mr. Stockes,“ beruhigte
ihn Peter Voß. „Ich bin Ihr Kassierer und habe Sie getäuscht. Ich
habe falsche Bilanzen gemacht. Das wirft kein schlechtes Licht auf
Sie. Sie haben mir eben vertraut. Die Bücher werde ich sofort in
Ordnung bringen. Was wollen Sie? Ich gestehe diese Fälschungen vor
Gericht ruhig ein, ich gebe zu, daß ich Ihnen mit den zwei Millionen
im Geldschrank einen blauen Dunst vorgemacht habe, um Sie, meinen
Lebensretter, zu retten. Ich breche damit jeden Kassiererrekord. Man
wird sich um mich reißen, auch wenn ich ein paar Monate ins Gefängnis
marschieren muß. Und dann denken Sie an die kolossale Reklame für die
Firma Stockes & Yarker.“

„Voß!“ keuchte Stockes, außer sich vor diesen sich stetig überbietenden
Kühnheiten seines Kassierers. „Voß, in Gottes Namen, ich gebe mich in
Ihre Hände. Tun Sie, was Sie wollen. Sie sind mir über! Ich bin mit
allem einverstanden. Das eine aber sage ich Ihnen! Besteht die Firma
noch in zwei Jahren, dann wird sie heißen: Voß, Stockes & Yarker!“

„Topp!“ sagte Peter Voß und schlug ein. „Ich nehme an. Schon um die
Firma in der Folgezeit vor Ihren tollen Spekulationen zu schützen. Da
werde ich Ihnen nämlich einen großen Riegel vorschieben.“

„Schieben Sie, schieben Sie!“ rief Jim Stockes glücklich und umarmte
ihn. „Bei Ihnen darf ich ruhig in die Schule gehen, ohne daß sich meine
grauen Haare darüber ärgern.“

Peter Voß reichte ihm Hut und Stock.

„Gehen Sie, sonst versäumen Sie den Klub. Sie können Dick Patton
ein bißchen vorbereiten. Aber Vorsicht! Der Mann ist so scheu, wie
er dick ist. Inzwischen werde ich die Bücher berichtigen. Ich werde
dafür sorgen, daß von morgen ab kein Mensch, der in diese Bücher
gesehen hat, daran zweifelt, daß heute abend in diesem Fach wirklich
zweitausend Mille gelegen haben. Es wird später im Prozeß sonnenklar
daraus hervorgehen, daß ich diese Fälschungen schon seit zwei Jahren
betrieben habe, um die Verluste, die Ihre Spekulationen verursacht
haben, zugunsten der Firma zu verschleiern. Denn nun kann ich es
Ihnen gestehen, auch ich glaube an die Kupferpapiere. Nur muß man es
aushalten können. Und darum stehle ich Ihnen auch die beiden Millionen,
die gar nicht vorhanden sind. Vor Mitternacht empfehle ich mich dann.
Es steht Ihnen frei, nach dem Klub noch einmal hierher zu kommen.“

„Wohin wollen Sie?“

„Nach Deutschland. Ich habe etwas Heimweh. Ich will meinem Onkel einmal
Guten Tag sagen. Vielleicht ist er schon preußischer Justizminister.
Denn gestrebt hat er immer. Und nun noch eins, und das ist sehr
wichtig. Ich muß leider meine kleine Frau unaufgeklärt zurücklassen.
Führe ich jetzt zu ihr hinaus und enthüllte ihr den famosen Plan,
sie würde mich unter keiner Bedingung weglassen. Sie würde vielmehr
siebenunddreißig Aerzte herbeitelephonieren und mich von ihnen
auf meine Nerven untersuchen lassen. Und gelänge es mir auch, sie
schließlich zur Einsicht zu bringen, würde ich meinen Vorsprung
verlieren, den ich unbedingt haben muß. Denn heute ist der letzte
Termin. Auch würde sie mich dann keinesfalls allein reisen lassen. Aber
dann hätte mich Dodd sicher schon in Pittsburg beim Kragen. Sie werden
einsehen, daß ein Defraudant nicht mit seiner Frau fliehen kann, selbst
wenn er sie noch so sehr liebt.“

„Goddam!“ erwiderte Stockes betroffen. „Das stimmt. Sie denken aber
auch an alles.“

„Mr. Stockes, Sie übernehmen es wohl, ihr reinen Wein einzuschenken.
Sonst hält sie mich am Ende gar für einen richtigen Dieb, und das wäre
mir schon aus dem Grunde ärgerlich, weil ich sie später, wenn die Luft
rein ist, nachkommen lassen will. Vor allen Dingen, Mr. Stockes, nichts
schriftlich, und auch nichts durchs Telephon. Nur mündlich und ohne
Zeugen. Man kann gerade darin nicht vorsichtig genug sein.“

„Und wenn wir nun hier belauscht worden sind?“

„Da kennen Sie Peter Voßen schlecht!“ lachte er leise, schlug das
Hauptbuch auf und fuhr mit der Feder ins Tintenfaß.

Jim Stockes trat zwanzig Minuten später in den Exzelsiorklub. Da saßen
schon Dick Patton, sein Millionengläubiger, Reginald Splarks, der
allmächtige Getreidehändler, und Merrymann Peacock, der Direktor des
Tabaktrustes, an einem runden Tische und winkten mit den Pokerkarten.
Stockes nahm Platz und spielte sehr vorsichtig.

„Mr. Stockes hat keinen Mut!“ schnaubte Dick Patton.

„Ich habe morgen zweitausend Mille zu bezahlen!“ knurrte Stockes.
„So etwas greift an. Ich habe sie eben mit meinem Kassierer zusammen
abgezählt und in den Geldschrank gelegt.“

„Blödsinn!“ knurrte Splarks. „Man legt keine zweitausend Mille in
seinen Geldschrank.“

„Sie vergessen,“ bemerkte Jim Stockes etwas von oben herab, „daß die
Firma Stockes & Yarker keine Bank nötig hat, da sie selber eine ist.
Bei Ihnen mag das anders sein.“

„Gut gegeben!“ lachte Peacock schallend auf.

„Hätten Sie nur das Geld gleich mitgebracht!“ schnaufte Dick Patton.

„Ich pflege niemals vor dem Termin zu bezahlen,“ erklärte Jim Stockes
kühl.

„Ich halte!“ schrie Peacock. „Und wer noch einmal von Geschäften
spricht, zahlt hundert Dollar in die Pinke.“

So pokerten sie, bis sie sich wie immer um elf Uhr trennten.

Jim Stockes fuhr noch einmal in seine Office. Es fiel das nicht weiter
auf, weil er gewohnt war, abwechselnd mit Peter Voß den elektrischen
Lärmapparat zu kontrollieren, der seinen Riesengeldschrank mit der
Wache der Schließgesellschaft verband, deren Wächter eben die Straße
hinabpatrouillierte. Die beiden elektrischen Birnen brannten noch immer
vor dem Geldschrank. Man pflegte sie der Sicherheit halber die ganze
Nacht brennen zu lassen.

Irgendwo im Dunkeln stand Peter Voß. Die Bücher waren in Ordnung.

„Allright!“ flüsterte er. „Leben Sie wohl, Mr. Stockes, und fallen
Sie nicht aus der Rolle. Morgen um neun benachrichtigen Sie die
Kriminalpolizei von dem Diebstahl und engagieren Bobby Dodd. Dann gehen
Sie zu Dick Patton. Haben Sie ihn im Klub getroffen?“

„Ich denke,“ nickte Mr. Stockes, „er wird mit sich reden lassen.“

„Hab ich es Ihnen nicht gleich gesagt?“ triumphierte Peter Voß. „Dann
aber fahren Sie sofort zu meiner Frau. Sie wird heute nacht kein
Auge zutun. Es hat absolut keine Gefahr, sie einzuweihen. Vor der
vollendeten Tatsache wird sie schon die Segel streichen. Denn sie ist
nicht nur die hübscheste, sondern auch die gescheiteste Amerikanerin
zwischen New York und Frisco. Und nun, fort mit Ihnen! Geben Sie dem
Wächter draußen ein Trinkgeld, daß er mich auch hier herauskommen
sieht. Sie haben mich natürlich nicht angetroffen. Offiziell tauche ich
erst kurz nach Ihnen hier in der Office auf.“

„Alles Glück!“ stöhnte Jim Stockes, preßte ihm die rechte Hand fast
entzwei und ging, indem er alle Schlösser von draußen zusperrte. Im
gemächlichen Tempo führte ihn sein Automobil über den glatten Asphalt.
Am oberen Ende der Straße traf er den Wächter und drückte ihm fünf
Dollar in die Hand.

Der Mann verstand, grüßte dankend und stiefelte die leere Straße
hinunter. Vor der Office Stockes & Yarker nahm er Aufstellung.

Es dauerte gar nicht lange, so wurden drinnen einige Schlösser
geöffnet, die Tür sprang auf, und der Wächter griff zu.

„Nanu, was fällt Euch ein!“ rief der vermeintliche Dieb und stieß ihn
mit der kleinen, gelben, ledernen Handtasche kräftig vor den Bauch.
„Seht Euch doch erst die Leute an!“

„Mr. Voß!“ rief der Wächter ganz verdutzt und löste den Klammergriff.
„Entschuldigen Sie nur die Uebereilung.“

„Macht nichts, guter Freund!“ erwiderte Peter Voß vergnügt und gab ihm
eine Zigarette. „Ihr habt nur Eure Pflicht getan. Ihr konntet nicht
wissen, daß ich heute noch so spät den Lärmapparat kontrollieren würde,
zumal soeben Mr. Stockes selbst hier gewesen ist.“

„Aber wie können Sie wissen, daß er dagewesen ist?“ fragte der Wächter
und blieb stehen.

„Aus dem Kontrollbuch!“ erklärte Peter Voß seelenruhig. „Es hängt neben
dem Apparat.“

„Darf ich Ihnen behilflich sein?“ fragte der Wächter, um seine
Unhöflichkeit wieder gut zu machen.

„Bitte sehr!“ sagte Peter Voß, überließ ihm gnädigst die Handtasche und
steckte sich eine Zigarette an.

Da kam hinter ihnen ein gelbes Automobil angetöfft. Es hatte die Nummer
1177.

„Eine Zahl, die sich leicht merken läßt!“ meinte Peter Voß und winkte
dem Chauffeur.

Das Auto hielt. Der Wächter riß diensteifrig den Schlag auf und reichte
Peter Voß die Handtasche hinein.

„Haben Sie auch genug Benzin?“ fragte er den Chauffeur, der den Motor
nicht erst abgestellt hatte.

„Eben aufgefüllt!“ erwiderte der. „Wohin wünscht der Herr zu fahren?“

„St. Louis Bridge!“ kommandierte Peter Voß und griff an den Hut, um
sich von dem Wächter zu verabschieden.

Der stand auf dem Kantstein und zog höflich die Mütze. Gleich darauf
verschwand das gelbe Auto mit Peter Voß um die nächste Ecke. Das
letzte, was der Wächter sah, war die hellerleuchtete Nummer.

„1177!“ sagte er zu sich. „Das ist wirklich eine Zahl, die man nicht so
leicht vergißt.“

Dann trabte er zufrieden die Straße wieder hinunter.



2.


Am nächsten Morgen trat Jim Stockes pünktlich um neun Uhr aus seinem
Privatkontor in den großen Officesaal und fragte nach Peter Voß. Sein
Platz war leer.

„Die Schlüssel stecken!“ rief Stockes und runzelte die Stirn. „Der
Schrank ist offen! Und Mr. Voß nicht da?“

Der zweite Kassierer bekam es mit der Angst. Jim Stockes war mit einem
langen Sprunge beim Schrank, riß die Flügeltüren der Hauptabteilung auf
und erbleichte! Sämtliche Fächer waren offen, und das mittelste war
leer.

„Ich bin bestohlen worden!“ sagte er dann ganz ruhig, aber man merkte
der Stimme die namenlose Aufregung an, in der er sich befand. „Meine
Herren, man hat mich heute nacht um zwei Millionen Dollar bestohlen!“

„Er ist durchgebrannt!“ entschlüpfte es dem Prokuristen, einem älteren
Herrn, der der Korrespondenzabteilung vorstand.

„Was wagen Sie da zu sagen!“ schrie ihn Stockes an, krebsrot vor Wut.
„Mr. Voß ist ein Gentleman vom Scheitel bis zur Sohle. Sie alle können
sich an ihm ein Muster nehmen.“

Da klingelte das Telephon wie besessen. Am andern Ende rang Frau Polly
Voß verzweiflungsvoll die Hände. Ihr Mann war die ganze Nacht nicht
heimgekommen. Mit schluchzender Stimme fragte sie an, ob er in der
Office sei.

„Bedaure!“ antwortete der Prokurist. „Er ist noch nicht hier
eingetroffen.“

„Mr. Voß war diese Nacht nicht in seiner Wohnung!“ meldete er dann mit
innerer und äußerer Genugtuung seinem Chef.

Der sank auf einen Stuhl und wischte sich mechanisch die Stirn. Er war
anscheinend mit seiner Kraft zu Ende. Kein Wunder, denn er hatte diese
Nacht ebensowenig wie Polly Voß ein Auge geschlossen.

„Die Polizei!“ stöhnte er auf. „Zwei Kommissare sollen kommen, das
Protokoll aufzunehmen. Bobby Dodd soll kommen. Ich zahle ihm jedes
Honorar, wenn er den Dieb erwischt.“

Dann schloß er die Augen. Die Angestellten, die in aufgeregten Gruppen
miteinander flüsterten, bedauerten ihn aufs tiefste. Der Prokurist
telephonierte an die Polizei.

Da stürzte der Wächter der Schließgesellschaft herein. Der Lärmapparat
war nicht abgestellt worden. Der zweite Kassierer erzählte ihm, was
heute nacht geschehen war. Der Wächter prallte zurück.

„Mr. Voß!“ schrie er. „Um Mitternacht ist er hier gewesen. Ich habe ihm
sogar die Tasche getragen. Er ist in ein gelbes Automobil gestiegen. Es
hatte die Nummer 1177.“

Jetzt lachte Jim Stockes so laut, daß alle erschraken.

Er schnappt über! dachte der Prokurist.

Aber Stockes schnappte nicht über. Er erholte sich allmählich von
seinem Lachen, bot aber noch immer ein Bild vollkommenster Verzweiflung.

„Warten Sie hier auf die Polizei!“ befahl er dem Wächter; dann wandte
er sich an den Prokuristen: „Fahren Sie zu Mr. Patton und teilen
Sie ihm mit, was hier vor sich gegangen ist. Sobald das Protokoll
aufgenommen ist, werde ich selbst zu ihm kommen.“

Der Prokurist eilte davon. Stockes blieb sitzen, wo er saß, und
schüttelte nur zuweilen sein graues Haupt.

Zehn Minuten später traten zwei Polizeikommissare herein, um das
Protokoll aufzunehmen.

Der Wächter machte seine Aussagen. Als er bei der gelben Handtasche
angelangt war, warf ihm Stockes einen vernichtenden Blick zu.

Und dann kam Bobby Dodd, der große Bobby, wie man ihn in St. Louis
mit Vorliebe nannte. Er war ein smarter Gentleman, sonst war
nichts Besonderes an ihm. Sein glattrasiertes Gesicht wußte er zu
beherrschen. Seine grauen Augen waren lauernd.

Die beiden Polizeikommissare begrüßten ihren berühmten Kollegen mit
vorzüglicher Hochachtung.

Er prüfte das Protokoll sehr flüchtig, schaute etwas länger in die
Bücher hinein, ohne Peter Voßens raffinierte Fälschungen zu entdecken,
und prüfte die Löschblätter vergeblich nach Fingerabdrücken. Dem
Geldschrank schenkte er kaum einen Blick.

„Mr. Stockes, Sie haben mich rufen lassen,“ sagte er dann kurz und
verbindlich. „Ich habe seit einigen Tagen mein Verhältnis zu der
Behörde gelöst. Das heißt, wenn ich eine Sache in die Hand nehme, wird
sich die Behörde damit begnügen, mich zu unterstützen. Ueber die Höhe
des Honorars werden wir uns verständigen, wenn ich den Dieb abliefere.“

„Es ist mir weniger um den Dieb, als um das Geld zu tun,“ warf Jim
Stockes ein.

„Er wird das Geld nicht gestohlen haben, um es in den Mississippi zu
werfen!“ lächelte Doddy verbindlich. „Ich bringe Ihnen natürlich den
Dieb und das Geld.“

„Und Sie werden ihn erwischen?“ fragte Stockes schweratmend.

„Well, ich hoffe es!“ sagte Dodd einfach. „Er müßte denn auf den Mond
auskneifen. Hat dieser Peter Voß Verwandte?“

„Eine junge Frau!“ erwiderte der zweite Kassierer, seinem Chef
zuvorkommend. „Sie hat uns soeben nach dem Verbleib ihres Mannes
antelephoniert.“

„Sehr gut!“ sagte Dodd und zog sich die Handschuhe aus. „Ich bitte um
ihre Adresse.“

Er notierte sich die Wohnung, wandte sich an den Wächter und ließ sich
von ihm die Vorgänge der vergangenen Nacht ganz genau erzählen. Dann
verlangte er einen Zirkel. Mit diesem schritt er zu der Karte der
Vereinigten Staaten von Nordamerika, die an der Wand hing, maß eine
bestimmte Entfernung in Kilometern ab und schlug einen Kreis mit St.
Louis als Mittelpunkt.

„Diese Linie hat das gelbe Automobil 1177 bei Tagesanbruch erreicht,“
belehrte er die beiden Polizeibeamten. „Telegraphieren Sie sofort an
alle Stationen, die dicht bei diesem Strich liegen. Daß der Defraudant
die St. Louis Bridge als Ziel angegeben hat, ist nur ein Trick von ihm,
um uns weiszumachen, er wäre nach New York durchgebrannt.“

Die Polizeibeamten schrieben sich eiligst die Namen der betreffenden
Städte auf. Bobby Dodd verfaßte inzwischen eine Notiz, die er den
Polizisten überreichte.

„Vervielfältigen und an die Zeitungen geben!“ befahl er kurz. „Sobald
sich etwas meldet, benachrichtigen Sie mich nach dieser Adresse.“

Damit wies er ihnen das Blatt, auf dem Polly Voßens Adresse stand, die
sie gleichfalls notierten.

Während die beiden Polizeibeamten davoneilten und Dodd selbst mit der
höchsten Geschwindigkeit seiner Maschine nach dem kleinen Landhaus
hinter dem Carondelet-Park sauste, wo Polly, noch immer in Tränen
aufgelöst, auf die Heimkehr ihres Mannes wartete, trat Jim Stockes in
das Privatkontor Dick Pattons.

„Stockes, Stockes!“ empfing ihn der dicke Baumwollkönig und wankte
mit wuchtigen Schritten auf ihn zu. „Das ist ja eine gottsverdammte
Geschichte. Was machen wir nun?“

„Ich mache Bankrott!“ sagte Stockes gebrochen.

Da faßte ihn Dick Patton am obersten Westenknopf und schrie ihn an:
„Und meine zwei Millionen? Ich brauche sie. Ich habe damit gerechnet.“

„Es tut mir leid,“ seufzte Stockes ergeben. „Gegen durchgehende
Kassierer gibt es keine Versicherung.“

„Well, setzen wir uns!“ stöhnte Dick Patton auf. „Sie werden nicht
Bankrott machen. Ich werde Ihnen die Zahlung stunden, bis der Schurke
erwischt ist. Ich stelle aber die Bedingung, daß Sie ihm Bobby Dodd
nachschicken.“

„Ist bereits geschehen.“

„Sehr gut! Er wird ihn kriegen, und Sie werden mir dann zahlen.“

„Und wenn er ihn nicht kriegt?“

„Ausgeschlossen! Aber gut, setzen wir den Fall. Dann zahlen Sie, wann
Sie können.“

„Ich werde nicht zahlen können, Mr. Patton. Ich werde meine Office
zumachen müssen. Ich habe mich an Kupferaktien überkauft; diese Papiere
sind die einzige Sicherheit, die ich bieten kann.“

„Danke sehr! Ich nehme sie nicht geschenkt.“

„Sie werden wieder in die Höhe klettern, sonst geht die ganze Industrie
zum Teufel.“

„Mag sie!“

„Also werde ich Konkurs anmelden.“

„Der Teufel soll Sie holen!“ schrie Dick Patton, erbost über diese
Hartnäckigkeit. „Meinen Sie, ich will meine zwei Millionen verlieren?
So dick habe ich sie nicht sitzen. So wahr ich Dick Patton heiße, ich
lasse Sie nicht fallen! Sie sitzen mit mir an einem Klubtisch. Sie
werden sich durchbeißen. Wieviel brauchen Sie?“

„Ich will es versuchen!“ erwiderte Stockes bekümmert.

Dann machten sie einen Vertrag, wodurch Dick Patton zu einem Drittel in
die Firma Stockes & Yarker zu sitzen kam, ohne daß es jemand erfuhr.
Jim Stockes empfahl sich, kaum daß er dankte.

„Das Schlimmste ist überstanden!“ seufzte er erleichtert auf, als er
wieder in seinem Wagen saß, um nach dem kleinen Landhaus hinter dem
Carondelet-Park zu fahren. „Jetzt muß ich nur noch Mrs. Voß aufklären.“

Aber Bobby Dodd war längst bei ihr. Unter strömenden Tränen hatte
sie ihn empfangen. Dodd war von ihrer großen Schönheit überrascht.
Er erkannte sofort, sie hatte keinen Anteil an dem Verbrechen ihres
Mannes. Und da Dodd ein Gentleman war, empfand er es als eine
Notwendigkeit, ihr die furchtbare Sache so schonend wie möglich
mitzuteilen.

„Mrs. Voß!“ begann er. „Meine Zeit ist kostbar. Sie werden begreifen,
daß ich keine Umschweife mache. Mr. Voß steht in dem Verdacht, heute
nacht der Firma Stockes & Yarker zwei Millionen Dollar gestohlen und
damit das Weite gesucht zu haben.“

Wie geistesabwesend starrte sie ihn an, dann schrie sie auf: „Nein,
nein! Das ist unmöglich. Mein Mann hat das nicht getan. Niemals!“

„Well!“ sagte Dodd mitleidig. „Ich bin derselben Ansicht. Er hat es
sicher nur in einem Anfall von Geistesstörung getan. Er war in der
letzten Zeit sehr nervös, wie in der Office festgestellt worden ist.
Sie werden mir das gewiß bestätigen können.“

Polly nickte unter fortwährendem Schluchzen.

„Mir ist der Auftrag geworden, das Geld wieder herbeizuschaffen. Nur
darum ist es mir zu tun, nicht um die Bestrafung Ihres Mannes.“

„Ach!“ seufzte sie aus tiefstem Herzensgrunde. „Er hat es sicher nicht
getan. Es muß ein Irrtum vorliegen.“

„Ein Irrtum ist ausgeschlossen!“ sagte er mit lebhaftem Bedauern in der
Stimme und schaute ihr dabei tief in die hellgrauen Augen, die sie groß
und erschreckt auf ihn gerichtet hielt.

„Entsetzlich!“ stöhnte sie auf und warf sich schluchzend mit dem
Gesicht in die Kissen des Diwans.

„Mrs. Voß!“ beruhigte er sie und berührte sie leise an den zuckenden
Schultern. „Die Sache ist gar nicht so schlimm, wie sie aussieht. Ich
mache Ihnen folgenden Vorschlag: Wir versuchen Mr. Voß zu finden,
überreden ihn im guten, das Geld herauszugeben, und schicken ihn auf
ein paar Wochen ins Sanatorium. Dort pflegen Sie ihn wieder gesund.
Irgend welche gerichtliche Folgen hat die Sache dann nicht. Darauf gebe
ich Ihnen mein Ehrenwort. Nur im Falle er die zwei Millionen nicht
herausgeben will, müßte ich zu stärkeren Mitteln greifen. Aber ich
hoffe, wenn Sie mich begleiten, wird es nicht nötig sein.“

Polly hörte auf zu schluchzen und richtete sich auf. Dodds sanfte,
fast zärtliche Stimme hatte sie aus ihrer Verzweiflung gerissen. Sie
schöpfte Hoffnung. Es war ja gar nicht anders denkbar! Peter Voß konnte
das Geld nur in einem Zustand augenblicklicher Zerstreutheit genommen
haben.

„Wo ist er?“ fragte sie und strich sich die blonden Locken aus der
zarten, faltenlosen Stirn. „Führen Sie mich zu ihm.“

„Das wird etwas umständlich sein,“ sagte Dodd erfreut, daß sie auf
seinen Vorschlag so bereitwillig einging, „aber wir werden ihn schon
finden. Ich denke, in spätestens einer halben Stunde die Route seiner
Flucht unzweifelhaft feststellen zu können. Ich will es Ihnen auch
gestehen, daß mein Vorschlag auch auf einem guten Teil Eigennutz
beruht. Ich kenne Mr. Voß nicht, Sie aber kennen ihn.“

„Hier ist sein Bild!“ sagte sie und reichte ihm eine Photographie,
dann sank sie wieder auf den Diwan, schlug ihre Hände vors Gesicht und
schluchzte: „O Peter, Peter, daß du mir so etwas antun konntest! Ist
das deine Liebe?!“

„Fassen Sie sich!“ beruhigte Dodd sie und betrachtete aufmerksam die
Photographie. „Ein hochintelligentes Gesicht! Wir werden unsere liebe
Not mit ihm haben. Den Vollbart wird er sich natürlich abnehmen
lassen. Und dann werde ich ihn überhaupt nicht erkennen können. Aber
bei Ihnen, Mrs. Voß, ist das anders. Sie werden ihn sicher auch ohne
Bart erkennen.“

„Unter Tausenden würde ich ihn herauskennen!“ rief sie und sprang auf.

Da pochte es an die Tür, und der eine der beiden Polizeibeamten trat
herein. Polly prallte vor der Uniform förmlich zurück.

„Das gelbe Automobil 1177 ist vor zwei Stunden in Louisville gewesen!“
meldete er Dodd.

„Also doch New York!“ flüsterte er überrascht. „Wir haben es entweder
mit einem harmlosen Anfänger oder mit einem total Verrückten zu tun.“

„Das Auto kann gegen Mittag in Cincinnati sein,“ sagte der Polizist.
„Sollen wir es anhalten und den Mann verhaften lassen?“

„Nein!“ rief Polly außer sich. „Nicht verhaften! Keine Polizei!“

Dodd sann ein paar Augenblicke nach.

„Nein!“ sagte er dann zu dem Polizeibeamten. „Ich werde selbst die
Verfolgung aufnehmen. Telegraphieren Sie nach Cincinnati, daß man das
gelbe Automobil ganz genau beobachten soll, falls es eintrifft. Ich
werde mir dort selbst die Auskunft holen. Und dann bestellen Sie
sofort bei William Webster & Son den größten und schnellsten Wagen mit
den beiden zuverlässigsten Chauffeuren. In wieviel Minuten können Sie
reisefertig sein?“ wandte er sich an Polly.

„Sofort!“ rief sie und lief ins Nebenzimmer, um sich anzukleiden.

„Bestellen Sie den Wagen telephonisch für mich!“ sagte Dodd zu
dem Polizisten und wies auf das Telephon, das draußen im Hausflur
angebracht war. „In einer Viertelstunde muß er da sein.“

Während der Beamte sich mit der großen Automobilfabrik von William
Webster & Son verbinden ließ, durchsuchte Dodd den Schreibtisch
Peter Voßens. Und wie konnte Dodd suchen! Es war ein Vergnügen, ihm
zuzusehen. Plötzlich leuchteten seine Augen auf. Er hatte einen
deutschen Militärpaß gefunden, der das genaue Signalement des
Flüchtlings enthielt. Schnell warf er einige Zeilen auf ein Papier und
drückte es nebst dem Paß dem Polizisten in die Hand.

„Das ist der Steckbrief. Schnell fort damit. Die Photographie hat
keinen Zweck. Sie verwirrt nur. Er hat sich sicher den Bart abnehmen
lassen. Und ja nicht vergessen, nach Cincinnati zu telegraphieren.“

Der Beamte verschwand, Dodd suchte weiter. Besonders die Löschblätter
der Schreibmappe und den Papierkorb durchstöberte er mit staunenswerter
Sachkenntnis und Geschwindigkeit. Aber er fand keinen Fingerabdruck.

Auch gut! dachte er, gab das Suchen auf und schritt nachdenklich im
Zimmer auf und ab.

Er fühlte nur den Beruf in sich, die zwei Millionen wieder
herbeizuschaffen, und zwar möglichst ohne Mrs. Voß zu kränken, die
einen tiefen Eindruck auf ihn gemacht hatte. Doch nicht nur sein
Mitleid mit ihr, auch sein Gerechtigkeitsgefühl sträubte sich dagegen,
Peter Voß wie einen gemeinen Verbrecher zu behandeln. Ein Mann, der von
einem solch entzückenden, unschuldigen Wesen geliebt wurde, war kein
gewöhnlicher Defraudant, ein solcher Mann konnte den Diebstahl wirklich
nur in einem Anfalle von geistiger Störung begangen haben. Außerdem
hatte Dodd als Privatdetektiv den brennenden Ehrgeiz, auf eigene Faust,
möglichst ohne die Mitwirkung der öffentlichen Organe, seine Aufgaben
zu lösen.

Das war auch letzten Endes der Grund gewesen, warum er dem öffentlichen
Sicherheitsdienst den Rücken gewandt hatte. Für ihn kam die Polizei nur
noch als Ermittelungsinstrument in Betracht.

Der Fall Peter Voß lag sonnenklar. Er hatte sich in das gelbe Automobil
1177 gesetzt. Dieses Auto war in Louisville gesehen worden.

Da trat der andere Polizeibeamte herein und berichtete von den weiteren
Nachforschungen, die man inzwischen in Louisville angestellt hatte.

„Der Mann ist um sieben Uhr vor dem Bristol-Hotel abgestiegen. Er hatte
einen dunkelblonden Vollbart.“

Dodd lächelte. Welch ein Stümper von Defraudant! Dieser Peter Voß
konnte unmöglich normal sein.

„Wo hatte er die Handtasche?“ forschte er.

„Eine Handtasche hatte er gar nicht bei sich. Er machte ein sehr
vergnügtes Gesicht und trank Champagner. Beim Wirt erkundigte er sich
nach dem Weg nach Cincinnati.“

„Ich habe schon Anweisung gegeben, nach Cincinnati zu telegraphieren!“
sprach Dodd ruhig. „Das Auto soll beobachtet, aber nicht angehalten
werden. Wir haben es mit einem Geisteskranken zu tun. Er hat das Geld
offenbar versteckt, darum darf er nicht verhaftet werden. Wie leicht
kann er bei der Verhaftung seinen Verstand völlig verlieren, und dann
sind die zwei Millionen unauffindbar. Oder der Schlag kann ihn treffen.
Was noch schlimmer wäre! Die Sache muß mit der allergrößten Vorsicht
angefaßt werden.“

Auch der zweite Beamte verschwand, indem er seinen großen Kollegen
uneingeschränkt bewunderte.

„Sind Sie fertig?“ fragte Dodd höflich an der Tür, die ins
Ankleidezimmer führte.

„Ich komme sofort!“ rief Polly zurück.

Armes Kind! dachte Dodd und sah sich wieder der Photographie des
Defraudanten gegenüber.

Peter Voß war ein Verrückter. Er trug noch den Vollbart. Der Steckbrief
durfte nicht ohne das Bild hinausgehen. Dodd griff danach und sprang
zum Fenster. Der Beamte war fort. Dafür sauste jetzt ein großes
Automobil mit zwei Chauffeuren um die Ecke. Ein kleinerer Wagen hielt
eben vor der Tür. Dodd sah den Inhaber der Firma Stockes & Yarker
aussteigen und ins Haus treten. Gleich darauf stand er Dodd gegenüber.

„Sie sind noch hier?“ fragte Jim Stockes ganz verdutzt.

„Sie kommen wie gerufen!“ rief Dodd und drückte ihm die Photographie
in die Hand. „Bringen Sie das Bild sofort auf die Polizeioffice, damit
der Steckbrief nicht ohne Klischee hinausgeht. Die ersten dreitausend
Exemplare sollen expreß nach New York geschickt werden.“

„New York?“ sagte Stockes und mußte sich auf den Stuhl setzen, so
zitterten ihm die Knie. „So haben Sie die Spur schon gefunden?“

„Eilen Sie!“ drängte Dodd, ohne auf seine Frage einzugehen.

„Ich wollte aber erst ein paar Worte mit Mrs. Voß sprechen!“ meinte
Stockes eigensinnig.

„Unnötig, sie begleitet mich!“ erwiderte Dodd und wies auf die Tür.

Da kam Polly reisefertig aus dem Nebenzimmer gestürzt.

„Das Auto ist schon da!“ rief sie und erkannte plötzlich Jim Stockes.
„Ach, Mr. Stockes. Ich bin todunglücklich. Verzeihen Sie ihm und
zeigen Sie ihn um Gottes willen nicht an. Wir wollen ihn in Güte dazu
bringen, daß er das Geld wieder herausgibt. Er hat es in einem Anfall
von Geistesstörung getan! Bitte, bitte, guter, lieber Mr. Stockes,
nicht der Polizei anzeigen. Mr. Dodd hat mir versprochen, daß es keine
gerichtlichen Folgen haben wird. Haben Sie mir das nicht versprochen?“
wandte sie sich an Dodd.

„Ich werde es halten,“ versicherte er, „ich werde die Polizei nur
bemühen, wenn es durchaus notwendig ist. Das heißt also, wenn er die
Millionen nicht gutwillig herausgeben will.“

„Da hören Sie’s!“ rief Polly und lief hinaus, um die Dienstboten zu
instruieren.

Jim Stockes stand wie versteinert und schaute auf Peter Voßens Bild.
Es war vielleicht besser, Mrs. Voß erfuhr die Wahrheit nicht. In
Dodds Gegenwart wäre es überdies ganz ausgeschlossen gewesen, sie
einzuweihen. Sie kehrte gewiß bald zurück. Da war noch immer Zeit, ihr
die Wahrheit mitzuteilen.

„Machen Sie, daß Sie fortkommen!“ schrie Dodd und schob ihn zur Tür
hinaus. „Sie haben keine Zeit zu verlieren.“

Jim Stockes blieb nichts übrig, als zu gehorchen.

Dodd fuhr zuerst nach seiner Wohnung, um seine Koffer, die immer fertig
gepackt waren und alles Nötige enthielten, mitzunehmen.

Fünf Minuten später knatterte der hundertundzwanzigpferdige Riesenwagen
von William Webster u. Son, bei dem eine Panne von vornherein
ausgeschlossen war, über die St. Louis Bridge. Unermüdlich warf dieses
schnaubende Ungetüm einen Kilometer nach dem andern hinter sich. Da es
nirgends Halt machte, überholte es spielend den schnellsten Expreßzug.
Der eine Chauffeur schlief, der andere fuhr.

„Tahitaha!“ schrie das Signalhorn.

Polly lehnte in den Polstern und war bald vor Erschöpfung
eingeschlafen. Auch Dodd schloß die Augen. Noch konnte er sich Ruhe
gönnen. Polizeileute und Passanten schimpften hinter dem stinkenden,
ratternden Untier hinterdrein. Am Abend hatte es Cincinnati erreicht.

Das gelbe Automobil mit seinem bärtigen Insassen war hier gegen Mittag
mehrfach beobachtet worden, hatte Benzin eingenommen und war in
östlicher Richtung verduftet. Zehn Minuten Aufenthalt genügten, um das
festzustellen.

„Also doch nach New York!“ rief Dodd verwundert.

Es war jetzt kein Zweifel mehr möglich, Peter Voß war ein Irrsinniger.

Dann ging es weiter durch die Nacht nach Osten. Vier Scheinwerfer,
blendend wie Sonnen, klärten den Weg auf. Polly schlief, sie hatte sich
an das Trompetengeschrei des Signalhorns schon gewöhnt. Dodd flößte ihr
zuweilen ein Glas Wein ein.

Denn er war nicht nur ein Gentleman, sondern er hatte auch ein warmes
Herz. Das schöne, zarte, unschuldige Geschöpf, das da in den Kissen
lag, dauerte ihn aufs höchste. Dieses entzückende Wesen, hilflos wie
ein Kind, war an einen geisteskranken Millionendieb gekettet und liebte
ihn obendrein. Als wenn es nicht genug anständige Männer auf der Welt
gäbe! Und Dodd warf schnell einen zufriedenen Blick auf sein Bild, das
ihn aus dem schmalen Wandspiegel herausfordernd ansah.

Sobald vor ihnen ein gelbes Automobil auftauchte, hatten die
Chauffeure ein bestimmtes Signal mit der Hupe zu geben, die wie ein
altgermanisches Kriegshorn brüllte. Dreimal schon war Polly davon
geweckt worden. Das erstemal war es eine Mietsdroschke aus Grafton, das
zweitemal ein großer Vergnügungswagen mit einer ganzen Familie an Bord,
das dritte Mal ein Lastfuhrwerk gewesen. Im Morgengrauen erreichten
sie die Vorberge der Alleghany. Jetzt erst konnte der Wagen seine
Leistungsfähigkeit beweisen. Ohne Verminderung seiner Schnelligkeit
schob er sich die ununterbrochene Steigung empor. Am Morgen wurde in
Cumberland eine Frühstückspause gemacht.

Polly hatte sich etwas erholt, aß aber wenig. Dodd bediente sie mit
einer geradezu hinreißenden Liebenswürdigkeit.

Um zehn Uhr morgens hatten sie die Höhe des Gebirges hinter sich.

Und da erblickte Polly das gelbe Automobil 1177. Die Hupe brüllte.

Wie ein Windspiel stob es den gegenüberliegenden Abhang hinunter und
verschwand blitzschnell um die Ecke.

„Das ist er!“ rief sie außer sich und begann am ganzen Leibe zu zittern.

Dodd trieb die Chauffeure zur höchsten Eile an. Aber was half’s? Auf
den geraden Strecken konnten sie wohl die ganze Kraft ihrer Maschine
ausnützen, aber an den zahlreichen Windungen und Kehren mußten sie viel
stärker bremsen als der kleine Wagen, der wie ein Wiesel vorauslief. Da
griff Dodd zum letzten Mittel. Kurz bevor das gelbe Auto um die nächste
Ecke schoß, riß er seinen Browning heraus. Polly fiel ihm aufschreiend
in den Arm. Erst mußte er ihr hoch und heilig versprechen, nicht auf
Peter Voß, dessen steifer Hut deutlich im Fond des Wagens zu sehen
war, zu schießen. Bei der nächsten Biegung krachte Dodds Waffe dreimal
hintereinander. Die letzte Kugel traf, der rechte Vorderreifen platzte
mit einem Knall. Das gelbe Auto wurde gegen die Felswand geschleudert.
Der steife Hut schoß gegen das vordere Fenster.

Mit drei Sprüngen war Dodd heran, packte den Defraudanten mit festem
Polizeigriff und ließ ihn sofort wieder fahren. Der vermeintliche
Verbrecher bestand nämlich aus zwei Polstern, einem Luftkissen, dem
schon bekannten steifen Hut und einem Ueberrock. Der gelbe Chauffeur,
der mit ein paar Schrammen davongekommen war, machte das dümmste
Gesicht, das überhaupt einem Chauffeur zur Verfügung stand.

„Ueberlistet!“ knirschte Dodd ergrimmt.

Polly aber fiel in Ohnmacht, als sie den Hut und den Ueberrock ihres
Mannes erkannte. Dodd fing sie auf und bettete sie im Wagen.

Aus dem Chauffeur des gelben Autos war nichts herauszufragen. Er
hatte bis zum letzten Augenblick einen lebendigen Reisenden zu fahren
geglaubt. Um drei Uhr nachts war der Passagier in Grafton eingestiegen,
und in der ganzen Zeit hatte der Wagen nicht ein einziges Mal gehalten.

„Zurück nach Cumberland!“ befahl Dodd seinen Chauffeuren.

„Mein Geld!“ schrie der gelbe Chauffeur und ballte die Fäuste
hinterdrein.



3.


Den lärmenden Broadway in New York spazierte ein Mann entlang,
der in einen gelben Staubmantel gehüllt war und auf dem grauen,
kurzgeschnittenen Haar eine gelbe Mütze mit Automobilbrille trug. Sein
Gesicht war bartlos.

Es war niemand anders als Peter Voß, der Millionendieb aus St. Louis.

Er war kurz nach Cumberland bei einer scharfen Steigung aus dem gelben
Automobil gesprungen, war in die Stadt zurückgekehrt, hatte sich bei
dem ersten Barbier den Bart abnehmen, bei dem zweiten das Haar stutzen,
bei dem dritten mit einer kräftigen Höllensteinlösung grau färben
lassen, hatte sich in einem Modemagazin mit Staubmantel und Mütze
kostümiert und war mit dem Expreßzug ohne Unfall nach New York gelangt.

Jetzt ging er über den Broadway, um nach Hoboken überzusetzen, wo er
ein geeignetes Schiff für die Ueberfahrt nach Hamburg suchen wollte.
Denn die Passage zu bezahlen, dazu hatte er nicht die geringste Lust.

Plötzlich blieb er vor einer Anschlagsäule stehen, von der ein gelbes
Plakat herunterleuchtete. Da hing sein eigener Steckbrief. Schmunzelnd
las er ihn und betrachtete mit innigem Vergnügen seine bärtige
Photographie, die es in Lebensgröße verzierte.

Zweitausend Dollar Belohnung! stand in fetten Buchstaben darüber.

„Ist das nicht ein bißchen wenig?“ knurrte er verstimmt.

Unterschrieben war der Steckbrief mit Bobby Dodd.

Da kam um die nächste Ecke, hinter der die Polizeioffice lag, ein
Schutzmann gesaust, der an seinem Fahrrade einen Leimtopf hängen
hatte. Vor der Anschlagsäule saß er ab, schwang den Pinsel quer über
Peter Voßens Bart, und schon klebte darüber ein roter Zettel. Ohne sich
umzusehen, sauste der Schutzmann die Straße hinauf zur nächsten Säule.

Peter Voß las mit steigender Verwunderung die Worte, die auf dem roten
Zettel standen: „Der Flüchtling trägt keinen Bart, hat sich die Haare
grau färben lassen und ist bekleidet mit einem gelben Staubmantel und
gelber Automobilmütze.“

Jetzt wird’s brenzlich! dachte Peter Voß und sprang in die nächste
Droschke, deren Kutscher er zurief, den Broadway hinunterzufahren.

Zunächst entledigte er sich seines Staubmantels, den er zusammengerollt
neben sich legte. Bei dem nächsten großen Eckrestaurant ließ er halten
und verschwand darin, um zwei Minuten später aus der anderen Tür mit
einer blauen Mütze wieder zu erscheinen. Die Droschke ließ er im Stich.
Der Kutscher mochte sich mit dem Mantel bezahlt machen.

Bald darauf tauchte Peter Voß in das Gewühl der Bovery, kaufte in
einem Barbierladen eine Flasche braune Haarfarbe und ließ sich in
einem kleinen Hotel ein Zimmer geben. Das Geld dafür mußte er im
voraus bezahlen, da er außer Zahnbürste, Taschenmesser und Brieftasche
kein Gepäck besaß. Hier wollte er seinem Haar wieder die alte Farbe
verleihen, es gelang ihm aber daneben. Nachdem er eine Viertelstunde
geschmiert und gerieben hatte, leuchtete ihm sein Scheitel im
brennendsten Rot aus dem Spiegel entgegen.

Kein Wunder, denn die Haarfarbe war echt amerikanischen Ursprungs.

„Auch gut!“ rief er und verließ das Hotel.

Seine roten Haare, so kurz sie auch waren, erregten Aufsehen, und er
freute sich diebisch darüber. Jetzt konnte er über den roten Zettel,
der auf dem gelben Steckbrief klebte, lachen.

Er setzte über den Hudson und schlenderte gemächlich, wie ein
stellungsloser Seemann, die Docks von Hoboken entlang. Bei
jedem Eingang standen doppelte Schutzmannsposten. Beim Dock der
Hamburg-Amerika-Linie blieb er stehen und las die Schiffsliste. Morgen
früh ging die „Pennsylvania“ in See. Da lag der große, breite, sichere
Kasten, auf dem er schon einmal eine Reise als Matrose gemacht hatte.

Das wär schon was! dachte er, wobei sein Blick wie von ungefähr auf ein
gelbes Plakat fiel.

Auch hier klebte sein Steckbrief mit dem alten Signalement. Es dauerte
aber gar nicht lange, da kam ein radelnder Schutzmann und klebte den
roten Verbesserungszettel darüber.

Die beiden Polizisten, die den Eingang bewachten, machten sich sofort
an das Studium des neuen Signalements, ohne darüber den Eingang aus dem
Auge zu lassen. Wer hineinwollte, wurde angehalten und mußte ohne Gnade
zurück, wenn er sich nicht ausweisen konnte.

Ueber Peter Voß, der ihnen gegenüber Aufstellung genommen hatte und so
tat, als wenn er auf einen Bekannten wartete, machten sie zwischendurch
schlechte Witze. Die Röte seiner Haare war auch direkt polizeiwidrig.

Peter Voß schwankte schon, ob er sich diese angeregte Stimmung der
beiden Ordnungswächter zunutze machen sollte, um durchzuschlüpfen.

Da hielt plötzlich vor dem Eingang ein kleiner Lastwagen, auf dem ein
ungewöhnlich langer Koffer lag. „Passagierstück für die Pennsylvania
nach London Metropol Varieté“ stand auf dem Ticket. Noch größer waren
die Buchstaben:

_VORSICHT! GLAS! NICHT STUERZEN!_

die auf allen vier Seiten und auf dem Deckel der Kiste prangten.

Wenn ich nur in dieser Kiste läge! dachte Peter Voß und betrachtete sie
liebevoll von allen Seiten.

Der Kutscher, der die Kiste gebracht hatte, blieb ruhig auf seinem Bock
sitzen. Da sprang ein Mann über den Fahrdamm, wollte in das Dock hinein
und fühlte sich plötzlich von vier nervigen Fäusten gepackt. Denn
dieser Mann trug nicht nur einen gelben Staubmantel, sondern auch eine
gelbe Staubmütze, und hatte zum Ueberfluß etwas angegrautes Haar. Er
sah aus wie ein Schauspieler auf Reisen.

Er schimpfte wie ein Rohrspatz, gab an, Frank Murrel zu heißen, und
wollte als Jongleur und Zauberkünstler vom Metropol Varieté in London
engagiert sein.

Sein Gesicht wies mit Peter Voßens Photographie einige Aehnlichkeit
auf, besonders in der Stirn- und Augenpartie. Die Schutzleute aber
waren ganz fest überzeugt, in ihm den Millionendieb gefaßt zu haben.
Zum Unglück hatte der Mann kein Billett. Er behauptete frech, es läge
noch auf der Agentur.

Er mußte mit zur Wache.

„Ich komme sofort wieder!“ sagte er zu dem Kutscher. „Geben Sie ja
gut auf den Koffer acht! Es sind sehr zerbrechliche Theaterrequisiten
darin.“

Der eine Polizist führte ihn ab, der andere verdoppelte seine
Aufmerksamkeit. Bald darauf schlug die Uhr sechs, und die Dockarbeiter
strömten ein und aus. Peter Voß hätte es jetzt wohl wagen können,
unbemerkt bei dem Polizisten vorbeizuschlüpfen. Doch was hätte das
geholfen? Ohne Billett hätte man ihn nicht auf das Schiff gelassen, und
irgend einen Freund, den er hätte besuchen können, wußte er nicht an
Bord. Obschon er immerhin als wahrscheinlich voraussetzen durfte, daß
unter der vierhundertköpfigen Schiffsbesatzung einer seiner früheren
Bekannten sein konnte.

Und deshalb blieb er stehen und wartete.

Gleich darauf traten drei handfeste Matrosen unter Führung eines noch
kernigeren Bootsmannes an den großen Kistenkoffer. Dieser Mann gefiel
Peter Voß auf den ersten Blick.

„Schneller!“ schrie er dem vierten Matrosen zu, der nun überaus
gemächlich heranschlenderte. „Du gottverdammigter Hollandschmann, ich
geb dir einen an deinen Achtersteven, daß du auf deinen Bauch sechzehn
Knoten in der Stunde machst!“

Der Mann muß mein Freund werden! dachte Peter Voß und trat auf den
Bootsmann zu.

„Hummel!“ begrüßte er ihn.

Die Antwort ließ an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig.

„Guten Tag, Landsmann!“ rief Peter Voß vergnügt. „Wir sollten uns doch
kennen?“

„Ich kenne dich nicht!“ sagte der Bootsmann ruhig. „Du hast mir viel zu
rote Haare.“

„Macht nichts!“ erklärte Peter Voß. „Kommst du heute abend mit nach
Coney Island, ich gebe einen aus.“

„Das ist ein ander Ding!“ meinte der Bootsmann und schlug ein. „Ich
will man bloß die verteufelte Kiste an Bord bringen, da sind Glassachen
drin.“

Peter Voß trat zurück.

„Angefaßt!“ kommandierte der Bootsmann. „Ganz vorsichtig aufsetzen.
Moritz Pietje, wenn du die Kiste fallen läßt, dann brau ich dir einen
Grog, von dem dir die Ohren vier Wochen lang steif bleiben.“

In diesem Augenblick kam Frank Murrel, der Besitzer der Riesenkiste,
über die Straße gestürzt. Er hatte inzwischen der Polizei mit Hilfe
eines in der Nähe wohnenden Kollegen beweisen können, daß er mit Peter
Voß nicht identisch war.

„Vorsicht, nicht stürzen!“ brüllte er ganz verzweifelt, als Moritz
Pietje zu zeitig los ließ. „Bringen Sie den Koffer in meine Kabine.“

„Welche Kabine haben Sie?“ fragte der Bootsmann.

Aber Frank Murrels Billett lag noch immer auf der Agentur.

„Da stellen wir eben den Koffer solange in den Gepäckraum,“ schlug der
Bootsmann vor. „Da steht er noch sicherer als in irgend einer Kabine,
die vielleicht schon ein anderer belegt hat. Morgen können Sie sich ja
den Koffer in Ihre Kabine kommen lassen.“

Gleich darauf verschwand das sehr umfängliche Gepäckstück in der
zweiten Ladeluke auf dem Verdeck. Frank Murrel überzeugte sich durch
Augenschein, wo und wie er stand, gab dem Bootsmann ein Trinkgeld
und trat wieder aus dem Dock, nicht ohne den beiden Polizisten einen
Verachtungsblick zugeworfen zu haben.

Ich bin doch neugierig, ob er kommt! dachte Peter Voß und wartete.

Und der Bootsmann kam wirklich, er hatte sich inzwischen fein gemacht.

„Nun kann’s losgehen!“ meinte er zu Peter Voß. „Das sag ich dir aber,
wenn du so einer von den gottverdammten Landhaien bist, bei mir kommst
du nicht auf die Rechnung. Ich hau zu, wenn’s so weit ist.“

„Aber Bootsmann!“ erwiderte Peter Voß gekränkt. „Seh ich so aus?“

„Nur friedlich!“ lenkte der andere ein. „Du hast zwar rote Haare, aber
ein ehrliches Gesicht. Du erinnerst mich an einen alten Freund, mit dem
ich mal zusammen gefahren bin. Darauf kannst du dir was einbilden. Denn
jede Einladung nehm ich nicht an.“

Schon saßen sie auf der Riesenfähre, die sie nach Brooklyn
hinüberbrachte. Bald waren sie auf Coney Island, dem großen New Yorker
Rummelplatz. Peter Voß bezahlte. Sie fuhren auf dem Riesenrad und auf
der Berg- und Talbahn.

„Hier kann ja einer seekrank werden!“ bemerkte der Bootsmann und wollte
aussteigen.

Mit einem Wort: sie amüsierten sich großartig. Aus einem überfüllten
Tanzlokal wurden sie zusammen an die Luft gesetzt und fanden sich im
Sande wieder.

„Ganz wie in St. Pauli!“ rief der Bootsmann vergnügt und steuerte der
nächsten Bar zu, um einige Drinks zum besten zu geben.

Peter Voß verlor bei alledem nicht sein Ziel aus den Augen und lotste
den Bootsmann endlich in eine kleine, gemütliche Bierkneipe. Peter Voß
setzte sich mit dem Rücken gegen die Wand, und der brave Bootsmann
pflanzte sich mit seiner ganzen gewichtigen Breitseite ihm gegenüber
auf. Sie tranken Brüderschaft, ohne sich nach ihren Namen gefragt zu
haben, was Peter Voß nur angenehm war. Denn er hätte sich einem so
wackeren Bootsmann gegenüber nicht gern einen falschen Namen beigelegt.

Plötzlich kam der Bootsmann steif in die Höhe und schaute mit weit
geöffneten Augen geradeaus auf die Wand. Da hatte eben der Kellner ein
grellgelbes Plakat hingehängt mit einer Photographie in der Mitte.
Peter Voß konnte es nicht sehen, weil er ihm den Rücken zukehrte.

„Was!“ rief der Bootsmann verblüfft. „Peter Voß hat zwei Millionen
Dollar gestohlen? Das ist nicht wahr!“

Peter Voß drehte sich um: da hing sein Steckbrief! Aber noch ohne den
berichtigenden roten Zettel.

„Kennst du ihn denn?“ fragte er überrascht.

„Kennen!“ schrie Michel Mohr wütend. „Das ist mein allerbester Freund,
den ich überhaupt habe. Mit dem bin ich Schiffsjunge gewesen auf einer
französischen Bark. Und wir haben zusammen den ersten Steuermann
vertrimmt.“

Und da erkannte Peter Voß seinen alten Freund Michel Mohr. Und sein
Herz machte einen Freudensprung. Die heimliche Sympathie, die ihn zu
dem Bootsmann gezogen hatte, war also doch tiefer begründet gewesen.
Michel Mohr hatte sich total verändert. Er hatte sich ein schönes
Bootsmannsbäuchlein und ein sehr würdiges Aussehen angeschafft.

„Dann wird es eben ein anderer Peter Voß sein.“

„Das ist mein Freund Peter Voß!“ schrie Michel Mohr durchs ganze
Lokal, indem er auf das Bild wies. „Peter Voß, wie er leibt und lebt.
Schwindel ist der ganze Steckbrief.“

Jetzt drängten sich die anderen Gäste um das Plakat. Peter Voß mußte
mit Gewalt an sich halten, daß er sich nicht verriet.

„Damned!“ schrie einer aus dem Schwarm. „Zweitausend Mill zu stehlen,
das soll ihm erst einer nachmachen. Aber der große Dodd aus St. Louis
ist schon hinter ihm her, der kriegt ihn sicher!“

„Da soll er sich nur ranhalten!“ lachte Michel Mohr. „Peter Voß ist ein
ganz geriebener Junge!“

Peter Voß wurde unruhig, er fühlte sich von einem wohlfrisierten
Barbiergehilfen, dem das übernatürlich gerötete Haar aufgefallen
war, scharf fixiert. Da sich sein Kopf direkt unter dem Bilde des
Steckbriefs befand, forderte er zu Vergleichen geradezu heraus.

„Damn!“ rief er und drehte sich um, wie um das Plakat zu lesen. „Diese
Detektivs fischen den anständigen Menschen die besten Brocken vor der
Nase weg. Wer verdient nicht gern 2000 Dollar?“

„Er hat recht!“ riefen die Gäste durcheinander, und die Aufmerksamkeit
des Barbiergehilfen war abgelenkt.

„Komm mal mit heraus!“ sagte Michel Mohr ganz ruhig zu Peter Voß, der
dazu mit Freuden bereit war.

Bald standen sie hinter einem Gebüsch.

„Sag mal!“ stieß Michel Mohr zwischen den Zähnen hervor. „Würdest du
Peter Voß anzeigen, wenn du wüßtest, wo er ist? Ich meine, um die
zweitausend Dollar zu verdienen.“

Peter Voß wußte wirklich nicht, was er auf diese kuriose Frage
antworten sollte, und zuckte lächelnd mit den Schultern.

„Du hundsgemeiner Denunziant!“ knirschte Michel Mohr wütend und
versetzte ihm eine wohlgezielte Ohrfeige.

„Menschenskind!“ stöhnte Peter Voß auf und schnappte längere Zeit nach
Luft. „Ich werd mich doch nicht selbst anzeigen!“

„Peter!“ keuchte Michel Mohr.

„Freilich, du Kamel!“ lachte Peter Voß und rieb sich die getroffene
Stelle. „Und nun geh und zeig mich an.“

„Mensch, du bist wohl verrückt! Ich dich anzeigen? Wo du mein
allerbester Freund bist.“

Und er fiel ihm vor Freude um den Hals.

„Aber wo hast du die zwei Millionen?“

„Komm!“ drängte Peter Voß. „Das erzähl ich dir, wenn wir an Bord sind.
Du mußt mich nämlich hinüberschmuggeln.“

„Aha!“ sagte Michel Mohr. „Die beiden Polizisten vor dem Dock passen
wohl auf dich?“

„Jedenfalls!“ erwiderte Peter Voß. „Durchs Tor komme ich nicht, ohne
angehalten zu werden.“

„Brauchst du auch nicht,“ sagte Michel Mohr treuherzig. „Ich hol dich
mit der Jolle vom Zollponton.“

„Das ist eine gute Idee!“ sagte Peter Voß vergnügt. „Dafür geb ich dir
eine Million, wenn wir glücklich drüben sind.“

„Nein!“ sagte Michel Mohr ganz entschieden. „Ich nehm nichts. Ich will
ein ehrlicher Kerl bleiben.“

„Das ist brav von dir!“ lächelte Peter Voß und klopfte ihm leutselig
auf die Schulter.

Gegen elf Uhr, als schon alles schlief, stieg Peter Voß hinter Michel
Mohr von der Wasserseite her auf der Lotsenleiter an Bord. Die Zöllner
saßen friedlich im Rauchsalon.

Moritz Pietje, der Hollandschmann aber, der die Wache hatte, schlief
diesmal merkwürdigerweise nicht und nahm mit Verwunderung wahr, daß der
Bootsmann einen rothaarigen Gast mitbrachte, und noch dazu über die
Lotsenleiter.

Michel Mohr schnauzte Moritz Pietje an, daß er fast auf den Rücken
fiel. Dann ging er mit Peter Voß voraus, wo die Mannschaftsräume lagen.
Der Bootsmann hatte hier eine geräumige Kajüte mit zwei Kojen.

„Ueber diesen verdammten Hollandschmann werd ich mich noch zu Tode
ärgern!“ giftete er sich. „Gestern mußte ich ihn dreimal aus der Koje
jagen, und gerade jetzt tut er mir den Tort an und hat die Augen offen.
Aber es hat keine Gefahr, ich verstau dich im Raum, wo dich keiner
findet, und bring dir jeden Tag das Essen.“

Dann braute er einen sehr steifen Grog.

Um zwölf Uhr wurde Moritz Pietje abgelöst. Er legte sich in seine
geliebte Koje und spitzte die Ohren, als er nebenan Gläserklirren
hörte. Der Fremde, der bei dem Bootsmann saß, kam ihm sehr verdächtig
vor. Und dem groben Bootsmann eines auszuwischen, darauf lauerte Moritz
Pietje schon lange. Er preßte das Ohr an die Holzwand, konnte aber kein
Wort verstehen. So holte er denn in aller Seelenruhe einen kleinen
Bohrer aus der Tasche und begann ihn so langsam in die Holzwand zu
schrauben, daß er nicht das geringste Geräusch verursachte. Nach fünf
Minuten war das Loch fertig. Und was Moritz Pietje nun zu hören bekam,
war außerordentlich interessant.

Peter Voß hatte seinen Freund inzwischen in alles eingeweiht, und
Michel Mohr hatte sich, als ihm die tolle Sache erst klar geworden war,
mit beiden Fäusten auf den Knien herumgetrommelt und vor Vergnügen
losgebrüllt.

„Junge, Junge, du bist ja ein ganz verfluchter Kerl. Und nun helf ich
dir erst recht übers Wasser. Laß mich nur machen.“

Ei, wie spitzte da Moritz Pietje die Ohren!

„Wir können doch hier nicht belauscht werden?“ fragte Peter Voß
vorsichtig.

„Keine Angst!“ lachte Michel Mohr. „Nebenan schläft der Hollandschmann,
der ist selbst zum Horchen zu faul.“

Und sie tranken unbesorgt weiter.

„Zweitausend Dollar ist eigentlich ein bißchen wenig für dich!“
scherzte Michel Mohr beim vierten Glase. „Du bist unter Brüdern viel
mehr wert.“

„Jawohl!“ bestätigte Peter Voß todernst. „Zwei Millionen.“

„Wo hast du denn die gelbe Tasche?“

„Vor Louisville habe ich sie über Bord geworfen, sie schwimmt längst im
Mississippi. Ich schätze so zwischen Kairo und Memphis.“

Moritz Pietje kam allmählich dahinter, daß der Fremde, der bei dem
Bootsmann saß, ein steckbrieflich verfolgter Millionendieb war, auf
dessen Ergreifung eine Belohnung von zweitausend Dollar ausgesetzt war.

Die will ich mir morgen früh verdienen! dachte Moritz Pietje und
schlief ein.

Eine Stunde nach Mitternacht, als das ganze Schiff wie ausgestorben
dalag, nahm der Bootsmann seinen allerbesten Freund an der Hand und
führte ihn durch verschiedene dunkle Gänge und Löcher in den großen
Raum mittschiffs, der für das Passagiergepäck bestimmt war. Die Hälfte
des Raumes war schon gefüllt, in langen Reihen standen hier die großen
Koffer nebeneinander. Eine einzige Glühbirne brannte da. Michel
Mohr schraubte sie aus der Fassung und steckte sie ein. Und es ward
pechfinster.

„Im Laderaum brechen wir jetzt die Beine,“ sprach er ganz leise. „Da
ist kein Licht. Morgen früh beizeiten komm ich wieder. Schließlich
kannst du, wenn’s hell wird, selbst hinunterkriechen. Du weißt ja an
Bord Bescheid, und der Dümmste bist du nicht. Leg dich nur hier auf
den langen Koffer, da sehen dich die Stewards nicht, wenn sie hier
durchkommen. Und hier hast du eine Decke.“

Peter Voß gehorchte, kroch bis zum Hals unter die Persenning, die der
Bootsmann aus der Ecke herausgeschleppt hatte, und schloß die Augen.

„Adjüs!“ flüsterte Michel Mohr und schlich davon.

Peter Voß wollte einschlafen, aber er hörte etwas, und das hielt ihn
wach. Ganz in der Nähe tickte eine Taschenuhr. Dieses Ticken, so
schwach es auch war, irritierte ihn mächtig. Er hielt den Atem an und
lauschte. Das Ticken kam aus dem Koffer, auf dem er lag. Nun wurde er
nervös.

Zum Teufel! dachte er. Wenn diese vermaledeite Uhr nicht bald stille
steht, werde ich die ganze Nacht kein Auge zumachen.

Aber die Uhr tickte unentwegt weiter. Peter Voß fingerte an den beiden
Schlössern des Koffers herum. Der Gedanke, die Uhr auf jeden Fall zum
Stehen zu bringen, war inzwischen bei ihm zur fixen Idee geworden. Es
war ein unverantwortlicher Leichtsinn von dem Besitzer des Koffers,
eine aufgezogene Uhr darin zu verpacken.

Die beiden Schlösser waren nichts weniger als sinnreich. Mit seinem
Taschenmesser, das, echt amerikanisch, sieben Klingen, darunter einen
Champagnerhaken, eine Säge und einen Schraubenzieher besaß, ging er den
Nägeln und Schrauben zu Leibe. Gewaltsam bog er die beiden Klammern
beiseite. Der Deckel bog sich von selbst, als hätte er eine geheime
Feder.

„Damn!“ flüsterte eine Stimme. „Kommst du endlich? Ich hab einen
furchtbaren Durst. Mit dem Whisky bin ich schon lange fertig.“

Peter Voß, den so leicht nichts aus der Fassung bringen konnte,
packte den Kofferpassagier vor der Brust und sprach mit leiser, aber
furchtbar ernster Stimme: „Mann, Ihr seid ein Betrüger!“

Doch der andere ließ sich ebensowenig verblüffen, griff zu, und schon
zerrten und balgten sie sich in dem dunklen Raum hin und her. Der
Fremde war ein schlanker, sehniger Kerl und verfügte über Riesenkräfte,
so daß Peter Voß geschwind ins Gedränge kam. Geschickt entschlüpfte
er ihm, und der andere boxte nun wie unsinnig gegen die Kofferecken.
So kam er allmählich von Kräften, daß ihn Peter Voß schließlich
unterlaufen und wieder in den Koffer hineinschleudern konnte. Mit
kühnem Griff klappte er den Deckel herunter. Bis auf den Kopf und die
linke Hand war der ungeschlachte Berserker gefangen.

„Wollt Ihr jetzt Frieden geben?“ keuchte Peter Voß.

„Eine ganz verteufelte Lage!“ ächzte der andere. „Drückt nicht so,
sonst quetscht Ihr mir den Hals ab.“

„Bitte sehr!“ sagte Peter Voß entgegenkommend und lüftete den Deckel
ein wenig. „Wenn Ihr manierlich sein wollt, könnt Ihr es besser haben.
Zuerst sagt mir, wer Ihr seid und wie Ihr in diesen Koffer kommt?“

Der andere berichtete kleinlaut, daß er Sam Fletcher hieße und mit
seinem Freund Frank Murrel ein feines Plänchen ausgeheckt hätte,
um ohne Billett nach Plymouth zu fahren. Sie waren beide am
Metropol-Varieté in London engagiert, Sam Fletcher als Musikklown und
Frank Murrel als Jongleur und Verwandlungskünstler.

„Und wer seid Ihr?“ fragte er gespannt.

„Ich bin der Schah von Persien!“ sagte Peter Voß, dem gerade nichts
Besseres einfiel, verbesserte sich aber schnell. „Ich gehöre mit zur
Besatzung.“

Sam Fletcher traten die Haare zu Berge. Kein Zweifel, er war in die
Hände eines verrückten Stewards oder Matrosen gefallen. Und schon sann
er darauf, wie er wieder die Oberhand gewinnen könnte.

„Habt Ihr ein Streichholz?“ fragte Peter Voß. „Ich glaub, ich habe mein
Messer verloren.“

„Hier habt Ihr meine elektrische Taschenlampe,“ erwiderte der andere
beflissen, um den gemeingefährlichen Menschen bei guter Laune zu
erhalten.

„Danke!“ sagte Peter Voß und ließ den Deckel fahren. „Laßt Euch aber ja
nicht einfallen, aufzustehen, sonst schmeiß ich Euch über Bord!“

Dann machte er sich auf die Suche. Der andere verfolgte ihn mit
flackernden Blicken, erhob sich lautlos aus seinem Gefängnis und
stürzte, als Peter Voß sich nach dem Messer bücken wollte, von hinten
auf den Feind. Drei Sekunden später lag Peter Voß im Koffer, und der
Deckel klappte unbarmherzig herunter.

„Halloh!“ rief er und pochte heftig. „Laßt Eure verdammten Späße, oder
der Teufel soll Euch lotweise holen.“

„Noch ein Wort,“ drohte Sam Fletcher, „und ich verstopfe die
Luftlöcher.“

„He!“ lachte Peter Voß, „ich schneide mir neue.“

„Dann müßt Ihr schon zwei Messer haben!“ höhnte der andere und
begann die Schlösser wieder anzuschrauben, wobei ihm Peter Voßens
Messer vortreffliche Dienste leistete. Sam Fletcher strich dabei ein
Streichholz nach dem andern an.

„Na, denn nicht!“ meinte Peter Voß seelenruhig. „Ich liege hier drin
sehr gut!“

Sam Fletcher hatte jetzt die Hände frei, aber seine Streichhölzer
gingen auf die Neige. Das Messer warf er weg.

„Gebt das Feuerzeug heraus!“ befahl er.

Als Antwort begann Peter Voß laut zu schnarchen. Sein Wunsch war in
Erfüllung gegangen, er lag im sicheren Koffer.

Fluchend begann Sam Fletcher ein neues Versteck zu suchen. Mit Hilfe
des letzten Streichholzes fand er ein Loch, fühlte dahinter einen
niedrigen Gang, eine Treppe, kroch auf allen Vieren immer tiefer in
den Bauch des Riesenschiffes hinein, stieß sich da und dort blaue
Flecke, purzelte und überschlug sich, kletterte über Kohlen und
Stückgut und sank endlich, halb verzweifelt und erschöpft, auf ein paar
weiche Säcke, wo er sofort einschlief.

Peter Voß unterzog währenddessen seine kleine Kabine einer gründlichen
Untersuchung. Die elektrische Taschenlampe funktionierte vortrefflich.
In einer Ecke war eine ganze Batterie Selterflaschen kunstvoll
aufgeschichtet. Brot, kaltes Geflügel, Konserven und eingemachte
Früchte nahmen im freundlichen Gemisch die andere Ecke ein. Die
Whiskyflaschen waren leider leer. Trotzdem ließ es sich hier in diesem
engen Kämmerchen ganz vergnüglich leben. Sogar ein paar Rollen Kautabak
von der feinsten Sorte waren vorhanden.

Peter Voß labte sich an Speise und Trank und streckte sich in die
weichen Kissen. Gleich darauf war er eingeschlafen und schlief so fest
und tief, wie nur ein Mensch mit einem guten Gewissen schlafen kann.

Beim Morgengrauen erwachte auf Deck das Leben. Michel Mohr kam in
den Kofferraum, fand Peter Voß nicht mehr vor und dachte sich das
Nächstliegende, nämlich, daß er allein den Weg hinunter in den Laderaum
gefunden hätte.

Dann trat er zum ersten Offizier und teilte ihm mit, daß Moritz Pietje
ein paar Minuten Landurlaub haben wollte.

Das wurde in Anbetracht der kurz bevorstehenden Abfahrt verweigert. Nun
ging Moritz Pietje ohne Erlaubnis an Land, und zwar über die beiden
hinteren Festmachtrossen. Die zweitausend Dollar wollte er auf keinen
Fall fahren lassen. Er wandte sich an die beiden Kriminalpolizisten,
die den Eingang des Docks besetzt hielten, und meldete, daß er wüßte,
wo ein Millionendieb sei. Aber erst wollte er die Belohnung haben. Der
eine Beamte fuhr mit ihm auf die Polizeioffice. Auch da war Moritz
Pietje ohne Geld nicht zum Sprechen zu bringen.

Dem Polizeioffizier, der ihn verhörte, blieb schließlich nichts anderes
übrig, als zweitausend Dollar auf den Tisch zu legen.

Nun gab Moritz Pietje an, daß der Millionendieb an Bord der
„Pennsylvania“ sei, und zwar in der Kammer des ersten Bootsmannes.
Schnell wollte er das Geld einstecken. Aber er wurde eines Besseren
belehrt. Erst mußte sich die Wahrheit der Aussage herausstellen. Also
blieb Moritz Pietje ruhig sitzen und wartete. Die zweitausend Dollar
waren ihm sicher. Dafür konnte er schon seine Heuer und seine Effekten
an Bord im Stich lassen.

Wenige Minuten später traten fünf Polizeimänner über die Laufbrücke der
„Pennsylvania“, verständigten sich unauffällig mit dem ersten Offizier,
der zwar über die Nachricht, daß Michel Mohr, sein braver Bootsmann,
einen Millionendieb beherberge, den Kopf schüttelte, und drangen in die
Kammer ein, wo sie nichts fanden. Sie durchsuchten die nebenliegenden
Mannschaftsräume, wiederum vergeblich. Nun gingen sie zu Kapitän Siems
und teilten ihm mit, daß sie das ganze Schiff durchsuchen müßten.

„Aber beeilen Sie sich, meine Herren!“ sagte der, strich sich ärgerlich
den dünnen, blonden Kinnbart und zog sich mit einem Ruck die Weste über
den Kugelbauch. „Ich möchte in zwei Stunden in See gehen.“

Und sie suchten eine Stunde lang ohne Erfolg. Die Passagiere kamen an
Bord. Die dritte Luke auf dem Verdeck verschlang mit unermüdlicher Gier
einen Koffer nach dem andern.

Nanu! dachte Peter Voß und legte sich auf die andere Seite. Ist das ein
Rumor! Dabei soll nun ein anständiger Mensch schlafen können!

„Haben Sie ihn noch nicht?“ knurrte der Kapitän wütend. „Die
Steuerbordwache soll suchen helfen.“

Der erste Offizier stieß in die Flöte. Die Matrosen der
Steuerbordwache, angeführt von dem dritten und vierten Offizier
und von Michel Mohr, verteilten sich stöbernd in die Laderäume.
Auch ein Teil des Maschinenpersonals und die Mehrzahl der Stewards
wurden herangezogen. Durch das ganze Schiff wimmelte es wie in einem
aufgewühlten Ameisenhaufen.

Und Michel Mohr suchte seinen guten Freund Peter Voß, aber er suchte
ihn nicht, um ihn der Polizei auszuliefern, sondern um ihn so gut
zu verstecken, daß er überhaupt nicht aufzufinden war. Seine Leute
schickte er hierher und dorthin, wo sie ihm nicht in den Weg laufen
konnten. Die Polizisten krochen in den Bunkern herum. Die Backbordwache
machte unterdessen das Schiff seeklar. Dreimal brüllte die Dampfpfeife.

