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Title: Landesverein Sächsischer Heimatschutz — Mitteilungen Band XII, Heft 10-12 : Monatsschrift für Heimatschutz und Denkmalpflege
Author: Landesverein Sächsischer Heimatschutz
Language: German
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*** Start of this LibraryBlog Digital Book "Landesverein Sächsischer Heimatschutz — Mitteilungen Band XII, Heft 10-12 : Monatsschrift für Heimatschutz und Denkmalpflege" ***
HEIMATSCHUTZ -- MITTEILUNGEN BAND XII, HEFT 10-12 ***



    Anmerkungen zur Transkription


    Das Original ist in Fraktur gesetzt. Im Original gesperrter
    oder unterstrichener Text ist _so ausgezeichnet_. Im Original
    in Antiqua gesetzter Text ist ~so markiert~. Im Original fetter
    Text ist =so dargestellt=.

    Weitere Anmerkungen zur Transkription befinden sich am Ende des
    Buches.



    Landesverein Sächsischer
    Heimatschutz

    Dresden

    Mitteilungen
    Heft
    10 bis 12

    Monatsschrift für Heimatschutz, Volkskunde und Denkmalpflege

    Band XII

    _Inhalt_: Erziehung zum heimatlichen Menschen – Der Eliasfriedhof
    in Dresden – Volkstümliche Kinderpoesie in Oschatz – In der
    Dorfschenke – Weihnachtsdörfer – In der Landesgemeinde –
    Die Birkgutlinde – Die Jagd auf den Eisvogel – Eiszeitliche
    Gletscherschrammen beim Teufelsstein (Pließkowitz, Oberlausitz) –
    Weihnachten im Landesmuseum für Sächsische Volkskunst – Das
    frühere Vorkommen von Auer- und Birkwild in Sachsen – Zur
    Geschichte der Starmeste – Ein Heimatschützer im fernen Osten –
    Luftbild und Heimatschutz

    Einzelpreis dieses Heftes 2 Goldmark

    Geschäftsstelle: Dresden-A., Schießgasse 24

    Postscheckkonto: Leipzig 13987, Dresden 15835
    Stadtgirokasse Dresden 610

    Bankkonto: Commerz- und Privatbank,
        Abteilung Pirnaischer Platz, Dresden
    Bassenge & Fritzsche, Dresden

    Dresden 1923



            Dresden, im März 1924

Unsre werten Mitglieder bitten wir, für dieses Schlußheft aus dem
Nullenjahre 1923 uns noch

_1 Rentenmark_

einsenden zu wollen. Zahlkarte liegt dem Hefte bei.

In diesem Jahre werden voraussichtlich 6 Hefte unsrer Mitteilungen in
der alten Friedensausstattung erscheinen.

Der monatliche Beitrag für 1924 beträgt 1 Mark und kann bei
Minderbemittelten und wirtschaftlich Schwachen bis auf 50 Pfennig
ermäßigt werden.

Landesverein Sächsischer Heimatschutz


Die Ziehung unsrer 4. Geldlotterie findet endgültig

am 7. und 8. April

statt. Wir bitten alle unsre Mitglieder, noch die letzten Lose
abzunehmen und sich beiliegender Bestellkarte zu bedienen.



    Band XII, Heft 10/12      1923

[Illustration: Landesverein Sächsischer Heimatschutz

Dresden]

Die Mitteilungen des Vereins werden in Bänden zu 12 Nummern
herausgegeben

Abgeschlossen am 31. Dezember 1923



Erziehung zum heimatlichen Menschen

Von _Friedrich Sieber_, Löbau


            Naer Oostland willen wy ryden,
            Naer Oostland willen wy mêe,
            Al over die groene Heiden,
            Frisch over die Heiden,
            Daer isser een betere stêe.

Das war das Wanderlied der unbändigen Bauerngeschlechter, starkknochig
und mutgeschwellt, die ihre niederländische Heimat verließen, Saale und
Elbe, die alte Slawenlinie überschritten, um sich auf jungfräulichem
Kolonialgrunde niederzulassen. Die Ferne lockte: Daer isser een betere
stêe! Wie oft hat die gleißende Ferne Ahnengeschlechter betört!
Germanen überschritten den Rhein, stürzten wie Alpenströme ins
glühende Südland. Staufenkaiser träumten von Weltherrschaft unter den
Palmen Siziliens. Ritter pilgerten in langen Zügen zu Weihestätten.
Bauerngeschlechter aller Gaue erbrachen die Gründe des Ostens. Dann
tauchte das Wunderland auf aus den westlichen Meeren. Sein alles
verheißender Blick, Unermeßlichkeit und Reichtum der Gefilde schufen es
zu dem Lande, in dem alle Träume ihre Verwirklichung finden konnten.
Noch heute gleißt es für viele wie Zaubergold ... Und solange sich
Berge wölben, Ebenen im Glanze sich dehnen, Meere und Stürme brausen,
wird immer der Drang zur Ferne Menschen von der Scholle reißen, in
fremde Räume wehen.

Diese Wander- und Abenteuerlust, die in der Heimat nimmer befriedigt
wird, hat ein Gegenbild im Reiche des Geistes. Aber Geist ist
leichter als Stoff, breit und leicht fließen seine Ströme von Land
zu Land. Wie eine Senke für diese Geistesströme lag unser Vaterland
im Erdenrund. Jahrhundertelang strömte aus fast allen Richtungen der
Rose fremden Volkes Geist in die Gründe unsers Wesens. Herrisches
Rom, farbfrohes und klingendes Italien, griechische Größe, gallische
Glätte, englische Gefühlsseligkeit und Sinnenobjektivität, magisches
Leuchten des Orients: Ströme, Bäche und glucksendes Rinnsal. Aber
unsers Volkes Quellen am Grunde schwiegen nicht, sie schleuderten
ihre Kraft. Wir lachen der Forscher, die in der Geschichte deutschen
Wesens nur fremde Einflüsse erkennen, keinen Blick haben für die Fülle
des Köstlichen, das uns, nur uns eigen ist. Aber diese Überschätzung
des Fremdländischen ist von verheerenden Wirkungen gewesen in unserm
Erziehungswesen. Der Deutsche des sechzehnten Jahrhunderts wurde auf
unsern höheren Schulen zum Ciceronianer erzogen, der des siebzehnten
Jahrhunderts zum ~homme du monde~, zum ~galant homme~, der des
ausgehenden achtzehnten und beginnenden neunzehnten Jahrhunderts durch
griechisches Menschentum zum Menschen schlechthin. Ein Glück nur, daß
in der Auffassung all dieser fremden Werte mehr Eigenes lag als die
Urheber vermuteten. Das neunzehnte und zwanzigste Jahrhundert brachten
immer neue Wertgruppen, die forderten, Erziehungsziel zu werden,
alle möglichen gegeneinander abgetönten Schularten wollten diese
mannigfachen Werte in ihre Zöglinge hineinbilden.

Und inmitten dieses Wertechaos, in dem wir noch stehen, Erziehung
zum heimatlichen Menschen? Klingt das nicht zu einfach, zu schlicht,
andern hochtrabenden Bildungszielen gegenüber? Spukt es nicht
noch in unserm Blute: Was nahe ist, »ist nicht weit her?« Sollten
klassische Antiquitäten nicht wertvoller sein? Und dann: Wird sich die
Geistesbewegung, die sich gegenwärtig der Heimat zuwendet und die durch
den verlorenen Krieg lebenskräftig wurde, nicht in kurzer Zeit zu Tode
gelaufen haben? Was dann, wenn alle noch erreichbaren Überlieferungen
registriert, die gefährdeten Denkmale geschützt und gesichert sind?
Weht in den Heimatzeitschriften nicht oft enge, stickige Luft, fast wie
in Großmütterchens Stübchen? Glaubt man, durch die frömmelnde Liebe
für das Allzukleine und frommes Augenaufschlagen beim Aussprechen des
Wortes Heimat einen besonders wertvollen Menschen zu erziehen? Und was
wird uns die Heimat sein, wenn wir die Ferne wieder haben?

Wir geben diesen Zweiflern in einem recht: Das Bild der Heimat als
Ziel einer bewußten Erziehung harrt noch in wesentlichen Punkten der
schöpferischen Ausformung. Es ist offenkundig, daß der Begriff der
Heimat in vielen Köpfen und Herzen nur ein unsicher zerfließender
Gefühlskomplex ist. Die Gefühle, die den Begriff umwuchern, bergen
mehr Altersschwingungen als blutvolle Jugend, grenzen mitunter
an Greisensentimentalität oder an gönnerhaftes amerikanisches
Heimgedenken. Erziehung zu diesen unbedeutenden Rührseligkeiten
ist nicht Erziehung zum heimatlichen Menschen. Wir weisen diese
Einstellungen zurück als Rückstände einer satten Vorkriegszeit. Heute
umlagern die Wälle gefallener Brüder den heiligen Boden. Ihre großen
Gestalten fordern tiefstes Erfassen der dunklen Kräfte, die in brauner
Erde drängen.

Die Heimat bringt dem Menschen zwei Urerlebnisse: die Urerlebnisse
Landschaft und Mensch. Beide Erlebnisse fordern, wenn sie wirksam sein
sollen, als Grundlage ein entwickeltes Ichbewußtsein. Diese innere
Voraussetzung ist in ausgeprägter Form erst im jugendlichen Menschen
vorhanden. Das Kind lebt vegetativ in ungelöster Einheit mit Dingen
und Wesen. Damit ist nicht gesagt, daß Erziehung zum heimatlichen
Menschen nicht bereits im Kindesalter einsetzen müßte. Sie kann
in außerordentlicher Weise den Seelengrund für spätere Erlebnisse
lockern. Wir meinen nur, daß die entscheidenden Erlebnisse Landschaft
und Mensch, die ein Leben lang wirksam sein können, erst im Alter des
Jugendlichen möglich sind.

Mit der Entwicklung zur Geschlechtsreife löst sich der junge Mensch
allmählich aus seinem vegetativen Zustande. Sein Selbstbewußtsein
erwacht. Er empfindet Dinge und Menschen bewußt als sich
gegenüberstehend. Das Abrücken des Ich vom Ding löst starke innere
Erregungen und Spannungen aus. Das Ich wird zum dunklen Born, aus dem
Stimmungen und übersteigerte Gefühlszustände hervorbrechen. In dieser
Erregtheit entdeckt der Jugendliche die Landschaft. Sie liegt wie eine
wuchtige, vorweltliche Bilderschrift vor ihm, zahlreicher Deutungen und
Umgestaltungen fähig. Gerade infolge dieser Vieldeutigkeit ist keine
andre gehaltschwere Objektivität so geeignet, jugendliches Seelenleben
aufzufangen, wie Landschaft. Unter den Kulturgebieten ist nur Musik
von ähnlicher Wirkung. Geben wir darum dem Jugendlichen reichste
Gelegenheit zum Landschaftserlebnis! Sein innerer Überschwang strömt
über die Erdgebilde hin, tönt sie mit seinen Farben, haucht dem Starren
Leben ein. Der jugendliche Mensch ist Schöpfer der Landschaft, darum
vergewaltigt er sie auch. Sie muß jeder Stimmungsbewegung wie ein
Schatten folgen. Aber trotz aller Jugendwillkür ist für Heimaterziehung
ein Wesentliches erreicht: die Landschaft ist ein Lebewesen geworden,
sie birgt Seele in sich. Nun steigen Berge und Wälder erlebnisbewimpelt
auf, nun furchen sich Täler wie Seelengründe.

In der Weiterentwicklung der Seele sinken die übersteigerten
Jugendspannungen meist in sich zusammen. Es waren künstlich
hochgetriebene Affekte, hervorgerufen durch das erstmalige Erleben
der Objektivität. Die Gegenstellung von Subjekt und Objekt wird zur
Alltagsgewohnheit. Die subjektivierende, umgestaltende Kraft des
Jugendlichen erlahmt. Aber die einmal von ihm beseelte Landschaft
wird für ihn unvergänglichen Reiz behalten. Sorgen wir nun dafür,
daß der junge Mensch nicht im harten Arbeitsrhythmus zermalmt, nicht
in endlosen Straßenzügen vermauert wird, daß er vielmehr in enger
Berührung mit der Erde bleibt, dann vermag sich in der Landschaft
wundervolles Eigenleben zu entwickeln. Denn Landschaft ist nicht nur
Schöpfung des Menschen, sie ist ein Eigenwesen. Drohende und lächelnde
Gesichter bedecken die Erde. In steil aufragenden Gebärden und im
anmutigen Hügeltanze wogt die Unerschöpfliche dahin. Und immer strahlt
uns das Gesicht der Heimat. Aber wie wir in den Zügen eines Bekannten
nur dann zu lesen verstehen, wenn wir uns in sein Wesen versenken, so
ist es mit dem Bilde der Heimat. Nur im liebenden Verstehen wird sie
sich uns offenbaren.

Heimat als kosmisches Gebilde ist allen kosmischen Einflüssen
unterworfen. Sie lächelt, lockt und schreckt wie die unfaßbaren
Kräfte, die uns umbrausen, wie die Welten, die über uns schwingen. Die
Seele, die so wandelbare Gebärden erfassen will, muß spannkräftig
sein, und wenn sie es nicht ist, muß sie Spannweite erwerben.
Wir berühren hier die schöpferische Linie, an der Landschaft zur
tiefen Bildungsmacht wird. Landschaft weckt noch schlummernde
Seelenkräfte, lockt sie, Objektives zu umarmen und in der Umarmung zu
gestalten. Landschafterfassung bedeutet darum auf subjektiver Seite
Wesensausprägung. Nur an der innern Schwungweite des Einzelmenschen
findet Landschafterfassung ihre Grenze. So kommt es, daß in
Landschaften, die schon oft künstlerisch gestaltet wurden, immer
neue Wesenszüge aufbrechen können, wenn sie in der Gegenpolarität
ursprünglicher Menschen stehen. So kommt es aber auch, daß innerlich
dürftige Menschen Landschaft nicht anders sehen als die Herde eine
Weide. So kommt es, daß vor jedem neuen Menschengeschlecht Landschaft
und Heimat keusch im Morgenlichte liegen wie am ersten Schöpfungstage.
Wir wollen Heimat und uns gewinnen!

Ist aber dadurch, daß Seelenentwicklung an Landschaft gebunden
wird, etwas Wesentliches und Notwendiges erreicht? Wir geben
dadurch der Seele ihr Blut wieder: die Sinnlichkeit. Betrachten
wir uns vorurteilslos den Seeleninhalt, den die sogenannte
»Bildung« heute überwiegend übermittelt. Es sind oft leichtfertig
nachgesprochene Buchurteile, buchstabenentsprungene Begriffsschatten
ohne Erdverankerung. Und ein so von aller Sinnlichkeit losgelöstes
Begriffssystem schwebt leicht wie Rauch in den Lüften, trägt nicht
das Korrektiv der Anschauung in sich, kann sich darum zu den
verschiedensten Gebilden zusammenziehen, und alle meinen, etwas Rechtes
zu bedeuten. Mit geschickt zusammengesetzten Begriffen läßt sich alles
beweisen und alles leugnen. Auf dieser Scheingrundlage des Begriffs
ruht ein wesentlicher Teil des Geisteslebens der Gegenwart. Darum
auch das verwirrende Bild, das sich uns darbietet. Erziehung durch
Landschaft wird uns aus diesem Schattenreich erlösen. Unsre Sprache
wird wieder dem Urborn der Sinnlichkeit entsteigen. Unsre Empfindungen
und Vorstellungen werden von starken körperhaften Gefühlen begleitet
sein. Denken und Phantasie wölben geformte Gebilde wie Bergketten.
Unsre Seelen durchbraust der Atemschlag von Sturm, Regen und Sonne. Wir
wachsen wieder aus der Erde. Die Mutter hat uns wieder, wir ruhen ihr
im Schoß. Und mit uns wiegen sich Steine, Bäume und Tiere: Geschöpfe
wie wir. Erziehung zum heimatlichen Menschen durch Landschaft bedeutet
uns Wiedergewinnung der Erde.