Da erschien ein Polizeileutnant an Deck.

„Das Schiff darf nicht eher den Hafen verlassen, bis der Verbrecher
gefunden ist!“ sprach er zum Kapitän.

„_Well!_“ sagte der kaltblütig. „Jede Minute kostet hundert Dollar. Wir
brauchen nur noch die Leinen loszuwerfen.“

In diesem Augenblick fand Michel Mohr den Missetäter im untersten Raum,
friedlich schlafend auf zwei Wollsäcken. Er sah auf den ersten Blick,
daß es nicht Peter Voß war.

„Ich hab ihn!“ brüllte er und hielt ihn fest.

Der Mann schlug um sich wie ein Verzweifelter, sträubte sich heftig und
boxte, als sei er ganz von Sinnen. Aber Michel Mohrs Fäuste waren wie
von Eisen. Die Polizisten sprangen auf sein Geschrei herbei, doch erst
nach langer Gegenwehr konnten sie den Rasenden überwältigen. Er wurde
gefesselt. Nun brüllte er, als ob er gespießt werden sollte. Darum
mußte man ihn knebeln. Sechs Polizeifäuste griffen zu, hoben ihn hoch
und im Hui!, die „Pennsylvania“ hatte sich schon vom Kai gelöst, ging’s
über das Fallreep auf den kleinen Polizeidampfer hinunter.

Michel Mohr schaute über die Reling und lachte sich heimlich ins
Fäustchen. Peter Voß war noch an Bord.

Jungedi! dachte der Bootsmann. Der Kerl hat sich so verkrochen, daß ich
ihn nicht einmal finden kann, und das will doch allerhand besagen!

„Sam! Sam!“ schrie da plötzlich eine Stimme aus der untersten
Bullaugenreihe.

Es war Frank Murrel, der voll Entsetzen zu sehen glaubte, wie man ihm
seinen guten Freund und Kollegen Sam Fletcher entführte.

„Sam?“ fragte sein Nachbar, der den Kopf durch das zweitnächste
Rundloch streckte, denn die Nebenkabine war unbesetzt. „Sam heißt der
nicht. Das ist Peter Voß aus St. Louis, der Millionendieb.“

Frank Murrel fiel ein großer Stein vom Herzen, und er rief dem
Steward, der wie gehetzt durch den Gang sauste, nach, sofort seinen
großen Koffer aus dem Gepäckraum in die Kabine zu bringen. Dann goß er
aufatmend einen Kognak hinunter, während die „Pennsylvania“, von zwei
starken Schleppdampfern gezogen, in den Hudson einschwenkte.

Peter Voß hatte von all dem nichts bemerkt und schlief in seinem Koffer
wie ein Murmeltier.



4.


Dodd und Polly waren im Metropol-Hotel abgestiegen. Polly hatte sich
inzwischen von der tollen Automobilfahrt erholt und ging an demselben
Morgen, als die „Pennsylvania“ in den Hudson einschwenkte, über den
Broadway. Das erste, was ihr in die Augen fiel, war das gelbe Plakat
mit dem Bilde ihres Mannes. Sie stand zur Bildsäule erstarrt. So also
hielt Dodd sein Versprechen!

Aufs äußerste empört, kehrte sie ins Hotel zurück, um ihn zur Rede zu
stellen.

Er war nicht da. Kurz nachdem sie ohne sein Wissen das Hotel verlassen
hatte, war er telephonisch von der Polizeioffice angerufen worden.

„Peter Voß gefangen. Er befindet sich hier. Leugnet es zu sein.
Aehnlichkeit mit der Photographie vorhanden.“

Sofort war Dodd zur Stelle und trat Sam Fletcher gegenüber. Daneben
stand Moritz Pietje, der Denunziant, der steif und fest behauptete,
daß der Gefangene, obschon er schwarze Haare hatte, der gesuchte
Millionendieb sei. Denn der brave Hollandschmann wollte die zweitausend
Dollar nicht gutwillig fahren lassen.

Sam Fletcher benahm sich wie ein freier, amerikanischer Bürger, der
sich ohne ersichtlichen Grund in den Händen der Polizei sieht. Er war
schon von Natur aus frech. Moritz Pietje hielt sich in respektvoller
Entfernung.

„Die Identität dieses Mannes mit Peter Voß werden wir geschwind
festgestellt haben!“ sagte Dodd.

„Da bin ich aber sehr neugierig!“ sagte Sam Fletcher und steckte die
Fäuste in die Hosentaschen.

„Halten Sie ihn fest, ich werde seine Frau holen!“ rief Dodd dem
Polizeioberst zu und sprang hinaus.

Sam Fletcher schickte ihm ein schallendes Gelächter nach und hob die
geballte Faust gegen Moritz Pietje.

In demselben Augenblick, als Pollys Empörung über Dodds offenbaren
Wortbruch ihren Höhepunkt erreicht hatte, trat er in den Salon, der
zwischen ihren Zimmern lag.

„Sie haben infam gehandelt!“ rief sie ihm entgegen. „Sie haben die
Sache der Polizei übergeben, obschon Sie mir versprochen haben, es
nicht zu tun. Sie sind kein Gentleman.“

„Sie haben den Steckbrief gesehen!“ rief er bestürzt. „Nun gut, ich
gestehe meine Schuld ein. Ich sah keinen anderen Ausweg, es geschah zu
seinem Besten.“

„Nein!“ rief sie und brach in Tränen aus. „Sie wollen ihn vernichten.
Aber ich werde es zu verhindern wissen.“

Und dabei trat sie mit dem Fuße auf wie ein trotziges Kind. Was er auch
vorbrachte, sich zu entschuldigen, nichts verschlug bei ihrem Eigensinn.

„Mrs. Voß!“ sagte er endlich. „Sie müssen mir vertrauen. Das ist die
erste Bedingung, sonst arbeiten wir gegeneinander.“

„Das werde ich tun!“ stieß sie triumphierend heraus. „Ganz bewußt werde
ich gegen Sie arbeiten, denn Sie wollen ihn ins Unglück stürzen. Sie
halten ihn für einen Verbrecher. Sie denken gar nicht daran, daß er
krank ist. Das haben Sie mir nur eingeredet, um mich hierher zu locken.
Ich habe Ihr Spiel durchschaut, Mr. Dodd, und verweigere Ihnen die
Gefolgschaft. Ich werde ihn auf eigene Faust suchen und nach St. Louis
zurückbringen.“

„O Mrs. Voß!“ erwiderte er ganz unglücklich. „So wie ich ist selten ein
Mann verkannt worden. Ich schwöre Ihnen ...“

„Schwören Sie nicht!“ schnitt sie ihm das Wort ab. „Ich kenne Sie! Sie
sind ein Mann, der vor einem falschen Eid nicht zurückschreckt, wenn
er dadurch sein Ziel erreichen kann. Und dieses Ziel ist, Sie wollen
meinen Mann ins Zuchthaus bringen.“

„Ins Sanatorium!“ verbesserte er sie und erlangte durch seine Zähigkeit
allmählich die Oberhand. „Der Steckbrief ist nur in New York verbreitet
worden. Und was, Mrs. Voß, ist denn so ein Steckbrief weiter! Es steht
doch in allen Zeitungen, in St. Louis, in New York, in San Francisco,
daß Mr. Voß zwei Millionen entwendet hat. Und habe ich es vielleicht
hineinsetzen lassen?“

Darauf wußte sie nichts zu erwidern, aber ihre zusammengepreßten Lippen
verrieten nur zu deutlich, daß sie noch immer nicht geneigt war, ihren
einmal gefaßten Argwohn gutwillig fahren zu lassen.

„Und überdies,“ fuhr er fort, „wozu streiten wir? Peter Voß sitzt
bereits auf der Polizeioffice. Es ist nur nötig, ihn seiner Identität
zu überführen. Und dazu bitte ich um Ihre Mitwirkung.“

Polly kam in die Höhe.

„Sie haben ihn?“ schrie sie auf.

„Ich hoffe es!“ sagte er bescheiden. „Und wenn er nur sofort das Geld
abliefert, verspreche ich Ihnen sogar, ihn bei der Ueberführung nach
St. Louis entschlüpfen zu lassen.“

Sie stand einen Augenblick und sah ihn starr an. Seinen Worten konnte
sie noch immer keinen Glauben schenken. Sie war sofort entschlossen,
mit ihm zu gehen, um die Identität abzuleugnen, falls sie vorhanden
war. Und so willigte sie endlich ein und fuhr mit ihm nach der
Polizeioffice.

Sam Fletcher wurde vorgeführt. Polly wandte sich schaudernd ab, sie
hatte nicht nötig, die Identität zu leugnen.

„Was wollten Sie auf dem Schiffe?“ forschte Dodd.

„Ich bin Zwischendeckspassagier!“ log Sam Fletcher kühl. „Ich werde
die Polizei für meine Verluste verantwortlich machen, wenn ich mein
Engagement in London verliere.“

„Wie kommen Sie in den Laderaum?“

„Ich habe mich im Finstern verlaufen! Wenn ich nur gewußt hätte, wie
ich da hineingekommen bin, so wäre ich sicher nicht drin geblieben.“

Auch die Vernehmung Moritz Pietjes förderte nichts zutage. Es blieb
schließlich nichts anderes übrig, als die beiden Schelme laufen zu
lassen. Auf der Straße gerieten sie sich in die Haare, wobei zwei
wachthabende Polizisten ruhig zusahen, wie Moritz Pietje für seine
Denunziation hinreichend bezahlt wurde. Denn Sam Fletcher verstand zu
boxen wie Jim Jeffries.

„Der Verbrecher befindet sich noch an Bord der „Pennsylvania“,“
entschied Bobby Dodd. „Wir werden ihm sofort ein drahtloses Telegramm
nachschicken. Ich selbst fahre morgen mit der „Mauretania“ nach
Liverpool und werde ihn in Plymouth in Empfang nehmen.“

Eine Stunde später, die „Pennsylvania“ hatte Staten Island längst
hinter sich, brachte der Bordtelegraphist dem Kapitän Siems ein
drahtloses Telegramm, das folgenden Wortlaut hatte: „Der Millionendieb
Peter Voß aus St. Louis, auf dessen Ergreifung eine Belohnung
von zweitausend Dollar gesetzt ist, befindet sich an Bord der
„Pennsylvania“, Sie werden ersucht, ihn sofort zu verhaften.“

„Steward!“ rief der Kapitän. „Bringen Sie mir mal die Passagierliste.“

Doch darin war kein Peter Voß zu finden. Der Kapitän ließ dieses
Resultat zurücktelegraphieren.

Sofort kam die Antwort: „Der Dieb sitzt im Schiffsraum.“

„Noch einer!“ knurrte der Kapitän ärgerlich. „Was sich die Leute bloß
denken!“

Dann ließ er den ersten Offizier und den ersten Bootsmann holen.

„Michel!“ sagte er zu ihm. „Da soll noch ein Millionendieb im Raum
stecken.“

„Das kann doch nicht gut möglich sein!“ antwortete Michel Mohr
treuherzig.

„Er muß gesucht werden!“ sagte der Kapitän und sah den ersten Offizier
fragend an.

„Wenn ihn der erste Bootsmann nicht findet,“ antwortete der Offizier,
der keine Lust hatte, sich in den Räumen die Uniform zu beschmutzen,
„dann findet ihn keiner. Er kann ja den Zimmermann zu Hilfe nehmen!“

„Der Zimmermann hat jetzt keine Zeit,“ meinte Michel Mohr. „Ich will
erst mal selbst zusehen. Ausreißen kann er nicht mehr. Später können
wir ja mit mehr Leuten suchen.“

„Er hat recht!“ sagte der Kapitän, und damit war die Angelegenheit vor
der Hand erledigt.

Michel Mohr verlangte vom Obersteward den Schlüssel zum Gepäckraum.

„Da sind eben zwei Stewards hinten, die den großen Koffer für Mr.
Murrel holen,“ sagte der.

Und richtig, da kamen die beiden Stewards schon keuchend unter der
schweren Last durch den schmalen Kajütsgang.

Frank Murrel schlief in seiner Kabine allein. Wenn er sich den ohnehin
engen Raum mit diesem Riesenkoffer füllen wollte, so war das seine
eigne Sache.

„Nicht stürzen, um Gottes willen nicht stürzen!“ rief er und öffnete
die Kabinentür. „Immer ganz sanft aufsetzen. Es sind Glassachen darin.“

Du wirst dich wundern! dachte Peter Voß schadenfroh.

Die beiden Stewards bekamen ein Trinkgeld und zogen ab.

Frank Murrel war mit seinem Koffer allein. Rasch riegelte er die Tür
ab, löste mit fliegenden Händen die Schloßriegel und prallte entsetzt
zurück.

„Guten Morgen, Mr. Murrel!“ sagte Peter Voß, stieg heraus, klappte
den Deckel zu und setzte sich darauf, wobei er Arme und Beine nach
Herzenslust streckte.

„Sie sind,“ ächzte Frank Murrel, als sähe er ein leibhaftes Gespenst,
„Sie sind Peter Voß.“

„Ganz recht!“ nickte Peter Voß. „Ich bin der Millionendieb aus St.
Louis. Es freut mich sehr, daß mein Ruhm schon bis zu Ihnen gedrungen
ist.“

„Was wünschen Sie?“ preßte sich Frank Murrel heraus.

„Können Sie sich das gar nicht denken?“ lachte Peter Voß. „Sie werden
mich an Stelle Ihres Freundes mit nach London nehmen. Ich habe aber
nicht die Absicht, acht Tage hier in der Kabine zu sitzen.“

„Sie wollen an Deck?“ stöhnte Frank Murrel entsetzt. „Das ist
unmöglich.“

„O,“ lächelte Peter Voß abwehrend, „wenn man sich nur Mühe gibt und
etwas mehr als die unbedingt nötige Vorsicht anwendet, ist nichts
unmöglich. Sie halten es vielleicht für unmöglich, zwei Millionen zu
stehlen. Ich versichere Ihnen, es war mir eine Kleinigkeit. Daß ich
jetzt hier an Stelle Ihres Freundes auf dem Koffer sitze, hätten Sie
gestern noch für unmöglich gehalten. Wie Sie sehen, ist es bereits eine
unumstößliche Tatsache, mit der Sie sich abzufinden haben. Einigkeit
macht stark, Mr. Murrel. Ich schlage vor, wir schließen einen Vertrag.
Wenn Sie ihn halten, bin ich imstande, Sie fürstlich zu belohnen.“

„Wo haben Sie das Geld?“ forschte Frank Murrel neugierig.

„Auf der Bank von England!“ erwiderte Peter Voß. „Das ist eine ideale
Anstalt für Defraudanten. Dort liegt es so sicher wie in Abrahams
Schoß. Wenn ich erwischt werde, was ich allerdings nicht hoffe, sitze
ich meine Jahre ab und hole es mir dann. Eine sehr einfache Sache.“

„Goddam!“ sagte Frank Murrel und reichte ihm die Hand hin. „Ich bin
einverstanden, übernehmen Sie die Führung.“

„Sie sind ein vernünftiger Kerl!“ rief Peter Voß und schlug ein. „Wir
werden uns schon vertragen. Sind Sie schon an Deck gewesen?“

„Nein!“ versetzte Frank Murrel. „Ich mußte doch erst den Koffer öffnen.“

„Famos!“ sagte Peter Voß. „Dann ist es kinderleicht. Ich gehe an Deck,
und Sie bleiben unten.“

Frank Murrel versuchte nicht erst zu protestieren und senkte den Kopf.
Es blieb ihm nichts weiter übrig, als auf den Vorschlag einzugehen.

„Na!“ sagte Peter Voß gutmütig und klopfte ihm auf die Schulter. „In
der Nacht können Sie hin und wieder an Deck gehen und ein bißchen Luft
schöpfen. Wir haben ja eine gewisse Aehnlichkeit miteinander. Das
haben Sie wohl auf der Polizeiwache gemerkt! Das Schlimmste ist Ihre
Verpflegung. Die Vorräte im Koffer halten keine drei Tage vor. Wie
haben Sie sich das eigentlich gedacht?“

Nun kam es heraus, daß Frank Murrel überhaupt nicht so weit gedacht
hatte.

„Es wird sich schon ein Ausweg finden!“ meinte Peter Voß und setzte
sich vor den Spiegel. „Zuerst muß ich die verdammte Farbe loswerden.“

Und schon ging er mit Seife und Bürste seinen knallroten Haaren zu
Leibe.

„Ich habe etwas Besseres!“ sagte Frank Murrel und brachte eine Flasche
zum Vorschein. „Als Bühnenkünstler muß man dergleichen immer zur Hand
haben.“

„Bitte!“ lächelte Peter Voß und ließ sich von Frank Murrel gehörig den
Kopf waschen, bis die rote Farbe allmählich verging. Dafür kam eine
andere Farbe zum Vorschein.

„Zum Teufel!“ begehrte Peter Voß auf. „Jetzt hab ich grüne Haare.“

„Nur Geduld!“ tröstete ihn Frank Murrel und holte, nachdem er sich ein
paar Handschuhe angezogen hatte, eine andere Flasche hervor. „Jetzt
Nußbraun, das brauche ich selbst.“

Nach einer halben Stunde war das Werk vollbracht. In der Dunkelheit
sahen sie sich zum Verwechseln ähnlich, aber im Licht konnte nur ein
sehr Kurzsichtiger Peter Voß für Frank Murrel halten und umgekehrt.

Da klopfte es an die Tür. Peter Voß ging öffnen. Frank Murrel kroch vor
Schreck in die Koje. Draußen stand der Steward und begehrte das Billett.

„Komm herein, mein Junge!“ sagte Peter Voß gemütlich und zog die Tür
hinter dem Steward zu. „Siehst du, da ist noch einer, und wir haben nur
ein Billett!“

Der Steward schaute betroffen von einem zum andern. Frank Murrel wäre
am liebsten vor Angst in den Koffer gekrochen. Nur Peter Voß behielt
seine Ruhe.

„Guck dir den Koffer an!“ fuhr er fort. „Es handelt sich nämlich um
eine Wette. Der Herr wird dir sofort zwanzig Dollar geben. Ebensoviel
kriegst du in Plymouth von ihm. Wir wollen dich nicht etwa bestechen
oder in Ungelegenheiten bringen, mein Junge. Aber wir verlangen nichts
umsonst. Für dich steckt der Mann da stets im Koffer, auch wenn er
auf dem Sofa liegt. Verstanden? Sonst sind die zweiten zwanzig Dollar
futsch. Und wenn du ihn gut fütterst, lege ich noch zehn Dollar zu.“

Der Steward war nicht dumm und hatte bald begriffen. Fünfzig Dollar!
Soviel betrug fast die halbe Passage. Er nickte nur und streckte die
Hand aus. Frank Murrel zog das Geld mit süßsaurer Miene aus der
Hosentasche.

Dann wurde der große Koffer aufgekantet, in der Ecke festgelascht, und
Peter Voß ging als Frank Murrel an Deck. Er hatte sich dazu einen schön
gestreiften Sakkoanzug ausgesucht.

Der erste Bootsmann aber suchte und suchte das ganze Schiff durch. Er
rief Peter Voß mit Namen, aber niemand meldete sich.

Er ist wohl doch nicht mehr an Bord! dachte Michel Mohr und machte dem
Kapitän Meldung davon, der sofort nach New York zurücktelegraphieren
ließ.

Michel Mohr ging darauf über Deck, um seinem Freunde Peter Voß ein
stilles Glas Grog zu weihen. Da strich ein Passagier an ihm vorbei, der
einen nobelgestreiften Rock anhatte, einen steifen, schwarzen Hut auf
den kurzgeschorenen, braunen Haaren trug und zwischen den Zähnen eine
Zigarette hielt. Er sah Peter Voß sogar ein bißchen ähnlich. Die Hände
hatte er mit den Daumen in die Hosentaschen gehängt. Mit den übrigen
acht Fingern spielte er vor Vergnügen Klavier an den Hosennähten.

„Michel!“ flüsterte dieser Passagier plötzlich, ohne die Zigarette aus
den Zähnen zu nehmen. „Sorg dich nicht, ich bin fein zuwege.“

Und schon war er um die Ecke verschwunden. Michel Mohr glotzte ihm nach.

So ein Kerl! dachte er. So ein gottverdammter Kerl! Wie kommt er bloß
in die Kajüte! Da schlag doch einer lang hin!

Dann machte er, daß er in seine Kammer kam, um das innere Gleichgewicht
vermittelst einiger Grogs wiederherzustellen.

Beim Lunch wurde Peter Voßens Messer als gefunden ausgeläutet. So kam
er wieder zu seinem Eigentum zurück.

Inzwischen hatte Dodd mit Polly einen schweren Stand. Sie wollte
durchaus in New York bleiben, weil sie ihren Mann noch immer hier
vermutete. Dodd dagegen hatte schon Kabinen auf der „Mauretania“
belegt, die zwei Tage eher in Liverpool anlangte, als die
„Pennsylvania“ in Plymouth.

„Mrs. Voß,“ beschwor er sie, „warum vertrauen Sie mir nicht!“

„Wegen des Steckbriefs!“ trumpfte sie auf. „Ich bleibe hier. Und wenn
ich ihn hier nicht finde, werde ich ihn in Deutschland suchen. Dort hat
er Verwandte, einen Onkel. Er hat mir sehr viel von ihm erzählt.“

„Wissen Sie, wo dieser Onkel wohnt?“ fragte Dodd interessiert.

„Ich habe den Namen der Stadt vergessen,“ erklärte sie. „Es war eine
kleine Stadt. Aber er wird mir schon wieder einfallen.“

„Mrs. Voß, ich mache Ihnen einen Vorschlag,“ sagte Dodd aufrichtig,
„daraus werden Sie erkennen, wie ernst ich es mit meinem Versprechen
nehme. Ohne die Hilfe der Polizei bin ich machtlos. Ich kann auf den
Steckbrief ebensowenig verzichten wie auf Ihre Hilfe. Sollte jedoch Mr.
Voß irgendwo gefaßt werden, so stelle ich Ihnen frei, seine Identität
schlankweg zu leugnen. Und man wird ihn auf der Stelle freilassen.
Dann aber werden Sie sich heimlich mit ihm verständigen und sich
ihm anschließen. Sie geben mir dann Nachricht, und ich komme darauf
zu Ihnen, und wir erledigen die ganze Sache in Güte unter uns. Ins
Sanatorium aber muß er auf alle Fälle.“

Polly fuhr auf und starrte ihn an. Wie war es möglich gewesen, daß
dieser Mann ihre geheimsten Gedanken erraten hatte!

„Sie werden also gar nicht nötig haben, gegen mich zu arbeiten,“ fügte
er hinzu.

„Wie können Sie wissen?“ stieß sie fassungslos heraus.

„Daß Sie so etwas schon heimlich erwogen haben,“ versetzte er lächelnd.
„Es lag ja auf der Hand, und ich rate Ihnen selbst dazu, um mir wieder
Ihr Vertrauen zu erringen. Denn Ihre Sympathie ist mir außerordentlich
wertvoll.“

„Was soll das heißen!“ rief sie außer sich.

„Ich liebe Sie!“ sagte er ganz einfach.

„Mr. Dodd!“ lachte sie verzweifelt auf. „Sie sind in meinen Augen eine
komische Figur.“

„Es mag sein!“ erwiderte er ernst. „Aber ich denke, Sie werden
allmählich lernen, mich nicht humoristisch zu nehmen. Ich halte Mr.
Voß für einen hoffnungslosen Paralytiker. Es kommt die Zeit, wo Ihnen
nichts anderes übrig bleiben wird, als sich von ihm zu trennen.“

„Niemals!“ rief sie entrüstet.

„Und dann werden Sie sich meiner erinnern!“ fuhr Dodd unbeirrt fort.
„Ich werde warten.“

Polly preßte die Hände gegen die fiebernden Wangen.

„Ich werde Sie niemals lieben!“ rief sie und sank weinend in den Sessel.

Ihr Widerstand war besiegt.

„Sie sind vorläufig noch gar nicht in der Lage, das entscheiden zu
können!“ bemerkte er sanft. „Mein Vorschlag bringt die Lösung. Nehmen
Sie ihn an und fahren Sie mit mir nach England. Ich werde Ihnen
beweisen, daß ich ein Gentleman bin. Ist Peter Voß nicht verrückt,
dann kommt er ins Zuchthaus. Kommt er nicht ins Zuchthaus, dann ist
er verrückt. Und bei seiner außerordentlichen Intelligenz kann es
nur unheilbarer Wahnsinn sein, der ihn antrieb, nach den Millionen
zu greifen. In beiden Fällen werden Sie sich von ihm scheiden lassen
müssen. Und dann, Mrs. Voß, werde ich erscheinen, und Sie werden mich
nicht zurückstoßen.“

„Nein, nein!“ seufzte sie mit ersterbender Stimme. „Er wird gesund
werden, er muß gesund werden. Ich werde ihn pflegen.“

In diesem Augenblicke wurde Dodd das drahtlose Telegramm gebracht, nach
dem Peter Voß auf der „Pennsylvania“ nicht aufzufinden war.

„Sie haben knapp zwei Stunden gesucht!“ sprach er ärgerlich und warf es
auf den Tisch. „Er ist doch an Bord!“

Am nächsten Morgen fuhr er und Polly mit der „Mauretania“ auf
Liverpool zu. Die ersten Tage hatten die Schiffe drahtlose Verbindung
miteinander, und Dodd forderte den Kapitän Siems auf, weitere
Nachforschungen nach dem Millionendieb anzustellen. Doch es kam keine
Antwort, für Kapitän Siems war die Sache völlig erledigt. Er hatte
es satt, sich mit diesen verdammten amerikanischen Millionendieben
herumzuärgern.

Frank Murrel ließ es sich drei Tage lang wohl sein, wurde von dem
Steward sehr gut verpflegt und söhnte sich mit den Widerwärtigkeiten
seines Schicksals aus. Aber dann wurde er seekrank, und zwar auf
eine so erbarmungswürdige Weise, daß Peter Voß mit Hilfe des Stewards
nachtsüber in die leere Nebenkabine übersiedelte.

Erst am sechsten Tage wurde Frank Murrel wieder besser, allerdings nur
körperlich. Aus seinem Geiste lagerte ein dumpfer Druck. Den ganzen
Tag saß er in der Koje und hatte den Kopf zwischen den Händen. Eine
sehr moderne Krankheit war bei ihm im Anzuge, die Kabinenangst. Peter
Voß merkte es wohl und riet ihm mehrfach, in der Nacht an Deck zu
schlüpfen. Aber Frank Murrels Furcht, entdeckt zu werden, war immer
noch größer als seine Kabinenangst.

Da ließ ihn Peter Voß sitzen. Bald war es ja überstanden. Die
„Pennsylvania“ näherte sich schon stark der englischen Küste.

Peter Voß war der Held des Decks, er hatte eine ganze Gesellschaft
um sich versammelt und unterhielt sie mit seinen Schnurren und
Kartenkunststückchen. Dafür galt er ja als Frank Murrel, der
Varietékünstler. Zu jonglieren lehnte er entschieden ab, weil das
Schiff nicht genügend still lag. Er konnte es natürlich nicht. Ein
paar Backfische fanden ihn einfach himmlisch. Am letzten Abend
der Ueberfahrt war das Kapitänsessen. Peter Voß hielt dabei eine
schwungvolle Rede auf den wackeren Kapitän Siems und wurde von ihm zu
einem Glase Bier eingeladen.

„Mr. Murrel!“ sagte er beim zweiten Glase. „Sie sind ein ganz patenter
Kerl. Wo haben Sie so gut Deutsch gelernt?“

„Meine Mutter war eine Hamburgerin,“ versetzte Peter Voß bescheiden.

„Also auch ein Hamburger Jung!“ rief der Kapitän begeistert und stieß
mit ihm an.

Aber die Gesellschaft an Deck wollte nicht länger auf Peter Voßens
gesellschaftliche Talente verzichten und ließ ihn durch den Decksteward
herunterbitten.

Bald saß er wieder mitten unter ihnen und brachte sie in wenigen
Augenblicken zum Lachen, kaltblütig wie ein gewerbsmäßiger Spaßmacher.

Und da platzte die Bombe, und daß sie platzte, daran war nichts anderes
als Frank Murrels Kabinenangst schuld. Sie hatte jede Vernunft in
ihm erstickt. Er mußte hinauf! Sonst wäre er verrückt geworden. Er
hätte sich aus dem Bullauge ins Meer gestürzt, wenn die Kabinentür
abgeschlossen gewesen wäre. Groß genug war es dazu.

Jetzt war ihm alles gleich. Er wankte an Deck auf Peter Voß zu, den
Hahn im Korbe der Gesellschaft.

Da standen sich plötzlich zwei Frank Murrels gegenüber. Die beiden
Backfische fielen in Ohnmacht.

„Betrüger!“ zischte der echte Murrel und hob die Faust.

Die Passagiere schrien und stoben auseinander wie ein Schwarm Tauben,
unter die der Habicht gefahren ist. Sie tobten aufgeregt durcheinander.
Aus dem Rauchzimmer stürzte der Obersteward. Man schrie nach dem
Kapitän.

Nur die Ruhe kann es machen! dachte Peter Voß und fixierte seinen
Doppelgänger.

„Verhaften Sie diesen Menschen!“ sagte er dann kaltblütig zu dem
Obersteward. „Er ist der Millionendieb Peter Voß aus St. Louis.“

„Schurke!“ schrie der andere. „Du bist es selbst!“

„Das ist also der Dank!“ brüllte ihn Peter Voß in der ehrlichen
Entrüstung eines enttäuschten Wohltäters an. „Sie kriechen in meinen
Koffer, zerbrechen mir meine kostbaren Glassachen, und ich habe
trotzdem Mitleid mit Ihnen und verberge Sie in meiner Kabine. Und nun
besitzen Sie die Kühnheit, mir den Kleiderschrank zu beräubern und hier
herauf zu kommen und diese nichtswürdige Komödie zu spielen. Auch ein
Millionendieb muß Ehre im Leibe haben.“

Ueber diese Unverschämtheit stand der echte Murrel wie entgeistert da.

Nun erschien Kapitän Siems. Er beschaute sich erst den echten, dann den
falschen Murrel und schüttelte dann den Kopf. So etwas war ihm denn
doch noch nicht vorgekommen!

„Hier sind meine Papiere!“ schrie der echte Murrel mit wutbebender
Stimme und riß ein paar Blätter aus seiner Brusttasche.

„Ha!“ schrie Peter Voß mit noch wutbebenderer Stimme, stürzte sich
schnell auf ihn und entriß ihm die Papiere. „Also auch die hast du mir
gestohlen. Da schlag doch ein Kreuzhimmeldonnerwetter drein.“

„Kommen Sie mal beide mit!“ sagte der Kapitän und ließ sie voran aufs
Bootsdeck steigen. „Das wollen wir geschwind heraus haben. Geben Sie
mal die Papiere her.“

„Sie wagen an meiner Identität zu zweifeln?“ rief Peter Voß empört, als
sie in der Kapitänskajüte waren.

„I wo!“ tröstete ihn der Kapitän. „Ich will bloß den andern entlarven.“

Da gab Peter Voß die Papiere heraus, und der Kapitän begann den echten
Murrel nach allerlei zu fragen, was in den Papieren stand. Wie am
Schnürchen wußte er die Angaben herzubeten.

„Was sagen Sie dazu?“ fragte der Kapitän ganz überrascht.

„Er hat als geübter Verbrecher die Papiere auswendig gelernt,“ erklärte
Peter Voß wegwerfend.

In diesem Augenblick nahm Frank Murrel vom Tische einen schweren
Aschenbecher aus gegossenem Glas, eine Streichholzschachtel und einen
abgebrannten Zigarrenstummel und begann zu jonglieren. Und wie konnte
er jonglieren! Obwohl der Dampfer vom Grundschwell der nahen Küste
stark überholte, fiel kein Stück auf den Boden.

„Donnerwetter!“ rief Kapitän Siems in ehrlicher Bewunderung.

Jetzt sitz ich fest! dachte Peter Voß, steckte aber eine sehr
verächtliche Miene auf.

„Na, Sie können das gewiß noch viel besser!“ wandte sich der Kapitän an
Peter Voß.

„Gewiß!“ bestätigte er. „Aber ich tu es nicht.“

Kapitän Siems wich zurück, als hätte er einen sehr derben Schlag auf
die Kugelweste erhalten. Sein Argwohn wuchs. Der echte Frank Murrel
lächelte triumphierend. Die Kabinenfurcht verließ ihn restlos.

„Das ist sehr verdächtig!“ bemerkte der Kapitän und blätterte in den
Papieren. „Wann ist Ihre Mutter geboren?“

Peter Voß sagte das richtige Datum, er hatte es sich genau gemerkt, als
Frank Murrel seine Personalien hergebetet hatte.

Der Kapitän schaute ihn plötzlich außerordentlich kritisch an.

„Sagten Sie nicht, Ihre Mutter sei eine geborene Hamburgerin?“ fragte
er stirnrunzelnd. „Hier stammt sie aus Boston. Ich denke, Sie geben die
Komödie auf und lassen sich einsperren.“

Peter Voß nickte. Der Kapitän drückte auf den Knopf.

„Er hat die Millionen auf der Bank von England liegen!“ rief Frank
Murrel.

„Das geht mich nichts an!“ wies ihn der Kapitän zurück und gab dem
eintretenden Steward einen Wink, den ersten Bootsmann zu holen.

Michel Mohr kam und schaute sich die beiden Murrels an.

„Da steht der Millionendieb!“ sagte der Kapitän und wies auf Peter Voß.
„Setz ihn mal fest.“

„Kommen Sie!“ schnauzte Michel Mohr seinen allerbesten Freund an und
packte ihn am Arm.

„Mein Smoking!“ jammerte Frank Murrel, denn natürlich hatte sich Peter
Voß zum Kapitänsessen den allerbesten Rock angezogen.

Er wurde in die kleine Kabine zurückgeführt und mußte in seinen alten
blauen Anzug kriechen. Wieder packte ihn Michel Mohr am Arm und
brachte ihn unter der Bedeckung zweier Stewards aufs Achterdeck, wo er
die Isolierzelle des Hospitals aufschloß.

„Marsch, hinein mit dir, du gottverdammichter Millionendieb!“ brüllte
er und gab ihm einen Fußtritt, der aber nur die Luft traf.

Der eine Steward grinste, dem andern schlotterten die Knie. Er schlich
zu Frank Murrel in die Kabine und beschwor ihn unter Tränen, ihn nicht
anzuzeigen.

„Geben Sie die zwanzig Dollar heraus!“ befahl Frank Murrel und nahm das
Geld zurück. „Damit ist die Sache für mich erledigt. Sie haben mich
wenigstens nicht verhungern lassen.“

Er war alles in allem ein Gemütsmensch.

Peter Voß war gefangen.

Eine ganz gemütliche Bude! dachte er. Nur ein wenig duster!

Denn es war gegen zehn Uhr abends.

Die „Pennsylvania“ hatte durch den Sturm eine solche Verspätung
erlitten, daß der Kapitän nicht mehr hoffen konnte, vor Mitternacht den
Hafen zu erreichen. Er befahl deshalb, die Maschine auf halbe Kraft zu
setzen und ließ nach Plymouth telegraphieren, daß der Millionendieb
gefangen sei.

Es war Mitternacht, als der Dampfer ziemlich dicht bei Cowsand
vorbeischob.

Um diese Zeit versicherte sich Michel Mohr, daß niemand auf dem
Achterdeck war, öffnete die Isolierzelle und schlüpfte hinein.

„Du mußt über Bord!“ flüsterte er Peter Voß zu. „Es ist höchstens eine
Seemeile bis hinüber. Schwimmen kannst du ja.“

Damit öffnete er das Bullauge, das mehr als groß genug war, Peter
Vossens geschmeidigen Körper durchzulassen. Er drückte Michel Mohr
dankbar die Hand und warf den Rock ab. Durch die nächtige Dunkelheit
schimmerte in geringer Entfernung an Backbord die Küste.

„Schlecht abkommen!“ meinte er, nachdem er den Kopf durch das Bullauge
gesteckt hatte. „Laß mich lieber an Deck!“

„Aber du mußt über Bord springen!“ machte sich Michel Mohr aus.

„Verlaß dich drauf, ich bin gewohnt, große Sprünge zu machen!“
versicherte Peter Voß und holte aus der Tasche seiner Jacke seine
Brieftasche. „Hier ist mein Geld. Mach ein Paket daraus und leg es bei
der Agentur in Plymouth nieder; wenn die Luft rein ist, hol ich es mir
ab.“

Dann flitzte er in elegantem Hechtsprung über die Backbordreling.

Michel Mohr steckte die Brieftasche ein und ging auf die Brücke.

„Der Millionendieb ist über Bord gegangen!“ sagte er. „Das Bullauge
stand offen, und das Schloß ist unversehrt.“

„Himmelbombenelement!“ fluchte der erste Offizier überrascht.

„Ja!“ meinte Michel Mohr. „Es gibt solche Leute, die ersaufen lieber,
als daß sie ins Zuchthaus wandern.“

Der Kapitän wurde geweckt und gefragt, ob man ein Boot aussetzen solle.

„Ach was, laß ihn laufen!“ knurrte er und legte sich auf die andere
Seite. „Da haben wir wenigstens keine Scherereien.“

Um sechs Uhr morgens ging die „Pennsylvania“ hafenein, nachdem sie
draußen drei Stunden vor Anker gelegen hatte. Sie hatte in Plymouth nur
dreiviertel Stunden Aufenthalt.

Dodd war schon am Tage vorher mit Polly in Plymouth eingetroffen,
nachdem ihn die amerikanische Gesandtschaft in London legitimiert
hatte. Die Plymouther Polizeibehörde unterstützte ihn nach Kräften.
Noch in der Nacht wurde ihm das letzte Telegramm von der „Pennsylvania“
ins Hotel gebracht. Er ließ es für Polly offen auf dem Tische liegen
und erschien gleich mit dem Zollboot an Bord der „Pennsylvania“.

Kapitän Siems zuckte nur die runden Schultern und wies auf Michel Mohr,
der Dodd in die Isolierzelle auf dem Achterdeck führte.

„Da hat er drin gesessen!“ sagte er treuherzig. „Hier liegt noch seine
Jacke.“

Dodd durchstöberte die Jacke und die Zelle, ohne den geringsten
Anhaltspunkt zu entdecken. Nun nahm er Michel Mohr ins Verhör.

„Ich denke mir, er wird an Land geschwommen sein!“ meinte der Bootsmann
im Tone des biederen Seemanns. „Bei Cowsand sind wir dicht unter der
Küste längs gekommen. Aber das ist schon gut sechs Stunden her.“

Die „Pennsylvania“ war unterdessen von der Gesundheitspolizei
freigegeben worden und Polly eilte an Deck. Sie lief Dodd fast in die
Arme.

„Wo ist er?“ rief sie außer sich vor Aufregung.

„Ueber Bord gegangen,“ sagte Dodd zerknirscht.

„Er ist ertrunken!“ schrie sie und sank in Ohnmacht.

Dodd bettete sie mit Hilfe des Oberstewards in einen langen Stuhl. Dann
flößte er ihr etwas Tee ein, worauf sie wieder zu sich kam.

„Mrs. Voß!“ flehte er sie an. „Sie befinden sich im Irrtum. Er ist
dicht unter der Küste über Bord gesprungen und jedenfalls an Land
geschwommen. Ein Millionendefraudant begeht keinen Selbstmord.“

„Aber er ist doch geisteskrank!“ stöhnte sie matt.

„Gewiß, gewiß!“ beeilte er sich ihr zu versichern. „Er hat eine Manie,
und zwar die Manie, die entwendeten Millionen vor uns in Sicherheit
bringen zu wollen. Nur Geduld, wir werden ihn schon fassen.“

Dann nahm er sich Frank Murrel vor, um ein genaues Signalement des
Flüchtlings festzustellen, und schickte einen neuen Steckbrief in
die Presse und an die Zeitungen, diesmal aber ohne Photographie.
Frank Murrel machte ihn auch darauf aufmerksam, daß die Millionen auf
der Bank von England lägen. Auf einem Polizeidampfer, den man ihm
bereitwilligst zur Verfügung stellte, fuhr Dodd mit Polly nach Cowsand
hinaus.

Inzwischen hatte Michel Mohr Peter Voßens Brieftasche mit sehr viel
Packpapier verschnürt und suchte nun den Agenten. Auf diesen armen,
geplagten Mann stürmten in der kurzen Zeit tausend Sachen gleichzeitig
ein.

Es ging alles in rasendem Tempo. Michel Mohr fand ihn im dichtesten
Gedränge vor dem Bureau des Zahlmeisters stehen.

„Hier ist ein Paket!“ sagte Michel Mohr und reichte es über drei Köpfe
hinweg. „Es wird abgeholt werden.“

Und fort war er. Denn auch er hatte die Hände voll zu tun. Der
Agent schaute gar nicht hin und schob das Paket unter den Arm. Eine
Viertelstunde später ging die „Pennsylvania“ hafenaus und überholte
kurz vor der Ausfahrt einen kleinen Polizeidampfer, auf dessen Verdeck
Dodd und Polly standen. Michel Mohr schaute über Bord und erkannte den
amerikanischen Detektiv.

„Viel Vergnügen!“ rief er hinunter und schwang seine Mütze.

Der Agent übergab das Paket einem jungen Mann, der in der Expedition
der Firma tätig war.

„Da steht kein Name drauf,“ sagte er und drehte das Paket zwischen den
Fingern hin und her.

Der Agent öffnete es selbst, stellte mit Hilfe des amerikanischen
Bürgerbriefes, der in der Brieftasche lag, den Namen des Eigentümers
fest, ließ das Paket, da es 4000 Dollar in bar enthielt, unter seiner
Aufsicht versiegeln und befahl, es in den Geldschrank zu legen.

Dodd aber umfuhr mit Polly im Laufe des Tages den ganzen Cowsand
und fragte überall nach einem Schiffbrüchigen. Alle Polizisten der
Halbinsel brachte er auf die Beine. Seine Zähigkeit und Ausdauer waren
verblüffend, und vor seiner Systematik, mit der er alle Möglichkeiten
erschöpfte, konnte ihm keine Spur verborgen bleiben. Am Abend hatte er
ein vollständig negatives Resultat. Niemand hatte einen fremden Mann
gesehen, nirgends fehlte ein Boot.

„Sehen Sie!“ rief Polly, ganz erschöpft von den Anstrengungen und brach
in ein herzzerreißendes Schluchzen aus. „Er ist doch ertrunken. Oder
ein Haifisch hat ihn verschlungen.“

„Hier gibt es keine Haifische, Mrs. Voß!“ beruhigte er sie. „Ein
Millionendefraudant springt nicht ins Meer, wenn er nicht schwimmen
kann. Und zwei Seemeilen bei ruhigem Wasser ist gar keine so
hervorragende Leistung. Er ist von irgend einem Boot aufgefischt
worden.“

Dann gab er Befehl, nach Plymouth zurückzufahren.

Hier war inzwischen der Steckbrief gegen Peter Voß in den
Abendzeitungen erschienen, und der Blick des Agenten fiel auf den Namen
Peter Voß.

„Aha!“ rief er und meldete das Vorhandensein des Wertpakets bei der
Polizei.

Es wurde sofort abgeholt und Dodd ausgeliefert. Der ließ sich bei
dem Agenten melden, um genaue Nachforschungen nach dem Auslieferer
anzustellen.

„Es tut mir leid!“ sagte er achselzuckend. „Ich weiß nicht einmal, ob
es einer von der Besatzung oder von den Passagieren gewesen ist. Der
Mann weiß vielleicht gar nicht, um was es sich handelt. Sonst hätte er
das Paket nicht unversiegelt abgeliefert. Es ist Geld darin.“

„Ich weiß es!“ erwiderte Dodd. „Wenn jemand nach dem Paket fragt,
halten Sie ihn fest und melden Sie es der Polizei.“

„Verlassen Sie sich darauf!“ rief der Agent. „Ich verdiene mir gern
2000 Dollar nebenbei.“

Dodd sauste ins Hotel zurück und fand Polly wieder in Tränen.

„Sie haben ihn in den Tod getrieben!“ schluchzte sie auf.

„Hier der Beweis, daß er noch lebt!“ sagte er und legte das Paket auf
den Tisch. „Bitte, öffnen Sie es.“

Es waren an Geld vier Tausenddollarnoten darin und einige
Legitimationspapiere.

„Das ist alles?“ rief sie, grausam enttäuscht.

Dodd glaubte selbst nicht daran, daß Peter Voß die 4000 Dollar abholen
würde. Was waren einem Millionendieb 4000 Dollar? Das Paket war nur
abgegeben worden, um ihn auf eine falsche Fährte zu locken. Aber er
fand es nicht für ratsam, dieses Bedenken Polly mitzuteilen.

„Was nun?“ sagte sie ganz verzweifelt.

„Warten und suchen!“ erwiderte er. „Sobald er in die Agentur kommt,
wird er gepackt.“

„Aber ich leugne seine Identität!“ rief sie und fuhr empor.

„So lautet unser Kontrakt!“ bestätigte er kopfnickend. „Ich hoffe, Sie
werden niemals nötig haben, mich des Kontraktbruches zu beschuldigen.“

Da trocknete sie ihre Tränen und faßte wieder Mut. Eine unerklärliche,
aber tiefinnere Zuversicht, daß Peter Voß noch am Leben sei, stärkte
sie. Seine Brieftasche ließ sie nicht mehr von sich.

Am nächsten Morgen fuhren sie im Auto an der schönen, englischen
Kanalküste entlang, wo Dodd jedes, auch das kleinste Fischerdorf
aufsuchte und Nachforschungen anstellte. Doch nirgends fand sich eine
Spur. Auch auf der Agentur meldete sich niemand.

Die Nachforschungen bei der Bank in London blieben, wie Dodd
vorausgesehen hatte, ohne jeden Erfolg.

Peter Voß war verschwunden, als hätte ihn das Meer oder die Erde
verschlungen.



5.


Peter Voß war ein ausgezeichneter Schwimmer. Glücklich war er aus
dem Heckstrudel der „Pennsylvania“ herausgekommen und suchte nun mit
kräftigen Stößen das nahe Land zu erreichen. Aber die Strömung war
stärker und versetzte ihn in den Kanal hinaus. Wohl eine ganze Stunde
arbeitete er unermüdlich dagegen an. Er kam nicht vom Fleck.

Na, denn nicht! dachte er und machte kehrt.

Weit draußen leuchtete das Feuer von Eddystone. Darauf hielt er zu. Da
er nun mit dem Strome schwamm, machte er flotte Fahrt, ohne daß er sich
übermäßig anzustrengen brauchte. Aber allmählich verließen ihn doch die
Kräfte. Da sah er plötzlich dicht vor sich einen Zweimastschoner aus
der Dunkelheit der Nacht auftauchen. Er hatte ihn nicht eher zu Gesicht
bekommen, weil das Fahrzeug mit abgeblendeten Lichtern fuhr. Peter Voß
hielt darauf zu. Da es bei Backbordhalsen anlag, konnte er ihm den Weg
abschneiden.

„Mann über Bord!“ schrie er, als er in Rufweite war.

Der Matrose am Ruder streckte den Kopf über die Reling.

„Halloh!“ schrie Peter Voß mit dem ganzen Aufgebot seiner Stimme. „Ihr
wollt doch einen Christenmenschen nicht ersaufen lassen?“

Da flog ein Rettungsring über Bord. Gleich darauf tauchte ein zweiter
Kopf über die Reling. Dieser Mann warf Peter Voß ein Tau zu. Wenige
Augenblicke später war er an Bord. Es war die „Queen“ aus Falmouth mit
drei Mann Besatzung an Bord, ein Schiffer, der sich Penfold nannte, ein
Matrose und ein Schiffsjunge. Der Schiffer schien über den neuen Gast
nicht gerade erfreut zu sein. Peter Voß scherte sich nicht viel darum,
verlangte zu essen und zu trinken und bekam es auch. Dann besah er sich
das Schiff näher.

„Ihr fahrt ohne Lichter, Mann!“ sprach er zu dem Schiffer.

Der knurrte etwas, ging auf die Seite und ließ ihn stehen.

Da ist etwas nicht in Ordnung! dachte Peter Voß und hielt die Augen
offen.

Bald darauf, als sie Eddystone querab hatten, ging der Schiffer unter
Deck. Peter Voß machte sich an den Matrosen, der am Steuer stand, und
wollte ihn aushorchen. Da kam er erst recht an den Unrechten.

Ankunft und Ladung blieben im ungewissen.

„Das ist sicher ein Schmuggler!“ sagte sich Peter Voß und legte sich in
die erste beste Koje.

Am folgenden Morgen versuchte er es noch einmal mit dem Kapitän.
Der Schiffer merkte sofort, daß er einen seebefahrenen Mann vor
sich hatte, und machte ihm, ohne nach seinem Namen zu fragen, das
Anerbieten, an Bord zu bleiben.

„Wenn die Heuer gut ist,“ meinte Peter Voß, „dann bin ich nicht
abgeneigt.“

So wurde er wieder einmal Matrose. Schon am ersten Abend waren
keine Geheimnisse mehr für ihn an Bord. Das Schiff hatte Whisky,
Streichhölzer und Kautabak geladen und versuchte sich langsam gegen die
französische Küste aufzukreuzen. Die wetterfesten, normanischen Fischer
in Pleherel warteten schon darauf. In der dritten Nacht sollte die
Schmuggelei vor sich gehen. Aber das Wetter machte ihnen einen bösen
Strich durch die Rechnung. Eine schwere See stand vom Ozean her in dem
Kanal und machte es dem kleinen Fahrzeug unmöglich, sich der brandenden
Küste zu nähern.

Erst am fünften Abend, als sich die See wieder beruhigt hatte, bekamen
sie das Land in Sicht. Peter Voß stand am Steuer. Der Schiffer war
außerordentlich zufrieden mit ihm. Er ließ den Schlickhaken wegwerfen
und die Segel reffen. So blieben sie bis Mitternacht in einer
Entfernung von zwei Seemeilen vom Lande liegen.

Punkt zwölf Uhr brannte der Schiffer eine Rakete ab, sie wurde sofort
vom Lande erwidert. Nun wurde der Anker wieder gehoben und das Schiff
mit halbgerefften Segeln der Küste nähergebracht. Die finstere, ruhige
Nacht war dem Unternehmen außerordentlich günstig. Drei große Boote
tauchten plötzlich im Gischt der Brandung auf, stießen heran und legten
sich längsseits. Wohl an hundert fleißige Hände regten sich, die Ladung
zu übernehmen. Das alles ging lautlos und ohne Kommando vor sich. Kein
Licht wurde angezündet. Jeder fand seine Handgriffe im Dunkeln.

Die scheinen das nicht zum erstenmal zu machen! dachte Peter Voß und
half fleißig mit. Vom Zusehen und Faulenzen war er überhaupt kein
Freund.

Da brach plötzlich eine blendende Helle über sie herein. Sie kam vom
Meere. Nichts konnte man da erkennen, nur einen grellen Schein, der
sich geschwind näherte.

Es war der französische Zollkreuzer.

Hals über Kopf sprangen die Fischer in ihre Boote und stießen von dem
englischen Schoner ab. Wenn es ihnen gelang, vor ihren Verfolgern die
Brandung zu erreichen, so waren sie gerettet. Die Ladung warfen sie
unterwegs über Bord. So konnte man ihnen nichts nachweisen. Umsomehr
aber dem englischen Schiffer Penfold. Denn die Hälfte der Ladung lag
noch im Raum. Außerdem schwammen rings um den Schoner Whiskykisten,
Streichholzschachteln und Kautabakrollen in buntem Gemisch, sämtlich
englischen Ursprungs.

Mit einer scharfen Wendung legte sich der Zollkreuzer neben den
Schoner und machte daran fest. Ein Dutzend Zollbeamter, bis an die
Zähne bewaffnet, sprang an Bord. Schiffer Penfold wehrte sich wie ein
Verrückter. Mit einem Spillspaken teilte er nach allen Seiten hin
Schläge aus. Auch der Matrose und der Schiffsjunge ließen sich nicht
so ohne weiteres überwältigen. Nur Peter Voß tat nichts, die Hüter der
französischen Zollgesetze zu erzürnen. Die Hände in den Taschen, ließ
er sich ruhig gefangen nehmen.

Es kann mir gar nichts Besseres passieren! dachte er und folgte mit
einem freundlichen Lächeln der Einladung, auf den Zollkreuzer zu
übersiedeln. Sein schönes Taschenmesser wurde konfisziert.

Schon am nächsten Mittag saßen sie im Gefängnis von St. Malo. Peter
Voß bekam eine freundliche, geräumige Zelle mit schöner Aussicht auf
das Meer und war mit seinem Schicksal mehr als zufrieden. Sogar eine
richtige, eiserne Bettstelle hatte er. Als sich die schwere Tür hinter
ihm geschlossen hatte, stellte er sich auf den Kopf und strampelte vor
Freude mit den Beinen.

Hier bleibe ich, bis die Kupferpapiere oben sind! dachte er vergnügt
und streckte die Nase durch das Fenstergitter, um möglichst viel von
dem nahen Hafen und der schönen Umgebung zu erschauen.

Wenn mich Bobby Dodd hier findet, dann kann er wirklich mehr als in den
Zeitungen für sich Reklame machen!

Und voller Heiterkeit legte er sich auf das harte Lager und begann sich
eins zu pfeifen. Nur Polly fehlte ihm zu seinem vollen Glück.

Noch niemals hatte ein so vergnügter Häftling im Gefängnis von St. Malo
gesessen, wie der neue auf Zelle Nummer 19. Der Wärter mußte sich immer
das Lachen verbeißen, wenn ihm dieser Mann, beim Essenbringen, auf den
Händen entgegengelaufen kam oder gar durch die Zelle Rad schlug, immer
von einer Ecke in die andere. Peter Voß wurde die Zeit durchaus nicht
lang. Wenn er sich nicht Bewegung machte, unterhielt er sich mit dem
Wachtposten, der vor der Front des Gefängnisses auf- und abspazierte.
Sein Französisch war zwar nicht tadellos, aber es genügte vollkommen
zur Verständigung.

Zwischendurch nahm er sich die Zeit, sich auf sich selbst zu besinnen.
Er lag auf der Pritsche und dachte an Polly. Was würde sie für Augen
machen, wenn sie ihn hier sitzen sähe? Und er lachte vor Vergnügen laut
auf.

Da meldeten sich von der nächsten Zelle her Klopftöne. Er horchte
gespannt. Lange und kurze Töne unterschied er, zu bestimmten Zeichen
zusammengestellt. Es war kein Zweifel, der Mann morste. Und auf diese
Art der Verständigung verstand sich Peter Voß aus dem Grunde. Als
Seemann hatte er nicht nur bei Tage mit Flaggen zu signalisieren
gelernt, sondern auch bei Nacht durch lange und kurze Laternenblitze.
Das ganze Alphabet hatte er im Kopfe. Und sofort begann die
Unterhaltung.

„Wer dort?“ fragte er auf englisch, weil ihm diese Sprache geläufiger
als die französische war.

„William Schmidt aus London,“ war die Antwort.

„Weshalb sitzt du hier?“

„Ich habe einen kleinen Einbruch begangen und drei Jahre abgekriegt.“

„Gratuliere! Wie lange sitzt du schon?“

„Ein halbes Jahr. Aber ich habe es gründlich satt.“

„Kann ich mir denken,“ telegraphierte Peter Voß zurück.

„Nächstens breche ich aus.“

„Wie denn?“ fragte Peter Voß neugierig.

„Durch das Fenster, ich habe schon fünf Eisen gelockert.“

„Sieht man das nicht?“

„Nein! Ich habe eine lange Praxis hinter mir. Ich gehe nach London.“

„Viel Vergnügen!“

„Willst du nicht mitkommen?“

„Danke, mir gefällt es hier sehr gut!“

„Du brauchst nur die Mauer zu durchbrechen. Sie ist nicht dick.“

„Ich habe dafür keinen Bedarf!“ erwiderte Peter Voß.

„Damn!“ kam es von drüben, und die Unterhaltung wurde abgebrochen.

Ich werde mich schwer hüten, dieses schöne Hotel, wo man gratis
verpflegt wird, so schnöde zu verlassen! dachte Peter Voß und rieb sich
die Hände.

Drei Tage später stand er vor dem Gericht. Seine drei Komplicen waren
schon verhört worden und saßen zerknirscht auf der Anklagebank. Peter
Voß wünschte höflich: „_Bonjour, messieurs!_“ und machte vor jedem der
drei Richter eine tiefe Verbeugung. Aber sie schauten sehr mürrisch
drein und hielten es nicht einmal für nötig, ihm zu danken.

Nun sollten seine Personalien aufgenommen werden. Durch die Aussage des
Schiffers und seiner beiden Leute war schon festgestellt worden, daß er
als Schiffbrüchiger vor Plymouth an Bord des Schmuggelschiffes gekommen
war. Demgemäß konnte seine Strafe nur gering ausfallen, wenn er nicht
überhaupt ganz freigesprochen werden mußte.

„Wie heißen Sie?“ fragte der erste Richter.

Peter Voß kratzte sich hinterm Ohr. Es schien ihm nicht ratsam zu sein,
seinen wahren Namen zu sagen.

„Ich heiße,“ begann er und stockte plötzlich, da ihm ein anderer Name
nicht so schnell einfallen wollte, worauf er mit der merkwürdigen
Eröffnung herausplatzte: „Meine Herren, ich habe meinen Namen
vergessen.“

Die Richter lächelten vielsagend. Es war ihnen sofort klar, daß der
Angeklagte ein großes Verbrechen auf dem Gewissen haben müsse.

Peter Voß aber kam mit guten Gründen, um seine unglaubliche Behauptung
allen Ernstes zu beweisen.

„Ich fiel vor etlichen Tagen im Kanal über Bord eines Schiffes,“ begann
er mit tiefem Bedauern zu erzählen, „ich fiel auf den Kopf, dabei
verlor ich mein ganzes Gedächtnis. Sogar den Namen des Schiffes, von
dem ich gefallen bin, habe ich vergessen. Mein Kopf ist augenblicklich
ein leerer Topf mit weißen Wänden.“

„Sie behaupten also, Ihr ganzes Gedächtnis verloren zu haben?“ fragte
der Richter lauernd.

„Total!“ versetzte Peter Voß achselzuckend.

„Dann müßten Sie ja auch die Sprache verloren haben!“ sagte der Richter.

„Wieso!“ begehrte Peter Voß auf. „Dann habe ich eben, mit Ihrer
Erlaubnis, nur ein Stück von meinem Gedächtnis verloren.“

„Wir werden Ihnen Ruhe und Gelegenheit geben, das verlorene Stück
wiederzufinden!“ versetzte der Richter sarkastisch und ließ ihn
abführen.

Peter Voß marschierte in seine Zelle zurück und pfiff sich eins. Auch
der musikalische Teil des Gedächtnisses stand ihm noch zur Verfügung.

Der Schiffer Penfold wurde zu sechs Monaten, der Matrose zu acht Wochen
und der Schiffsjunge zu vier Wochen verurteilt. Die „Queen“ wurde
versteigert und ging als „Marguerite“ unter französischer Flagge in See
nach Jersey. Jede dritte Nacht verbrachte sie in St. Malo. Peter Voß,
der sie beobachtete, freute sich über ihre Anhänglichkeit.

Er schlief in seiner Zelle meistens bis tief in den Tag hinein.
Zuweilen erkundigte er sich bei seinem Nachbar nach dem Fortschritt der
Befreiungsarbeiten. Doch der war nicht gut auf ihn zu sprechen, weil er
nicht gemeinsame Sache mit ihm machen wollte.

„Was wollt Ihr drüben in London?“ fragte Peter Voß. „Habt Ihr wieder so
einen kleinen Einbruch vor?“

„Man muß leben!“ erwiderte William Schmidt. „Geschäft ist Geschäft.“

„Es lebt sich doch hier ganz schön!“ behauptete Peter Voß keck.

„Ohne Whisky?“ kam es zurück. „Den besten Whisky gibt es in Chelsea.“

„Prosit!“ telegraphierte Peter Voß zurück, legte sich auf die andere
Seite und schlief sofort ein.

Der Gefängnisdirektor von St. Malo aber konnte nicht schlafen. Der
Untersuchungshäftling auf Zelle Nummer 19, der sein Gedächtnis total
oder auch nur zum Teil verloren haben wollte, raubte ihm den Schlaf.
Dieser Direktor war nämlich ein Mann von wissenschaftlichen Neigungen.
Fast in jedem Verbrecher, dessen Beherbergung man ihm von Rechts
wegen anvertraute, witterte er einen interessanten Fall. Im Gegensatz
zu den Richtern, auf deren vorläufige Entscheidung hin Peter Voß im
sicheren Gewahrsam gehalten wurde, stand dieser Gefängnisdirektor auf
dem Standpunkt, daß der Häftling Nummer 19 nicht im entferntesten ein
gefährlicher Simulant, sondern vielmehr ein psychologisches Problem
erster Ordnung sei.

Hin und wieder ließ er sich den Mann vorführen und unterhielt sich sehr
freundlich mit ihm. Peter Voß roch sofort den Braten und blieb treu und
fest bei seiner Behauptung, nicht nur seinen Namen, sondern auch sein
ganzes Vorleben vergessen zu haben.

Die wissenschaftlichen Neigungen des Direktors hatten ihn in dem
Nervenarzt von St. Malo einen begeisterten Mitarbeiter finden lassen.
Der wurde nun zu Rate gezogen. Er untersuchte den Mann ohne Gedächtnis
aufs genaueste und war schließlich geneigt, die Ansicht des Direktors
zu teilen. Um aber ganz sicher zu gehen, kamen sie überein, den
Gefangenen Nummer 19 auf Wasser und Brot zu setzen.

„Nanu?“ sagte Peter Voß zu dem Wärter, als er ihm die angeordnete
Nahrung brachte. „Soll ich bei diesem Fraß mein Gedächtnis
wiederfinden? Dazu brauche ich mindestens Krankenkost in doppelten
Portionen.“

Doch die bekam er nicht.

Am nächsten Morgen mimte er einen schweren Ohnmachtsanfall, am
folgenden Tage verfiel er in Krämpfe. Der Gefängnisarzt wurde geholt
und verordnete Krankenkost. Als Peter Voß das braun-gebackene Beefsteak
roch, kam er wieder zu sich und ließ es sich gut schmecken.

Man muß sich im Gefängnis zu benehmen wissen! dachte er und wischte
sich den Mund.

Der Nervenarzt untersuchte ihn daraufhin zum andernmal, schrieb eine
Abhandlung über ihn und schickte sie zum Abdruck an die bekannteste
medizinische Monatsschrift in Paris.

Peter Voß aber telegraphierte wieder zu William Schmidt hinüber, dessen
Arbeit inzwischen zum Stillstand gekommen war.

„Mein Meißel ist mir hinuntergefallen,“ erwiderte er.

„Was nun?“ fragte Peter Voß.

„Ich mache mir einen neuen,“ war die Antwort.

„Woraus denn?“

„Aus dem Bettbolzen,“ kam es von drüben.

Peter Voß sah auf sein Bett. Es war von Eisen. Da ließ sich wohl
irgendwo ein kleines Stück ablösen und als Meißel zuschärfen.

Dieser William Schmidt ist kein dummer Kerl! dachte Peter Voß bei sich.
Es muß ein Vergnügen sein, mit ihm auszubrechen.

Aber er spielte nur mit dem Gedanken. Dazu war noch immer Zeit, wenn es
ihm hier nicht mehr gefiel.

Das Interesse des Gefängnisdirektors an dem Häftling Nummer 19
war durch den grundlegenden Aufsatz seines medizinischen Freundes
ganz bedeutend gewachsen. Denn inzwischen war dieser Aufsatz auch
erschienen.

Er ließ sich wieder einmal den Mann vorführen.

„Wie gefällt es Ihnen hier bei uns?“

„Ausgezeichnet!“ rief Peter Voß begeistert. „Die Kost ist hervorragend.
Die Behandlung rücksichtsvoll und sanft. Wenn ich nur mein Gedächtnis
wiedergefunden hätte, würde ich mit vollster Sicherheit behaupten
dürfen, noch niemals in einem so komfortablen Hotel gewohnt zu haben.“

Das tat dem Direktor wohl. Peter Voß bekam weiter Krankenkost.

Immer höflich! dachte er und verzehrte mit vortrefflichem Appetit das
zarte, junge Huhn, das ihm der Wärter gebracht hatte. Eine gute Kritik
kann Wunder wirken!

Kurz vor Mitternacht meldete sich William Schmidt. Er hatte wieder Pech
gehabt. Sein neuer Meißel war ihm zerbrochen.

„Zieh einen Bolzen aus deinem Bett!“ telegraphierte er herüber.

Peter Voß, diensteifrig und hilfbereit wie immer, untersuchte sofort
sein Bett und fand auch bald den betreffenden Bolzen.

„Er ist auf der einen Seite vernietet!“ morste er hinüber.

„Losbrechen!“ befahl William Schmidt.

„Teufel noch mal!“ sagte Peter Voß zu sich. „Aus freien Händen zwei
Nieten losbrechen, das will schon was heißen.“

Aber er machte sich doch an die Arbeit, und sie glückte auch. Am Abend
des zweiten Tages hatte er den Bolzen in der Hand. Jetzt mußte er
angeschärft werden. William Schmidt sparte nicht mit guten Ratschlägen.
Peter Voß, der durchaus nicht auf den Kopf gefallen war, erkannte in
ihm einen Mann, der ihm in diesen Dingen durchaus überlegen war. Er
schliff den Bolzen auf den Steinen des Fußbodens scharf und begann
in die Zwischenwand ein kleines Loch zu bohren. Die Mauer bestand
aus rotgebrannten Backsteinen und war nur zwei halbe Ziegel dick.
Nicht ganz so lang war der Bolzen. Aber William Schmidt arbeitete
ihm mit seinem zerbrochenen Bolzen entgegen, nachdem er die Stelle
ganz genau ausgehorcht hatte. Schon nach vier Stunden war der neue
Bolzen bei William Schmidt drüben. Das Loch war etwa in Kniehöhe und
wurde auf beiden Seiten durch kleine Zementpfropfen verschlossen.
Peter Voß steckte den seinen ins Loch hinein wie einen Korken in
den Flaschenhals. Der Wärter merkte nichts davon. Am Abend öffnete
Peter Voß das Loch und konnte sich ganz genau mit seinem Nachbarn
unterhalten.

„Komm mit!“ flüsterte der. „In einigen Tagen ist Neumond, dann versuch
ich mein Glück.“

„Ich habe keinen Durst nach Whisky!“ behauptete Peter Voß kühn. „Ich
bin Abstinenzler.“

„Ho ho ho!“ lachte der von drüben. „Wer dir das glaubt, mein Junge. Du
brauchst nur das Loch so weit zu vergrößern, daß du hindurchschlüpfen
kannst. Wenn du nicht zu dick bist, ist das in einer Stunde getan.“

„Ich will mir das Ding beschlafen,“ sagte Peter Voß. „Du kannst mich ja
benachrichtigen, wenn die Sache so weit ist.“

Am nächsten Morgen machte er sich daran, den anderen Bolzen aus
dem Bett zu ziehen. Zwei mußten darin bleiben, sonst wäre es
zusammengebrochen. Auch dieses Werk brachte er nach langen Mühen
zustande und schärfte den Bolzen an.

Man muß immer aufs Schlimmste gefaßt sein! dachte er und versteckte ihn
in der Matratze.

Der Wärter dachte gar nicht daran, die Zelle zu durchsuchen. Er hatte
seine helle Freude an diesem kuriosen Kerl, der wohl sein Gedächtnis,
aber nicht seine Fröhlichkeit verloren hatte.

„Weißt du immer noch nicht, wie du heißt?“ fragte er ihn neugierig.

„Nein!“ erwiderte Peter Voß vergnügt und schüttelte den Kopf. „Aber wie
wär’s, Monsieur Cerberus, wenn du mir ein wenig nachdenken hilfst?“

Da lachte der Wärter, daß er sich die Seiten halten mußte.



6.


Bobby Dodd und Polly Voß aber waren in Brighton. Hier sollte Polly
sich erholen. Ihre Nerven waren durch die fortwährenden Aufregungen so
ergriffen worden, daß sie unbedingt Ruhe brauchte.

Dodd aber ließ nicht locker. Auf der Agentur in Plymouth hatte sich
noch immer niemand gemeldet. Die Ansicht, daß er durch die Brieftasche
auf eine falsche Fährte gelockt werden sollte, hatte er fallen
gelassen, denn die Entdeckung, daß diese Brieftasche Peter Voß gehörte,
war schließlich nur dem Zufall zu verdanken.

Bald im Automobil, bald mit dem Dampfer raste Dodd an der englischen
Küste hin und her und ermüdete nicht, die Leute auf das gründlichste
auszufragen.

So kam er endlich auch nach Falmouth und hörte da von dem kleinen
Zweimastschoner „Queen“, der in der fraglichen Nacht, in der Peter Voß
über Bord gesprungen war, in der Nähe von Plymouth gewesen sein konnte.

Schon über vier Wochen waren seitdem verstrichen. Dodd begann sich
sofort für dieses kleine Küstenfahrzeug lebhaft zu interessieren und
stellte endlich fest, daß es in Plymouth mit Whisky, Streichhölzern
und Kautabak für Cherbourg beladen worden war. Allein in Cherbourg
war es nicht angekommen. Er riet sofort auf einen Schmuggler, kehrte
nach Falmouth zurück und verhörte mit Hilfe der Polizei die Frau des
Schiffers Penfold, die mit großer Angst auf die Wiederkehr ihres Mannes
wartete. Sie gab vor, nichts von seinen Geschäften zu wissen, für
Dodd ein neuer Beweis, daß sie nicht reinlicher Natur waren. Auch in
den Hafenschänken, wo er als Matrose verkleidet herumlungerte und das
Gespräch immer wieder auf die ausgebliebene „Queen“ brachte, vermochte
er nichts über ihren Verbleib zu erkunden.

Nachdem er Polly in Brighton einen kurzen Besuch abgestattet und sie
bedeutend wohler angetroffen hatte, ging er mit dem Wochenschiff von
Southampton nach St. Malo hinüber. Es galt jetzt festzustellen, wo das
Schiff seine Ladung losgeworden war.

St. Malo, als sehr belebter Hafen, kam gar nicht in Frage. Dodd wandte
sich sofort den normanischen Küstendörfern zu. Aber ihre dickköpfigen
Bewohner hüteten sich wohl, ihm ihre heimlichen Geschäfte auf die Nase
zu binden. Die „Queen“ blieb ebenso spurlos verschwunden wie Peter Voß.

Unverrichteter Sache kam Dodd nach Falmouth zurück. Und nun war ihm
das Glück hold, denn der Schiffsjunge der „Queen“ war inzwischen
zurückgekehrt.

Dodd verhörte ihn mit Hilfe der Polizei. Der Junge behauptete, um nicht
gestehen zu müssen, daß er im Gefängnis gesessen habe, das Schiff sei
im Kanal irgendwo untergegangen, und er hätte sich durch Schwimmen
gerettet. Bald darauf war der Junge verschwunden. Er war mit einem
Kohlendampfer nach Südamerika in See gegangen. Und Dodd hatte das
Nachsehen.

Er blieb vorläufig in Falmouth und wartete, denn an den Untergang der
„Queen“ glaubte er nicht.

Hin und wieder fuhr er nach Brighton, um sich nach Pollys Befinden zu
erkundigen. Ihr Zustand besserte sich zusehends. Das schöne Klima des
Seebades und die gute Gesellschaft, die Polly als Amerikanerin wohl zu
schätzen wußte, taten ihr wohl. Sie konnte jetzt sogar schon an Peter
Voß denken, ohne daß ihr gleich die Tränen in die Augen traten.

Dodd erschien niemals, ohne ihr eine Aufmerksamkeit zu erweisen. Sie
erkannte, daß er wirklich ein Gentleman war.

Als er zum fünften Male nach Falmouth kam, wurde seine Zähigkeit
belohnt. Denn jetzt war der Matrose der „Queen“ zurückgekehrt.

Diesmal verzichtete Dodd auf die Polizei, schlüpfte in seinen
Schifferanzug, setzte sich mit dem Mann an den Tisch und bezahlte für
ihn eine Flasche Whisky.

Da kam es denn heraus, wie Peter Voß aufgefischt und als Schmuggler
mitverhaftet worden war.

Dodd wußte genug. Nun galt es, die Spur in St. Malo aufzufinden und
weiter zu verfolgen. Denn daß Peter Voß, der an der Schmuggelei ganz
unschuldig war, noch immer im Gefängnis saß, konnte Dodd unmöglich
annehmen.

Ohne Polly zu benachrichtigen, fuhr er wieder nach St. Malo hinüber und
ging schnurstracks zum Gefängnisdirektor.

„Womit kann ich Ihnen dienen?“ fragte der ihn überaus höflich.