Als zweites grundlegendes Erlebnis, das die Heimat übermittelt, nannten
wir das Urerlebnis Mensch. Der Mensch stellt sich uns dar in einer
geschichtlichen Reihe, die in die Tiefen der Vergangenheit führt, und
in einer weitausgebreiteten Fläche, die in der Gegenwart liegt. Wie
die räumliche, so öffnet sich auch die zeitliche Ferne erst im Alter
des Jugendlichen. Wertvolle vorbereitende Übungen, Vergangenheit zu
erschließen, können und müssen bereits im Kindheitsalter vorgenommen
werden, aber wir betonen noch einmal, nachhaltende erziehliche
Wirkungen sind erst in einem späteren Alter möglich. Die Heimat bildet
den Ausgangspunkt für unsre Wandrung in die Vergangenheit. Aber die
Altertümer, die in den Häusern verstreut liegen, die Denkmale, die
ehrwürdig in Dorf und Stadt, in Wald, Feld und Heide aufragen, die
lustigen und weinenden Überlieferungen, die echt und verzerrt in der
Volkssprache strömen, sollen uns nicht zum blassen historischen Wissen
werden. Unser Streben muß es sein, den Blutschlag zu erfühlen, der in
ihnen pulst, die Seele fühlsam wieder zu gewinnen, aus der sie als
geformter Inhalt heraustraten. Die Seelenform unsrer Ahnen muß von uns
auf Grund der Äußerungen, die sie hinterließen, lebendig nachempfunden
werden. Nur eine so eindringende und einfühlende Betrachtung der
Denkmale kann in uns das Bewußtsein wecken, historisch verwurzelt
zu sein. Unsre Seele erkennt sich als schöpferische Kraft wieder
in denen, die vor uns waren. Gerade wir Menschen schnellebiger und
hochdifferenzierter Zeiten, in denen die Bande der Familie, der Sippe,
der Landsmannschaft, die Bande der primitiven Gemeinschaftsformen,
gelockert sind, leben eintägig, historisch unbelastet dahin, weil alle
unsre Energien vom gierigen Heute verschlungen werden. Historische
Bindung aber stößt nicht nur Perspektiven in die Vergangenheit auf,
sondern auch in die Zukunft. Wir fühlen uns eingeordnet in ungeheures
und unaufhaltsames Geschehen. Dieses Empfinden gibt allem unsern Tun
Weihe und Würde, es steigert unser Verantwortungsgefühl.

Doch wir werden uns nicht in knechtischer Ehrfurcht vor überlieferter
Vergangenheit beugen. In uns lodern andre Lebensgluten wie in unsern
Ahnen, unbändigere Stoffmassen wollen von uns gestaltend bezwungen
werden. Darum wird bewußtes Einordnen in die Ahnenreihe nicht unser
Selbst erlöschen, sondern zum höchsten Tun steigern. Erdgebunden durch
unsre Erziehung in der Landschaft, blutgebunden in unvergänglicher
Ahnenreihe, wenden wir uns zum Heute und zum Morgen. Da stehen die
Menschen neben uns nicht mehr als Verkörperungen feindlicher Mächte,
die uns durch Neid und Mißgunst schädigen, durch Stumpfheit zerreiben
wollen, wehmütig erkennen wir sie als Splitter eines zerschlagenen
Gemeinschaftsringes. Erziehung in der Heimat bringt uns das so
lebensnotwendige Gemeinschaftserlebnis, das wir alle nur einen kurzen
Augusttraum hindurch erleben durften. Der heimatliche Mensch wird,
und sei es durch große persönliche Opfer, den Weg zum Herzen seiner
Volksgenossen wiederfinden. Dann werden sich Hände spannen von
Landschaft zu Landschaft, von Heimat zu Heimat, und die Glutenmassen
können sich noch einmal ausformen zum schwingenden Gestirne Volk. Durch
Erd- und Blutbindung der Heimat zur tiefen Volksgemeinschaft, das ist
uns Erziehung zum heimatlichen Menschen.

Der Mensch, der im braunen Boden wurzelt und bewußt in das Schicksal
eines Volkes verflochten ist, vermag ohne Schaden in räumliche und
geistige Fernen einzudringen. Er ist der Feind alles ziellosen
Flatterns und naschenden Herumschweifens, er ist in sich ruhende
Einheit. Er trägt in sich einen Kraftpunkt, um den fremde Massen
sich lagern, er wird, wenn er die Geistigkeit dazu besitzt, die
höchsten Werte fremder Völker im langsamen Wachstum durchdringen wie
ein sich dehnender Baum, Ring an Ring seinem Wesen ansetzend. Dann
ist Geistigkeit kein schwerkraftloses Begriffssystem mehr, sondern
durchbluteter Wuchs. Verantwortungsbewußt steht der heimatliche Mensch
Volk und Erde gegenüber. In Ehrfurcht wird er den Leib des Volkes
und der Erde pflegen, ein Hochbild seiner Heimat und seines Volkes
liebend gestalten. Die Heimat ist dem heimatlichen Menschen Wurzel- und
Wipfelpunkt aller Werte.



Der Eliasfriedhof in Dresden

Wir müssen ihn schützen und schätzen

Von _Gertraud Enderlein_


Melancholisch heben verwitterte Akazien ihre Äste über die weißen
Mauern. Lebensbäume schieben sich, schmale schwarze Schatten,
dazwischen. Drinnen trug man sie zu Grabe, die sich in der engen alten
Stadt ihres tätigen Lebens gefreut hatten. Draußen lärmen, uneingedenk
des großen Vergangenen, die Menschen von heute.

Pestkirchhof war der Eliasfriedhof. Man legte ihn 1690 an, als,
nach furchtbaren Seuchejahren, die Totenacker der Stadt nicht mehr
ausreichten. Damals war er noch der »weite«: ganz außerhalb der Stadt
vor dem Ziegelschlage gelegen. Ein Vierteljahrhundert bettete man die
Toten der Armen hinein. Dann fingen auch die Begüterten an, sich Grüfte
hier draußen zu bauen. Die Ratsgruft entstand. Viele vornehme Dresdner
Geschlechter, Adelshäuser, Bürgerfamilien ließen ihre Angehörigen hier
unter prunkvollen Monumenten bestatten. Damals bekam der Eliasfriedhof
das künstlerische Gesicht.

Bis in die siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts klang das Wort
des Geistlichen über bekränzten Särgen, klang Grabgesang. Dann war
seine letzte dunkle Kammer vergeben, und man bettete die Toten weiter
hinaus, in neue Gottesäcker. Die wachsende Stadt aber fraß die Idylle,
die um diesen Friedhof war, fraß Wiesen und Äcker. Straßen entstanden
mit festen Häuserreihen, häßliche Straßen mit Alltagsgesichtern rund
um das grüne Geviert. Damals wurde der Friedhof Historie. Seine Hügel,
die niemand mehr pflegte, sanken ein. Seine edlen Rosen verwilderten.
Roter Rost, wie edle Bronze zu schauen, legte sich über die barocken
Ornamente der eisernen Gruftgitter. Die neue Schönheit, die romantische
des Kirchhofs war da.

Vergessen schien er. Aber er hatte doch seine Freunde; eine kleine
Gemeinde. Wenn der Flieder sich in lila und weißen Flämmchen über den
trauernden Sandsteingenien entzündete und die Rosen dunkel in den
Büschen wurden, kamen die Maler. Manchmal gingen auch gelehrte Leute,
die sich etwa über die Grabstätte der Gustel von Blasewitz oder des
Hofkapellmeisters Naumann unterrichten wollten, durch das blumige Gras.
Und alte Frauen saßen dann und wann auf besonnten Steinen, horchten auf
das Flöten der Amseln, die im dichten Gezweig der Akazien wie in einem
Paradiese lebten, und beschauten die gelben Kresseglocken, die neben
geborstenen Sockeln zum Lichte drängten.

Offiziell, leider, wurde der Eliasfriedhof, als man – um den Zugang zur
Pestalozzistraße zu öffnen – einen Querweg durch seine Gräberreihen
zog. Entschleiert war nun seine Schönheit den Vielzuvielen. Menschen,
die innerlich sehr fern von solchen ernsten und tiefen Dingen waren,
sahen neugierig durch den Zaun. In Zeiten, da man glaubte, sich an
allem Erreichbaren ungestraft bereichern zu können, drangen die
Halbwüchsigen, die Kinder in Scharen in den stillen Garten, plünderten
den Flieder und die Rosen. Böser Unfug wurde von wilden Jungen auf
dieser einst geweihten Erde getrieben.

Die Kirchhofsaufsicht, die allein nicht mehr Herr wurde über die
Friedensstörer, hat Schilder anbringen lassen: »Einwohner, schützt
eure Anlagen!« Mittlerweile hat aber der geschändete Garten eine Art
Selbstschutz begonnen. Eine Hecke, riesengroß, wächst um die Gräber.
Brombeerranken wehren mit spitzen Dornen die Eindringlinge, Efeu und
hohe Farnkräuter bilden einen Vorhang vor den steinernen Engeln. Über
die Wege wuchern Kletten, lange Ruten der Holunderbüsche. Irrgarten
ist der Eliasfriedhof, vor allem in seinem östlichen Teil. Er macht es
jetzt selbst seinen Freunden schwer, sich mit ihm zu beschäftigen.

       *       *       *       *       *

Wahrheit ist es: wir haben mitten in unsrer Stadt ein Stück Geschichte,
Kunstgeschichte, Romantik, wie nirgends sonst in Deutschland. Zwei
Jahrhunderte Dresden liegen eingesargt unter dem Efeu. Aller Zünfte
Vertreter, Leute aus allen Rats- und Gelehrtenstuben der Stadt wurden
hier begraben. Der bekannte Rechtskonsulent, der Sänger, der Soldat,
der Kapitän, der viele Meere befuhr und den letzten Hafen dann hier am
Ziegelschlage fand. Und jedem widmeten die Hinterbliebenen das ganz
persönliche Mal, die Inschrift, die, zart und herzlich, für keinen
anderen sonst Beziehung und Geltung hatte. Diese Menschen, denen alle
Kunst noch so nahe war, verwendeten gern große Summen darauf, die
letzte Stätte ihres Lieben würdig auszugestalten. Bei ersten Meistern
bestellten sie das kostbare Bildwerk und baten den berühmten Dichter
um ein gutes Wort auf den Sockel. So haben viele Permoserschüler den
Kirchhof ausgeschmückt, schuf Kirchner, der Realist, dessen Schlaf ein
mächtiger Saturn hier hütet, seine wuchtigen Male für dies Totenland.
Jene Menschen alter Tage wußten aber auch, wie schön der blühende
schattige Baum den Friedhof macht. Die Akazie pflanzten sie, die im Mai
die Gräber mit schwer duftenden Blüten beschneite, die Birke, die im
Herbst auf einen gebeugten Engel gelbseidige Blätter niederweht.

Wahrheit ist es zum andern: _Dies alles ist in mancherlei Gefahr._ Man
spricht und sprach so oft schon von Säkularisation, befand es seltsam
und rückständig, daß so ein kleiner nutzloser Gottesacker überhaupt
noch da wäre, auf kostbarem Grund und Boden inmitten der Stadt. Zu
befürchten steht, daß eines Tages der Friedhof mit Beil und Hacke
schnell und barsch beseitigt wird. Noch mehr: wird nicht die Natur
selbst das besorgen, womit die Menschen bis heute zögerten? Zoll um
Zoll versinken die Steine. Von Urnen und Säulen fällt Stück um Stück.
Wind und Wetter verwischen die Inschriften. Wird man in Kürze noch
lesen können, was Gottfried Körner seinem Freunde Naumann auf den
Denkstein dichtete? Da und dort brechen die Dächer der Grüfte ein,
nieder auf zerfallende Särge.

Nicht berührt sei hier die Frage nach dem Eigentumsrecht über den
Friedhof: wen die Schuld an seinem künftigen Schicksal treffe. Erwogen
nur sei, wie er, wie all sein unschätzbarer Wert für die Menschen
von heute – verständnisvolle Menschen – gerettet werden kann. Zu
fordern wäre einmal, daß der Eliasfriedhof offiziell unter den
Sehenswürdigkeiten der Stadt mit verzeichnet würde. Jedes Führerbuch
müßte von ihm wissen und seine Besonderheiten vermerken. Der Strom
der Fremden, nach so manchen schönen Zielen gelenkt, müßte auch
durch seine Gräberreihen geführt werden; wieviele würden, gefaßt vom
melancholischen Reiz dieser Stätte, stärkste Eindrücke mit heimnehmen!
Zu fördern wäre, daß ernste Veranstaltungen, häufiger noch als bisher,
den alten Friedhof sich zum Rahmen wählten. Man hat, mit viel Glück,
Johannisfestfeiern, gelegentliche Abendgottesdienste hier einzubürgern
versucht, und neulich hielt, feierlich zwischen den gesunkenen Malen,
ein Pfadfinderführer mit seinen Jungen eine Andacht. Vor soviel Reinem,
Gutem würde ganz von selbst dann alles laute Wesen, würden die bösen
Geister des brutal Zerstörenden weichen. Aufgerufen seien die Lehrer,
die jetzt schon manchmal mit ihren Kindern kamen, seien Heimat-,
Künstlervereine, sich des alten Friedhofs anzunehmen und wenigstens die
Erinnerung an ihn für spätere Zeiten zu retten. Noch gibt es so viele
merkwürdige und beziehungsreiche Inschriften berühmter Grabstätten,
leicht zu lesen und zu merken, die niemand bisher aufzeichnete, viele
Steine und Säulen, idyllisch zwischen den grünen Büschen, die bisher
keines Malers Stift und Pinsel, keine photographische Platte festhielt.
Vielleicht auch fände sich mancher Kunstfertige und Geschickte, der es
vermöchte, Sinkendes neu zu befestigen, verblichenen Glanz behutsam zu
erneuern!



Volkstümliche Kinderpoesie in Oschatz

Von Studienrat _Emil Zeißig_ in Oschatz


Die _Volkskunde_ erblickt im Kinderspiel ein Stück Volksleben, in der
Kinderpoesie ein Reis der Volkspoesie. Daher ging schon oftmals von den
in mehreren deutschen Ländern bestehenden »Vereinen für Volkskunde« die
Anregung aus, volkstümliche Kinderreime aller Art ausfindig zu machen,
die sich wie Volkslieder von Mund zu Mund, von Geschlecht zu Geschlecht
forterben. Die Verse stammen, wie _Hermann Dunger_ (Dresden), der
Sammler der »Kinderlieder und Kinderspiele aus dem Vogtlande« meint,
»zum Teil aus alter Zeit. Daher sind sie für die Kulturgeschichte von
hohem Werte. Sie sind eine Quelle für die Kenntnis des Götterglaubens
unsrer heimischen Vorfahren; uralte Gebräuche spiegeln sich darin
noch ab, wie in den Wundersagen, den Blumenorakeln, den Ringelreihen,
in denen wir Reste altheidnischer Tänze zu Ehren der Götter zu
erkennen haben«. In verschiedenen Gegenden Deutschlands hat man die
Kinderdichtungen zusammengesucht.

Zweitens schenkt die _deutsche Sprachwissenschaft_ den Kindersprüchen
Beachtung. Der Leipziger Sprachforscher _Rudolf Hildebrand_, der
im Volkstümlichen den gesunden Boden auch für alle höhere Bildung
fand, erkannte in den Kinderreimen einen köstlichen Schatz unsrer
deutschen Volkspoesie. Er hat solche Reime (z. B. in der »Zeitschrift
für deutschen Unterricht«) für seine Wissenschaft fruchtbar gemacht
und daraus geradezu die Grundlagen echt deutscher Metrik und
Rhythmik abgeleitet. Auch andren Vertretern des Deutschen wurde ein
unscheinbares Verslein oft der Ausgangspunkt zu einer weit über
Jahrhunderte hinreichenden sprachgeschichtlichen Untersuchung.

Endlich interessiert sich die _Schule_ für die Kinderdichtungen. Sie
strebt ja dahin, das kindliche Denken und Fühlen, Wollen und Handeln
günstig zu beeinflussen. Die Lehrer müssen deshalb die Kinder vielfach
beobachten, studieren. Das Innenleben des Menschen äußert sich nicht
zum geringsten Teil im Sprechen, dessen Ausbildung und Pflege ja
auch im Pflichtenkreise der Schule liegt. Das Kinderstudium[1] führt
also unmittelbar zur Erkundigung des Sprachlebens. Wer fleißig auf
die Kindersprache achtet, dem fällt unter anderm bald eine Menge
altüberkommenes und in allen deutschen Gauen verbreitetes Volksgut
in Form von Versen auf. Besonders seit 1910 haben mich (weniger
volkskundliche und sprachwissenschaftliche Gründe als) schulische
Zwecke veranlaßt, diejenigen Reime zu sammeln, die die Kinder der
Oschatzer Seminarschule im Munde führten. Nicht wenige Abcschützen
vermochten sechs und mehr solcher Verse vorzutragen. Vor allem bei dem
Spiel, dem eigentlichen Lebenselement der Kinder, ergab sich mit der
Zeit eine erkleckliche Zahl Reime. Manche Verse habe ich Kindern auf
der Straße und Wiese abgelauscht. Nicht jedes Jahr waren dieselben
»poetischen Gebilde« zu vernehmen. Auch hier gibts ein Kommen und Gehen.

Diejenigen Verse, die ich Jahr für Jahr seit 1910 in Oschatz vorfand,
sollen so, wie ich sie gehört habe, hier geboten werden. Rohes,
Anrüchiges bleibt unberücksichtigt. Die mundartlichen Ausdrücke sind
meist im Hochdeutsch gegeben. Es mögen sich auch die Oschatzer Kinder
und Erwachsenen im Reimschmieden ein wenig versucht haben, denn in
manchen Straßen und Stadtteilen waren gewisse Verse nach Wortlaut und
Länge verschieden, was die in Klammern eingefügten Worte zum Ausdruck
bringen.

Wie schon gesagt, sind viele der ermittelten Kinderreime auch
in anderen Gegenden unter der Jugend heimisch, wenn auch in
abweichender Ausdrucksweise. Schon die Mundart führt zu sprachlichen
Verschiedenheiten.

Nicht jeder Leser wird von der Kinderpoesie nach Inhalt und Form erbaut
sein. In vielen Fällen mag der Zwang nach den Regeln: »Reim dich, oder
ich freß dich« und »Reimt sichs nicht, so paßt es doch« maßgebend
gewesen sein. Die ungereimtesten Dinge müssen sich eben reimen. Jedoch
die Schuljugend allerorten findet größtes Wohlgefallen an bloßen Worten
und Reimspielereien, am Mischmasch zusammengewürfelter Personen und
Dinge, an tollen Gedankenverbindungen und logischen Flohsprüngen, nicht
zuletzt am Schelmischen und Derben. Die Verse sind für die Kinderwelt
weniger Gedanken- als Ohrenweide, ein unbewußter Genuß an Rhythmus und
Reim. Sie enthalten ja auch mitunter wunderliche Wortbildungen, lose
aneinandergereihte Laute, die sich überhaupt nicht erklären lassen, die
aber für die Knäblein und Mägdlein ein Hauptspaß sind.

Meine Zusammenstellung betrifft 1. _Abzählreime_, 2. _Liedertexte_,
hauptsächlich für Spiele, und 3. _Scherz-_ (Neck- und Spott-) _Verse_.


=I. Abzählreime=, die meistens zur Ermittlung des Haschers dienen.

1.

    Jene, diene (titsche) tatschen,
    Eine ins Gesichte (oder: auf die Backe) klatschen.
    Eine noch dazu, und die kriegst du.

Kürzere Form:

    Jene, diene, dinn,
    Und du mußt (auch noch: ohne Widerrede) sinn.

2.

    Auf einem See, See, See,
    Da schwamm ein Reh, Reh, Reh,
    Und auch ein Pferd, Pferd, Pferd,
    Das schwamm verkehrt, kehrt, kehrt.
    Jene, diene (sch)wapp, (sch)wapp, (sch)wapp,
    Und du schiebst ab, ab, ab.

Einfache Weise:

    Auf einem See, da schwamm ein Reh,
    Jene, diene, wapp, und du bist ab.

3.

    Eine kleine Kaffeebohne reiste nach Amerika.
    Amerika war zugeschlossen,
    Schlüssel, der war abgebrochen.
    Wie heißt du?

Wen das Wort »du« trifft, der gibt seinen Knaben- oder Mädchennamen an,
und der Abzählreim heißt nun beispielsweise weiter:

    Wilhelm (oder: Lotte) wollte Locken haben,
    Mußt er (oder: sie) erst den Papa fragen,
    Papa sagte: »Nein.« Fing er (sie) an zu wein (oder: schrein)
    Mama sagte: »Ja.« War die Freude (wieder) da.

4.

    Ich und du, Müllers Kuh
    Bäckers Esel, der bist du.

5.

    Eine kleine Piepmaus ging ums Rathaus,
    Wollte sich was kaufen, hatte sich verlaufen.
    I, a, u, raus bist du.
    Du bist nicht raus, sondern du.

6.

    Wir machen nicht (oder: keinen) großen Mist,
    Und du bist –.

7.

    Auf ein’ Klavier, da steht ein Glas Bier.
    Wer das trinkt, der stinkt.

8.

    1 2 3 4 5 6 7,
    Meine Mutter kochte (oder: schnitt die) Rüben.
    Meine Mutter schnitt den Speck,
    Kam die Katz (oder: Maus), und fraß ihn weg.

Erste Nebenform:

    1 2 3 4 5 6 7,
    Eine alte Frau kocht Rüben,
    Eine alte Frau schnitt Speck,
    Und du bist weg.

Zweite Nebenform:

    1 2 3 4 5 6 7,
    Geht nur nicht in meine Rüben
    Sucht nur nicht die besten (oder: größten) raus
    Sonst komm ich mit der Knute (oder: Rute, Stock, Peitsche) raus.

9.

    1 2 3 4 5,
    Strick mir ein Paar Strümpf,
    Nicht zu groß und nicht zu klein,
    Sonst mußt du der Haschmann sein.

10.

    1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13,
    Wie hoch steht der Weizen?
    So hoch wie ein Bauernhaus.
    Zuckermännel, Zuckermännel (oder: Zuckernuttel), du bist raus.

Öfters heißt es von Zeile zwei ab:

    Wie hoch steht das Taubenhaus?
    Guckt die Mutter Maria raus.
    I, a, u, raus bist du.

Andre sagen von Zeile zwei ab:

    Wie hoch steht das Bauernhaus?
    Da guckten drei schöne Mädchen raus.
    Die erste spielt mit Kreide,
    Die zweite spielt mit Seide,
    Die dritte schließt den Himmel auf,
    Da guckt Maria und Joseph raus.

11.

    Eine kleine Dickmadam fuhr in einer Eisenbahn.
    Eisenbahne krachte, Dickmadame lachte,
    Lachte, bis der Schutzmann kam
    Und sie mit zur Wache nahm.
    Ix ax ennen, du kannst rennen.

12.

    1 2 3 4 5 6 7,
    In der Straße Nummer sieben
    Wackelt das Haus, piept die Maus.
    Hüpft der Frosch (oder: Floh) zum Fenster raus.
    I, a, u, raus bist du.
    Du bist nicht raus, sondern du.

Mitunter wurde von Zeile vier ab vorgebracht:

    Hüpft der Frosch zum Fenster raus,
    Hüpft er auf den Stein,
    Bricht er das Bein.
    Hüpft er auf die Brück,
    Bricht er das Genick.
    Hüpft er auf den Dreck,
    Patsch, war er weg.

13.

    In der Lonnewitzer Straße kam der Wurstelmann gesaust.
    Warum kam er denn gesaust?
    Weil er Würste hat gemaust.
    Ix ax ennen, und du kannst rennen.


14.

    6 mal 6 ist 36.
    Ist der Mann auch noch so fleißig,
    Ist die Frau sehr liederlich,
    Geht die (ganze) Wirtschaft hinter sich.
    I, a, u, raus bist du.
    Du bist nicht raus, sondern du.

Mitunter wurde den Wörtern »hinter sich« noch angefügt:

    Wollt die Mama den Kaffee kochen,
    Hat die Frau den Topf zerbrochen.
    Wollt der Mann den Zwieback holen,
    Hat die Frau das Geld gestohlen.

15.

    Schwarz, weiß, rot,
    Und du bist tot.

16.

    In einer Kanne Wasser,
    In einer Kanne Rum,
    Und du bist dumm.

17.

    1 2 3, Butter auf das Brot,
    Salz auf den Speck, und du bist weg.

18.

    1 2 3, in der Ziegelei (oder: Ziegeldeckerei)
    Wird ein kleines Kind geboren.
    Wie soll es heißen?
    Frieda Martha Rumpelkasten.
    Wer will mir die Windeln waschen?
    Ich oder du? Raus bist du.

19.

    1 2 3 4 5 6 7,
    Wo ist denn mein Schatz geblieben?
    Ist nicht hier, ist nicht da,
    Ist in weit Amerika.
    I, a, u, raus bist du.

20.

    1 2 3, Schieferdeckerei.
    Schieferdeckerkompagnie, und du bist ein dummes Vieh.
    Warum bist du fortgelaufen und schon wieder da?
    Darum mußt du Strafe zahlen (oder: haben) 25 Jahr.
    Um was woll’n wir wetten? Um drei (oder zwei) goldne Ketten
    Um zwei Flaschen Wein. Wer soll der Haschmann sein?

Manchmal lauteten die letzten zwei Zeilen so:

    Wir woll’n wetten um drei goldne Ketten,
    Um ein Schöppchen Wein, und du mußt es sein.

21.

    1 2 3 4 5 6 7 8 9 10,
    Was willst du sehn?
    Sand oder Blut? Du bist dem Herrn Jesus gut.

22.

    Auf einem (hohen) Berg, da zankten sich zwei Zwerg
    Um einen halben Kloß. Da ging der Geier (oder: Teufel) los.
    Hopp drüber weg, hopp drüber naus,
    Und du bist raus.

Nebenform:

    Auf einem Berg, da kampeln sich zwei Zwerg.
    Um eine Lerch; das ist ein Gewärg.
    I, a, u, raus bist du.
    Du bist nicht raus, sondern du.

23.

    1 2 3 4 5 6 7,
    Wo sind die Franzosen blieben?
    Zu Moskau in dem tiefen Schnee,
    Da riefen alle: O weh, o weh!
    Wer hilft uns aus dem Schnee?
    Ix ax ennen, und du kannst rennen.

24.

    Mein Vater wollt ein Rad beschlagen.
    Wieviel Nägel braucht er dazu?
    Rate, rate du, und schließ die Augen zu.

Das Kind, auf das »zu« kommt, nennt eine beliebige Zahl, die abgezählt
wird, um den Hascher zu ermitteln.

25.

    Ringel, Ringel, Rosen,
    Was singen die Franzosen?
    Guten Tag, Mama. Guten Tag, Papa.
    Hippelda, huppelda, rassassa.
    I, a, u, raus bist du.

26.

    1 2 Polizei, 3 4 Osterei (Offizier).
    5 6 alte Hex, 7 8 gute Nacht.
    9 10 Wiedersehn, 11 12 Herr hilf.
    13 14 blaue Schürzen, 15 16 weiß ich nicht.
    17 18 kann ich nicht, 19 20 hatten die Soldaten einen Tanzig
    I, a, u, raus bist du.

Ältere Kinder schoben nach »Tanzig« folgende Zeilen an:

    Der Tanz fing an zu brennen,
    Die Soldaten mußten rennen
    Ohne Strumpf und ohne Schuh
    Immer fest nach Frankreich zu.
    In Frankreich war ein wildes Schwein,
    Das biß dem Hauptmann sehr ins Bein.
    Der Hauptmann schrie: O weh, o weh!
    Mir tut das linke Bein so weh!
    Da kam der dicke Hampelmann
    Und klebt das Bein mit Spucke an.

Mehrere Male war zu hören:

    1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20.
    Die Franzosen zogen nach Danzig.
    Danzig fing an zu brennen;
    Da mußten die Franzosen rennen
    Ohne Schuh und ohne Strümpf nach ihrer Heimat zu.
    Dort war ein Schwein,
    Das biß dem Hauptmann in das Bein.
    Da schrie der Hauptmann: O weh, o weh!
    Mein linkes Bein, das tut so weh!
    Da kam der Doktor Hampelmann
    Und klebt es ihm mit Spucke an.

27.

    1 2 3 4 5 6 7 8,
    Ein Jäger ging auf die Jagd.
    Wieviel Hasen schießt er tot?

Das Kind, das das Wort »tot« trifft, gibt irgendeine Zahl an, die zur
Entdeckung des Haschers abgezählt wird.

28.

    In einem Tintenfäßchen,
    Da saß ein Herkuleschen.
    Wie sah es aus?

Ein Kind nennt eine Farbe, z. B. grün. Das Weiterzählen folgt nach den
Lauten _grün_.

Ab und zu war noch eine andere Form mit folgendem Wortlaut zu hören:

    In einem Tintenfaß,
    Da saß ein kleiner Nikolas.
    Wie sah er aus? Und du mußt raus.

29.

    Ein Soldat will Urlaub haben.
    Muß er erst den Hauptmann fragen.
    Hauptmann sagte: Nein. Eine Flasche Wein.
    Eine Flasche Rum, und du bist dumm.

30.

    Auf dem Berge Sinai
    Wohnt der Schneider Kikriki.
    Klopft sich seine Hosen aus,
    1 2 3 und du bist raus.

Dann und wann lautete die Schlußzeile:

    1 2 3, hüpft ein kleiner Floh heraus.

31.