„Sitzt hier ein Schiffer Penfold aus Falmouth?“

„Verurteilt zu sechs Monaten wegen Schmuggelei!“ bestätigte der
Direktor. „Wollen Sie ihn sprechen?“

„Nein!“ versetzte Dodd. „Es handelt sich gar nicht um ihn, sondern um
den Mann, den er vor Plymouth aufgefischt hat.“

„Aha!“ rief der Direktor erfreut und brachte den grundlegenden Aufsatz
seines medizinischen Freundes über den Mann, der sein Gedächtnis
verloren hatte. „Sie haben gewiß diese Abhandlung gelesen?“

Dodd nahm mit der ihm eigenen Höflichkeit die Zeitschrift entgegen und
überflog den Absatz.

„Ein sehr interessanter Fall!“ sagte er schließlich. „Nur schade, daß
der Mann nicht mehr hier ist.“

„Er ist hier!“ erwiderte der Direktor triumphierend. „Wollen Sie ihn
sehen?“

Dodd verzog keine Miene. Wohl war er überzeugt, daß der Mann ohne
Gedächtnis Peter Voß war. Aber er hatte kein Mittel, es dem Direktor zu
beweisen. Auf Polly konnte er nicht rechnen. Sie hätte ganz sicher die
Identität geleugnet.

„Gewiß!“ entgegnete er zögernd. „Aber ich möchte nicht gern von ihm
gesehen werden, damit er sich nicht beunruhigt. Er ist offenbar krank
und gehört wohl richtiger in die Irrenanstalt.“

„Kommen Sie!“ winkte ihm der Direktor. „Es ist ein Guckloch in seiner
Tür. Uebrigens gefällt es ihm hier ausgezeichnet. Ich bin stolz darauf,
diesen interessanten Fall in meinen Mauern zu haben.“

„Sie halten ihn also aus wissenschaftlichen Gründen fest?“ forschte
Dodd, als sie über den Hof des Gefängnisses schritten. „Er kann doch
unmöglich härter bestraft werden als der Matrose.“

„Er ist überhaupt noch nicht verurteilt!“ belehrte ihn der Direktor.
„Das Gericht nimmt an, daß er ein schwerer Verbrecher ist und aus
diesem Grunde das verlorene Gedächtnis simuliert. Doch das ist eine
juristische Torheit. Er wäre sicher schon entlassen worden, wenn ein
entsprechender Antrag vorläge. Da er aber seinen Namen nicht weiß,
kann er einen solchen Antrag nicht ausfertigen. Ich selbst habe keinen
Grund, seine Entlassung zu fordern, da ich der Wissenschaft nicht
dieses vortreffliche Versuchsobjekt entziehen möchte. Außerdem hindert
mich meine Menschenliebe daran, einen Entlassungsantrag zu stellen.
Was soll dieser Mann ohne Gedächtnis draußen im Leben? Er kommt sofort
unter die Räder. Ich bin ein Philanthrop.“

Sie standen jetzt vor der Zellentür Nummer 19. Der Direktor machte nach
dem Guckloch eine einladende Handbewegung. Dodd schaute längere Zeit
angespannt hindurch. Da lag ein Mensch auf dem Bett im friedlichen
Schlummer. Das mußte Peter Voß sein, trotz des kurzen Vollbartes, der
ihm inzwischen gewachsen war.

Nun galt es, ihn aus diesem Gefängnis herauszubringen. Das war viel
schwieriger, als es auf den ersten Blick aussah.

Dodd trat zurück.

„Es hat also keinen Zweck,“ flüsterte er dem Direktor zu, „diesen
Menschen nach seinem Namen zu fragen?“

„Vollkommen aussichtslos!“ bestätigte der Direktor.

„Und wenn ich nun seine Entlassung beantrage?“ fragte Dodd.

„Wie wollen Sie diesen Antrag begründen?“ rief der Direktor
achselzuckend. „Oder wissen Sie etwa den Namen des Mannes?“

„Ich vermute ihn zu wissen,“ wich Dodd vorsichtig aus, „und ich hoffe,
durch ein kleines Experiment den Mann wieder zu seinem Gedächtnis
verhelfen zu können. Vorausgesetzt natürlich, daß Sie mich dabei
unterstützen.“

„Sie können noch daran zweifeln?“ rief der Direktor förmlich
elektrisiert. „Ich warte ja nur auf den Augenblick, daß dieser Aermste
sein Gedächtnis wiederfindet. Welches Experiment haben Sie vor?“

„Es ist an demselben Tage, an dem dieser Mann im Kanal aufgefischt
worden ist, in Plymouth bei einer Schiffsagentur eine Brieftasche
abgegeben worden, von der ich annehme, daß sie das Eigentum dieses
Mannes. Ich möchte ihm nun diese Brieftasche durch das Fenster zuwerfen
lassen und ihn dabei heimlich beobachten.“

„Exzellent!“ rief der Direktor mit echt französischer Lebhaftigkeit.
„Das ist ein großartiger Kniff. Steckt er die Tasche ein, dann hat
er sein Gedächtnis wiedergefunden. Läßt er sie liegen, dann ist das
Experiment mißglückt. Haben Sie die Tasche bei sich?“

„Leider nicht!“ versetzte Dodd und griff zum Hut. „Ich werde aber
sofort hinüberfahren, um sie zu holen.“

Er dampfte nach Southampton zurück und war am nächsten Morgen in
Brighton. Polly saß in einem bequemen Stuhl vor der Kurkapelle, die
eben den Brautmarsch aus „Lohengrin“ intonierte.

„Ich habe ihn!“ flüsterte er ihr zu.

„Wo ist er? Wo ist er?“ rief sie außer sich und zog ihn zum Strand
hinunter.

Und er erzählte ihr alles wahrheitsgetreu.

„Im Gefängnis?“ stöhnte sie auf. „Als Schmuggler? Wie schrecklich! Sie
müssen ihn befreien.“

„Das ist meine Absicht!“ sprach er ernst. „Ich brauche zu diesem Zweck
die Brieftasche, dahinein werde ich die nötigen Instrumente legen.
Die Brieftasche werde ich ihm mit Hilfe des Direktors in die Hände
spielen. Wir legen uns dann im Hafen von St. Malo mit einem kleinen
Dampfer auf die Lauer. Er wird ausbrechen, das Gefängnis ist übrigens
miserabel gebaut, ich werde den Posten ablenken. Alles Kleinigkeiten!
Er entkommt glücklich dem Gefängnis und flüchtet zu Ihnen auf den
Dampfer. Und dann haben wir ihn. Sie haben nur nötig, ihm einige
aufklärende Worte in die Brieftasche zu legen. Der Dampfer wird dicht
unter dem Gefängnis festgemacht. Wir werden am Tage die Flagge der
Union und bei Nacht zwei rote Laternen aufstecken.“

Nun begann sie zu begreifen. Hastig holte sie die Brieftasche ihres
Mannes herbei und schrieb auf ein Blatt, was ihr Dodd diktierte.
Nachdem sie ihren Namen darunter gesetzt hatte, nahm Dodd das Blatt und
die Brieftasche an sich.

„Und wenn wir ihn auf dem Schiff haben?“ fragte sie gespannt.

„Dann werden wir ihn schon zur Vernunft bringen!“ lächelte Dodd
siegesgewiß. „Das heißt, wenn es überhaupt möglich ist. Ich hoffe
aber, daß er sich durch Ihre Gegenwart veranlaßt fühlen wird, die zwei
Millionen herauszugeben.“

„Und wenn er sich dennoch weigert?“ rief sie und sprang auf.

„Dann kommt er ins Sanatorium, wo er Zeit hat, sich zu besinnen!“
beruhigte er sie. „Aus meinem Plan ersehen Sie, wie ernst ich es mit
unserem Vertrag nehme. Ich gehe jetzt, etliche Feilen und Sägen zu
kaufen, die ich in dieses Blatt wickeln und in die Tasche legen werde.“

„Aber wenn ihm etwas passiert!“ rief sie. „Wenn der Posten auf ihn
schießt?“

„Sein Leben ist mir zwei Millionen Dollar wert!“ erwiderte er. „Ich
werde dicht neben dem Posten stehen. Falls er schießt, wird der Schuß
in die Luft gehen.“

Da reichte sie ihm aufatmend die Hand.

Der Gefängnisdirektor von St. Malo empfing Dodd mit einem Freudensprung
und rief sofort seinen medizinischen Freund herbei, der das Experiment
durch seine Gegenwart wissenschaftlich verschönen sollte.

Gegen Abend wurde der Posten instruiert, ein junger Mensch, der mit
geschultertem Gewehr vor der Front des Gefängnisses auf und ab tappte.

Dodd hatte die Brieftasche verschnürt und gab sie nicht aus der Hand.
Mit Leichtigkeit konnte man mit dem aufgepflanzten Seitengewehr bis an
das Gitter des Zellenfensters reichen.

„Es muß den Anschein haben,“ erläuterte Dodd dem Direktor, „als wenn es
ihm von befreundeter Hand zugeworfen würde. Und dazu müssen wir die
Nacht abwarten.“

„Famos, famos!“ rief der Direktor und rieb sich die Hände.

An diesem Abend saß Peter Voß auf seinem Schemel und langweilte sich
zum ersten Male. Seine Laune war längst nicht mehr auf der Höhe. Er zog
den Pfropfen aus dem Loche und rief William Schmidt an.

„He, alter Junge, wie geht’s?“

„Danke!“ brummte der. „Ich breche heute nacht aus.“

„Viel Glück!“

„Brauch ich nicht!“ versetzte William Schmidt kaltblütig. „Wir haben
Neumond. Und die „Marguerite“ liegt wieder im Hafen. Morgen vor
Sonnenaufgang fährt sie nach Jersey. Ich beobachte sie schon seit
mehreren Wochen.“

„Aber der Posten!“ warnte Peter Voß.

„Der kriegt eins auf die Nase!“ erwiderte William Schmidt entschlossen.
„Das ist ein ganz grüner Junge.“

„Mach’s nur nicht zu arg!“ entgegnete Peter Voß. „Der arme Junge ist
doch nicht daran schuld, daß du eingebrochen bist.“

„Keine Sorge!“ lachte William Schmidt. „Ein Mörder bin ich nicht. Dazu
fehlt mir das Talent. Aber ich kann boxen. Willst du mitkommen?“

Peter Voß überlegte. Seine Lust, mit auszubrechen, war in der letzten
Zeit ganz bedeutend gewachsen. Auch der Fluchtplan leuchtete ihm
ein. Doch was William Schmidt konnte, das konnte er auch! In einer
finsteren, regnerischen Nacht brauchte man nicht einmal dem Posten eins
auf die Nase zu geben. Sein Meißel war gut, und seine Fenstereisen
saßen nicht fester in der Mauer als die der Nebenzelle. Und so wünschte
er seinem Nachbar glückliche Reise und legte sich aufs rechte Ohr.

Er erwachte von einem leichten Fall. Es war stockdunkel in der Zelle.
Ueberrascht fingerte er auf dem Boden herum und fand endlich eine
zusammengeschnürte Brieftasche, seine Brieftasche! Beim ersten Griff
hatte er sie erkannt. Er stand, als hätte ihn der Blitz getroffen.

Das war Dodd! Er hatte ihn entdeckt! Und nun warf er die Tasche herein,
um die Identität festzustellen!

Peter Voß sprang zum Loch und riß den Pfropfen heraus.

„William Schmidt!“ flüsterte er. „Ich komme mit!“

„Dann ist es aber die höchste Zeit!“ erwiderte der und begann sofort
mit dem Meißel der Mauer zu Leibe zu gehen.

Da rasselten draußen Schlüssel.

„Der Wärter!“ flüsterte Peter Voß, verstopfte das Loch, warf die
Brieftasche hin, wo sie gelegen hatte, und legte sich nieder.

Schon trat der Wärter herein mit einer außergewöhnlich hellen Lampe.
Daran erkannte Peter Voß, daß etwas Besonderes los war. Der Wärter
leuchtete durch die Zelle, ließ die Brieftasche liegen, als sähe er sie
nicht, und leuchtete Peter Voß ins Gesicht, der keine Miene verzog und
schnarchte.

Die Zellentür schloß sich wieder. Draußen auf dem Gange stand Dodd mit
dem Direktor und dem Nervenarzt.

„Er schläft!“ meldete der Wärter. „Die Tasche liegt noch da, wo sie
hingefallen ist.“

„Wir müssen also bis morgen warten!“ erklärte Dodd und trat zurück. „Am
besten ist, Sie lassen den Mann gänzlich ungestört. Der Fall liegt zu
kompliziert.“

Und der Nervenarzt nickte zustimmend.

Also gingen sie wieder davon. Dodd hatte sein Ziel erreicht. Morgen
wollte er feststellen, wie weit Peter Voß mit dem Fenstergitter
gekommen war, und danach den Dampfer mieten.

Aber Peter Voß ging nicht gegen das Gitter, sondern gegen die Mauer
vor. William Schmidt half von der anderen Seite. Als die ersten beiden
Steine gelockert waren, hatten sie gesiegt. Das Loch zu erweitern
war Spielerei. Nun erst steckte Peter Voß seine Brieftasche ein.
Geschmeidig schlüpfte er in die Nebenzelle. Ihren vereinten Kräften
konnte das gelockerte Fenstergitter nicht widerstehen. William Schmidt
streckte vorsichtig den Kopf hinaus. Die Luft war rein. Mit einem
Sprung verschwand er; Peter Voß folgte ihm, ohne sich lange zu besinnen.

Der Posten machte gerade an der anderen Ecke der Gefängnisfront kehrt.
Ehe der junge Rekrut, der zudem nicht besonders mutig war, sein Gewehr
gehoben oder auch nur den Mund aufgetan hatte, sah er sich durch einen
heftigen, wohlgezielten Schlag gegen den Gürtel unschädlich gemacht.
Das Gewehr entfiel ihm. Unfähig, sich zu regen oder einen Ton von sich
zu geben, saß er mit dem Oberkörper gegen die Mauer gelehnt und hielt
sich den Bauch. Peter Voß klopfte ihm beruhigend auf die Schulter, und
William Schmidt erleichterte ihm den Gürtel vom Revolver.

Nun eilten sie auf den Hafen zu, nachdem sie in einem dunklen
Winkel die Jacken getauscht hatten, denn William Schmidt trug
Sträflingskleidung.

Da lag schon die „Marguerite“, auf die sie es abgesehen hatten. Nach
William Schmidts Plan wollten sie sich unbemerkt an Bord schleichen und
sich im Laderaum verstecken.

„Einen Augenblick!“ flüsterte Peter Voß und öffnete unter einer
Gaslaterne seine Brieftasche. „Ich glaube, ich hab ein wenig Kleingeld.
Wenn es langt, chartern wir das ganze Schiff.“

„Allright!“ erwiderte der andere.

Peter Voß fand die vier Tausenddollarnoten, fand sechs feine Stahlsägen
und sechs Feilen, und fand schließlich die Zeilen, die Polly
geschrieben hatte.

„Sehr fein!“ schmunzelte er. „Die Schrift ist täuschend nachgeahmt.
Dieser Dodd ist weit gefährlicher, als ich dachte.“

Nun übernahm er die Führung.

Es war gegen Mitternacht, als sie den Schiffer der „Marguerite“
weckten. Peter Voß hielt ihm eine seiner vier Tausenddollarnoten unter
die Nase. Und der Schiffer war nicht dumm und wußte sofort, daß hier
ein Geschäft zu machen war, wie es alle zehn Jahre nur einmal vorkam.

„Nach London!“ befahl Peter Voß. „Und zwar auf der Stelle!“

Der Schiffer griff nach dem Schein.

„Damn!“ rief William Schmidt und entriß ihm die Note. „So dumm sind wir
nicht! Erst den Anker hoch und aus dem Hafen hinaus, dann wollen wir
weiter sehen!“

Der Schiffer gehorchte. Er schraubte die Laternen ganz niedrig und
machte sich davon.

Als die Sonne aufging, hatte die „Marguerite“ längst Jersey hinter sich.

Am Morgen fand Dodd in der Zelle Nr. 19 weder Peter Voß noch die
Brieftasche. Das Loch in der Wand belehrte ihn, daß er auf eigene Faust
die Freiheit gesucht und gefunden hatte.

Nach allen Seiten begann der Telegraph zu spielen. Eine Abteilung
Soldaten wurde in den nächsten Wald geschickt.

Der „Marguerite“, die diese Nacht in See gegangen war, wurde ein
Kabelspruch nach Jersey nachgeschickt.

Als das Schiff bis zum nächsten Morgen nicht in Jersey angekommen
war, wußte Dodd, wo die rechte Fährte war, und benachrichtigte alle
Hafenbehörden auf beiden Seiten des Kanals, nach diesem Zweimastschoner
Ausschau zu halten. Dann kehrte er nach Brighton zurück, um Polly über
die Ergebnislosigkeit seines Experiments zu unterrichten.

Sie war ganz verzweifelt.

Noch an demselben Abend erhielt er aus Dover die Nachricht, daß die
„Marguerite“ vor 24 Stunden die Straße in nördlicher Richtung passiert
hätte.

Zwölf Stunden später wurde sie von Gravesand gemeldet.

„Nach London!“ rief er Polly zu und bat sie, sofort ihre Koffer zu
packen.

Drei Stunden später stiegen sie im Ritz-Carlton-Hotel ab. Dodd machte
sich sofort auf, den Schoner zu suchen, und stand zwei Stunden später
im Victoria-Dock vor dem fluchenden Schiffer.

„Diese beiden Spitzbuben!“ schrie er und ballte die Fäuste nach der
Millionenstadt hinüber. „Keinen Pfennig haben sie mir bezahlt!“

Dodd war nicht imstande, den Mann zu bedauern. Er zeigte ihn auch nicht
an. Er war genug bestraft worden.

Peter Voß, der Millionendieb aus St. Louis, und William Schmidt, der
Einbrecher aus St. Malo, waren in London spurlos untergetaucht.

Bobby Dodd blieb nichts anderes übrig, als wieder zu dem alten Mittel
des Steckbriefs zu greifen.



7.


Ohne große Mühe fand Bobby Dodd diesmal Peter Voßens Spur, der
sich in London nur eine Nacht aufgehalten hatte. Er war zuletzt am
Victoria-Bahnhof gesehen worden, wo er ein Billett nach Dover genommen
hatte.

Dodd fuhr ins Hotel zurück und teilte Polly seine Entdeckungen mit. Sie
war sofort bereit, mit ihm die frische Spur zu verfolgen. Vier Stunden
später waren sie in Dover. Sie setzten nach Calais über und hatten
hier das Glück, zu erfahren, daß Peter Voß in Calais ein Billett nach
Amsterdam genommen hätte. Hier aber verlor sich die Spur völlig.

„Er ist sicher nach Deutschland gegangen!“ rief Polly. „Er stammt aus
Hamburg.“

Am folgenden Tage waren sie in Hamburg.

Im Hotel Esplanade stiegen sie ab und nahmen Zimmer 23 und 24 mit dem
Ecksalon. Dodd trat Polly sein Zimmer ab und nahm das ihre, da es nach
der Straße zu lag, versäumte aber, diesen Tausch dem Portier zu melden.

Und Peter Voß war wirklich auch in Hamburg.

In Amsterdam war er so vorsichtig gewesen, sich umfrisieren zu lassen.
Doch hatte er sich diesmal nicht den ganzen Bart abnehmen, sondern
nur das Kinn ausrasieren und das Haupthaar auf drei Millimeter
stutzen lassen. Die stehengebliebenen Bartkoteletten behandelte er
selbst mit Höllenstein, daß sie grau wurden. Er legte sich bei einem
Altkleiderhändler einen hochfeinen Anzug, gelbe Gamaschen und einen
Rohrstock mit versilberter Krücke zu und fuhr als fideler Lebegreis
nach Hamburg. Seinen blauen, schon bedeutend strapazierten Anzug
schickte er zollpostlagernd ebendahin.

In Hamburg angekommen, machte er eine Käse-Rundfahrt, frühstückte
bei Lünsmann und setzte sich vor den Alsterpavillon. Er schwankte
lange, ob er seiner alten Matrosenwirtin einen Besuch abstatten
sollte. Unschlüssig schaute er auf die Wagen und Autos, die an ihm
vorbeisausten.

Und da sah er plötzlich in einer ganz gewöhnlichen Droschke eine Dame
sitzen, die er sehr gut kannte, neben einem Manne, der ihm völlig
unbekannt war. Daß dieser Mann Bobby Dodd sein könnte, fiel ihm
natürlich nicht im Traume ein.

Es war aber doch Bobby Dodd, der eben mit Polly eine Fahrt um die
Alster machte. Sie hatte diesen Wunsch ausgesprochen, und er war sofort
darauf eingegangen.

Peter Voß fuhr blitzschnell in die Höhe. War das nicht Polly? Saß
an ihrer Seite nicht ein wildfremder Mann? Kein Zweifel, er hatte
sie entführt! Schon im Begriff, dem Wagen nachzulaufen, um dem
Schurken an die Kehle zu fahren, besann er sich plötzlich auf seinen
Millionendiebstahl. Die Berührung mit der Polizei, zu der dieser
Ueberfall fast mit Sicherheit führte, mußte er auf jeden Fall
vermeiden. Er stürzte zum nächsten Automobil und befahl dem Chauffeur,
der Droschke nachzufahren.

„Ich bin ein Detektiv!“ erklärte er leise, und der Führer nickte
verständnisinnig.

So nahm Peter Voß die Verfolgung seines Verfolgers auf, ohne es
zu wissen, daß es sein Verfolger war. Immer zehn Meter hinter der
Droschke, die im gemächlichen Tempo dahinrollte, schnurrte das
elektrische Auto.

Peter Voß ließ das Gefährt nicht aus den Augen. Doch so sehr er sich
auch anstrengte, er konnte nichts Ordnungswidriges erkennen. Der Mann,
offenbar ein Amerikaner, markierte den Gentleman, und Polly lehnte
ziemlich erschöpft in den Polstern, schwieg und ließ sich von ihrem
Begleiter die schöne Aussicht erklären.

Es ging um die ganze Außenalster herum. Nach einer knappen Stunde hielt
die Droschke vor dem Esplanade-Hotel. Der Mann stieg aus und bot Polly
den Arm, den sie auch, nach kurzem Zögern, annahm.

„Gott verdamm mich nochmal!“ knirschte Peter Voß wütend und stieg
gleichfalls aus. „Da hört denn doch die Gemütlichkeit auf!“

Der Portier kam heran und zog die Mütze. Schon wollte sich Peter Voß
nach dem Namen des Entführers seiner Frau erkundigen, da stutzte er
plötzlich. Es gab einen anderen Weg der Verständigung.

„Einen Augenblick, ich komme wieder!“ sagte er zu dem Portier und
befahl dem Führer des Automobils, nach den Landungsbrücken zu fahren.

Der Portier trat grüßend zurück.

Am Holstenplatz gab Peter Voß Gegenorder und stieg am Jungfernstieg
aus. Hier spazierte er ein wenig auf und ab und verschwand
schließlich in dem kleinen, dunkelgrünen Pavillon des öffentlichen
Fernsprechautomaten, der dort stand.

„Kling, kling!“ machten die beiden Nickel. Die Verbindung mit der
Hotelzentrale war geschwind hergestellt.

„Ich möchte mit Mrs. Voß aus St. Louis sprechen.“

„Bitte sehr,“ sagte der Kellner, der die Zentrale bediente, „Zimmer 23.“

Da aber wohnte Bobby Dodd. Polly hatte Zimmer 24.

„Hier Bobby Dodd.“

Peter Voß taumelte zurück, der Hörer entsank ihm, aber er faßte sich
sofort wieder.

„Hier Peter Voß!“ brüllte er in das Sprachrohr hinein.

„Sehr erfreut!“ rief Bobby Dodd zurück, nachdem er seine Ueberraschung
bemeistert hatte. „Ich hatte bisher noch nicht die Ehre.“

„Sie gemeiner Lump, Sie Verführer! Wie kommen Sie dazu, meine Frau zu
entführen?“

„Ich habe sie nicht entführt, sie ist aus freien Stücken mitgekommen,
sie begleitet mich.“

„Schuft, ich schieße dich nieder!“

„Durchs Telephon wird es sich nicht gut machen lassen. Wenn Sie aber
wünschen, ich stehe Ihnen jederzeit zur Verfügung.“

„Himmelhund, ich erwürge dich!“

„Allright, kommen Sie nur ins Esplanade-Hotel, Zimmer 23.“

„Sie werden meine Frau unverzüglich nach St. Louis zurückschicken.“

„Ich denke nicht daran!“ gab Dodd zurück. „Mrs. Voß versteht
einen Gentleman von einem Millionendefraudanten schon sehr gut zu
unterscheiden. Ich werde es ihr auch bald begreiflich gemacht haben,
daß sie sich auf jeden Fall von Ihnen scheiden lassen muß! Well, das
tue ich, schon aus wahrer Menschlichkeit. Ich werde sie dann selbst
heiraten.“

Jetzt war’s mit Peter Voßens Selbstbeherrschung vorbei. Er wußte
wirklich nicht mehr, was er sprach.

„Ich habe ja gar keine Millionen gestohlen!“ brüllte er.

„Das wollen Sie mir doch nicht vorreden!“ versetzte Dodd kühl. „Eine so
faule Ausrede hätte ich Ihnen nicht zugetraut. Wenn Sie mir die zwei
Millionen ausliefern, erhalten Sie Ihre Frau zurück, sonst nicht!“

Peter Voß spie sämtliche Schimpfwörter, die ihm zur Verfügung standen,
deutsche und englische, in das Telephon hinein, hängte den Hörer an und
verließ fluchtartig die Telephonzelle. Auf dem Rathausmarkt bestieg
er die Straßenbahn nach St. Pauli und wechselte unterwegs dreimal den
Wagen, um keine Spur zu hinterlassen.

Fünf Minuten später sauste Bobby Dodd den Jungfernstieg herunter, hielt
vor dem kleinen, dunkelgrünen Pavillon, in dem sich die öffentliche
Fernsprechstelle befand, und schaute hinein. Er hatte beim Amt die
Nummer erfragt, von der aus er angeläutet worden war, und bei der
Auskunft den Standort des Apparates. Die Zelle war leer. Dodd machte
trotzdem ein höchst befriedigtes Gesicht. Peter Voß hatte angebissen,
er zappelte wie ein Fisch an der Angel. Die Droschkenkutscher, die bei
dem Pavillon standen, hatten allerdings niemanden bemerkt.

Dodd sauste ins Hotel zurück und forschte den Portier aus. Dem war
natürlich der Mann mit den grauen Bartkoteletten aufgefallen. Dodd
stellte das neue Signalement fest und sprang zu Polly hinauf, die in
dem Salon auf dem Diwan lag. Sie war ziemlich abgespannt.

„Er ist hier!“ rief er freudig. „Er hat mich soeben antelephoniert.“

„Ah!“ rief sie außer sich. „Sie haben ihn gesprochen? Wird er das Geld
herausgeben?“

„So weit sind wir noch nicht!“ versetzte er. „Er hat das Gespräch
leider vorzeitig abgebrochen. Begeben Sie sich sofort zum
Alsterpavillon und setzen Sie sich dort auf die Terrasse dicht an der
Brüstung, damit er Sie sieht. Er hält sich sicher dort in der Nähe auf.“

„Und was soll ich tun, wenn er kommt?“ fragte sie ganz aufgeregt.

„Am Nebentisch wird ein Kriminalbeamter in Zivil sitzen!“ beruhigte er
sie. „Ich werde das sofort veranlassen.“

„Nein, nein!“ rief sie und rang die Hände. „Nicht verhaften lassen.“

„Nur keine Angst!“ tröstete er sie. „Ich lasse ihn nur beobachten. Von
dem Beamten brauchen Sie nicht die geringste Notiz zu nehmen. Er wird
Sie in Ihrem Gespräch mit Ihrem Manne nicht stören. Nur wenn Mr. Voß in
seiner Unzurechnungsfähigkeit einen Angriff auf Sie unternehmen sollte,
wird der Mann natürlich zu Ihrem Schutze da sein. Ich fahre jetzt zur
Polizeioffice. Sobald der Beamte an seinem Platze ist, werde ich es
Ihnen telephonieren.“

Polly befand sich in einer unbeschreiblichen Aufregung. Während sie in
ihr Zimmer lief, um Toilette zu machen, ging Dodd hinunter und erteilte
dem Portier die nötigen Weisungen.

„Der Mann wird wahrscheinlich wiederkommen! Ich vermute, daß er nur auf
mein Weggehen wartet, um wieder aufzutauchen. Sollte er nach Mrs. Voß
aus St. Louis fragen, so sagen Sie ihm, sie wäre zum Alsterpavillon
gegangen. Nimmt er einen anderen Weg, schicken Sie ihm einen Ihrer Boys
nach, um festzustellen, wo er logiert.“

Der Portier griff an die Mütze, und Dodd begab sich aufs
Polizeipräsidium. Bereitwillig ging man hier auf seine Vorschläge
ein und stellte ihm einen weltgewandten Kriminalbeamten zur
Verfügung. Gleichzeitig wurde das Signalement des Millionendiebes
an alle Polizeistationen gegeben. Nachdem Dodd an Polly ins Hotel
telephoniert hatte, begann er die alten Register zu durchforschen,
um festzustellen, zu welchen Leuten Peter Voß früher hier in Hamburg
Beziehungen unterhalten hatte. Das war eine langwierige Arbeit. Aber
er konnte den Zeitverlust verschmerzen, da er seine Wachen vorzüglich
instruiert und auf die besten Plätze gestellt hatte.

Inzwischen war Peter Voß in heller Verzweiflung bei Mutter Hansen auf
der Adolfstraße angekommen. Sie fiel aus allen Wolken, als sie den
feinen alten Herrn herein- und gleich die Treppe hinaufstürzen sah.

„Ein Rasiermesser!“ schrie er schon auf der Treppe und lief in das
erste beste Zimmer, wo er sich sofort auszukleiden begann.

Mutter Hansen folgte ihm und schlug die Hände überm Kopf zusammen, als
sie ihn wiedererkannte.

„Peter,“ schrie sie, „bist du all wieder da!“

„Mutter Hansen,“ stieß er hastig heraus, „hinter mir ist einer her,
aber ich bin unschuldig.“

„Das weiß ich!“ sprach die alte Frau seelensruhig. „Du tust nichts
Unrechtes. Da sollte ich dich wohl kennen.“

„Also ein Rasiermesser!“ drängte er sie. „Nur schnell, daß ich den
vertrackten Bart los werde. Und dann läufst du zum Schneider und holst
mir einen alten Anzug für einen ganz dicken Kapitän, es kann auch ein
neuer sein. Und vergiß die Mütze nicht, Hapagwappen!“

„Aber wozu denn in aller Welt?“ rief sie erstaunt.

„Frag nicht, frag nicht, nur fix, daß er mich nicht erwischt!“

Mutter Hansen eilte so schnell die Treppe hinunter, als es ihre alten
Beine nur vermochten. Ein Rasiermesser war bald gefunden. Peter Voß
schabte sich die Bartkoteletten fort. Mutter Hansen stand neben ihm,
die Hände in die breiten Hüften gestemmt, und schüttelte ein über das
andere Mal den Kopf.

„Jetzt zum Barbier!“ fuhr er sie plötzlich an. „Und besorg mir einen
dünnen, blonden Zwickelbart, der bis hierher geht.“

Dabei zeigte er auf den zweiten Westenknopf.

„Herrgott, Herrgott!“ rief sie erschreckt, tat aber doch, was er
verlangte.

Denn Peter Voß mußte Gewißheit haben. Er mußte herauskriegen, wie
seine Frau dazu kam, sich von diesem verdammten Detektiv in der Welt
herumführen zu lassen! Hielt sie ihn wirklich für einen Millionendieb?
Hatte Jim Stockes versäumt, sie aufzuklären? Oder war er nicht mehr
dazu gekommen, weil Dodd sie entführt hatte?

An Jim Stockes zu telegraphieren, hätte für beide Teile höchst
gefährlich werden können. Also mußte Peter Voß auf eigene Faust
handeln, und zu dem Zweck blieb ihm nichts anderes übrig, als ins
Esplanade-Hotel einzudringen und Polly zur Rede zu stellen.

Mutter Hansen erschien sehr bald mit einem funkelnagelneuen
Kapitänsanzug, den sie bei einem nahen Marineschneider aufgetrieben
hatte. Auch eine Mütze brachte sie mit, die das Kompagniewappen der
Hamburg-Amerika-Linie trug. Vor dem Spiegel machte Peter Voß Toilette.
Die umfangreiche Weste wurde mit einem Kopfkissen ausgefüllt, und
dann kam der Bart an die Reihe. Sogar den Leim zum Ankleben hatte
Mutter Hansen nicht vergessen. Dafür war sie auch die vorsorglichste
Matrosenwirtin von ganz Hamburg.

„Ist es möglich!“ rief sie. „Der Kapitän Siems, wie er leibt und lebt!“

Peter Voß nickte befriedigt, er hatte das Gesicht des braven Kapitäns
der „Pennsylvania“ lange genug studiert, um es annähernd treffen zu
können.

„Nun noch einen kleinen Handkoffer!“ rief er und betrachtete sich
würdevoll im Spiegel.

Die Mütze stand ihm ausgezeichnet.

Mutter Hansen besorgte auch ein kleines, neues Köfferchen, das mit
Zeitungen gefüllt wurde.

Zehn Minuten später entstieg Peter Voß schnaufend einem Auto, das vor
dem Esplanade-Hotel hielt.

„Guten Tag, Herr Kapitän!“ rief der Portier höflich, zog die Mütze und
nahm das Handgepäck, das ihm der Chauffeur reichte.

Genau so wiegend und gewichtig, wie Kapitän Siems von der
„Pennsylvania“ dahinzuschreiten pflegte, ging Peter Voß durch das
Vestibül. Er begehrte bei der Zentrale ein Zimmer und verwarf mehrere
Nummern, ehe er eine wählte. Es war Nummer 26. Hier wollte er sich auf
die Lauer legen, um Polly abzufangen. Und er hatte Glück. Sie trat
eben aus ihrem Zimmer, um in den Alsterpavillon zu gehen, und kam ihm
entgegen. Sehr bleich und furchtbar aufgeregt war sie.

Plötzlich sah sie ihren Weg durch einen sehr gewichtigen Schiffskapitän
versperrt, der einfach die Arme um ihren Hals legte und sie küßte.
Sie stieß ihn zurück, wobei ihr auffiel, daß er einen außergewöhnlich
weichen Bauch hatte.

„Schrei nicht, Polly, ich bin’s!“ flüsterte er. „Peter Voß, dein Peter.“

Nun wollte sie erst recht losschreien, aber er legte ihr die Hand
auf den Mund und zog sie ins Zimmer 26 hinüber, das er mit schnellen
Griffen durch die Riegel der Doppeltür sicherte. Polly stand an der
Wand und sah ihn mit weitaufgerissenen Augen an. Er näherte sich ihr
mit der größten Entschiedenheit.

„Rühr mich nicht an!“ rief sie, ein Bild des vollkommensten Schreckens.
„Ich fürchte mich.“

„Aber Polly!“ lachte er und rückte ihr näher.

„Du bist geisteskrank!“ schluchzte sie. „Du hast dich im Geschäft
überarbeitet. Gib das Geld heraus, das du genommen hast.“

„Zum Teufel, ich hab ja gar kein Geld genommen!“ rief er, von diesem
unerwarteten Empfang höchlichst überrascht.

„Ja ja, Mr. Dodd hat recht, du bist wirklich geisteskrank!“ jammerte
sie und drückte sich das Taschentuch gegen die Augen.

„Du glaubst mir nicht?“ schrie er empört und ballte die Fäuste.

„Wie kann ich dir glauben, wenn du doch verrückt bist!“ schluchzte sie
und fiel plötzlich vor ihm auf die Knie. „Peter, lieber Peter, ich
bitte dich, gib das Geld heraus. Es wird keine gerichtlichen Folgen
haben, er hat es mir versprochen. Du gehst in ein Sanatorium, und ich
pflege dich gesund.“

Peter Voß gab sich die allererdenklichste Mühe, sie blieb bei ihrer
Meinung, sie ließ es sich nicht ausreden, daß er vollkommen verrückt
sei. Das völlig Unglaubliche seiner Behauptung, den Millionendiebstahl
nur fingiert zu haben, um die Firma zu retten, wirkte auf sie geradezu
niederschmetternd.

„Ach!“ stöhnte er auf und sank verzweifelt in den Stuhl, und dann
lachte er so laut, daß es von den Wänden widerhallte.

Vor diesem Lachen verging Polly der letzte Zweifel. So konnte nur
ein Irrsinniger lachen! Sie zog sich wieder in eine Ecke zurück und
beobachtete ihn voller Angst.

Endlich trat er dicht vor sie hin.

„Hat Mr. Stockes mit dir gesprochen?“ fragte er beinahe rauh.

„Nein! Ja!“ jammerte sie. „Er wollte mit mir sprechen. Aber was hätte
es für einen Zweck gehabt. Ich hatte ja schon alles durch Mr. Dodd
erfahren. Gib das Geld heraus, lieber Peter, wir können ja auch hier in
Deutschland bleiben, bis du wieder gesund bist.“

„Gottverdammich!“ brüllte er los. „Ich hab ja gar kein Geld, es ist
alles Lug und Trug. Ich schlage Mr. Dodd den Schädel ein, wenn ich ihn
treffe.“

Dabei rollte er die Augen wie ein verrückt gewordener Gewohnheitsmörder.

Polly streckte abwehrend ihre Arme aus: das Vorurteil, das Bobby Dodd
in ihr erweckt hatte, konnte Peter Voß weder durch Güte noch durch
Gewalt ausrotten.

„Also gut!“ sagte er und stampfte mit dem Fuße auf. „Du bist nicht zu
bekehren. Halte mich also für einen Millionendieb. Aber wenn du dich
von mir scheiden läßt und den verdammten Dodd heiratest, dann machst
du mich zum dreifachen Mörder. Erst bringe ich ihn um, dann dich, und
endlich mich, das merke dir. Halte mich also immerhin für verrückt, das
ist sogar besser. Dann traust du mir diesen furchtbaren Tripelmord um
so eher zu.“

„Aber ich will mich ja gar nicht von dir scheiden lassen!“ stöhnte sie
auf und sank in einen Sessel. „Ich werde niemals Mr. Dodd heiraten.“

„Verstell dich nicht!“ trumpfte Peter Voß auf. „Er hat es mir soeben
durchs Telephon gestanden.“

„Aber nein!“ rief sie ehrlich empört. „Das ist eine Gemeinheit. Ich
werde ihn dafür zur Rede stellen. Er hat allerdings schon öfters solche
Andeutungen gemacht.“

„So ein Lump!“ schrie er wütend. „Und mit so einem Menschen fährst du
hinter mir her. Augenblicklich kehrst du nach St. Louis zurück.“

„Aber das geht doch nicht!“ seufzte sie und faltete ergeben ihre Hände.
„Peter, du bist doch schwer krank. Du siehst es nur nicht ein. Du mußt
die Millionen herausgeben! Peter, kannst du denn das nicht einsehen?“

„Da schlag doch ein Kreuzmillionhimmeldonnerwetter drein!“ brüllte er
los. „Hier bleibt einem wirklich der Verstand stehen!“

„Das ist es ja eben!“ schluchzte sie unter Tränen. „Wenn du bei
Verstande wärst, hättest du doch nicht das Geld genommen. Siehst du das
nicht ein? Ein vernünftiger Mensch stiehlt doch nicht zwei Millionen.
Das ist doch ein Verbrechen! Lieber, lieber Peter, sag mir, wo du das
Geld hingetan hast, dann ist ja alles gut. Tu es doch mir zuliebe!“

So jammerte sie, während er regungslos dasaß und Kopf und Arme hängen
ließ.

Er war mit seinem Latein zu Ende.

„Ich gebe die Millionen nicht heraus!“ sagte er ruhiger. „Und zwar
aus dem einfachen Grunde, weil ich sie gar nicht habe. Wenn du dem
verdammten Dodd mehr glaubst als mir, dann ist die Sache allerdings
schlimm genug. Aber ich verlange, daß du sofort nach St. Louis
zurückkehrst.“

„Nein, nein, das kann ich wirklich nicht tun!“ flehte sie ihn an.
„Sonst wird er dich der Polizei ausliefern, und du kommst ins
Gefängnis. Nur wenn ich bei ihm bin, dann wagt er es nicht. Wir haben
einen Vertrag geschlossen, und er hat mir versprochen, die Sache in
Güte zu erledigen!“

Peter Voß griff sich mit beiden Händen an den Kopf.

„Und das glaubst du, Polly?“ fragte er und tippte sich an die Stirn.
„Er schleppt dich nur mit sich herum, um dich zu verführen, jawohl, das
ganz allein ist seine Absicht.“

Jetzt meldete sich bei Polly die Amerikanerin.

„Mr. Dodd ist ein Gentleman!“ sagte sie und erhob sich. „Und außerdem
weiß ich ganz genau, was ich mir selbst schuldig bin. Du aber scheinst
es nicht zu wissen.“

„Da hast du das wohl wirklich geschrieben?“ rief er und riß die
Brieftasche heraus.

„Die Brieftasche!“ stieß sie heraus. „Du hast sie! Du warst wirklich im
Gefängnis von St. Malo!“

Das war zu viel für sie. Sie sank in den Sessel und schloß die Augen.
Peter Voß nahm die Gelegenheit wahr, sie in die Arme zu schließen und
sie so lange zu küssen, bis ihr der Atem ganz verging.

Als sie die Augen wieder aufschlug, lag sie allein auf dem Sofa. Peter
Voß war verschwunden. Unfähig, nach dem Alsterpavillon zu gehen, kehrte
sie auf ihr Zimmer zurück, sank auf einen Stuhl und weinte leise in ihr
Taschentuch hinein. Vergeblich wartete der Kriminalbeamte auf sie.

Peter Voß war längst wieder bei Mutter Hansen. Das Kopfkissen gab er
ihr zurück. Den Anzug trug sie wieder zum Schneider und bezahlte die
Leihgebühr. Sie holte auch das Paket aus Amsterdam vom Zollamt. Der
Zwickelbart verschwand. Peter Voß saß bald wie vor Jahren als echter
Janmaat an Mutter Hansens Tisch, aß rote Grütze und Pfannkuchen und
trank Grog, als wenn er sieben Monate auf See gewesen wäre, rauchte
einen Brösel, erzählte seinen zechenden Tischgenossen ein paar
fürchterliche Lügengeschichten, die er sich ohne Schwierigkeiten
aus den Fingern sog, löste noch an demselben Abend auf dem Altonaer
Hauptbahnhof eine Fahrkarte nach Berlin und ließ Mutter Hansen als
Bezahlung die Garderobe des fidelen Lebegreises zurück, die sie
unverzüglich zum Trödler trug.

Als Dodd ins Hotel zurückkehrte, fand er Polly in Tränen aufgelöst.
Unter fortwährendem Schluchzen erzählte sie ihm, was vorgefallen war.
Und nun erwies sich sein Mitleid und seine Liebe zum ersten Male
stärker als sein beruflicher Ehrgeiz. Er nahm die Verfolgung vorerst
nicht auf, sondern blieb bei Polly, um sie zu trösten.

„Mrs. Voß!“ sprach er sanft. „Sie haben sich nun wohl überzeugt, daß
Ihr Mann nach jeder Richtung hin unzurechnungsfähig ist, und daß er die
Millionen wirklich gestohlen hat. Sie werden an seiner Seite niemals
das Glück Ihres Lebens finden. Lassen Sie mich also hoffen, Mrs. Voß,
versprechen Sie mir, die Meine zu werden, dann lasse ich diesen
Verrückten laufen, wohin er will. Wir werden nach Amerika zurückkehren
und ihn zu vergessen suchen.“

Er beugte sich nieder, faßte ihre Hand und drückte einen Kuß darauf.

„Darf ich hoffen, Mrs. Voß?“ fragte er leise.

Aber sie antwortete nicht, sie schluchzte nur und schüttelte den Kopf.

Mit Hilfe der Hamburger Polizei gelangte der neue Steckbrief in das
Fahndungsblatt.

Peter Voß aber war in Berlin und geriet mehr aus Neugier, denn aus
Solidaritätsgefühl in eine Verbrecherkneipe des Berliner Nordostens.
Hier hörte er von einer Stelle erzählen, wo jeder, dem der
vaterländische Boden zu heiß geworden war, gegen Geld und gute Worte
falsche Papiere erhalten könnte.

Brauch ich nicht! dachte Peter Voß. Ich fahr nach Strienau zu meinem
Onkel.

Und das tat er denn auch am nächsten Morgen.



8.


Am Montag vor dem Buß- und Bettag zog Peter Voß im hellsten
Sonnenschein in seine zweite Vaterstadt Strienau ein. Er trug seinen
alten blauen Anzug, mit dem er in St. Malo im Gefängnis gesessen
hatte, und in dem er außerordentlich mitgenommen aussah. Die Hände
in den Taschen, die Mütze weit im Nacken, die Zigarette im linken
Mundwinkel, so schlenderte er gemütlich über die Promenade der Stadt
zu. Sein Gesicht war amerikanisch glattrasiert. Seine Zahnbürste trug
er in der Tasche. Ein dunkelblauer Sweater ersetzte ihm die Wäsche.

Die Sache mit Polly ging ihm noch immer im Kopfe herum. Aber was ließ
sich dabei machen? Sie hielt ihn eben für verrückt. So schmerzlich es
ihm auch war: seine privaten Angelegenheiten mußten vor den Interessen
der Firma Stockes & Yarker zurücktreten.

Manchem Bekannten aus seiner Jugendzeit begegnete er, aber er hütete
sich wohl, sich zu erkennen zu geben. Endlich gelangte er auf den
Marktplatz mit dem alten Rathaus. Da saß noch immer die dicke Mutter
Knulle. Sie war in den zwölf Jahren, da er sie nicht gesehen hatte,
nicht dünner geworden und hatte den Mund und das Herz noch immer auf
dem rechten Fleck. Er blieb stehen und betrachtete sie lächelnd. Wie
oft hatte er sich mit ihr herumgezankt! Ob sie ihn wohl noch kannte?
Und er trat näher und wagte das Experiment.

„Guten Tag, Mutter Knulle!“ rief er jovial.

„Nu, guten Tag auch!“ erwiderte sie und stützte die Fäuste auf die
Wucht ihrer gigantischen Hüften. „Sie kommen wohl von weit her?“

„Direkt aus China!“

„Nu, ja ja, Sie sind wohl ein Matrose, und da kommen Sie halt durch
die ganze Welt. Und China, das ist doch das Land, wo die Apfelsinen
wachsen?“

„I woher denn, Mutter Knulle! Die Apfelsinen kommen aus Messina. In
China gibt’s Mandarinen, das sind die ganz kleinen Apfelsinen! Wenn sie
faulig sind, werden sie dort Minister.“

„Ach nein!“ rief sie ungläubig. „Man hört doch alle Tage was Neues.
Aber woher kennen Sie mich denn? Ich kenne Sie doch nicht!“

„Dann ist’s gut!“ lachte er und kaufte ihr ein paar Birnen ab.

Mit der offenen Tüte in der Hand spazierte er weiter und kaute auf
beiden Backen. Da kam der Professor Zuntermann angewackelt. Er war ein
kleines, eisgraues Männlein, das sich seinerzeit vergeblich bemüht
hatte, Peter Voß in die Geheimnisse der Mathematik einzuweihen. Peter
Voß spuckte das Kernhaus aus, das er gerade zwischen den Zähnen hatte,
und vertrat dem Professor den Weg.

Zuntermann war in Strienau wegen seines ausgezeichneten Gedächtnisses
bekannt, auf Zahlen, Namen und Personen war er geradezu geeicht.

„Ich bin einer Ihrer früheren Schüler!“ behauptete Peter Voß keck und
machte einen Kratzfuß.

„Sie?“ sprach der Professor erstaunt und betrachtete die wenig
vertrauenerweckende Außenseite des Fremden mit kritischen Blicken. „Ich
kann mich sonst auf jeden meiner Schüler besinnen, obwohl ich sehr,
sehr viele gehabt habe. Da muß ein Irrtum Ihrerseits vorliegen!“

„Dann entschuldigen Sie nur!“ meinte Peter Voß, nahm eine neue Birne
zwischen die Zähne und ging bis zum Gymnasium.

Hier hörte er die Stimme des Direktors Plimpel, der ihn mit dem Latein
weidlich geplagt hatte, schon von weitem. Da das Wetter schön war, und
um für sich Reklame zu machen, unterrichtete er bei offnem Fenster.
Außerdem war er äußerst schreckhaft.

Rache ist süß! dachte Peter Voß, blies die leere Birnendüte auf, legte
sie an die Wand und schlug mit der flachen Hand darauf. Das gab einen
Knall, so laut wie ein grober Pistolenschuß: denn Mutter Knullens Tüten
waren gut geleimt. Sofort erschien des Direktors wachsbleiches Gesicht
über ihm.

„Sie wünschen?“ fragte Peter Voß höflich.

Der Direktor fuhr wütend zurück, er hatte nicht die geringste Ursache,
sich mit einem so verwahrlosten Proleten zu unterhalten.

Nun lenkte Peter Voß in die Feldstraße ein und blieb vor dem 25. Hause
stehen, das er schon deshalb sehr gut kannte, weil er sechs Jahre
darin gewohnt hatte. Da stand wahrhaftig noch immer auf dem schmalen
Rasenfleck des Vorgartens der kleine Tonhase, dem er einmal den
linken Löffel abgeschlagen hatte. Am Pfeiler der Gartenpforte glänzte
blankgeputzt das ehrwürdige Messingschild, darauf der Name und Stand
seines Onkels zu lesen waren.

„Landgerichtsrat!“ las Peter Voß. „Sieh mal an. Also ist er doch
inzwischen etwas weiter gekommen.“

Und schon zog er die Klingel. Drinnen näherte sich jemand
mit schleichenden Schritten der verschlossenen Haustür. Die
Sicherheitskette wurde vorgelegt, der Schlüssel schnappte, und die Tür
tat sich eine Handbreit auf. Eine sehr spitze Nase erschien, darüber
ein Paar graue lauernde Augen, darunter ein Mund mit schmalen Lippen,
die auf Zahnlücken deuteten.

„Hier wird nicht gebettelt!“ ließ sich eine keifende Stimme vernehmen.
„Können Sie nicht lesen?“

Da stand wirklich auf einem ovalen Porzellanschild die Bemerkung:
Mitglied des Vereins gegen Hausbettelei.

„Ich möchte den Herrn Landgerichtsrat sprechen!“ sagte Peter Voß.

„Das kennt man schon!“ kam’s höchst ärgerlich zurück. „Das ist die alte
Ausrede. Der Herr Landgerichtsrat ist nicht zu Hause!“

Damit warf sie die Tür heftig zu.

Wo hat er sich bloß diese Bestie aufgegabelt? dachte Peter Voß, indem
er dem ungastlichen Hause den Rücken kehrte.

Also bog er bei der nächsten Ecke in die menschenleere Promenade
ein, denn das war der Weg, auf dem der Onkel das Gerichtsgebäude zu
erreichen pflegte. Und da kam ihm auch schon ein ziemlich schlanker,
älterer Herr mit glattrasiertem Gesicht und goldener Brille
entgegengewandelt. Unter dem rechten Arm trug er eine Aktenmappe. Das
war niemand anders als Landgerichtsrat Pätsch. Er sah Peter Voß, seinem
Neffen, so ähnlich, als sei er ihm aus dem Gesicht geschnitten.

„Guten Tag, Herr Landgerichtsrat!“ sagte er mit Betonung und blieb
stehen.

Der Landgerichtsrat dankte kurz, indem er an den breiten Schlapphut
griff, und blieb zu seiner eigenen Verwunderung gleichfalls stehen. Die
Aehnlichkeit dieses verkommenen Matrosen mit seinem durchgebrannten
Neffen war gar zu groß.

„Wie heißen Sie?“ fragte er unsicher und fuhr, als Peter Voß anstatt zu
antworten herausfordernd lächelte, fort: „Sie erinnern mich an meinen
Neffen.“

„Sehr schmeichelhaft, lieber Onkel!“ erwiderte Peter Voß und zog die
Mütze.

„Peter, du bist es wirklich?“ rief er ganz entsetzt. „Wie siehst du
aus. Wie kommst du hierher?“

„Teils auf zwei Beinen, teils per Bahn, teils per Schiff, teils per
Automobil.“

„Bist du damals wirklich zur See gegangen?“

„Freilich bin ich so dumm gewesen!“ versetzte er zerknirscht.

„Ich weiß schon!“ sprach der Onkel herablassend. „Du willst natürlich
Geld haben. Wir können das aber nicht hier abmachen. Zudem kannst du
in diesem erbarmungswürdigen Anzug unmöglich zu mir kommen. Wenigstens
nicht offiziell. Meine Haushälterin --“

„Kenn ich!“ lachte Peter Voß. „Um die beneid ich dich nicht. Ich komme
eben von dort.“

„Um Gottes willen!“ rief der Onkel erschreckt. „Hast du dich etwa zu
erkennen gegeben? Die bringt es noch heute herum. Bedenke, Strienau ist
eine Kleinstadt.“

Peter Voß berichtete, daß sie ihn nur für einen Bettler gehalten hätte.

„Dann ist es gut!“ erwiderte der Landgerichtsrat aufatmend. „Ich werde
sie ins Konzert schicken. Um acht Uhr erwarte ich dich. Uebrigens habe
ich jetzt noch zu arbeiten.“

„Na schön!“ meinte Peter Voß treuherzig. „Dann komme ich also um acht.
Wenn du willst, kann ich mir ja hier in einem Geschäft eine neue Jacke
kaufen.“

„Nein, nein!“ rief der Onkel entsetzt. „Dann würde es morgen auch herum
sein. Du verstehst, in meiner Stellung muß ich alles vermeiden. Und mit
einer neuen Jacke ist es auch nicht getan. Du siehst außerordentlich
heruntergekommen aus! Ich gebe dir heute abend etwas Geld, und du
fährst nach Breslau, um dich zu equipieren. Dann kommst du als
anständiger Mann zurück und machst mir einen offiziellen Besuch. Du
kannst natürlich bleiben, solange du willst.“

Damit ging der Onkel eilig davon. Und Peter Voß vertrieb sich die
Zeit. Auf der Lindenstraße begegnete er dem alten Gefängnisdirektor
Franzelt, der ihn aber auch nicht erkannte. Beim Fleischer Zeidlich
auf dem Ringe kaufte er sich ein Stück Knoblauchwurst, für die er als
Junge zum Entsetzen des Onkels immer so geschwärmt hatte, und schickte
sich an, es auf der Uferpromenade zu verzehren. Aber es schmeckte ihm
nicht. Entweder lag es an der Wurst oder an ihm. Er spazierte über die
Oder auf die Aue hinaus, wo er als Junge seinen Drachen hatte steigen
lassen. Auch heute standen wohl ein Dutzend dieser leichten Papiervögel
hoch und niedrig in der Luft und ließen im frischen Winde ihre Schwänze
zappeln.

Wenn ich die Haushälterin und ein Stück Tau mitgenommen hätte, dachte
er, dann würde ich sie sofort steigen lassen!

Darauf kehrte er wieder in die Stadt zurück. Bis auf die neue
eiserne Oderbrücke, das bessere Straßenpflaster und die elektrische
Beleuchtung waren die zwölf Jahre seiner Abwesenheit spurlos an dem
Städtchen vorübergegangen. Im gemächlichen Tempo schlenderte er auf
den ausgedehnten Promenadenanlagen rund um die ganze Stadt herum. Da
schaute die Hinterseite des Gefängnisses herüber, und fünf Minuten
später sah er die gelbe Mauer des Zuchthauses durch die herbstlich
entlaubten Ulmen schimmern.

Das Hotel in St. Malo war bedeutend freundlicher! dachte er, trank
in der alten Kutscherkneipe an der nächsten Ecke einen Schoppen von
dem hellen, dünnen Aktienbier, das keinem Trinker etwas zuleide tat,
schmauchte dazu eine echte Hawansener mit Ohlauer Deckblatt und
erschien endlich wieder Punkt acht Uhr auf der Feldstraße.

Der Onkel öffnete ihm selbst die Tür und zog ihn sofort in sein Zimmer.
Da stand ein gedeckter Tisch mit einer Flasche Rotwein in der Mitte.
Die Gaskrone brannte, die Fenster waren verhängt.

„Schweinebraten ist auch da!“ rief Peter Voß vergnügt und setzte sich
aufs Sofa vor das einzige Besteck, das aufgelegt war: „Also spielen wir
mal den verlorenen Sohn oder den verlorenen Neffen. Prost, alter Herr!“

Der Onkel stand noch immer. Er hatte weder ein Besteck noch ein Glas.
Peter Voß sprang auf, entschuldigte sich, lief zum Büfett, stellte
alles auf den Tisch und schoß schließlich zur Tür hinaus. Mit einem
halben Schinken und drei Flaschen Rotwein erschien er wieder.

Der Onkel hatte unterdessen auf dem Stuhl Platz genommen und stieß mit
seinem Neffen an, obschon ihm dessen ungeniertes Benehmen reichlich
unangebracht erschien.

„Mir scheint,“ sagte er und musterte ihn, indem er die Augenbrauen
runzelte, „du hast zu diesem Uebermut eigentlich recht wenig Grund. Du
befindest dich offenbar in sehr derangierten Verhältnissen.“

„Wieso?“ lachte ihn Peter Voß aus. „Ich tausche nicht mit dir,
geliebter Onkel! Wie du mich hier sitzen siehst, bin ich wohlbestallter
Kassierer des Bankhauses Stockes & Yarker in St. Louis. Ich beziehe an
Gehalt ungefähr das Doppelte an Dollar, was ein Königlich Preußischer
Landgerichtsrat in Mark verdient. Ich habe sogar begründete Hoffnung,
in spätestens zwei Jahren Mitinhaber dieser hervorragenden Firma zu
werden. Was sagst du nun dazu? Das hast du mir sicher nicht zugetraut!“

„Verhält sich das wirklich so?“ fragte der Onkel höchlichst überrascht.

„Glaubst du, ich bin hier herübergekommen, um dir einen Bären
aufzubinden?“ rief Peter Voß und hieb in den Schweinsbraten ein.

„Wenn du auch sonst allerhand dumme Streiche gemacht hast,“ bekannte
der Onkel ehrlich, „belogen hast du mich eigentlich nie.“

„Na also!“ rief Peter Voß und hob wieder das Glas. „Das Lügen hab ich
erst viel später gelernt. Da wollen wir also Frieden schließen. Ich
habe mich sogar vor kurzem verheiratet.“

„Aber in einem solchen Anzuge zu reisen!“ bemerkte der Onkel
kopfschüttelnd.

„Bequemlichkeit!“ meinte Peter Voß und holte triumphierend seine
Zahnbürste heraus. „Dies ist mein einziges Gepäck. Ideal! Was?“

„Und verheiratet bist du auch?“ fragte der Onkel und wiegte den
kurzgeschorenen Kopf. „Warum hast du deine Frau nicht mitgebracht?“

Peter Voß spreizte die Finger und wiegte ganz genau so wie der Onkel
seinen Kopf hin und her.

„Das hat verschiedene Gründe!“ wich er geschmeidig aus. „Selbst wenn
ich sie dir alle auseinandersetzen wollte, würdest du es doch nur halb
verstehen. Denn du bist ein alter, eingefleischter Junggeselle! Und
überdies, die Amerikanerinnen sind ein Kapitel für sich.“

„Bist du denn glücklich mit ihr?“ fragte der Onkel besorgt.

„O gewiß, sehr glücklich!“ rief Peter Voß ausgelassen. „Aber wie die
Verhältnisse nun einmal liegen, wir können nicht beieinander sein. Sie
muß mit einem andern reisen.“

„Das verstehe ich wirklich nicht!“ sagte der Onkel und lenkte das
Gespräch auf seines Neffen frühere Perioden.

Und Peter Voß erzählte alles genau hintereinander, nur die Schmuggelei
in China, die Meuterei und den Ausbruch aus dem Gefängnis in Iquique
unterschlug er. Wozu sollte er den alten Herrn ärgern? Wohl zwei
Stunden erzählte Peter Voß in einem Biegen. Für das, was er weglassen
mußte, hatte er immer noch genügend Ersatz. Als er endlich fertig
war, schenkte sich der Onkel ein neues Glas Rotwein ein, hielt es
nachdenklich gegen die Lampe und trank es mit einem Zuge aus.

„Du bist bei alledem doch ein Glückspilz gewesen!“ sagte er dann
befriedigt. „Ich kann es dir gestehen, daß mich das aufrichtig
freut. Ich hatte schon befürchtet, du würdest im Unglück verkommen,
denn du hast von Jugend auf einen bösen Feind in dir gehabt, das war
deine Phantasie. Alle deine Streiche, die du hier verübt hast, trugen
vornehmlich dieses Merkmal.“

„Aber Onkel,“ unterbrach ihn Peter Voß, beinahe ärgerlich, „ich bin
doch nicht hierher zu dir gekommen, damit du mir eine Moralpauke
hältst!“

„Du hast recht!“ lenkte der Onkel ein. „Du bist erwachsen und handelst
unter deiner eigenen Verantwortlichkeit.“

Als sie mit dem Essen fertig waren, lief Peter Voß zum
Zigarrenschränkchen. Da stand wirklich noch die ihm wohlbekannte Kiste
mit den schwarzen, schweren Brasilzigarren.

„Rauchst du noch immer das Kraut?“ fragte Peter Voß verwundert, steckte
sich eine zwischen die Zähne und ein halbes Dutzend in die Tasche und
präsentierte den Rest seinem Onkel.

„Ich danke!“ lehnte er lächelnd ab. „Ich rauche nur noch nikotinfrei,
es hat sich nämlich bei mir ein kleiner Herzfehler herausgestellt.“

„Aha!“ meinte Peter Voß und holte die andere Kiste, worin die fahlen,
ausgelaugten Tabaksnudeln lagen.

Dann tranken und rauchten sie eine Stunde um die Wette, und der Onkel
taute sichtlich auf.

Plötzlich schaute er nach der Uhr.

„Du mußt fort!“ rief er ängstlich. „In einer Viertelstunde ist das
Konzert aus.“

„Fällt mir nicht im Traume ein!“ sagte Peter Voß und legte sich aufs
Sofa. „Hier bin ich, und hier bleibe ich liegen und schlafe bis morgen
früh. Und wenn dein Drache kommt und mich stört, dann schmeiß ich ihr
die Stiefel an den Kopf, daß sie vor Angst ins nächste Mausloch fährt.“

„Aber Peter!“ rief der Onkel entsetzt und sprang auf. „Du untergräbst
ja geradezu meine Stellung.“

„Das ist mir schnuppe!“ erwiderte Peter Voß rührungslos und rekelte
sich auf dem Sofa. „Einen Herzklaps hast du schon weg, natürlich von
den vielen Aufregungen mit den Verbrechern, die du tagaus tagein
verknacksen mußt. Laß dich pensionieren, du bist reif dazu! Und komm
mit nach St. Louis. Meine Frau wird sich freuen, mit dir spazieren zu
gehen, denn ich hab keine Zeit dazu. Ich muß Dollar machen.“

„Meine Haushälterin!“ stöhnte der Onkel.

„Ich weiß schon!“ lachte Peter Voß und war mit einem Satze auf den
Beinen. „Du willst, daß dein alter Hausdrache von meiner Anwesenheit
nichts merkt. Kleinigkeit für mich! Aber verstoßen lasse ich mich
nicht. Ich soll womöglich heute noch nach Breslau fahren, mich ins
Coupé dritter Klasse setzen, wo ich hier eine so schöne, weiche
Sofaecke gefunden habe. Hältst du mich vielleicht auch für wahnsinnig?“

Der Onkel saß wieder auf seinem Stuhl und fand keine Antwort. Sein
Herz machte sich bemerklich. Peter Voß trug zunächst den Schinken und
die beiden leeren Weinflaschen, die er mit Wasser füllte und zukorkte,
in die Speisekammer zurück. Dann spülte er das eine Besteck und das
Weinglas aus, polierte es blank und brachte alles wieder kunstgerecht
im Büfett unter. Im Vorbeigehen nahm er draußen im Korridor seine blaue
Mütze vom Nagel und steckte sie in die Tasche.

„So!“ sagte er befriedigt, nahm die letzte Weinflasche unter den Arm
und wies auf den Schreibtisch. „Und jetzt schreibst du einen Brief.
Wenn du nicht weißt, an wen, schreib meinetwegen an Jim Stockes einen
schönen Gruß.“

„Aber warum denn in aller Welt!“ rief der Onkel entsetzt.

„Damit wir morgen früh den alten Drachen wegschicken können!“ erklärte
Peter Voß und ging in des Onkels Schlafzimmer, wo ein Diwan mit einem
dicken Eisbärenfell stand. In das hüllte sich Peter Voß ein, nachdem er
sich die Jacke ausgezogen hatte, und nahm noch einen Schluck aus der
Flasche.

Der Onkel schrieb wirklich noch einen Brief, an einen nebensächlichen
Bekannten, und ließ ihn auf dem Schreibtisch liegen. Dann löschte er
das Licht und kam ins Schlafzimmer. Kopfschüttelnd schaute er auf den
Neffen, der gerade den zweiten Schluck aus der Flasche nahm.

„Entschuldige!“ sagte er und nahm die Flasche in den Arm. „Ich pflege
sonst nicht aus der Flasche zu trinken. Aber die Umstände gebieten
es. Hol nur dein Weinglas herein und stell es auf den Nachtschrank,
damit dein alter Hausdrache meint, du hättest die Flasche im Bett
ausgetrunken. Es war dies jedenfalls früher eine deiner beliebtesten
Angewohnheiten.“

Der Onkel gehorchte, zog sich die Stiefel aus, stellte sie vor die Tür
und riegelte ab. Jetzt erst wagte er aufzuatmen. Er hielt seinem Neffen
das leere Glas hin, der so gnädig war, es ihm zu füllen.

„Schäm dich!“ sagte Peter Voß. „Königlich Preußischer Landgerichtsrat,
und nicht mal Herr im eignen Hause! Gute Nacht, alter Herr, und bessere
dich.“

„Aber morgen früh!“ flüsterte der Onkel ängstlich. „Du kannst doch
morgen nicht aus dem Hause in diesem Anzug.“

„Du wirst wohl einen neuen Anzug übrig haben!“ lachte Peter Voß
übermütig. „Wir haben ja dieselbe Größe und dieselbe Figur.“

Einigermaßen beruhigt legte sich der Onkel ins Bett, schlürfte den Wein
und löschte das Licht. Und bald waren die beiden eingeschlafen. Die
Haushälterin, die eine Viertelstunde später kam, hörten sie nicht mehr.

Peter Voß erwachte am Morgen, als die Haushälterin die Stiefel des
Landgerichtsrats vor die Tür stellte.

„Hören Sie mal!“ rief er, indem er so genau den Ton seines Onkels
nachahmte, daß der ganz verstört aus den Kissen fuhr. „Da liegt ein
Brief auf dem Schreibtisch. Der muß sofort besorgt werden. Stellen Sie
das Frühstück zurecht, ich muß sogleich aufs Gericht. Sie können dann
direkt auf den Markt gehen.“

„Jawohl, Herr Landgerichtsrat!“ flötete sie zurück und eilte, den
Frühstückstisch zu decken.

Der Onkel lag in den Kissen und hielt sich den Bauch, um nicht laut
herauslachen zu müssen. Peter Voß holte seine Zahnbürste heraus und
machte Toilette. Als der Schlüssel in der Haustür schnappte, fuhr er
hinter die Gardine und stellte fest, daß die Haushälterin wirklich mit
der Markttasche die Feldstraße hinaufeilte.

„Wie heißt dieses entzückende Wesen?“ fragte er den Onkel, der
schnaufend aus dem Bett fuhr.

„Es ist die unverehelichte Martha Zippel!“ erwiderte er in
gerichtsnotorischem Tone, von Peter Voßens Ausgelassenheit bereits
merklich angesteckt.

„Und wie lange pflegt diese unverehelichte Zippel auf dem Markt zu
feilschen?“

„Unter zwei Stunden kommt sie nicht zurück!“ erwiderte der Onkel und
stieg in seine Beinkleider. „Du bist doch ein ganz verdammter Kerl!“

„Also fix!“ rief Peter Voß und lief in die Küche. „Der Kaffee wird
kalt.“

Als der Onkel sich an den Tisch setzte, erschien Peter Voß mit der
dampfenden Bratpfanne, in der sechs Spiegeleier lagen.

„Keine Angst!“ beruhigte er ihn. „Sie merkt es nicht. Es steht da
in der Küche eine ganze Kiste mit Eiern, die hat sie sicher nicht
nachgezählt.“

Und er ließ es sich schmecken. Der Onkel verzichtete. Er aß morgens nur
eine halbe Semmel.

Mit Bewunderung sah er auf Peter Voß, der sich zu seinen Spiegeleiern
ein Pfund Schinken legte.

„In Amerika ißt man wohl sehr stark?“ bemerkte er lächelnd.

„Und in Deutschland schläft man desto mehr!“ erwiderte der Neffe, auf
sämtlichen gesunden Zähnen kauend. „Nach dem Gesetz von der Erhaltung
der Kraft kommt es auf dasselbe hinaus, es handelt sich nur darum,
welche Methode einem mehr Spaß macht.“

Nachdem er die Pfanne geleert hatte, trug er sie in die Küche, wo er
sie mit Schrubber und Scheuersand in den vorigen Zustand zurückbrachte
und sie wieder an den Nagel hing. Dann steckte er die Eierschalen in
die Tasche und entfernte die sonstigen Spuren seiner kulinarischen
Tätigkeit restlos.

„Nun mußt du aber gehen!“ sagte der Onkel und schaute nach der Uhr.

„Zwei Stunden!“ lachte Peter Voß und steckte sich eine Zigarre an.

„Hör mal!“ versetzte der Onkel argwöhnisch. „Du willst doch nicht etwa
bleiben, bis sie zurückkommt?“

„Nur keine Angst!“ beruhigte ihn Peter Voß.

„Geld brauchst du wohl nicht?“ fragte der Onkel zögernd.

„Aber wenn man mir welches anbietet, schlage ich es nicht aus.“

Der Onkel lächelte und zog sein Schlüsselbund aus der Tasche.

„Laß dir Zeit!“ bat Peter Voß und hielt ihn am Aermel fest. „Ich hab
noch allerhand auf dem Herzen. Du solltest dich wirklich pensionieren
lassen. Für deinen Herzklappenfehler hast du doch einen reichlich
aufreibenden Beruf.“

„Wenn ich meinen Beruf nicht hätte,“ wies ihn der Onkel zurück,
„könnte ich mich sofort hinlegen. Der Beruf hält mich am Leben.
Ueber berufliche Dinge rege ich mich überhaupt nicht mehr auf.
Man stumpft dagegen ab. Man wird allmählich eine reine Akten- und
Paragraphenmaschine.“

„Um so eher würde ich doch den ganzen Krempel über den Haufen
schmeißen!“ rief Peter Voß entschlossen. „Du hast doch dein Schäfchen
im trocknen. Wenn du nicht reisen willst, setz dich an den Gardasee.
Oder komm mit nach St. Louis hinüber.“

„Du bist und bleibst ein Phantast!“ lächelte der Onkel gutmütig. „Zum
Juristen hättest du nichts getaugt.“

Dann schwiegen sie beide eine kurze Zeit, und der Onkel schaute
sinnend auf die schönen Rauchringe, die Peter Voß mit einer Präzision
sondergleichen zur Decke emporschickte.

„Allerdings nicht!“ sagte er plötzlich. „Das Strafgesetzbuch ist mir
das unsympathischeste Buch, das ich mir denken kann. Und die Richter
sind mir eben nicht sympathischer. So ein Richter teilt die Menschen
ein in Verbrecher und Nicht-Verbrecher. Aber das ist verkehrt. Es
gibt nämlich Verbrecher, Nicht-Verbrecher -- das sind die Philister --
und Leute, die weder Verbrecher noch Philister sind. Dazu gehöre ich.
Das ist die numerisch stärkste Gruppe. Und die Haupttriebkraft dieser
Menschen ist vornehmlich die Phantasie. Damit sehen sie die Dinge
voraus, die die andern noch nicht sehen, und suchen die Verhältnisse
schon im voraus zu beeinflussen, damit schließlich der gewünschte
Erfolg eintritt. Und dieser Erfolg kann doch auch gerade das Gegenteil
des Verbrecherischen sein. Nehmen wir einmal folgenden Fall an aus
meiner jetzigen Praxis. Ich bin zum Beispiel der erste Buchhalter und
Kassierer des Bankhauses Stockes & Yarker, mit einem Wort, die rechte
Hand des Chefs. Dieses Bankhaus kommt durch die tollen Spekulationen
seines Inhabers an den Rand des Ruins. Nun nimm weiter an, ich wäre
dem Inhaber zu großem Danke verpflichtet, was ja auch der Fall ist,
da er mich auf der St. Louis Bridge vor dem Selbstmord zurückgehalten
hat. Ich kann ihn aber nicht von seinen Spekulationen zurückhalten. Was
wird geschehen? Es wird zu krachen beginnen. Der Bank wird der Kredit
entzogen werden. Nun habe ich aber die Bücher in Händen und fälsche sie
zugunsten der Firma.“

„Das könntest du tun?“ rief der Onkel empört.