    Morgens früh um sechs kommt die alte Hex.
    Morgens früh um sieben schabt sie gelbe Rüb’n.
    Morgens früh um acht wird der Kaffee gemacht.
    Morgens früh um neun geht sie in die Scheun.
    Morgens früh um zehn holt sie Holz und Spän.
    Feuert an um elf, kocht dann bis um zwölf.
    Fröschelein, Krebs und Fisch,
    Hurtig, Kinder, kommt zu Tisch!
    I, a, u, raus bist du.
    Du bist nicht raus, sondern du.
    Ix ax ennen, und du kannst rennen.

32.

    1 2 3 4 5 6 7,
    Peter, Paulus hab’n geschrieben.
    Einen Brief nach Paris.
    Er soll holen drei Pistolen.
    Eins für mich, eins für dich,
    Eins für’n Onkel Ludewig.

33.

    1 2 3 4, der Knecht holt Bier.
    Der Herr trinkt daraus, und du mußt raus.

34.

    1 2 3 4 5 6 7,
    Wo ist denn mein Mann geblieben?
    Was hat er für Hosen an?
    Blaue! Das ist mein Mann.
    Jene, diene, wapp, wapp, wapp,
    Und du bist ab.

35.

    Jene, diene, danne,
    Schwarze Kaffeekanne.
    Einmal hin und einmal her,
    Und du bist der (große) Zottelbär.
    Kratz mir die Augen aus,
    Und du bist raus.

36.

    Ich ging einmal nach Enge(l)land,
    Begegnet’ mir ein Elefant.
    Elefant mir Gras gab,
    Gras ich der Kuh (oder: Muh) gab,
    Kuh mir Milch gab,
    Milch ich der Mutter gab,
    Mutter mir ein’ Dreier gab,
    Dreier ich dem Bäcker gab,
    Bäcker mir ein Brötchen gab,
    Brötchen ich dem Fleischer gab,
    Fleischer mir ein Würstchen gab,
    Würstchen ich dem Hündchen gab,
    Hündchen mir ein Pfötchen gab,
    Pfötchen ich der Köchin (oder: Magd) gab,
    Köchin mir eine Schelle gab,
    Daß ich in der Ecke lag.

Von Zeile neun ab heißt es auch kürzer:

    Brötchen ich dem Hündchen gab,
    Hündchen mir ein Pfötchen gab,
    Pfötchen ich der Köchin gab,
    Köchin mir eine Schelle gab.


=II. Liedertexte=, die meist von Mädchen bei ihren Kreis- und
Reihenspielen gesungen werden.

1.

    Ringel, Ringel, Reihe,
    Sind der Kinder dreie,
    Sitzen unterm Hol(un)derbusch (auch: Hollerbusch)
    Und machen alle: Husch, husch, husch.

2.

    Es fuhr ein Bauer ins Holz,
    Es fuhr ein Bauer ins Holz,
    Heisa, Viktoria! Es fuhr ein Bauer ins Holz.
    Der Bauer nahm sich ein Weib,
    Der Bauer nahm sich ein Weib,
    Heisa, Viktoria! Der Bauer nahm sich ein Weib.

Der Fortsetzung liegen folgende Sätze zugrunde:

    Das Weib nahm sich eine Magd.
    Die Magd nahm sich ein Kind.
    Das Kind nahm sich ein’n Hund.
    Der Hund nahm sich eine Wurst.

Die Schlußzeile lautet:

    Heisa, Viktoria! Die Wurst wird ausgelacht.

3.

    Ich sollt’ meiner Mutter eine Nähnadel holen.
    Das tat ich nicht, das tat ich nicht.
    Da kam der Stock und prügelte mich.
    Da hüpft (hoppt) ich in die Höh’, da hüpft (hoppt) ich in die Höh’,
    Auf einmal fiel ich hin.

4.

    Taler, Taler, du mußt wandern,
    Von dem einen zu dem andern.
    O wie schön, o wie schön
    Läßt sich dieser Taler drehn!

5.

    Im Keller, im Keller soll’s finster sein,
    Da scheint weder Sonne noch Mond hinein,
    Setzt nieder, setzt nieder!
    Hat’s schön gemacht, hat’s schön gemacht,
    Drum wird sie auch nicht ausgelacht.

Oder:

    Hat’s schlecht gemacht, hat’s schlecht gemacht,
    Drum wird sie auch recht ausgelacht.

6.

    Wir woll’n die Meißner Brücke bau’n.
    Wer hat sie denn zerbrochen?
    Der Goldschmied, der Goldschmied mit seinen sieben Töchterlein.
    Kriechet alle, alle durch!
    Der letzte soll gefangen sein mit Spießen und mit Stangen.

7.

    Häschen in der Grube
    Sitzt da und schlief.
    Armes Häschen, bist du krank,
    Daß du nicht mehr hüpfen kannst?
    Häschen hüpf, Häschen hüpf!

8.

    Ringel, Ringel, Rosen,
    Schöne Aprikosen,
    Veilchen und Vergißmeinnicht.
    Alle Kinder setzen sich. Kikeriki!

9.

    Ringel, Ringel, Rosenkranz,
    Wir treten auf die Kette.
    Daß die Kette klingen (oder: klingeln) soll.
    Fräulein Ilse (oder: Gretel ...) dreht sich um.
    So klar wie ein Haar,
    (Oder: Rein und klar wie ein Haar)
    (Oder: So zart wie ein Haar)
    Hat gesponnen sieben Jahr.
    Sieben Jahre um und um,
    Fräulein Ilse dreht sich um.

10.

    Ringel, Ringel, Rosenkranz,
    Der Töpfer macht den Ofen ganz.
    Er gießt in Topf viel Wasser rein,
    Da fällt der ganze Ofen ein.

11.

    Ringel, Ringel, Rosenkranz,
    Setz ein Töpfchen Wasser rein,
    Morgen woll’n wir waschen,
    Große Wäsche, kleine Wäsche,
    Allerhand sehr schöne Wäsche. (Kikerikiki!)

12.

    Ringel, Ringel, Rose,
    Zucker in der Dose.
    Eier in dem Kasten,
    Morgen woll’n wir fasten.
    Übermorgen Lämmchen schlachten,
    Das soll rufen: Mäh.

13.

    Ist die schwarze Köchin da? Ja, ja, ja!
    Das eine Mal muß sie marschier’n,
    Das zweite Mal den Topf verlier’n,
    Das dritte Mal komm mit,
    Du alter, böser Strick!

14.

    Liebe Schwester, tanz mit mir.
    Meine (Beide) Hände reich ich dir.
    Einmal hin, einmal her,
    Rund herum, das ist nicht schwer.

    Ei, das hätt ich nicht gedacht,
    Ei, das hast du schön gemacht.
    Einmal hin, einmal her,
    Rund herum, das ist nicht schwer.

    Noch einmal das schöne Spiel,
    Weil es mir so schön gefiel.
    Einmal hin, einmal her,
    Rund herum, das ist nicht schwer.

Kleinere Kinder singen oft nur die erste Strophe, größere fügten der
zweiten Zeile jeder Strophe noch folgendes an.

    Mit den Füßen trapp, trapp, trapp,
    Mit den Händen klapp, klapp, klapp.
    Einmal hin, einmal her,
    Rund herum, das ist nicht schwer,

    Mit dem Köpfchen nick, nick, nick,
    Mit den Fingern tick, tick, tick.
    Einmal hin, einmal her,
    Rund herum, das ist nicht schwer.

15.

    Die Tiroler sind lustig, die Tiroler sind froh,
    Sie trinken ihr Fläschchen (oder: ein Schnäpschen)
        und machen’s dann so:
    Erst dreht sich das Weibchen, dann dreht sich der Mann,
    Sie fassen sich beide und tanzen zusamm’.

16.

    Ri ra rutsch, wir fahren in der Kutsch.
    Wir fahren nach Amerika.
    Und wenn das große Wasser kommt,
    Da kehr’n wir wieder um.

17.

    Der Sandmann ist da.
    Er hat so schönen weißen Sand
    Und ist den Kindern wohlbekannt
    Der Sandmann ist da.

18.

    Auf der Altenburger marsch, marsch, marsch,
    Bei Wind und Wetter. Herr Professor!
    Still gestanden! Halt!

19.

    Klinglingling (oder: Linglingling), die Post ist da!
    Klinglingling, nach Afrika.
    Klinglingling, noch einen Schritt,
    Klinglingling, und du kommst mit.

20.

    Auf der Eisenbahn wohnt ein schwarzer Mann,
    Brennt ein Feuerlein an.
    Kinderlein, Kinderlein, hängt euch dran!
    Wer kein Geld hat, darf nicht mit.

21.

    Blauer, blauer Fingerhut,
    Steht der Ilse (oder: Hedwig ...) gar so gut.
    Ilse, die soll tanzen
    Auf dem grünen Rasen.
    Ilse, die muß niederknie’n,
    Und sich eine rüberziehn.

22.

    Wir öffnen das Taubenhaus,
    Die Täubchen, die fliegen so wonnig heraus.
    Sie fliegen in die weite Welt,
    Wo’s ihnen da draußen so wohl gefällt.
    Und kehren sie heim zur süßen Ruh,
    So schließen wir wieder das Taubenhaus zu.

23.

    Der Zaun, der wird geflochten.
    Meine allerbeste Freundin mein!
    Willst du mir helfen flechten?
    So komm und flecht’ mir mit.

24.

    10 20 30 40 50 60 70 80 90 100.
    Die Soldaten stehen still,
    Wie’s der Hauptmann haben will.

25.

    Alle meine Entchen schwimmen auf der See,
    Schwimmen auf der See.
    Kopf unter Wasser, die Beinchen in die Höh’.

Ältere Kinder setzen fort:

    Alle meine Täubchen fliegen übers Dach,
    Fliegen übers Dach.
    Klippklapp, klippklapp! fliegen übers Dach.

    Alle mein Püppchen haben Hungersnot,
    Haben Hungersnot.
    Bisch, bisch, bisch! Haben Hungersnot.

26.

    Meine Mutter schickt mich her,
    Ob der Kuchen fertig wär.
    Ist der Kuchen noch nicht fertig,
    Komm ich morgen wieder her.
    Und ein schönes Kompliment,
    Und die Kuchen sind verbrennt,
    Und die ganze braune Butter
    Ist im Ofen rumgerennt.

27.

    Januar, Februar, März, April und Mai,
    Da kühlet sich das Wetter ab und schlägt auch manchmal ei(n).
    So ich doch ein Mädchen bin, das ist mir sehr fatal,
    Wenn ich doch ein Knabe wär, würd ich General.
    Links, rechts abmarschiert, schultert das Gewehr!
    Und wenn ein schneid’ges Fräulein kommt,
    So mach ich mein Honneur.

28.

    Zeigt her eure Füßchen, zeigt her eure Schuh,
    Und sehet den fleißigen Waschweibern zu!
    Sie waschen, sie waschen den ganzen Tag.
    Zeigt her eure Füßchen, zeigt her eure Schuh,
    Und sehet den fleißigen Waschweibern zu.
    Sie ringen, sie ringen den ganzen Tag.

Unter Wiederholung der ersten zwei Zeilen heißt es weiter:

    Sie bleichen, sie bleichen den ganzen Tag.
    Sie spülen, sie spülen den ganzen Tag.
    Sie tanzen, sie tanzen den ganzen Tag.
    Sie plätten, sie plätten den ganzen Tag.
    Sie trinken, sie trinken den ganzen Tag.
    Sie nähen, sie nähen den ganzen Tag.

29.

    Mariechen saß auf einem Stein, einem Stein, einem Stein,
    Mariechen saß auf einem Stein, einem Stein.
    Sie kämmte sich ihr goldnes Haar, goldnes Haar, goldnes Haar
    Und als sie damit fertig war, fertig war, fertig war,
    Da fing sie an zu weinen, weinen, weinen
    Da fing sie an zu weinen, weinen.
    Da kam ihr Bruder Karl herein ...
    »Mariechen, warum weinest du?«
    »Ich weine, daß ich sterben muß.«
    Da kam der Bruder Heinrich rein,
    Der stach Mariechen in das Herz,
    Mariechen ward ein Engelein,
    Und Heinrich ward ein Bengelein.

30.

    Lasset die Berge Feuerflammen schlagen
    Und die Bummderassassassa
    Unsere Lotte (oder Else ...), die soll leben
    Und mit ihr das ganze Lott’sche Haus!
    Schenket ein Bier und Wein!
    Morgen soll die Hochzeit sein.

31.

    Machet auf das Tor, machet auf das Tor!
    Es kommt ein goldner Wagen.
    Wer sitzt darin, wer sitzt darin?
    Ein Mann mit langen Haaren.
    Was will er denn, was will er denn?
    Er will die Tochter haben.
    Was hat sie denn gemacht, was hat sie denn gemacht?
    Sie hat ein Kind gestohlen.
    Zietsche, zietsche aus, zietsche, zietsche aus,
    Du hast ein Kind gestohlen.

32.

    Wollt ihr wissen, wollt ihr wissen,
    Wie’s die kleinen Mädchen machen?
    Püppchen wiegen, Püppchen wiegen,
    Alles dreht sich herum.

    Wollt ihr wissen, wollt ihr wissen,
    Wie’s die kleinen Jungen machen?
    Peitschen knallen, Peitschen knallen,
    Alles dreht sich herum.

    Wollt ihr wissen, wollt ihr wissen,
    Wie’s die feinen Damen machen?
    Löckchen brennen, Löckchen brennen,
    Alles dreht sich herum.

    Wollt ihr wissen, wollt ihr wissen,
    Wie’s die feinen Herren machen?
    Schnurrbart drehen, Schnurrbart drehen,
    Alles dreht sich herum.

33.

    Es kommt ein Herr mit zwei Pantoffeln. Ade, ade, ade!
    Was will der Herr mit zwei Pantoffeln? Ade, ade, ade!
    Er will sich eine Braut aussuchen.
    Wer soll denn die Braut sein?
    Gretel (oder: Anna ...) soll die Braut sein.
    Die geben wir nicht, die geben wir nicht.
    Die hol’n wir uns, die hol’n wir uns.
    Da schließen wir die Läden zu.
    Da brennen wir das Haus an.
    Da holen wir die Polizei.
    Die Polizei hat gar nichts zu sagen.

34.

    Hänsel und Gretel verliefen sich im Wald,
    Es war so finster und auch so grimmig kalt.
    Sie kommen an ein Häuschen
    Von Pfefferkuchen fein.
    O weh! Da schaut eine alte Hexe raus.
    Sie lockte die Kinder ins Pfefferkuchenhaus.
    Sie streichelte sie gar lieblich.
    Ihr Kinder, welche Not!
    Sie wollte sie braten und buk dazwischen Brot.
    Als nun die Hexe zum Ofen hineingeschaut,
    Ward sie geschoben von unserm Gretelein.
    Nun ist das Märchen von Hänsel und Gretel aus.

35.

    Wenn ich Sonntags früh aufsteh,
    Einen Schornsteinfegermeister seh,
    Schau ich hin, und schau ich her,
    Ob noch was zu fegen wär.
    Trallalala, trallalala!
    Schau ich hin, und schau ich her,
    Ob noch was zu fegen wär.
    Schwarz ist mein Gesicht wie Kohle
    Von dem Scheitel bis zur Sohle.
    Aber’s Herz ist frisch und frei,
    Wie’s beim Schornsteinfegermeister sei.
    Trallalala, trallalala!
    Aber’s Herz ist frisch und frei,
    Wie’s beim Schornsteinfegermeister sei.