„Angenommen!“ lachte Peter Voß. „Und warum nicht? In Amerika ist alles
möglich. Also ich fälsche die Bücher, ohne daß der Chef etwas merkt. Er
überzeugt sich aus diesen Büchern von dem angeblich guten Finanzstand
seines Geschäfts. Was wird geschehen?“

Der Onkel schüttelte den Kopf, er kam offenbar nicht mehr mit.

„Der Mann wird weiter spekulieren!“ sagte Peter Voß. „Er wird die Firma
immer mehr hineinreiten, und ich, sein getreuer Kassierer, kann nichts
anderes tun, als die Fälschungen weiter fortsetzen, in der stillen
Hoffnung, daß dem Inhaber schließlich doch noch ein großer Börsencoup
gelingt, um den Unterschied zwischen Sein und Schein auszugleichen.
Eine solche Bücherfälschung ist natürlich viel, viel schwieriger als
die gewöhnliche Bücherfälscherei durchgehender Bankkassierer. Es wird
also weiter spekuliert. Sogar der Kassierer beteiligt sich daran, aber
auch das ist vergeblich. Was geschieht?“

„Dann erfolgt der Zusammenbruch!“ sagte der Onkel, dessen Interesse an
der Fiktion zusehends wuchs.

„Noch nicht!“ erwiderte Peter Voß und hob abwehrend die Finger. „Noch
steht die Firma nach außen hin glänzend da, besser als jemals. Ihre
Bilanzen sind vorzüglich, sie erhöht die Gehälter ihrer Beamten. Es
wird, wie gesagt, nichts versäumt, dem Publikum ordentlich Sand in die
Augen zu streuen. Nun hat aber diese Firma am nächsten Morgen zwei
Millionen Dollar zu bezahlen. Diese Summe muß unter allen Umständen
bezahlt werden! Und nun entspringt in der Phantasie des Kassierers, in
seiner verbrecherischen Phantasie, würdest du sagen, die famose Idee,
die zwei Millionen Dollar, die gar nicht vorhanden sind, zu stehlen
und damit das Weite zu suchen. Und nun frage ich dich als Onkel und
Landgerichtsrat: Wie beurteilst du diesen Kassierer?“

„Ja!“ sagte der Onkel ganz verblüfft. „Wem ist damit geholfen? Die
Firma muß trotzdem fallieren. Der Plan ist schlechthin wahnwitzig zu
nennen.“

„Oho!“ rief Peter Voß beleidigt. „Die zwei Millionen Dollar werden
natürlich nicht bezahlt, denn der Gläubiger, an den sie bezahlt werden
sollen, muß auf Grund des Diebstahls, und in der Hoffnung, das Geld
noch zu bekommen, der Firma Stockes & Yarker Stundung gewähren.“

„Hm!“ meinte der Onkel und beugte sich vor. „Das ist aber ein gewagtes
Spiel. Einmal wird dieser Betrug doch aufgedeckt werden.“

„Das glaube ich nicht!“ entgegnete Peter Voß siegesgewiß. „Angenommen,
die Firma verdient in der Zwischenzeit an ihren Kupferpapieren, die
augenblicklich so gut wie nichts wert sind, drei Millionen Dollar. Sie
wird nicht nur imstande sein, sich über Wasser zu halten, sondern auch
die zwei Millionen zu bezahlen. Der Kassierer kehrt zurück, gesteht
dem Chef die Fälschungen und die fingierte Defraudation ein und wird
gerührt ans Herz gedrückt, weil er die Firma gerettet hat.“

Der Onkel schöpfte noch immer keinen Argwohn. Die Sache war denn doch
zu haarsträubend und absurd.

„Nun beantworte mir die Frage!“ sagte Peter Voß und tippte ihm auf die
Schulter. „Hältst du diesen Kassierer für einen Verbrecher?“

„Unbedingt!“ versetzte der Landgerichtsrat ernsthaft. „Er ist ein
Betrüger. Die vier Punkte, die zum Betrug gehören, sind vorhanden. 1.
Täuschungshandlung, 2. Irrtumserregung, 3. Vermögens-Disposition, 4.
Vermögens-Schädigung.“

„Die ersten drei Punkte gebe ich ohne weiteres zu,“ erwiderte Peter
Voß, „aber den vierten Punkt keinesfalls. Wer wird denn geschädigt?
Im Gegenteil, wenn die Firma Stockes & Yarker zusammenbricht, werden
Tausende von Menschen mehr oder weniger geschädigt. Und der Mann, an
den die Millionen zu bezahlen sind, hat sie doch vorläufig noch gar
nicht verloren. Es ist vielmehr noch immer Hoffnung vorhanden, daß er
sie bekommt, sobald nämlich die Kupferpapiere in den nächsten Jahren
in die Höhe gehen. Ob also der Kassierer ein Betrüger ist, kann sich
doch erst, vorausgesetzt, daß er sich nicht erwischen läßt, nach Ablauf
dieser Frist herausstellen.“

„Das ist allerdings richtig!“ gab der Onkel zu, von dem Scharfsinn
seines Neffen ganz verblüfft. „Und außerdem müssen diesem Manne
mildernde Umstände zugebilligt werden, wenn man die Motive, aus denen
er gehandelt hat, ins Auge faßt.“

„So gefällst du mir schon besser!“ rief Peter Voß vergnügt und setzte
sich nieder. „Du würdest also diesen Kassierer freisprechen?“

„Freisprechen?“ fragte der Onkel verwundert. „Vom Betrug wohl, aber
nicht von der Bücherfälschung.“

Peter Voß wollte sich eben als dieser vom Betrug freizusprechende
Kassierer der Firma Stockes & Yarker aus St. Louis zu erkennen geben,
als die Hausglocke ging. Es war der Briefträger.

Der Onkel nahm ihm Briefe und Zeitungen an der Tür ab.

„Du erlaubst wohl,“ sagte er, als er wieder ins Zimmer trat, öffnete
ein paar Briefe, und überflog sie.

Peter Voß steckte sich inzwischen eine neue Zigarre an. Der Onkel legte
die Briefe beiseite. Es war nichts von Bedeutung darunter. Mechanisch
griff er zur neuesten Nummer des Fahndungsblattes, das unverpackt
zwischen den Zeitungen lag. Peter Voß überlegte inzwischen, wie er
sein Geständnis, in Rücksicht auf den leidenden Zustand des Onkels,
möglichst schonend anbringen könnte.

Landgerichtsrat Pätsch schlug inzwischen die erste Seite des
Fahndungsblattes herum und begann die zweite Seite zu überfliegen. Da
verlor er plötzlich den Halt. Sein Atem setzte aus, er verdrehte die
Augen.

„Peter Voß, der Millionendieb von St. Louis!“ stöhnte er noch, dann
sank er röchelnd hintenüber.

Peter Voß sprang hinzu. Ein Blick ins Fahndungsblatt genügte, um
die Ursache dieser plötzlichen Ohnmacht zu entdecken. Da stand sein
Steckbrief. Unterzeichnet mit Bobby Dodd. Ausgestellt in Hamburg.
Angegeben war das Signalement des Kapitäns Siems.

Peter Voß bettete den Ohnmächtigen, der sich noch immer nicht regte,
aufs Sofa. Puls und Atem waren herabgemindert. Er flößte ihm etwas
Wasser ein und nach einer Weile schlug der Onkel die Augen wieder auf,
war aber noch unfähig zu sprechen.

„Liebster, bester Onkel!“ flüsterte Peter Voß. „Es tut mir furchtbar
leid, daß du dich so erschrocken hast.“

„Millionendieb!“ röchelte der Onkel. „Hinaus mit dir.“

„Das hab ich kommen sehen!“ erwiderte Peter Voß traurig. „Obschon du
mich freisprechen wolltest, weist du mir doch die Tür.“

Nun kam der Onkel ein wenig in die Höhe.

„Du verlangst doch nicht etwa,“ stöhnte er auf, „daß ich als
Landgerichtsrat einen Millionendieb bei mir beherberge!“

„Aber ich bin doch gar kein Dieb,“ rief Peter Voß, „ich gebe mich doch
nur für einen aus. Kannst du das nicht begreifen? Ich bin das Gegenteil
eines Hochstaplers, ein Tiefstapler, wenn du willst. Die Millionen, die
ich gestohlen habe, sind doch gar nicht vorhanden.“

Der Onkel richtete sich ganz auf. Noch glaubte er dem Fahndungsblatt
mehr als seinem Neffen.

„Sieh mal an,“ erklärte ihm Peter Voß und legte ihm die Hand auf die
gebeugte Schulter, „wenn ich wirklich die beiden Millionen gestohlen
hätte, würde ich dann wohl zu dir gekommen sein und dir die ganze
Geschichte erzählt haben?“

Landgerichtsrat Pätsch hatte sich so weit erholt, daß er seine Gedanken
wieder ordnen konnte. Er schaute Peter Voß in die ehrlichen, treuen
Augen und glaubte ihm. Aber von seiner weiteren Beherbergung wollte er
durchaus nichts wissen.

„Schade!“ sagte Peter Voß. „Ich hatte es mir so schön vorgestellt. Ich
wollte hier die zwei Jahre bleiben, bis sich alles wieder beruhigt
hatte, und dann hätte ich meine Frau nachkommen lassen. Das wäre doch
sehr schön gewesen. Und außerdem wäre es auch nicht so teuer geworden.“

„Du brauchst also Geld?“ sagte der Onkel und ging mit schwankenden
Schritten auf das geheime Wandschränkchen zu.

„Für zwei Jahre sind meine Mittel allerdings etwas beschränkt!“ gestand
Peter Voß. „Ich konnte die Firma nicht noch mehr belasten.“

Der Onkel entnahm dem Geldschränkchen zehn Hundertmarkscheine.

„Hier nimm!“ rief er und hielt sie ihm hin. „Ich kann sie entbehren.
Aber du mußt sofort aus Strienau verschwinden!“

„Freilich!“ sagte Peter Voß, indem er das Geld einsteckte. „Ich werde
über die russische Grenze gehen. Dodd kann sicher nicht Russisch.“

„Wer ist Dodd?“ fragte der Onkel milder gestimmt, weil er nun hoffen
durfte, den schrecklichen Neffen los zu werden.

„Der Detektiv, der hinter mir her ist!“ erklärte Peter Voß und nahm
seine Mütze aus der Tasche. „Und das tollste ist, meine Frau ist
bei ihm. Sie hält mich nämlich für total verrückt. Nun könntest du
mir eigentlich den Gefallen tun und nach Hamburg fahren, um ihr das
gründlich auszureden.“

Der Onkel schüttelte den Kopf.

„Oder hältst du mich auch für verrückt?“ rief Peter Voß.

„Geh, mein Junge, geh!“ sagte der Onkel und drückte ihm herzhaft die
Hand. „Sonst läufst du noch der Martha Zippel in die Hände. Wenn du in
zwei Jahren wieder in St. Louis bist und dir die ganze Sache geglückt
ist, dann will ich mich gern pensionieren lassen und hinüber kommen.
Vorläufig aber muß ich jede Berührung mit dir vermeiden. Ich halte dich
nicht für verrückt, ich halte dich auch nicht für einen Dieb, du bist
nur ein Wagehals. Wenn Charaktere, wie du einer bist, überhand nehmen,
müssen wir das ganze Strafgesetzbuch umkrempeln.“

„Na, dann Adieu, lieber Onkel!“ erwiderte Peter Voß und ging betrübt
zur Tür.

„Also viel Glück, mein Junge!“ sagte der Onkel an der Haustür. „Ich
kenne dich jetzt besser als jemals, ich weiß, du würdest auch für
mich Kopf und Kragen wagen. Es scheint wirklich eine neue Menschheit
unterwegs zu sein.“

Dann drückte er leise die Tür von drinnen ins Schloß, und Peter Voß
war draußen. Es war auch die höchste Zeit gewesen. Eben schoß die
Wirtschafterin durch die Gartenpforte herein.

„Das ist doch eine bodenlose Frechheit!“ keifte sie los und stellte die
hochbepackte Markttasche nieder.

Peter Voß zog furchtsam die Mütze und streckte die Hand aus.

„Der Herr Landgerichtsrat hat mir auch was gegeben!“ flehte er und
schaute sie so jämmerlich an, daß es rein zum Erbarmen war. „Schenken
Sie mir doch einen Pfennig. Ich hab seit drei Tagen keinen warmen
Bissen in den Leib gekriegt.“

Und o Wunder! die unverehelichte Zippel zog das Portemonnaie und gab
ihm ein blankes Zweipfennigstück. Peter Voß steckte es ein.

„Alter Drache!“ sagte er dann grüßend und ging weiter.



9.

Als Peter Voß wieder auf dem Strienauer Ringe stand, war er fest
entschlossen, seiner Stiefvaterstadt den Rücken zu kehren.

Immer darauf bedacht, seine Spur zu verwischen, auch wenn er seinen
Verfolger nicht direkt hinter sich hatte, gedachte er nicht die Bahn zu
benutzen, sondern sich über die Dörfer nach der nächsten Parallelbahn
hinüberzuschlagen. Von hier aus wollte er nach Berlin zurück, um sich
einen russischen Paß zu besorgen. Mit dem wollte er dann unter dem
Doppeladler sein Glück versuchen. Den Steckbrief fürchtete er nicht,
der konnte höchstens dem Kapitän Siems gefährlich werden. Er kaufte
sich zum zweiten Frühstück bei Mutter Knulle eine Tüte Aepfel und
wollte über die Oderbrücke gehen.

Aber es fing plötzlich an bindfadenstark zu regnen. Darum ging er in
den „Blauen Hirsch“ und saß bis zum Abend hinter dem Bierglas. Dann
ließ er sich ein Zimmer geben.

Am nächsten Morgen schien die Sonne, und so machte er sich getrost über
die Oderbrücke auf die Wanderschaft nach Osten.

Da kam ihm eine lange, überschlanke, schwarze Gestalt
entgegengewandelt. Sofort blieb Peter Voß stehen, betrachtete sich
den Mann näher und erkannte Friedrich Minkwitz, seinen Schulgenossen,
der in der Sekunda neben ihm gesessen hatte. Der Mann ging in tiefe
Gedanken versunken der Stadt zu und hatte kein Auge für den Fremdling.
Peter Voß schaute sich um. Da kein Mensch in der Nähe war, wagte er es
und vertrat ihm den Weg.

„Guten Tag, Friedrich!“ rief er vergnügt. „Kennst du mich nicht mehr?“

Der Angerufene blieb stehen und erwachte aus seinen Träumen. Die
wasserblauen, treuherzigen Augen weitaufgerissen, starrte er auf den
heruntergekommenen Matrosen und wußte sich nicht zu erklären, wie er zu
dieser merkwürdigen Bekanntschaft kam.

„Aber Friedrich!“ sagte Peter Voß und faßte ihn an den obersten Knopf
seines schwarzen Rockes. „Also auch du erkennst mich nicht mehr? Ich
bin doch Peter Voß!“

Jetzt begann es in Friedrich Minkwitzens Hirn zu dämmern. Seine Lippen
zuckten, und sein Gesicht rötete sich vor Freude.

„Ja ja ja!“ stotterte er ganz aufgeregt. „Du bist wirklich Peter Voß.
Das ist aber eine Ueberraschung! Wie kommst du denn hierher?“

„Hm!“ meinte Peter Voß vorsichtig, „wenn ich dir das erzählen soll,
dann müssen wir uns erst einen stillen Fleck aussuchen, wo uns niemand
belauschen kann. Lieb wäre es mir auch, wenn du meinen Namen nicht bei
jeder Gelegenheit in die Luft hinausschreien wolltest. Es ist nämlich
einer hinter mir her, der mich fangen will.“

Der Schulfreund prallte entsetzt zurück.

„Nur ruhig Blut, du Angsthase!“ lachte Peter Voß und hakte sich bei ihm
ein. „Es handelt sich nämlich um eine Wette. Du verstehst, ich komme
aus Amerika.“

„Ach so!“ rief Minkwitz, und ein Stein fiel ihm vom Herzen. „Also aus
Amerika? Dein Gesicht sieht auch ganz amerikanisch aus. Ich hätte dich
beim besten Willen nicht wiedererkannt.“

„Das freut mich!“ lächelte Peter Voß und ging mit ihm zur Brücke
zurück. „Du bist eine treue Haut, du wirst mich schon nicht verraten.
Am besten ist’s, du nennst mich Müller, Schulze oder Lehmann.“

Und sie kamen überein, daß Peter Voß von nun an Franz Müller heißen
sollte. Dicht vor der Brücke machte Peter Voß halt und zog den Freund
zum Ufer hinunter.

„Komm mit!“ sagte er. „Wir nehmen ein Boot und rudern ein bißchen. Ich
hab dir eine Menge zu erzählen.“

„Und ich dir auch,“ erwiderte Minkwitz, „wenn auch wenig Erfreuliches.“

Fünf Minuten später stießen sie in den Strom hinaus, ließen sich etwas
abwärts treiben und legten sich hinter einer einsamen, mit Weiden
bewachsenen Buhne fest. Hier weihte Peter Voß den Freund in seinen
fingierten Diebstahl ein. Der nahm die Sache ganz anders auf als der
Landgerichtsrat Pätsch. Bewundernd schaute er zu dem Freunde empor, der
im Eifer seiner Erzählung aufgesprungen war und die Haupttreffer mit
bezeichnenden Gesten unterstrich. Diese Lebhaftigkeit des Erzählens
stammte noch aus seiner Schauspielerperiode. Zuletzt kam der Abschied
vom Onkel daran.

„Du kannst natürlich so lange bei mir bleiben, wie du willst!“
versicherte Minkwitz, ohne nur einen Augenblick zu zögern. „Ich habe
ein ganzes Haus zur Verfügung, und das liegt sehr einsam. Ich bin
nämlich Dorfschullehrer in Pograu. Zum Studieren langte es nicht. Ich
mußte im ersten Semester umsatteln.“

„Also Schulmeister?“ lachte Peter Voß. „Das scheint mir trotzdem ein
ganz ehrenwerter Beruf zu sein. Ich würde allerdings nicht dazu taugen.
Deine Einladung nehme ich natürlich mit Freuden an, denn ich habe es
mir einmal in den Kopf gesetzt, hier in Strienau meine zwei Jahre
abzudienen. Es ist nun einmal meine zweite Vaterstadt, und wenn Dodd
wirklich hierher kommt, in deiner abgelegenen Schule sucht er mich
gewiß nicht. Du bist ja von jeher ein frommer Bruder gewesen. Die Haare
trägst du noch immer recht lang.“

„Und du um so kürzer!“ lächelte Minkwitz. „Du siehst aus wie ein
Sträfling.“

„Das hat seinen guten Grund!“ belehrte ihn Peter Voß. „Ich brauche nur
erwischt zu werden, und schon muß ich ins Gefängnis. Man lebt übrigens
da drin gar nicht so schlecht, wie es sich ein Draußenstehender
ausmalt. Ich habe in St. Malo ganz gemütliche Wochen verlebt. Es war
ganz so wie eine kleine Sommerfrische.“

„Danke sehr!“ versetzte Minkwitz abwehrend. „Ich würde doch lieber zu
Hause bleiben, als eine solche Sommerfrische beziehen.“

So schwatzten sie weiter. Als sie die Zigarren ausgeraucht hatten,
verzehrten sie die Aepfel. Dann fuhren sie zurück und gingen über die
Brücke in die Stadt, wo Minkwitz einige Besorgungen zu machen hatte.

Als sie über den Ring gingen, wurden sie von dem Polizisten Milzler,
der den Pograuer Lehrer kannte, gegrüßt.

Peter Voß legte dem weiter keine Bedeutung bei und setzte sich in den
„Blauen Hirsch“ hinter ein Glas Bier, um auf Minkwitz zu warten.

Da das Wetter gut war, legten sie den Weg nach Pograu, wo die Schule
lag, zu Fuß zurück. Minkwitz erzählte von seinem geruhigen Dasein und
Peter Voß war ausgelassen.

Kopfschüttelnd beschaute er sich das Schulhaus, das windschief und
altersschwach hinter dem Dorf in einem großen Garten lag. Zwei
Bienenstöcke standen darin.

„Das werd ich mir mal gleich zunutze machen!“ sagte Peter Voß, öffnete
den einen und steckte seine Brieftasche hinein.

Jetzt schüttelte Minkwitz den Kopf.

„Stechen sie auch?“ fragte Peter Voß und tippte an die vorderste Wabe.

Picks! klebte ihm eine der über die Störung erbosten Immen am
vorwitzigen Zeigefinger.

Hochbefriedigt schloß er den Stock.

Dann richtete er sich häuslich ein. Das wacklige Sofa diente ihm als
Lager. Während Minkwitz die Kinder unterrichtete, schmökerte Peter Voß
die ganze Schulbibliothek durch von Gustav Nieritz bis zu Emil Frommel.

Nachmittags schlugen sie die Zeit mit Schwatzen und
Sechsundsechzigspielen tot.

Zuweilen spazierte Peter Voß nach Strienau, um sich nach dem noch
immer sinkenden Kurs des amerikanischen Kupfers zu erkundigen und die
Leihbibliothek unsicher zu machen. Mit der Polizei, die der dicke
Milzler auf dem Ringe vertrat, vermied er geflissentlich jede nähere
Berührung. Milzler aber fiel der Mann im blauen Seemannsanzug auf. Und
er merkte sich den Fall.

Drei Tage später aber tastete Peter Voß schon mit ungeduldigen Fingern
auf dem Wandkalender herum.

„Was suchst du denn da?“ forschte Minkwitz.

„Was ich wohl suche!“ grollte Peter Voß. „Den 27. November, da hat
Polly Geburtstag.“

Und schon saß neben diesem Datum ein wunderbar scharfer Fingerabdruck.

Trotz des schlechten Wetters lief Peter Voß am 25. November nach
Strienau. Es war schon spät Abends, als er anlangte. Er wollte wieder
einmal seinem Onkel einen Besuch machen. Als Franz Müller war das
weiter nicht gefährlich.

„Wollen Sie schon wieder betteln?“ schrie ihn die Martha Zippel durch
den Türspalt an. „Ich hol die Polizei!“

Wie ein Blitz war Peter Voß um die nächste Ecke.

Das Wetter wurde zusehends schlechter. Es stürmte und goß so anhaltend,
daß man keinen Hund vor die Tür jagte. In einem Promenadengebüsch
gegenüber dem Zuchthause suchte er Schutz. Da stand eine alte Ulme, an
deren schrägen Stamm er sich drückte.

Die Rathausuhr schlug. Er zählte. Schon neun Uhr! dachte er.
Pechfinster war es! Und der Sturm heulte wütend wie ein wilder Wolf
in der Ulme. Die Zweige pfiffen, und die Aeste knarrten. Der Posten
drüben an der Zuchthausmauer machte drei zaghafte Schritte bis zur
flackernden Gaslaterne und retirierte sofort wieder ins Schilderhaus.

Wie dumm! dachte Peter Voß ärgerlich. Wär ich lieber in Pograu
geblieben!

In demselben Augenblick huschte eine gebückte Gestalt über die Straße,
schoß mit einem Seitensprung in das Gebüsch hinein und schlich geduckt
auf die Ulme zu.

„Nanu!“ entfuhr es Peter Voß.

Aber weiter kam er nicht, schon fühlte er zwei Fäuste an seiner Kehle.

„Ich erwürge dich, Kerl,“ hörte er eine rauhe Stimme an seinem Ohr,
„wenn du mir nicht sofort deine Kleider gibst!“

„Aber gewiß, gerne!“ röchelte Peter Voß, ohne Widerstand zu leisten.
„Ich will dir alles geben, was ich auf dem Leibe trage. Nur möchte ich
nicht gerade nackend nach Hause gehen.“

„Du kriegst meine Sachen dafür!“ antwortete der andere, schon um ein
Bedeutendes ruhiger. „Ich bin eben aus dem Zuchthaus ausgebrochen.“

„Sieh mal an!“ erwiderte Peter Voß anerkennend und zog bereitwilligst
seine blaue Jacke aus. „Brauchst keine Angst vor mir zu haben, ich bin
auch bloß ein Mensch.“

„Gib her!“ atmete der andere erleichtert auf, warf Mantel und Mütze
von sich, streifte das Sträflingszeug ab und beeilte sich, in Peter
Voßens Kleider zu fahren. Auch die Stiefel mußte dieser hergeben. Die
Zuchthausmontur des anderen paßte ihm wie angemessen.

„Was ist denn das für ein Mantel?“ fragte er verwundert.

„Der gehört dem Wärter!“ flüsterte der Ausbrecher. „Der hing draußen
auf dem Korridor. Ich hab den Kerl in der Zelle niedergeschlagen und
eingesperrt. Und die Mütze habe ich ihm auch weggenommen. Sonst wäre
ich nicht durchgekommen.“

„Alle Achtung!“ erwiderte Peter Voß, hing sich den Mantel um und setzte
sich die Mütze auf. „Jetzt kann’s losgehen! Immer hinter mir her.“

Nun ging’s mit schleichenden Schritten über die Promenade rund um
die schlafende Stadt, Peter Voß immer voran, der Ausbrecher wie sein
Schatten hinterdrein.

Peter Voß war ein vorzüglicher Führer. Er fühlte jedes Gebüsch auf fünf
Meter im Finstern.

Bei der Oderbrücke stand ein Polizist im Schutze der Selterwasserbude,
den Kragen seines Wettermantels hoch über beide Ohren geschlagen. Das
konnte man übrigens dem Manne gar nicht verdenken! Denn es goß wie mit
Mulden vom Himmel.

Peter Voß legte im Vorbeihasten den Finger an den Mützenrand, und der
Polizist dankte in derselben militärisch exakten Form. So kamen die
beiden, ohne an dieser gefährlichen Klippe Schiffbruch zu leiden, über
die Oderbrücke und erreichten nach einigen Minuten das freie Feld.

Trotzdem das Wetter nicht besser, eher schlechter wurde, nahm sich
Peter Voß nun etwas mehr Zeit. Der Ausbrecher hielt sich dicht an
seiner Seite. Auf Peter Voßens Ermunterung begann er zu berichten, daß
er Emil Popel hieße, vorbestraft sei und wegen Urkundenfälschung ein
Jahr Zuchthaus abbekommen hätte. Und zwar vor dem Schwurgericht unter
dem Vorsitz des Landgerichtsrats Pätsch. Emil Popels Geburtsort war
Konradswaldau im Kreise Kreuzburg, und in seiner bürgerlichen Stellung
war er Schreiber beim dortigen Amtsvorsteher gewesen. Peter Voß fragte
ihn, wie es seine Art war, recht gründlich aus.

„Wie lange sitzt du schon?“ fragte er.

„Seit heute,“ erwiderte Emil Popel.

„Und jetzt willst du natürlich nach Amerika?“

„Am besten wär’s schon!“ meinte Emil Popel. „Da bin ich am sichersten.
Aber ich hab kein Geld.“

„Das sollst du haben, mein Junge!“ sagte Peter Voß freundlich. „Ich
geb dir’s gerne. Du schlägst dich dann durch die Wälder zur Bahn
hinüber, das sind gut vier Stunden, und fährst mit dem ersten Zug
nach Oberschlesien und heidi! über die österreichische Grenze. Ueber
Hamburg auszureißen, ist ganz verkehrt. Da erwischen sie dich sicher.
Aber Triest, das ist ein ander Ding. Die Leute dort sind froh, wenn sie
einen Passagier haben. Ich geb dir ein Papier, und du fährst einfach
auf meinen Namen.“

„Wenn nur das Signalement stimmt!“ warf Emil Popel ein.

„Wird schon stimmen!“ beruhigte ihn Peter Voß im rüstigen
Weiterschreiten. „Wie groß bist du denn? Nach den Kleidern zu urteilen,
haben wir dieselbe Statur.“

„1,69!“ erwiderte Emil Popel prompt, denn das stand auf seinem
Militärpaß.

„Das geht an!“ versetzte Peter Voß befriedigt. „Haare?“

„Braun,“ antwortete Emil Popel zögernd.

„Hell oder dunkel?“

„Das weiß ich nicht genau.“

„Augen?“

Hier versagte Emil Popel völlig.

„Aber hör mal an!“ rief Peter Voß empört über diese große Unwissenheit
und blieb stehen. „Haben sie nicht im Zuchthaus sofort dein genaues
Signalement aufgenommen?“

„Nein!“ bekannte Emil Popel.

„So eine Bummelei!“ brummte Peter Voß.

„Sie wollten mich wohl messen und photographieren,“ erklärte Emil Popel
kleinlaut, „aber es kam nicht dazu, ich glaube, der Apparat war kaputt.“

„Das sind ja himmelschreiende Zustände!“ rief Peter Voß grimmig und
stampfte mit den schweren Zuchthäuslerschuhen durch den aufgeweichten
Schmutz der Landstraße.

Eine halbe Stunde später erreichten sie das einsame Schulhaus. Das
Wetter klärte sich plötzlich auf. Peter Voß schob Emil Popel in die
Retirade und befahl ihm zu warten. Dann schlich er um das Haus herum,
als hätte er nur den Schlüssel zur Hintertür, und holte aus dem
Bienenstock seine Brieftasche, ohne daß er einen Stich bekam.

Wieder bei Emil Popel angekommen, zündete er ein Streichholz an und
leuchtete ihm ins Gesicht. Prüfend musterte er seine erschreckten,
ängstlichen Züge.

„Nicht übel!“ sagte er und warf das Streichholz weg. „Augen und Haare
stimmen. Nur deine Nase ist ganz ordinär. Aber dafür kannst du nichts.“

„Krieg ich nun das Geld?“ fragte Emil Popel zaghaft.

„Hier!“ erwiderte Peter Voß und nahm im Finstern ein paar von seines
Onkels Hundertmarkscheinen aus der Tasche. „1, 2, 3 und 4! Das sind
vierhundert Mark. Damit kommst du nach Australien, wenn’s sein muß.
Natürlich Zwischendeck. Und hier ist das Legitimationspapier, darauf
steht bescheinigt, daß du amerikanischer Bürger bist. Lern unterwegs
ein bißchen Englisch. Du heißt jetzt Peter Voß, also verplapper dich
nicht.“

„Peter Voß!“ papageite Emil Popel und steckte das Papier ein.

„Das heißt,“ fuhr Peter Voß fort, „in New York heißt du wieder Emil
Popel. Geld hast du. Und Urkundenfälscher werden nicht ausgeliefert.
Also keine Angst! Du brauchst meinen Namen nicht länger zu mißbrauchen,
als es unbedingt nötig ist.“

„So einer bin ich nicht!“ sagte Emil Popel in grundehrlichem Tone,
dachte aber genau das Gegenteil.

Dann verschwand er auf den Wald zu.

Peter Voß trug die Brieftasche wieder in den Bienenstock.

Darauf pochte er ans Fenster, hinter dem Minkwitz schlief. Mit der
brennenden Lampe in der Hand öffnete der die Tür und erschrak ganz
außerordentlich über den Zuchthauswärter in Sträflingskleidern, der
auf der Schwelle stand.

„Peter!“ rief er entsetzt und mußte die Lampe hinstellen, so zitterten
ihm die Hände. „Was ist denn los?“

„Ich hab einem armen Teufel fortgeholfen!“ lachte Peter Voß und drückte
die Tür zu. „Er ist aus dem Zuchthaus ausgebrochen!“

Dann erzählte er ihm den ganzen Hergang und setzte sich in der
Sträflingskleidung zum Abendbrot nieder. Minkwitz schwankte zwischen
Bewunderung und Entsetzen.

„Ein Urkundenfälscher!“ tröstete ihn Peter Voß. „Ein dummer Kerl. In
Amerika wird er keine Urkunden fälschen. Da muß er erst mal Englisch
lernen.“

Doch die Rache war schon unterwegs. Kaum eine Viertelstunde nach Emil
Popels Ausbruch war die gesamte Polizei von Strienau auf den Beinen.
Der Beamte an der Oderbrücke gab die Richtung an. Ein Polizeihund nahm
die Spur auf. Um Mitternacht bellte er vor dem Pograuer Schulhaus.

Peter Voß, der eben beim dritten Glas Grog war, spitzte die Ohren. Mit
einem Sprung war er im Garten. Eine tolle Jagd begann. Nicht lange und
er lief dem Wachtmeister, der die Dorfstraße besetzt hielt, in die
Arme.

„Haben wir dich endlich, du Ausreißer!“ schnaufte der dicke Milzler
und leuchtete ihm mit der elektrischen Taschenlampe ins Gesicht. „Dir
wollen wir deine Frechheiten versalzen.“

Peter Voß gab jeden Widerstand auf. Er wurde gefesselt und zur Schule
geführt, wo Minkwitz in heller Verzweiflung zurückgeblieben war.

„Wie kommst du in die Schule?“ schnauzte Milzler.

„Ich wollte Kleider stehlen!“ log Peter Voß.

Minkwitz fiel ein Stein vom Herzen.

„Natürlich Kleider stehlen und Geld!“ brüllte der Wachtmeister und
knuffte ihn in die Seite. „Du verdammter Galgenstrick. Du kannst dich
auf drei Jahre gefaßt machen.“

„Ein bißchen viel!“ versetzte Peter Voß mit Gleichmut. „Zwei tun es
auch.“

„Da schneide dich man nicht in den Finger!“ rief der dicke Milzler und
packte ihn im Genick.

Wo bin ich vor Dodd sicherer als in einem preußischen Zuchthause!
dachte Peter Voß seelenruhig und ließ sich auf einen schnell
requirierten Wagen laden.

Im Trabe ging’s nach Strienau zurück, wo ihn der Wärter, der von Emil
Popel überwältigt worden war, bewillkommnete.

„Du verfluchter Saukerl!“ brüllte der und riß ihm den Mantel herunter.
„Dir will ich das Fell vergerben. Und wie hast du Schwein meinen Mantel
zugerichtet?“

„Verzeihung!“ erwiderte Peter Voß höflich. „Das schlechte Wetter!“

Dann wurde er vor den Direktor geführt. Der hatte im Gegensatz zu
seinem Kollegen in St. Malo nicht den geringsten wissenschaftlichen
Ehrgeiz und begnügte sich einzig und allein damit, ein möglichst
korrekter Beamter zu sein.

„Das ist also der Ausbrecher?“ fragte er und musterte ihn kritisch.

„Ach, Herr Direktor!“ jammerte Peter Voß gar erbärmlich und rang die
Hände. „Tun Sie mir nichts. Ich hab’s gar nicht gerne getan. Es ist
halt so plötzlich über mich gekommen.“

„Fort mit ihm!“ befahl der Direktor mit einer energischen Handbewegung.
„Gleich das Protokoll aufnehmen! Photographie, Fingerabdrücke! Oder ist
der Apparat noch nicht in Ordnung? Und dann drei Tage Wasser und Brot.“

Zehn Minuten später saß Peter Voß in der Badewanne. Das Wasser war
reichlich kalt.

„Wie oft wird hier am Tage gebadet?“ fragte er arglos.

Schwupp! tauchte ihm der erboste Wärter den Kopf unter Wasser, daß ihm
die Luft verging.

„Aber hören Sie mal!“ rief Peter Voß ungehalten, nachdem er das
verschluckte Wasser von sich gesprudelt hatte. „Ich bin eine derartige
Behandlung nicht gewohnt.“

„Maul halten!“ brüllte der Wärter ihn an. „Hier hast du nur deine
Schnauze aufzureißen, wenn du gefragt wirst.“

„Danke für die Belehrung!“ meinte Peter Voß, die übrigen Worte
erstarben in einem unverständlichen Gegurgel.

Als er wieder in die Höhe kam, war sein Gesicht blaurot.

Junge, Junge! dachte er und wischte sich die Tränen aus den Augen. Hier
sind die Leute bei weitem nicht so gemütlich wie in St. Malo!

Beim Photographieren steckte er ein höchst bekümmertes Gesicht auf,
nachdem er vorher seine Nase durch heftiges Reiben und Drücken auf
ein größeres Volumen und auf ein geradezu ordinäres Format gebracht
hatte. Er sah jetzt wirklich mehr wie Emil Popel als wie Peter Voß
aus. Nun wurde er von unten nach oben gemessen, wobei es ihm gelang,
sich um einen halben Zentimeter zu verkleinern. Brustumfang und
Fingerabdrücke und was sonst noch zur wissenschaftlichen Feststellung
einer verbrecherischen Individualität gehörte, kamen haargenau ins
Protokollbuch. Dann erschien der Arzt und behorchte ihn.

„Tadellos gesund!“ bemerkte er und ging wieder hinaus.

Eine Viertelstunde später saß der falsche Emil Popel in der vorletzten
Zelle auf der rechten Seite des obersten Korridors.

Das ist aber schnell gegangen! dachte er und legte sich auf die
Pritsche, weil er hundemüde war.

Friedrich Minkwitz dankte seinem Schöpfer, daß er noch so davongekommen
war. Emil Popel aber sauste längst als Peter Voß durch Oesterreich nach
Süden.

Auch Dodd und Polly, die noch immer in Hamburg waren, warteten
vergeblich auf die Wirkung des Steckbriefes. Daß man daraufhin den
Kapitän Siems mitten auf dem Jungfernstieg festgenommen hatte, war
nicht gut als Erfolg anzusehen.

Dodd mußte schließlich die Annahme, daß sich Peter Voß noch immer
in Hamburg aufhielt, fallen lassen. Weiter wälzte er die Hamburger
Anmelderegister, um schließlich festzustellen, daß der Gesuchte während
seiner früheren Anwesenheit in Hamburg als Matrose bei der Logiswirtin
Hansen auf der Adolfstraße gewohnt hatte.

Mit Mutter Hansen wurde der gewandte Dodd im Handumdrehen fertig.
Sie war eine viel zu ehrliche Natur, um sich erst aufs Leugnen zu
verlegen. Daß sie dadurch Peter Voß schaden könnte, das glaubte sie
nicht. Er war ja unschuldig.

Mit ihrer Hilfe stellte Dodd Peter Voßens neues Signalement fest und
fragte sie auch sonst gehörig aus.

„Er wollte nach Berlin!“ bekannte sie endlich.

Das war die Wahrheit, und Berlin war groß. Da sollte er ihn erst mal
finden!

Noch an demselben Tage übersandte Dodd dem Fahndungsblatt einen
revidierten Steckbrief und ließ ihn außerdem in einigen der
verbreitetsten Zeitungen und Zeitschriften veröffentlichen.

Dann schickte er an Stockes & Yarker ein beruhigendes Telegramm, worin
er mitteilte, daß er die verlorene Spur wieder aufgefunden hätte, und
seine weitere Reiseroute angab.

Nun fuhr er mit Polly nach Berlin.

Peter Voß saß in seiner sicheren Zelle und löffelte seine dicken
Erbsen, in denen ein winziges Stücklein Speck schwamm.

Wenn das so weiter geht, dachte er, muß ich krank werden! Vielleicht
ein kleiner Tobsuchtsanfall. Am Ende komme ich dann in die
Irrenanstalt. Da gibt’s wenigstens ein bißchen Unterhaltung.

Als der Wärter am Abend hereinkam, um die Zelle zu revidieren, stand
Peter Voß gerade in der Mitte des kleinen Raumes und machte Kniebeugen
mit Armstrecken, ganz ordnungsmäßig in drei Zeiten. Er zählte sogar
dazu.

„Stramm gestanden!“ fuhr ihn der Wärter an.

Peter Voß schoß an die Wand und machte sich steif wie ein Ast.

„Was machen Sie denn für ein bärbeißiges Gesicht, Herr Inspektor?“
fragte Peter Voß bekümmert. „Sie müssen es mir nicht übel nehmen, daß
ich Sie damals so hinterrücks überfallen habe. Das ist sonst meine Mode
nicht. Aber manchmal, da weiß ich nicht recht, was ich tue. Ich habe
die Sache schon furchtbar bereut.“

„Hm!“ machte der Wärter wütend. „Die Flausen kenn ich.“

Er ging, und Peter Voß begann das linke Bein und den rechten Arm zu
rollen, zwölfmal vorwärts und zwölfmal rückwärts.

Ob ich das wohl zwei Jahre aushalte? dachte er dann und legte sich auf
die Pritsche.



10.


Dodd und Polly waren in Berlin und warteten. Acht Tage lang hielt Polly
diese quälende Ungewißheit aus, dann war sie nahe am Verzweifeln. Sie
konnte sich beim besten Willen nicht auf den Ort besinnen, wo Peter
Voß von seinem Onkel erzogen worden war. Sie hatte nun einmal kein
Gedächtnis für geographische Namen. Dodd blieb nichts anderes übrig,
als nach Hamburg zurückzufahren und von neuem die Melderegister zu
wälzen.

Und das Glück wollte ihm wohl. Er fand in den Registern des Jahres 1892
einen Peter Voß, der nach Strienau in Schlesien abgemeldet worden war.
Mit diesem Befund eilte er unverzüglich zu Polly zurück und teilte es
ihr mit.

„Strienau!“ rief sie und schlug die Hände zusammen. „Ganz richtig. Das
ist die Stadt. Sein Onkel ist da am Gericht tätig.“

Aber den Namen dieses Onkels wußte sie nicht.

Am nächsten Mittag trafen sie in Strienau ein, wo sich Dodd, nachdem
er Polly im Hotel „Zum goldenen Kreuz“ zurückgelassen hatte, sofort
aufs Rathaus begab und Einsicht in die Anmelderegister verlangte.
Der Jahrgang von 1892 war bei einem Stubenbrand vor etlichen Jahren
vernichtet worden.

Der Beamte konnte sich des Namens Peter Voß nicht erinnern. Dodd kehrte
zu Polly zurück und fragte sie, ob Peter Voß eine gewöhnliche oder eine
höhere Schule besucht hätte.

„Eine höhere!“ versetzte sie schnell. „Er kann Latein. Und er hat mir
manches von den Professoren erzählt.“

Fünf Minuten später trat Dodd ins Gymnasium und verlangte von dem
Pedell, zum Direktor geführt zu werden.

Direktor Plimpel hatte ein sehr schlechtes Gedächtnis und zog daher den
alten Professor Zuntermann zu Rate.

„Peter Voß!“ rief der und schnalzte fast vor Vergnügen. „Dieser Mensch
ist hier in unserer Anstalt gewesen. Und zwar genau sechs Jahre und
sieben Monate. Ich habe es mir gemerkt, weil er eines schönen Tages
fortgelaufen ist. Er war einer der größten Taugenichtse, ohne alle
mathematischen Fähigkeiten. Es wäre mir sehr interessant, zu hören,
was aus ihm geworden ist. Meiner Berechnung nach wird er im Zuchthaus
endigen.“

Dodd zuckte bedauernd mit den Achseln.

„Er soll nach Amerika gegangen sein!“ fuhr der Professor, zum Direktor
gewendet, fort, der unterdessen in einem alten Schülerverzeichnis
herumblätterte.

„Es stimmt!“ sagte er und wies auf eine Eintragung. „Er wohnte bei
seinem Onkel, dem Landgerichtsrat Pätsch.“

„Darf ich um dessen Adresse bitten?“ fragte Dodd.

„Feldstraße 25!“ erwiderte Professor Zuntermann aus dem Kopfe.

Dodd notierte es sich und wollte sich empfehlen.

„Sie wissen also nicht, was aus ihm geworden ist?“ sprach der Direktor
neugierig.

Dodd schwankte einen Augenblick, dann war er entschlossen, vorläufig
nichts von dem Millionendiebstahl verlauten zu lassen, einmal um
Pollys willen, dann aber, um die etwaigen Komplicen des Defraudanten
nicht kopfscheu zu machen. Denn die Annahme, daß er sich zuerst nach
der Stadt seiner Schulzeit gewandt hatte, weil er hier am leichtesten
Vertraute finden konnte, lag zu sehr auf der Hand.

„Ich bin leider nicht orientiert!“ erwiderte er höflich.

„Schade!“ sagte der Professor. „Dieser Peter Voß war ein ganz unklarer
Kopf und ein ausschweifender Phantast. Solche Menschen entgleisen
immer. Denn nur auf den Grundlagen der mathematischen Wissenschaft
erwächst die wahre Gesittung.“

Dodd empfahl sich.

Immer wahrscheinlicher wurde ihm die Möglichkeit, daß Peter Voß hier in
Strienau das Geld versteckt hatte. Es war nun nötig, festzustellen, ob
er wirklich hier gewesen war und bei wem er sich aufgehalten hatte.

Zu diesem Zweck ließ sich Dodd bei dem Polizeiinspektor melden. Ohne
sich als Detektiv zu legitimieren, stellte er sich als Amerikaner vor,
der in einer Familienangelegenheit herübergekommen sei.

„Ich suche einen Menschen,“ sagte er, „der sich offenbar unter einem
falschen Namen in dieser Gegend aufhält.“

Und dann beschrieb er Peter Voß ganz genau nach seinem letzten
Signalement. Der Polizist Milzler wurde geholt.

„Der Mensch ist mir aufgefallen!“ sagte der, nachdem er das Signalement
geprüft hatte. „Ein Matrose. Natürlich! Im Blauen Hirsch hat er ein
paarmal gegessen. Und der Lehrer aus Pograu saß bei ihm. Aber seit
vierzehn Tagen, drei Wochen habe ich ihn nicht mehr gesehen.“

Dodd notierte sich die Adresse des Lehrers und fragte, wie er am
leichtesten nach dieser Schule kommen könnte. Der Inspektor gab
ihm bereitwilligst Auskunft, und Milzler wurde auf seinen Posten
zurückgeschickt mit der Mahnung, sofort zu melden, wenn sich der Mann
wieder sehen ließe.

Dann kehrte Dodd zu Polly ins Hotel zurück, die mit steigender Ungeduld
auf ihn gewartet hatte.

Nun fuhren sie zusammen auf die Feldstraße. Der Wagen hielt vor der
Nummer 25. Dodd lohnte den Kutscher ab, und Polly zog unterdessen die
Klingel. Ihr Herz klopfte hörbar.

Die unverehelichte Martha Zippel öffnete, diesmal ohne die
Sicherheitskette zu benutzen, denn der Herr Rat war zu Hause. Er
hatte die beiden Besucher längst durch das Fenster gesichtet, und ihm
schwante sofort das Richtige.

„Was wünschen Sie?“ fragte die Haushälterin.

„Eine Auskunft!“ erwiderte Dodd trocken. „Es handelt sich um einen
Mann, einen Seemann, der vor einigen Tagen hier zu Besuch gewesen sein
soll.“

Da stieß Polly einen leisen Schrei der Ueberraschung aus. Ihr Blick war
auf den Landgerichtsrat gefallen, der eben aus seinem Zimmer getreten
war. Er hatte seine Brille abgelegt, und seine Aehnlichkeit mit Peter
Voß war einfach verblüffend.

„Sie wünschen mich zu sprechen?“ fragte er mit einem verbindlichen
Lächeln und machte eine einladende Handbewegung. „Bitte, treten Sie nur
näher.“

Die Haushälterin erkannte mit brennender Eifersucht, daß der Herr
Landgerichtsrat ein sehr großes Interesse an der jungen Dame nahm.

Dodd schaute sich suchend im Zimmer um, während Polly der Einladung des
alten Herrn folgte und auf dem Sofa Platz nahm.

„Mein Name ist Bobby Dodd!“ sagte er mit einer leichten Verbeugung.
„Ich bin Detektiv.“

„Und Sie sind hinter meinem Neffen Peter Voß her!“ ergänzte der
Landgerichtsrat freundlich, indem er sich mit untergeschlagenen Armen
an seinen schweren, eichenen Schreibtisch lehnte.

„Er war bei Ihnen?“ fragte Dodd energisch.

„Ich merke schon, es wird ein Verhör!“ fuhr der Landgerichtsrat fort.
„Ich werde Ihnen die Arbeit erleichtern. Peter Voß war bei mir und hat
mir sein Verbrechen gestanden, worauf ich ihn schleunigst fortgeschickt
habe.“

„Es wäre Ihre Pflicht gewesen, ihn verhaften zu lassen!“ rief Dodd.

„Mr. Dodd!“ rief Polly gekränkt. „Sie vergessen unsere Abmachung.“

„Verzeihung!“ sagte er mit einer Verbeugung.

„Sie werden es menschlich verzeihlich finden,“ lächelte der Rat
überlegen, „daß ich ihn nicht verhaften ließ. Zudem werden Sie es
kaum beweisen können, daß ich von der Wahrheit seines Geständnisses
überzeugt gewesen war. Falls Sie meine Bestrafung wünschen, werde
ich Ihnen die Arbeit erleichtern und noch heute mein Abschiedsgesuch
einreichen.“

„Mr. Dodd!“ rief Polly empört. „Sie werden das unterlassen.“

„Ich habe nur das Geld herbeizuschaffen!“ versetzte Dodd ruhig. „Sogar
die Festnahme des Defraudanten betreibe ich nur, um zu den entwendeten
Millionen zu kommen. Alles andere hält mich auf, ist also unnütz. Ich
bin nur von der Firma Stockes & Yarker, aber nicht von der Polizei
engagiert. Und Sie können mir keinen Anhaltspunkt geben, wohin sich der
Verbrecher von hier aus gewandt hat?“

„Leider nicht,“ versetzte der Rat, und um seine Mundwinkel zuckte es.
„Seitdem er vor vier Wochen aus dieser Tür getreten ist, habe ich
nichts wieder von ihm gehört und gesehen.“

„Hatte er die Millionen bei sich?“ fragte Polly gespannt.

„Meines Wissens nicht!“ erwiderte der Rat mit einem feinen Lächeln.

Dodd merkte sich dieses Lächeln und dachte sich seinen Teil. Die
Wahrscheinlichkeit, daß die zwei Millionen in diesem Hause versteckt
waren, war durch dieses Lächeln bedeutend gewachsen.

„Sie wissen also nicht, daß sich Ihr Neffe noch weiterhin hier in
Strienau aufgehalten hat?“ fragte Dodd lauernd. „Und zwar unter dem
falschen Namen Franz Müller?“

„Davon weiß ich nichts!“ erwiderte der Rat ernst. „Ich würde das, falls
es sich bestätigen sollte, sehr bedauern. Denn Sie können sich denken,
daß mir in meiner Stellung ein solcher steckbrieflich verfolgter Neffe
nicht sehr angenehm ist.“

Komödie! dachte Dodd und erhob sich.

Seine Mission war hier vorläufig zu Ende. Nun mußte der Lehrer in
Pograu examiniert werden.

Dodd wandte sich zur Tür, und Polly erhob sich zögernd.

„Ich hoffe, Sie recht bald wiederzusehen!“ sagte der Rat sehr warm zu
ihr und drückte ihr zärtlich die Hand.

„Mrs. Voß!“ sagte Dodd, als sie wieder im Hotel waren. „Der alte Herr
weiß mehr, als er uns verraten hat. Ich bitte Sie, gehen Sie morgen zu
ihm und horchen Sie ihn aus.“

„Ich soll spionieren?“ rief sie entrüstet. „Was glauben Sie von mir?“

„Ich glaube,“ erwiderte er aufrichtig, „daß Sie alles tun wollen, um
Mr. Voß zu retten. Erzählen Sie dem alten Herrn von unserem Vertrag,
vielleicht wird er unser Bundesgenosse.“

„Also gut!“ sprach sie, sofort umgestimmt. „Ich werde zu ihm gehen!“

Um dieselbe Zeit machte sich Friedrich Minkwitz daran, seine Bienen
für die Winterruhe zu verpacken, und fand dabei die Brieftasche Peter
Voßens. Er sah, was darin war, und ließ sie liegen.

Als er beim Abendbrot saß, pochte es an die Haustür.

Draußen stand Bobby Dodd. Sehr höflich lüftete er den Hut und bat um
eine Unterredung. Minkwitz nötigte ihn herein.

„Bei Ihnen hat sich ein Mann Namens Peter Voß aufgehalten?“ fragte Dodd
ohne Umschweife.

„Peter Voß?“ stotterte Minkwitz bestürzt. „Allerdings! Nein.“

„Leugnen Sie nicht lange!“ sprach Bobby Dodd energisch. „Ich bin
Detektiv. Sagen Sie die Wahrheit. Wo ist er?“

„Hier nicht!“ bekannte Minkwitz aufatmend. „Er ist fort. Schon seit
vierzehn Tagen.“

„Wohin hat er sich gewandt?“ forschte Dodd und sah sich im Zimmer um.

Minkwitz hob hilflos die Schultern.

Bobby Dodd fragte nicht weiter, denn er hatte mehrere verschiedenartige
Fingerabdrücke auf dem Wandkalender entdeckt. Er nahm ihn, ohne erst um
Erlaubnis zu fragen, vom Nagel.

„Sie erlauben wohl!“ sprach er und schickte sich an, das steife Papier
zusammenzufalten.

„Oh!“ entfuhr es Minkwitz, und er griff danach.

„Bitte sehr!“ sagte Dodd. „Drücken Sie nur tüchtig. Es ist mir sehr
lieb, wenn auch Ihre Finger darauf abgebildet sind.“

Sofort ließ Minkwitz los, und der Wandkalender verschwand in Dodds
Ueberrocktasche.

Minkwitz war sprachlos, er hatte nicht einmal die Energie, diesem
offenkundigen Dieb die Tür zu weisen.

„Ich danke Ihnen!“ sprach Dodd verbindlich. „Auf Wiedersehen.“

Dann eilte er mit seinem unschätzbaren Fund nach Strienau zurück.
Auf der Bahn verglich er die verschiedenen Fingerabdrücke, die der
Wandkalender aufwies. Der Abdruck neben dem 27. November war ohne
Zweifel von Peter Voßens Zeigefinger verursacht worden. Nun hatte er
ein untrügliches Mittel, die Identität des Verbrechers ohne Pollys
Hilfe feststellen zu können.

In Strienau angekommen, kaufte er einen Wandkalender für das neue
Jahr und ließ ihn an den Lehrer in Pograu schicken. Damit war sein
amerikanisches Gewissen vollauf beruhigt.

Im Hotel erfuhr er, daß Polly vor kaum einer Viertelstunde mit der
Droschke fortgefahren sei. Er wußte wohin. Und er gönnte sich etwas
Ruhe und vertiefte sich von neuem in den Wandkalender.

Wenn die zwei Millionen nicht bei dem Landgerichtsrat lagen, dann waren
sie sicher da draußen in der Schule versteckt!

Landgerichtsrat Pätsch saß an seinem Schreibtisch und hatte eben sein
Pensionsgesuch unterzeichnet, als die Droschke mit Polly vor dem Hause
hielt. Schnell versiegelte er das Schreiben und übergab es seiner
Haushälterin mit der Weisung, es sofort auf die Post zu tragen.

Polly wollte eben den Klingelknopf niederdrücken, als die
unverehelichte Zippel aus der Tür trat. Sie maß Polly mit einem
kampfbereiten Blick.

„Kommen Sie nur herein, ich habe Sie schon erwartet!“ rief der
Landgerichtsrat fröhlich und streckte Polly beide Hände entgegen.

Aufs höchste erstaunt über diesen überaus freundlichen Empfang, zögerte
sie, aber er faßte sie bei den Händen und zog sie sanft ins Zimmer.

„Kommen Sie, liebe, kleine Frau!“ sagte er und drückte sie in einen
weichen Sessel. „Wie freue ich mich, Sie endlich kennen zu lernen. Nun
aber sagen Sie mir das eine, wie kommen Sie dazu, in Begleitung dieses
Detektivs hierher zu reisen?“

„Wie ich dazu komme?“ versetzte sie ganz bestürzt. „Ich muß ihm helfen,
meinen Mann zu fangen. Er hat doch zwei Millionen Dollar gestohlen. Und
die muß er herausgeben. Wir bringen ihn dann in ein Sanatorium, und die
Sache hat weiter kein gerichtliches Nachspiel.“

„So, so?“ sagte der Rat schmunzelnd. „Jetzt kann ich es mir schon
zusammenreimen. O Peter, Peter, wie wird es dir ergehen, wenn du dich
kriegen läßt!“

Polly war einfach starr über diese Fröhlichkeit des Onkels.

„Ja, aber!“ rief sie und sprang auf. „Herr!“

„Sag ruhig Onkel zu mir, mein Kind!“ erwiderte er und nahm ihre kalten,
zuckenden Finger zwischen seine warmen Hände. „Peter, dieser Junge,
ist wirklich ein Prachtkerl. Und es freut mich aufrichtig, daß er ein
solches Prachtmädel drüben in Amerika gefunden hat.“

Da stürzten ihr plötzlich die Tränen aus den Augen.

„Was ist denn? Was hast du denn, Kind?“ rief er ganz erschreckt.

„Ach!“ schluchzte sie aus tiefstem Herzensgrunde auf. „Er ist doch
ein Millionendieb. Er ist geisteskrank. Er hat sich im Geschäft
überarbeitet. Ich bin ja so schrecklich unglücklich.“

„Na, na!“ lächelte er und strich ihr sanft über die blassen Wangen.
„Beruhige dich nur, mein Kind. Er hat die Millionen nicht gestohlen,
und er ist geistig ganz auf der Höhe. Wenn die Kupferpapiere erst
wieder gestiegen sind, kriegst du deinen lieben Peter wieder. Und ich
gebe dir mein Wort, du wirst deine helle Freude an ihm haben.“

Langsam versiegten ihre Tränen. Wie geistesabwesend starrte sie ihn an.
War denn der Onkel auch verrückt geworden?

„Siehst du, mein liebes Kind!“ tröstete er sie. „Er ist hier bei mir
gewesen und hat mir alles erzählt. Die Millionen, die er gestohlen
hat, existieren in Wirklichkeit gar nicht. Sie existieren nur in
der Einbildung der anderen Leute. Und auf dieser Einbildung beruht
vorläufig die ganze Existenz der Firma Stockes & Yarker. Das will
natürlich nicht in dein kleines Köpfchen hinein. Aber gib acht. Wenn
man es nur von der rechten Seite betrachtet, ist es ganz leicht zu
begreifen. Die Firma Stockes & Yarker hat in den letzten Jahren
schlecht gewirtschaftet, und Peter hat die Bücher gefälscht, du
versteht, zugunsten der Firma.“

Aber Polly verstand nichts. In ihrem Köpfchen ging das bekannte Mühlrad
herum.

„Er hat die Bücher gefälscht?“ stöhnte sie auf. „Wie ist das möglich.
Mr. Dodd hat mir erzählt, gerade aus den Büchern hat man das Fehlen des
Geldes nachgewiesen.“

„Das war eben die Fälschung!“ belehrte er sie schmunzelnd. „Er hat
zu diesem Mittel gegriffen, um die Firma über Wasser zu halten. Und
als es nicht mehr ging, hat er mit den zwei Millionen, die er im
Lauf der Jahre in die Bücher hineingefälscht hatte, die aber gar
nicht vorhanden waren, das Weite gesucht. Mr. Dodd ist hinter einem
Millionendieb her, der gar keiner ist.“

„Das ist unmöglich!“ stieß sie hervor.

„Weshalb unmöglich?“ meinte der Landgerichtsrat. „Ich habe in meiner
vierzigjährigen Praxis anders über die Möglichkeiten des menschlichen
Lebens denken gelernt.“

„Aber das ist ja heller Wahnsinn!“ begehrte sie auf.

„Es ist vielmehr ein Geniestreich!“ rief er. „Ich habe jetzt nur noch
den einen Wunsch, daß er gelingen möge.“

Polly sah in zwei treue, etwas schalkhafte Augen, die fast genau so
blickten wie die braunen Augen ihres Peter, und in die sie sich zuerst
verliebt hatte. In ihrem Köpfchen begann es zu dämmern. Sie erinnerte
sich plötzlich an die Szene in Hamburg. Da hatte er dasselbe behauptet.
Aber sie hatte ihm nicht geglaubt, weil sie ihn für verrückt gehalten
hatte.

„Du bleibst bei mir und läßt Dodd laufen!“ schlug er vor.

„Nein, nein! Dodd darf ihn nicht kriegen!“ rief sie und sprang auf.
„Wir haben einen Vertrag geschlossen, aber ich traue ihm nicht.“

Und nun erzählte sie ihm, was sie mit Dodd abgemacht hatte.

„Ah!“ rief er, aufs höchste interessiert. „Das ändert freilich die
Sache aus dem Grunde. Jetzt rate ich dir sogar, bei Dodd zu bleiben,
ihn zu überwachen und ihn womöglich auf die falsche Spur zu lenken,
wenn er einmal auf der rechten sein sollte. Nichts ist besser, als ein
heimlicher Verbündeter in des Feindes Lager. Aber verstellen mußt du
dich, und schlau mußt du sein, recht schlau.“

„O, das will ich schon!“ rief sie und schlug plötzlich die Hände vors
Gesicht, wobei sie aufstöhnte. „O Peter, Peter, daß du mir das antun
konntest!“

„Pst!“ machte der Onkel und hob warnend den Finger, indem er zum
Fenster hinausluchste. „Meine Haushälterin hat feine Ohren.“

Die unverehelichte Zippel war zurückgekehrt und ging in die Küche
hinüber.

In diesem Augenblick schrillte das Telephon im Hausflur. Am anderen
Ende der Leitung stand Bobby Dodd. Polly horchte.

„Ich habe soeben ein Telegramm aus New York erhalten: Peter Voß,
Millionendieb aus St. Louis, festgenommen!“

Sie schrie auf und ließ das Hörrohr fallen. Der Onkel führte sie ins
Zimmer, übergab sie der Obhut der Haushälterin, die herbeilief, und
kehrte wieder ans Telephon zurück.

„Was werden Sie tun?“ fragte er Dodd. „Mrs. Voß ist augenblicklich
nicht fähig, das Gespräch fortzuführen.“

„Das bedaure ich sehr!“ erwiderte Dodd. „Ich glaube aber, sie haben da
drüben wieder einen falschen Peter Voß verhaftet!“

„Das scheint mir auch!“ rief der Rat sarkastisch.

„Ich bitte Sie, Mrs. Voß zu beruhigen!“ sprach Dodd. „Ich reise sofort
nach New York ab. Sollten sie den Falschen erwischt haben, bin ich in
spätestens drei Wochen wieder zurück. Sonst telegraphiere ich.“

„Bitte sehr!“ antwortete der Rat höflich und klingelte ab.

Polly zu beruhigen, war nicht gerade leicht. Sie hielt es durchaus
nicht für ausgeschlossen, daß Peter Voß nach New York zurückgekehrt sei.

„Er wagt alles!“ schluchzte sie.

„Sie haben da drüben einen Falschen erwischt!“ tröstete sie der Onkel.
„Dodd ist übrigens derselben Meinung.“

„Er lügt!“ rief sie zitternd vor Angst. „Warum fährt er dann hinüber?“

„Er will sicher gehen!“ sagte der Onkel leichthin. „Es ist ja auch nur
ein Katzensprung.“

Polly aber wollte das nicht gelten lassen.

Dodd hatte nur den einen Teil des Telegramms verraten. Es stand
nämlich noch darin, daß dieser in New York festgenommene Peter Voß ein
echtes Legitimationspapier hätte. Das mußte er irgendwo erhalten oder
gestohlen haben. Und nur dieses Papieres wegen fuhr Dodd nach New York,
in der Tasche den beweiskräftigen Fingerabdruck.

Der Weg zum Bahnhof führte ihn dicht an der Zuchthausmauer vorbei,
hinter der Peter Voß als Emil Popel saß und auf einen Fluchtplan sann.

Denn das Sitzen wurde auf die Dauer sehr unangenehm.

Und er fand wirklich einen Plan, mit dem sich schon etwas anfangen
ließ. Nur sehr überlegt mußte er werden.



11.


Emil Popel, der richtige, befand sich in einer luftigen Zelle der
New Yorker Polizeioffice und hatte große Angst, nach Deutschland
ausgeliefert zu werden. Das einzige, was ihn seiner Meinung nach vor
diesem Schicksal bewahren konnte, war, steif und fest zu behaupten,
Peter Voß zu heißen.

Denn er wußte nicht, daß er sich für einen leibhaftigen Millionendieb
ausgegeben hatte.

So sehr er sich auch Mühe gab, den Grund seiner Verhaftung bei dem
Wärter zu erfragen, er bekam keine Antwort. Denn der Mann verstand kein
Deutsch und Emil Popel kein Englisch.

So fiel ihm denn ein schwerer Stein vom Herzen, als am Ende der zweiten
Haftwoche ein Mann in seine Zelle trat und ihn auf deutsch anredete.

„Sie geben an, Peter Voß zu heißen?“ fragte Bobby Dodd.

„Ich heiße Peter Voß!“ behauptete Emil Popel und zog sein
Legitimationspapier heraus, das man ihm gelassen hatte.

„Wie kommen Sie in den Besitz dieses Papiers?“

„Ich habe,“ stotterte Emil Popel und wußte nicht weiter.

„Sie haben es jedenfalls gestohlen!“ sagte Dodd mit kühlem Lächeln.

„Nein, nein!“ stöhnte Emil Popel und lehnte bleich und mit zitternden
Knien an der Zellenwand.

Das Papier entfiel ihm, Dodd hob es auf und steckte es ein.

„Wollen Sie mir jetzt endlich Ihren richtigen Namen sagen?“ herrschte
er ihn an.

Aber Emil Popel schwieg hartnäckig.

„Halten Sie mich nicht länger auf!“ sagte Dodd ärgerlich. „Ich kenne
das Papier. Es ist echt. Ich habe es schon einmal in den Händen gehabt.
Aber Sie sind nicht der echte Peter Voß. Warum kommen Sie nach Amerika
unter falschem Namen? Und noch dazu unter diesem Namen?“

Emil Popel tat die Lippen nicht auseinander.

„Sie werden jedenfalls etwas auf dem Kerbholz haben!“ fuhr Dodd
unbeirrt fort. „Wenn Sie jetzt nicht sofort den Mund auftun, werde ich
Sie mit nach Deutschland hinüber nehmen, denn Sie sind ein Deutscher.“

Emil Popel machte jetzt einen vergeblichen Versuch, zu sprechen, aber
die Worte wollten ihm nicht aus der Kehle heraus.

„Haben Sie einen totgeschlagen?“ fuhr ihn Dodd an.

„O nein!“ preßte sich Emil Popel heraus. „So ein schlechter Mensch bin
ich nicht. Ich habe nur eine Urkundenfälschung begangen.“

„Nicht mehr?“ erwiderte Dodd freundlicher. „Da sind Sie ja noch ein
verhältnismäßig anständiger Mensch. Wenn Sie mir jetzt Ihren Namen
sagen und gestehen, woher Sie das Papier haben, dann verspreche ich
Ihnen, daß Sie wieder auf freien Fuß gesetzt werden. Peter Voß nämlich,
auf dessen Papier Sie herübergefahren sind, ist ein Millionendieb.“

„Nicht möglich!“ rief Emil Popel außer sich.

Statt der Antwort hielt ihm Dodd eine Nummer des Fahndungsblattes vor
die Nase.

Nun endlich kam Emil Popel aus der Reserve heraus.

„Ein Millionendieb!“ rief er wütend. „O dieser gemeine Kerl! Er hat mir
das Papier geschenkt.“

„Wo hat er es Ihnen gegeben?“ fragte Dodd neugierig. „Vielleicht in
Strienau?“

Emil Popel stockte plötzlich.

„Immer vorwärts!“ drängte Dodd energisch. „Wie Sie nach Strienau
gekommen sind, kann ich nötigenfalls auch von der dortigen Polizei
erfahren. Es kostet nur ein Telegramm.“

„Nein!“ schrie Emil Popel ängstlich. „Da will ich lieber alles
gestehen. Ich bin aus dem dortigen Zuchthaus ausgebrochen.“

„Aha!“ rief Dodd erfreut. „Das ist ja außerordentlich interessant. Also
du bist bereits verurteilt. Zu wieviel?“

„Zu einem Jahr!“ erwiderte Emil Popel dumpf.

„Und wieviel hast du davon verbüßt?“

„Noch nicht drei Stunden.“

„Alle Wetter!“ sprach Dodd schmunzelnd. „Und nun erzähle mir den ganzen
Vorgang. Wo hast du Peter Voß getroffen?“

Jetzt stockte Emil Popel nicht mehr. Wahrheitsgetreu, kurz und bündig
erzählte er seine Erlebnisse von dem Augenblicke an, wo er den Wärter
überwältigt hatte, bis zu seiner Verhaftung in New York.

„Du hast Peter Voß also bei einem einsam liegenden Hause verlassen?“
fragte Dodd. „War es vielleicht ein Schulhaus?“

„Ich glaube wohl!“ erwiderte Emil Popel nach kurzem Bedenken. „Es war
eine große Retirade dabei. Wir sind über die Oderbrücke und eine gute
Stunde über Land gegangen.“

Dodd wußte genug und ließ den falschen Peter Voß zwischen Hangen und
Bangen allein. Es war kein Zweifel, die Spur führte nach Pograu. Dort
waren die weiteren Nachforschungen anzustellen, dort lag das Geld! Emil
Popel war nur nach New York geschickt worden, um eine falsche Spur zu
erzeugen.

Um aber ganz sicher zu gehen, ließ Dodd telegraphisch bei der
Zuchthausdirektion zu Strienau anfragen, ob da wirklich ein Emil Popel
entsprungen sei.

Die Antwort, die darauf am nächsten Morgen einlief, traf Dodd wie ein
Keulenschlag. Sie lautete nämlich: Emil Popel entsprungen, drei Tage
später freiwillig gestellt, sitzt noch hier.

Ein geradezu wahnwitziger Verdacht stieg in Dodd auf. War jener Emil
Popel etwa Peter Voß? Dodd stand vor einem Rätsel.

Der Mensch scheint wirklich wahnsinnig zu sein! dachte er und
beantragte bei der Polizei, den richtigen Emil Popel zu entlassen.

Sein Delikt, Beilegung eines falschen Namens, wurde gegen die
Untersuchungshaft aufgerechnet. Da er gesund war und noch genug Geld
besaß, hatte die Einwanderungsbehörde, die ihn verhaftet hatte, nichts
gegen seine Freilassung einzuwenden.

„Sie sind frei!“ sprach Dodd zu ihm. „Machen Sie, daß Sie nach dem
Westen kommen, und versuchen Sie einmal, ein ganzes Jahr keine Urkunden
zu fälschen. Man kann auch auf anständige Weise sein Leben fristen.“

„Das will ich tun!“ rief Emil Popel beglückt. „Das will ich wirklich
tun, ich will ein hochanständiger Mensch werden.“

„Stellen Sie sich das nicht zu leicht vor!“ warnte ihn Dodd und
übergab ihn dem Wärter, der ihn unverzüglich an die frische Winterluft
beförderte.

Dodd aber fuhr sofort mit der „Olympic“ nach Europa zurück, um den
falschen Emil Popel zu entlarven.

In Strienau war inzwischen der Winter eingezogen, und man rüstete sich
allmählich auf das Weihnachtsfest. Mutter Knulle saß zwar noch immer in
ihrer Obstbude auf dem Ringe, hatte aber einen dicken Wattemantel an
und eine Wärmflasche unter den Füßen.

Alle Leute, die bei ihr vorbeikamen, machten fröhliche Gesichter, und
auf dem Neumarkt standen die grünen Tannenbäume in langen Reihen,
ausgerichtet wie die Grenadiere bei der Parade.

Das Pensionsgesuch des Landgerichtsrats Pätsch war inzwischen bewilligt
worden, und zwar mit dem Ablauf der augenblicklichen Amtsperiode. Da
er nicht noch um Krankheitsurlaub einkommen wollte, ließ er es bei dem
bewenden. Man entlastete ihn nach Möglichkeit, so daß er sehr viel Zeit
für Polly übrig hatte.

Jeden Morgen, wenn er keinen Termin hatte, ging er mit ihr über die
Promenade und erwog schon ernstlich den Gedanken, späterhin nach St.
Louis zu übersiedeln, denn es wäre ihm sehr schwer geworden, sich von
ihr zu trennen, besonders jetzt, wo sie keinen Beschützer hatte. Ihre
Angst, daß Peter Voß in New York festgenommen worden war, hatte er ihr
glücklich ausgeredet.

„Er ist längst in Moskau oder Petersburg!“ tröstete er sie.

Sie vertrug sich so gut mit dem alten Herrn, daß sie, zum hellen
Entsetzen der Martha Zippel, eines schönen Tages aus dem Hotel „Zum
goldenen Kreuz“ in das Haus des Onkels übersiedelte.

In Strienau fiel das nicht weiter auf, da der alte Herr Rat, der zudem
einen stadtbekannten Herzfehler hatte, über jeden schnöden Verdacht
erhaben war. Außerdem war es ja eine richtige Nichte von ihm. Wie diese
näheren Verwandtschaftsbeziehungen gestaltet waren, darin gingen die
Meinungen der guten Strienauer allerdings auseinander, denn Polly hielt
sich unter ihrem Mädchennamen auf.

Die Haushälterin war geschwind dahinter gekommen, daß den Herrn Rat
und die junge Amerikanerin ein tiefes Geheimnis verband. Sie pflegten
stets ihr Gespräch abzubrechen, wenn die Haushälterin hereintrat,
und unterhielten sich nur ganz leise, wenn sie draußen an der Tür
stand und horchte. Diese schmachvolle Vertrauensunwürdigkeit, mit der
sie nun ihre langjährigen treuen Dienste belohnt sah, schmerzte sie
aufs tiefste. Aber um so schärfer paßte sie auf. Und so konnte sie
denn wirklich ein ganz kurzes Gespräch belauschen, das die beiden
im Hausflur führten, gerade als sie zu ihrem täglichen Spaziergang
aufbrechen wollten.