=III. Scherzverse= (Neck- und Spottreime), die bei passenden und
unpassenden Gelegenheiten mehr singend als sprechend vorgebracht werden.

Wie von vielen Orten mit der Endsilbe _witz_ im Namen (z. B.
Schmannewitz bei Dahlen, Sörnewitz bei Meißen, Bannewitz bei Freital
Bezirk Dresden, Leipzig-Connewitz), so heißt es von unserm nahen
Lonnewitz:

1.

    In Lonnewitz, da hat’s geblitzt,
    Da sind die Weiber (oder: Bauern) ausgeflitzt.
    (Oder: Da hab’n die Weiber Blut geschwitzt)
    Da hab’n sie sich ein Haus gebaut
    Aus Leberwurst und Sauerkraut.

Hin und wieder ist der Zusatz zu vernehmen:

    Und als es wieder eingekracht,
    Da hab’n sie sich halb tot gelacht.

Einige _Ruprechts_verse:

2.

    Ruprecht, Ruprecht, Besenstiel,
    Deine Kinder fressen viel,
    Jeden Tag ein Vierpfundbrot
    (Oder: An jedem Tage vier Pfund Brot),
    Morgen sind sie mausetot.
    (Oder: Morgen sind sie alle tot.)

Öfters heißt es weiter:

    Liegen unterm Tische
    Wie gebratne Fische.

3.

    Ruprecht, Ruprecht, mit dem Sack,
    Hast du uns was mitgebracht?
    Hast du was, da setz dich nieder,
    Hast du nichts, da pack dich (oder: geh gleich) wieder.

4.

    Ruprecht, Ruprecht, guter Mann,
    Sieh mich nicht so böse an.
    Hast du was, so setz dich nieder.
    Hast du nichts, dann gehst du wieder.

5.

    Ruprecht, Ruprecht, böser Mann,
    Guck mich nicht so finster an.
    Hau mich nicht mit deinem Besen,
    Bin ein gutes Kind (oder: böser Bub) gewesen.

6.

    Ruprecht, Ruprecht, frommer Gast!
    Wenn du was im Sacke hast,
    Komme rein und setz dich nieder.
    Hast du nichts, da gehst du (oder: pack dich) wieder.

7.

    Ruprecht, Ruprecht, böser Wicht,
    Komme nicht, wenn’s finster ist.
    Komme lieber bei Mondenschein,
    Wirf viel Äpfel und Nüsse rein.

8.

    Ruprecht, Ruprecht, Ständerbesen,
    Bist du in der Stadt gewesen?
    Hast du mir (oder: uns) was mitgebracht?
    O, du alter Pfeffersack!

9.

    Ruprecht, Ruprecht, guter Mann,
    Siehe, was ich alles kann!
    Schreiben, singen, rechnen, lesen,
    Bin auch immer recht artig gewesen.
    Stell die Rute an die Wand,
    Und gib mir Nüsse in die Hand!

Sonstige _Weihnachtssprüche_:

10.

    Lieber, frommer, heil’ger Christ,
    Ich weiß nicht, wo mein Messer ist.
    Ich wollt ein Stückchen Stolln abschneiden,
    Derweile muß ich Hunger leiden.

11.

    Lieber, guter Weihnachtsmann,
    Guck mich nicht so böse an,
    Steck deine Rute ein,
    Will auch immer (recht) artig sein.
    (oder: Ich will ein braves Kindlein sein).

12.

    Wenn Weihnachten ist, wenn Weihnachten ist,
    Da kommt zu uns der heilige Christ.
    Da liegt eine Muh, da liegt eine Mäh,
    Da liegt eine schöne Tschingtärätätä (oder: Zinktärätätä).

Gewisse _Berufsarten_:

13.

    _Böttcher_, Böttcher, bum, bum, bum,
    Mach (oder: Schlag, Hau) mir meine Nase krumm.
    Mach mir sie wieder gerade,
    Bist auch mein Herr Pate.

14.

    _Schneider_, Schneider, meck, meck, meck,
    Schneid mir meine Nase weg.

Der _Essenkehrer_ wird besonders viel besungen:

15.

    Essenkehrer schwarzer Wicht,
    Kehr mir meine Esse nicht.
    Kehr sie nicht zu reine,
    Kriegst sonst krumme Beine.

16.

    Feuerrüpel, Katzenschnübel,
    Kehre deine Esse aus.
    Aber nicht zu reine,
    Sonst kriegst du schwarze Beine.

17.

    Essenkehrer obenaus,
    Steck (oder: gib) mir ’n Stückchen Kuchen (oder: Stolln) raus.
    Nicht zuviel und nicht zuwenig,
    Sonst bist du ein kleiner (oder: alter) König.

18.

    Essenkehrer, Schornsteinfeger,
    Du hast bloß ein’ Hosenträger.

_Familiennamen_:

19.

    _Pietsch_ und _Lehmann_ ging’ in Laden,
    Wollt’n für ’n Dreier Käsemaden.
    Käsemaden gab es nicht
    (Oder: Käsemaden hab’n wir nicht)
    Pietsch und Lehmann drückten sich.

20.

    _Jakob_, wo bist du?
    Bei der Großmutter im Handschuh.

_Vornamen_ der Knaben und Mädchen:

21.

    _Paul_, steck’ die Wurst ins Maul!
    Steck’ sie nicht daneben, sonst bleibt sie kleben.
    Steck’ sie nicht zu tief, sonst da kommt ein Brief.
    In dem Brief, da steht geschrieben:
    Paul soll seine Liebste lieben.

22.

    _Fritz_ mit der Mütz in Holzpantinen (oder: Holzpantiten)
    Geht beim Bäcker und maust Rosinen.
    Bäcker spricht: Wer war denn das?
    Fritz mit der Mütz in Holzpantinen.

Andere Sprechweise:

    Fritz mit der Zippelmütz
    Geht beim Bäcker und maust Rosin’,
    Geht die Straße auf und ab,
    Bettelt den Kindern Wurstzippel ab.

23.

    _Hans_ mit dem langen Schwanz
    Kommt die Treppe runter getanzt.

24.

    _Ernst_, morgen wird gefernßt,
    Übermorgen wird lackiert,
    Wird der Ernst mit reingeschmiert.

25.

    _Ilse_, Bilse, niemand will se,
    Kam der Koch und nahm sie doch.

26.

    _Rosa_ ist ein schöner Name, Rosa möcht ich heißen,
    Rosa hin, Rosa her, Rosa ist ein Zottelbär.

27.

    _Gudrun_, Gudrun, dein Finger blut’.
    Steck ihn in die Ohr’n, da wird er wieder gut.

28.

    _Hilde_, Wilde, (Eingebilde), ausgestopfter Puppenbalg.

29.

    _Hanne_ mit der Kaffeekanne.

30.

    _Lene_ hat krumme Beene.

Mit Vorliebe bedient man sich einer Spottform, die auf alle Taufnamen
angewendet wird. z. B.

    _Hans_ bittewans,
    Konditor Kondans.
    Krummbeeniger Hans.
    _Lene_ bittewene,
    Konditor Kondene.
    Krummbeenige Lene.

_Sonstige Personen_:

31.

    Bumbumbum, die _Schützen_ kumm,
    Der Vater trägt die Fahne.
    Die Mutter trägt das Kümmelfaß,
    Da wer’n die ganzen Schützen naß.

Andere Weise:

    Rumbumbum, die Schützen kumm,
    Und hinter ihn’n die Lausejung’n.

32.

    _Mann_ und _Frau_ wer’n getraut
    Mit einem Topf voll Sauerkraut.

33.

    Zwei _Mädchen_ wollten Wasser holen,
    Zwei _Knaben_ wollten plumpen.
    Da guckt der Herr zum Fenster raus
    Und sagt: Ihr seid Halunken.

34.

    Schlaf, Kindchen, schlaf,
    Im Garten steh’n zwei Schaf,
    Ein schwarzes und ein weißes.
    Und wenn das Kind nicht schlafen will,
    Da kommt das schwarze und beißt es.

_Tierwelt_:

35.

    Bische, bische, bische,
    Morgen gibt es (oder: koch’n wir) _Fische_,
    Übermorgen Schweinebraten,
    Da wird das Kindchen eingeladen.

36.

    _Maikäfer_ flieg! Dein Vater ist im Krieg.
    Deine Mutter ist im Pommerland,
    Pommerland ist abgebrannt,
    Steht bloß noch das halbe Land.
    (Oder: Steht bloß noch die halbe Wand.)

37.

    Schacke, schacke, Rillechen,
    Wir reiten auf dem _Füllichen_.
    Wenn wir großer werden,
    Reiten wir auf _Pferden_.

38.

    Muh, muh, muh,
    Das spricht die alte _Kuh_.
    Sie gibt uns Milch und Butter,
    Und wir geb’n ihr das Futter.
    Muh, muh, muh,
    So spricht die alte Kuh.

39.

    _Kaninchen_, Karnickelchen,
    Ich wette was drum.
    Trotz großer Aug’ und großer Ohr’n,
    Du bist e bissel dumm.

40.

    A b c, die _Katze_ lief im Schnee.
    Als sie wieder raus kam,
    Hatt’ sie weiße Stiefel an.
    Ging sie aufs Rathaus,
    Guckte sie zum Fenster raus.
    Kam sie wieder runter,
    Hatt’ sie schwarze Stiefel an.

_Zweite Art_:

    A b c, die Katze lief im Schnee.
    Wo sie wieder raus kam,
    Hatt’ sie weiße Stiefel an.
    Ging sie in den Keller,
    Holt sie sich paar Teller.
    Ging sie auf den Boden,
    Holt sie sich paar Schoten.
    Ging sie in die Kammer,
    Holt sie sich paar Klammern.
    Ging sie in die Stube,
    Holt sie sich paar Schuhe.
    Ging sie in die Küche,
    Holt sie sich paar Fische.

41.

    _Storch_, Storch, Langbein,
    Bring mir ein klein Brüderlein.
    Storch, Storch, Langbein,
    Bring mir ein klein Schwesterlein.

Außerdem ist zu hören:

    Klapperstorch, du Guter,
    Bring mir einen Bruder,
    Klapperstorch, du Bester,
    Bring mir eine Schwester.

Zum Schlusse von den drei vorgefundenen sogenannten _Kinderpredigten_
mit ihren Kettenreimen und ihrem Sachallerlei nur die kürzeste Weise:

    Hört, meine Herren!
    Äpfel sind keine Birn’.
    Birn’ sind keine Äpfel,
    Die Wurst hat zwei Zipfel.
    Zwei Zipfel hat die Wurst.
    Der Bauer hat großen Durst.
    Großen Durst hat der Bauer.
    Das Leben wird ihm sauer.
    Sauer wird ihm das Leben,
    Der Weinstock trägt viel Reben.
    Viel Reben trägt der Weinstock,
    Die Maus ist kein Ziegenbock.
    Kein Ziegenbock ist die Maus,
    Und die Geschichte ist aus.

»Kraft- und saftloses Reimgeklingel!« werden manche Leser ausrufen.
Doch die Kinderwelt findet ihre helle Freude daran. Wer viel
mit Kindern umgeht und diese beobachtet, weiß übrigens, daß oft
schon die Schulneulinge dichterische Veranlagung offenbaren, auf
dem Pegasus Versuche wagen, besonders wenn sie sich streiten und
zanken. Mit Vorliebe hängen die Kinder den Namen ihrer Gespielen und
Klassengenossen ähnlichklingende Wörter an, und der Reim ist fertig,
der gleich Anklang findet und allgemein gebraucht wird. Einige von mir
gelegentlich aufgeschnappte Rufe sind:

    _Minkwitz_, Stinkwitz.
    _Kühne_, Biene, Eisenschiene.
    _Müßler_, Stißler.
    _Richter_ mit dem Trichter.
    _Emil_, Besenstiel.
    _Max_, Fax (auch: Dachs, Gax).
    _Paul_ ist faul.
    _Otto_, Hotto.
    _Elfriede_, Zuckertüte.
    _Lotte_, Motte.

Ferner sucht man durch Entstellung der Namen Mitschüler zu necken. Auch
hier einige Beobachtungen: _Teubert_-Täubchen, _Peschke_-Depesche,
_Thomas_-Domino, _Klauß_-Klöße, _Dippmann_-Dippfrau. Alle diese
Schöpfungen beruhten selten auf einer glücklichen Eingebung, denn
sie trafen fast gar nicht das Wesen oder eine Wesensseite ihres
Trägers. Die Spitznamen haben für die Kleinen ebenso wie die von
mir aufgetischten zahlreichen _Abzählreime_, _Liedertexte_ und
_Scherzverse_ einen onomatopoetischen Reiz.


Fußnoten:

    [1] _E. Zeißig_: »Zur Erforschung des Gedanken-, Gefühls-
        und Sprachlebens unsrer Schulneulinge«. (Zickfeldt in
        Osterwieck im Harz.) 3. Auflage.