„Dodd müßte längst hier sein!“ sagte Polly und ließ sich von dem alten
Herrn Rat in den Mantel helfen.

„Er ist gewiß schon wieder auf dem Rückwege!“ erwiderte er. „Wenn er
das Rennen nicht ganz aufgibt, was für uns das beste und für ihn das
vernünftigste wäre. Denn er kriegt ihn doch nicht.“

„Da kennst du ihn schlecht!“ rief sie lebhaft. „Der ist zäh wie
Büffelleder. Aber er soll nur wiederkommen. Ich werde ihm alle seine
Frechheiten heimzahlen, und das gehörig.“

Alsdann gingen sie hinaus. Die unverehelichte Martha Zippel schlug sich
von diesem Augenblicke an zu Dodds Partei.

Sie wollte ihm schon die Augen öffnen über das Komplott! Denn sie haßte
Polly von Herzensgrunde.

Drei Tage später traf Dodd in Strienau ein. Es war ein nebliger Abend,
als er in die Feldstraße einbog. Zögernd zog er die Klingel, und es
öffnete ihm die Haushälterin. Sie stieß einen leichten Schrei der
Ueberraschung aus. Der Herr Rat und sein Besuch waren eben ins Theater
gegangen.

„Kommen Sie nur herein!“ lockte sie. „Ich muß Ihnen was erzählen.“

Und da er unentschlossen stehen blieb, zog sie ihn am Aermel herein und
drückte die Haustür zu.

„Nehmen Sie sich in acht!“ flüsterte sie. „Die Frau ist wütend auf Sie.
Sie will Ihnen alle Frechheiten gehörig heimzahlen.“

„So, so!“ machte Dodd und dachte dabei: Sehr gut! Sie hat sich also
dermaßen in das Vertrauen des alten Herrn einzuschmeicheln gewußt, daß
sie sogar schon auf mich schimpft.

„Trauen Sie den beiden nicht!“ schlug die hastige Stimme der Warnerin
an sein Ohr. „Sie schmieden etwas gegen Sie. Sie wohnt auch schon bei
uns.“

Das hatte Dodd allerdings nicht erwartet. Er schöpfte Argwohn. Polly
war ein schwaches Weib. Und zwei Millionen Dollar waren Geld genug, um
auch einen starken Mann zu Fall zu bringen.

„Danke, danke!“ sagte er und lüftete den Hut. „Verraten Sie nicht, daß
ich hier gewesen bin. Und das weitere wird sich finden.“

Er reichte ihr sogar die Hand, worüber sie mit einem tiefen Knicks
quittierte.

Spornstreichs eilte er ins Hotel, wo inzwischen seine Koffer angekommen
waren, und machte Toilette. In dem alten, weißbärtigen, etwas gebückten
Jubelgreis, der eine halbe Stunde später, in einen weiten Mantel
gehüllt, vor dem Hotel in die Droschke stieg, hätte kein Strienauer
einen amerikanischen Detektiv vermutet. An der Theaterkasse erkundigte
er sich nach der Loge des Landgerichtsrats Pätsch und ließ sich in der
leeren Nebenloge einen Platz geben.

Man spielte „Die Jungfrau von Orleans“ recht und schlecht, wie es
sich für ein Provinztheater zweiten Grades schickte. Man war noch im
ersten Akt. Polly schien das Publikum viel amüsanter zu finden als die
Vorgänge auf der Bühne. So konnte es auch ihrer Aufmerksamkeit nicht
entgehen, daß in der Nebenloge ein Zuschauer auftauchte. Sie musterte
ihn ungeniert und wandte ihm dann den Rücken. Der Onkel neigte sich zu
ihr. Mit Rücksicht auf den Nachbar sprach er Englisch.

„Gefällt es dir nicht?“ fragte er sie.

„Ich mag die klassischen Sachen nicht!“ schmollte sie. „In Amerika
spielt man sie besser.“

„Kein Wunder!“ flüsterte er und schaute ihr lächelnd in die Augen. „In
Amerika gibt es auch keine deutschen Kleinstädte.“

Polly erwiderte unbefangen seinen Blick, und Dodds Argwohn stieg. Bald
darauf war der erste Akt vorüber, und die Lampen flammten wieder auf.
Dodd drückte sich in die dunkelste Ecke seiner Loge und lauschte mit
geschlossenen Augen auf das Gespräch der beiden. Plötzlich hörte er
seinen Namen.

„Dodd?“ lachte Polly unbekümmert auf. „O dieser Narr, er soll mir nur
kommen! Wie werde ich ihn an der Nase herumführen!“

Also doch! dachte Dodd und verschwand mit Beginn des zweiten Aktes
lautlos, wie er gekommen war.

Im Hotel kleidete er sich wieder um und ließ sich mit der
Zuchthausdirektion telephonisch in Verbindung setzen. Es war noch
nicht neun Uhr, und da er sich als der Absender des New-Yorker
Telegramms zu erkennen gab, wurde er vorgelassen.

Er legitimierte sich, und der Direktor hieß ihn höflich willkommen.

„Sie wollen sich nach Emil Popel erkundigen?“ fragte er ihn.

„Nicht nach diesem Manne,“ erwiderte Dodd, „sondern nach dem, der für
ihn die Strafe absitzt.“

„Unmöglich!“ fuhr der Direktor auf.

„Bitte sehr!“ beruhigte ihn Dodd. „Es ist eine Vermutung von mir. Sie
haben ihn doch sicher bei seiner Einlieferung gemessen und rubriziert.“

„Und photographiert!“ setzte der Direktor hinzu. „Das heißt, erst
bei seiner zweiten Einlieferung. Bei seiner Ueberführung aus dem
Untersuchungsgefängnis war der photographische Apparat defekt.“

„Damn!“ entfuhr es Dodd, der jetzt erst die Schwierigkeit seines
Unternehmens ganz übersah. „Und auf Grund dieses defekten Apparats ist
es möglich gewesen, daß in der Zelle, wo Sie nach Ihren Registern den
Urkundenfälscher Emil Popel vermuten, ein ganz anderer Mann sitzt, und
zwar der Millionendieb Peter Voß aus St. Louis.“

„Herr!“ rief der Direktor und sprang auf.

Dann holte er die Akten Emil Popels herbei und verglich selbst den
Fingerabdruck, der sich darin befand, mit dem Abdruck, den Dodd auf
dem Wandkalender vorwies.

„Sie gleichen sich aufs Haar!“ sagte Dodd hochbefriedigt und steckte
das vortreffliche Beweismaterial ein. „Peter Voß hat sich für Emil
Popel einsperren lassen.“

„Aber das ist ja eine komplette Verrücktheit!“ schrie der Direktor und
schlug mit der Hand auf die Akten.

„Das war vor etlichen Tagen auch meine Meinung!“ gestand Dodd und
erhob sich. „Aber ich bin davon abgekommen. Die Sache ist gar nicht
so verrückt, wie sie im ersten Augenblick erscheint. Dieser Peter Voß
hat schon einmal freiwillig im Gefängnis gesessen. Es ist also nicht
das erstemal, daß er zu diesem Trick greift. Denn wo ist er vor mir
sicherer? Und außerdem kann er sich, sobald er das Jahr abgesessen hat,
um so ungestörter als Emil Popel dem Genuß der gestohlenen Millionen
hingeben.“

„Bab!“ machte der Direktor und fiel auf den Stuhl zurück.

„Für mich ist dies vielmehr der vollgültige Beweis,“ fuhr Dodd fort,
„daß ich es hier mit einem Verbrecher von unerhörtem Raffinement zu tun
habe, wie er mir noch niemals unter die Finger gekommen ist. Aber nun
hab ich ihn doch erwischt! Wollen Sie mich zu ihm lassen?“

Der Direktor klingelte einem Beamten, der mit angezündeter Laterne die
drei Treppen emporstieg bis auf den obersten Korridor. Dodd folgte ihm
auf dem Fuße, der Direktor machte den Beschluß.

Leise schüttelte er den grauen Kopf. Die Sache war ihm denn doch zu
toll und unglaublich, mit einem Wort: zu amerikanisch.

Peter Voß wollte eben einschlafen, als die drei hereintraten. Der
Wärter leuchtete ihm ins Gesicht.

Jetzt bin ich nicht mehr zu sprechen! dachte Peter Voß und zuckte mit
keiner Wimper.

Da trat Dodd heran, packte ihn an der Schulter, schüttelte ihn und rief
sehr energisch: „Wachen Sie auf, Peter Voß, ich verhafte Sie!“

Peter Voß verlor seine Geistesgegenwart nicht, denn er war ja Emil
Popel, ließ seine Augen vorerst noch zu, um der neuen Gefahr möglichst
kaltblütig begegnen zu können, und holte zweimal recht tief Atem.

Er wußte, das war Dodd, sein Verfolger.

„Verstellen Sie sich nicht!“ rief er und schüttelte ihn wie ein Sieb
hin und her. „Sie sind verhaftet!“

„Träum ich?!“ fragte Peter Voß schlaftrunken und preßte die Fäuste in
die Augenhöhlen. „Ich bin doch schon verhaftet. Ich bin sogar schon
verurteilt. Was wollen Sie eigentlich von mir?“

Der Zuchthausdirektor war über diese Antwort hochbefriedigt. In seiner
Anstalt konnten und durften solche wahnwitzigen Dinge überhaupt nicht
vorkommen!

Dodd hatte unterdessen die Laterne vom Boden aufgenommen und leuchtete
Peter Voß ins Gesicht.

Nun sahen sich die beiden zum ersten Male in die Augen.

„Das ist der Millionendieb Peter Voß!“ rief Dodd und wandte sich an den
Direktor.

„Es tut mir leid!“ erwiderte der höflich und hob die Schultern. „Der
Mann ist für mich vorläufig Emil Popel.“

„Ich heiße Emil Popel!“ rief Peter Voß.

„Ihr Leugnen wird Ihnen nichts helfen!“ erwiderte Dodd kurz. „Es ist mir
eine Kleinigkeit, zu beweisen, daß Sie nicht Emil Popel sind.“

„Darauf bin ich sehr gespannt!“ sagte Peter Voß _alias_ Emil Popel.
„Ich lasse mir nicht meinen ehrlichen Namen nehmen.“

„Wo haben Sie die Millionen versteckt?“ fuhr er ihn an.

„Das wird ja immer schöner!“ begehrte Peter Voß zu des Direktors großer
Befriedigung auf. „Millionen soll ich gestohlen haben? Das ist direkt
eine Beleidigung. Das ist einfach eine Gemeinheit, so was von mir zu
behaupten! Eine Unterschrift hab ich gefälscht.“

Dodd verließ die Zelle. Die beiden andern folgten ihm. Peter Voß war
wieder allein.

Jetzt wird es aber höchste Zeit, daß ich weiter komme! dachte er und
überdachte sich seinen Fluchtplan zum eintausend und zweiten Male.

Dodd und der Direktor waren in das Bureau zurückgekehrt. Vergeblich
bemühte sich Dodd, den Direktor zu überzeugen, daß Emil Popel in
Amerika und Peter Voß im Zuchthaus zu Strienau war.

„Die Nichtidentität dieses Sträflings mit Emil Popel zu beweisen, ist
mir eine Kleinigkeit!“ sagte Dodd energisch. „Ich bitte, ihn nur mit
dem Richter, der ihn verurteilt hat, zu konfrontieren.“

Der Direktor blätterte in den Akten.

„Landgerichtsrat Pätsch hat den Vorsitz geführt!“ erwiderte er.

Dodd zuckte nicht zusammen, sondern überlegte weiter. Der
Landgerichtsrat Pätsch war als Komplice völlig untauglich für dieses
Experiment.

„Oder noch einfacher!“ rief Dodd schnell. „Wir konfrontieren ihn mit
dem Wärter, der ihn im Untersuchungsgefängnis unter sich gehabt hat.“

Der Vorschlag wurde vom Direktor akzeptiert. Sie beschlossen, am
nächsten Morgen um neun Uhr den Versuch zu machen.

Peter Voß war auf alles gefaßt. Als sich die Tür auftat, erkannte er
sofort den alten Franzelt aus dem Untersuchungsgefängnis und fiel vor
Freude, ihn wiederzusehen, ihm fast um den Hals.

„Ah, Herr Franzelt!“ rief er begeistert. „Welche Ehre!“

Der alte Wärter stand starr.

„Erkennen Sie in diesem Mann den Untersuchungsgefangenen Emil Popel
wieder?“ fragte der Direktor.

„Freilich, freilich!“ erwiderte der alte Franzelt kopfnickend. „Er hat
sich wohl ein bißchen verändert. Das kommt aber von den kurzen Haaren.
Es ist auch schon gut vier, fünf Wochen her, daß ich ihn zuletzt
gesehen habe. Bei mir geht es immer wie im Taubenschlage aus und ein.“

„Ist das Emil Popel?“ sprach Dodd, und seine Stimme bebte vor Aufregung.

Der Wärter sah sich erst Peter Voß, dann den Direktor an und nickte
endlich ostentativ.

Der Direktor machte eine bezeichnende Handbewegung, als wollte er
sagen: Na also, ich hab es ja gleich gewußt!

Und Peter Voß sah sich wieder allein.

Mag er sitzen! dachte Dodd, als er wieder auf der Straße stand. Zuerst
das Geld, dann den Verbrecher!

Die Sache mit Polly fiel ihm schwer auf die Seele.

Noch hoffte er das Beste für sie und sich, obschon sein Verdacht groß
genug war. Um diesen Verhältnissen auf den Grund zu kommen, begehrte er
gegen Mittag Einlaß in dem 25. Hause auf der Feldstraße.

Die Haushälterin empfing ihn an der Tür mit einem sehr
verständnisinnigen Augenzwinkern. Polly kam ihm in freudiger Aufregung
entgegen.

„Endlich sind Sie da!“ rief sie und reichte ihm die Hand. „Wie habe ich
mich nach Ihnen gesehnt!“

Aha! dachte Dodd, indem er Hut und Mantel ablegte. Im Theater hörte ich
es anders. Das ist außerordentlich verdächtig!

Dann trat er ins Zimmer und begrüßte den Landgerichtsrat, der ihn
mit vollendeter Liebenswürdigkeit empfing und ihm eine von den
nikotinfreien Zigarren anbot.

Noch verdächtiger! dachte Dodd und nahm eine davon.

Und nun erzählte er, ganz matt und abgespannt, von der völligen
Ergebnislosigkeit seiner Reise nach New York.

„Was habe ich Ihnen gesagt!“ triumphierte der Landgerichtsrat.

Dodd nickte zerknirscht.

„Und was wird nun?“ fragte Polly gespannt.

„Ach!“ sagte Dodd kraftlos und ließ die Arme herabhängen. „Ich gebe es
auf.“

Dabei ließ er den Kopf hintenübersinken und lehnte ganz erschöpft und
regungslos mit fast geschlossenen Augen auf dem Sofa. Und er sah, wie
Polly dem alten Herrn einen Blick zuwarf, der das Geheimnis, das sie
verband, blitzartig beleuchtete.

Das arme Kind! dachte Dodd bei sich und kam wieder hoch.

„Was soll das heißen!“ rief Polly und rang die Hände. „Sie wollen ihn
nicht weiter verfolgen? Das ist gegen unsere Abmachung.“

„O nein!“ lächelte Dodd schwach. „Ich bin fertig. Ich werde Stockes &
Yarker den Auftrag zurückgeben, und wenn mein ganzes Renommee darüber
zugrunde geht. Ich bekenne offen, Peter Voß ist mir über.“

„Ha!“ stieß sie heraus: es sollte bedauernd klingen, war aber der
blanke Triumph.

„Sie wollen wirklich die Verfolgung aufgeben?“ mischte sich der Rat ins
Gespräch.

„Jawohl!“ erwiderte er geknickt und wandte sich an Polly. „Ich werde
noch heute abreisen. Werden Sie mich begleiten?“

„Was denken Sie von mir!“ rief sie empört. „Wenn Sie die Flinte ins
Korn werfen, ich weiß, was meine Pflicht ist. Ich werde nicht eher
ruhen, bis ich ihn gefunden habe.“

„Ich glaube auch, daß Sie mehr Glück haben werden, als ich gehabt
habe!“ erwiderte er leise und erhob sich. „Leben Sie wohl, Mrs. Voß.“

Sie begleitete ihn bis zur Haustür und reichte ihm hier zum Abschied
die Hand, auf die er seine Lippen preßte.

Er hatte längst erkannt, daß er die Partie nur gewinnen konnte, wenn er
sie aufgab. Und nachdenklich ging er ins Hotel zurück.

„Gewonnen!“ rief Polly und fiel dem Onkel um den Hals.

„Immer langsam!“ mahnte er sie. „Nur nicht zu früh jubeln! Dieser Dodd
ist durchaus kein Dummkopf. Der hat es faustdick hinter den Ohren
sitzen, obschon er aussieht, als könnte er kein Wässerlein trüben. Um
uns das zu erzählen, brauchte er nicht zurückkommen. Das hätte er auch
schreiben können.“

„Aber er ist doch verliebt in mich!“ rief sie und schmiegte sich an ihn.

„Dann freilich!“ sprach er lachend und gab ihr einen Kuß. „Das kann ich
verstehen.“

„Wo mag Peter sein?“ fragte sie und breitete ihre Arme aus.

„Er wird sich schon melden!“ beruhigte er sie. „Ich denke mir, wenn er
irgendwo in Sicherheit ist, wird er uns benachrichtigen. Also Geduld,
mein liebes Herz!“

Dodd aber fuhr nicht nach Amerika, sondern nur nach Konradswaldau, dem
Geburtsort Emil Popels. Es galt, Peter Voß mit stärkeren Mitteln zu
beschwören. Und dank seiner Weltgewandtheit brachte er es zustande, daß
der Amtsvorsteher, ein dicker, reicher Gutsherr, der Küster und der
Gendarm sich bereit erklärten, mit ihm nach Strienau zu fahren, um den
Millionendieb zu entlarven.

Hier von Konradswaldau aus sandte Dodd an Jim Stockes ein sehr
hoffnungsvolles Telegramm.

Peter Voß aber lag auf der Pritsche und überdachte seinen genialen
Fluchtplan zum eintausendunddritten Male bis in die fernsten Winkel.
Wenn nicht das Zuchthaus abbrannte oder der Himmel einfiel, dann mußte
es gelingen. Darauf schlief er ein.

Jim Stockes hielt am nächsten Morgen das Telegramm in Händen, das ihm
Dodd geschickt hatte. Es lautete: Hoffe in spätestens vier Wochen mit
dem Millionendieb einzutreffen. Er sitzt bereits in Haft.

„Aus!“ stöhnte Stockes und sank mit zitternden Händen und schlotternden
Knien in den Stuhl.

Dann zerriß er das Telegramm in kleine Stücke und warf es wütend in den
Papierkorb.



12.


Am folgenden Morgen erschien Dodd mit seinen drei Kronzeugen und in
Begleitung des Direktors bei Peter Voß.

„Kennen Sie diese Leute?“ fragte Dodd auf englisch.

„Es tut mir leid!“ erwiderte Peter Voß auf deutsch. „Polnisch verstehe
ich nicht.“

Dodd preßte die Lippen zusammen und wiederholte die Frage auf deutsch.

„Gewiß!“ antwortete Peter Voß und nahm all seine Kombinationskraft
zusammen. „Das ist der Amtsvorsteher, bei dem ich Schreiber war, das
ist der Gendarm aus Konradswaldau, und das ist der Schulmeister.“

„Falsch!“ rief der. „Ich bin der Küster.“

„Na ja!“ machte Peter Voß wegwerfend. „Schulmeister und Küster, das ist
doch dasselbe.“

„Eben nicht!“ sprach der Amtsvorsteher. „Wir haben in Konradswaldau
einen Schulmeister und einen Küster. Das müssen Sie doch wissen.“

„Ich hab mich nur versprochen!“ meinte Peter Voß mit Gleichmut.

„Erkennen Sie in diesem Menschen den Urkundenfälscher Emil Popel
wieder?“ wandte sich Dodd siegesgewiß an den Gendarm.

Der wiegte das behelmte Haupt hin und her. Auch dem Amtsvorsteher
schien die wahrheitsgemäße Beantwortung dieser Frage sichtlich schwer
zu fallen.

„Emil Popel ist das nicht!“ antwortete der Küster, der überhaupt nicht
gefragt worden war, und die anderen beiden Zeugen nickten schließlich
dazu.

Diese Behauptung kam dem Direktor überaus unerwartet.

„Kerl!“ fuhr er Peter Voß zornig an. „Willst du jetzt endlich gestehen,
wer du bist?“

„Ich hab nichts zu gestehen!“ erwiderte Peter Voß eigensinnig.

„He!“ schrie der Direktor, rot vor Wut. „Heraus mit der Sprache, oder
ich setz dich auf Wasser und Brot.“

„Dagegen kann ich mich nicht wehren!“ meinte Peter Voß verstockt.

„Was sagen Sie zu so einer Frechheit!“ wandte sich der Direktor an Dodd.

„Ich glaube, wir können das Verhör einstweilen schließen!“ antwortete
der. „Es genügt mir vor der Hand, Sie überzeugt zu haben, daß dieser
Emil Popel nicht der richtige Emil Popel ist.“

Der Direktor verließ die Zelle und diktierte draußen dem Sträfling, der
sich für Emil Popel ausgab, drei Tage Wasser und Brot.

„Wenn der Mann ein Geständnis machen will, führen Sie ihn sofort zu
mir,“ sprach er zu dem Wärter und ging mit Dodd wieder in sein Bureau.

Die drei Kronzeugen wurden entlassen, nachdem ihnen Dodd ihre Auslagen
erstattet hatte. Es ging alles auf Kosten der Firma Stockes & Yarker.

„Sind Sie nun überzeugt?“ fragte Dodd.

„Beinahe!“ erwiderte der Direktor. „Ich werde ihn schon mürbe kriegen!
Wenn er nicht bald ein umfassendes Geständnis ablegt, lasse ich ihn an
die Mauer schließen.“

„Das tun Sie nur!“ meinte Dodd hartherzig. „Der Mensch hat das zehnfach
verdient. Vor allen Dingen versuchen Sie ihm zu entlocken, wo er die
Millionen versteckt hat.“

„Da können Sie sich auf mich verlassen!“ rief der Direktor. „Wenn ich
erst hinter eine Sache hake, dann kommt sie sicher ans Tageslicht.“

„Ich hoffe,“ fuhr Dodd fort, indem er den Hut nahm, „daß ich auch ohne
sein Geständnis schließlich das Geld aufstöbere. Ich werde mich heute
abend sofort auf die Suche machen. Finde ich es, werde ich unverzüglich
den Antrag auf Auslieferung stellen. Außerdem werde ich dafür sorgen,
daß Ihnen die ausgesetzte Belohnung von 2000 Dollar ausgezahlt wird.“

Damit war der Direktor mehr als zufrieden und schüttelte ihm schon im
voraus dankbar die Hand.

Dodd hielt sich nicht lange in Strienau auf. Er mußte vermeiden, mit
Polly oder dem Landgerichtsrat zusammenzutreffen. Und er machte, daß er
nach Pograu hinüberkam.

Um diese Zeit klingelte Peter Voß den Wärter herbei und begehrte, vor
den Direktor geführt zu werden, da er ein Geständnis zu machen hätte.

„Aha!“ rief der Wärter erfreut und packte ihn fest am Arm.

Mit einer geradezu erbarmungswürdigen Miene trat Peter Voß über die
Schwelle des Bureaus.

„Sieh da!“ rief der Direktor, noch erfreuter als der Wärter, der sich
auf seinen Wink hinaus begab und vor der Tür Posto faßte. „Also du
willst ein Geständnis ablegen. Heraus damit! Du bist nicht Emil Popel?“

„Nein!“ erwiderte Peter Voß und ließ den Kopf hängen. „Ich heiße Franz
Müller.“

„Kerl, wenn du lügst!“ drohte der Direktor.

„Aber lieber Herr Direktor!“ jammerte Peter Voß in herzbewegenden
Tönen. „Mir ist gar nicht zum Lügen zumut. Ich hab noch viel, viel
Schlimmeres auf dem Gewissen als eine Urkundenfälschung.“

„Hast du die Millionen gestohlen?“ forschte der Direktor.

„Leider nicht!“ meinte Peter Voß ganz kleinlaut. „Wenn ich das getan
hätte, dann hätte ich wohl nichts Schlimmeres getan.“

„Du hast also noch andere Straftaten auf dem Gewissen?“

„Ja!“ erwiderte Peter Voß in weinerlichem Tone. „Und furchtbar schlimme
dazu. Meinetwegen sitzen zwei Unschuldige im Zuchthaus lebenslänglich.
Und jetzt schlägt mich das Gewissen so, immer wie mit einer Keule auf
den Kopf, besonders des Nachts, wenn ich so allein liege, daß ich mir
nicht anders helfen kann. Und nun will ich ein Bekenntnis ablegen, daß
die beiden unschuldigen Leute herauskommen.“

„Vorwärts, vorwärts!“ drängte der Direktor und setzte die tintennasse
Feder aufs Papier.

„Ach, Herr Direktor!“ seufzte Peter Voß und faltete die Hände, wobei er
einen Augenaufschlag von geradezu hinreißender Wirkung anbrachte. „Sie
sind ein zu gestrenger Herr. Bei Ihnen bringe ich mit dem besten Willen
kein Wort über die Lippen. Da will mir das Geständnis nicht heraus. Ich
mag mir Mühe geben, wie ich will. Sie dürfen mir das nicht übelnehmen.
Ich kann halt nicht.“

Damit griff er sich an die Gurgel, als wenn ihm da eine Schlinge säße.

„So, so?“ sagte der Direktor und legte die Feder hin. „Willst du das
Geständnis lieber dem Herrn Pastor machen?“

„Ach nein!“ erwiderte Peter Voß und preßte sich zwei erbsengroße Tränen
heraus. „Dem Herrn Pastor kann ich diese schrecklichen Geschichten erst
recht nicht erzählen. Aber ich weiß einen, dem könnte ich sie wohl
erzählen. Das ist nämlich der Herr Landgerichtsrat Pätsch, der mich
damals verurteilt hat. Aber es darf keiner dabei sein, auch nicht der
Wärter, sonst bring’ ich kein Wort heraus.“

„Ein sonderbares Verlangen!“ sprach der Direktor. „Warum willst du das
Geständnis gerade dem Richter machen, der dich verurteilt hat?“

„Ja, sehen Sie, lieber Herr Direktor,“ bekannte Peter Voß und schlug
seine ehrlichen braunen Augen zu ihm auf, „das ist halt so ein alter,
guter Herr, der Herr Landgerichtsrat Pätsch. Ich habe es hier drinnen
in meinem Herzen ganz genau gefühlt, daß er mich nicht gern verurteilt
hat. Sehen Sie, und deswegen habe ich ein so großes Vertrauen zu ihm.
Und nur wo ich Zutrauen habe, da kann ich reden.“

Der Direktor schwankte noch etwas, aber nur, weil es ihm nicht ganz
angenehm war, direkt an den Landgerichtsrat heranzutreten.

„Da haben Sie ja ein Telephon!“ sagte Peter Voß und wies ganz
demütig auf den braunen Kasten an der Wand. „Da brauchen Sie nur
hineinzusprechen. Denn wenn er nicht sofort kommt, dann tu ich mir was
an. Dann kommt die Verzweiflung über mich. Das halt ich nicht länger
aus. So weiterleben kann ich nicht. Das geht einfach über meine Kräfte.“

Nun ging der Direktor ans Telephon und ließ sich zuerst mit der Wohnung
des Landgerichtsrats verbinden. Die Haushälterin antwortete, daß der
Herr Rat noch auf dem Gericht sei. Also fragte der Direktor dort an.

„Er wird in einer halben Stunde hier sein!“ sagte er dann zu Peter Voß
und rief den Wärter herein.

„Gott sei Dank!“ seufzte Peter Voß erleichtert auf und ließ sich von
dem Wärter in seine Zelle zurücktransportieren.

Landgerichtsrat Pätsch erledigte die kleine Strafkammersitzung und fuhr
sofort zum Zuchthaus, ohne erst seine Robe abzulegen. Schließlich war
dieses Verhör auch eine amtliche Handlung. Außerdem war draußen sehr
schlechtes Wetter, und sein weiter Kaisermantel war zwar umfangreich,
aber nicht sehr dick. Und die wacklige Droschke, die schon seit vielen
Jahren ihren Stand beim Gericht hatte, war durchaus nicht winddicht.
Er drückte sich den breiten, weichen Filzhut tiefer in die Stirn und
putzte sich seine goldene Brille.

Der Zuchthausdirektor weihte ihn in die Geständnisschmerzen Emil Popels
ein und gab ihm die Akten mit.

„Er will mit Ihnen allein sprechen!“ sagte der Direktor. „Es wird aber
gut sein, wenn sich der Wärter in der Nähe aufhält. Denn dieser Emil
Popel hat schon einmal einen Ueberfall gemacht.“

„Seien Sie ohne Sorge!“ lächelte der Landgerichtsrat. „Ich habe keine
Furcht. Leute, die ein Geständnis zu machen haben, sind niemals
aggressiv.“

Mit langsamen Schritten erstieg er die drei Treppen. An Peter Voßens
Zellentür stand schon der Wärter.

„Stören Sie uns nicht!“ sprach der Rat freundlich und keuchte dabei ein
wenig, denn mit dem Winter stellte sich bei ihm immer etwas Asthma ein.
„Schließen Sie die Tür, ich klingle, wenn ich fertig bin.“

Die Tür tat sich auf, und Emil Popel, _alias_ Franz Müller, _alias_
Peter Voß saß auf dem Schemel, das Gesicht in die Hände vergraben. Die
Tür schloß sich lautlos, und hastig rasselten die Schlüssel im Schloß.

Peter Voß sprang auf.

„Onkel!“ stieß er heraus, war mit einem Sprung bei ihm und packte ihn
am Arme. „Du bist meine einzige Rettung. Du mußt mir hier heraushelfen.
Gib mir Mantel, Hut und Akten. Du bleibst an meiner Stelle hier. Denn
wenn du es nicht tust, dann muß ich dich überwältigen, binden und
knebeln, ohne Rücksicht auf unsere nahe Verwandtschaft.“

Das war für das gute Herz des Landgerichtsrats zu viel. Es setzte
einige Male aus. Die Akten Emil Popels entfielen seiner Hand. Er mußte
sich an die Wand lehnen.

Sein leibhaftiger Neffe Peter Voß, den er längst in Sibirien oder
sonstwo wähnte, hier im Zuchthause!

Das ging über seine körperlichen und geistigen Kräfte! Vor seinen Augen
flimmerte es. Er machte noch eine abwehrende Handbewegung. Dann sank er
ohnmächtig in seines Neffen Arme.

Nur einen Augenblick stand der verdutzt. Dann legte er den Leblosen auf
die Pritsche und horchte auf seine Herztöne. Sie waren regelmäßig.

Das hat weiter keine Gefahr! dachte Peter Voß und begann, ihn
blitzschnell bis auf die Unterkleider auszuziehen. Auch die Stiefel und
die Brille vergaß er nicht. Rasch hüllte er den Regungslosen in seine
Sträflingsgewandung. Kurze Haare hatten sie beide. Nun fuhr er mit
einer Geschwindigkeit sondergleichen in des Onkels Kleider und hing
sich den weiten, wallenden Mantel um. Hut und Brille vervollständigten
die Maskierung. Endlich fischte er nach den Akten, um die Zelle zu
verlassen.

Da fiel sein Blick auf die schwarze Toga. Flugs riß er aus dem
schwarzen Tuch ein paar lange Streifen, daß es nur so zischte, und
begann hurtig dem Onkel Hände und Füße zusammenzuschnüren.

Unter dieser Arbeit kam er wieder zu sich. Er wollte etwas sagen.

„Gleich bist du still!“ rief Peter Voß leise. „Du wirst dir schaden.
Oder soll ich dich vielleicht noch knebeln? Sofort fällst du wieder in
Ohnmacht und wachst nicht eher auf, bis der Wärter kommt.“

Der gute Onkel gehorchte, weil ihm nichts weiter übrig blieb.

„Polly ist bei mir!“ flüsterte er noch, dann schloß er die Augen und
wandte das Gesicht gegen die Wand.

Peter Voß reckte sich auf, legte sein Gesicht in landgerichtsrätliche
Respektfalten und drückte auf den Klingelknopf.

Nach kaum zehn Sekunden tat sich die Tür auf.

„Stören Sie den Mann nicht!“ sprach der vermeintliche Onkel seines
vermeintlichen Neffen zu dem Wärter und drückte mit eigener Hand die
Tür ins Schloß. „Sein Geständnis hat ihn aufs schwerste erschüttert.
Geben Sie diese Akten dem Herrn Direktor und sagen Sie ihm, ich
würde morgen um diese Zeit wiederkommen, um mit ihm Rücksprache zu
nehmen. Ich habe zu Hause noch etliches nachzuprüfen. Es sind einfach
furchtbare Dinge, die mir der Mann anvertraut hat. Sagen Sie das dem
Herrn Direktor!“

Der Wärter nahm mit einer linkischen Verbeugung die Akten Emil Popels
an sich. Der falsche Landgerichtsrat, den aber jeder Mensch für den
echten halten mußte, stieg mit hörbarem Keuchen und schwerfälligen
Schritten die drei Treppen hinunter. Die scharfe Brille auf der Nase
war ihm etwas hinderlich. Auf den letzten drei Stufen versah er sich,
trat daneben und wäre sicherlich böse gestolpert, wenn ihm der Portier
nicht zu Hilfe geeilt wäre. Höflich stützte er den alten Herrn, der
einen gar sehr gebrechlichen Eindruck machte, und führte ihn bis auf
das Trottoir hinaus, wo die Droschke stand.

„Danke sehr!“ sagte der falsche Rat und wandte sich an den Kutscher.
„Fahren Sie auf die Feldstraße! Sie wissen ja, wo ich wohne.“

In gemächlichem Zuckeltrapp setzte sich die Droschke in Bewegung. Der
Portier legte die Finger an die Mütze. Zehn Minuten später stieg Peter
Voß aus. Er hatte in der Hosentasche des Onkels längst ein umfängliches
Schlüsselbund entdeckt und öffnete mit dem daran befindlichen Drücker
die Haustür.

Und schon stand er Polly gegenüber.

„Onkel!“ rief sie erstaunt und schlug die Hände zusammen. „Du bist
schon zurück?“

Allein der vermeintliche Onkel schloß sie außerordentlich herzhaft in
die Arme und gab ihr einen sehr langen, innigen Kuß auf den Mund.

An diesem Kuß erkannte sie ihren Peter wieder. Ohne ein Wort zu sagen,
mit geschlossenen Augen, ließ sie sich in das Schlafzimmer des Onkels
ziehen. Die Haushälterin war zum Glück ausgegangen. Peter Voß, der
falsche Landgerichtsrat, hätte sie sonst sicher mit einem Briefe
fortgeschickt.

Er riß sich die Kleider vom Leibe und griff in des Onkels Schrank,
um sich neu auszustaffieren. Inzwischen erzählte er seine Abenteuer.
Er hatte sofort gemerkt, daß Polly vom Onkel inzwischen aufgeklärt
worden war. Sie stellte keine Fragen, wenn ihr auch in seinem kurzen,
abgehackten Bericht manches unklar blieb.

„Dodd hat dich entdeckt!“ rief sie außer sich. „O dieser Schwindler!
Und hier erzählte er, daß er die Verfolgung aufgeben wolle.“

„Also sieh dich vor!“ lachte Peter Voß und stieg in seines Onkels
besten Anzug. „Er hat dich durchschaut. Er will sich deiner entledigen.
Jetzt kannst du ihm nichts mehr helfen. Er hat es herausgefühlt, daß du
gegen ihn arbeitest. Bleib also hier beim Onkel.“

„Nein, nein!“ rief sie leidenschaftlich. „Ich trenne mich nicht mehr
von dir. Ich lasse dich nicht allein abreisen.“

„Nimm Vernunft an!“ rief Peter Voß, faßte sie mit beiden Händen beim
Kopf und küßte sie dermaßen ab, daß ihr die Luft wegblieb. „Ich muß
allein reisen. Bedenke doch, du würdest Dodd nur in die Hände arbeiten.“

Da fing sie bitterlich zu weinen an.

„Aber es gibt einen Ausweg!“ rief er, indem er sich den Schlips umband.
„Ich sehe ein, es ist nötig, daß wir uns hin und wieder treffen.
Also merk auf. Hier beim Onkel ist die Vermittlungsstelle. Ich werde
hierher hin und wieder ein chiffriertes Telegramm senden. Daraus
wird hervorgehen, wo du mich finden kannst. Und du bist imstande,
mir auf dieselbe Weise deinen Aufenthaltsort mitzuteilen. Das ist
eine großartige Idee! Wir werden uns wiedersehen, wenn die Luft
rein ist, und uns trennen, sobald Dodd im Anzuge ist. Bist du damit
einverstanden?“

Ueberglücklich sank sie ihm an die Brust.

„Schon gut, schon gut, du armes Ding!“ sagte er gerührt und strich
ihr das wellige, nußbraune Haar aus der Stirn. „Zuerst geh ich über
die russische Grenze. Dodd kann nicht Russisch. Also ist er da drüben
einfach aufgeschmissen. Von Warschau aus telegraphiere ich dir dann
zuerst. Der Onkel wird dir einen russischen Paß besorgen. Er kann auch
mitkommen, wenn er will.“

Sie war mit allem einverstanden. Aber der Abschied dauerte noch eine
Viertelstunde länger, als Peter Voß berechnet hatte. In der Tür rannte
er die Haushälterin fast über den Haufen. Er mußte sich in Trab setzen,
um noch den Zug nach Breslau zu erreichen. Eingehüllt in seines Onkels
Biberpelz, einen nagelneuen, schwarzen Schlapphut auf dem Kopfe, die
schützende Brille vor den Augen, begehrte er am Schalter ein Billett
nach Oppeln, aber er fuhr nach Breslau, denn die Züge kreuzten sich
hier wegen des Anschlusses nach Priesteldorf.

So kam er nach Breslau, zahlte an der Sperre für sein Versehen, in
den falschen Zug eingestiegen zu sein, aus des Onkels wohlgespicktem
Portemonnaie und ging in die Stadt hinein.

Lustig spazierte er um den Breslauer Ring, wo der Kindelmarkt im besten
Gange war. Im Schweidnitzer Keller verzehrte er in einem Aufsitzen
sieben Paar Würstchen.

Um diese Zeit wollte sich der Wärter überzeugen, wieviel Emil Popel von
dem nassen Wasser und dem trockenen Brot schon vertilgt hatte. Er sah
den Mann ganz unvorschriftsmäßig am Tage auf der Pritsche liegen und
rüttelte ihn energisch wach.

Da endlich verließ den Landgerichtsrat Pätsch seine stundenlange
Ohnmacht.

„Helfen Sie mir!“ röchelte er und hielt dem Wärter die gefesselten
Hände hin, der sofort zur Zelle hinausschoß und den Direktor holte.

Erst durch dessen tatkräftiges Eingreifen kam der Rat wieder auf die
Beine. Durch eine Handbewegung, die den hohen Grad seiner Erschöpfung
deutlich erkennen ließ, schnitt er alle Fragen ab und verlangte einen
Wagen. Der Direktor stellte ihm seinen eigenen Mantel zur Verfügung und
erstattete sofort Anzeige bei der Staatsanwaltschaft, die unverzüglich
die nötigen Maßnahmen zur Wiederergreifung des entsprungenen Emil Popel
verfügte.

So kam der Landgerichtsrat als verkleideter Sträfling heim. Die
Haushälterin fiel fast in Ohnmacht. Polly aber verließ ihre
Geistesgegenwart nicht.

Der Onkel legte sich ins Bett und schickte die unverehelichte Martha
Zippel zum Arzt. Polly gab ihr das Sträflingshabit und den Mantel des
Zuchthausdirektors mit. Beides brachte sie dorthin, wohin es gehörte.

Polly aber erzählte unterdessen dem Onkel, wie Peter Voß seine weitere
Flucht gestaltet hatte und welches seine Absichten für die Zukunft
waren.

„So ein verfluchter Kerl!“ stöhnte der Onkel, halb vor Aerger, halb vor
Bewunderung. „Warum in aller Welt hat er sich einsperren lassen? Ich
bin in der Tat auf seine weiteren Tollheiten äußerst gespannt.“

Dann kam der Hausarzt, untersuchte den Kranken und verlangte in
energischem Tone die sofortige Einreichung des Urlaubsgesuches.

Und da ihn Polly unterstützte, gab der Onkel nach und unterzeichnete es
im Bett. Die Haushälterin mußte es sofort aufs Gericht tragen.

„Ich gehöre ins alte Eisen!“ sagte der Onkel, nachdem sich der Arzt
empfohlen hatte.

„Nicht doch, Alterchen!“ erwiderte Polly und streichelte ihn. „Du wirst
mein Reisemarschall.“

„Auch das noch!“ seufzte er und schloß die Augen.

Aber er durfte nicht eher einschlafen, bis er den Baldriantee getrunken
hatte.

Dodd klopfte an diesem Abend an das Pograuer Schulhaus. Minkwitz
öffnete und war erstaunt, den amerikanischen Detektiv wiederzusehen.

„Ich muß hier Haussuchung abhalten!“ erklärte er kurz. „Sie können mir
es verweigern, würden sich aber dadurch in den Verdacht der Hehlerei
bringen. Das kann Ihnen als Beamter nicht angenehm sein. Lassen Sie mir
freie Hand, helfen Sie mir mitsuchen, dann bleibt die Sache unter uns.
Mir ist es nur um die Herbeischaffung der zwei Millionen zu tun.“

„Bitte sehr!“ sprach Minkwitz zuvorkommend. „Suchen Sie nur. Aber sagen
Sie mir Bescheid, wenn Sie zwei Millionen gefunden haben. Ich möchte
auch mal so viel Geld auf einem Haufen sehen. Aber helfen werde ich
Ihnen nicht. Ich geh schlafen.“

Dodd untersuchte zuerst das Bett, dann Minkwitzens Kleider, dann das
Schlafzimmer und schloß es ab.

Und dann suchte er weiter, vom Keller bis zum Dachboden, die
elektrische Taschenlampe in der Hand. Es war einfach ausgeschlossen,
daß sich etwas vor seinem logisch und systematisch geschulten Spürsinn
verbergen konnte. Die unmöglichsten Dinge stöberte er auf, besonders
auf dem Boden, wo allerhand langjähriger ausgedienter Hausrat, noch von
Minkwitzens Vorgängern stammend, herumlag.

Und Dodd suchte mit einer geradezu bewundernswerten Ausdauer, jede
Dachsparre betrachtete er eingehend und fand nicht einen roten Heller,
geschweige denn zwei Millionen Dollar. Um drei Uhr nachts schloß er das
Schlafzimmer wieder auf, verabschiedete sich kurz von Minkwitz, der
sich auf die andere Seite legte und weiterschlief, und trat durch die
Haustür ins Freie.

Und da erblickte er in der Dunkelheit die beiden Bienenstöcke. Wie ein
Pfeil schnellte er auf sie zu, beleuchtete die Tür des ersten und fand
wohlbekannte Fingerspuren daran.

Vorsichtig öffnete er die Tür und begann die Strohdecken wegzunehmen.
Er war kein Imker und hatte zudem nur eine Hand frei. Mit der anderen
mußte er die Taschenlaterne halten. Schön warm war es im Stock, und die
Bienen wurden lebendig. Das grelle Licht machte sie sogar wütend.

In demselben Augenblicke, als er die Hand nach einem Paketchen
ausstreckte, das über den Waben lag, bekam er den ersten Stich.

Rasch zog er die Hand zurück.

„Vorsicht!“ flüsterte er und fand unter dem Dach des Stockes eine lange
Zange, womit er den verdächtigen Gegenstand herausfischte.

Es war die ihm sehr vertraute Brieftasche von Peter Voß. Die 4000
Dollar, sechs Hundertmarkscheine nebst Feilen und Sägen lagen darin.
Er steckte sie ein und legte später das Legitimationspapier, das er
Emil Popel abgenommen hatte, dazu.

Die zweitausend Mille werden nicht weit davon sein! dachte er ganz
logisch und machte sich daran, die Waben aus der oberen Etage in die
untere, leere zu hängen. Jetzt aber fingen die Bienen an, den Humor
zu verlieren. Es blieb ihm nichts übrig, als im Finstern weiter zu
arbeiten, denn sobald das Licht aufblitzte, hatte er einige dieser
rabiaten Immen im Gesicht zu kleben.

Etwas mühsam! dachte er kaltblütig, ohne sich abschrecken zu lassen.
In diesem Stock fanden sich die Millionen nicht. Schnell packte er die
Strohmatten hinein und schloß ihn.

Jetzt kam der andere Stock an die Reihe.

Der Gedanke, daß die zwei Millionen in diesem zweiten Stock lagen, war
ihm nun zur absoluten Gewißheit geworden. Und mutig ging er gegen die
Waben vor, die voll schwarzer, ganz gefährlich summender Bienen hingen.

Jetzt ließ er stechen, was stechen wollte! Immer hastiger wurden seine
Bewegungen, den Stock bis zur hintersten Wabe zu durchforschen. Als er
die letzte Wabe herauszog, stürzte ein Klümpchen der kleinen schwarzen
Bestien auf den Boden des Stockes. Im Nu zerteilte er sich. Zwanzig
Stachel bohrten sich ihm gleichzeitig ins Gesicht. Nur noch einen
letzten Blick wagte er in den Stock zu werfen.

Das Geld war wirklich nicht darin!

Dann nahm er Reißaus. In der Eile verfehlte er die Gartenpforte und
setzte über den Zaun, wo er am Stacheldraht die Hälfte seines linken
Ueberrockflügels zurückließ.

Zu Fuß legte er den Weg nach Strienau zurück. Morgens gegen fünf
Uhr traf er im Hotel ein. Der verschlafene Hausknecht, den er
herausklingelte, erkannte ihn nicht wieder, so verschwollen war die
nähere und weitere Umgebung seiner Nase. Er konnte kaum aus den Augen
sehen. Mit wilder Hast stürmte er die Treppen hinauf und vergrub das
brennende Gesicht in der Waschschüssel. An Schlaf war nicht zu denken.
Er mußte in einem fort kühlen und immer wieder kühlen.

Morgens um acht Uhr, als es hell wurde, lag er auf dem Sofa, ein nasses
Handtuch über sein verbeultes Gesicht gebreitet, und gab sich Mühe,
seinen Schmerz mannhaft zu verbeißen. Nicht einmal auf die Straße
durfte er sich wagen! Noch viel weniger ins Zuchthaus gehen.

Allein die Millionen lagen sicherlich bei dem Landgerichtsrat! Das war
wenigstens ein Erfolg.

Um diese Zeit ging Minkwitz, kurz bevor die Schule begann, in den
Garten. Hier entdeckte er sofort den Einbruch in die Bienenstöcke,
denn der zweite Stock stand offen.

Aergerlich über diese Frechheit des Amerikaners entfernte er die Spuren
des nächtlichen Einbruchs. Dann ging er ins Schulzimmer, ließ das
Morgengebet sprechen und behandelte mit den Kindern der Mittelstufe das
siebente Gebot.



13.


Peter Voß hatte sich in Breslau inzwischen umkostümiert. Ein
Trödler hinter dem Neumarkt nahm den schönen landgerichtsrätlichen
Biberpelz gegen einen lächerlich geringen Preis in Zahlung, und
Peter Voß ging aus dem dunklen Laden mit der schäbigen Eleganz eines
heruntergekommenen Hausmaklers hervor.

Bei der Umkleidung hatte er bemerkt, daß er die Schlüssel des Onkels
in der Eile mit eingesteckt hatte. Auf dem nächsten Postamt legte
er sie in eine leere Zigarrenkiste, tat die goldene Brille, die ihm
jetzt nur hinderlich war, dazu und überlegte, ob er Polly nicht einen
schönen Gruß mitschicken sollte. Er riß ein Telegrammformular vom
Nagel und setzte die Feder an. Aber getreu seinem Grundsatz, lieber
ein bißchen mehr Vorsicht anwenden, als gerade nötig war, und um sich
im Chiffrieren zu üben, schrieb er die Mitteilung nicht in Buchstaben,
sondern in Zahlen nieder. Zu dem Zweck bezeichnete er die Buchstaben
des Alphabets mit den Ziffern von 1-24, doch so, daß er zuerst die
ungeraden und dann die geraden Zahlen nahm.

Mochte sich der Onkel ein bißchen den Kopf zerbrechen! Er würde es
schließlich doch herauskriegen.

Und überdies war die Mitteilung, die er schließlich auch jederzeit
widerrufen konnte, nur vorbereitender Natur. Dann legte Peter Voß das
Formular in die Zigarrenkiste und schickte sie, gehörig verschnürt und
mit der Adresse versehen, eingeschrieben an den Landgerichtsrat Pätsch.

Dann überlegte er, wie er seine Brieftasche aus dem Bienenstock in
Pograu wiederbekommen könnte. Am sichersten war’s, er holte sie sich
selbst. Und da er sich über Strienau nicht wagen durfte, wollte er es
von der anderen Seite versuchen.

Aber es eilte damit nicht. Erst mußte er sich einen russischen Paß
besorgen. In Berlin, das wußte er, konnte er leicht einen bekommen.
Aber er blieb vorerst in dem gemütlichen Breslau, schlief in einem sehr
anrüchigen Gasthaus einer versteckten Winkelstraße, wo die dunkelsten
Ehrenmänner zu verkehren pflegten, und nannte sich ganz unverfänglich
Franz Lehmann.

In einem Blatt fand er die erfreuliche Nachricht, daß der Sträfling
Emil Popel auf eine geradezu raffinierte Art und Weise aus dem
Strienauer Zuchthaus entwichen war. Auf seine Ergreifung und
Wiedereinlieferung war keine Belohnung ausgesetzt worden. Ein
Urkundenfälscher war der Justiz nicht so wertvoll wie ein Millionendieb.

Dodd hatte den ganzen Vormittag sein Gesicht mit Salmiakgeist behandelt
und konnte gegen Mittag riskieren, wieder unter die Leute zu gehen. Er
fuhr in der Droschke zum Zuchthaus und hörte hier von dem Direktor, wie
der vermeintliche Emil Popel den Weg zur Freiheit gefunden hatte.

Dodd verzog keine Miene. Der Ausnahmezustand seines Gesichts war dazu
nicht sonderlich geeignet.

„Wissen Sie auch,“ fragte er den Direktor, „daß der Landgerichtsrat
Pätsch der Onkel dieses von mir verfolgten Peter Voß ist?“

„Was wollen Sie damit sagen?“ rief der Direktor empört.

„Nicht viel mehr,“ versetzte Dodd, „als daß ich diese Flucht für das
Resultat einer Verabredung zwischen Onkel und Neffen halte.“

„Herr!“ fuhr der Direktor entrüstet auf. „Welch einen Verdacht wagen
Sie da auszusprechen. Sie bezichtigen ja den Landgerichtsrat geradezu
der Gefangenenbefreiung!“

„Das tue ich!“ sagte Dodd kühl. „Weil ich von Ihnen soeben gehört habe,
daß der Mann, den Sie für Emil Popel, ich aber für Peter Voß halte,
nach der Flucht in das Haus des Landgerichtsrats Pätsch eingedrungen
ist. Seine Frau war anwesend und hat ihm weitergeholfen. Ihre Ausrede,
daß sie den Flüchtigen für den Landgerichtsrat gehalten hat, ist
unglaubwürdig.“

„Aber das ist ja Wahnsinn!“ rief der Direktor und griff sich an die
Stirn.

„Durchaus nicht!“ antwortete Dodd. „Warum soll ein Landgerichtsrat
gerade gegen die unheimlich bestechende Wirkung von zwei Millionen
Dollar gefeit sein? Sein Gehalt beträgt nicht acht Millionen Mark.
Ferner habe ich mich längst davon überzeugt, daß Onkel und Neffe sich
sehr ähnlich sehen.“

„Na also!“ rief der Direktor. „Daher die Verwechslung mit dem
Landgerichtsrat.“

„Sie halten Peter Voß doch für Emil Popel!“ warf Dodd ein.

„Nein! Ja!“ rief der Direktor, dem die Sache nun doch zu bunt wurde.
„Das Ganze ist nichts anderes als eine amerikanische Phantasterei.“

Dodd erhob sich. Er hatte kein Interesse mehr daran, den Direktor eines
Besseren zu überzeugen. Peter Voß war nicht mehr im Zuchthaus, also
mußte er irgendwo anders gefaßt werden, falls die Millionen nicht bei
dem Landgerichtsrat lagen.

Es galt jetzt, das Versteck zu finden, ohne daß die beiden Komplicen
Argwohn schöpften.

Er fuhr ins Hotel zurück und entnahm dem einen seiner Koffer eine
geflickte, blaue Arbeitsbluse, ein Paar teerfleckige Hosen, eine
schmierige Mütze und machte sich im Gesicht und an den Händen
einige Schmutzflecke. Dann steckte er in die Brusttasche ein Bund
Nachschlüssel und in die Hosentasche Rohrzange, Meißel und Feilen, und
der Gasarbeiter als Einbrecher war fertig.

In diesem Aufzuge begab er sich auf die Feldstraße und untersuchte
eingehend die ersten drei Gaslaternen von der Ecke an gerechnet.
Die dritte stand vor dem 25. Hause. Nach einer halben Stunde traten
der Landgerichtsrat und Polly heraus, offenbar angelockt von dem
strahlenden Wetter. Dem Onkel hatte der gestrige Baldriantee so gut
getan, daß er weder im Bett noch im Zimmer zu halten war, sondern
durchaus seinen Spaziergang machen wollte.

Kaum waren sie um die Ecke, begehrte der vermeintliche Gasarbeiter
Einlaß. Die unverehelichte Martha Zippel öffnete, aber die
Sicherheitskette löste sie vorerst nicht.

„Ich muß die Gasleitungen untersuchen!“ sagte Dodd mürrisch und fuhr
sich mit den Teerfingern ins Gesicht, als wenn er sich schneuzen müßte.

„Bei uns ist alles in Ordnung!“ erwiderte die Haushälterin und wollte
die Tür zuschlagen.

Aber er hatte schon den Fuß zwischen Tür und Schwelle gesetzt.

„Das können Sie gar nicht beurteilen!“ meinte er ärgerlich. „Ehe Sie
sich’s versehen, kommt eine Explosion, und die ganze Bude fliegt in
die Luft. Und Sie mit. Wenn Sie mich nicht hineinlassen, hol ich die
Polizei.“

Nun bekam sie es doch mit der Angst, und die Sicherheitskette fiel.

Zuerst ging er in den Keller, wo die Gasmesser standen, und leuchtete
mit dem brennenden Streichholz die Röhren entlang. Wie ein richtiger
Gasarbeiter, der es mit seiner Aufgabe außerordentlich genau nimmt,
klopfte er auch die Wände ab.

Die Haushälterin schaute ihm eine Weile zu, dann wurde es ihr doch zu
langweilig, und sie ging wieder in die Küche hinauf.

Darauf hatte er nur gewartet. Er ließ die Gasröhren und Streichhölzer,
zog die elektrische Taschenlampe und begann den ganzen Keller zu
durchsuchen. Sogar die Gläser mit dem Eingemachten nahm er vom Bord
herunter. Kein Winkel, kein Kasten, keine Mauernische war vor ihm
sicher. Selbst in dem Kohlenhaufen wühlte er herum. Das ging nicht ohne
Rumor ab.

„Was machen Sie denn da?“ rief die Haushälterin von oben. „Sind Sie
denn noch nicht fertig?“

„Nur Geduld!“ erwiderte er und kam die Kellertreppe herauf. „Da unten
ist alles in Ordnung. Was ist denn das hier für ein Zimmer?“

Ohne ihre Antwort abzuwarten, trat er ins Schlafzimmer und kroch
zunächst unter das breite Bett des Landgerichtsrats.

„Da sind doch gar keine Gasröhren!“ rief sie.

„Aber Gas!“ belehrte er sie und krebste mit Händen und Füßen weiter.
„Wenn nämlich so ein Gasrohr in der Mauer platzt, dann dringt das Gas
in die Wände und kommt irgendwo heraus, wo man es gar nicht ahnt.“

Und wieder strich er ein Streichholz an.

„Aber ich rieche doch nichts!“ begehrte sie auf.

„Dann schaffen Sie sich nur eine bessere Nase an!“ riet er ihr
wohlwollend. „Ich rieche es. Und wo ich was rieche, da muß ich meine
Pflicht tun. Sie brauchen gar keine Angst zu haben, daß ich was
einstecke. Wenn ich hier aus dem Hause gehe, werde ich meine Taschen
umkehren, nur damit Sie ruhig schlafen können.“

Da ließ sie ihn wieder allein, und er durchsuchte das ganze
Schlafzimmer von unten bis oben, von einer Ecke bis zur anderen. Er
klopfte die Wände ab, um Gasröhren zu suchen und um Millionen zu finden.

Plötzlich klang die Wand hohl. Da befand sich ein Stahlschränkchen.
Aber weder Türritze noch Schlüsselloch waren zu entdecken.

Aha! dachte er und ging ins Nebenzimmer, wo der Schreibtisch des
Landgerichtsrats stand. Hier fand er die Tür des Wandschränkchens mit
einem kunstvoll geschnittenen Schlüsselloch. Aber er zog nicht die
Nachschlüssel heraus. Der breite Schreibtisch, dessen Türen und Fächer
unverschlossen waren, erweckte sein Interesse in weit höherem Maße.
Fanden sich hier die Millionen, dann brauchte er nicht das Schränkchen
zu öffnen. Mit schnellen Fingern begann er in den Fächern zu wühlen,
immer bereit, auf den nächsten Stuhl zu springen, von dem aus er die
Gaskrone, die in der Mitte des Zimmers hing, erreichen konnte.

Doch die Haushälterin ließ ihn in Frieden. Aber weder die Millionen
noch irgend ein Beweis für das Einverständnis zwischen Onkel und
Neffen kamen zum Vorschein. Nun machte sich Dodd an den breiten,
zweitürigen Bücherschrank, ohne aber irgendwie seinem Ziele näherkommen
zu können. Endlich war noch eine alte geschnitzte Truhe und das
Zigarrenschränkchen zu untersuchen. Als diese Arbeit beendet war, hatte
sich die Wahrscheinlichkeit, daß die beiden Millionen im Wandschrank
lagen, bedeutend erhöht.

Jetzt half nichts mehr, das Schloß mußte daran glauben. Schon zuckte
seine Hand nach dem Schlüsselbund, da erklang draußen die Glocke. Der
Landgerichtsrat und Polly, von dem Spaziergang aufs beste angeregt und
erfrischt, kamen zurück.

Sofort sprang Dodd zum Schreibtisch und fuhr mit dem brennenden
Streichholz an dem Gummischlauch der Schreibtischlampe hin und her.

„Nanu?“ rief der Rat, als er ins Zimmer trat und den fremden Mann
bemerkte. „Was machen Sie denn hier?“

„Er kontrolliert die Gasleitung!“ erklärte die Wirtschafterin.

„Ach so!“ sagte der Rat und ließ sich in den weichen Sessel am Fenster
gleiten, wo er sich mit Behagen eine von seinen nikotinfreien Zigarren
ansteckte.

Den Nervenchok von gestern schien er völlig überwunden zu haben.

Polly nahm ihm gegenüber Platz. Dodd kontrollierte seine Gasleitung
und beobachtete die beiden heimlich. Aber sie sprachen nur von
gleichgültigen Dingen und von den Leuten, die sie unterwegs getroffen
hatten.

Da kam die Wirtschafterin herein und verlangte eine größere Summe
Geldes, um eine Rechnung zu bezahlen. Der Rat erhob sich sofort und
griff in die Tasche.

„Wo sind denn meine Schlüssel?“ fragte er verwundert.

Polly wurde rot, sie dachte sofort an Peter.

„Also hat dieser Emil Popel auch meine Schlüssel mitgehen heißen?“ rief
der Rat mehr vergnügt als ärgerlich und wandte sich darauf an Dodd.
„Sie, Gasmann, können Sie wohl ein Schloß aufmachen?“

„Ja!“ erwiderte Dodd mürrisch. „Wenn ich nur einen guten Nachschlüssel
habe. Schicken Sie doch die Haushälterin zum nächsten Schlosser!“

Martha Zippel mußte laufen. Dodd beschäftigte sich weiter mit seinen
geliebten Gasröhren, turnte auf den Tisch und leuchtete das Rohr an der
Decke ab, das zur Gaskrone führte. Zufällig fiel sein Blick zum Fenster
hinaus, wo eben ein gelber Postwagen um die Ecke bog und vor dem Hause
hielt. Der Postbeamte brachte ein kleines Paket, so groß wie eine
Zigarrenkiste. Polly öffnete der Kürze halber das Fenster.

„Es scheint ein Schlüsselbund drin zu sein!“ meinte der Beamte und
bedankte sich für das Trinkgeld.

„In der Tat!“ sprach der Rat sichtlich erfreut, nachdem er die Schnur
durchschnitten und die Kiste geöffnet hatte. „Dieser Emil Popel besitzt
mehr Anstand, als ich glaubte.“

Dann brachte er ein ziemlich großes Bund durch täglichen Gebrauch
blankgeschliffener Schlüssel heraus.

Polly packte unterdessen die goldene Brille aus.

„Sieh da!“ rief der Rat, auf das angenehmste überrascht, und bekam
plötzlich ein Telegrammformular in die Finger.

In diesem Augenblick trat die Haushälterin mit den Nachschlüsseln
herein.

„Es ist nicht mehr nötig!“ winkte ihr der Landgerichtsrat ab. „Ich habe
soeben die Schlüssel wiederbekommen.“

Die unverehelichte Martha Zippel stand, als wüßte sie nicht aus noch
ein, während der Landgerichtsrat das Wandschränkchen öffnete, ihm
einiges Geld entnahm, das Telegrammformular hineinlegte und die kleine
Eisentür wieder verschloß.

Dodd entging nicht die kleinste Bewegung.

„Hier haben Sie Geld!“ sagte der Rat zur Haushälterin. „Und die
Nachschlüssel tragen Sie nur gleich wieder zurück.“

„Schließen Sie aber vorher den Haupthahn zu!“ sagte Dodd von oben
herab. „Ich muß die ganze Krone auseinandernehmen. Es wird gleich
schlecht riechen im Zimmer. Und geraucht darf jetzt hier drin auch
nicht werden.“

„Da ist es wohl besser, wir gehen so lange in dein Zimmer hinauf!“
sprach der Rat zu Polly.

Und Dodd war endlich wieder allein. Er schraubte jedoch nicht die
Gaskrone auseinander, sondern ging sofort mit seinen Nachschlüsseln
dem Wandtresor zu Leibe. Das nicht allzu kunstvoll gebaute Schloß
konnte seiner langjährigen Uebung nicht widerstehen. Die Tür gab nach,
aber die zwei Millionen kamen nicht zum Vorschein. Nur ein größerer
Betrag an Bargeld war vorhanden. Und für die Schuldscheine und
Hypothekenpapiere, die dabei lagen, interessierte sich Dodd nicht.

Was aber sein höchstes Interesse hervorrief, das war das
Telegrammformular, auf dem drei lange Reihen von Ziffern standen. Das
war eine chiffrierte Mitteilung von Peter Voß. Vielleicht gab sie über
den Aufenthalt der Millionen Aufschluß.

Dodd setzte sich kaltblütig an den Schreibtisch und nahm eine Abschrift
davon. Auch die Umhüllung des Pakets, die der Rat in den Papierkorb
geworfen hatte, steckte er ein. Dann legte er das Telegramm an seinen
alten Platz zurück und verschloß den Schrank.

Noch eine Stunde suchte er in der Wohnung herum, bis er sich zu der
Ueberzeugung bequemen mußte, daß das Geld anderswo versteckt war. Im
25. Hause auf der Feldstraße war es nicht.

„Sind Sie endlich fertig?“ giftete sich die Haushälterin, als der die
Haustür öffnete. „Drehen Sie einmal Ihre Taschen um.“

„Guten Abend!“ sagte Dodd und ging hinaus.

Im Hotel angekommen, verwandelte er sich wieder in den Gentleman und
machte sich an die Enträtselung der Ziffernreihen. Bald hatte er den
Schlüssel gefunden und konnte die vielsagenden Worte zusammenstellen:
Berlin, nicht Warschau. Genaue Zeit und Treffpunkt kommt telegraphisch.
Tausend Grüße an Dich und Onkel. Dein Peter.

Dann prüfte Dodd die Umhüllung des Pakets. Es war in Breslau aufgegeben
worden.

Um dieselbe Zeit hatte auch der Onkel das Telegramm entziffert. Polly
wollte sofort nach Berlin abreisen. Aber der Onkel mahnte zur Geduld.
Nun sollte er ihr versprechen, sie zu begleiten.

„Nach Berlin?“ lächelte er. „Dorthin findest du schon allein.“

Nachdenklich schritt Dodd in seinem Zimmer auf und ab. Seine
Voraussetzungen waren bestätigt worden. Der Defraudant stand mit dem
Landgerichtsrat in bestem Einvernehmen und durch dessen Einfluß war
Polly mit ins Komplott gezogen worden.

Und hier wurde Dodd von seiner beruflichen Härte verlassen. Polly
konnte er sich als Hehlerin durchaus nicht vorstellen. Um sie zu
retten, mußte Peter Voß vernichtet werden. Dieser Mann war gar nicht
verrückt! Ins Zuchthaus gehörte er, nicht ins Sanatorium! Der Vertrag
mit Polly war gelöst. Jetzt hatte Dodd in der Auswahl seiner Mittel
freie Hand. Und er schwor es sich zu, diesem Verbrecher gegenüber
gleich zu den schärfsten Mitteln zu greifen.

Er holte nun aus dem Koffer zwei feine stählerne Handfesseln, steckte
die eine in die Tasche seines neuen Ueberrockes, denn der alte hing zum
Teil am Stacheldraht des Pograuer Schulzaunes, und die andere Fessel
zur Reserve in die Handtasche.

Darauf ließ er sich telephonisch mit dem Hause des Landgerichtsrats
verbinden und hatte Glück, daß sich die Haushälterin meldete. Er gab
sich zu erkennen und bat um ihre Hilfe. Dazu war sie mit Freuden
bereit.

„Ich muß Sie heute Abend noch sprechen!“ sagte er. „Ich bin gegen elf
Uhr an der Küchentür.“

Die unverehelichte Martha Zippel erwartete ihn und ließ ihn ein.

„Sie sind schon zu Bett gegangen!“ flüsterte sie.

Dodd beruhigte sie zunächst darüber, daß er nichts gegen den
Landgerichtsrat vorhätte, sondern nur gegen den Besuch.

„Diese Frau ist eine Verbrecherin!“ sagte er leise. „Ich will ja nicht
behaupten, daß sie dem Herrn Rat nach dem Leben trachtet, aber passen
Sie gut auf, sie hat es jedenfalls auf ihn abgesehen.“

„O Gott!“ entfuhr es der Haushälterin. „Ich denke, die ist schon
verheiratet!“

„So eine Amerikanerin setzt sich über alles hinweg. Horchen Sie nur
fleißig an den Türen. Sie erweisen dem Herrn Rat einen großen Dienst
damit. Er wird es Ihnen später noch einmal danken, wenn er es jetzt
auch noch nicht einsieht. Schreiben Sie alles, was Sie Verdächtiges
sehen und hören, auf und schicken Sie es mir ins Hotel „Zum goldenen
Kreuz“. Oder noch besser, geben Sie es für mich beim Portier ab. Vor
allen Dingen suchen Sie die Telegramme zu erwischen. Durchsuchen Sie
stets den Papierkorb. Die Telegramme, die nur Ziffern enthalten, sind
mir besonders wichtig. Wenn irgend etwas am Tage vorfällt, komme ich um
elf Uhr abends hierher. Es soll Ihr Schaden nicht sein.“

Und damit drückte er ihr ein Zwanzigmarkstück in die Hand, kehrte ins
Hotel zurück und wartete. Nur in der Dunkelheit ging er aus, und dann
noch verkleidet, um die beiden Komplicen nicht argwöhnisch zu machen.

Aber es kam vorläufig nichts an den Tag, wie sehr auch die Haushälterin
die Ohren spitzte und den Papierkorb durchwühlte. Es kam kein Telegramm
aus Berlin noch sonstwoher.

Doch Dodd war zähe und blieb in Strienau. Solange Polly da war, hatte
er nicht den geringsten Grund, abzureisen. Wie die Sachen jetzt lagen,
brauchte er sich nur an ihre Fersen zu heften, um sicher auf Peter Voß
zu stoßen.

Am vierten Abend nach der Flucht ging Dodd in der Dämmerung über die
Bahnhofstraße. Der Landgerichtsrat und Polly kamen ihm entgegen.
Schnell drückte er sich in den Schatten eines Baumes und hörte, wie
Polly sehr lustig auflachte und sich eng an den alten Herrn schmiegte.

Sollte sie so verdorben sein? fragte sich Dodd wehmütig.

Und er blieb in Strienau, Peter Voß in Breslau, bis der Vorrat im
Portemonnaie des Onkels auf die Neige ging. Dann fuhr er vierter Klasse
nach Berlin.



14.


In Berlin machte sich Peter Voß _alias_ Franz Lehmann sofort daran,
mit dem Manne in Verbindung zu treten, der einen schwungvollen Handel
mit guten unverfälschten Legitimationspapieren trieb. Er selbst bekam
diesen dunklen Ehrenmann nicht zu Gesicht. Die Papiere gingen durch
drei, vier Hände, ehe sie zu ihm gelangten. An russischen Pässen war
kein Mangel. Peter Voß zahlte die Taxe, wobei der Inhaltsrest des
landgerichtsrätlichen Portemonnaies dahinschwand, und bekam zwei
schöne, vertrauenerweckende Papiere mit einem Signalement, das mit den
Angaben des Fahndungsblattes aufs Haar genau übereinstimmte. Es war ein
russischer Paß, der auf den Studenten Iwan Basarow lautete, und ein
deutsches Militärpapier, das für den Hausknecht Xaver Tielemann aus
Feldmoching bei München ausgestellt worden war.

Mit kritischen Blicken musterte Peter Voß diese Namen.

Zuerst wollte er es als Xaver Tielemann versuchen.

Eine halbe Stunde später stand er vor dem Generaldirektor des
Esplanade-Hotels in Berlin. Es war ein vornehmer Herr, der mühelos die
fünf Weltsprachen beherrschte, nur Russisch konnte er nicht. Damit
konnte aber Peter Voß aufwarten.

„Wo sind Sie zuletzt in Stellung gewesen?“ fragte der Generaldirektor,
dem dieser Xaver Tielemann auf den ersten Blick gefiel.

„Als Obersteward auf einem amerikanischen Dampfer,“ erklärte Peter Voß
mit eiserner Stirn. „Wir haben bei Kap Hatteras Schiffbruch erlitten,
wobei ich meine ganzen Effekten verloren habe. Ich habe mich dann als
Trimmer herüberarbeiten müssen.“

„Es ist zwar keine Stelle frei,“ sagte der Generaldirektor. „Aber wir
können Sie ja einmal versuchsweise einstellen als Hausdiener, für den
Gepäckfahrstuhl und die Zimmer 200-240.“

So wurde Peter Voß als Xaver Tielemann Hausdiener im Esplanade-Hotel.

Er ließ sich den Bart abnehmen, erhielt eine grüne Schürze und eine
grüne Mütze mit geradem Schild, auf der der Name Esplanade in goldenen
Messingbuchstaben glänzte, und stellte sich im Hoteleingang an den
Gepäckaufzug. Der würdevolle Portier war sein direkter Vorgesetzter.

Um neun Uhr abends kam das langersehnte Telegramm in Strienau an,
eine halbe Stunde später hatte es der Landgerichtsrat entziffert. Es
lautete: „Erwarte Dich umgehend Hotel Esplanade Berlin, Zimmer 200-240.
Peter.“

Polly packte sofort ihre Koffer und wollte noch mit dem Abendzug
abreisen.

„Aber Kind!“ rief der Onkel beinahe eifersüchtig. „So eilt die Sache
denn doch nicht.“

Also wurde die Reise auf den nächsten Morgen festgesetzt. Polly
bestellte das Frühstück bei Martha Zippel, und zwar eine halbe Stunde
früher als sonst.

Die lag schon längst auf dem Sprunge, das Telegramm zu erwischen. Der
Landgerichtsrat zerriß es dreimal und warf es in den Papierkorb. Es
hatte seine Schuldigkeit getan.

Die Haushälterin schlief diese Nacht ebenso schlecht wie Polly; bei
Polly war die freudige Aufregung der Grund, bei Martha Zippel das böse
Gewissen.

Zwei Stunden vor Polly erhob sie sich und schlich zum Papierkorb, den
sie seit Wochen unter strengster Aufsicht hielt. Jeden Tag leerte
sie ihn. Diesmal lag nichts weiter darin als die acht Stücke des
zerrissenen Telegramms. Schnell ließ sie diese wohl beschädigte, aber
durchaus nicht vernichtete Posturkunde in der Tasche verschwinden.

Dann lief sie mit dem Marktkorb davon.

Zehn Minuten später pochte sie an Bobby Dodds Hotelzimmertür. Er putzte
sich gerade die Zähne.