In der Dorfschenke

Von Oberstaatsarchivar Regierungsrat ~Dr.~ _Beschorner_


»Nee, Korle, was eenem nich alles passieren kann,« äußerte der
Gemeindevorstand Oskar Mästegans, indem er seine Mütze an die Wand
hängte und sich steifbeinig bei seinem Freunde, dem Gemeindeältesten
Karl Lachenicht, am Stammtische niederließ. »Hamsterei is ja itze
an der Tagesurdnung. Aber su was is mer doch noch nich vorgekommen.
Grad haw’ ich heute früh meine Suppe geleffelt un das Blättchen in
de Hand genummen, um de neisten Verordnungen zu studieren (hol’
se allemitenander der Geier!), da tritt so e Stadtfrack mit ’m
freindlichen Gruße in de Tür. ›Aha,‹ sagt’ ich mer, ›eener, der Eier
mechte, oder Erdäppel, oder Hon’ch.‹ Aber fehlgeschossen! Nischt von
alledem. Nee, weeßte was er wullte, Korle? Er wullte nur, meent ’r
bescheiden, wissen, wie wir unsre Felder und Wiesen nennen täten? Und
den Steen draußen uff dem Berge und den Berg salwer? Und ob de Dorfbach
’nen besundern Namen hätte und ob w’r der oder die Bach sagten?«

»Nee so was!«, ließ sich itze der alte Karle vernehmen. »Sollte mer’sch
glooben! Wenn de Städter nur bei uns uffm Lande ’rumschnüffeln können!
Die Neugierde! ’s geht se doch gar nischt an, unsre Grünebach und de
Zeidelwiesen, das Götzenbüschchen un de Klinke. ’s kann se doch ganz
Wurscht sin. Uskar, du hast ’m huffentlich nischt gesat. Denn wer weeß,
wozu er’sch han will. Amende gor vor de Steuer.«

»Ach nee,« entgegnete da gutmütig der Gemeindevorstand, »so sah das
Herrchen nich aus. Er erzählte m’r, daß er im Staatsarchiv in Dräsen
sei und de Namen für wissenschaftliche Zwecke brauche. ›Schon gut,‹
meente ich. ›Solche Nam’ mag es ja in annern Gegenden geben. Bei uns
is mer davon nischt bekannt.‹ Weeßte, Korle, ich hatte keene Zeit un
ooch keene Mauke, mich uff lange Fisimatenzien einzulassen. – Awer so
ganz ungeruppt kam ich d’r nich d’rvon. Aus seiner braunen Aktentasche
holte ’r enne Flurkarte ’raus. Du, die war scheene! Da waren de Felder
gelwe un de Wiesen griene un de Wälder grau gepinselt, derzwischen ’s
Wasser blau. Wirklich hübsch sah das Blättchen aus. Unsre ganze Flur
sah mer da richtig vor sich liegen. Drüwer awer war e Pergamentblatt
gespannt und da standen d’r allerhand Nam’ druff. ›Sehen Sie,‹ meente
’r, indem daß ’r mit dem Finger uff die Stelle tippte, ›hier ist Ihr
Dorf, da die Kirche, dort das Rittergut. Der Weg hier, der sogenannte
Fürstenweg, führt nach Blaubach hinüber und der hier, der Buttersteig,
nach Meichberg, dem Dorfe »Hinterm Eichberg« (daher der Name!). Rechter
Hand vom Fürstenweg, zwischen dem Fiedelbogen und den Krutschen, erhebt
sich der Wolfsberg. Der wird gekrönt von einem mächtigen Sandsteinblock
mit einer verkrüppelten Kiefer darauf. Man kann ihn (und er zeigte
mit der Hand zum Fenster hinaus) von hier aus sehen. Nicht wahr? Ich
glaube, man heißt ’n in der Gegend den Rabenstein.‹

›Der is ja gut unterricht’‹, dacht ’ch; awer, sagt ’ch m’r, ›stehste
ihm itze Rede und Antwort, do is kee Ende abzusehn.‹ Und ich wollte
doch heute noch den Zippel oben auf der Scheibe fert’g ackern und
Jauche uff de Lauchwiesen unten am Todteiche schaffen. Uskor, sagt’ ich
mer, hier heeßt ’s uffpassen. Laut aber meent ’ch zu meinem Besuche:
No ja, wenn se sulche Nam’ meenen, do gibt’s ’r schon noch welche.
Ich wer’ se m’r überlegen un ooch ’n Korle, was mei alter Freund
is, der hierherum alles weeß, dornach fragen. Meine Zeit ist heute
höllisch knapp. ’s tut mer leed. Awer wenn Se mal in die alte Scharteke
’ringucken wollen, da wer’n se allerlee finden, was se brauchen können.
Un ich langt ’n aus der unterschten Schublade von meim Seckertäre, wu
das Gemeendearchiv ’ringewürcht is, das alte Flurbuch ’raus un gab ’s
’m. Da hättste sehn sullen, wie seine Oochen funkelten un wie er sich
glei d’rüberher machte!

Als ’ch so umme Zwelfe ’rum mit meinem Jauchewagen ’n Mordweg
’rinkomme, treff’ ich ’n an der Marter. Sehen Sie nur, rief ’r mir
schon von weitem zu, was ich alles in Ihrem Flurbuche gefunden habe:
Zu den zwanzig Namen, die ich in Ihrer Flur schon kannte, noch weitere
hundertzwei, so daß es nun alles in allem hundertzweiundzwanzig
sind. Ist das nicht großartig? Und zu den meisten waren auch die
Parzellennummern hinzugefügt, so daß ich die meisten benannten
Flurstücke auf meiner Flurkarte auffinden und auf dem Deckblatte
eintragen konnte. Sehen Sie nur hier. Es ist ein Staat! Ich sage Dir,
Korle, er war richtig wie aus’m Heischen vor Freede un Glückseligkeet.
Bei einigen freilich, fuhr er fort, ließ mich das Flurbuch im Stich.
Vielleicht können Sie mir da helfen. Wo mögen die Fünfruten liegen? und
das Schanzenfeld? wo die Folgen? die Nauländer? der Tschihädel? die
Gurke? Na, unterbrach ich ’n, die Fünfruten brauchen m’r nich lange zu
suchen. Da sin mer ja mittenmang. Un en bissel weiter ’naus, da nachm
Eichert zu, kommen die Folgen und die Nauländer.

Awer sagen Se mer nur, wozu Se das Zeig alles brauchen? fragt ’ch ’en
nu neigierig, wie ich war, und trieb meine Ochsen an; denn mir knurrte
Gottverdimmig der Magen. Ei Herrjee, da legte ’r awer los, Korle:
von den alten Wörtern, die längst verschwunden wär’n und nur noch in
den Flurnamen fortlebten; denn so nannt’r alle die Namen für unsre
Felder, Wiesen, Wälder, Teiche, Bäche, Büsche, Hügel, Berge usw. Un
weiter hat’r dann dervon geredt, wie aus den alten Wörtern im Laufe der
Zeit etwas ganz anderes geworden wäre und wie das die Sprachforscher
verinteressiere, und von der Geschichte und Wirtschaftsgeschichte,
und Rechtsgeschichte und wie die Geschichten alle heeßen, die er m’r
uffgezählt hat. Ich weeß nich mehr. Ooch vom Volksmunde hat ’r erzählt
un von Volkskunde. Allerhand Sitten und Gebräuche, sagt’r, lebten noch
in den Flurnamen fort. Von Geographie und Ethnographie. Na, sagt’ch
schließlich, hörn’ se uff. M’r schwindelt schon. Un m’r sein ooch da.
Wenn se noch’n Oogenblick mit ’rein kommen wolln, soll’s mich freun.
Se sollen ooch vor alle Ihre Mühe e paar Eier kriegen, weil se nich
gebettelt haben. Gloobste, Korle, daß’r se genommen hat?«

»Nu warum denne nich,« meinte der Alte, der aufmerksam zugehört
hatte. »Weeßte was? ’s tut mer leed, daß ich Euch nich in de Quere
gekommen bin. Ich hätte dem Herrchen mancherlee – Du denkst, uff de
Nase gebunden; ne, ne, ich meene: sagen kennen. Kannt’r denn den
Napoljonsteen oben uff dem Grohberge, wo immer die vielen Kräh’n
sein? Da, heeßt’s doch, sull Napoljon gestanden haben, als seine
Truppen nunter nach Dräsen machten, zu der großen Schlacht Anno 13.
Un vielleicht hat’r ooch keene Ahnung d’rvon, daß da, wo mer unten
am Mühlwege de Hasenlaube ham, mal vor vielen hundert Jahren e Dorf
gestanden hat. Ich gloobe, es soll Hasela geheeßen haben von wegen der
vielen Haselsträucher in der Gegend.«

»Hast recht, Korle; so hätten mer ihm noch mancherlee sagen kennen.
Wie e Mäuschen hörte’r mer zu, als ich’m erzählte, daß mer in meiner
Jugend jedes Jahr zu Letare eene Mordsfreude hatten, wenn mer enne
Strohpuppe uf’m langen Stecken durchs Dorf un dann den Todweg (nich
den Leichenweg, den meene ich nich) naustrugen über die Todenbrücke
und se dann ärschlings in den Todteich plumpsten. Mit dem Tode meenten
mer den Winter, der nu endlich zu Ende war. Richtig, äußerte er da
ganz erfreut; auch anderwärts habe ich von dieser Sitte gehört. Damit
hängen allerdings die vielen andern Namen, die mit Tod gebildet sind,
die Totenberge, -borne, -felder, -graben, -gründe, -hölzer, -löcher,
-hübel, -pöhle usw., nicht alle zusammen. Man muß da vorsichtig sein.
Die Toten Männer z. B., die es überall in Deutschland gibt, haben eine
ganz andre Bedeutung. Doch genug für heute. Sie wollen essen und ich
will nach Hause zu Weib und Kind. Ich habe noch manche Stunde zurück
zur Stadt. Vielleicht komme ich einmal wieder. Vielleicht machen Sie
mir auch einmal die Freude, mich auf meinem Amte zu besuchen. Dann
zeige ich Ihnen die ganze Einrichtung unsrer großen Flurnamensammlung;
denn Sie müssen wissen, daß wir es nicht nur auf die Namen Ihrer Flur
abgesehen haben, sondern die Namen aller Fluren sammeln, ja noch mehr:
auch alle einzelnen Namen in den Wäldern. Das ist nicht so einfach.
Da hat jede Flur und jedes Waldrevier sein besonderes Verzeichnis mit
Karte usw. Die Verzeichnisse einer Amtshauptmannschaft sind in einer
oder mehreren dicken Mappen vereinigt, nach dem Abc, damit man jedes
Gewünschte schnell herausfinden kann. Und zu dem Ganzen gibt es wieder
ein Nachschlageverzeichnis, auf Zetteln. Wir haben es bisher auf etwa
60000 solcher Namenzettel in 43 Kästen gebracht. Das ist großartig.
Ein Griff genügt, wenn man wissen will, ob ein Name, meinetwegen der
Pestgarten oder der Quarksack, in Sachsen vorkommt? etwa mehrmals? und
wo? Schade nur, daß wir mit dem Hauptverzeichnis im Rückstande sind,
daß wir aber kein Geld mehr haben, um in diesen teuren Zeiten weiter
an ihm arbeiten zu lassen. Ein gütiges Geschick möge uns die Mittel,
die dazu gehören, bescheren oder den uneigennützigen Arbeiter, der das
Werk ohne Bezahlung vollendet. ’s gibt solche Leutchen. Ein ehemaliger
Schuldirektor z. B. hat uns in jahrelanger Arbeit alle Flurnamen,
die auf alten Karten vorkommen, auf die Krokideckblätter, die zu den
Flurnamenverzeichnissen gehören, übertragen. Sie sehen hier auf diesem
Deckblatte Ihrer Flur seine Eintragungen mit roter und grüner Tinte.
– Na aber nun endgültig Schluß! Vielen Dank für Ihre Auskünfte und
die Eier, die mir Ihre Frau eben, schön einpapiert, zugesteckt hat.
Die Flurnamenforschung macht doch nicht nur Spaß, sondern bringt auch
noch (allerdings selten genug!!) etwas ein. Hier noch meine jüngst
veröffentlichten neuen »Ratschläge für das Sammeln von Flurnamen« und
meine Schrift über den ›Anteil Sachsens an der Flurnamenforschung‹.
Vielleicht gucken Sie an einem langen Winterabend einmal hinein[2].«

Mit diesen Worten, so beendete der Gemeindevorstand seinen Bericht,
hätte sich der Archivrat oder wie er sich sonst betitulierte, auf die
Socken gemacht. »Ich gloobe«, fügte er noch hinzu, »seelenvergnigt«.

Damit hatte er recht. Während der Flurnamensammler durch die
sprossenden Saaten und die grünenden Wiesen rüstig der Hauptstadt
zuschritt, überlegte er sich schon, was er seinem Freunde Mästegans,
dem biederen Gemeindevorstand, auf alle seine neugierigen Fragen nach
der Bedeutung dieses und jenes Namens antworten könnte; denn das ist
ja für solche Leute immer die Hauptsache, was eigentlich hinter so
einem merkwürdigen Namen stecke. Bei einigen hier war ja die Sache ganz
einfach. Die Felder der Fiedelbogen und die Gurke hießen offenbar so
nach ihrer Gestalt. Das eine mochte an einen gespannten Geigenbogen
erinnern, das andere an eine gekrümmte Gurke. – Unter dem Zippel war
natürlich ein schmales Stück Land zu verstehen, das wie ein »Zipfel«
vorsprang. Anderwärts sagte man dafür Schwanz, Sterz, Zagel. Wieviele
Hasenzippel und Kühzagel oder Kuhzackel waren ihm nicht schon begegnet!
Nahm so ein Zipfel dreieckige Gestalt an, so hieß er wohl auch Triangel
(Dreiangel) oder wie die Speerspitze bei den alten Germanen: Ger;
daher die vielen Gehren-, Gieren-, Gührenstücke und dergleichen. – Die
Zeidelwiesen trugen natürlich ihren Namen von den Zeidlern, das heißt
den Waldbienenzüchtern, die einst in dem Dorfe ihr Gewerbe getrieben
haben mochten.

Das alles würde ihm sein neuer Freund (so überlegte er sich auf dem
Heimwege) ohne viel Umstände glauben, auch daß Eichert nur ein anderer
Ausdruck für Eichbusch oder Eichwald sei; denn tatsächlich war der
so benannte Berg, wie er sich überzeugt hatte, noch heutigentags mit
Eichen bestanden. Die »Realprobe«, die man bei der Erklärung von Namen
nie außer acht lassen darf, stimmte also, wie vermutlich auch bei den
Lauchwiesen. Gewiß gedieh auf ihnen Lauch besonders üppig. Aber, aber,
wenn er den Mordweg einfach als »Marktweg« erklärte, da würde er wohl
auf Widerspruch stoßen, auch wenn er durch andere Beispiele klipp und
klar bewiese, daß das Wort Markt ebenso wie Mark durch verschiedene,
ganz gebräuchliche sprachliche Vorgänge oft zu Mort und Mord wurde.
Die Leutchen da draußen würden sich nicht leicht ausreden lassen, daß
von einem Morde hier nicht die Rede sein könne. Bei der Marter war
das schon etwas anderes. Da hatte sicher einmal ein solches altes
Steinkreuz gestanden, wie sie im Mittelalter die Totschläger zur
Sühne errichten mußten und wie sie sich noch überall im Lande finden.
Möglicherweise lebte die Erinnerung daran noch in dem Gedächtnis
irgendeines alten Dorfeinwohners, etwa des »alten Korle«, fort. – Auch
wegen des Götzenbüschchens würde es wohl einen harten Strauß geben. Daß
dort niemals ein heidnisches Götterbild gestanden hatte, war klar. Mit
den unwissenschaftlichen Erklärungen aus Götter- und Sagenwelt, mit
denen so viel Unfug getrieben worden ist, muß aufgeräumt werden. Aber
so leicht würde sein Gemeindevorstand den teueren Aberglauben nicht
aufgeben. Darauf mußte er sich gefaßt machen.