„Sie fährt heut morgen nach Berlin!“ flüsterte sie hastig und legte das
Telegramm auf den Tisch.

„Ich auch!“ erwiderte Dodd und setzte seine Toilette fort. „Falls ich
ihn erwische, werde ich dafür Sorge tragen, daß Ihnen die Belohnung von
2000 Dollar ausgezahlt wird.“

Martha Zippel verdrehte die Augen und verabschiedete sich mit einem
tiefen, dankbaren Knicks. Dodd schaute nach der Uhr, klingelte dem
Kellner, bezahlte die Rechnung, gab Befehl, sein Gepäck an den Berliner
Zug zu befördern, klebte das zerrissene Telegramm sorgfältig zusammen,
steckte es ein und verwandelte sich wieder in den alten Theaterherrn.

Eine Stunde später stieg er in die Droschke, um zum Bahnhof zu fahren.
Der Portier griff verwundert an das Mützenschild. Den Gast sah er zum
ersten Male.

Polly und der Landgerichtsrat standen schon auf dem Perron und
warteten. Dodd hielt sich in respektvoller Entfernung.

Sein Herz fing wieder Feuer. Frisch und rosig glänzten Pollys Wangen.
Ihre Augen leuchteten. Aufgeregt schwatzte sie mit dem Onkel.

„Und das alles um einen infamen Millionendieb!“ knirschte Dodd und
ballte die Faust in der Tasche seines Ueberziehers, wo die blanke
Stahlfessel leise klirrte, bereit zum sofortigen Gebrauch.

Brausend schoß der Eilzug heran, und pustend rollte er nach einem
Aufenthalt von einer Minute davon. Polly ließ ihr Taschentuch flattern,
und der Onkel schwenkte den Hut.

Dodd aber vertiefte sich in die Geheimschrift des Telegramms. Da sich
Peter Voß bei der Niederschrift des alten Schlüssels bedient hatte, war
das Entziffern nicht schwer.

Zimmer 200-240? las er mit einiger Verwunderung. Er logiert also
bereits in einem dieser Zimmer. Das vereinfacht die Sache wesentlich.

Im Speisewagen ließ sich Polly nicht blicken. Erst in Berlin bekam er
sie wieder zu Gesicht. Auf dem Bahnhof Friedrichstraße stieg sie aus
und fuhr im Automobil zum Hotel Esplanade.

Dodd hatte es nicht so eilig. Er übergab seinen Gepäckschein einem
Dienstmann mit der Weisung, die beiden großen Koffer und die
Handtasche, deren Verschluß er sorgsam prüfte, ins Hotel Esplanade zu
schaffen.

Dann fuhr er aufs Polizeipräsidium, um sich zu legitimieren und sich
die Unterstützung der Behörde zu sichern. Nach einer viertelstündigen
Konferenz mit dem Direktor der Kriminalabteilung machte sich Dodd in
Begleitung eines mittleren Beamten in Zivil nach dem Esplanade-Hotel
auf.

Hier war Polly eben abgestiegen und hatte sich Zimmer 217 geben lassen.
Xaver Tielemann _alias_ Peter Voß hatte sie nicht ankommen sehen, denn
er war gerade mit dem Gepäckfahrstuhl im dritten Stock. Aber ihren
Koffer kannte er um so genauer. Er stürmte damit den Gang entlang und
platzte, ohne anzuklopfen, ins Zimmer hinein. Polly hatte gerade ihren
Hut abgelegt und ordnete sich vor dem Spiegel ihr Haar.

„Empörend!“ rief sie außer sich. „Können Sie denn nicht anklopfen?“

„Nein!“ grinste Xaver Tielemann, der Hausdiener, stellte den Koffer auf
den Bock, schloß die Tür ab und ging auf Polly los. „Hier wird das so
gemacht!“

Schon wollte sie losschreien, da erkannte sie ihn an seinen
Augenwinkeln.

„Peter!“ seufzte sie und sank ihm in die Arme. „Endlich!“

Zehn Minuten dauerte es, bis sie sich sattgeküßt hatten. Xaver
Tielemann sprang auf, nahm in die linke Hand seine Mütze, in die
rechte die Türklinke und machte ein linkische Verbeugung.

„Wünschen das gnädige Fräulein sonst noch was?“ grinste er höflich.

„Aber Peter!“ rief sie und die Freudentränen standen ihr in den Augen.
„Du bist hier wirklich Hausknecht?“

„Xaver Tielemann ist mein Name!“ erwiderte er mit einem Bückling. „Und
wenn das gnädige Fräulein wieder so nett zu mir sein will, dann komme
ich heut abend wieder. Aber nichts verraten!“

Er legte den Finger auf den Mund und war draußen. Polly sank auf einen
Stuhl und schaute wie geistesabwesend in den Spiegel.

„O Peter, Peter!“ seufzte sie halb glücklich, halb unglücklich. „Was
bist du doch für ein schrecklicher Mensch!“

Als Xaver Tielemann wieder mit seinem Fahrstuhl im Hausflur war, bekam
er von dem Portier einen gehörigen Rüffel. Ein ganzer Berg Koffer
wartete schon auf ihn. Mit hurtigen Griffen schleppte er sie zum
Fahrstuhl. Der Portier hatte auf jedes Gepäckstück die Zimmernummer mit
Kreide geschrieben.

„Wohin soll das?“ fragte der Hausdiener und wies auf die letzten beiden
Koffer und eine größere Tasche, die etwas abseits standen.

„Ist noch nicht bestimmt!“ erwiderte der Portier und drehte sich um.

Strienau! las Peter Voß mit steigendem Argwohn auf dem Bahnzettel
dieser drei Gepäckstücke. Sollte das Dodd sein?

Und sofort verschwand er mit der Tasche im Gepäckfahrstuhl. Leise zog
er die Tür zu und drehte den Hebel. In der dritten Etage hielt er an.
Hier konnte ihn keiner überraschen. Die Tasche trug am Schloßbügel
den Namen einer großen Kofferfirma in St. Louis. Da verging Peter Voß
der letzte Zweifel. Er stieg aus und holte sich aus dem Dienstzimmer
einen Draht. Den bog er so lange in dem Schloß herum, bis der Riegel
zurückschnappte. Das erste, was ihm in die Finger kam, war seine
Brieftasche.

Schon wollte er sie in seine Tasche stecken. Da stutzte er plötzlich.
Bemerkte Dodd den Verlust, mußte sein Verdacht sofort auf den
Hausdiener fallen.

Unter dieser Bedingung hätte Peter Voß sofort das Weite suchen müssen.
Aber das wollte er schon um Pollys willen nicht. Die 4000 Dollar liefen
ihm nicht fort. Rasch legte er die Brieftasche an den Ort zurück,
wo er sie gefunden hatte, da klirrte etwas. Eine feine, elegante
Stahlfessel mit zwei Handschellen. Er zog sie heraus. Das Ding konnte
ihm sehr unangenehm werden.

Muß konfisziert werden! dachte er und ließ sie in seine Hosentasche
gleiten.

Dann verschloß er die Handtasche und verteilte die einzelnen
Gepäckstücke in die Zimmer.

Die Handtasche nahm er wieder mit ins Vestibül hinunter und stellte sie
neben die beiden Koffer.

Jetzt hieß es, auf der Hut zu sein, um Dodd nicht gradenwegs in die
Arme zu laufen.

Der saß unterdessen mit dem Kriminalbeamten im Salon des Hoteldirektors
und weihte ihn in seine Mission ein.

„Ich werde natürlich mit der größten Vorsicht zu Werke gehen,“
beruhigte er ihn, „ich bitte aber um Ihr wertes Entgegenkommen. Es
kann Ihnen doch nicht angenehm sein, einen derartigen Verbrecher zu
beherbergen.“

„Weshalb nicht?“ gab der Generaldirektor lächelnd zurück. „Ich
unterscheide nur zwischen zahlungsfähigen und zahlungsunfähigen Gästen.“

„Die Dame hat Zimmer 217. Ich muß eins von den anliegenden Zimmern
haben,“ fuhr Dodd fort. „Vorausgesetzt, daß eine Tür dazwischen ist.“

„Gewiß! Zwischen den meisten unserer Zimmer sind Doppeltüren,“
erwiderte der Direktor und blätterte in der Tagesliste. „Aber beide
anliegende Zimmer sind besetzt.“

„Dann muß ein Gast umquartiert werden,“ sprach Dodd energisch. „Geben
Sie ihm ein besseres Zimmer.“

„Allright!“ antwortete der Direktor lächelnd. „Wenn er darauf eingeht
und Sie die Differenz bezahlen.“

Damit erklärte sich Dodd einverstanden. Der Direktor telephonierte
einmal nach Zimmer 218, dann nach Zimmer 216, dann mit der Zentrale,
und die Sache war für ihn erledigt. Der Gast aus 216 war damit
einverstanden, nach Zimmer 141 überzusiedeln.

„216!“ sagte der Portier und schrieb mit Kreide die Nummer an die
beiden Koffer und an die Handtasche. Xaver Tielemann trug die
Gepäckstücke in den Fahrstuhl.

Zwei Minuten später schleppte er sie in das Zimmer 216, wo der
ausquartierte Gast eben mit Packen beschäftigt war. Peter Voß
benachrichtigte seinen Kollegen vom unteren Korridor, die Sachen zu
holen.

Dodd ließ sich vorerst nicht sehen. Er war so diskret, seinen Vorgänger
erst ausziehen zu lassen.

Am besten ist es, ich kneife sofort aus! dachte Peter Voß und pochte an
die Tür des Nebenzimmers, um von Polly Abschied zu nehmen.

Doch sie war nicht da. Er bekam sie auch in den folgenden Stunden nicht
zu Gesicht, wie sehr er sich auch nach ihr umsah. Sie war offenbar
ausgegangen.

Um sechs Uhr wurde er abgelöst und zog sich in seine Schlafkammer
zurück. Er holte die Fessel ans Licht und studierte ihren Mechanismus.
Die Handschellen standen offen. Beim geringsten Druck schnappte ein
Haken ein, der sich automatisch sicherte. Peter Voß durchzuckte ein
guter Gedanke. Er suchte sich eine Feile und begann diese Haken zu
verbessern. Es war ein mühseliges Stück Arbeit. Aber seine Ausdauer
wurde belohnt. Er probierte mehrmals. Der Haken schnappte wohl ein,
aber er öffnete sich von selbst wieder, wenn man kräftig an der Kette
riß. Er legte sich die schmalen Stahlreifen an die Handgelenke, ließ
sie einschnappen und riß daran und sofort fielen sie ab. Nun blieb nur
übrig, die verbesserte Fessel wieder in Dodds Handtasche zurück zu
praktizieren. Doch das hatte seine Schwierigkeiten.

Dodd schickte sich inzwischen an, mit Zimmer 217 in kriminalistische
Verbindung zu treten. Zu diesem Zwecke entnahm er seinem Koffer ein
eigentümliches Instrument eigener Erfindung, den Empfänger eines
lautsprechenden Telephons, der wie ein Schlüssel geformt war. Die
aufnehmende Membrane hatte die Größe des Schlüsselbartes.

Er öffnete die innere Zwischentür und steckte das Instrument durch
das Schlüsselloch der zweiten. Die Schwierigkeiten, die sich ihm
entgegenstellten, besiegte er mit der ihm eigenen Hartnäckigkeit.
Zuerst überzeugte er sich, daß Polly nicht anwesend war, dann stieß
er den Schlüssel, der auf der anderen Seite steckte, zurück, daß er
klirrend herunterfiel, und verbog mit einem Meißel die jenseitige
Lochplatte. Nun schob er seinen niedlichen Apparat hindurch, so daß die
Membrane wie ein ovaler Knopf unter der Türklinke in das andere Zimmer
hineinragte, und schaltete den Strom ein, indem er den Kontakt in die
Steckdose seiner Nachttischlampe drückte.

Dann horchte er angespannt. Deutlich hörte er das Ticken einer
Taschenuhr. Und er nickte befriedigt. Auch das leiseste Gespräch
konnte man mit diesem ingeniösen Maschinchen behorchen, nur mußte man
aufpassen, daß der Apparat nicht lauter sprach als der Belauschte.

Zu diesem Zweck war ein veränderlicher Stromwiderstand eingeschaltet,
der vermittelst eines kleinen Hebels bedient werden konnte.

Dodd zog den Horcher zurück, schob den Meißel ins Schlüsselloch,
damit der drinnen heruntergefallene Schlüssel nicht wieder ins Loch
zurückgesteckt werden konnte, und wartete. Das war überhaupt seine
Stärke.

Gegen acht Uhr kehrte Polly heim und wartete auf Peter. Doch der saß
jetzt im Dienstzimmer und beobachtete den großen Schaltkasten an der
Wand, der bald diese, bald jene Nummer zeigte. Dazu gab es draußen auf
dem Korridor lautlose Lichtsignale.

Es war ihm im übrigen etwas schwül zumute. Am einfachsten war es,
Fersengeld zu geben, ohne erst von Polly Abschied zu nehmen. Denn daß
Dodd im Nebenzimmer auf der Lauer lag und jeden bei seiner Nachbarin
Aus- und Eintretenden überwachte, war so gut wie sicher. Er hätte es an
seiner Stelle genau so gemacht.

Dodd lauschte, das Ohr am Schlüsselloch, und stellte fest, daß
Polly außerordentlich unruhig war. Sie erwartete ihren Mann, den
Millionendefraudanten. Schließlich hielt sie es nicht mehr aus und
drückte auf den untersten Klingelknopf. Dodd streckte den Kopf durch
die Korridortür. Das Lichtsignal wies auf den Hausdiener.

Hm! dachte Dodd, ohne Argwohn zu schöpfen, und brachte wieder das Ohr
ans Schlüsselloch.

Ein Gespräch mit dem Hausdiener zu belauschen, dazu genügte sein
natürlicher Horchapparat.

„Nummer 217!“ rief ein Kellner. „Hausdiener!“

Xaver Tielemann hob den Kopf. Jetzt war es zu spät zum Auskneifen. Er
mußte ins Gefecht. Und er stand auf und tat seine Pflicht.

Ohne anzuklopfen, öffnete er Pollys Tür.

Das ist der Hausdiener nicht! dachte Dodd argwöhnisch. Sollte das schon
der Verbrecher sein?

Und schon hatte er die Gewißheit seiner Vermutung.

„Peter!“ rief Polly und fiel ihm um den Hals.

„Um Gottes willen!“ flüsterte er hastig. „Nur leise, Dodd ist nebenan.“

Dodd verstand nichts von dem, nur den Ausruf Pollys hatte er gehört.
Und der genügte ihm vollkommen. Er wich nicht von seinem Platze.

Zwei Wege standen ihm offen. Entweder sofort hinüberzustürzen und den
Mann zu verhaften, oder weiter zu lauschen. Es handelte sich aber in
erster Linie um die gestohlenen Millionen. Wie nahe lag es, daß die
beiden den Versteck des Geldes in ihrem Gespräch erwähnen würden.

Und sofort schob Dodd seinen Horchapparat geräuschlos durchs
Schlüsselloch. Das ging nicht allzuschnell. Bis der Strom
eingeschaltet war, hatte Peter Voß seine Frau bereits in alles
eingeweiht.

„Hast du Geld?“ fragte er leise.

Sie gab ihm alles, was sie hatte.

„Morgen früh reise ich nach Rußland!“ flüsterte er. „Du kehrst zum
Onkel zurück und wartest auf mein Telegramm.“

„Aber heut nacht bleibst du bei mir!“ erwiderte sie schämig.

„Wie gerne!“ erwiderte er leise und küßte sie herzhaft. „Aber es geht
wirklich nicht. Ich muß Stiefel putzen und Kleider bürsten.“

Jetzt begann Dodds Apparat zu arbeiten. Er hörte einen langen, innigen
Kuß und verzog schmerzhaft das Gesicht.

„Morgen früh zwischen fünf und sechs komme ich noch einmal!“ tönte des
Verbrechers Stimme deutlich aus der Horchkapsel.

Dann klappte die Tür.

Dodd fuhr mit dem Kopf auf den Korridor hinaus. Aber er kam um den
Bruchteil einer Sekunde zu spät. Der Verbrecher sauste eben um die Ecke.

„Macht nichts!“ schmunzelte Dodd und rieb sich die Hände. „Jetzt hab
ich ihn!“

Daß das Lichtsignal erloschen war, beachtete er nicht in seiner
freudigen Erregung. Für ihn logierte der Dieb als Hotelgast in einem
der Zimmer von 200-240.

Es ging auf zehn Uhr. Dodd stellte seinen Wecker auf vier Uhr und
kleidete sich aus. Auch die lästige Maske legte er ab. Den Anzug und
den Ueberrock hing er zum Reinigen in den kleinen Schrank zwischen den
Doppeltüren. Auch seine Stiefel stellte er hinaus. Die Handschellen
ließ er, seiner Gewohnheit nach, in der linken Ueberrocktasche stecken.
An denen vergriff sich doch keiner.

Dann legte er sich schlafen.

Um elf Uhr begann Xaver Tielemann die Stiefel der Gäste zu sammeln,
schrieb die Zimmernummern auf die Sohlen und trug sie in die
Putzkammer. Seine einmal übernommenen Pflichten wollte er wenigstens
noch einmal erfüllen. Und er schmierte und bürstete drauf los, daß
es nur so rauchte. Pollys kleine Stiefelchen nahm er zuerst vor und
erzeugte darauf einen Glanz, daß er sich darin spiegeln konnte. Bei
den andern gab er sich lange nicht so viel Mühe, und auf Dodds Stiefel
spuckte er nur verächtlich und fuhr einmal _pro forma_ mit der Bürste
darüber. Dann stellte er die Fußbekleidungsstücke wieder zwischen die
verschiedenen Doppeltüren und sammelte die Garderobenstücke. Dodds
Anzug und Ueberrock wollte er zur Strafe ungereinigt hängen lassen.

Da fühlte er etwas Hartes, sonderbar Geformtes in der Tasche des
Ueberrocks.

Noch eine Stahlfessel!

Und er änderte augenblicklich seine schnöde Absicht und nahm den
Ueberrock mit. In der Putzkammer angelangt, vertauschte er die beiden
Fesseln miteinander. Die unverbesserte steckte er ein, um sie morgen
aus der Eisenbahn zu werfen.

Dann bürstete er die Jacken und Hosen seiner Gäste, daß ihm der
Berliner Staub in Wolken um die Nase flog, und brachte alles wieder
an seinen Ort zurück. Damit waren seine Hausdienerpflichten erfüllt.
Es war ein Uhr. Er bat den wachthabenden Kellner, ihn um fünf Uhr zu
wecken, warf sich angekleidet aufs Lager und schlief sofort ein.

Um vier Uhr schnurrte Dodds Wecker. Da er die Zwischentür geschlossen
hatte, wurde Polly von dem Geräusch nicht geweckt, obschon sie sehr
unruhig schlief und alle Stunden nach der Uhr sah.

Leise holte er Stiefel, Anzug und Ueberrock herein, fühlte nach der
Handschelle und begann sich anzukleiden. In die rechte Tasche versenkte
er einen geladenen Revolver. Sogar den Hut tat er auf den Kopf. Dann
setzte er sich auf den Stuhl und nahm das Hörrohr in die Hand. Denn
das Gespräch der beiden mußte er auf jeden Fall belauschen. Sobald
der Verbrecher wieder aus dem Zimmer trat, wollte er ihn festnehmen.
Diesmal sollte er ihm nicht entschlüpfen!

Und er lauschte mit angespannter Aufmerksamkeit.

Kurz vor fünf Uhr erhob sich Polly und machte sehr schnell Toilette.
Sie hüllte sich in ihren Morgenrock und schob den Riegel zurück.

Noch eine Viertelstunde verging. Da huschten leise Schritte über
den Läufer, und die Tür nebenan wurde geöffnet und sofort wieder
geschlossen.

Wieder hörte Dodd einen langen, innigen Kuß, der ihm naturgemäß großes
Unbehagen verursachte.

„Du willst wirklich fort?“ flüsterte Polly.

„Es bleibt dabei!“ erwiderte Peter Voß ebenso leise, wie fest
entschlossen. „Ich gehe nach Rußland. Und du mußt sehen, wie du Dodd
abschütteln kannst. Eher können wir uns nicht treffen.“

„Aber wie soll ich das machen?“ seufzte sie an seinem Halse.

„Du mußt eben selbst dein Köpfchen anstrengen,“ erwiderte er. „Fahr
zum Onkel zurück, der wird schon wissen, was zu machen ist. Ich
telegraphiere frühestens von Warschau.“

Du wirst nicht nach Warschau kommen! dachte Dodd und schlich auf den
Korridor hinaus.

Noch fünf Minuten stand er, dann streckte Peter Voß seinen Kopf heraus,
um zu sehen, ob die Luft rein sei.

Mit einem fabelhaft schnellen Griff hatte ihn Dodd am Kragen und drehte
ihm die Luft ab.

Peter Voß schlug mit Armen und Beinen um sich und hatte plötzlich die
Fessel an den Handgelenken. Das brachte ihn sofort zur Besinnung.
Keuchend lehnte er in der offenen Doppeltür. Polly sank in Ohnmacht.

„Hinein!“ schnaubte Dodd und stieß den endlich erwischten Verbrecher
ins Zimmer. „Da in die Ecke und Hände hoch!“

Damit zog er den Revolver.

Peter Voß grinste, stellte sich in die Ecke und tat die Arme in die
Höhe. Die Kette, mit der er gefesselt war, maß etwas über einen Meter.
Sie spannte sich über seinem Kopfe. Aber er hütete sich, sie zu stark
anzuziehen.

Immer mit der rechten Hand auf ihn zielend, hob Dodd jetzt die
zusammengesunkene Polly vom Boden auf und legte sie auf den Diwan, über
den ganz lose ein dicke, weiche Decke gebreitet war.

Polly kam zu sich und schrie auf.

„Mrs. Voß!“ sprach Dodd zu ihr, ohne die Waffe auch nur einen
Millimeter aus der Zielrichtung zu lassen. „Beruhigen Sie sich. Sie
sehen, ich erfülle nur den Vertrag, den wir in New York geschlossen
haben. Der Verbrecher ist ohne die Mitwirkung der Polizei in meiner
Gewalt.“

„Er ist ja gar kein Verbrecher!“ rief sie und wankte auf Peter Voß
zu. „Er hat die Millionen ja gar nicht gestohlen. Es ist ja nur eine
Fiktion!“

Aber Dodd vertrat ihr den Weg. Eins war ihm nun klar. Polly war keine
Verbrecherin, sie war von diesem verabscheuungswürdigen Menschen nur
getäuscht worden.

„Ich habe ihr was vorgelogen!“ sagte Peter Voß und grinste hämisch wie
ein mehrfach rückfälliger Verbrecher. „Natürlich habe ich die Millionen
gestohlen!“

„Peter!“ schrie Polly außer sich und sank verzweifelt auf das Sofa.

„Wollen Sie das Geld herausgeben?“ fragte Dodd.

„Darüber ließe sich reden!“ erwiderte Peter Voß ganz vernünftig.
„Aber erst stecken Sie das Schießeisen weg und lassen mich die Arme
herunternehmen. Sie schlafen mir sonst ein.“

„Nun wohl!“ versetzte Dodd und steckte den Revolver weg. „Nehmen Sie
die Arme herunter, aber nach hinten, und gestehen Sie, wo Sie das Geld
versteckt haben. Sobald ich es in Händen habe, sind Sie frei.“

„Na!“ sagte Peter Voß gemütlich und nahm die Arme nach hinten herunter,
daß er die Kette im Rücken hatte. „Das will überlegt sein. Sie erlauben
wohl, daß ich mich ein wenig setze.“

Damit ging er zum Diwan und setzte sich auf das niedrige Ende. Die
dicke Decke war etwas heruntergerutscht. Dodd ließ ihn nicht aus den
Augen und deckte sich den Rücken mit dem Tisch. Den Revolver steckte er
ungesichert in die rechte Ueberrocktasche. Polly saß da, starr wie eine
Bildsäule. Ihr Herz klopfte zum Zerspringen. Was würde nun kommen!

„Hm!“ sprach Peter Voß nachdenklich, lehnte sich etwas hintenüber und
stützte sich auf, daß seine Hände an die Kante der Diwandecke kamen.
„Also ich soll die Millionen herausgeben. Sie können sich denken, daß
das für mich sehr bitter ist. Aber um der Sache ein Ende zu machen. Sie
sollen sie haben!“

Dabei faßte er krampfhaft in die Decke hinein.

„Es freut mich, daß Sie so vernünftig sind!“ rief Dodd, ganz Gentleman.
„Wo liegt das Geld? Hier in Deutschland? Ein Telephon steht hier. Wir
können die Sache hier in diesen vier Wänden abmachen.“

„Jawohl, das können wir!“ meinte Peter Voß gemütlich. „Lassen Sie sich
mal mit der Deutschen Bank verbinden.“

Dodd griff das Hörrohr und setzte sich gleichzeitig.

In diesem Augenblick schnellte Peter Voß in die Höhe, mit ihm die
Diwandecke, und vor Dodds Augen wurde es plötzlich pechfinster. Er fuhr
mit der Hand in die Tasche, machte aber zu seiner größten Bestürzung
die Wahrnehmung, daß er sie nicht mehr herausbringen konnte. Der
Ueberfall war zu planmäßig geschehen, als daß er nicht hätte glücken
sollen. Peter Voß hatte ihm die schwere Decke über den Kopf gezogen
und ihm über der Decke mit der Kette der Handschellen die Ellenbogen
festgeschnürt. Beim Ruck des Knotenknüpfens waren sie ihm von den
Händen geglitten.

Dodd fiel auf den Diwan und schrie aus Leibeskräften um Hilfe. Allein
die dicke Decke erstickte seine stimmlichen Anstrengungen zu einem
Gemurmel. Er strampelte mit den Beinen.

Peter Voß nahm die zweite Fessel aus der Tasche und knotete ihm die
Füße zusammen. Dann wickelte er den Unterkörper kunstgerecht in die
Steppdecke des Bettes und band sie mit der Vorhangschnur fest. Auch die
Tischdecke und sogar die Telephonlitze mußten daran glauben. Mit einem
Wort: er machte aus Dodd in wenigen Minuten ein gutverschnürtes Paket,
das auf dem Diwan lag und nur durch leises Zucken verriet, daß Leben in
ihm war.

Polly erholte sich von ihrer Erstarrung.

„Er erstickt!“ rief sie, entsetzt von der Kaltblütigkeit ihres Mannes.

Peter Voß zog sein Messer, tastete nach Dodds Nase und schnitt an
dieser Stelle ein winziges Löchlein in die Decke.

„So!“ sagte er direkt an Dodds Ohr und zog dessen Nasenspitze ans
Licht. „Schreien Sie nicht, Mr. Dodd, sonst mache ich das Loch wieder
zu. Und bewegen Sie sich nicht, sonst verrutscht es, und Sie enden als
Selbstmörder.“

Polly wankten die Knie vor Angst.

„Wenn es entdeckt wird!“ stöhnte sie auf.

„Dann bin ich längst über der Grenze!“ lachte Peter Voß froh und rieb
sich die Handgelenke. „Doch man kann in diesen Dingen nicht vorsichtig
genug sein. Laß mich nur machen.“

Schnell entschlüpfte er in Dodds Zimmer und riß den Horchapparat aus
dem Schlüsselloch.

„Schließ auf!“ rief er und pochte an.

Polly suchte mit zitternden Fingern den heruntergefallenen Schlüssel.
Es dauerte eine ganze Weile, bis sie das lange Zeit nicht benutzte
Schloß bezwungen hatte. Als die Tür endlich nachgab, sah sie Peter Voß
in Dodds Kleiderkoffer wühlen.

„Was tust du da?“ rief sie entsetzt.

„Ich zieh mich um!“ lachte er nur und stieg in Dodds Hosen, die ihm
ausgezeichnet paßten. Sie hatten beide die Durchschnittsfigur.

Zuletzt fischte er sich aus der Handtasche seine Brieftasche heraus.

Dann trug er Dodd ins Zimmer 216 zurück, legte ihn fein säuberlich aufs
Bett und zog ihm noch einmal die Nase durchs Loch.

„Leben Sie wohl, Mr. Dodd!“ rief er ihm ins Ohr. „Wollen Sie nicht bald
das Rennen aufgeben?“

Ein dumpfes, unverständliches Gemurmel war die Antwort.

Peter Voß schloß die beiden Zwischentüren und küßte Polly herzhaft ab.
Dann sprang er zur Korridortür.

„Und ich?“ rief Polly und hing sich an ihn.

„Du fährst zum Onkel zurück!“

„Aber Dodd wird mir nachkommen!“

„Ich telegraphiere!“ rief er und war mit einem Satz draußen.

Das letzte, was sie von ihm sah, war Dodds steifer Hut, der ihm etwas
schief und sehr unternehmungslustig auf den braunen Haaren saß.

Glücklich kam er aus dem noch schlafenden Hotel, ohne mit Xaver
Tielemann, dem Hausdiener, verwechselt zu werden.

Dodd konnte sich nicht rühren. Die rechte Hand stak wie festgeschraubt
in der Tasche. Nur den linken Unterarm konnte er etwas bewegen. Doch
das genügte nicht, um die vertrackte Decke loszuwerden.

Polly reiste gegen Mittag nach Strienau zurück.

Erst sechs Stunden später wurde Dodd aus seiner seltsamen Haft befreit.

„Der Schurke soll es mir büßen!“ rief er wutentbrannt, schüttelte die
Faust gegen das Fenster und kaufte sich eine russische Grammatik.

Peter Voß aber fuhr von Thorn aus, nachdem er sich bei einem Althändler
einen Schafpelz und eine Pelzmütze gekauft hatte, ins heilige Rußland
hinüber.



15.


Die Pelzmütze über beide Ohren gezogen, den Kragen hochgeklappt, im
linken Mundwinkel eine russische Zigarette, stiefelte Peter Voß durch
Warschaus verschneite Straßen. Glücklich war er als Iwan Basarow durch
die Paßrevision geschlüpft.

Er suchte ein Postamt, von dem aus er nach Strienau telegraphieren
konnte.

Da knallte es mehrmals, und eine Kugel flog ihm an der Nase vorbei.

Pfui Deibel! dachte er und zog den Kopf tiefer in den Pelzkragen. Hier
wird geschossen und dazu noch scharf. Da ist es wohl am besten, ich
verduft gleich nach Moskau.

Und daran tat er gut, denn in Warschau war wieder einmal eine kleine
Revolution im Gange.

Seine Fahrt nach Moskau gestaltete sich etwas wild. Bald mit Eisenbahn,
bald mit dem Schlitten drang er nach Osten vor, immer darauf bedacht,
seine Spur zu verwischen.

So kam er nach Bolowsk, dem nördlichen Zipfel des Gouvernements
Witebsk. Jetzt wollte er es wieder mit der Eisenbahn versuchen.

Auf der Trödlergasse in Bolowsk wechselte er sein deutsches und
sein amerikanisches Geld in russisches um. Dann unterzog er seine
Brieftasche, die schon recht strapaziert aussah, einer eingehenden
Revision. Es schien ihm rätlich, sich, solange er in Rußland war, von
seinen amerikanischen Papieren zu trennen. Einfach wegwerfen wollte
er sie nicht. Wie leicht konnten die Kupferpapiere mit einem Sprung
in die Höhe gehen, so daß er sich plötzlich vor die Notwendigkeit
gestellt sah, seine Identität mit Peter Voß zu beweisen. Sein Kurs lief
ostwärts durch Sibirien. Dahinter lag Japan. Sofort entschloß er sich,
sie hauptpostlagernd nach Tokio zu senden, und zwar auf den Namen des
Studenten Iwan Basarow.

Also ging er aufs Postamt und drückte dem Beamten einen Fünfrubelschein
in die Hand.

„Ich möchte ein chiffriertes Telegramm nach Deutschland aufgeben.“

„Bitte!“ erwiderte der Beamte freundlich. „Vielleicht glückt es.“

Nun war guter Rat teuer. Ein Hotel in Moskau kannte Peter Voß nicht.
Das einzige Gebäude, von dem er den Namen wußte, war der Kreml, den
jedes Schulkind kennt.

*Ein* Tor wird er wenigstens haben! dachte er, indem er die Feder
ansetzte. Und wenn er mehrere Tore hat, dann ist eins davon sicher das
Haupttor.

Und er setzte kurz entschlossen folgendes Telegramm auf: „Frau Polly
Voß Strienau Landgerichtsrat Pätsch Freitag 12 Uhr Moskau Kreml
Haupttor.“

Diese Mitteilung übersetzte er nach dem alten Rezept in Ziffern. Dann
reichte er es dem Beamten, der ohne weiteres an den Apparat ging und
die Zahlen herunterklapperte, nachdem er die Leitung über Dünaburg,
Wilna nach Warschau frei gemacht hatte.

Das Telegramm lief am Abend in Strienau ein und wurde von dem
Landgerichtsrat a. D. in kurzer Zeit entziffert.

„Dein Mann wünscht mit dir ein Rendezvous in Moskau!“ sprach er
lächelnd zu Polly. „Es ist nur gut, daß wir schon deinen Paß besorgt
haben. Allerdings reicht er nur bis Warschau. Dort mußt du ihn
verlängern lassen.“

„Du willst mich allein reisen lassen?“ fragte sie ängstlich.

„Diese schnöde Absicht habe ich allerdings!“ lächelte er. „In Rußland
kann ich dir nichts nützen, denn ich kann ebensowenig Russisch wie du.
Und dann mein Asthma. Ich glaube auch, ich kann dir viel mehr nützen,
wenn ich hier bleibe. Ich werde nämlich das Gefühl nicht los, daß Dodd
hier irgendwo auf der Lauer liegt und nur auf deine Abreise wartet.
Denn anders ist euer Zusammentreffen in Berlin nicht zu erklären.“

„Aber wie?“ rief sie erschreckt. „Er wird seine Spur gefunden haben.“

„Oder das Telegramm!“ sprach er leise und deutete auf die Tür. „Die
Martha Zippel gefällt mir nicht mehr. Sie geht seitdem herum wie das
leibhaftige böse Gewissen. Der Sache muß ich auf den Grund kommen.“

„Er hat sie bestochen!“ rief Polly. „Sie horcht an den Türen, sie
spioniert uns aus.“

„An eine Bestechung glaube ich nicht!“ sprach er und wiegte das Haupt.
„Viel eher glaube ich, daß sie unter seinem psychischen Druck steht. Am
Ende hat er ihr die Heirat versprochen.“

„Dazu ist er fähig!“ fuhr Polly auf. „Liebeserklärungen gehören
anscheinend zu seinem Geschäft.“

„Machen wir die Probe aufs Exempel!“ erwiderte der Rat und drückte auf
die Glocke.

Obschon die Haushälterin draußen gehorcht, aber leider nichts erhorcht
hatte, verging doch eine geraume Zeit, bis sie eintrat.

„Wir haben eben ein Telegramm erhalten,“ sprach er und hob das Papier
vom Schreibtisch, „aus New York. Es kommt von einem gewissen Herrn
Dodd, Bobby Dodd, derselbe Herr, der vor einigen Wochen hier war. Er
zeigt uns seine Verlobung an. Und läßt Sie schön grüßen, Fräulein
Zippel.“

Die Angeredete erblaßte weder, noch wurde sie rot. Bobby Dodd in New
York? Das war ein Irrtum. Der wohnte im Hotel „Zum goldenen Kreuz“ auf
dem Strienauer Ringe und hatte sie erst gestern abend, als der Herr
Landgerichtsrat und sein Besuch im Konzert waren, in der Küche besucht.
So dumm war sie noch lange nicht, um auf solche Lügen hereinzufallen!
Sie hielt ihre Augen schon offen, damit der Herr Rat nicht ins Unglück
rannte. Und so bedankte sie sich ruhig und kühl für den fingierten Gruß
und verschwand wieder in die Küche. Das eine war sicher. Ein Telegramm
war angekommen. Und davon mußte sie Dodd in Kenntnis setzen. Aber
erst mußte sie es haben. Der Papierkorb war ihr erst morgen früh beim
Aufräumen erreichbar.

„Sie verstellt sich!“ sprach der Landgerichtsrat und hielt das
Telegramm über die brennende Gaslampe, daß es zu Zunder verkohlte.
„Sicher ist sicher. Wir wollen sie auch über dein Reiseziel gründlich
hinters Licht führen.“

Dann studierten sie zusammen das Kursbuch und setzten die Abreise auf
Montag abend fest. Die Haushälterin erfuhr vorläufig nichts davon.
Auch den Sonntag über sollte sie keinen Verdacht schöpfen können.
Polly wollte ganz allein und unauffällig ihren Koffer packen. Die
Uebersetzung des Telegramms barg sie in ihrem Handtäschchen.

Aber die unverehelichte Martha Zippel hatte längst Lunte gerochen.
Zwar verlief die Durchsuchung des Papierkorbs ohne Ergebnis, die
Zunderflocken auf dem Schreibtisch besagten ihr genug. Doch sie
überstürzte sich nicht. Erst am Nachmittag, wo sie ihren gewöhnlichen
Sonntagsspaziergang machte, ging sie ins „Goldne Kreuz“, um Bericht zu
erstatten.

Bobby Dodd lag in seinem Hotelzimmer auf dem Sofa und paukte russische
Vokabeln. Die Grammatik, die er sich in Berlin gekauft hatte, machte
bereits den Eindruck eines zerlesenen Schmökers. Er lernte mit eiserner
Energie. Mit russischen Verben ging er zu Bett, mit russischen
Redensarten stand er auf. Hastig nahm er seine Mahlzeiten ein, um ja
nichts von der teuren Zeit zu verlieren, denn jeden Tag konnte das
zweite Telegramm eintreffen. Er trug jetzt nur noch die Maske des
alten, distinguierten Theaterherrn.

Als er die Zippel am Klopfen erkannte, warf er die Grammatik weg und
sprang auf.

„Das Telegramm ist angekommen?“ rief er erregt. „Haben Sie es
mitgebracht?“

„Er hat es verbrannt, über der Lampe!“ flüsterte sie hastig. „Sie packt
schon den Koffer.“

„Und Sie wissen nicht, wohin sie reist?“ forschte er. „Damn! so laufen
Sie doch, daß sie uns nicht entwischt. Ich werde heute den ganzen Tag
am Telephon sitzen.“

Hals über Kopf stürzte sie davon. Aus ihrem
Sonntagsnachmittagsspaziergang wurde nichts. Als sie der
Landgerichtsrat durch den Garten kommen sah, runzelte er die Stirn.

„Es geht unbedingt etwas vor!“ sprach er zu Polly, die eben ihren
Koffer abgeschlossen hatte. „In dieser Verfassung habe ich meinen
Hausdrachen noch nie gesehen.“

Und schon riß er die Tür auf und stand der aufs höchste erschreckten
Martha Zippel gegenüber.

„Wo kommen Sie her?“ herrschte er sie an.

„Ich?“ rief sie bestürzt von dem gänzlich unerwarteten Angriff. „Ich
bin spazieren gegangen.“

Zäh wie Schuhleder! dachte der Landgerichtsrat und räumte das Feld.

Beim Abendessen sprach er zu der Haushälterin: „Meine Nichte reist
morgen abend nach Hamburg. Sorgen Sie dafür, daß um sieben Uhr eine
Droschke da ist.“

Fräulein Zippel schlief diese Nacht sehr schlecht. Immer glaubte sie im
Traum die Haustür gehen zu hören. Als sie aber am Morgen Pollys Koffer
im Garderobenzimmer und ihre Schuhe vor der Schlafzimmertür fand, ging
sie schnurstracks zum Telephon und verlangte die Nummer des „Goldnen
Kreuzes“. Dahin telephonierte sie immer, wenn eine Droschke gebraucht
wurde, denn vor diesem Hotel standen immer Droschken. Der Portier
pflegte dann die Bestellung an einen der Kutscher weiter zu geben.

Diesmal aber kam es etwas anders, weil Bobby Dodd das Hoteltelephon
unausgesetzt bewachte. Kaum meldete sich die Martha Zippel, so
stürzte Dodd auf den Hotelportier, dem er das Gespräch schon gestern
angekündigt hatte, und entriß ihm das Hörrohr. Auch der Landgerichtsrat
Pätsch lauschte auf das, was seine Haushälterin ins Telephon hineinrief.

„Schicken Sie heute abend um sieben eine Droschke her!“ befahl sie dem
vermeintlichen Portier. „Die Dame, die bei uns zu Besuch ist, will
abreisen.“

Sie bestellt die Droschke! dachte der Landgerichtsrat und legte sich
aufs andere Ohr.

„Allright!“ rief Dodd am andern Ende der Leitung. „Wohin reist sie?“

„Nach Hamburg!“ gab die Haushälterin zurück, die ihn sofort an der
Stimme erkannt hatte.

Schwindel! dachte er und hängte ab. Sie hat Argwohn geschöpft und will
mich auf eine falsche Fährte locken. Aber ich werde sie nicht aus den
Augen lassen.

Abends um sieben Uhr spazierte er bereits auf dem Bahnsteig hin und
her, zwei Fahrkarten hatte er in der Tasche, die eine nach Breslau,
die andere nach der russischen Grenzstation, denn die Züge aus beiden
Richtungen begegneten sich hier. Sein Gepäck hatte er im Hotel fertig
zum Absenden zurückgelassen. Nur eine kleine in Strienau gekaufte
Handtasche, die das Allernötigste barg, trug er in der Hand.

Polly nahm herzlichen Abschied von dem Onkel, der ihr ein Coupé des
Zuges öffnete, der von Breslau kam. Dodd stieg als alter Theaterherr
ins Nebencoupé. Da der Zug aus Durchgangswagen bestand, konnte er Polly
unauffällig überwachen.

So fuhren sie zusammen nach Rußland.

Peter Voß kam schon am nächsten Abend nach Moskau, wo er sich, ohne
von der Polizei behelligt zu werden, schon am folgenden Morgen den
Kreml beschaute. Zu seiner großen Ueberraschung war das nicht ein
Gebäude, sondern eine ganze Stadt, die mit einer fünftorigen Mauer
umgürtet war. Und das schlimmste war, jedes dieser fünf Tore konnte den
Anspruch erheben, ein Haupttor zu sein. Unter diesen Umständen war das
Rendezvous mit Polly reichlich verzwickt. Wie sollte er alle diese fünf
Tore gleichzeitig im Auge behalten! Er mußte ein Automobil requirieren
und Freitag mittag immer um den Kreml herumfahren, bis Polly an
irgendeiner Stelle auftauchen würde.

Sie erreichte Donnerstag abend Moskau. Ein alter, weißbärtiger Herr,
den sie unterwegs öfter gesehen hatte, war ihr in der Auswahl des
Hotels behilflich, als sie sich ratlos nach einem Wagen umschaute. Sie
bedankte sich und verlor ihn aus den Augen. Der Oberkellner des Hotels
sprach etwas Deutsch und Englisch und besorgte ihr am Freitag mittag
eine Droschke zum Kreml. Vor dem Erlösertor stieg sie aus, entlohnte
den Kutscher und wartete. Es war bereits eine Viertelstunde nach
zwölf. Gleich darauf sah sie den alten Herrn, den sie von der Fahrt
her kannte, mit zwei jüngeren Leuten herankommen. Er grüßte höflich
und betrachtete interessiert das wundertätige Heiligenbild, das in dem
Tor angebracht war. Seine beiden Begleiter schienen Fremdenführer oder
Bekannte zu sein, denn sie gaben ihm auf seine Fragen die gewünschten
Erklärungen.

Schon fünfmal war Peter Voß im schnellen Tempo rund um die goldene Burg
von Rußland gesaust, da erblickte er Polly. Er ließ das Auto etwas
abseits halten und trat langsam näher. In dem schmierigen Schafspelz,
den er trug, sah er weniger wie ein Student, mehr wie ein russischer
Viehhändler aus. Sie erkannte ihn nicht und wich scheu zur Seite, als
sie sein schmutziger Rock streifte.

„Polly!“ flüsterte er und ging weiter, entblößte vor dem Heiligenbild
andächtig den Kopf und stellte sich zu den drei Herren, die ihm
einigermaßen verdächtig vorkamen, denn sie konnten sich von dem Bilde
nicht trennen, obwohl sie weder wie Kunstverständige noch wie Pilger
aussahen.

Polly war erschrocken zurückgefahren, als ihr Name an ihr Ohr geklungen
war. Sollte dieser entsetzliche Bauer Peter Voß sein? Das war
unmöglich! Und sie verfolgte ihn mit ihren Blicken.

Peter Voß bemerkte es und ging wieder auf die Straße hinaus, in der
Hoffnung, daß ihm Polly unauffällig folgen würde. Allein sie war ihrer
Sache nicht sicher und rührte sich nicht vom Fleck.

Wer aber bereits seiner Sache sicher war, das war Bobby Dodd, der mit
zwei Kriminalpolizisten vor dem Heiligenbild stand.

„Aufgepaßt!“ flüsterte er. „Das ist er!“

Der eine Polizist lüftete darauf den Hut, als wenn er sich
verabschiedete, und ging auf die Straße, um dem Verbrecher den Rückzug
abzuschneiden.

Peter Voß entging das Manöver nicht, aber seine Sehnsucht nach Polly,
die blühend und reizend wie am Tage ihrer Hochzeit vor dem Tore
stand und nicht vorwärts und rückwärts wußte, ließ ihn die Gefahr
unterschätzen.

Er schritt wieder auf sie zu, um ihr im Vorbeigehen ein Erkennungswort
zuzurufen. Noch war er drei Schritte von ihr entfernt, schon leuchteten
ihre Augen in der Freude des Erkennens, da ließ sie ein scharfer
Trillerpfiff zurückschrecken.

„Da ist Dodd!“ flüsterte Peter Voß ihr schnell und unauffällig ins Ohr.
„Verrate mich nicht. Ich heiße Iwan Basarow.“

In demselben Augenblick wurde er von vorn und hinten gleichzeitig
gepackt.

„Hol mich der Teufel!“ fluchte er auf russisch. „Was soll das?“

„Guten Morgen, Mr. Voß!“ sagte der alte Theaterherr aus Strienau auf
englisch. „Mein Name ist Dodd.“

„Was will der Kerl?“ fragte Peter Voß verwundert. „Ich verstehe ihn
nicht.“

„Komm nur mit, du Millionendieb!“ schrie der eine Polizist und
bugsierte ihn mit Hilfe seines Kollegen in eine leere Droschke. „Das
übrige wird sich schon finden.“

Und fort fuhren sie mit ihm.

„Mrs. Voß!“ sprach Dodd und lüftete vor Polly höflich den Hut. „Haben
Sie die Güte, mir zu folgen!“

„So halten Sie den Vertrag!“ zischte sie ihn an.

„Sie haben ihn gebrochen, nicht ich!“ erwiderte er. „Sie haben gegen
mich gearbeitet, anstatt mir behilflich zu sein. Ich bedaure, daß ich
den Vertrag nicht wieder erneuern kann, denn ich habe endlich mein Ziel
erreicht.“

„Sie haben ihn noch nicht!“ rief sie und sah ihm fest in die
triumphierenden Augen. „Dieser Mann ist gar nicht Peter Voß. Ich werde
dafür sorgen, daß er wieder in Freiheit gesetzt wird. Denn Sie haben
ihn zu Unrecht verhaften lassen!“

Er biß sich auf die Lippen und winkte das leere Automobil heran, half
ihr beim Einsteigen und fuhr mit ihr aufs Polizeipräsidium.

Da hatte man bereits Peter Voß _alias_ Iwan Basarow in schärfstes
Kreuzverhör genommen. Polly bestritt entschieden seine Identität mit
ihrem Manne, und der untersuchende Polizeileutnant stierte ratlos auf
den echten Paß.

„Das ist Peter Voß!“ rief Dodd energisch. „Ich werde Beweise bringen.
Der Paß ist gefälscht.“

„Das ist nicht mein Mann!“ rief Polly. „Ich kenne ihn nicht.“

„Ich bin der Student Iwan Basarow!“ behauptete Peter Voß mit eiserner
Stirn und pochte auf seinen Paß. „Ich bin niemals in Amerika gewesen,
deshalb kann ich dort auch keine Millionen gestohlen haben. Und die
schöne Dame kenne ich auch nicht und bedauere lebhaft, daß sie nicht
meine Frau ist.“

Der Polizeileutnant schien derselben Meinung zu sein, strich sich
herausfordernd den Schnurrbart und sah Polly an wie der Fuchs die
reifen Trauben. Und da sie eine Amerikanerin war, ließ sie sich das
gern gefallen.

Daraufhin wurde das Protokoll geschlossen und Peter Voß festgehalten.
Als er ins Untersuchungsgefängnis abgeführt wurde, blickte ihm Polly so
teilnahmslos nach, als sei er wirklich niemand anders als der Student
Iwan Basarow, den sie zum ersten Male in ihrem Leben sah.

Sie ließ sich von Dodd ins Hotel bringen, wo er sich von ihr
beurlaubte. Mit Peter Voßens Photographie und seinem Fingerabdruck
bewaffnet, fand er sich wieder bei der Polizei ein. Aber er merkte
bald, daß er in Rußland war. Für den Polizeileutnant, der die
Untersuchung führte und der das Pulver nicht erfunden hatte, war ein
Fingerabdruck noch lange kein Beweis, und eine Photographie, die nicht
einmal stimmte, erst recht nicht.

Dodd sah ein, daß er nur etwas ausrichten konnte, wenn es ihm gelang,
Polly umzustimmen.

Allein sie war sehr hartnäckig und lehnte alles ab.

Peter Voß aber saß wieder einmal in einer sicheren Zelle. Seine
Brieftasche hatte man ihm gelassen. Und er nahm einen Fünfrubelschein
heraus und drückte ihn dem Wärter wortlos in die Hand. Dieser Mann ließ
sich gern bestechen und besah sich draußen den Schein im Lichte seiner
Laterne.

Der Kerl ist eine goldne Kuh! dachte er vergnüglich schmunzelnd. Und
ich werde ihn melken!

Peter Voß opferte noch einen Schein. Als aber der Wärter noch immer
keine Anstalten machte, ihn herauszulassen, knöpfte er seine Tasche zu.

Unterdessen war der Paß Iwan Basarows auf das eingehendste visitiert
worden und hatte sich als echt erwiesen. Allein eine Eintragung in der
Verdächtigenliste der politischen Polizei erwies sich als mindestens
ebenso echt. Danach war der Student Iwan Basarow vor knapp zwei Jahren
wegen politischer Geheimbündelei und Verschwörung zu zehn Jahren
Zwangsarbeit nach Sibirien verbannt worden. Und die kurze Notiz, die
darunter stand, war wohl das Echteste vom Echtesten. Sie besagte nichts
anderes, als daß dieser notorische Verbrecher im dritten Monat seiner
Strafzeit mit mehreren anderen aus dem Bergwerk Petrokowskji bei Dui
auf Sachalin über die japanische Grenze entwichen war.

Dieser sehr wenig erfreuliche Bescheid ging nun mit Beschleunigung
an den untersuchenden Polizeileutnant zurück und wurde Peter Voß
vorgelesen.

„Bist du dieser schlechte Hund?“ brüllte ihn der Beamte an.

„Es ist möglich!“ bekannte Peter Voß nachdenklich. „Ich kann mich
auf jene Vorgänge nicht mehr so genau besinnen, da ich voriges Jahr
ein schweres Nervenfieber gehabt habe, wodurch mein Gedächtnis sehr
gelitten hat.“

Er wurde wieder in die Zelle gesperrt, und die Akten kamen an den
Gerichtshof der politischen Polizei. Da Peter Voß steif und fest
behauptete, Iwan Basarow zu sein, und nicht bestritt, aus Petrokowskji
ausgebrochen zu sein, lag die Sache sonnenklar.

Und stracks wurde er verurteilt, seine unterbrochene Zwangsarbeit in
dem Bergwerk Petrokowskji bei Dui auf Sachalin wieder aufzunehmen. Für
sein Entweichen bekam er weitere zehn Jahre zudiktiert.

Wenn es sein muß! dachte er und sträubte sich nicht, als man ihn in ein
anderes Gefängnis überführte. Wo dieser Iwan Basarow ausreißen konnte,
da finde ich wohl auch ein Loch. Von Sachalin nach Japan ist nur ein
Sprung.

Seine Brieftasche wurde mit Beschlag belegt, sein Vermögen der
Staatskasse für verfallen erklärt. Bobby Dodd zu benachrichtigen, fand
man gar nicht für nötig. Er erhielt erst Kunde davon, als er auf der
Polizei erschien, um sie sich selbst zu holen.

„Nach Sibirien!“ stieß er heraus, und zum ersten Male verließ ihn seine
Fassung. „Der Kerl ist toll! Es ist Peter Voß. Ich werde einen neuen
Beweis bringen.“

Und sofort eilte er zu Polly zurück, die noch beim Frühstück saß.

„Sie deportieren ihn nach Sibirien!“ rief er atemlos. „Der Mann, für
den er sich ausgibt, ist ein entflohener Sträfling.“

Polly legte das Messer hin und starrte ihn wortlos an. Sie glaubte ihm
einfach nicht. Diese Nachricht war nur erfunden, um sie aus der Fassung
zu bringen.

„Was werden Sie tun?“ fragte sie ruhig, nahm das Messer wieder auf und
strich sich den Honig aufs Brötchen.

„Ich werde ihm nachreisen!“ erwiderte er, noch immer außer sich. „Und
Sie müssen mitkommen, Mrs. Voß. Sie müssen seine Identität nachweisen.
Sie müssen ihn befreien.“

Jetzt merkte sie endlich, daß er die Nachricht nicht erfunden hatte,
und vor Schreck blieb ihr der Bissen im Halse stecken. Ein Zittern
überfiel sie. Sie bekam einen Erstickungsanfall. Schnell flößte er ihr
einen Schluck Wasser ein. Es gelang ihr, den Bissen zu bezwingen, damit
aber war auch der ganze Anfall vorüber.

„Ist es sehr schlimm, nach Sibirien transportiert zu werden?“ fragte
sie mit schwacher Stimme.

„O!“ rief er entsetzt. „Es gibt nichts Schlimmeres. Es ist die Hölle!“

Aber sie hatte sich schon gefaßt, griff wieder nach dem Brötchen und
versuchte schon, zu lächeln.

„Sie übertreiben,“ wehrte sie ab. „Ich glaube vielmehr, Mr. Voß hat das
kleinere Uebel gewählt. Ich kenne ihn. Er ist nicht verrückt. Er ist
nur sehr mutig. Ich werde ihm nachreisen. Und Sie, Mr. Dodd?“

„Ich werde mich Ihnen anschließen!“ sagte er und ließ sich auf den
Stuhl fallen. „Wenn Sie es erlauben.“

„Nur unter der Bedingung, daß wir unsern alten Vertrag erneuern!“
machte sie sich aus.

Wohl oder übel mußte er darauf eingehen.

So vertrugen sie sich wie zwei Gegner, die sich, dem Zwange der
Verhältnisse gehorchend, gegen einen dritten gemeinsamen Feind
verbinden mußten.

Und dieser gemeinsame Feind war Sibirien.

Eine Woche später brachen sie nach Osten auf und reisten sehr langsam.
Ueberall zogen sie Erkundigungen ein, ohne Erfolg. Von Iwan Basarow war
nichts zu hören, noch viel weniger von Peter Voß.



16.


Auch in Sibirien und sogar auf Sachalin merkte man endlich etwas vom
Frühling. Bobby Dodd und Polly warteten in Dui, wo sie sich in dem
einzigen, sehr primitiven Gasthaus eingemietet hatten, noch immer
vergeblich auf Peter Voß _alias_ Iwan Basarow. Er wollte nicht kommen.
Zweimal fuhr Dodd nach Wladiwostok hinüber und mußte, da der Amur
noch nicht eisfrei war, den Seeweg wählen, um sich nach Iwan Basarow
zu erkundigen. Allein die russischen Behörden zeigten ihm sehr wenig
Entgegenkommen. Das einzige, was er in Erfahrung zu bringen vermochte,
war, daß die Sträflingstransporte nach Sachalin über den Amur geleitet
wurden.

Zu den Erzählungen Dodds über den Millionendieb lächelte man in
Wladiwostok sehr skeptisch. Man neigte vielmehr ernstlich dazu,
Bobby Dodd für den Komplicen Iwan Basarows zu halten, und hielt ihn
schließlich auch wirklich dafür, als auf eine Anfrage von Dui der
Bericht einlief, daß dieser Mann, der vorgab, ein amerikanischer
Detektiv zu sein, mit der Frau des vermeintlichen Millionendiebes im
besten Einvernehmen Tür an Tür wohnte.

Jetzt fand Dodd überhaupt nur taube Beamtenohren. Der amerikanische
Konsul zuckte über seine Beschwerde mit den Achseln, da er ihm
beim besten Willen nicht helfen konnte, und verwies ihn auf den
inoffiziellen Weg der Bestechung.

Bobby Dodd holte sich aber erst für diese neuen, unerwarteten Ausgaben
auf telegraphischem Wege die Erlaubnis seines Auftraggebers ein.

Er hat ihn noch immer nicht erwischt! schmunzelte Jim Stockes mit einem
Blick auf die Kupferkurse, die endlich zum Stehen gekommen waren, und
telegraphierte sofort nach Wladiwostok zurück: Kosten Nebensache.
Erwarte, daß Sie ihn auf jeden Fall packen.

Darauf ging er in den Klub und zeigte seinen drei Pokerpartnern das
Telegramm.

„Er kriegt ihn!“ sprach Dick Patton seelensruhig.

„Abwarten!“ lachte Peacock. „Ich glaub’s nicht.“

„Ich auch nicht!“ schrie Splarks.

„Wetten!“ schlug Dick Patton vor. „Um die Kosten!“

Aber die beiden andern lachten nur.

„Ihr habt gut lachen!“ stöhnte Stockes. „Meine Millionen hat er längst
ausgegeben. Was soll ich tun?“

„Karten geben“, tröstete ihn Dick Patton, „und den Mut nicht verlieren.“

„Die zweitausend Mille sehe ich nicht wieder!“ behauptete Stockes
traurig und begann die Karten zu mischen.

Als Bobby Dodd das Telegramm erhielt, zögerte er nicht länger, seine
Auslagen zu vergrößern, und mußte die überraschende Beobachtung machen,
daß die Beamten eigentlich schon lange darauf gewartet hatten. Nun
ließen sie sich rein um die Finger wickeln. Ihr schnöder Verdacht
war wie weggeblasen. Sie waren auch so ehrlich, ihm zu gestehen, daß
sie über Iwan Basarow nicht das geringste wußten, gaben ihm aber die
Versicherung, daß er ohne Zweifel nach Petrokowskji zurückgeschickt
werden würde. Der Polizeipräsident gab ihm sogar eine Empfehlung an den
Direktor dieser Strafanstaltsmine mit, der sein Kriegskamerad war.

Warum sollte er ihm nicht auch etwas von dem Gelde der revolutionären
Nihilisten zukommen lassen! Denn ein Nihilist blieb Bobby Dodd trotz
alledem!

Sogar der amerikanische Konsul, übrigens ein Stockrusse, hielt ihn für
alles andere eher als für einen Detektiv. Seine Legitimation sah man an
und dachte sich das Beste. Dafür war man eben in Rußland.

Bobby Dodd reiste nach Dui zurück und gab nach wenigen Tagen bei
dem Direktor des Strafbergwerks Petrokowskji seine Empfehlung ab.
Schnurrbartzwirbelnd empfing er den Fremden, musterte ihn mit
militärisch durchdringendem Blick und nahm mit gnädigem Kopfnicken den
Hundertrubelschein entgegen, den ihm Bobby Dodd für die Wohlfahrtskasse
des Bergwerks zur beliebigen Verwendung überreichte. Auch für diesen
Direktor, dem der Polizeipräsident von Wladiwostok ganz privatim
längst ein paar orientierende Zeilen geschrieben hatte, war Dodd
ein Nihilist. Allein dieser Eisenfresser, dem seine militärische
Untüchtigkeit in der Schlacht von Mukden diesen Verbannungsposten
eingetragen hatte, besaß nicht im entferntesten die Kunst der
Verstellung, um sich gegen Dodd auf die Dauer behaupten zu können.
Vorläufig jedoch schöpfte dieser noch keinen Argwohn.

„Können Sie sich eines Sträflings erinnern, der Iwan Basarow hieß?“
fragte er den Direktor.

„Iwan Basarow!“ rief der Bramarbas und sprang auf. „An diesen
hundsgemeinen Kerl sollte ich mich nicht erinnern können! Das ist
der abgefeimteste Spitzbube, den ich jemals unter den Fingern gehabt
habe. Er hat in Petersburg Bomben fabriziert und revolutionäre Blätter
gedruckt. Und hier hat er einen Aufstand angezettelt, hat mir drei
Aufseher invalid geschlagen, das heißt nicht er, sondern die vierzehn,
die mit ihm ausgerissen sind. Denn er ist ein feiger Hund. Nicht einen
einzigen habe ich zurück bekommen. Alle sind sie über die japanische
Grenze gegangen. Und diese gelben Affen liefern natürlich nicht aus.“

„Es ist ein Iwan Basarow vor mehreren Wochen in Moskau verhaftet
worden!“ berichtete Dodd weiter.

„Was Sie sagen!“ schrie der Direktor voll ehrlicher Wut. „Sie haben ihn
wieder erwischt? Sie werden ihn hierher zurückschicken? O, wie werde
ich diesen Schurken zwiebeln! Ich presse ihm die Seele aus dem Leibe.
Ich habe eine vorzügliche Methode. Ich mache einen stumpfsinnigen
Kadaver aus ihm. Der wird mir nie wieder eine Verschwörung anzetteln.“

„Sie werden die Knute gebrauchen?“ forschte Dodd, von diesen echt
russischen Drohungen sichtlich unangenehm berührt, und schaute zum
Fenster hinaus, das den Blick auf den Gefängnishof und die Aussicht auf
das nahe Meer freigab.

„O nein!“ wehrte der Direktor ab. „In meinem Bezirk wird nicht
geprügelt. Ich bin kein Anhänger dieser Knutenkultur. Meine Methode
ist eine viel raffiniertere. Ich habe sie selbst erfunden. Sie wirkt
todsicher. Ich habe sie schon zweimal mit dem besten Erfolg angewendet.“

„Es wäre mir sehr interessant, diese Methode kennen zu lernen!“
versetzte Dodd.

„Sie sollen sie kennen lernen!“ erwiderte der Direktor und griff nach
der Wodkaflasche. „Bleiben Sie hier. Seien Sie mein Gast. Der erste
Transport ist mir bereits angekündigt. Vielleicht ist dieser Schuft
schon dazwischen. Ich werde ihn sofort vornehmen. Ich werde Ihnen meine
Methode an ihm demonstrieren. Es ist eine ganz einfache, eine simple
Methode sozusagen. Nicht ein Fünkchen Gewalt wird angewendet. Aber ich
garantiere Ihnen, daß der Kerl schon am dritten Tage mit dem Kopf gegen
die Wand rennt, um sich das Leben zu nehmen. Die beiden andern haben es
auch getan.“

Dodd überlegte. Da diese Methode von Gewaltmitteln absah, war sie
ihm nicht unsympathisch. Je unerträglicher sich für Peter Voß die
Gefangenschaft gestaltete, um so eher würde er Farbe bekennen und sein
wahres Gesicht zeigen. Dann war noch immer Zeit, den Direktor in das
Doppelspiel einzuweihen. Am einfachsten wäre es natürlich gewesen,
wenn der Direktor den falschen Iwan Basarow, auf Grund seiner genauen
Personalkenntnis des richtigen, einfach zurückwies. Doch das war sehr
wenig wahrscheinlich. Dieser Direktor war trotz seiner gepriesenen
Methode nicht viel mehr als ein harmloser Dummkopf. Der Umschwung mußte
bei Peter Voß beginnen. Denn dessen falsche Behauptung, Iwan Basarow zu
sein, war unter den Umständen, in denen er sich augenblicklich befand,
von einer nicht zu erschütternden Beweiskraft. Sogar das Zeugnis seiner
Frau hätte dagegen nichts ausrichten können.

Dodd nahm die Einladung des Direktors nicht an, versprach aber
wiederzukommen, und kehrte nach Dui zurück. Hier erstattete er Polly,
die ihn mit begreiflicher Unruhe erwartete, wahrheitsgetreu Bericht.
Nur von des Direktors Methode verriet er nichts.

„Wir müssen ihn sofort zu befreien suchen!“ rief sie außer sich. „Schon
auf dem Wege zum Bergwerk.“

„Ganz unmöglich!“ wies er den Vorschlag zurück. „Einen Gefangenen gegen
seinen Willen zu befreien, ist so gut wie ausgeschlossen. Außerdem wird
er als wieder eingefangener Flüchtling besonders scharf bewacht werden.
Ich habe keine Lust, an seiner Seite in jenem Bergwerk zu arbeiten.
Und bis zur nächsten japanischen Grenze sind über zwei Tagereisen. Die
ganze Grenze ist mit Kosaken besetzt. Ehe wir uns nicht mit ihm in
direkte Verbindung gesetzt haben, läßt sich nichts machen.“

„Also warten!“ seufzte sie und nahm die amerikanische Zeitung auf, die
Dodd aus Wladiwostok mitgebracht hatte.

Es war eine sehr alte Nummer, worin der Kurs der amerikanischen
Kupferpapiere wieder um einige Cent tiefer notiert war, obschon sie
längst zum Stehen gekommen waren.

„Sie studieren die Kurse?“ fragte Dodd überrascht. „Spekulieren Sie?“

„Ein wenig!“ erwiderte sie und legte das Blatt weg.

Dodd entwarf ihr eine humoristische Schilderung des Bergwerkdirektors.

„Denken Sie lieber an unsern Vertrag!“ sprach sie gelangweilt.
„Strengen Sie Ihren Geist an, ein Mittel zu finden, wie wir ihn
befreien können.“

„Dieser Direktor gehört dazu!“ sprach er ernsthaft und schilderte ihn
weiter. „Wir werden ihn bestechen, daß er ihn entfliehen läßt. Das
Bergwerk liegt eine Stunde von der Küste. Wir werden einen kleinen
Dampfer mieten!“

„Also wie in St. Malo?“ fragte sie interessiert.

„Jawohl!“ bestätigte er. „Nur ins Russische übersetzt.“

Dann schlug er ihr einen Spaziergang nach dem Hafen vor und sie
nahm ohne Zwang seinen Arm, den er ihr anbot. Sie waren ja wieder
Bundesgenossen geworden. In Dodds Herzen rührte sich wieder ganz
bedenklich die alte Liebe.

Seine Lage wurde immer verzwickter.

Peter Voßens Lage aber war viel einfacher. Er befand sich als Iwan
Basarow mit etwa dreißig andern schweren Verbrechern im Hofe des
Gefängnisses zu Slatoust und wartete darauf, mit der sibirischen
Bahn nach Osten befördert zu werden. Er war von seiner Verhaftung in
Moskau an ganz langsam und gemächlich von einem Gefängnis zum andern
abgeschoben worden, immer in der Richtung nach Sibirien zu, um in
Slatoust Anschluß an einen größeren Verbrechertransport zu finden. Sein
Schicksal, besonders den Empfang auf Sachalin, malte er sich durchaus
nicht in rosigen Farben aus.

Er war überhaupt nicht beneidenswert. Die russischen Staatsverbrecher
lernten weder die französische Galanterie noch die preußische
Korrektheit kennen. Aber eine gewisse Gutmütigkeit war den russischen
Soldaten und Gefängniswärtern nicht abzusprechen. Flegel, Grobiane
und Berserker ließ Peter Voß über sich ergehen wie der Schlehdorn den
Hagelschlag. Einmal bekam er unversehens einen Knutenhieb über den
Rücken.

Pfui Deibel! dachte er und rieb sich die getroffene Stelle an der Wand.
Auf die Dauer kann das höchst unangenehm werden! Ich muß wirklich
darauf sinnen, wie ich weiter komme!

Und er kam weiter, aber nicht als Peter Voß, sondern als Iwan Basarow.
Zwei schmiedeeiserne Manschetten, die durch kräftige Ketten verbunden
waren, mußte er sich um Hand- und Fußgelenke legen lassen. Das war
nun einmal hier so Sitte. Zur erhöhten Sicherheit wurden immer fünf
Sträflinge an einer langen Kette zusammengeschlossen. Das brachte
zwar für die betreffenden eine ganze Menge Unbequemlichkeiten mit
sich, hatte aber das Gute, daß sich keiner in dem großen unwirtlichen
Sibirien verlaufen konnte.

Peter Voß kam in die Mitte der dritten Kette und freundete sich mit
seinen Nebenmännern sofort an. Der eine war ein junger Beamter aus
Odessa, der mehrere Unterschlagungen begangen hatte und zu fünf Jahren
Strafarbeit verurteilt worden war.

„Jeder russische Beamte lebt von Unterschlagungen und Bestechungen!“
meinte er mit Gleichmut. „Sie müßten alle nach Sibirien transportiert
werden.“

Sein hinterer Nachbar war ein alter, graubärtiger Bauer aus dem
Gouvernement Perm.

„Ich habe meinen Vater totgeschlagen!“ bekannte er auf Peter Voßens
neugierige Frage, ohne bei diesem traurigen Bekenntnis irgendwelche
Gemütsbewegung zu verraten.

Da bin ich in eine nette Gesellschaft geraten! dachte Peter Voß und
rückte so entschieden von dem Bauern ab, daß die Kette rasselte.

„Er war krank,“ fuhr der Mann fort, „neunzig Jahre zählte er und hatte
sehr große Schmerzen. Schon zehn Jahre plagte er sich damit. Da sagte
er zu mir: Wassilew, nimm die Axt und schlag mich tot! Und da Gott
befiehlt, man soll seinem Vater immerdar gehorsam sein, nahm ich die
Axt und gehorchte ihm. Die Richter haben es nicht geglaubt, daß ich
ein gehorsamer Sohn bin. Sie glaubten es besser zu wissen. Sie sagten,
ich hätte ihn wegen der Erbschaft totgeschlagen. Aber sie wissen nichts
von Gott und halten nicht seine Gebote.“

Peter Voß rückte wieder heran, die Konsequenz dieses arglosen Gemüts
imponierte ihm.

„Und was hast du getan?“ fragte der Beamte.

„Ich habe eine revolutionäre Gesinnung!“ bekundete Peter Voß als Iwan
Basarow; er war einfach nicht imstande, seine Schandtaten genauer
aufzuzählen, weil er sie nicht wußte.

„Du bist der Schlimmste von uns!“ sprach der Bauer, und der Beamte war
derselben Meinung.

Trotzdem blieben sie gute Freunde, lebten in Gütergemeinschaft und
teilten sogar die letzte Zigarette miteinander.

Solange der Zug rollte, schliefen die Soldaten, die den Transport
begleiteten. Die Gefangenen, die auf dem Fußboden lagen und saßen,
durften nur leise miteinander sprechen. Jede dritte Station hielt der
Zug. Jetzt durften die Gefangenen einige Minuten an die frische Luft,
durften sich im schmelzenden Schnee die eingeschlafenen Füße vertreten
und die Leute auf dem Bahnhof um Gaben ansprechen. Und alle gaben den
armen Verurteilten um Gottes willen. Peter Voß war ehrlich erstaunt
über diese russische Wohltätigkeit, vergaß aber darüber das Nehmen und
das Danken nicht. Ein Teil der gesammelten Gaben mußte an die Soldaten
abgeliefert werden, die dadurch immer in Hülle und Fülle hatten und
deshalb selten schlechter Laune waren.

Und das war sehr wichtig!

Es läßt sich hier leben! dachte Peter Voß und steckte sich eine
Zigarette an. Man darf nur nicht verwöhnt sein. Hauptsache ist, daß
ich weiterkomme. Und wie schön, daß ich auf russische Staatskosten
befördert werde! Dafür kann man schon einige Unbequemlichkeiten mit in
Kauf nehmen.

Der Landschaft, die sich draußen vorbeischob, konnte er kein Interesse
abgewinnen. Außerdem war es streng verboten, hinauszublicken. Erst
hinter Irkutsk am Ufer des Baikalsees, den die schneebedeckten
Bergriesen ernst und drohend umgaben, lohnte es sich, das Verbot zu
übertreten. Bald darauf sichtete Peter Voß den ersten Chinesen.

Nur Geduld! dachte er vergnügt, zog ein altes Kartenspiel heraus, das
ihm eine mitleidige Seele geschenkt hatte, und versuchte seine beiden
Nachbarn in die Kunst des Dreimännerskats einzuweihen. Der Beamte hatte
es schnell begriffen, aber der Bauer konnte mit den vielen bunten
Blättern nicht zurechtkommen. Also ging Peter Voß zum Schafskopf über,
wobei der Bauer den Zuschauer spielte. Zwischendurch horchte er auf die
leisen, melancholischen Gesänge seiner Genossen.

Bei Kaidalow wurde der Gefangenentransport von der transsibirischen
Bahn auf einen Nebenstrang geleitet, der am linken Ufer der Schilka bei
Srjetensk sein Ende fand. Von hier aus ging die Reise zu Wasser weiter,
zuerst in einem kleinen, von Blagowjeschtschensk aus auf einem größeren
Dampfer, der sie den ganzen Amur hinunter direkt nach Dui bringen
sollte. Je näher sie dem Ort ihrer Bestimmung kamen, um so vergnügter
wurde die Stimmung. Alle waren froh, daß die Reise zu Ende ging. Wenn
die Ketten an ihren Händen nicht gewesen wären, die Fußsesseln hatte
man ihnen an Bord abgenommen, man hätte meinen können, freiwillige
Auswanderer vor sich zu haben.