Darüber ließ sich schon eher reden (spann er im Weiterschreiten
seine Gedanken fort), daß das Schanzenfeld seinen Namen nicht erst
von Befestigungen im Siebenjährigen oder Dreißigjährigen Krieg
erhalten habe, sondern von einer ehemaligen Sorbenschanze, einer der
Fliehburgen aus slawischer Zeit, die den Umwohnern der ganzen Gegend
in kriegerischen Zeiten als Zuflucht dienten. Indessen müßten hier
erst noch besondere Untersuchungen Klarheit schaffen. Er wollte sich
danach umtun und überhaupt mit der Geschichte der Flur etwas näher
befassen. Die Nauländer und wohl auch die Folgen waren voraussichtlich
Fingerzeige für die ursprünglich begrenztere Ausdehnung der angebauten
Fläche und ihrer späteren Erweiterung; denn Nauländer war bloß
eine mundartliche Form für Neuländer, namentlich in Gegenden, die
von Rheinfranken, Hessen und Thüringern besiedelt worden waren,
und Folgen sind nicht nur, wie Knothe in einem besonderen Aufsatze
nachzuweisen versucht hat, »Pertinenzstücke«, kleine Grundstücke,
die zu einem anderen gehören und diesem rechtlich »folgen«, obwohl
sie getrennt davon liegen, sondern überhaupt Ländereien, die zu der
fest begrenzten Mark nachträglich hinzugekommen, ihr gefolgt sind. So
ungefähr hat es, wenn er sich nicht irrte, Mucke einmal ausgedrückt,
und andere Forscher, wie von Bötticher und Seeliger, waren wohl
ähnlicher Ansicht. Freilich sicher war die Sache nicht, so wenig wie
die Erklärung des unendlich oft vorkommenden Flurnamens die Scheibe,
worunter man bisher immer Grundstücke von runder Gestalt oder hoch
gelegene ebene Flächen verstand. Aber erst kürzlich (fiel ihm ein) hat
Remigius Vollmann, der eifrige Vorkämpfer für die Flurnamenforschung
in Bayern, auf die Möglichkeit anderer Deutungen aufmerksam gemacht.
Gestützt auf die Beobachtung, daß die Scheibenörtlichkeiten an Wege-
und Flußkrümmungen liegen, neigt er der Ansicht zu, daß das Volk
Scheibe oft bei der Benennung von Örtlichkeiten im Sinne von Drehung,
Biegung, Straßenkrümmung braucht, ähnlich wie Kehre, Reibe, Rank,
wozu die volkstümlichen Redewendungen wie »der Weg macht a Scheibn«,
»dort fahrt man um d’ Scheibn«, »da geht’s scheibum« gut passen.
Gleich morgen wollte er noch einmal Vollmanns Flurnamenarbeiten in
den »Heimatstudien« nachlesen, die der Bayrische Landesverein für
Heimatschutz herausgibt. Vielleicht fand er da auch zusammenfassende
Angaben über die Fürstenwege, die sehr verschieden gedeutet werden,
einzig richtig aber wohl als Wege zu betrachten sind, die in erster
Linie zum Gebrauche für den Hof angelegt wurden. Wenn man nur
immer gleich wüßte, wo nachsehen in all den vielen Druckschriften
über Flurnamen, die in seinem Arbeitszimmer stehen. Ein guter
Namenweiser durch die Flurnamenliteratur, das wäre etwas, was
die Flurnamenforschung vor allem brauchte! Aber wer sollte diese
Riesenarbeit leisten?

Vor allem (so überlegte der ganz in seine Flurnamen vertiefte
Wandersmann weiter) wollte er sich auch noch bei Hey, Mucke, Meiche
und anderen wegen der slawischen Flurnamen, auf die er heute gestoßen
war, Rat holen; denn auf diesem Gebiete war er zu wenig Fachmann. Die
Klinke, das entsann er sich, bedeutet so viel wie »kleines Lehmfeld«.
Da mußte es ein slawisches Wort ~klinka~ oder ~glinka~ geben. Und
Krutschen, verstanden darunter die Slawen nicht »kurze Ackerbeete«?
~Čihadlo~, wovon Tschihädel gebildet war (das wußte er ganz genau),
hieß der »Vogelherd«, eigentlich »Zeisigfang«. Auch wegen Gurke und
Lauchwiese mußte er noch einmal nachsehen. Das Feld, die Gurke konnte
unter Umständen auch seinen Namen vom slawischen ~górki~, die kleinen
Berge, haben, und Lauch konnte mit ~ług~, Wiesenbruch, sumpfige Wiese,
zusammenhängen.

Hopla! Ein Stein, der im Wege lag und ihn beinahe zu Falle und die
sorgsam in der Aktentasche geborgenen Eier in Gefahr gebracht hätte,
ließ ihn aus seinen Gedanken auffahren. Donnerwetter, da tauchten doch
schon ganz nahe vor ihm die Türme der Stadt auf. Die Zeit war ihm
im Fluge vergangen. Er mäßigte seine Schritte. Langsamer strebte er
seinem Haus und Herde zu, denen er sich so unvermerkt genähert hatte.
Stillvergnügt pfiff er »Im Wald und auf der Heide« vor sich hin. Wie
wahr! Hier fand er wirklich seine Freude, wenn auch anders, als der
Feld-, Wald- und Wiesen-Jägersmann, er, der auf das Edelwild der
Flurnamen jagte.

Während er sich so heimtrottend mit den Namen beschäftigte, saßen Oskar
Mästegans und sein alter Freund Karle in der Kneipe und vertieften
sich, da niemand weiter am Stammtisch erschien, in die beiden
Schriften, die ihnen der Archivar dagelassen hatte, und staunten, was
außer der Landwirtschaft noch alles im Lande getrieben wurde. »Hm
(meente der Karle schließlich), das mag ja alles ganz gut und scheene
sein, aber viel Zweck hat’s dorum doch nich.« – »Nu nee (widersprach
ihm da sein Freund Gemeindevorstand)! Do bin ich doch ganz andrer
Ansicht als wie Du. Die Nam’ sein gut. Mer mechten se nich hergeben.
Wenn se aber erhalten bleiben sullen, dann muß de Menschheet erscht
wissen, wieso und warum se dasein un was se zu bedeiten ham. Dann
wern se se ooch achten! ’s wird itze immer so viel von Heimatschutz
geschwafelt. Das geheert weeß der Hole ooch d’rzu!«


Fußnoten:

    [2] Von den »Ratschlägen« und der genannten Schrift
        steht eine beschränkte Anzahl für solche, die der
        Flurnamenforschung ernstlich nähertreten wollen,
        unentgeltlich zur Verfügung. Man wende sich deswegen und
        wegen sonstiger Flurnamenangelegenheiten an Herrn ~Dr.~
        Beschorner im Hauptstaatsarchiv, Dresden-N., Düppelstraße
        14. Das Flurnamensammeln betrieb bisher zusammen mit
        der Sächsischen Kommission für Geschichte der _Verein
        für sächsische Volkskunde_, der seit vorigem Herbste
        mit unserem Heimatschutzvereine verschmolzen ist. Der
        Volkskundeverein brachte 1904 in seinen Mitteilungen
        III. Jahrgang S. 197–248 einen allgemein aufklärenden
        Aufsatz »Unsere Flurnamen« (als Ergänzung dazu den Aufsatz
        »Zwei neu entdeckte Flurnamenquellen« Seite 365–369) und
        berichtete von da ab regelmäßig über die Fortschritte,
        die das Sammeln der Flur- und Forstortsnamen in
        _Sachsen_ machte (bis 1921 zweiundzwanzig Berichte).
        Was gleichzeitig _im ganzen deutschen Sprachgebiete_
        geschah, ist genauestens in den acht Flurnamenberichten
        verfolgt, die das _Korrespondenzblatt des Gesamtvereins der
        deutschen Geschichts- und Altertumsvereine_ 1904 bis 1923
        veröffentlicht hat, beginnend mit dem eingehenden Vortrage
        »Das Sammeln von Flurnamen« im 52. Jahrgang Spalte 3–18.

        _Die Bitte um geldliche Unterstützung des großen
        vaterländischen Unternehmens sei hier nochmals dringlichst
        wiederholt._

            Der Herausgeber.



Weihnachtsdörfer

Von _Edgar Hahnewald_


Schneeverhüllt liegt Sayda auf der Kuppe. Die Gleise der Kleinbahn
enden vor einem verschneiten Prellbock, wie vorgetrieben an eine
äußerste Grenze, hinter der es nur noch weiße, einsame Flächen und
weiße Wälder im Flockenwirbel gibt.

Die Schneedächer der kleinen Stadt bauschen sich weiß und rein
zwischen dem trübgrauen Himmel und den gelblich fahlen Häusern.
Lautlos wimmeln die Flocken. Rieselnde Schleier sinken unaufhörlich
auf das Städtchen nieder, bis es ganz verhüllt und in der bleichen
Schneedämmerung versunken sein wird. Schattenhafte Menschen huschen
hinter den Schleiern dahin, ohne Wissen umsponnen von der lautlos sich
vollziehenden Verzauberung einer kleinen erzgebirgischen Stadt, aus
deren Schornsteinen dünner, durchschneiter Rauch wie entweichender
Hauch aufsteigt.

       *       *       *       *       *

Die stallgelben Schimmel traben mit einanderzugewendeten Köpfen vorm
Bauernschlitten. Die Schellenbehänge klingeln hüpfend durch die weiße,
rauhbereifte Landschaft. Der Kutscher sitzt, in seinen Schafpelz
eingeduckt, schräg zum Gespann, um das Gesicht dem schneidenden Winde
und dem Schneetreiben zu entziehen. Die Flocken stürzen sich wie kalte,
spitze Mücken in die Augen. Bereifte Wälder ziehen als graugrüner Rauch
über einsame Schneeflächen.

Dann fällt die Straße ins geschützte Tal. Die Flocken rieseln still.
Wie hinter getupftem Mull liegt Schloß Purschenstein zart gelbgrau
und weiß inmitten des winterlichen Parkes. Die Flöha rauscht schwarz
zwischen weißen Ufern.

Aus dem Tale steigt die Straße langsam in großen Kurven zum Kamme
hinauf. Quer über die Straße, über Eis und verharschten Schnee
laufen spitze Schneedünen wie Pfeile, mit denen die weißen Winde die
eigne Richtung und Schärfe markieren. Hohe Horizonte schweben hinter
Flockenschleiern.

Über weißen Wällen ragen Schneezäune. Einsam sinkt der graue Himmel
hinter den schwarzgefügten Planken nieder.

       *       *       *       *       *

Auf dem Kamme, siebenhundertvierzig Meter hoch im Reiche der weißen
Winde, stehen vier kleine beschneite Häuser an der verwehten Straße.
Eines davon ist ein Gasthaus. Diese vier Häuschen und vier andere, die
sich seitwärts in einer Falte der weißen Hänge verbergen – das ist
Heidelbach.

Man sieht nur diese vier. Weißer Wald zieht aus Winternebeln heran.
Schneeflächen entschwinden in grauweißer Luft.

Es wirkt wie eine Kühnheit, in dieser winterlichen Einöde zu hausen,
wie eine freiwillige, stumme Verbannung. Und selber kommt man sich wie
verirrt vor, nun der Schlitten vor dieser verwehten Gasthaustür hält
und wir ihm steif gefroren entsteigen.

       *       *       *       *       *

Einige Stunden später schon fühlt man sich gastlich aufgenommen in den
Kreis des Familienlebens, in die ländliche Gemeinschaft von Mensch und
Tier, die der Gasthof in winterlicher Einsamkeit umhaust. Man spürt
die Fäden, die von drinnen nach draußen und von draußen nach drinnen
führen, spürt Krieg und Frieden des Lebens auch in dieser Einsiedelei.

Der Mann verbringt Stunde um Stunde im Stalle. Die schönste der drei
Kühe, eine gelbe Simmentaler, liegt röchelnd im Sterben. Der Wirt hegt
und pflegt sie. Nachts steht er auf, um nach ihr zu sehen. Das Messer
hat er für alle Fälle bereit liegen. Die Kameraden der Gelben, zwei
schwarzweiße Schecken, raufen das raschelnde Heu. Ein dunkelgraues Kalb
reckt an jedem, der ihm nahekommt, den Hals wollüstig auf. Es will an
der Kehle gekrault sein. Die Gelbe hat den schönen Kopf mit den weißen
Löckchen zwischen den Hörnern ergeben ins Stroh gewühlt. Die weißen
Wimpern senken sich über die Augen. Wie ein sterbender Mensch, geduldig
und wehrlos, liegt das Tier da. Dumm und schuldlos scharren und picken
die Hühner neben dem Kopf der Kuh im Dung.

Drei Tage später hängt die Gelbe geschlachtet am Scheunenbalken. Ihr
Blut rinnt rauchend hinaus in den weißen Schnee. Die abgehackten
Vorderfüße lehnen wie ein Stiefelpaar an der Holzwand. In der Gaststube
schreibt der Tierarzt den Befund bei einem Schnapse nieder. Der Wirt
sitzt in der Küche, die Ellbogen auf die Knie gestützt, die Hände
ineinander gelegt. Es sind Hände, denen eine Mühe soeben abgenommen
worden ist, Mühe, die vergeblich war.

Zwei Katzen sind da. Weiße Katzen mit schwarzer, gelber und grauer
Zeichnung. Die kleine hat ein unschuldig-liebes Gesicht – so stellen
sich vielleicht die Katzen ihre Engel vor.

Lore, die Schäferhündin, geht erwartungsvoll umher und schaut mit
großen, feuchten Augen jeden an. Am Tage unserer Abreise warf sie
kleine, schwarze Hündchen. Blind und winselnd drängten sie sich an die
Mutter.

Gäste kommen und gehen. Schneeschuhläufer, Fuhrleute, der
Landbriefträger. Die Wirtin ist da und dort, sitzt bei uns, lacht,
erzählt Geschichten, hätschelt die Katzen, klagt um die Kuh, schmückt
den Weihnachtsbaum, und wenn wir uns auf unsre schneenassen Schuhe
besinnen, hat sie die Trittchen längst auf den Ofen gestellt.

       *       *       *       *       *

Draußen raucht der Schneesturm. Die weiße Landstraße saust, in
fliegenden Schneestaub aufgelöst, hinter den kleinen Fenstern vorüber.
Es gibt keine festen Formen mehr, alles ist weißer, zischender
Schneerauch, aus dem sich ein kalter, unbestimmter Himmel erhebt.
Kahle Geäste schwanken in weißen Wolken, die gespensterhaft durch die
Dämmerung und dann durch die schwarze sausende Nacht fliegen.

Um Tür und Zaun wächst aus dem Zischen die Schneewehe mannshoch.

Der Grog dampft in dicken Gläsern. Sein heißer Hauch mischt sich mit
dem Weihnachtsdufte des Stollens. Hilde, die kleine Wirtstochter,
bringt den Räuchermann auf den Tisch, zündet ein rotes Räucherkerzchen
an und setzt es dem rot berockten Türken mit Turban und gelben
Husarenschnüren in den hohlen Leib. Nun pafft er mit unsren Pfeifen um
die Wette. Dann, damit der Türke nicht verbrenne, setzt das Mädel das
Räucherkerzchen auf einen Bieruntersetzer aus Steingut. Und wir alle
sehen zu, wie es verglimmt und leise zu feiner, weißer Asche zerfällt.

Der Mensch liebt die Gesellschaft, und sollte es auch nur die von einem
brennenden Rauchkerzchen sein. Georg Christoph Lichtenberg schrieb das.

Würziger Duft steigt mit den feinen Rauchfäden auf. Es riecht
katholisch, nach Weihrauch. Eine Erinnerung an die Messe im Dom zu
Passau taucht auf.

Passau, der Inn, die Donau – das war im Juni ...

Draußen, in schneebleicher Nacht, fegt der Schneesturm über das weiße
Erzgebirge.

Dann kommen blanke Tage. Ein blauer Himmel, leicht und durchsichtig
ins Unendliche erhoben, strahlt über der weißen Landschaft, deren
windgerillte Flächen wie Seide glänzen. Die Straße steigt nun über
mannshohe Schneeberge auf und ab, so hoch hat der Sturm die Wehen
gebaut. Die Fichten stehen daunig beschneit und bereift mit weißen
Fittichen. Schneebelaubte Buchenwälder jenseits des Tales liegen
im Goldglanz der Sonne. Sie schimmern wie hohe, ferne Länder, wie
aufsteigende Inseln über weißen Fichtenwäldern.