So kamen sie in Dui an.

Nachdem man den Gefangenen die Fußfesseln wieder angelegt und die
Schlösser geprüft hatte, wurde der ganze Transport an Land gesetzt und
vor der Kaserne des Kosakenpiketts, das in Dui stationiert war, in Reih
und Glied aufgestellt. Neugierige und Mildtätige drängten sich in Menge
heran. Und die Gefangenen streckten ihre Hände aus. Auch Peter Voß
heimste ein, was er kriegen konnte, Brot, Fleisch, Speck, Zigaretten,
Tabak, Schnaps und Zucker, und stopfte sich damit die Taschen seines
durchlöcherten Mantels voll.

„Guten Tag, Mr. Voß!“ rief jemand auf englisch.

Dodd! dachte Peter Voß, ohne den Gruß zu beachten, und warf auf den
Mann einen blitzschnellen Seitenblick. Er hatte sich nicht getäuscht.
Es war Bobby Dodd. Er kam heran, offenbar hatte er die Kosaken
bestochen. Denn sie hielten ihn nicht auf.

„Mein Herr, geben Sie mir ein paar Zigarren!“ rief Peter Voß _alias_
Iwan Basarow auf deutsch. „Man kann nicht immerzu dieses entsetzliche
Papier kauen.“

„Bitte!“ sagte Dodd und zog seine Zigarrentasche.

Peter Voß ließ nicht eine einzige darin, die Tasche gab er zurück.

„Danke!“ sagte er herablassend, griff an die Mütze und nahm eine von
Dodds guten Zigarren zwischen die Zähne. „Nun noch etwas Feuer.“

Auch damit konnte Bobby Dodd dienen.

„Wollen Sie nicht endlich die Maskerade aufgeben, Mr. Voß?“ fragte
er ihn auf englisch. „Schlimmer als Ihr augenblicklicher Zustand
wird unmöglich der andere sein, der nach Ihrer Verurteilung als
Millionendieb eintritt.“

Peter Voß schaute sich um. Es war kein Mensch in der Nähe, der auch nur
ein Wort Englisch verstand. Eine Falle also war nicht zu befürchten.
Warum sollte er sich nicht mit Bobby Dodd aussprechen? Der Mann
hatte es durch sein intensives Interesse, das er an ihm nahm, längst
verdient, daß er ihm ein paar freundliche Worte gönnte.

„Lange werden Sie das Spiel doch nicht treiben können!“ drängte Bobby
Dodd. „Wozu halten Sie also die Entwicklung auf? Sagen Sie, wo Sie die
Millionen versteckt haben, und ich garantiere Ihnen, daß Sie in wenigen
Tagen ein freier und unverfolgter Mann sind. Mrs. Voß ist übrigens auch
hier. Wir haben auf Sie gewartet.“

Peter Voß zuckte bei dieser Neuigkeit wohl ein wenig zusammen. Aber die
Zeiten seiner Eifersucht lagen längst hinter ihm. Er wußte, daß Polly
nur an ihn dachte, wenn sie in Dodds Begleitung reiste.

„Grüßen Sie die Dame von mir!“ sprach er auf deutsch zu Dodd und
schüttelte ihm kettenrasselnd die Hand. „Ich werde mich freuen, wenn
Sie sich weiterhin ihrer annehmen.“

„Damn!“ knirschte Dodd, wütend über diese Kaltblütigkeit des
Verbrechers. „Wir stehen doch hier nicht beieinander, um Komplimente
zu wechseln. Sagen Sie auf der Stelle, wo die Millionen sind.“

Dabei vergaß er im Eifer seines Amts ganz die merkwürdige Situation, in
der er sich befand, und packte Peter Voß, den Millionendieb, _alias_
Iwan Basarow vor der Brust.

„Sie wollen mich wohl wieder verhaften?“ rief Peter Voß vergnügt auf
russisch und holte zum Boxen aus.

Allein seine neuen Freunde kamen ihm zuvor. Bobby Dodd bekam plötzlich
von allen Seiten Püffe und Fußtritte und flog aus dem Haufen der
Gefangenen heraus wie ein Ball aus dem Fenster.

Gleich darauf setzte sich die Kolonne nach dem Bergwerk Petrokowskji in
Bewegung, bewacht von berittenen Kosaken.

Bobby Dodd kehrte ziemlich verzweifelt zu Polly zurück.

„Mrs. Voß!“ sprach er und befühlte die eben erhaltenen Beulen. „Wenn
Mr. Voß weiter so hartnäckig bleibt, werde ich den Vertrag kündigen
müssen.“

„Sie haben ihn gesprochen?“ fragte sie erstaunt.

„Der Transport ist soeben weiter gegangen!“ nickte er.

„Und Sie haben mich nicht davon benachrichtigt!“ rief sie außer sich.
„So halten Sie den Vertrag?“

„Davon steht nichts darin!“ erwiderte er gereizt. „Was hätte es auch
für einen Sinn gehabt. Oder wollen Sie vielleicht die Identität des
Sträflings Iwan Basarow mit dem Millionendieb Peter Voß bezeugen?“

„Nicht eher, bis er sie selbst zugibt!“ erwiderte sie ruhig.

„Außerdem war er durchaus nicht salonfähig!“ setzte er entschuldigend
hinzu.

Darauf gab sie ihm keine Antwort.

Dodd hoffte noch immer, hoffte aber weniger auf die geheimnisvolle
Methode des Bergwerkdirektors als auf das Bergwerk selbst. Allzulange
würde es selbst ein so durchtriebener Bursche, wie Peter Voß es war,
nicht darin aushalten. Wenn er trotz alledem nicht mürbe wurde, blieb
noch immer die Bestechung des Direktors übrig. Diesmal mußte er
gewinnen.

Vierzehn Tage lang wurde schon Peter Voß _alias_ Iwan Basarow
ununterbrochen nach der Methode des Direktors, dem das Strafbergwerk
unterstellt war, behandelt, ohne daß der erwünschte Erfolg eingetreten
wäre. Im Gegenteil, er schwang jeden Morgen fröhlicher seine Schaufel
und pfiff vergnügt vor sich hin. Nur die Fesseln an den Händen und den
Füßen waren ihm bei der Arbeit etwas unbequem.

Die Methode, die bei ihm durchaus nicht anschlagen wollte, bestand
nämlich darin, einen großen Haufen Dünger mit der Schubkarre aus einer
Ecke des großen Gefängnishofes in die gegenüberliegende zu befördern.
Sobald der Haufen rund und schön an seinem Bestimmungsort angelangt
war, kam der Befehl, ihn schnellstens wieder an seinen ursprünglichen
Platz zurückzuschaffen.

Wenn’s weiter nichts ist! dachte Peter Voß und karrte, karrte, karrte.

Siebenunddreißigmal hatte er den Haufen hin und her geschoben, und noch
immer zeigte der Delinquent zum Aerger des Direktors keine Spur einer
geistigen oder körperlichen Anomalie.

„Warte nur, Bürschchen!“ knurrte er hinter dem Fenster seines Bureaus,
von wo er die ordnungsgemäße Ausübung seiner Methode überwachte. „Warte
nur, ich will dich schon mürbe kriegen! Beim tausendsten Mal rennst du
sicher mit dem Schädel gegen die Wand!“

Und Peter Voß karrte unverdrossen weiter. Beim fünfzigsten Male kam ihm
die Arbeit bereits ziemlich einförmig vor.

Dodd stattete dem Direktor hin und wieder einen Besuch ab und brachte
ihm jedesmal ein paar Flaschen Wodka mit.

„Es geht los!“ rief er eines Tages und zog Dodd zum Fenster. „Sehen
Sie, er arbeitet schon bedeutend schneller. Diese ungewöhnliche Hast
ist das erste Symptom der geistigen Verwirrung. Jetzt geht es mit
Riesenschritten vorwärts, das heißt abwärts mit ihm. Heut abend hat er
sicher den ersten Tobsuchtsanfall.“

Dodd krauste die Stirn. Zuerst hatte er über die Methode gelächelt.
Aber nun begann er einzusehen, daß sie, unablässig fortgesetzt,
schließlich doch die gewünschte Wirkung erzielen konnte. Ein
tobsüchtiger Millionendieb paßte durchaus nicht in sein Programm.
Außerdem hatte Peter Voß, nach seinen bisherigen Taten zu urteilen,
unbedingt Anlage zum Irrsinn. Und Dodd rückte daher mit der Wahrheit
heraus.

„Dieser Iwan Basarow ist der Millionendieb Peter Voß aus St. Louis!“
erklärte er dem Direktor.

„Ich weiß!“ erwiderte der seelensvergnügt und goß ein Glas Wodka hinter
die Binde. „Mein Freund aus Wladiwostok hat mir alles geschrieben. Sie
sind ein Nihilist, der Geld hat. Wieviel wollen Sie für Ihren Freund
geben?“

„Wieviel wollen Sie haben?“ fragte Dodd zurück, ohne den Irrtum
richtigzustellen.

„100 000 Rubel!“ versetzte der Direktor gemütlich.

„Viel Geld!“ meinte Dodd verstimmt. „Aber ich werde versuchen, es
herbeizuschaffen. Die Hälfte sofort, die andere Hälfte, sobald der Mann
sicher auf dem Schiff ist.“

„Bringen Sie nur erst die eine Hälfte!“ rief der Direktor und trank
noch ein Glas Wodka.

„Nun wohl!“ rief Dodd nach einigem Ueberlegen. „Vorher aber muß ich mit
dem Mann eine Unterredung haben.“

„Wozu?“ fragte der Direktor mit argwöhnisch hochgezogenen Brauen. „Ich
sehe es ungern, daß die Methode eine Unterbrechung erfährt.“

„Sie halten mich für einen Nihilisten!“ versetzte Dodd ruhig. „Ich bin
es ebensowenig, wie jener Mann da unten Iwan Basarow ist. Lassen Sie
mich zu ihm hinunter. Ich hoffe, er wird schon mürbe genug sein, um den
Versteck der gestohlenen Millionen zu verraten.“

„Haha!“ lachte der Direktor laut auf. „Sie sind ein sonderbarer Kauz.
Dieser Mann soll zwei Millionen gestohlen haben? Das wollen Sie mir
weismachen? Wäre er dann hier? Wäre er hier, wenn er nicht Iwan Basarow
wäre? Er behauptet selbst, es zu sein. Soll ich Ihnen mehr glauben
als ihm? Sobald ich die ersten 50 000 Rubel habe, dürfen Sie mit ihm
sprechen, eher nicht.“

Dodd kehrte nach Dui zurück und beriet sich mit Polly, die mit der
Bestechungsaktion durchaus einverstanden war. Jim Stockes mußte das
Geld geben. Das Schwierige war, ihn über die unbedingte Notwendigkeit
dieser großen Summe und ihre Verwendungsart aufzuklären, ohne daß die
russischen Telegraphenbeamten Argwohn schöpften. Dodd zerbrach sich
vergeblich den Kopf.

„Geben Sie her!“ sagte Polly, nahm ihm die Feder aus der Hand und
schrieb: „Stockes & Yarker, St. Louis, United States. Sofort 50 000
Dollar. Polly Voß.“

„Das soll genügen?“ rief er erstaunt.

„Ich hoffe!“ lächelte sie. „Wir können es ja versuchen.“

Am nächsten Abend kam die Antwort: „Geld in Nikolajewsk Sibirische
Bank.“

Dodd und Polly fuhren sofort hinüber, um es zu holen. Polly behielt die
Hälfte des Geldes.

Der Direktor von Petrokowskji aber wartete. Er nahm das vorgeschlagene
Geschäft durchaus von der ernsten Seite. Er gedachte die ersten 50 000
der nihilistischen Rubel einzustecken, dann wollte er versuchen, nicht
nur die zweite Rate, sondern womöglich noch mehr zu ergattern, ohne
Iwan Basarow freizugeben. Schlug das fehl, wollte er dem Gefangenen
wohl die Flucht ermöglichen, um die zweiten 50 000 einzusäckeln, dann
aber nicht nur Iwan Basarow, sondern auch seinen Freund und Befreier
einfangen lassen. Dazu waren nicht einmal die Kosaken nötig, das konnte
er von seinen Wärtern besorgen lassen. Und so wurde die Sache nicht
erst an die große Glocke gehängt. Dann wollte er die beiden Nihilisten
so lange peinigen, bis er ihnen die letzte Kopeke abgepreßt hatte,
seinen Abschied einreichen und nach Nizza übersiedeln, nicht ohne die
beiden Nihilisten seinem Nachfolger warm ans Herz gelegt zu haben.

Dodd hatte dagegen einen ganz anderen Plan. Er nahm das vorgeschlagene
Geschäft von der allerernsthaftesten Seite. Da Jim Stockes das Geld
geschickt hatte, war Dodd skrupellos genug, es seiner Bestimmung
zuzuführen. Aber 50 000 Rubel waren auch genug! Der Haken, an dem die
Aktion festgeraten konnte, lag nicht bei dem Direktor, sondern bei
Peter Voß. Gutwillig würde er sich nicht befreien lassen.

Aber es gab ein vortreffliches Mittel, Peter Voßens Willen völlig
auszuschalten. Und das war der springende Punkt in Bobby Dodds
reichlich erwogenem Plan.

Der Direktor, der sich trotz seiner schnöden Absichten wie ein
ehrlicher Makler vorkam, verlor allmählich seine Geduld und unterhielt
sich inzwischen damit, seinen Iwan Basarow zu beobachten, der eben den
Misthaufen zum 463. Male über den Hof karrte.

Da trat Dodd zum Direktor herein und zahlte ohne lange Einleitungen die
erste Rate von 50 000 Rubel auf den Tisch.

„Danke!“ sagte der Direktor und steckte das Geld sorgfältig in die
Brusttasche. „Sie dürfen jetzt zu ihm hinuntergehen.“

„O, das hat keine Eile!“ versetzte Dodd, nachdem er sich durch einen
Blick aus dem Fenster überzeugt hatte, daß Peter Voß die Grenze
des Irrsinns noch vor sich hatte. „Es ist mir sogar lieber, dieser
Millionendieb kommt etwas aus dem Gleichgewicht. Ich warte gern die
Wirkung Ihrer Methode ab. Es ist mir sogar sehr erwünscht, wenn der
Mann in die Zwangsjacke gesteckt wird. Wann werden Sie ihn so weit
haben? Ich muß das ungefähr wissen, da ich ihn auf einem Wagen abholen
werde. Ich bringe ihn dann nach Dui hinunter und sofort auf den ersten
Dampfer, der nach Japan geht. Sie haben nur dafür zu sorgen, daß die
Flucht nicht vor dem dritten Tage entdeckt wird.“

„Und die zweite Rate?“ fragte der Direktor begierig.

„Die zweiten 50 000 Rubel erhalten Sie am dritten Tage nach der
Auslieferung!“ versetzte Dodd ruhig. „Sie verstehen, wenn ich mir den
Rücken decke. Die Dame, die mich begleitet, wird sie Ihnen auszahlen.
Sie wird erst mit dem nächsten Dampfer abreisen.“

Aber er gedachte sich den Rücken noch weiter zu decken, indem er mit
Peter Voß nicht nach Dui hinunter, sondern schnurstracks über die
japanische Grenze kutschieren wollte. In Japan durfte er hoffen, als
amerikanischer Detektiv, nicht aber als Nihilist anerkannt zu werden.

Der Direktor zeigte sich mit allem einverstanden und erbot sich
endlich, den vermeintlichen Millionendieb heraufrufen zu lassen.

„O!“ rief Dodd und sprang auf. „Sie wollen die Methode unterbrechen?
Das wäre sehr schade. Ich müßte dann noch länger warten. Erlauben Sie,
daß ich mich zu ihm hinunterbegebe, um festzustellen, wie weit er schon
ist.“

Bald darauf trat Dodd zu Peter Voß, der bei jedem Spatenstich einen
Fluch ausstieß.

„Das ist ja rein zum Verrücktwerden!“ stöhnte er auf englisch, als er
Dodd bemerkte, und schob mit hochgetürmter Karre ab.

„Peter Voß!“ rief Dodd und stellte sich ihm in den Weg. „Wo haben Sie
die Millionen versteckt?“

„Millionen?“ erwiderte Peter Voß auf englisch und setzte sich gemütlich
auf die Karre. „Ich vermute sie in diesem Misthaufen, deshalb wühle
ich ihn um und um. Und ich finde sie sicher, wenn ich nicht vorher
verrückt werde.“

„Das ist auch der Zweck dieser Arbeit!“ klärte ihn Dodd auf. „Der
Direktor hat diese Methode ersonnen, um unbequeme und gefährliche
Sträflinge dem Narrenhaus überliefern zu können.“

„So ein Satansbraten!“ versetzte Peter Voß, ohne seine Miene zu
verändern, denn er sah, daß der Direktor oben am Fenster stand und die
Szene beobachtete. „Ich habe es längst geahnt. Jedenfalls bin ich Ihnen
sehr dankbar dafür, daß Sie mich auf diese Gefahr aufmerksam machen.“

„Es gibt ein sehr einfaches Mittel!“ bemerkte Dodd freundlicher, „um
diese Dankbarkeit zu beweisen.“

„Ich weiß es,“ sprach Peter Voß. „Aber ich weiß wirklich und beim
besten Willen nicht, wo die Millionen sind. Es ist ein Jammer, daß Sie
es mir nicht glauben. Und wenn die ganze Erde ein einziger Misthaufen
wäre, Mr. Dodd, ich würde sie Ihnen zuliebe von vorn bis hinten
durchwühlen, nur um die vertrackten zwei Millionen zu finden.“

„Machen Sie keine Flausen!“ rief Dodd ärgerlich. „Die Sache ist für Sie
außerordentlich ernst.“

„Gewiß!“ bestätigte Peter Voß mit Grabesstimme. „Ich habe so ein ganz
deutliches Gefühl, als wenn ich noch im Laufe dieses Tages verrückt
werden müßte. Nur weiß ich noch nicht, ob ich mir an jener oder an
dieser Mauer den Schädel einrennen werde. Oder meinen Sie, daß ich im
Irrenhaus auch Mist karren muß? Dann bleibe ich lieber vernünftig. Man
sieht hier wenigstens das Meer, und wenn man auch nur einen kleinen
Zipfel davon sieht.“

„Sie sind ein Narr!“ sprach Dodd und wandte sich, mit Rücksicht auf den
Direktor am Fenster, unter einer ärgerlichen Bewegung ab.

Heimlich aber freute er sich, daß sein Plan gedieh. Wenn alles glückte,
so steckte Peter Voß heute abend in der Zwangsjacke.

„Der Mann ist schon halb verrückt!“ sprach Dodd, als er wieder zum
Direktor trat, mit zufriedener Miene. „Sein Gedanken verwirren sich
schon.“

„Sehen Sie!“ rief der Direktor triumphierend. „Meine Methode! Sie ist
unfehlbar, so simpel sie ist.“

Dann standen sie beide am Fenster und beobachteten den karrenden
Sträfling, der sich bei jedem zehnten Spatenstich herzhaft in die
Hände spuckte und noch immer nicht das erste Anzeichen der beginnenden
Geistesverwirrung zeigen wollte.

Dodd kehrte nach Dui zurück und berichtete Polly von seinem Erfolg.

„So halten Sie den Vertrag?“ rief sie empört.

„Vertrag oder nicht Vertrag!“ rief er triumphierend. „Ich habe den Dieb
und werde ihn zu halten wissen.“

Jim Stockes erhielt telegraphischen Bericht.

„Abwarten!“ schmunzelte der. „Von Sachalin bis St. Louis ist ein weiter
Weg.“

Dann warf er einen besorgten Blick auf den Kupferkurs, der noch immer
nicht anziehen wollte, ging in den Klub und behielt das Telegramm für
sich. Er war kein Freund von blindem Feuerlärm.



17.


Der Direktor des Strafbergwerkes Petrokowskji merkte allmählich, daß
aus Dodd keine Kopeke mehr herauszupressen war, und wandte sich daher
an Peter Voß _alias_ Iwan Basarow.

„Merk auf, mein Söhnchen!“ sprach er und rieb sich nachdenklich die
Wodkanase. „Dein Freund will nichts für deine Freiheit zahlen. Wieviel
ist sie dir wert?“

„Nichts!“ erwiderte Peter Voß mit Gleichmut. „Die Freiheit ist eine
Schimäre. Ich habe hier eine sehr gesunde Beschäftigung. Die ist mir
mehr wert als die Freiheit, faulenzen zu müssen.“

„Nun gut!“ schmunzelte der Direktor und nahm einen herzhaften
Schluck aus der Flasche. „Ich werde dich an die Mauer schließen und
dich faulenzen lassen. Zur Abwechslung kannst du jeden Tag zwanzig
Knutenhiebe bekommen.“

„Das wäre mir, offen gestanden, weniger angenehm!“ bekannte Peter Voß
ehrlich. „Wieviel kostet meine Freiheit?“

„50 000 Rubel! Nicht eine Kopeke weniger.“

„Viel Geld!“ seufzte Peter Voß.

„Ihr Nihilisten habt viel Geld, mehr als die Regierung. Also her damit.
Zahle 50 000 Rubel, und ich lasse dich laufen.“

„Aber woher nehmen und nicht stehlen?“

„Das ist deine Sache! Denk nach, mein Söhnchen. Schreib an das Komitee.“

„Schreiben?“ dachte Peter Voß und kraute sich hinterm Ohr. „Das hilft
nichts. Die Leute verlangen Sicherheiten.“

„Und ich auch!“ trumpfte der Direktor auf. „Erst das Geld, dann die
Freiheit.“

Peter Voß zergrub sein Hirn nach neuen Möglichkeiten.

„Ich hab’s!“ rief er plötzlich und tippte sich an die Stirn, daß die
Ketten rasselten. „Ihr behaltet meinen Freund als Bürgen zurück, und
ich gehe und hole das Geld.“

„Hm!“ knurrte der Direktor, erwog den Plan und fand ihn annehmbar. „Das
ist eine gute Idee. Wird dein Freund damit einverstanden sein?“

„Kaum!“ wagte Peter Voß zu zweifeln. „Aber er wird gar nicht gefragt.
Unser Solidaritätsgefühl verlangt es. Wenn er nicht imstande ist, die
50 000 Rubel loszueisen, mir ist es eine Kleinigkeit. Ich bin der
Sekretär des Pariser Komitees, während er nur einen kleinen Posten
in New York vertritt. Ich wundere mich überhaupt, daß man einen so
unbedeutenden Menschen für diese Mission ausgewählt hat. Er kann ja
nicht einmal ordentlich Russisch. Er ist ein Idiot. Lassen Sie ihn Mist
karren, bis ich wiederkomme.“

„Ich will es mir überlegen!“ versetzte der Direktor nach einer Pause
angestrengtesten Nachdenkens.

Peter Voß kehrte zu seiner Beschäftigung zurück und schaufelte den
längst zu Staub zermahlenen Misthaufen in die andere Ecke hinüber.

Bobby Dodd aber saß in Dui und feilte auf Teufel komm heraus, er feilte
Schlüssel. Die Wachsabdrücke hatte er sich von den Universalschlüsseln,
die in dem Bureau des Direktors hingen, genommen. Darin übertraf Dodd
den fingerfertigsten Einbrecher.

Und er brachte die Schlüssel zustande, einen großen, der das äußere
Tor, einen mittleren, der die Zellen, und einen kleinen, der die
Fesseln öffnete. Alle drei verband er durch einen Schlüsselring. Auf
dem Ringe gravierte er den Namen Polly ein.

Gegen Abend begab er sich nach Petrokowskji hinauf. Der Wärter, der das
Tor öffnete, empfing ihn mit einem vergnügten Schmunzeln, das Dodd mit
einem Trinkgeld belohnte.

Peter Voß hatte sein Tagewerk beendet und löffelte in der Zelle seine
Suppe. Dodd ging dicht an dem Misthaufen vorbei und ließ unversehens
die drei Schlüssel fallen, die sich kraft ihrer Schwere tief in den
Staub einbohrten.

Im Bureau des Direktors wurde er von drei handfesten Wärtern gepackt,
trotz seines Protestes gefesselt und in eine leere Zelle gesteckt.

„Ich bin amerikanischer Bürger!“ schrie er.

„Du bist ein russischer Nihilist, mein Söhnchen!“ klärte ihn der
Direktor freundlich auf. „Mach kein Geschrei, sonst kriegst du die
Knute. Und morgen wirst du für deinen Freund Mist karren, bis er die
anderen 50 000 Rubel bringt.“

Bobby Dodd stand da wie eine Bildsäule.

Peter Voß wurde seiner Ketten entledigt. Vergnügt rieb er sich die
Handgelenke. Er bekam Dodds Kleider, und sie paßten ihm auch. Nur die
Hosen waren ihm etwas zu kurz. In der hinteren Tasche fand sich etwas
Kleingeld, das dem Direktor entgangen war.

„Beeil dich, Iwan Basarow!“ rief der Direktor und bot ihm sogar einen
Wodka an. „Mach, daß du wiederkommst.“

„Wiederkommen?“ meinte Peter Voß und machte ein sehr kritisches
Gesicht. „Ich werde Euch die 50 000 Rubel lieber schicken. Es ist
sicherer. Denn am Ende sperrt Ihr mich wieder ein und laßt meinen
Freund laufen, damit er mich auslöst. Das gäbe eine Schraube ohne Ende.“

„Du bist ein ganz durchtriebener Bursche!“ erwiderte der Direktor und
opferte noch einen Wodka.

Abends um zehn Uhr verließ Peter Voß das Gefängnistor, dem Wärter, der
ihm öffnete, gab er zehn Rubel aus Dodds Tasche.

Dann blieb er mitten auf der Straße stehen und überlegte. Polly war
in Dui. Seine Sehnsucht nach ihr war geradezu überwältigend. Aber er
bezwang sich und schlug sich südwärts auf die japanische Grenze zu.

Am nächsten Morgen wurde Dodd in Ketten zum Misthaufen geführt, um
Peter Voßens Arbeit da aufzunehmen, wo er sie liegen gelassen hatte.

Schon beim dritten Spatenstich traf er auf die drei Universalschlüssel.
Aber er nahm sie nicht auf, denn der Wärter stand zu nahe. Dodd
arbeitete mit einer wahren Wut.

Gegen Mittag, als er den Haufen zum siebenundzwanzigsten Male
disloziert hatte, zeigten sich schon deutliche Spuren einer
Geistesverwirrung.

Am Abend, als er den Haufen zum fünfzigsten Male um und um gewendet
hatte, wurde er tobsüchtig.

Unter furchtbarem Gebrüll fuhr er mit seinem Kopf in den Misthaufen
hinein, wühlte mit beiden Fäusten darin herum und brachte dabei die
drei Schlüssel in seine Tasche, ohne daß es der Wärter, der ihn zu
betreuen hatte, oder der Direktor, der auf das Gebrüll hin zum Fenster
geschossen war, bemerkt hätten.

Bobby Dodd hatte einen so täuschenden Tobsuchtsanfall, schlug mit
Armen und Beinen so ziellos um sich, rollte die Augen, fletschte die
Zähne und brüllte, brüllte, brüllte, wobei er jede Gewalt über seine
Stimme verloren zu haben schien, daß sich der Wärter in respektvoller
Entfernung hielt.

„In die Zelle zurück!“ schrie der Direktor hinunter. „Siehst du denn
nicht, daß der Mann tobsüchtig geworden ist?“

Zum Beweise nahm Bobby Dodd beide Hände voll Mist und wollte sie
in seinen Mund stopfen, als sei er der Meinung, auf einem Haufen
Beluga-Kaviar zu sitzen. Das Hinzuspringen des Wärters bewahrte ihn
davor, diesen wenig geschmackvollen Beweis zu Ende zu führen. Ein
zweiter Wärter lief herbei. Dodd wurde bei den Handgelenken und beim
Kragen gepackt, und so schleppten sie ihn, halb schwebend, halb
schleifend, in seine Zelle, wo sie ihn mit drei Ketten fest an die Wand
schlossen.

Schließt nur! dachte er. Ich kann auch schließen! Und das viel besser
als ihr!

Und er brüllte, daß die Wände bebten, schlug um sich, daß ihm die
Gelenke unter den eisernen Manschetten schmerzten, und brüllte wie ein
Stier.

Darauf fiel er in Ohnmacht, verfolgte aber ganz genau, was um her
ihn vorging. Der Arzt, selber ein Sträfling, kam, und stellte _furor
maniacus_ fest.

„Meine Methode!“ sagte der Direktor und rieb sich freudig die fetten
Wurstfinger.

Es war eine stockfinstere Nacht. Die Gefängnisuhr schlug gerade drei,
als Bobby Dodd unbemerkt den allzu gastlichen Ort verließ. Im Gegensatz
zu Peter Voß schlug er sich auf Dui zu, wo er am Morgen einem
ausreitenden Kosakenpikett in die Hände fiel. Er wurde dem Gouverneur
von Dui übergeben, der ihn zunächst ins Gefängnis setzte.

Peter Voß aber hielt die südliche Richtung inne, indem er immer durch
das Unwegsamste strebte. Da war er vor den Kosaken am sichersten.

Dodds Flucht wurde am Morgen entdeckt. Der Direktor benachrichtigte
sofort den Gouverneur von Dui und die Grenzstationen davon. Dodd
bestritt, Iwan Basarow zu sein, und Polly kam ihm zu Hilfe. Also blieb
er vorerst im Gefängnis von Dui sitzen. Der Fall lag zu verzwickt, als
daß die russische Justiz ihm sofort gewachsen gewesen wäre.

Inzwischen kletterte Peter Voß in den Felsen herum, die den Tiaraberg
umgaben, und suchte nach etwas Eßbarem. Die wenigen Beeren, die er
fand, waren nur geeignet, seinen Appetit noch heftiger zu reizen.
Seit sechsundreißig Stunden hatte er keinen ordentlichen Bissen mehr
gegessen. Am Tage durfte er sich nicht über den fünfzigsten Breitengrad
wagen, der in Sachalin die Grenze bildete. Und bis zur Dunkelheit
konnte er, seinem Riesenhunger nach zu urteilen, schon dreimal
verhungert sein. Es blieb ihm nichts weiter übrig, er mußte aus den
Felsenregionen hinabsteigen, um zu Menschen zu kommen. Und er suchte
und suchte, stieg auf freistehende Felsen, um Umschau zu halten,
kletterte auf Bäume. Doch nirgends sah er eine Spur von Rauch, die auf
eine Ansiedelung hätte schließen lassen können.

Bei dieser Kletterei aber fand er ein Vogelnest mit sechs Eiern.
Er hätte es nicht gefunden, wenn er das brütende Weibchen nicht
unversehens aufgescheucht hätte. Nun saß es auf dem nächsten Ast und
schimpfte mörderlich. Das Männchen kam herbei und half nach Noten.
Diese Vögel waren braun und etwas größer als Drosseln.

„Entschuldigen Sie!“ sagte Peter Voß und lüftete die Mütze. „Ein
reisender Handwerksbursche bittet um eine kleine Gabe. Hoffentlich
haben Sie die Eier noch nicht zu stark angebrütet.“

Und er trank sie unter dem Protest der beiden Erzeuger der Reihe nach
leer. Nur das letzte schmeckte ein wenig bitter.

In der Not frißt der Teufel Fliegen! dachte er, bedankte sich höflich
für die Bewirtung, kletterte vom Baum herunter und suchte weiter nach
Nestern, denn die Jahreszeit war dafür günstig.

Und da fand er einen Mann mit einem großen, wilden, schwarzen Bart,
gelbbrauner Hautfarbe und mit rauhen Fellen bekleidet, die durch
Bastbinden zusammengehalten wurden. Er hatte zwei große Hunde bei sich
und trug ein frisch erlegtes Reh auf der Schulter. Als er Peter Voßens
ansichtig wurde, erschrak er. Die beiden Hunde nicht minder.

„Ich habe Hunger!“ sagte Peter Voß auf russisch.

Doch der Mann verstand es nicht, er verstand überhaupt keine
europäische Sprache. Da machte Peter Voß die Bewegung des Essens nach
dem offenen Munde hin.

Nun begriff der Mann, der dem aussterbenden Volke der Aino angehörte,
legte das Wildbret nieder, zog ein Messer und löste einen Ziemer los,
den er dem Flüchtling reichte.

Peter Voß schüttelte den Kopf und suchte dem Manne begreiflich zu
machen, daß er kein rohes Fleisch vertragen könne. Er hatte schnell
erkannt, daß der Wilde ein sehr gutmütiger Mensch war, und gab ihm nun
durch einen großen Aufwand von erläuternden Gebärden zu verstehen, daß
er mit nach seiner Hütte gehen wolle.

Und der Mann nahm ihn mit. Nach einer halben Stunde erreichten sie ein
Dorf, das aus einem Dutzend größerer und kleinerer Hütten bestand,
die auf kurzen Pfählen saßen und mit Binsen behangen waren. Die
hervorstechendste Eigenschaft dieser Niederlassung war der Schmutz,
der sich in einer wahrhaft beängstigenden Weise überall bemerklich
machte. In einem Raum, der kaum drei Meter im Geviert maß, hockte eine
siebenköpfige Familie, die Peter Voß beim Abendbrot zusah. Eine riesige
Schüssel Hirsebrei stand vor ihm, aus der er mit den Händen löffeln
mußte.

Andere Völker, andere Sitten! dachte er und bemühte sich, möglichst
wenig von der verpesteten Luft, die in dem Raume herrschte und die sich
ihm sogar auf den Appetit legte, einzuatmen.

Nachbarn kamen hinzu, den Fremdling zu betrachten, und bald war die
Unterhaltung im Gange. Peter Voß führte das Wort. Es gab einige unter
den Leuten, die etwas Russisch verstanden. Sie wußten auch, daß er ein
entsprungener Sträfling war. Da sie aber recht unverdorbene Naturkinder
waren, deren Faulheit ebenso groß war wie ihre Gutmütigkeit, und da
Peter Voß so vorzüglich zu betteln verstand, gaben sie ihm alles, was
er haben wollte, einen Sack mit Mundvorrat, einen Spieß, ein Messer und
ein bißchen Kautabak, der allerdings, weil er auf Sachalin gewachsen
war, nichts Hervorragendes an sich hatte.

Ueberglücklich fiel Peter Voß der ältesten, häßlichsten und
schmutzigsten Ainogroßmutter, die anwesend war, um den Hals und gab ihr
einen echt russischen Kuß. Damit hatte er die Herzen aller erobert.
Zwei junge Leute erboten sich sogar, ihn auf einem Schleichweg
über die Grenze zu bringen. Gleichzeitig gedachten sie die günstige
Gelegenheit zu benutzen, um auf dem Rückweg zu schmuggeln. Denn der
Spiritus war in Japan bedeutend billiger als in Rußland.

Um Mitternacht brachen sie mit Peter Voß auf. Hunde nahmen sie nicht
mit. Deren Gebell hätte sie nur verraten können. Diese Leute, die
jeden Fußsteig im Finstern fanden und Peter Voß in die Mitte nahmen,
wußten mit einer Treffsicherheit sondergleichen genau an dem Punkt den
fünfzigsten Breitengrad und damit die Grenze zu überschreiten, wo die
Kosakengefahr am geringsten war.

Am Morgen erreichten sie das erste japanische Ainodorf, wo Peter Voß
wieder mit Hirsebrei bewirtet wurde.

„Das verträgt mein Magen auf die Dauer nicht!“ sagte er, bedankte sich
bei den Führern und machte, daß er weiter nach Süden kam.

Das Gebirge, in dessen Schutze er die Grenze überquert hatte, fiel
langsam zur Terpjenjabai ab. Sein Augenmerk war auf zwei Dinge
gerichtet, erstens möglichst schnell ans Meer zu gelangen, und zweitens
möglichst weit von der Telegraphenlinie abzubleiben, die auf der andern
Seite der Bai weit nach Süden hinablief.

Als er endlich das Meer aufblinken sah, bemerkte er einen Bohrturm
und ein paar Petroleumbassins daneben. Auf der Reede, nicht weit vom
Strande, lag sogar ein Petroleumdampfer, der nach Nagasaki bestimmt war.

Jokohama wäre mir allerdings lieber gewesen! dachte Peter Voß und ging
an Bord, um sich dem Kapitän als Matrose anzubieten.

Das war ein kleiner, geschmeidiger Japaner, der ein paar Brocken
Englisch konnte, aber keine Lust hatte, einen russischen Flüchtling
mitzunehmen.

Aber er mußte ihn doch mitnehmen. Peter Voß hatte bei seinem Besuch
genug gesehen, um in der Nacht wieder an Bord gelangen zu können. Er
schwamm eine kurze Strecke, erreichte eine Schute, die längsseits lag,
und versteckte sich im Kettenkasten des Dampfers.

Als der Anker am Morgen heraufgeholt wurde, nahm sich Peter Voß in
acht, daß er mit der schweren Kette nicht in Kollision kam. Vier
Stunden später erschien er an Deck.

Der Kapitän überschüttete ihn mit einem Schwall wutgetränkter Worte und
wollte ihn höchsteigenhändig über Bord werfen. Peter Voß streifte sich
langsam beide Aermel hoch, da kamen ein paar tätowierte Seemannsarme
zum Vorschein. Das schien den Kapitän einigermaßen zu beruhigen. Er
verlangte von Peter Voß, er solle in den Heizraum steigen, um Kohlen zu
trimmen.

„Warum nicht!“ lachte Peter Voß und gehorchte. „Arbeit schändet nicht.
Besonders, wenn es eine vernünftige Arbeit ist. Lieber japanische
Kohlen trimmen als russischen Mist karren!“

Und er trimmte, daß den beiden japanischen Heizern angst und bange
wurde, so flogen ihnen die schweren Kohlenkörbe an den Nasen vorbei.
Aber dafür aß Peter Voß noch einmal so viel als sie beide zusammen.

Dodd aber saß in Dui und kämpfte mit der ihm eigenen Zähigkeit um seine
Freiheit. Er telegraphierte nach St. Petersburg, nach Moskau, nach New
York, nach St. Louis. Nichts wollte helfen. Schließlich wollte er es
mit der Kraft des blanken Rubels versuchen. Da aber stieß er auf Pollys
Widerstand, die das Geld in Verwahrung hatte.

„Halten Sie so unsern Vertrag?“ rief Dodd zähneknirschend.

„Davon steht nichts drin!“ erwiderte sie ruhig und ließ ihn sitzen.

Er telegraphierte an Stockes & Yarker um fünftausend Dollar. Aber Jim
Stockes war diesmal schwerhörig.

Da kam ihm Hilfe von Peter Voß, der inzwischen in Nagasaki angekommen
war und nun in aller Sicherheit an Polly telegraphierte:

„Tokio, Tokio-Hotel.“

Das Telegramm wurde Polly erst ausgehändigt, nachdem es vom Gouverneur
begutachtet und Bobby Dodd vorgelegt worden war.

Außerdem trafen jetzt die fünftausend Dollar von Stockes & Yarker ein.
Und so konnte Bobby Dodd die Verfolgung weiter aufnehmen. Noch von Dui
aus machte er die japanische Polizei mobil, indem er ihr den Steckbrief
des Millionendiebs Peter Voß telegraphisch übermittelte.

„Geben Sie das Rennen noch nicht auf?“ fragte Polly lächelnd.

„Nein!“ stieß er heraus und ballte die Fäuste. „Ich habe sogar die
Hoffnung, daß er sich noch den Hals brechen wird. Damit wäre uns allen
geholfen. Sie brauchten sich dann nicht erst von ihm scheiden zu
lassen.“

„Ich bewundere Ihre Geduld!“ lachte sie.

Dann brachen sie nach Japan auf. Sie mußten über Wladiwostok fahren.
Von hier telegraphierte Dodd nach Strienau, aber nicht an den
Landgerichtsrat, sondern an seine Haushälterin. Das Telegramm enthielt
nicht viel mehr als seine zukünftige Adresse: Tokio, Japan, Tokio-Hotel.

Die unverehelichte Martha Zippel begriff sofort diese freundliche
Erinnerung und hielt den Telegrammverkehr des Landgerichtsrats auch
weiterhin unter schärfster Kontrolle.

Peter Voß, der Trimmer, aber war in Nagasaki und sah sich nach einer
Gelegenheit um, billig nach Jokohama zu kommen.

Diesmal reiste er sogar ohne Zahnbürste!

Dodds Anzug war durch den Aufenthalt im Kohlenbunker bis zur
Unkenntlichkeit nachgedunkelt.

Es lagen viele Schiffe im Hafen, Schiffe der verschiedensten Nationen,
auch etliche deutsche, von denen aber leider keins nach Jokohama ging.
Aber ein Engländer, die „City of Bristol“, war da, der dorthin wollte.

Das wär schon was! dachte Peter Voß und machte sich bereit, an Bord zu
gehen.

Aber da kam eben ein Dampfer des Norddeutschen Lloyd das Fahrwasser
herauf und legte sich neben die „City of Bristol“.

Der ist besser! dachte Peter Voß. Schade, daß ich da nicht auch einen
Michel Mohr an Bord habe!

Mit einer Kohlenschute wagte er sich hinüber und kletterte an Deck,
wo er von dem wachthabenden Offizier, der ihn für einen Mann
der Schiffsbesatzung hielt, fürchterlich angeschnauzt und höchst
überflüssigerweise gefragt wurde, wie er sich unterstehen könne, mit
seinen schmierigen Pfoten auf dem weißgescheuerten Deck herumzutrampeln.

Oben bin, oben bleib ich! dachte Peter Voß, verdrehte auf der Stelle
die Augen und fiel so natürlich auf die sauberen Planken, daß der
Offizier sofort dem Bootsmann flötete, um den ohnmächtigen Feuermann
augenblicklich ins Lazarett bringen zu lassen. Auch als er im Bett
lag, rührte Peter Voß keinen Finger. Der Schiffsarzt bemühte sich
vergeblich, ihn ins Bewußtsein zurückzurufen. Er stach ihm sogar mit
einer Nadel in die Herzgrube und unter die Fingernägel. Es tat einfach
scheußlich weh. Aber Peter Voß hielt dieser medizinischen Tortur stand
wie ein Held.

Aber mit der Wimper hatte er doch gezuckt. Deshalb glaubte der Arzt,
auf die Siegellackprobe verzichten zu dürfen. Er stellte Ohnmacht fest,
verordnete Ruhe, gab dem Lazarettgehilfen die nötigen Weisungen und
ging auf die Brücke, um den Vorfall dem Kapitän zu melden. Aber der
hatte den Kopf voll, denn der Dampfer sollte in wenigen Stunden wieder
in See gehen, daß er sich durch einen ohnmächtigen Heizer nicht von der
Weinflasche weglocken ließ, hinter der er mit dem Agenten saß.

„Lassen Sie den Mann ruhig liegen!“ befahl er kurz. „Er wird schon
wieder zu sich kommen.“

Also schlief Peter Voß zum ersten Male wieder seit langer Zeit in einem
ordentlichen sauberen deutschen Bett. Um Mitternacht erwachte er,
stellte fest, daß sich der Dampfer bereits auf hoher See befand, legte
sich beruhigt von Steuerbord nach Backbord und schlief weiter.

Am nächsten Morgen bei der Ronde erschien der Kapitän an seinem Bett.
Peter Voß gähnte und rieb sich die Augen. Er schaute den Kapitän
verwundert an.

„Wo bin ich denn?“ fragte er ganz verblüfft. „Ich glaube, ich bin
gestern in meiner Besoffenheit auf ein falsches Schiff geraten.“

„Der Kerl gehört ja gar nicht zu unserer Besatzung!“ rief der erste
Maschinist empört.

Peter Voß kam hoch und machte ein ganz unbeschreiblich dummes Gesicht,
als wäre er soeben erst vom Himmel heruntergefallen.

„Auf welchem Dampfer bist du gewesen?“ schrie ihn der Kapitän an und
schüttelte ihn kräftig.

„Auf der ‚City of Bristol‘!“ log Peter Voß bestürzt. „Meine Effekten,
meine Heuer! Ich muß nach Jokohama, sonst verlier ich sie. Lieber,
bester Herr Kapitän, nehmen Sie mich mit, setzen Sie mich nicht
unterwegs ab. Ich bin gänzlich mittellos. Ich will gern arbeiten. Ich
verlange nichts umsonst. Helfen Sie einem Landsmann.“

Und schon liefen ihm ein paar dicke Krokodilstränen über die
schmutzigen Wangen.

„Also besoffen warst du, du Schwein!“ schnauzte der Kapitän, schon
weniger wütend. „Marsch, in den Heizraum mit dir!“

Der erste Maschinist übergab ihn dem zweiten Maschinisten, der Peter
Voß vor das mittelste Kesselfeuer stellte, wo es am heißesten war.

He! dachte er, nahm den Twistlappen in die Hand und fuhr mit dem
Schürhaken in die höllische Glut. Mich kannst du nicht meinen! Ich
fürcht mich noch lange nicht!

Sie liefen noch etliche Zwischenhäfen an. Als er nach dem Namen gefragt
wurde, gab er an, Franz Lehmann zu heißen. Es gefiel ihm sehr gut
zwischen seinen neuen Kollegen. Das Trimmen besorgten chinesische
Kulis. Er fühlte sich als doppelter Millionendieb zwischen den
Feuertüren dieses Ozeandampfers vollständig sicher.

Der zweite Maschinist bezeigte ihm des öftern seine vollste
Zufriedenheit und schenkte ihm sogar einen alten, abgelegten Anzug.

„Es ist hier viel schöner als auf der ‚City of Bristol‘!“ sagte er
eines Tages zu ihm. „Ich hätte schon Lust, hier an Bord zu bleiben.“

„Wir wollen mal sehen, was sich machen läßt!“ meinte der Maschinist
gutmütig und ging, die Manometer und die Wasserstandsgläser zu
kontrollieren.



18.


Als Peter Voß in Jokohama ankam, pumpte er seine Kollegen im Heizraum
um ein paar Jen an und ging in dem abgelegten Anzug des zweiten
Maschinisten auf die Suche nach der „City of Bristol“ in der festen
Hoffnung, daß sie noch nicht angekommen oder schon wieder abgefahren
sei. Das letztere wäre ihm natürlich viel lieber gewesen.

Aber sie war leider da. Sie hatte sogar, um nur recht aufzufallen, über
die Toppen geflaggt.

Schade! dachte er, warf dem Lloyddampfer einen Abschiedsblick zu und
ging in eine Hafenschenke, um sich in aller Ruhe zu überlegen, wie er
sich weiter durch die Welt schlagen könnte, ohne Dodd in die Hände zu
laufen. Zunächst mußte er sich über den Kursstand der amerikanischen
Kupferpapiere orientieren. Zu dem Zweck blätterte er in der englischen
Tokio-Times, suchte aber darin vergeblich die Kupferkurse, für die
sich die japanische Oeffentlichkeit offenbar nicht mehr interessierte,
weil sie gar zu tief standen. Dagegen fand er etwas anderes, was für
ihn noch interessanter war, nämlich seinen Steckbrief. Die genaue
Beschreibung seiner Physiognomie und seiner früheren Kleidung ließ
nichts zu wünschen übrig. Als Unterschrift trug der Steckbrief: Bobby
Dodd, Tokio, Tokio-Hotel.

Hm! dachte Peter Voß, der sich in dem abgelegten Maschinistenanzug, dem
die Uniformknöpfe fehlten, durchaus sicher fühlte. Ich muß doch mal
sehen, ob Polly noch bei ihm ist!

Mit der Eisenbahn fuhr er die kurze Strecke nach Tokio hinauf und
hatte bald das Hotel gefunden. Von dem gegenüberliegenden Teehause aus
hielt er das Portal des Hotels unter scharfer Beobachtung. Als Deckung
diente ihm eine große amerikanische Zeitung, in deren Kurszettel er
sich vertiefte. Da aber diese Nummer schon vor drei Wochen gedruckt
worden war, konnte sie ihm über die Kupferpapiere, die tatsächlich in
den letzten Tagen leise angezogen hatten, noch nichts Erfreuliches
mitteilen.

Da sauste eine Jinrikscha, eine von einem Kurumaya, dem Wagenmann,
gezogene zweirädrige Karre, die in Tokio die Stelle der Droschke
vertritt, die Straße herauf und hielt vor dem Hotel. Ein Mann stieg
aus, der Peter Voß sehr bekannt vorkam.

Es war kein anderer als Bobby Dodd, sein Verfolger. Er schien sehr
große Eile zu haben, denn er vergaß sogar, dem lahmen Bettler, der
neben dem Hotelportal hockte, ein Almosen zu geben, obschon ihm dieser
arme Mann sein löffelförmiges Sammelbrett dicht unter die Nase hielt.
Mit langen Schritten schoß Dodd ins Hotel.

Peter Voß war nicht überrascht und handhabte die schützende Zeitung mit
gesteigerter Vorsicht. Gleich darauf sah er Polly, wie sie ein Fenster
im zweiten Stock aufstieß und neugierig auf das bunte Straßengewühl
herunterschaute. Peter Voßens Herz tat einen Freudensprung. Zum
Anbeißen schön war sie. Sie lächelte sogar und schien gänzlich
unbekümmert zu sein, als sei ihr Mann soeben Mitinhaber der Firma
Stockes & Yarker geworden.

Tausend Möglichkeiten schossen durch sein Hirn, wie er sich ihr
gefahrlos nähern könnte, aber alle verwarf er, getreulich seinem
Grundsatz, lieber tausend Prozent Vorsicht zu viel als ein Prozent zu
wenig aufzuwenden.

Neben dem Hotel standen einige Jinrikschamänner mit ihren leichten
Gefährten. Wenn er mit einem die Rollen tauschte, dann würde er,
wenn Polly erschien, sich herandrängen, um mit ihr im rasenden Tempo
davonzufahren, bis die Gegend einsam genug war, daß er ihr um den Hals
fallen konnte. Da aber in diesem Moment ein mindestens drei Zentner
schwerer holländischer Pflanzer aus dem Hotel trat und schnaufend auf
eines der Wägelchen kroch, sah Peter Voß auch von diesem Plane ab.
Es war ihm überdies schon was Besseres eingefallen. Der alte, lahme,
kahlköpfige Bettler schien ihm für einen Rollentausch geeigneter
zu sein. Fast jeder Hotelgast, der aus dem Portal trat, legte dem
Unglücklichen etwas auf das breite Sammelbrett. Der Mann brauchte gar
nicht den Mund aufzutun. Peter Voß beobachtete ihn längere Zeit sehr
genau und prägte sich seine Gesten und seine bejammernswerte Miene ganz
genau ein. Er sah auch wirklich rein zum Erbarmen aus. Ueber dem linken
Auge klebte ihm ein schwarzes Pflaster, und die Finger seiner Hände
waren von irgendeiner schrecklichen Krankheit nach den verschiedensten
Richtungen krumm gezogen.

Der Kerl hat eine gute Einnahme! dachte Peter Voß und überzählte in
Gedanken seine wenigen Jenstücke. Was er wohl dafür verlangt, um mich
ein paar Stunden an seinen Platz zu lassen? Ich könnte ihm ja auch die
Hälfte der Einnahme geben!

Und er wartete. Als die Hitze am heftigsten stach und das Leben auf
der Straße und vor dem Hotel einschlief, setzte sich der lahme Bettler
auf allen Vieren in Bewegung. Dicht bei Peter Voß kam er vorbei. Seine
Hände stützte er auf zwei Griffbrettchen, das Sammelholz hielt er
zwischen den Zähnen. Peter Voß nahm sofort seine Verfolgung auf. An
der dritten Straßenecke aber gab es für ihn eine große Ueberraschung.
Der Bettler sprang urplötzlich auf seine zwei gesunden Beine, steckte
die Handstützen und die Sammellöffel ein, riß das Pflaster von seinem
linken Auge und trabte mit einer bewundernswerten Schnelligkeit davon.

Na warte, du Kujon! dachte Peter Voß und sauste hinter ihm drein. Jetzt
hab ich dich!

Und er erwischte ihn glücklich, als der so wunderbar schnell geheilte
Krüppel in einem niedlichen Häuschen verschwinden wollte. Der harmlose
Betrüger erschrak furchtbar, als er sich ertappt sah. Er konnte genug
Englisch, um die Drohungen seines Entlarvers zu verstehen, und zitterte
vor Angst. Als Peter Voß ihn erst so weit hatte, zog er sanftere
Saiten auf und machte ihm begreiflich, daß er ihn auf ein paar Stunden
vertreten müsse, um eine Wette zu gewinnen.

„Tausend Dollar!“ rief Peter Voß und hantierte mit allen zehn
Fingern durch die Luft, um dem Bettler diese schwindelerregende Zahl
begreiflich zu machen. „Die Hälfte sollst du haben!“

Das wirkte. Der falsche Krüppel zog Peter Voß in sein Häuschen und
entwickelte eine fabelhafte Schnelligkeit und Geschicklichkeit, aus
dem Fremden sich selbst zu machen. Er schor ihn kahl, schmierte ihn mit
einer braunen Salbe ein, klebte ihm das linke Auge zu und behängte ihn
mit seinen Lumpen.

„Starker Tobak!“ sagte Peter Voß, als er sich in einem Spiegelscherben
betrachtete. „Ich sehe nicht gerade zum Verlieben aus. Wenn sie nur
nicht in Ohnmacht fällt.“

Dann ließ er sich von dem Mann einen Bleistift geben und schrieb auf
die eine Seite des Bettelbretts: „Liebe Polly: Erschrick nicht zu sehr.
Ich bin Dein Mann Peter Voß.“

Das Mann unterstrich er dreimal. Den Bleistift steckte er ein. Dann
ließ er sich von dem Bettler an die Straßenecke bringen, wo unbedingt
mit dem Kriechen begonnen werden mußte. Er krümmte seine Finger zu
abenteuerlichen Gebilden, packte damit die Handstützen, nahm den
Gabenlöffel, mit der Schrift nach unten, zwischen die Zähne und kroch
mit einer Gewandtheit und Sicherheit durch das inzwischen wieder
erwachte Straßengewühl, als wenn er sich seit seinem ersten Lebensjahr
nicht anders als auf allen Vieren fortbewegt hätte.

Etwas mühsam! dachte er und spuckte einem Kurumaya, der ihm zu nahe
gekommen war, auf die staubigen Füße.

Endlich hockte er auf dem blankgescheuerten Parkettplatz vor dem
Tokio-Hotel. Seine Miene war so wirkungsvoll und seine Maske war so
echt, daß sich auch der dickfellige Holländer, der eben von seiner
Ausfahrt zurückkam, nicht des Mitleids erwehren konnte.

Peter Voß hielt jedem das Sammelbrett hin, mit der Schrift nach unten.
Er hatte schon ein erkleckliches Sümmchen beisammen, als Bobby Dodd und
Polly heraustraten. Dodd begann sofort mit zwei Jinrikschamännern zu
verhandeln, während Peter Voß die Gelegenheit wahrnahm und Polly die
Schrift vor die Augen hielt.

Sie las und erschrak nicht. Im ehelichen Verkehr mit einem
steckbrieflich verfolgten Millionendieb durfte man keine übermäßig
erregbaren Nerven haben. Sie fiel also weder in Ohnmacht, noch erschrak
sie. Peter Voß drehte befriedigt den Löffel wieder um.

„Oh!“ rief Polly und legte einen blanken Dollar auf die unbeschriebene
Löffelseite. „Du armer Mann! Wie du leidest. Kommen Sie, Mr. Dodd, und
schenken Sie ihm auch einen Dollar.“

Dodd gehorchte, und Peter Voß steckte dabei die allerjämmerlichste
Miene auf, die jemals ein lahmer Bettler auf dieser Erde zur Schau
getragen hatte.

„Ekelhaft!“ entfuhr es Dodd unwillkürlich, als er sich mit einer
Bewegung des Abscheus von ihm wandte.

Polly stieg ein. Dodd nahm den zweiten Wagen.

„Nach dem Museumspark!“ hörte Peter Voß ihn noch rufen, dann stürmten
die beiden Jinrikschamänner davon.

Peter Voß begab sich sofort wieder auf die Wanderschaft, kroch in
irgend einen dunkeln Winkel der Nebenstraße, schliff an einem rauhen
Stein die Schrift, die ihre Schuldigkeit getan hatte, ab und ersetzte
sie durch ein neue: „Fahre ohne Dodd aus, ich folge.“

Dann kehrte er auf seinen alten Platz zurück und machte vortreffliche
Geschäfte, denn die Gäste kehrten jetzt zum Dinner zurück. Auch Polly
und Dodd erschienen wieder, ohne daß Peter Voß Gelegenheit gehabt
hätte, ihr die verbesserte Löffelrückseite vor Augen zu führen. Sie
nahm überhaupt keine Notiz von ihm.

Während des Dinners aber erschien sie auf einen Augenblick vor dem
Portal und ließ achtlos eine kleine Papierkugel fallen, die wie von
ungefähr dem Bettler vor die Füße rollte. Als Peter Voß die Papierkugel
erst in den Fingern hatte, begann er seine Kriecherei von neuem, gab
sie aber schon hinter der ersten Straßenecke auf, weil er auf zwei
Beinen mindestens die zehnfache Knotenzahl zurücklegen konnte.

So fiel er denn dem falschen Krüppel, den er vertreten und der vor
seinem Häuschen schon voller Sorgen nach ihm ausgeschaut hatte, fast in
die Arme.

„Gewonnen!“ schrie er, riß sich die Lumpen vom Leibe, wobei die
gesammelten Geldstücke auf den Fußboden fielen, und schwang den Zettel,
der die hastig hingekritzelten Worte enthielt: „Morgen früh fährt Dodd
nach Jokohama. Ich hoffe dich im Museumspark zu treffen. Tausend und
abertausend süße Küsse von deiner Polly.“

„Und ob du mich treffen wirst!“ lachte Peter Voß vergnügt und wollte
wieder in seinen alten Anzug hineinkriechen.

Allein der kahle Kopf und die gelbe Hautfarbe wollten durchaus nicht
dazu passen. Unterdessen hatte der gesunde Krüppel die Geldstücke
zusammengelesen und war so überrascht von der Höhe des Gewinnstes,
daß er Peter Voß allen Ernstes vorschlug, bei ihm zu bleiben, um das
Geschäft gemeinsam zu betreiben. Wie es sich nun herausstellte, besaß
der Mann nicht nur das Häuschen zu eigen, sondern verfügte außer seinen
Lumpen über die Garderobe eines reichen Japaners, die er aber nur
des Abends benutzte, wo er sich von seiner täglichen Kriecherei zu
erholen pflegte. Er bot Peter Voß einen seidenen Kimono an, der sich
schon sehen lassen konnte. Alles, was zur Ausstattung eines japanischen
Gigerls gehörte, von den Sandalen bis zum Sonnenschirm, war vorhanden.

Peter Voß ging scheinbar auf das Anerbieten ein und blieb bei dem
Bettelkomödianten über Nacht. Am nächsten Morgen drang er von neuem in
ihn, sein Kompagnon zu werden, da ihn keiner so gut vertreten könne als
er.

Peter Voß versprach ihm, sich die Sache zu überlegen, und verließ das
Häuschen als wohlgekleideter Japaner. Eine Jinrikscha brachte ihn zum
Museumspark im Norden Tokios. Hier spazierte er im japanischen Kostüm
mit der Grandezza eines Altkastiliers und der unerschütterlichen Würde
eines nordamerikanischen Multimilliardärssohnes auf den zierlichen
gewundenen Pfaden einher, bis Polly auftauchte. Sie erkannte ihn nicht,
aber er ließ sie nicht lange im ungewissen, folgte ihr bis an eine
Stelle, wo die Büsche dicht genug waren, und vertrat ihr den Weg.

„Peter!“ jauchzte sie und hing schon an seinem Halse.

Die Begrüßung dauerte bedeutend länger, als es sich für einen von
dem berühmten Bobby Dodd verfolgten doppelten Dollarmillionendieb
schickte. Er kam zuerst zur Besinnung und zog sie tiefer in die Büsche
hinein, wo er schon vorher eine verschwiegene Bank entdeckt und sich
den Platz genau gemerkt hatte.

„Peter!“ flüsterte sie. „Ich verzehre mich vor Sehnsucht nach dir. Ich
halte es einfach nicht länger aus.“

Er antwortete ihr nur mit Küssen.

„Höre, Peter!“ rief sie und drängte ihn von sich. „Ich habe etwas
gefunden, etwas sehr Wichtiges. Rate wo? In Dodds Koffer. Er hatte
heute morgen vergessen, ihn zu verschließen. Ich habe in seinen
Papieren herumgestöbert. Gewiß, es ist schändlich, aber ich habe es
getan. Ich hatte es mir schon lange vorgenommen.“

Damit zog sie aus ihrer Handtasche ein in acht Teile zerrissenes und
wieder zusammengeklebtes Telegramm, auf dem zwei Reihen Zahlen standen.
Es stammte aus Strienau und bewies durch sein Vorhandensein, daß Dodd
trotz des unverschlossenen Koffers ein sehr ordnungsliebender Mann war.

Peter Voß schüttelte den Kopf.

„Das ist dein Telegramm aus Berlin!“ klärte ihn Polly auf. „Ich habe
selbst gesehen, wie Onkel es zerrissen und in den Papierkorb geworfen
hat.“

„Aber wie kommt es in Dodds Hände?“ fragte er ratlos.

„Durch die Haushälterin!“ flüsterte sie und sah sich ängstlich um.
„Onkel hat sie auch im Verdacht gehabt.“

„Was du sagst!“ rief er. „Also die unverehelichte Martha Zippel. Das
sieht der ganz ähnlich. Aber das ist ja großartig. Da haben wir ja
ein unfehlbares Mittel, ihn auf den Holzweg zu schicken und unsere
unterbrochenen Flitterwochen ungestört fortsetzen zu können. Und dazu
noch in Japan!“

„Ja!“ flüsterte sie etwas verschämt. „Ich habe es mir schon ganz
genau ausgedacht, wie wir es machen müssen. Ich habe eine Zeitung
mitgebracht, darin mußt du einen Dampfer suchen, der nach San Franzisko
fährt. Aber ein recht langsamer muß es sein, daß Dodd ihn mit dem
nächsten Schiff überholen kann. Einen Tag, bevor er abfährt, schicken
wir ein Telegramm nach Strienau, worin du Onkel um Geld bittest.
Er soll es an irgend eine Agentur in San Franzisko schicken. Die
Haushälterin wird das Telegramm finden und es Dodd sofort übermitteln.
Er wird mit dem nächsten Dampfer, auf dem er dich vermutet, nach San
Franzisko fahren. Und wir beide bleiben hier!“

„Wir?“ lächelte Peter Voß kopfschüttelnd. „Ich wohl, aber du
nicht. Meinst du, daß Dodd nicht sofort etwas merkt, wenn du hier
zurückbleiben willst? Unterschätze den Mann nicht, wenn auch sein Ruhm
zum größten Teil auf dem Zeitungspapier steht. Und das ist bekanntlich
sehr geduldig.“

„Ich habe es mir so schön ausgedacht!“ schmollte sie und ließ die
Unterlippe hängen. „Wir können es ja einmal versuchen. Vielleicht fährt
er doch allein und läßt mich hier!“

„Nein!“ entschied er, und seine Stirn furchte sich vom anhaltenden
Nachdenken. „Dazu ist dein Plan viel zu fein, daß wir ihn so
leichtsinnig aufs Spiel setzen dürften. Ich werde ihn zum großen Teil
benutzen und einen viel besseren daraus schmieden. Wir werden alle drei
hinüberfahren, aber nicht nach Nordamerika, sondern nach Südamerika,
und zwar auf ein und demselben Schiff.“

Polly fuhr erschreckt zusammen.

„Auf ein und demselben Dampfer!“ wiederholte er mit ernster
Entschiedenheit. „Ich in der Maschine, und du mit Dodd in der Kabine.“

„Um Gottes willen!“ stieß sie erschreckt heraus. „Wenn er das merkt?“

„Das laß nur meine Sorge sein!“ tröstete er sie und gab ihr das
Telegramm zurück. „Leg es wieder in den Koffer, genau an dieselbe
Stelle, wo du es weggenommen hast. Und dann gib mir Geld. Wieviel hast
du?“

„Fünfzigtausend Rubel!“ erwiderte sie und holte ein kleines Paket aus
der Tasche. „Von Stockes.“

Und nun tauschten sie ihre russischen Erlebnisse aus. Peter Voß nahm
nur eine Tausendrubelnote, schon um Dodd keinen Grund zum Argwohn zu
geben. Dann wurde der Schlachtplan entworfen.

„Es ist wahrscheinlich, daß die Zippel Dodds Adresse weiß!“ meinte
er zum Schluß. „Um aber ganz sicher zu gehen, werde ich ein zweites
Telegramm nach Strienau in deinem Namen schicken, und zwar sofort.
Darin werde ich dem Onkel die nötigen Aufklärungen geben, daß es auch
klappt. Ich werde darin die Haushälterin von Dodd grüßen lassen.
Das zweite Telegramm kommt dann von mir, wenn ich die passende
Schiffsgelegenheit ausgeknobelt habe. Das ist nämlich das schwierigste.
Es ist auch möglich, daß wir nach Australien müssen. Die Sache muß
ganz scharf auskalkuliert werden, daß sie im richtigen Augenblick
einschnappt wie ein gut geöltes Sicherheitsschloß.“

„Peter, Peter!“ seufzte sie matt und umschlang ihn. „Was hast du vor?“

„Das weiß ich noch nicht ganz genau!“ lachte er und küßte sie zum
Abschied. „Es kommt alles auf die Schiffsverbindungen an. Aber wenn
es sich irgendwie arrangieren läßt, dann wird es eine ganz tolle
Geschichte. Denn je toller eine Sache, um so eher gelingt sie. Denk an
den Hauptmann von Köpenick.“

Er begleitete sie bis auf die Straße, wo der Jinrikschamann, mit dem
sie hergekommen war, noch wartete, und verabschiedete sich von ihr wie
von einer fremden Dame, die er auf den rechten Weg gebracht hatte.

Dann nahm er die neueste Nummer der Tokio-Times, die sie ihm
mitgebracht hatte, und studierte die Schiffahrtspläne. Dank seiner
Fixigkeit und seiner seemännischen Sachkenntnis hatte er bald eine
brauchbare Kombination gefunden. In drei Tagen lief von Jokohama der
nordamerikanische Dampfer „Klondyke“ über die Hawaiinseln nach San
Franzisko und hatte in Honolulu Anschluß an den englischen Dampfer
„King Edward“, der von den Philippinen kam und nach Valparaiso ging.

Vierundzwanzig Stunden vor der „Klondyke“ ging ein Dampfer der
japanischen Konkurrenzreederei von Jokohama über Honolulu nach San
Franzisko. Die Hafenverhältnisse in Honolulu kannte Peter Voß genau,
er war als Matrose schon zweimal dort gewesen. Auch den alten „King
Edward“ hatte er schon dort getroffen.

Am nächsten Abend liefen in Strienau beim Landgerichtsrat a. D. Pätsch
kurz hintereinander zwei Telegramme ein, das eine aus Tokio, das andere
aus Jokohama. Die Haushälterin geriet sofort in eine begreifliche
Aufregung. Der Landgerichtsrat, der auf seine Erholungsreise verzichtet
hatte, um immer auf dem Posten zu sein, öffnete das erste. Es stammte
von Peter Voß und lautete nach der Dechiffrierung also: „Herzliche
Grüße aus Tokio, wo Polly und Dodd im Tokio-Hotel. Zippel steckt
mit Dodd unter einer Decke. Also Vorsicht. Grüße sie von Dodd und
sage ihr seine Adresse. Dieses Telegramm verbrennen. Das andere auf
dem Schreibtisch liegen lassen. Daß du das Geld schickst, ist nicht
unbedingt nötig.“

Der Landgerichtsrat öffnete das zweite Telegramm, das folgende
unchiffrierte Mitteilung enthielt: „Muß noch heute über Honolulu nach
Valparaiso. Schicke sofort sechstausend Mark dorthin an Kosmos-Agentur
unter Franz Müller.“

Der Onkel überlegte ein wenig. Als erfahrener Jurist hatte er den
springenden Punkt bald erfaßt. Die Hauptsache war nicht das Geld,
sondern die Uebermittlung des zweiten Telegramms an Dodd. Der Mann
sollte irregeführt werden. Dazu brauchte es nicht der Mitwirkung
der unverehelichten Zippel. Es war jedenfalls unsicher, ihr die
Zurückbeförderung des Telegramms anzuvertrauen. Schon die hohen
Telegrammgebühren konnten sie kopfscheu machen.

Darum verzichtete der Landgerichtsrat darauf, ihr den fingierten Gruß
zu übermitteln, steckte beide Telegramme ein und ging zu seinem
Bankier, um sechstausend Mark für Franz Müller nach Valparaiso
übermitteln zu lassen. Dann begab er sich auf die Post, wo er, um
unliebsames Aufsehen der Beamten zu vermeiden, das zweite Telegramm
nach dem alten Schlüssel chiffrierte und an Bobby Dodd sandte. Auf dem
Heimweg zerriß er die beiden Telegramme in kleine Stücke und warf sie
in den Stadtgraben. Die Haushälterin hatte diesmal das Nachsehen.

Das gut geölte Sicherheitsschloß war fertig zum Einschnappen.

Dodd entzifferte das Telegramm mit leichter Mühe und stürzte sich mit
Vehemenz auf die Schiffslisten. Daß sich Peter Voß die sechstausend
Mark nach Valparaiso und nicht nach Honolulu erbeten hatte, war Dodd
durchaus verständlich. Honolulu war Boden der Union.

Der japanische Dampfer, mit dem Peter Voß dem Telegramm zufolge
abgefahren sein mußte, war schon zwölf Stunden in See. Dodd belegte für
sich und Polly zwei Kabinenplätze auf der „Klondyke“ und kabelte das
Signalement des Millionendiebes nach Honolulu.

„Ich habe seine Spur wiedergefunden!“ sprach er zu Polly. „Hoffentlich
erwische ich ihn schon in Honolulu. Sonst müssen wir nach Valparaiso.
Auf jeden Fall will ich zwei Plätze auf dem „King Edward“ reservieren
lassen. Es wäre ja möglich, daß er eine andere Route eingeschlagen hat.
Dann erwarten wir ihn in Valparaiso.“

Polly war alles recht. Sie fühlte instinktiv, daß sie diesmal nur eine
stumme Rolle hatte, aber sie spielte sie meisterhaft.

Peter Voß, der sich inzwischen von der Hauptpost seinen amerikanischen
Bürgerbrief abgeholt hatte, befand sich nicht auf dem japanischen
Dampfer, sondern auf der „Klondyke“, und zwar als Trimmer unter dem
Namen Ralph Smithson. Die Besatzungen der amerikanischen Dampfer
wiesen immer Lücken auf, da sich die weißen Leute gegen farbige
Arbeiter, vor allen Dingen gegen Japaner, ablehnend verhielten. Peter
Voß hatte das japanische Kostüm abgelegt und war wieder zu seinem
alten Maschinistenanzug zurückgekehrt. Da er nur ein echtes, aber
kein falsches Legitimationspapier hatte, mußte er darauf verzichten,
ordnungsmäßig anzumustern, und sich damit begnügen, sich ohne Heuer
hinüberarbeiten zu dürfen. Sein einziges Gepäck war sein japanisches
Kostüm, das er seinem Gastfreund abgekauft hatte.

Als er im Heizraum zum ersten Male die Mütze vom kahlen Schädel nahm
und das Hemd auszog, so daß seine quittengelbe Haut zum Vorschein kam,
erhoben seine weißen Genossen einen höllischen Skandal und fingen an zu
boxen.

„Mit einem japanischen Hund arbeiten wir nicht zusammen!“ brüllten sie
wie ein Mann.

„Da hast du was für den Hund!“ brüllte Peter Voß zurück und gab dem
ärgsten Schreihals eine echt amerikanische Maulschelle.

Da sahen sie sofort ihren Irrtum ein, und der nationale Friede im
Heizraum war wieder hergestellt.

Das Anbordkommen der Passagiere beobachtete Peter Voß durch das
Bullauge seiner unter der Back befindlichen Koje, die er mit einem
Arbeitskollegen teilte. Der Mann hatte jetzt Wache. Als Peter Voß Dodd
und Polly das Fallreep heraufkommen sah, legte er sich aufs Ohr, denn
er hatte Freiwache.

Gleich darauf ging der Dampfer in See.

Polly umgab dickste Finsternis. Sie wußte weder, wo Peter Voß war, noch
hatte sie eine Vorstellung davon, welche Tollheit er beabsichtigte.
Aber sie ängstigte sich nicht um ihn. Die gute Sache war auf seiner
Seite, wenn es auch den Anschein des Gegenteils hatte.

Peter Voß hatte übrigens weder die Gelegenheit noch die Zeit,
ihr einen nächtlichen Besuch abzustatten. Wenn er nicht in den
Bunkern herumkroch, mußte er an seinem Plane schmieden, der ihm
alle Entbehrungen des letzten Jahres hundertfach vergelten sollte.
Tausendmal drehte er ihn um und um, um gegen jeden störenden Zufall
gewappnet zu sein. Er stellte ganz genau fest, wie sich Dodd an Bord
der „Klondyke“ die Zeit vertrieb. Bis zum Dinner flirtete er mit
Polly, dann pokerte er im Rauchsalon und trank Whisky mit Soda. Vor
Mitternacht pflegte er selten seine Kabine aufzusuchen, während Polly
meistens gleich nach dem Dinner verschwand. Ihre Kabine lag auch nicht
neben der seinen. Sein Argwohn hatte sich bis Honolulu schlafen gelegt.

Am letzten Abend der Ueberfahrt war Peter Voß mit seinem Plan völlig
im reinen. Um acht Uhr kam er von Wache, und sein Kollege nahm seine
Stelle bei den Kohlen ein. Rasch schlüpfte er ins Kimono und schlich
sich, da das Dinner noch nicht zu Ende war, ungesehen durch den
Kajütsgang in Pollys Kabine. Daß er nicht in die falsche geraten war,
sah er an den Toilettengegenständen. Vor dem Steward sicherte er sich
durch den Riegel.

Polly erkannte er am Schritt und ließ sie ein. Sie sank ihm wortlos an
die Brust und hielt ihn fest. Erst gegen Mitternacht waren sie so weit,
daß er sie in seinen Plan einweihen konnte.

„Morgen abend kommen wir in Honolulu an!“ flüsterte er. „Der ‚King
Edward‘ wird spätestens übermorgen früh, jedenfalls aber noch in der
Nacht in See gehen. Er wartet schon auf uns. Denn wir haben 24 Stunden
Verspätung. Dodd wird sofort an Land stürzen, um mich zu verhaften. Es
wird sich aber herausstellen, daß ich mit dem japanischen Dampfer nicht
angekommen bin. Nun wird er sich auf die Passagiere der ‚Klondyke‘
werfen, vielleicht gar auf die Besatzung. Aber ich werde nicht mehr auf
diesem Schiffe sein.“

„Ja, willst du denn an Land gehen?“ fragte sie ganz ängstlich.

„Ich gehe mit dir auf den ‚King Edward‘!“ fuhr er lächelnd fort. „Das
ist nämlich der Kniff. An Bord der ‚Klondyke‘ bin ich der Trimmer Ralph
Smithson, an Bord des ‚King Edward‘ werde ich der Detektiv Bobby Dodd
sein.“

Polly starrte ihn entsetzt an.

„Nichts leichter als das!“ sagte er ruhig. „Dodd wird dir in Honolulu
nahelegen, an Land zu gehen. Er wird sein Gepäck ebenfalls dahin
dirigieren. Sobald er nun fort ist, wirst du Gegenorder geben und mit
seinem Gepäck an Bord des ‚King Edward‘ gehen. Du wirst zwei Kabinen
belegen und Dodds Gepäck in die eine bringen lassen. Sobald die Sache
so weit gediehen ist, werde ich auftauchen und als Bobby Dodd von
dieser Kabine Besitz ergreifen.“

„O!“ rief sie begeistert. „Und dann fährt der Dampfer ab, weil alle
Passagiere an Bord sind, und wir beide sind endlich allein.“

„Und Dodd?“ fragte er schmunzelnd. „Er riecht sofort den Braten,
signalisiert, kommt uns nach und hat mich schon beim Wickel. Oder wenn
er den Dampfer nicht mehr erreicht, telegraphiert er nach Valparaiso
und ich bin erst recht in der Falle. Nein, es gibt nur ein Mittel, er
muß unschädlich gemacht werden. Ich werde ihn an Bord des ‚King Edward‘
als Peter Voß verhaften.“

Polly rang nach Atem.

„Diese Verhaftung darf aber erst vor sich gehen, wenn der ‚King
Edward‘ auf hoher See ist. Dodd wird sicher erst im letzten Augenblick
ankommen, dann mußt du ihn sofort in Empfang nehmen und ihn in
deiner Kabine festhalten. Flirte mit ihm, mach ihm Hoffnungen,
verdrehe ihm den Kopf; sage, daß du entschlossen bist, dich von mir
scheiden zu lassen; jedenfalls halte ihn fest. Laß dir von ihm eine
neue Liebeserklärung machen. Setz meinethalben schon den Termin der
Verlobung fest, nur laß ihn nicht heraus. Traust du dir das zu?“

„O Peter!“ seufzte sie kraftlos. „Es ist furchtbar.“

„Wenn du es dir nicht zutraust,“ sprach er stirnrunzelnd, „dann muß
der Trimmer Ralph Smithson allein nach San Franzisko fahren, während
du das zweifelhafte Vergnügen hast, mit dem echten Bobby Dodd nach
Valparaiso zu gondeln.“

„Aber wie willst du ihn denn verhaften?“

„Ich verhafte ihn einfach als Millionendieb Peter Voß,“ versetzte er
kühl, „indem ich mich dem Kapitän gegenüber als Bobby Dodd legitimiere.
Er wird doch nicht alle Legitimationspapiere mit nach Honolulu
hinübernehmen. Und die er mitnimmt, erkläre ich für gefälscht.“

„Aber wenn er drüben den Kapitän des ‚King Edward‘ trifft,“ warf sie
ein, „oder irgendeinen Mann der Besatzung?“

„Macht nichts!“ wies er den Einwurf zurück. „Er hat sie eben hinters
Licht geführt, bis ich ihn entlarve.“

„Aber wenn nun ein Passagier an Bord des ‚King Edward‘ ist, der Bobby
Dodd persönlich kennt?“

„Den brandmarke ich als Komplicen!“ sprach er mit einer abfertigenden
Handbewegung. „All diese Einwürfe sind hinfällig vor der Schlagkraft
meines Beweises. Denn du, liebe Polly, wirst ihn nämlich als deinen
Mann identifizieren müssen. Ich erlaube dir sogar, daß du ihm vor
versammeltem Tribunal einen Kuß gibst, aber nur einen Theaterkuß. Das
mache ich mir aus!“

Kraftlos sank sie gegen die Lehne des Sofas, Peter Voß drückte sich
hinaus, nachdem er sich vergewissert hatte, daß die Luft rein war. Fünf
Minuten später schleppte er schon als Ralph Smithson den ersten vollen
Kohlenkorb aus dem Bunker.

Die „Klondyke“ kam abends um acht Uhr in Honolulu an und hatte es fast
noch eiliger als der „King Edward“, der schon seit vierundzwanzig
Stunden auf sie wartete. Dodd fuhr sofort an Land, ohne sich weiter um
sein Gepäck zu kümmern. Die „Klondyke“ hatte noch die halbe Nacht zu
kohlen, ehe sie weitergehen konnte.

Polly nahm die Gelegenheit wahr, ließ ihr und Dodds Gepäck ausbooten
und begab sich auf der Dampfbarkasse des Schiffsagenten an Bord des
„King Edward“. Sie waren die einzigen beiden Passagiere, die von der
„Klondyke“ gemeldet waren. Sie wurde am Fallreep von dem Kapitän
Flintwell, einem alten Seebären, der nicht gerade bester Laune war, in
Empfang genommen.

„Wo ist der Mann, der zu der Lady gehört?“ brüllte er über Bord in die
Agenturbarkasse hinein.

„Ihr müßt warten!“ kam’s von unten herauf. „Es ist ein Detektiv, der
einen Millionendieb sucht.“

„Darauf kann ich nicht warten!“ schrie der Kapitän zurück. „In einer
halben Stunde gehe ich in See. Ganz gleich, ob er an Bord ist oder
nicht!“

„Warten Sie, Mr. Flintwell!“ sprach Polly und sah ihn bittend an.

Da knurrte er eine Entschuldigung und zog sich zurück. Polly belegte
zwei Kabinen und beaufsichtigte das Verteilen der Koffer. Dann ging sie
wieder an Deck, um Dodd sofort abzufangen, und stellte sich neben das
schlecht beleuchtete Fallreep, das von einem Matrosen bewacht wurde.

Ihr Herz pochte zum Zerspringen.

„Halloh!“ rief da einer von unten. „Noch eine Kiste von der ‚Klondyke‘.“

Das war Peter Voßens Stimme. Der Matrose beugte sich über die Reling,
tappende Schritte kamen herauf. Peter Voß trat gewichtig an Bord, eine
ziemlich große Kiste, die anscheinend sehr schwer war, auf dem Rücken.
Der Matrose wollte ihm helfen.

„Laß nur!“ winkte Peter Voß ab. „Hier ist schon die Lady, der die Kiste
gehört. Sie wird so freundlich sein, mir den Weg zu zeigen.“

Polly lief voraus und stieß Dodds Kabine auf. Aber Peter Voß warf die
Kiste, die merkwürdig hohl klang, weil sie leer war, in Pollys Kabine
ab. Dann schlüpfte er in Dodds Kabine.

„Geh an Deck und schick den Matrosen herunter, daß er mir hilft!“
flüsterte er. „Er wird mich nicht finden, da ich mich hier einschließen
werde. Wenn er wieder hinaufkommt, sag ihm, daß ich bereits das
Fallreep hinuntergegangen und fortgerudert sei.“

„Aber das Boot!“ fragte sie atemlos.

„Es hat ein Loch!“ versetzte er und ging Dodds Koffer mit einem krummen
Draht zu Leibe. „Es wird eben weggesackt sein, schätze ich.“

Sie eilte an Deck und benachrichtigte den Matrosen, der sofort bereit
war, sich ein Trinkgeld zu verdienen. Nach einigen Minuten kehrte er
unverrichteter Sache zurück.

„Der Mann ist eben das Fallreep hinuntergegangen!“ sprach Polly arglos
und drückte ihm einen Dollar in die Hand. „Er hat es doch wohl noch
allein bestritten.“

„Danke!“ sagte der Matrose und griff an die Mütze. „Die Kiste steht in
der Kabine.“

Dann schielte er über die Reling und sah, daß das Boot verschwunden war.

Nach einer halben Stunde riß Kapitän Flintwell an der Signalleine, der
„King Edward“ brüllte einigemal dumpf auf. Seine Kessel bliesen schon
Dampf ab. Um zehn Uhr lag er noch immer unbeweglich auf seinem Platze.
Die Passagiere zogen sich in ihre Kabinen zurück.



19.


Dodd hatte inzwischen mit Hilfe der Polizei festgestellt, daß der
Verbrecher nicht mit dem japanischen Dampfer gelandet war. Dieser
Dampfer hatte überhaupt keine Passagiere in Honolulu abgegeben. Der
Verdacht, auf eine falsche Spur gelockt worden zu sein, kam ihm nicht.
Außerdem wäre dieser Verdacht durchaus ungerechtfertigt gewesen, denn
er befand sich ja auf der rechten Spur. Der Verbrecher hatte also auf
einer andern Route den Weg nach Valparaiso eingeschlagen. Auf dem „King
Edward“ konnte er nicht sein, da er dann das Telegramm in Jokohama
sehr viel früher hätte aufgeben müssen. Denn dieser Dampfer war gegen
die „Klondyke“ ein langsames Schiff. Auch mußte man dann noch die
Ueberfahrt von Jokohama nach den Philippinen in Berechnung bringen.

Doch hier stutzte er plötzlich. Er hatte keinen Beweis dafür, daß die
Haushälterin das Telegramm umgehend zurückexpediert hatte. Es war also
doch möglich, daß der Verbrecher an Bord des „King Edward“ war. War das
der Fall, dann brauchte Dodd nichts zu überstürzen. Die Ueberfahrt nach
Valparaiso dauerte mindestens drei Wochen.

Er fuhr mit der Polizeibarkasse zuerst zur „Klondyke“ zurück, wo die
Trimmer und Heizer noch immer an den Kohlenpforten tätig waren, hörte
hier, daß Mrs. Voß schon an Bord des „King Edward“ gegangen war, und
trat zehn Minuten später über das Fallreep dieses Dampfers.

Polly erkannte ihn schon von weitem an seiner Stimme und schickte den
Matrosen zum Kapitän mit der Nachricht, daß Mr. Dodd angekommen sei.
Als Polly ihn begrüßte, rasselte die Ankerkette in die Höhe.

Sie hielt seine Hand fest und sprach mit zitternder Stimme. „Mr. Dodd,
kommen Sie mit in meine Kabine, ich muß allein mit Ihnen sprechen. Ich
bin mit meiner Kraft zu Ende. Helfen Sie mir, den Mann zu vergessen,
dem meine Liebe zu wenig galt.“

Dodd reichte ihr den Arm und führte sie sorgsam die Stufen hinunter.

„O Mrs. Voß!“ sprach er leise. „Sie machen mich überglücklich. Ich
werde den Schurken laufen lassen, so weit der Himmel blau ist. Sobald
wir in Valparaiso angekommen sind, werde ich Stockes & Yarker den
Auftrag zurückgeben.“

Dann klappte die Tür hinter ihnen zu, während sich die Tür der
Nebenkabine leise auftat.

Peter Voß erschien auf der Bildfläche als Bobby Dodd, eine kleine
Reisetasche in der Hand. Er ging zu Kapitän Flintwell auf die Brücke
und stellte sich vor.

„Bobby Dodd!“ sagte er mit einer leichten Verbeugung und setzte die
Tasche hin.

„Flintwell!“ knurrte der Kapitän. „Haben Sie ihn endlich erwischt?“

„Noch nicht!“ versetzte Peter Voß kaltblütig. „Aber ich werde ihn bald
haben. Er ist hier an Bord.“

„Damn!“ entfuhr es dem Kapitän. „Unter einem falschen Namen?“

„Ich glaube kaum,“ sagte Peter Voß, „sonst würde er doch nicht mit
seiner Frau zusammen in einer Kabine sitzen. Lassen Sie die festeste
Zelle im Hospital klar machen. Ich werde erst ein paar Flaschen Sekt
mit Ihnen trinken und dann zu seiner Verhaftung schreiten. Es ist jetzt
elf Uhr. Um ein Uhr, denke ich, wird es Zeit sein. Ich möchte kein
Aufsehen machen.“

„He!“ meinte der Kapitän kritisch und kraute sich hinterm Ohr. „Wäre es
nicht einfacher, wir kehrten noch einmal um?“

„Nein, nein!“ wehrte Peter Voß energisch ab. „Fahren Sie nur ruhig
weiter. Ich muß doch mit ihm nach Valparaiso. Dort nämlich hat er
irgendwo die Millionen versteckt.“

„Aha!“ rief der Kapitän erleichtert und klingelte dem Steward.

Als sie bei der zweiten Flasche waren, hatte der Kapitän den Detektiv
bereits ins Herz geschlossen.

„Aber wie ist denn dieser verfluchte Millionendieb hier an Bord
gekommen?“ fragte er erbost.

„Ich verfolge den Mann jetzt schon über ein ganzes Jahr!“ sprach Peter
Voß ernst. „Er ist der raffinierteste Verbrecher, der mir jemals unter
die Finger gekommen ist. Schon dreimal habe ich ihn gehabt, und immer
wieder ist er mir ausgekniffen, einmal sogar im Koffer.“

„So ein Satanskerl!“ fuhr der Kapitän auf. „Da ist er wohl gar im
Koffer an Bord gekommen?“

„Jedenfalls!“ bestätigte Peter Voß kopfnickend. „Ich vermute es so gut
wie sicher.“

„Aber zum Kreuzdonnerwetter!“ schrie der Kapitän und schlug auf den
Tisch. „Da muß doch der Kerl rein verrückt sein, daß er sich hier auf
das Schiff wagt, wo Sie doch an Bord sind.“

„Ich sagte Ihnen schon,“ klärte ihn Peter Voß auf, „daß wir es hier
mit einem äußerst raffinierten Menschen zu tun haben. Seine Frau ist
seine Komplicin und hält sich immer in seiner Nähe auf. Ich habe
seine Spur manchmal nur wiederfinden können, indem ich seine Frau
verfolgte. Sie ist übrigens keine unebene Person und hübsch obendrein.
Aber sie steht ganz unter seinem verderblichen Einfluß. Es soll mich
gar nicht wundern, wenn sie bei seiner Verhaftung schlankweg seine
Identität leugnet. Das hat sie übrigens schon einmal versucht. Es
ist ihr allerdings nicht geglückt. In Jokohama kam ich den beiden
auf die Spur. Sie wollten nach Valparaiso, um das Geld zu heben. Ich
fing ein chiffriertes Telegramm auf, aber ich versah mich im Dampfer.
Ich nahm den Japaner, der gestern hier angekommen ist, während das
Verbrecherpaar die „Klondyke“ benutzte. Das Raffinierteste dieses
Burschen ist nämlich, daß er sich für mich ausgibt. Er ist unter meinem
Namen auf die „Klondyke“ gegangen.“

Kapitän Flintwell sperrte den Mund auf.

„Jawohl!“ bestätigte Peter Voß todernst. „Es sind durchaus moderne
Verbrecher. Sie schrecken vor nichts zurück. Sie haben mir sogar
etliche wichtige Papiere gestohlen, aber Gott sei Dank nicht alle.“

„Aber das geht ja auf keine Kuhhaut!“ brüllte der Kapitän los.

„Man muß dafür schon eine Elefantenhaut nehmen!“ nickte Peter Voß und
öffnete die vierte Flasche.

„Und die Koffer, die hier an Bord gekommen sind?“

„Ich reise nur mit einer Handtasche!“ versetzte Peter Voß, holte sie
heran und griff hinein. „Am besten ist wohl, ich legitimiere mich
sofort. Denn wenn die Frau wirklich die Identität leugnet, dann bin ich
so gut wie machtlos. Ich habe zwar Photographien und Fingerabdrücke,
auch verschiedene Steckbriefe. Aber das sind alles unzuverlässige
Beweismittel.“

„Lassen Sie nur stecken!“ wehrte der Kapitän ab.

Polly saß unterdessen auf dem Sofa ihrer Kabine und flirtete mit Bobby
Dodd. Und wie sie flirtete! Die Zeit verging im Fluge. Er brannte schon
seit anderthalb Stunden lichterloh.

„O Mrs. Voß!“ schwärmte er sie an. „Sie lassen mich hoffen, alles
hoffen.“

„Machen Sie keinen Kniefall vor mir, Mr. Dodd!“ lächelte sie ihn
verlockend an. „Mein Mann hat auch damit angefangen. Hoffen dürfen Sie,
aber hoffen Sie nicht zu viel.“

„O, ich bin so bescheiden!“ sprach er und haschte nach ihrer Hand.

„Mr. Dodd!“ warnte sie ihn und legte die Hände in den Nacken, wobei
sie ihm einen schmachtenden Blick zuwarf. „Ueber den Punkt, wo die
Bescheidenheit anfängt unbescheiden zu werden, läßt sich streiten. Ich
habe Ihnen nur eine Plauderstunde gewährt. Das ist alles.“

„Das ist alles!“ wiederholte er mit anderer Betonung.

„Oder nichts!“ lachte sie.

In diesem Augenblick sprang die Tür auf. Draußen standen Peter Voß,
Kapitän Flintwell und zwei handfeste Matrosen.

„Peter Voß, Sie sind verhaftet!“ rief Peter Voß mit starker Stimme.

Polly schrie gellend auf und preßte die Hände gegen ihre Wangen.
Dodd prallte zurück. Dann packten sie sich beide am Kragen, um sich
gegenseitig zu verhaften. Dabei brüllten sie sich unausgesetzt an, daß
man kein Wort verstehen konnte, und zogen sich hin und her.

„Gib Ruhe, du verdammter Millionendieb!“ schrie Kapitän Flintwell und
packte Bobby Dodd vor der Brust.

Gleich darauf sah er sich in der Gewalt der Matrosen.

Es trat ein Augenblick völliger Ruhe ein.

„Hab ich dich endlich, du hundsgemeiner Lump!“ schnaubte Peter Voß.
„Jetzt sollst du mir nicht wieder entwischen. Fort mit ihm!“

„Betrug!“ röchelte Bobby Dodd. „Infamer Betrug. Er ist Peter Voß, ich
bin Bobby Dodd. Ich habe Papiere!“

„Gestohlen!“ schnauzte ihn der Kapitän an. „Ich bin über die ganze
Geschichte vollständig orientiert. Geben Sie sich keine Mühe. Sie sind
der Millionendieb Peter Voß, und das da ist Ihre Frau. Wie sind Sie
überhaupt hier an Bord gekommen?“

„Ich bin auf die schmachvollste Art und Weise hintergangen worden!“
stöhnte Bobby Dodd. „Dies ist Mrs. Voß. Ich bin gar nicht verheiratet.
Sie hat mich hier in die Kajüte gelockt. Sie ist mit im Komplott.“

„Mrs. Voß!“ wandte sich jetzt Peter Voß an seine Frau, die mit dem
Anschein völliger Gebrochenheit an der Wand lehnte und das Taschentuch
gegen die Augen preßte. „Wollen Sie endlich vor diesen Zeugen hier
gestehen, daß dies Ihr Mann ist. Es ist das letztemal, daß ich diese
Frage an Sie richte. Sollten Sie wieder vorziehen, diese Frage zu
verneinen, so müßte ich Sie mitverhaften.“

Sie rührte sich vorerst nicht. Das Geständnis fiel ihr gar zu schwer.

„Mrs. Voß!“ fuhr er sie heftiger an. „Ihr Schweigen ist schon ein
halbes Eingeständnis. Beeilen Sie sich, die andere Hälfte hinzuzufügen.
Bezeugen Sie die Identität dieses Verhafteten mit dem Millionendieb
Peter Voß?“

Bobby Dodd stand da, bleich, die Fäuste geballt, die Zähne
aufeinandergepreßt, die Haare wirr in die Stirn hängend und stierte
auf den Teppich. Hinter ihm standen die beiden Matrosen, die ihn an den
Armen festhielten.

Polly näherte sich ihm.

„Peter!“ seufzte sie und strich ihm die Haare aus der bleichen Stirn.
„Peter, sei gut. Gib die Millionen heraus, die du gestohlen hast.“

Bobby Dodd rührte sich nicht. Unendlich wohl tat ihm diese Hand und
zugleich weh. Er machte keine Bewegung, dieser Berührung auszuweichen.
Sogar Kapitän Flintwell konnte sich einer gewissen Rührung nicht
entziehen.

„Na also!“ sagte er und räusperte sich. „Da geben Sie doch endlich die
Millionen heraus, wenn Sie sie bei sich haben.“

„Sie müssen sofort umkehren!“ stöhnte Bobby Dodd. „Sofort umkehren,
Herr Kapitän, und nach Honolulu zurückfahren. Dort ist es mir ein
leichtes, die beiden Betrüger zu entlarven.“

„Fahren Sie ruhig weiter, Herr Kapitän!“ sagte Peter Voß. „Ich weiß
genau, daß die Millionen in Valparaiso versteckt sind. Ich werde die
Zeit der Ueberfahrt dazu benutzen, diesem Menschen das Geheimnis des
Verstecks zu entlocken.“

Bobby Dodd fügte sich ins Unvermeidliche. Wenn er nicht den Verbrecher
hatte, so hatte der Verbrecher ihn. Das war schließlich auch schon ein
Erfolg.

Peter Voß aber wandte sich an seine Frau.

„Mrs. Voß!“ sprach er freundlicher. „Ich danke Ihnen für die
Unterstützung. Das Gute hat gesiegt. Mein Streben wird sein, Sie für
immer von dem verderblichen Einfluß dieses Menschen zu befreien. Ich
hoffe sogar, daß Sie mir beistehen werden, die Verstocktheit dieses
Verbrechers zu brechen. Fort mit ihm!“

Dodd wurde abgeführt und in die mittelste Hospitalzelle gesetzt.
Das Fenster war mit einem dicken Gitter versehen. Auf Peter Voßens
Befehl wurden dem Gefangenen, der nicht den geringsten Widerstand
leistete, die Taschen geleert. Es kamen da zum Vorschein ein
scharfgeladener Revolver, ein Schlagring, verschiedene Schlüssel,
einige Legitimationspapiere und eine Handfessel.

„Gut ausgerüstet hast du dich,“ sprach Peter Voß und steckte alles ein,
„um den Detektiv zu spielen, das muß dir der Neid lassen!“

Uhr, Zigarren und Portefeuille ließ er ihm. Die Tür wurde durch zwei
Schlösser gesichert, deren Schlüssel Peter Voß in Verwahrung nahm. Eine
Klappe in der Tür diente der Verpflegung.

Peter Voß legte seinen amerikanischen Bürgerbrief zu den konfiszierten
Legitimationspapieren, begab sich zum Kapitän und ließ eine Flasche
Sekt kommen.

„Da sehen Sie, Mr. Flintwell,“ rief er und breitete die Schätze vor ihm
aus, „Peter Voß! Es stimmt!“

„Jawohl, es stimmt!“ sprach der Kapitän. „Sie sind ein unglaublich
tüchtiger Kerl. Prosit, Mr. Dodd.“

Die Passagiere erfuhren nichts. Der Kapitän hatte den beiden Matrosen
strengstes Stillschweigen auferlegt, und ein gutes Trinkgeld von Peter
Voß tat ein übriges.

In der folgenden Nacht fand Polly schon den Weg in die Nebenzelle.

„O, Peter!“ flüsterte sie, an seinem Halse hängend. „Was soll daraus
werden?“

Er verschloß ihr den Mund mit einem Kuß.

„Ich heiße Bobby Dodd, Mrs. Voß,“ sprach er ernst. „Sie werden sich
von jenem Verbrecher scheiden lassen. Ich werde ihn in Valparaiso den
chilenischen Behörden übergeben, und dann werde ich seine Auslieferung
beantragen, ohne mich dabei zu übereilen. Es wird alles von den
Kupferpapieren abhängen.“

„Wie bist du zu dem Boote gekommen?“ fragte sie neugierig.

„Es hing an einer Kohlenschute!“ flüsterte er ihr ins Ohr. „Ich habe
meine Mütze ins Wasser geworfen, um das Boot benutzen zu können.“

„Und die Kiste?“ forschte sie weiter.

„Sie lag auf einer andern Schute!“ antwortete er und steckte sich eine
von Dodds Zigaretten an, die er Dodds silberner Zigarettendose entnahm.
„Ich habe sie weggenommen, ohne um Erlaubnis zu fragen.“

„Peter!“ flüsterte sie ängstlich. „Du bist ja ein Dieb!“

„Und ein Einbrecher!“ fügte er hinzu, wies auf die Koffer und holte
die dazu gehörigen Schlüssel, die er Dodd abgenommen hatte, aus seiner
Tasche. „Es gehört zum Beruf eines Detektivs. Ich bin sogar in die
Taschen des Verbrechers eingebrochen. Im übrigen mache ich Sie darauf
aufmerksam, Mrs. Voß, daß Sie mich nun schon zum zweiten Male mit Ihrem
Manne verwechselt haben. Beim dritten Male ziehe ich die Konsequenzen.“

Jeden Morgen ging Peter Voß aufs Achterdeck des „King Edward“, der mit
dreizehn Knoten Fahrt durch den Stillen Ozean auf Valparaiso zustrebte,
schaute durchs Türloch, um sich zu überzeugen, daß sein Häftling
noch vorhanden war, und fragte ihn, wo er die zwei Millionen Dollar
versteckt hätte.

Bobby Dodd würdigte ihn tagelang überhaupt keiner Antwort.

„He!“ rief Peter Voß dringender. „Du wirst schon mürbe werden, du
verdammter Millionendefraudant. Ich setze dich auf halbe Rationen, bis
dir der Magen knurrt, und du vor Hunger um Gnade winselst.“

Dann aber schickte er ihm die doppelte Portion und zwei Flaschen Sekt.

Kapitän Flintwell wunderte sich darüber.

„Trinken Sie doch lieber den Sekt allein!“ meinte er beinahe beleidigt.

„Nur, wenn Sie mir Gesellschaft leisten!“ erwiderte Peter Voß und
winkte dem Steward. „Ich habe meine eigene Methode. Die Verbrecher
werden dadurch zutraulich und geben schließlich ihr Geheimnis preis.
Mit der Güte kommt man immer am weitesten. Vielleicht kann man dem Mann
eine weitere Erleichterung verschaffen, indem man ihm jeden Tag zwei
Stunden zum Spazierengehen freigibt. Es müßte natürlich dafür gesorgt
werden, daß er mit den Passagieren nicht in Berührung kommt.“

Das war für den Kapitän eine Kleinigkeit. Zwei Matrosen wurden
abkommandiert, die Dodd während seines Spazierganges auf dem Achterdeck
zu bewachen hatten. Er fand sich schließlich in die fatale Lage mit
einigem Humor. Ob er nun im Hospital auf dem Achterdeck oder in der
Kajüte auf dem Promenadendeck die Ueberfahrt machte, konnte ihm
gleichgültig sein. Daß Peter Voß mit an Bord war, blieb die Hauptsache.
In Valparaiso war die Sache doch zu Ende. Es galt nur die Gefahr
abzuwenden, daß der Verbrecher in Valparaiso verschwand, bevor sich
Dodd vor den Behörden legitimieren konnte.

„Wo haben Sie die Millionen versteckt?“ wiederholte Peter Voß zum
zehnten Male seine Frage.

„Sie sind ein Narr!“ knurrte Dodd ärgerlich und drehte ihm den Rücken
zu.

Peter Voß erkannte daraus, daß eine weitere Unterhaltung vorläufig
zwecklos sei, und ging zu Polly, die auf dem Promenadendeck in einem
langen Stuhle saß.

„Mr. Dodd!“ empfing sie ihn mit einem bezaubernden Lächeln und reichte
ihm die zarte Hand, die er an den Mund führte, wobei er ihr zärtlich in
den kleinen Finger biß. „Was macht der Gefangene?“

„Er scheint Sehnsucht nach Ihnen zu haben!“ versetzte Peter Voß.
„Wollen Sie ihn nicht trösten gehen?“

„Nein!“ erwiderte sie sehr abweisend. „Ich will ihn nicht wiedersehen,
er hat meine Liebe für immer verscherzt. Ich sehe es nun ein, einen
Millionendieb liebt man nicht.“

Die Passagiere, die Dodds Spaziergänge beobachteten und deren Neugier
befriedigt werden mußte, begnügten sich mit der Erklärung, daß der
Mann verrückt geworden sei. Sie bedauerten seine arme Frau und fanden
es verständlich, daß sie sich von Peter Voß, aus dem sie geschwind
einen Irrenarzt machten, etwas trösten ließ. Kapitän Flintwell, der sie
am liebsten selbst getröstet hätte, fand Peter Voßens Verhalten etwas
merkwürdig.

„Sie sind ziemlich vertraut mit Mrs. Voß!“ meinte er anzüglich.

„Was bleibt mir anderes übrig?“ lächelte Peter Voß. „Auch bei ihr
versuche ich es in Güte. Sie ist, wie Sie ja wissen, seine Komplicin,
sie weiß ganz sicher den Versteck des Geldes, aber sie ist noch zäher
als er.“

„Hm!“ machte der Kapitän nachdenklich. „Aber warum hat sie ihn denn
verraten?“

„Sie kennen eben die Weiber nicht, Herr Kapitän!“ belehrte ihn Peter
Voß wohlwollend. „Das ist ein besonderes Kapitel in der Weltgeschichte.
Sie hat ihn verraten, weil sie ihn los sein will. Sie will die zwei
Millionen ohne ihn verzehren. Sie wird sich jedenfalls siebenunddreißig
Liebhaber anschaffen, sobald ihr Mann im Zuchthaus sitzt. Und dann hat
sie doch gleich einen ganz famosen Scheidungsgrund.“

Dem Kapitän traten ob solch tiefer Verworfenheit die Haare kreuzweis
zu Berge. Sie begaben sich erst bei der vierten Flasche Sekt in ihre
Gewohnheitslage zurück.

Dodd aber zerbrach sich den Kopf. Es blieb ihm nichts anderes übrig,
als zu versuchen, den Kapitän auf seine Seite zu ziehen. Er machte sich
den Steward, der ihm das Essen brachte, geneigt, indem er ihm seine
goldene Uhrkette schenkte. Dafür sollte er ihm eine Unterredung mit dem
Kapitän ermöglichen. Der Steward richtete auch treulich seinen Auftrag
aus, ohne aber von der Uhrkette etwas zu verraten.

Kapitän Flintwell fragte Peter Voß nach seiner Meinung.

„Immer gehen Sie zu ihm!“ erwiderte der zuvorkommend. „Vielleicht
gesteht er Ihnen, wo er die Millionen versteckt hat. Vergessen Sie
nicht, daß zweitausend Dollar zu verdienen sind.“

Der Kapitän begab sich zu Bobby Dodd, der erst gar nicht den Versuch
machte, den Kapitän von seinem Irrtum zu überzeugen. Er fing es von der
andern Seite an.

„Sie halten mich für Peter Voß!“ begann er ruhig. „Es wird sich in
Valparaiso herausstellen, daß ich Bobby Dodd bin. Sie werden dort
eine sehr lächerliche Figur machen, daß Sie sich von einem solchen
Schurken haben hinters Licht führen lassen. Das kann Ihnen aber nicht
gleichgültig sein. Deshalb schlage ich Ihnen vor, setzen Sie diesen
Mann hier neben mich gefangen und übergeben Sie uns beide der Polizei.
Wenn er wirklich Bobby Dodd ist, dann wird er kaum gegen diesen
Vorschlag etwas einwenden dürfen.“

„Oho!“ rief der Kapitän entrüstet. „Meinen Sie vielleicht, es ist
angenehm, in diesem Loch zu sitzen?“

„Es genügt, wenn er sich kurz vor unserer Ankunft hineinbegibt!“ schlug
Dodd vor. „Sie besitzen auf dem Schiffe die Polizeigewalt. Man kann
Ihnen keinen Vorwurf machen, wenn Sie Vorsicht üben. Mein Vorschlag ist
durchaus loyal. Das werden Sie ohne weiteres zugeben.“

„Verrückt ist er!“ lachte der Kapitän los. „So dumm bin ich nicht. Ich
soll den Detektiv einsperren, damit Sie hinterher auskneifen können.
Nein, mein bester Herr, darauf falle ich nicht hinein. Ihre Frau hat
Ihre Identität bezeugt. Punktum!“

„Es ist seine Frau!“ brauste Bobby Dodd auf.

„Ihre Frau ist seine Frau, und seine Frau ist Ihre Frau!“ lachte
der Kapitän belustigt. „Sie haben also zusammen eine Frau. Das soll
vorkommen. Sie können sich in Valparaiso darüber weiter unterhalten,
wem sie von Rechts wegen gehört. Ihre Frau hat Sie im Stich gelassen.
Well, sie will die Millionen allein durchbringen. Ich sollte die
Weiber nicht kennen!“

Damit ließ er ihn sitzen.

Bobby Dodd wühlte sich in den Haaren. Kein Zweifel, Peter Voß hatte
alle Stichkarten in der Hand. Auch an Land war ihm so leicht nicht
beizukommen. Ehe Dodds Signalement von St. Louis nach Valparaiso
telegraphiert werden konnte, mußte Bobby Dodd erst einmal dorthin
telegraphieren können. Das aber konnte verdammt lange dauern. Bis dahin
war der Verbrecher längst über die Anden.

Es galt zu handeln. Und Dodd handelte. Den Steward machte er sich
ganz geneigt, indem er ihm zu der goldenen Kette die dazugehörige Uhr
schenkte. Stockes mußte es bezahlen. Dafür schmuggelte ihm der Mann
eine Feile in die Zelle.

Denn Dodd wollte ausbrechen, ausbrechen wie ein richtiger
Millionendefraudant, der sich wider Willen in den Händen der
menschlichen Gerechtigkeit sieht. Er wollte vor Valparaiso, noch ehe
das Schiff zu Anker ging, aus der Zelle schlüpfen, sich irgendwo
gut verstecken und erst an Land gehen, wenn Peter Voß nicht mehr
an Bord war. An Land zu schwimmen wagte er nicht, denn mit seinen
Schwimmkünsten war es nicht weit her.

Der amerikanische Konsul mußte ihm helfen.

Drei Nächte blieben ihm noch für die Arbeit, und er feilte noch ärger
drauf los als in Dui. Peter Voß, der die Augen offen hielt, verfolgte
gespannt den Fortgang der Arbeit und unterließ jede Störung. Im
Gegenteil, er freute sich millionendiebisch darüber. Er hatte Dodds
Gedankengang sofort erraten und wachte.

In der letzten Nacht war die Arbeit vollendet. Als der „King Edward“ in
der Morgendämmerung auf die Reede von Valparaiso einschwenkte und eine
halbe Seemeile von der Küste den Anker warf, bog Dodd das Fenstergitter
nach außen und streckte den Kopf durch das Loch. Hinter dem Hospital
waren noch ein halber Meter Decksplanken. Dann kam das Bordgeländer.
Der Steward hatte ihm ein sicheres Plätzchen im Magazin reserviert.

Es mußte gewagt werden.

„Guten Morgen, Mr. Voß!“ begrüßte ihn Peter Voß mit dem Revolver in der
Hand. „Sie haben mich verdammt lange warten lassen. Konzentrieren Sie
sich bitte rückwärts, sonst knall ich los. Das könnte Ihnen so passen!
Ueber Bord springen, an Land schwimmen, so wie damals vor Southampton!
Und ich kann mir wieder einmal die Hacken ablaufen, bis ich Ihre werte
Spur wiedergefunden habe.“

„Sie werden nicht schießen!“ schnaubte Dodd, ohne sich zurückzuziehen.
„Sie werden nicht neben Ihrer Defraudation noch einen Mord auf Ihre
Seele laden!“

„Sie haben recht, Mr. Voß!“ bekannte Peter Voß und steckte den Revolver
weg. „Ich bin ein Gemütsmensch. Ich tauge aus diesem Grunde eigentlich
nicht zum Detektiv. Ich werde nicht schießen. Und Sie werden nicht
über Bord springen. Das Baden im Hafen von Valparaiso ist polizeilich
verboten, schon wegen der zahlreichen Haifische.“

Und schon tauchten zwei Matrosen auf. Die chilenische Hafenpolizei
kam an Bord. Dodd wurde gefesselt. Das zerfeilte Fenstergitter bewies
hinlänglich seine Schuld. Er sträubte sich nicht und beschränkte sich
darauf, gegen diese Behandlung zu protestieren. Zwei Wachtleute packten
ihn links und rechts.

„Zweitausend Dollar Belohnung sind ausgesetzt!“ sprach Peter Voß zu dem
Hafenkommissar. „Ich werde dafür sorgen, daß sie Ihnen ausgehändigt
werden. Geben Sie mir Ihre Adresse. Nur lassen Sie den Mann nicht
entwischen.“

Dann öffnete er ihm die Augen über die Eigenarten und die
außerordentliche Gefährlichkeit des Verbrechers. Peter Voß begleitete
den Transport bis zum Gefängnis. Bobby Dodd verlangte fortgesetzt, zum
amerikanischen Konsul geführt zu werden.

„Meine Verhaftung ist ein Justizirrtum!“ rief er an der Tür des
Gefängnisses. „Ich bin Bobby Dodd, der Detektiv!“

„Jede Verhaftung ist in den Augen des Verhafteten ein Justizirrtum!“
beruhigte ihn Peter Voß sarkastisch und klopfte ihm höhnisch auf die
Schulter. „Bemühen Sie sich nicht weiter, Mr. Voß, und erholen Sie sich
in diesem behördlichen Hotel von den Strapazen der Seereise. Die Sache
bei dem nordamerikanischen Konsul vermag ich auch ohne Ihre Hilfe zu
ordnen.“

Das war zu viel für einen Mann wie Bobby Dodd. Er riß sich los, stürzte
sich auf Peter Voß und würgte ihn.

„Du Hund!“ brüllte er außer sich. „Ich will dich zeichnen, daß dich
jeder auf den ersten Blick wiedererkennt.“

Dabei griff er nach Peter Voßens linker Ohrmuschel in der festen
Absicht, sie ihm abzureißen. Aber es glückte ihm nur zum Teil. Immerhin
gab es einen sehr bösen Riß, und das Blut lief in Strömen. Bobby Dodd
wurde von den beiden Polizisten energisch zurückgerissen und mußte auf
weitere Tätlichkeiten verzichten. Man schaffte ihn in die sicherste
Zelle des Gefängnisses, schloß ihn seiner Gefährlichkeit halber an die
Wand und ließ ihn allein.

Peter Voß gab dem Gefängniswärter ein Goldstück.

„Pflegen Sie ihn gut!“ bat er den Mann. „Er ist nicht ganz normal. Er
wird wohl eher im Irrenhause als im Zuchthause endigen.“

„Sie bluten, mein Herr!“ rief der Wärter und deutete auf das lädierte
Ohr.

„Ich weiß!“ versetzte Peter Voß und wischte das Blut mit dem
Taschentuch fort. „Mein Beruf ist ein wenig gefahrvoll. Man muß sich
damit abfinden und es nicht zu ernst nehmen.“

Er ging zum Arzt und ließ sich verbinden. Dann konferierte
er mit dem amerikanischen Konsul. Der wies ihn wegen der
Auslieferungsverhandlungen an die Botschaft in Santiago und versprach,
den Gefangenen unter Beobachtung zu halten.

„Daß Sie ihn besuchen, ist nicht nötig!“ beruhigte ihn Peter Voß. „Ich
sorge schon für ihn.“

Peter Voß aber fuhr nicht nach Santiago. Er hatte gar keine Sehnsucht,
die persönliche Bekanntschaft des Botschafters zu machen. Er fragte
bei der Kosmosagentur, ob die sechstausend Mark für Franz Müller
eingelaufen seien, und ließ sie zurückgehen. Dann begab er sich an Bord
des „King Edward“, schenkte Kapitän Flintwell zum Andenken und zum Dank
für seine Hilfe bei der Dingfestmachung des Verbrechers Dodds silberne
Zigarettendose und ging mit Dodds Koffern von Bord. Polly war schon
allein an Land gegangen und wartete auf ihn bei der Post.

Darauf zog er sich mit Polly in ein stilles Café zurück, um zu beraten,
was weiter zu tun sei. Es kam alles auf die Kupferpapiere an. Peter Voß
langte die Prensa vom Nagel und durchsuchte den Kurszettel.

„Hurra!“ rief er plötzlich und schwenkte das Riesenblatt wie eine
Fahne. „Kupferhausse! Wahnsinnige Kupferhausse! Nach Hause! Schnell
nach Hause!“

Als er mit Polly acht Wochen später über Buenos Aires und New Orleans
auf der Union-Station in St. Louis eintraf, rannte er im Gewühl
mit einem Mann zusammen, der eben mit einem Zuge aus San Francisco
angekommen war. Es war Bobby Dodd, der sich inzwischen in Valparaiso
auf legalem Wege die Freiheit zu verschaffen gewußt hatte und nun
nach St. Louis zurückgekehrt war, um der Firma Stockes & Yarker den
unausführbaren Auftrag zurückzugeben.

Er stutzte einen Augenblick, packte zu und brüllte: „Peter Voß!“

Drei Polizisten kamen ihm zu Hilfe, aber sie hätten es gar nicht nötig
gehabt.

„Endlich!“ lachte Peter Voß, ohne sich im geringsten zu sträuben. „Das
hat lange genug gedauert, Mr. Dodd.“

So fing er doch noch den Millionendieb.

Die Firma Stockes & Yarker aber war gerettet.



20.


Peter Voß stand im Justizpalast von St. Louis vor dem Richter, der die
Voruntersuchung führte.

„Wo haben Sie die Millionen versteckt?“ fragte ihn der mit streng
gefurchter Stirn.

„Um die Millionen verstecken zu können,“ erwiderte Peter Voß
ebenso ernsthaft, „müßte ich sie doch erst einmal gehabt haben.
Diese Annahme Ihrerseits ist aber ein Irrtum. Ich erkläre hiermit
zum dreihundertfünfundsechzigsten Male, daß ich die Millionen
überhaupt nicht gestohlen habe. Ich sitze ganz unschuldigerweise in
Untersuchungshaft und müßte längst auf freien Fuß gesetzt worden sein.“

„Damit Sie sich die Millionen holen!“ sprach der Richter. „Wir kennen
diesen neuen Trick der Millionendiebe. Sie stehlen, verstecken, reißen
aus, stellen sich dann freiwillig, um ein möglichst mildes Urteil
herauszuschlagen, behaupten, sie hätten das Geld verloren oder es sei
ihnen von dritter Seite wieder gestohlen worden, sitzen ihre Strafe ab
und leben dann als Millionäre vergnügt bis an ihren Tod. Wir kennen,
wie gesagt, diese schöne Praxis und haben die feste Absicht, sie nicht
um sich greifen zu lassen. Sie werden es sich noch sehr überlegen,
ob Sie die Millionen mit zwanzig Jahren Zuchthaus und Zwangsarbeit
bezahlen wollen. Es wird sogar ein Antrag auf lebenslängliche schwere
Kerkerhaft gestellt werden, mit der Einschränkung, daß die Strafe auf
fünf Jahre leichte Haft zu ermäßigen ist, sobald sich durch die Hilfe
des Verurteilten die gestohlenen Millionen wiederfinden lassen.“

„Ich beglückwünsche Sie zu dieser Erfindung!“ rief Peter Voß
begeistert. „Sie werden sich den Dank aller nordamerikanischen
Bankhäuser verdienen. Aber bei mir die Wirkung dieser Methode zu
erproben, ist nicht nur überflüssig, sondern sogar widersinnig. Denn
ich habe die Millionen nicht nur nicht versteckt, sondern sie überhaupt
gar nicht gestohlen. Ich bin kein Millionendieb.“

„Dies ist eine Behauptung, der leider der Beweis fehlt!“ versetzte
der Richter achselzuckend. „Oder sind Sie imstande, diesen Beweis zu
erbringen?“

„Imstande wohl!“ antwortete Peter Voß. „Ich habe einen Zeugen.“

„Einen Komplicen!“ verbesserte ihn der Richter. „Sie haben also den
Diebstahl nicht allein ausgeführt.“

„Nein, einen richtiggehenden Zeugen!“ rief Peter Voß. „Einen so guten,
so vortrefflichen Zeugen, wie er noch keinem des Millionendiebstahls
Beschuldigten zu seiner völligsten Entlastung zur Verfügung gestanden
hat. Dieser Mann braucht nur den Mund aufzutun und zu sagen: Peter
Voß ist kein Millionendieb! Und kein Mensch, der es hört, wird an der
Wahrheit dieser Aussage zweifeln. Auch Sie nicht, Herr Richter. Sie
werden es dem Mann sogar glauben, ohne daß er seine Aussage durch einen
Eid bekräftigt.“

„Nun gut!“ schmunzelte der Richter. „Nennen Sie den Zeugen. Nach Ihrer
Behauptung zu urteilen, muß ich ihn nicht nur kennen, sondern auch von
seiner absoluten Glaubwürdigkeit überzeugt sein. Ich mache Sie aber
darauf aufmerksam, daß ich an eine absolute Zeugenglaubwürdigkeit nicht
glaube. Aber trotzdem, nennen Sie den Namen. Es gibt Umstände, die eine
partielle absolute Glaubwürdigkeit möglich erscheinen lassen. Wenn zum
Beispiel der Entlastungszeuge sich durch seine Aussage eines mit dem
Millionendiebstahl in direkter Verbindung stehenden Mordes bezichtigen
würde. Der Fall aber wird nach menschlichem Ermessen niemals eintreten.
Also auch bei Ihrem Delikt nicht, wobei übrigens nach meinem Wissen
niemand ermordet worden ist.“

„Nach meinem auch nicht!“ bestätigte Peter Voß diese freundliche
Annahme.

„Also nennen Sie Ihren Komplicen!“ forderte ihn der Richter zum dritten
Male auf.

„Das verbietet mir leider meine Noblesse!“ erwiderte Peter Voß und warf
sich in die Brust. „Ich bin diesem Zeugen zu großem Danke verpflichtet,
und ich werde ihn niemals in eine unangenehme Situation bringen.“

„Aber das ist ja heller Wahnsinn!“ fuhr ihn der Richter an. „Nur um
einen Menschen nicht in eine unangenehme Situation zu bringen, lassen
Sie sich zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilen.“

„Lebenslänglich!“ betonte Peter Voß. „Darauf kommt es an. Der Mann
hat mir nämlich einmal das Leben gerettet. Und ich leide an einem
vorzüglichen Gedächtnis. Außerdem gibt es noch eine Revisionsinstanz.
Ich hoffe jedoch zuversichtlich, schon im ersten Justizgange
freigesprochen zu werden.“

„Woraufhin?“ fragte der Richter verblüfft.

„Auf die Eröffnungen, die ich noch zu machen habe!“ sagte Peter Voß.
„Ich behalte sie mir für die Verhandlung vor. Aus rein taktischen
Gründen.“

„Sie wollen sich also jetzt auf die Aussage beschränken, daß Sie die
Millionen nicht gestohlen haben?“ fragte der Richter kopfschüttelnd.

„Jawohl!“ antwortete Peter Voß kopfnickend. „Das genügt vorerst. Ich
überlasse es der Justiz, den Beweis zu erbringen, daß ich die Millionen
gestohlen habe. Im übrigen pflege ich mein Pulver niemals vor der
Zeit zu verschießen. Sorgen Sie nur dafür, daß der Termin recht bald
angesetzt wird.“

Darauf verabschiedete er sich mit einer korrekt-liebenswürdigen
Verbeugung.

In der Zelle erhielt er den Besuch des Anwalts. Das war ein selbst für
amerikanische Verhältnisse äußerst gerissener Junge.

„Selbstverständlich!“ sagte er zu Peter Voß. „Sie haben die Millionen
versteckt und wollen Sie späterhin nutznießen. Das ist Ihnen nur zu
gönnen. Bitte unterschreiben Sie Vollmacht und Garantieschein. Mit
dem Honorar gedulde ich mich, bis Sie wieder aus dem Zuchthaus heraus
sind. Es liegt Ihnen natürlich daran, nur auf möglichst kurze Zeit
hineinzukommen.“

„Freigesprochen will ich werden!“ gestand Peter Voß ehrlich. „Und zwar
mit Glanz, Pauken und Trompeten.“

„Lieber Freund!“ schmunzelte der Anwalt und klopfte ihm auf die
Schulter. „Sie schrauben Ihre Ansprüche zu hoch. Sagen wir drei Jahre
Zuchthaus. Das kann ein so kerngesunder Mensch wie Sie mit Leichtigkeit
durchhalten. Für zwei Millionen Dollar ist das ein Spaß. Ich würde sie
auch absitzen, wenn man mir zwei Millionen Dollar dafür gibt.“

„Aber ich nicht!“ rief Peter Voß entrüstet. „Und zwar einfach aus dem
Grunde nicht, weil ich die Millionen gar nicht gestohlen habe.“

„Hm!“ lächelte der Anwalt verständnisinnig. „Sie haben das schon dem
Untersuchungsrichter gegenüber behauptet. Ich habe die Akten soeben
eingesehen.“

„Wer hat Sie mit meiner Verteidigung beauftragt?“ forschte Peter Voß.

„Wer sonst als Ihre Frau!“ rief der Anwalt. „Ein entzückendes Frauchen.
Sie muß Sie sehr lieb haben, denn sie ist felsenfest von Ihrer Unschuld
überzeugt. Nun, ich habe ihr den schönen Traum nicht zerstört. Sie wird
Ihnen treu bleiben, auch wenn Sie lebenslänglich ins Zuchthaus müßten.
Sie würde dieses Urteil stets für einen Justizirrtum halten.“

„Ich auch!“ rief Peter Voß.

„Gut, gut!“ lachte der Anwalt. „Mir brauchen Sie nichts vorzumachen.
Ich soll also auf Ihren Freispruch plädieren. Wird gemacht! Aber
woraufhin? Etwa auf Ihre famose Behauptung, daß Sie die Millionen nicht
gestohlen haben? Mir müssen Sie schon reinen Wein einschenken. Also im
Vertrauen gesagt, wo haben Sie die Millionen versteckt?“

„Das ist doch rein um mit Keulen drein zu schlagen!“ schrie Peter Voß
in komischer Verzweiflung und reckte die geballten Fäuste gegen die
Wand.

„Dazu ist nicht der geringste Grund vorhanden, mein Lieber!“ beruhigte
ihn der Anwalt. „Sie werden von mir unmöglich verlangen können, daß ich
mich lächerlich mache. Sobald ich jedoch auf Ihren Freispruch plädiere,
mache ich mich unsterblich lächerlich. Sie haben die Millionen
gestohlen. Ich komme soeben von der Lektüre Ihrer Akten. Es ist ein
schönes Bündel. Es liegen die von Ihnen geführten Geschäftsbücher der
Firma Stockes & Yarker dabei. Sie sind musterhaft geführt. Das wird
Ihnen sogar der Staatsanwalt bestätigen. Auch die Berichte Bobby Dodds
liegen dabei. Sie lesen sich wie ein spannender Roman, wenn nur der
Stil nicht gar zu trocken wäre. Und aus all den Beilagen geht mit
unverrückbarer Gewißheit hervor, daß Sie und kein anderer die Millionen
gestohlen haben. Auf welche Ausrede hin soll ich Ihren Freispruch
erzielen können? Wie wollen Sie diese Beweise entkräftigen?“

„Sehr einfach!“ versetzte Peter Voß, der inzwischen eingesehen hatte,
daß er von seinem aufs beste getrockneten Pulver diesem Anwalt
gegenüber ein wenig losbrennen mußte. „Ich habe den Diebstahl nur
fingiert.“

Der Anwalt lächelte ungläubig.

„Ich bin Kassierer bei der Firma Stockes & Yarker gewesen,“ erklärte
Peter Voß; „der Chef dieser Firma, übrigens ein braver Mann, hat in der
Zeit meines Kassiererseins zwei Millionen Dollar verspekuliert. Nicht
auf einmal, sondern im Laufe einiger Jahre. Ich war der einzige, der
über den Vermögensstand der Firma genau orientiert war. Der Inhaber der
Firma hat sich immer auf mich verlassen. Die Firma ging dem sichern
Ruin entgegen. Ich hatte eine gute, vortrefflich bezahlte Stellung,
die ich unbedingt verloren hätte, wenn die Firma aufgeflogen wäre.
Ich begann deshalb die Bücher zu fälschen, allerdings erst im letzten
Quartal, da uns das Wasser bereits an der Kehle stand. Ich hoffte
immer noch auf einen guten Coup. Aber der Chef war ein ausgemachter
Pechvogel.“

Das ungläubige Lächeln des Anwalts verstärkte sich.

„Zuletzt ging es nicht mehr weiter. Wo das Bargeld fehlt, helfen die
bestgefälschten Bilanzen nicht. Da habe ich, um die Firma über Wasser
zu halten, zwei Millionen Dollar aus dem Geldschrank gestohlen, die gar
nicht darin vorhanden waren. Ich habe die Firma vor dem Zusammenbruch
gerettet, denn die gestohlene Summe wurde ihr von dem Gläubiger
gestundet.“

Der Anwalt lachte nun schallend auf.

„Ich habe mich fast zwei Jahre lang als Millionendieb verfolgen
lassen, bis sich die Firma wieder erholt hatte. Das ersah ich aus dem
Kurszettel. Wir hatten uns nämlich an Kupferpapieren überkauft, die
damals total auf den Hund waren. Und nun stehen sie zweimal so hoch wie
beim Einkauf. Die Firma Stockes & Yarker steht glänzend da. Sie wird
die zwei Millionen, die ihr damals gestundet worden sind, gewiß längst
zurückbezahlt haben. Und deshalb habe ich mich von dem Detektiv fangen
lassen.“

„Großartig!“ rief der Anwalt aufs höchste begeistert. „Das ist einfach
eine entzückende Geschichte. Es läßt sich gar keine bessere erfinden.
Wenn sie wahr wäre, was sie leider nicht ist, dann müßten Sie sofort
entlassen werden.“

„Sie ist wahr!“ rief Peter Voß wütend.

„Allright!“ besänftigte ihn der Anwalt. „Nehmen wir an, sie sei wahr.
Man wird es uns ohne Beweise nicht glauben. Sie behaupten, die Bücher
nachträglich gefälscht zu haben. Sie werden die gefälschten Zahlen
heraussuchen.“

„Ich habe sie alle im Kopfe!“ sagte Peter Voß und begann sie dem Anwalt
zu diktieren.

„Wir werden diese Eintragungen von einem Schreibsachverständigen
prüfen lassen. Sodann muß der Inhaber der Firma aussagen. Ich werde
ihn bearbeiten. Er wird einsehen, daß er die Millionen doch nicht
wiederbekommt, und er ist Ihnen schließlich zu Dank verpflichtet,
natürlich immer von unserer Voraussetzung aus betrachtet, daß diese
famose Geschichte wahr ist.“

„Gehen Sie zu ihm!“ sprach Peter Voß. „Es kann nichts schaden, wenn Sie
ihm diese Geschichte so erzählen, wie sie sich in Wahrheit zugetragen
hat.“

Zwei Stunden später stürzte der Anwalt in Peter Voßens Zelle.

„Jetzt werde ich auf Ihren Freispruch plädieren!“ rief er, noch in der
Tür. „Ich habe dem Inhaber der Firma Stockes & Yarker die Geschichte
erzählt, diese ganz unglaubliche Geschichte, diese rührend sentimentale
Geschichte von dem Kassierer, der sich für die Firma opfert, diese
Geschichte, die wert ist, in alle Weltsprachen übersetzt zu werden.
Ich habe ihm die Geschichte Ihres fingierten Millionendiebstahls
erzählt, und was meinen Sie? Er hat sie mir geglaubt!!! Er hat sie
mir abgenommen von A bis Z. Nicht ein einziges Mal hat er den Kopf
geschüttelt. Nur sehr überrascht ist er gewesen, daß er einen so
treuen Kassierer zwei Jahre lang für nichts und wieder nichts durch
die Welt hat hetzen lassen. Er will sogar für Sie aussagen, nur im
allergünstigsten Sinne. Jetzt hoffe ich wirklich, Sie frei zu bekommen.
Mr. Stockes hat mir bewiesen, daß man Ihre unglaubliche Geschichte
glauben kann. Ich werde dafür sorgen, daß sich die Mehrzahl der Richter
ihm anschließt.“

„Darum allein ist es mir zu tun!“ sagte Peter Voß und drückte ihm die
Hand. „Es sind da aber noch einige andere Paragraphen verletzt worden.
Irreführung der Behörden, Benutzung falscher Pässe und dergleichen
mehr. Hoffentlich ist das mit einer Geldstrafe abzubüßen.“

„Freigesprochen werden Sie!“ entschied der Anwalt. „Sie kommen vor die
Geschworenen. Wenn Mr. Stockes glaubt, werden die Geschworenen auch
glauben. Sie entscheiden nach dem Gefühl. Und ein so treuer Kassierer,
der sich für die Firma opfert, die ihm zudem einen wahren Hungerlohn
zahlt, ein so treuer Beamter, der sich aus reinem Idealismus die
größten Strapazen auferlegt, ein solcher Mensch verdient von Rechts
wegen einen Orden und eine staatliche Pension.“

Er war schon mitten drin in seinem Plaidoyer.

Und der große Tag kam, an dem Peter Voß vor die Geschworenen trat.
Gleich von Anfang an ging die Sache schief. Die Gutachten der
Schreibsachverständigen, die zur Vorlesung gebracht wurden, leugneten
ganz entschieden, daß die betreffenden Ziffern, die in Summa eine runde
Doppelmillion ausmachten, nachträglich in die Bücher hineingefügt
worden waren.

Das hat man nun davon, wenn man gar zu gut fälscht! dachte Peter Voß
ärgerlich.

Der Prokurist des Hauses Stockes & Yarker schilderte die Entdeckung
des Diebstahls. Peter Voßens juristische Aktien sanken von Minute zu
Minute. Bobby Dodd ließ überhaupt kein gutes Haar an ihm und schilderte
ihn als den Verbrecher der Verbrecher.

Nun kam Jim Stockes an die Reihe, der sich bis dahin außerhalb des
Sitzungssaales befunden hatte. Er konnte, obschon er alles zugab, was
Peter Voß und sein Anwalt von ihm verlangten, doch nicht mehr die
gänzlich verfahrene Karre auf das rechte Gleis ziehen.

Der Staatsanwalt beantragte zwanzig Jahre schweren Kerkers, nachdem er
die rührende Geschichte von dem treuen Kassierer in ihre unglaublichen
Einzelheiten wie ein Gänseblümchen zerpflückt hatte. Jim Stockes bekam
von ihm für seine bewiesene Sanftmut einen Lorbeerkranz aufs Haupt
gesetzt, wodurch seine für den Angeklagten günstigen Aussagen erledigt
waren.

Der Anwalt blieb bei der Stange und versuchte das Unmögliche. Da er
aber selbst nicht an Peter Voßens Unschuld glaubte, wirkte seine Rede
nur unfreiwillig humoristisch.

Als sich die Geschworenen zur Beantwortung der Schuldfrage
zurückgezogen, wurde Peter Voß zum erstenmal schwül zumute. Er kam bös
in die Klemme, wenn Jim Stockes nicht den Mund auftun wollte. Der aber
saß auf der Zeugenbank, sah geradeaus und schaute nicht links und nicht
rechts. Sein bleiches Gesicht war wie aus Stein gemeißelt. Keine Fiber
zuckte darin. Er wartete auf den Spruch der Geschworenen.

Die kamen bald wieder in den Saal und erstatteten Bericht von ihrer
geheimnisvollen Tätigkeit, indem sie die Schuldfrage mit allen Stimmen
bejahten.

Jetzt stand Jim Stockes langsam auf und machte drei Schritte gegen die
Schranke, hob zwei Finger auf und sprach mit lauter Stimme: „Peter Voß
ist kein Dieb. Wir haben die Sache damals zusammen verabredet.“

Nach diesem Bekenntnis war es eine ganze Weile mäuschenstill im
weiten Sitzungssaale. Nicht ein einziger zweifelte an der Wahrheit
der Aussage, nicht einmal der Staatsanwalt, obschon sie gar nicht
beschworen worden war.

Nachdem die Richter ihr grenzenloses Erstaunen bemeistert hatten,
setzten sie die juristische Strafmaschinerie wieder in Gang.

Nun kam die andere Hälfte der Wahrheit ans Licht. Im Zuhörerraum wurde
jede Aussage Peter Voßens mit wachsendem Beifallsgetrampel begrüßt. Das
Gefühl für diesen treuesten aller Bankkassierer brach sich Bahn. Die
Volksseele entlud sich stürmisch. Auch die Geschworenen zeigten den
Enthüllungen gegenüber wachsendes Interesse. Am meisten imponierte
ihnen die Sicherheit, mit der Peter Voß das Steigen der Kupferpapiere
vorausberechnet hatte. Dagegen wogen alle die kleinen Delikte, die er
auf seiner Flucht begangen hatte, federleicht.

Das Rechtsgefühl siegte, der Paragraph unterlag. Peter Voß wurde zu 50
Dollar Geldstrafe verurteilt wegen schlechter Buchführung.

Der erste, der ihm gratulierte, war Bobby Dodd.

Das Publikum im Zuschauerraum klatschte wie bei einer wohlgelungenen
Theateraufführung.

Als Peter Voß am Arm Jim Stockes’ aus dem Gerichtsgebäude trat, wurden
sie beide von der begeisterten Volksmenge auf die Schultern gehoben und
im Triumph durch die Straßen getragen. Die Zeitungen tobten drei Tage
lang in spaltenlangen Artikeln über diesen einzigartigen Fall. Bobby
Dodds Ruhm stieg in die Puppen. Aber er war daran unschuldig. Peter
Voß wurde interviewt und bekam von Barnum & Bailey eine Einladung,
seine geniale Flucht vor dem Detektiv für eine Welttournee auf der
Zirkusmanege zu inszenieren, was er aber ablehnte.

Und die Firma Voß, Stockes & Yarker in St. Louis mußte ihr Personal
verdreifachen, um die Aufträge, die von allen Seiten einliefen,
erledigen zu können.

„Voß!“ sagte Stockes zu seinem neuen Kompagnon, als die Tage wieder
ein wenig ruhiger geworden waren. „Wir sind mit einem blauen Auge
davongekommen. Aber ein zweites Mal riskiere ich das Manöver nicht.“

„Ich auch nicht!“ gestand Peter Voß.

Und dann lagen sie sich in den Armen.

Jim Stockes war wieder der alte Draufgänger, der am liebsten alles auf
eine Karte setzte, und besonders jetzt, wo Dick Patton mit spielender
Leichtigkeit bezahlt worden war und die Firma an der Spitze aller
westunionistischen Bankfirmen marschierte. Er war ein alter Eigensinn,
aber Peter Voß war ein junger Eigensinn und gab erst recht nicht nach.
Allen Herzenswünschen Jim Stockes’ widersetzte er sich hartnäckig.
Der wurde schließlich wütend über die mangelnde Einsicht seines neuen
Teilhabers und fuchtelte mit Bleistift und dem Notizblock, der seine
Beweisführung trug, höchst despektierlich in der Luft herum.

Da beugte sich Peter Voß, der ihm gegenübersaß, weit über die beiden
Schreibtische, nahm Jim Stockes zuerst den Bleistift und dann den
Notizblock aus den Fingern und setzte sich wieder.

„Gehen Sie spazieren, Mr. Stockes!“ bat er ihn freundlich. „Aber nicht
auf die Börse, sondern lieber auf den Carondeletpark zu. Holen Sie
meine Frau ab und gehen Sie mit ihr ins Theater oder sonst wohin. Sie
dürfen so liebenswürdig zu ihr sein, wie Sie es als alter Junggeselle
können.“

Jim Stockes machte ein Gesicht wie eine verärgerte Dogge.

„Wenn wir so spekulieren, wie Sie wollen,“ fuhr Peter Voß fort, „dann
muß ich in spätestens zwei Jahren wieder die Bücher verbessern und
eine Weltreise machen. Nur daß dann niemand mehr auf den Schwindel
hineinfällt. Ich pensioniere Sie mit halben Gehalt, wenn Sie sich nicht
bessern.“

Jim Stockes lächelte über diese Drohung, gab nach und ging. Nach einer
Stunde kehrte er ziemlich niedergeschlagen zurück.

„Haben Sie meine Frau nicht getroffen?“ fragte Peter Voß verwundert.

„O doch!“ antwortete Jim Stockes und tupfte sich den Schweiß von der
Stirn. „Aber sie hatte für heute abend schon eine Einladung. Ich habe
sie begleitet, aber es war eine Strapaze. Sie wollte mich verheiraten.
Und Sie wissen doch, wie ich über diesen Punkt denke.“

„Stockes!“ sprach Peter Voß, trat auf ihn zu und legte ihm die Hand auf
die Schulter. „Sie sind ein eingefleischter Junggeselle. Und deshalb
brauchen Sie Gesellschaft. Ich werde an meinen Onkel telegraphieren.
Der langweilt sich da drüben in Strienau genau so schauderhaft wie
Sie hier. Denn das werden Sie wohl gemerkt haben, im Geschäft kann
nur einer herrschen. Sie haben genug geschafft, jetzt ruhen Sie sich
aus. Sie kommen nur noch morgens eine Stunde her, um mir die nötigen
Unterschriften zu liefern. Dann haben Sie den ganzen Tag frei. Bis mein
Onkel da ist, können Sie sich die Zeit bei den Elevatoren vertreiben.
Oder Sie fahren meinem Onkel bis nach New York entgegen. Er ist ein
prächtiger Herr, der gut zu Ihnen passen wird. Auch für Ihren Klub
bringe ich ihn in empfehlende Erinnerung. Daß Sie ihn aber unbeschädigt
abliefern und ihn nicht gar zu arg unter Whisky setzen. Denn für eine
Taufe braucht man zwei Paten.“

Jim Stockes streckte beide Hände aus, um auf diese unerwartete
Nachricht hin zu gratulieren.

„Danke!“ lächelte Peter Voß vergnügt. „Es hat schwer genug gehalten.
Wir haben beschlossen, es Jim Bobby zu taufen, wenn es ein Junge wird.
Was ich übrigens so gut wie sicher glaube. Der Erbe der Firma Voß,
Stockes & Yarker ist unterwegs. Und ich bin der Verantwortliche.“

Jim Stockes ging zu den Getreideelevatoren und hernach in den Klub,
wo noch immer von nichts anderem gesprochen wurde als von den zwei
Millionen, die nicht vorhanden gewesen waren und doch gestohlen werden
konnten.

Am nächsten Morgen, als Stockes seine Unterschriften geliefert und sich
empfohlen hatte, meldete sich Bobby Dodd bei der Firma Voß, Stockes &
Yarker.

„Sie wollen gewiß Mr. Stockes sprechen?“ fragte Peter Voß und bot ihm
einen Stuhl an.

Aber Bobby Dodd verneinte und rückte sofort mit seinem Anliegen heraus.
Er wollte der Firma sein nicht unbeträchtliches Vermögen zwecks
spekulativer Vermehrung anvertrauen. Außerdem gedachte er sich ein
kleines Landgut mit Park und Villa zuzulegen, da er seinen Beruf ganz
aufgeben wollte.

„Aha!“ lachte Peter Voß und bot ihm eine Zigarre an. „Ich habe Ihnen
das Geschäft ein bißchen verleidet. Es ist eben leichter, einen
Schuldigen zu greifen, als einen Unschuldigen, der nicht durch ein
böses Gewissen beschwert ist.“

„Nein!“ erklärte Bobby Dodd einfach. „Ich möchte nicht wieder in die
Lage kommen, einen Unschuldigen verfolgen zu müssen. Und das mit den
Zeitungen hat mich auch stutzig gemacht. Ich bin vielleicht gar nicht
der geniale Detektiv, für den mich die Leute ausposaunt haben.“

„Mr. Dodd!“ rief Voß begeistert und umarmte ihn. „Ich werde Ihr
Vermögen in kurzer Zeit verdoppeln und verdreifachen. Sie sind ein
Mensch, den man trotz seiner Schwächen liebhaben muß. Sie wollen sich
zur Ruhe setzen und das Leben genießen. Dazu gehört eine Frau. Gehen
Sie zu Mrs. Voß. Sie hat gestern den Versuch gemacht, Jim Stockes unter
die Haube zu bringen. Aber es war ein Versuch am untauglichen Objekt.
Gehen Sie ruhig zu ihr, wenn Sie auch kein gutes Gewissen haben. Sie
hat Ihnen schon längst verziehen. Lassen Sie sich von ihr glücklich
machen. Sie versteht das. Sie hat Routine darin. Bei Ihnen kommt
natürlich nur das indirekte Verfahren in Betracht. Sie hat sicher was
für Sie auf Lager. Sie hat eine ganze Reihe Freundinnen, die alle zum
Anbeißen sind.“

„Im Ernst?“ fragte Dodd interessiert.

„Aber gewiß!“ lachte Peter Voß. „Im vollen Ernst. Sie hat ein
Heiratsbureau. Jede Frau, die glücklich verheiratet ist, ist eine
gewerbsmäßige Heiratsvermittlerin ohne Konzession. Gehen Sie hin und
schütten Sie ihr das Herz aus. Es wäre wunderhübsch, wenn Sie eines
von diesen patenten Mädels, die immer um sie herum sind, wegfischten.
Denn sie fallen mir, offen gestanden, schon ein bißchen auf die Nerven.
Ich denke es mir großartig, wenn wir den freundschaftlichen Verkehr,
den wir dort drüben in Europa begonnen haben, weiter pflegen würden.
Malen Sie sich das Bild aus. Wir sitzen Sonntag nachmittags da draußen
irgendwo in Ihrem entzückenden Landhaus bei einer Ananasbowle und
tauschen unsere Erinnerungen aus.“

Dodd malte sich das Bild aus und war einige Wochen später auf dem
besten Wege, es in die Wirklichkeit zu verwandeln.

Dann kam Landgerichtsrat Pätsch an und ging mit Jim Stockes zu den
Elevatoren.

Und so waren sie alle zufriedengestellt.



                               Werke von

                        Ewald Gerhard Seeliger


   Mein Vortragsbuch. Ernste und heitere Balladen

   Buntes Blut. Neun exotische Humoresken. 5. Auflage

   Das Schlesische Werk. 1. Band: Siebenzehn Schlesische Schwänke. 2.
   Band: Schlesien, ein Buch Balladen. 3. Band: Zwischen Polen und
   Böheimb, zwanzig Historien. 2. Auflage

   Die Weiber von Löwenberg. Historisches Spektakulum in 5 Akten

   Riffe der Liebe. Ein Blankeneser Roman. 2. Auflage

   Top. Heitere Seegeschichten. 3. Auflage

   Meerfahrt. Lustige Verse mit Bildern

   Zurück zur Scholle. Roman. 2. Auflage

   Frau Lenens Scheidung. Ein lustiger Roman. 5. Auflage

   Mandus Frixens erste Reise. Roman. 15. Auflage

   Nordnordwest. Die beiden Friesen. Zwei Inselgeschichten. 13. Auflage

   Hamburg. Ein Buch Balladen

   Der Schrecken der Völker, Weltroman; Auf Tod und Leben, Novellen;
   Chinesen, 4 dramatische Spiele; Der Stürmer, Roman; Ueber den
   Watten, Roman; Zwischen den Wäldern, Roman; An der Riviera, Leute
   vom Lande, Aus der Schule geplaudert, drei Skizzenbücher



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Der Roman schildert die Liebesidylle eines jungen Fliegeroffiziers, der
in die Abhängigkeit einer pikanten amerikanischen Tänzerin gerät. In
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