Die kahlen Ebereschen an der Straße hat der Rauhreif verwandelt.
Als weiße, unaussprechlich zarte Stickerei breiten sich die feinen
Gezweige vor dem fernen Blau des Himmels aus. Weiß, mit zartknorpeligen
Verästelungen und gerundeten Spitzen verkreuzen sich Äste und Zweige
wie die ineinandergewirrten Geweihe weißer Renntierherden einer
Eisprinzessin. In einem weißumflorten Bäumchen vorm Hause sitzen vier
aufgeplusterte Zeisige, vier gelbe, in der Sonne leuchtende Früchte.

Über weiße Hänge und Ebenen weithin verstreut, in weißen Tälern lang
aufgereiht, liegen die Dörfer: Heidelbach und Einsiedel, Heidelberg und
Oberseiffenbach, Seiffen und, nach langer Wanderung über windgeglättete
Höhen, das böhmische Katharinaberg wie ein aufgestelltes Spielzeug
auf steilem Hügel, mit einem kleinen Marktplatz, in dessen Mitte ein
Heiliger seinen besternten Goldreif über einer Schneekappe trägt.

In den Gaststuben Böhmisch-Einsiedels sitzen an den Feiertagen fröhlich
gedrängt die Seiffener, Spielzeugschnitzer und Handelsleute, mit
ihren Frauen. Sie trinken das schaumflockige böhmische Bier, essen
heiße Extrawurst mit Kren und zahlen mit rosa und blaugefärbten
Kronenscheinen. Das böhmische Schankmädel packt uns leckere
Fleischwurst zum Mitnehmen in die Weihnachtsnummer des Brüxer
Tageblattes ein. Bei seinem Wurstpaket sitzt man noch lange, trinkt
helles Bier und hört um sich die anheimelnde Mundart der Erzgebirgler.
Es ist an keinem Tisch mehr Platz, aber über die Köpfe hinweg werden
von Hand zu Hand Stühle gereicht und die neuen Ankömmlinge werden am
Tische auch noch untergebracht: »Mir rücken e’ Finkel zamm.« E’ Finkel
– das heißt: ein Fünkchen, ein wenig.

Und manch einer trägt am Abend einen ganz kleinen Spitz zollfrei über
die Grenze.

       *       *       *       *       *

Am Heiligen Abend gingen wir hinunter ins Tal nach Seiffen.

Die kleinen Häusel am Hange stehen weich und flach im Schnee. Man
glaubt, man kann sie am Schornstein anfassen und wo andershin in
das wattige Weiß stellen. Manchmal wächst eine einzelne Fichte hoch
über das weiße Dach hinaus. Immer wieder erinnern die Häusel an das
Spielzeug, das in diesen Dörfern gedreht und geschnitzt, geleimt und
bemalt wird. Ein Reh, ein spitzes, grünes Bäumchen, ein weißes Häusel
aus den Händen eines Seiffener Spielzeugschnitzers – in drei solchen
bunten Sächelchen ist der herbe Reiz der erzgebirgischen Landschaft
geheimnisvoll eingefangen, ist Landschaft, Mensch und Werk, die
Schlichtheit aller drei zu einer einfachen Einheit verschmolzen.

Vor mir steht eine kleine Gruppe winziger Figuren, die alle zusammen in
einer Streichholzschachtel Platz haben. Drei grüngekräuselte Bäumchen,
ein Hirt im blauen Kittel und eine weiße Kuh mit himmelblauen Flecken
und gelben Hörnern – es ist eine wahre Vergißmeinnicht-Kuh. Sie
erinnert mich an die Weihnachtsdörfer im Schnee, an die saubere Armut
der Stuben, in denen das bunte Spielzeug entsteht, an liebenswerte
Menschen, die den Kindern näher sind, als sie selber wissen.

In der Werkstelle eines Seiffener Spielzeugmachers stehen ernsthafte
Maschinen. Kreissägen, Hobelmaschinen, Bandsägen, Drehbänke. Ein
elektrischer Motor treibt sie. An diesen Maschinen entstehen jahraus,
jahrein, Tag für Tag winzige Quirle, Rührlöffel, Fleischklopfer,
Nudelhölzer, Schneidebretter, Wiegemesser für die Puppenküchen kleiner
Mädchen. Manche dieser Liliputgeräte sind nicht länger als ein
Streichholz. Aber alle sind so sauber gearbeitet wie ihre »erwachsenen«
Vorbilder. Man ist versucht, sich die Taschen mit diesen kleinen Dingen
vollzustopfen, so verführerisch sind sie in der sauberen Glätte des
weißen Holzes. Und wie der Schnitzer das kleine Zeug in die genarbten
Finger nahm und wie es ihn selber freute, mir die zierlichen Dinge zu
zeigen, fragte ich mich wieder mit einem Bejahen schon in der Frage, ob
nicht in den Menschen, die den winzigen Spielkram für zerstörerische
Kinderhände mit so viel ernsthafter und herzlicher Hingabe erfinden
und anfertigen, ob nicht in diesen Menschen ganz innen ein Kindersinn
arglos wachgeblieben sein muß, unzerstörbar für den groben Zugriff des
Lebens.

       *       *       *       *       *

Ein Figurenschnitzer, den wir besuchten, war noch dabei, seine
Weihnachtskrippe aufzubauen. Unter seinen Händen entstand aus
Moos und Baumrinde die palästinische Landschaft mit dem Stall
zu Bethlehem. Aus dem Moose wuchsen schon Palmen auf schlanken
Kokosfaserstämmen. Der Schnitzer breitete vor uns die Figuren der
Geburt im Stall, der Darstellung im Tempel, der Flucht nach Ägypten
und des bethlehemitischen Kindermordes aus. Er hat sie alle selbst
geschnitzt, und jede Figur ist ein kleines künstlerisches Werk: Maria
an der Krippe und Maria auf dem Esel, Herodes in der Pracht eines
Kartenkönigs, römische Landsknechte in phantastischer Rüstung, Joseph
mit der Zimmermannsaxt und der grünen Schürze eines erzgebirgischen
Dorfstellmachers, Hirten mit ihren Schafen und die Weisen aus dem
Morgenlande, angetan mit aller Pracht, die ein armer, erzgebirgischer
Schnitzer erträumen kann.

Eine junge Frau in unsrer Wintergesellschaft streute lachend einige
leichte Frivolitäten über die frommen Figuren. Aber an dem alten
Schnitzer mit den Kinderaugen perlte das ab wie Wassertropfen an
weißem Gefieder. Und die junge Frau wollte im Ernst gar nicht spotten.
Sie nahm die winzige Krippe mit dem rührenden Strohbett in die Hand
und strich darüber hingebeugt mit einem Finger dem geschnitzten
Jesuskindlein liebkosend über das erbsengroße nackte Bäuchlein. Und der
alte, schimmelhaarige Schnitzer, an dessen blauer Schürze gekräuselte
Schnitzspäne hingen, und die junge Frau mit dem Kindlein zwischen den
Fingern sahen jetzt beinahe selber aus wie Joseph und Maria.

       *       *       *       *       *

Mittlerweile ist der Abend auf das weiße Dorf gesunken. Wir gehen über
knirschenden Schnee im gelben Fensterschein der kleinen Häuser. Die
Glocken rufen zur Christmette.

Das weiße Schneezelt des Daches der kleinen Kirche am Talhang ist in
der blauweißen Dämmerung verschwunden. Um den unsichtbar gewordenen
Turm über den weißen Dächern schwebt im Dämmerschein ein holder,
weihnachtlicher Zauber. Ein Kranz gelbschimmernder Laternen ist
angezündet worden, und eine einzelne Laterne hängt darüber in der Laube
des Turms wie ein friedlich warmer Stern.

Um ein verschneites Haus im Schneelicht kommt leise schaukelnd eine
bunte Laterne, eine zweite, eine dritte, eine vierte, fünfte, sechste
– ein ganzes wallendes, wandelndes Beet leuchtender Blumen schwebt
langsam über den Schnee auf uns zu. Laternen, in deren dunkle Gehäuse
Bilder eingeschnitten und mit durchscheinendem Buntpapier hinterlegt
sind. Grüne Tannen, rote springende Hirsche, erzgebirgische Häusel im
Schnee, Hirten unterm Stern, Maria an der Krippe, Schäfchen in grünen
Ranken und Glocken über weißen Hütten. Durch das Papier schimmern
die Kerzen im Innern der Laternen. Die Bilder glühen sanft wie die
bunten Fenster erleuchteter Kirchen in der Nacht. Sie ziehen an uns
vorüber, und unter den Laternen gehen Schüler der Spielwarenschule mit
angeleuchteten Gesichtern. Sie ziehen den Berg zur Kirche hinauf und
wir mit ihnen.

Die kleine Kirche ist gedrängt voll. Viele Kinder sind da. Jedes Kind
hat ein brennendes Licht mit einem flüssigen Tropfen vor sich auf das
Brett geklebt, auf dem sonst die Gesangbücher liegen. Wenn man vor den
Bänken steht, sieht man die brennenden Kerzen nicht, man sieht nur
die Kindergesichter im Licht, und nur in den Augen spiegeln sich die
Flammen als blanke Fünkchen.

Glitzernde Glasleuchter brennen, und um den Altar strahlen grüne
Weihnachtsbäume. Die Schüler mit ihren Laternen gruppieren sich
dort. Manche sind auf die Emporen gestiegen. Überall glühen die
Laternenbilder wie bunte Fensterchen.

Die Orgel füllt das kleine, runde Schiff mit feierlichem Brausen. Die
Gemeinde singt. Es ist ein Reis entsprungen aus einer Wurzel zart ...

Die angeleuchteten Kindergesichter füllen das Schiff und die Emporen
wie eine zarte Wolke. Sie sehen wie singende, schwebende sixtinische
Engelsköpfe aus, und manch eine helle Mädelhaarschleife wird zum
leichten Flügelpaar. Der Atem der Singenden geht über die vielen
Lichter hin, die Flammen wehen und neigen sich dem Altar zu wie
leuchtende Blumen einer himmlischen Wiese. Aus dem Leuchten schwebt
das Lied über die dunklen Wogen der Orgel hin: Das Blümlein, das ich
meine, das duftet uns so süß, mit seinem hellen Scheine vertreibts die
Finsternis ...

       *       *       *       *       *

Das Dorf liegt still und weiß zu Füßen der singenden Kirche. Die
beschneiten Dächer verschwinden im Schneelicht der sternenklaren Nacht.
Man sieht nur die schwarzen Schindelgiebel mit den eingeschnittenen
gelben Fenstern wie Zelte im Schnee stehen. Darüber schwebt der
Laternenkranz der unsichtbaren Kirche wie ein magisches Zeichen
des Friedens in der blauen Nacht. In mancher der Stuben hinter
weißen Rollvorhängen duften um diese Stunde die neun Gerichte, das
bedeutungsvolle »Neunerlei« des Heiligen Abends, Hagebuttensuppe,
Kartoffelsalat, Würstchen mit Sauerkraut, Gänsebraten und andere
Gerichte in überlieferter Folge in Töpfen und Pfannen, die das ganze
Jahr über nicht einmal so reich beschickt in den Ofen geschoben
werden wie zu Weihnachten. Das winterliche Fest ist die hohe Zeit
dieser Dörfer, in denen der Weihnachtsmann der Kinder seine rastlos
arbeitenden und nur zu Weihnachten einmal tagelang ruhenden Werkstätten
hat.

       *       *       *       *       *

Das Dorf liegt hinter uns. Wir stapfen durch tiefen Schnee aufwärts.
Von der Höhe kommt uns ein Schlitten entgegen. Von weitem sieht man
nur ein wandelndes Licht. Dann, als der Schlitten nahe ist, wächst das
Pferd schattenhaft und groß vor der Laterne auf. Unter den Hufen stiebt
der beleuchtete Schnee wie ein gelber wallender Teppich.

Knirschend und klingelnd zieht der Schlitten im Schritt an uns vorüber.
Aus Ferne und Dunkel weht noch ein Weilchen das gedämpfte Klingeln der
Schellen über die weichen Betten des nächtlichen Schnees, klingt noch
einmal wie ein Klang der silbernen Sterne und verstummt.

Das Tal unter uns schwebt in weißem Scheine. Wald zieht wie blasser
Wolkenrauch drüben hoch. Jenseits schimmern die verstreuten Lichter
von Oberseiffenbach, flimmernde gelbe Sternchen im Schnee unter den
funkelnden Silbersternen der kalten, klaren Winternacht.

Eine alleinstehende Hütte schiebt sich vor uns hinter einer Schneewehe
auf. Das verschneite Dach liegt wie eine weiche Decke über dem
schwarzen Giebel. Eine hohe, kahle Lärche steht am verschneiten Zaun.
Das feine Gezweig ist wie nur geträumt an den nachtblauen Himmel
gezeichnet. Genau über dem Dache, tief am sonst sternelosen Horizont,
leuchtet der Abendstern, in der klaren Luft unwahrscheinlich vergrößert
und mit kristallischen Strahlen blitzend.

Aus den kleinen Fenstern fällt gelber Schein in den Schnee. Er zeichnet
den Schatten des Zaunes auf das weiße Feld. In der Stube, von großen
Schatten umhangen, sitzen Menschen um den Tisch. Der Kopf des Mannes
verdeckt die Lampe. Man sieht nicht, daß die Menschen miteinander
sprechen. Sie sitzen auch nicht beim Mahle. Schweigend umgeben sie das
Leuchtende in ihrer Mitte, das ihre Gesichter hell macht und das Haar
um den Kopf des Mannes in einen Schein verwandelt. Unwillkürlich sieht
man nach dem blitzenden Abendstern, der wie ein strengerer Stern von
Bethlehem über dem weißen Dache steht – um diese armen Hütten in Schnee
und Nacht und weißer Einsamkeit ist es immer, als könnte sich zu dieser
Stunde ein Weihnachtsmärchen in ihnen begeben, als müßte man leise über
den lautlosen Schnee von dannen gehen.

Und dann umgibt uns die blanke, schweigende Nacht. Die weißen Flächen
steigen im Ungewissen in den Himmel. Die Zwinge des Stocks knirscht im
Schnee. Es klingt wie das leise, erstickte Klagen eines irrenden Vogels
in der raumlosen Nacht.

Vor uns steht weiß und geheimnisvoll verhangen der Wald, hinter dem
das gelbe Fenster des Gasthofes wie ein Zuschlupf in die Wärme eines
knisternden Herdfeuers blinkt.

Klein und still und froh unter den hohen Wundern der weißen
Weihe-Nacht, von der Kälte umsungen, stapfen wir darauf zu.



In der Landesgemeinde

Von _Albert Ficker_


Wieder wandere ich durch das vogtländische Gebirgstal, dessen Schönheit
und Weltabgeschiedenheit einen ganz besonderen Reiz auf meine Seele
ausübt.

[Illustration: Abb. 1 =Erlbach i. Vogtl.= Stück am vorderen Teich
(Phot. Franz Landgraf, Zwickau i. Sa.)]

Nordöstlich vom Luftkurort Erlbach windet sich von der
tschechisch-slowakischen Grenze her der erlenbegleitete Schwarzbach
durch grünende Wiesen. Bergwände schieben sich ineinander. Lehnan
kleben vogtländische Holzhäuschen des Ortsteils Kegel. Am Fensterkreuz
fast jeder Wohnung hängt ein halbrunder Vogelkäfig, in dem der
blutrotbrüstige Kreuzschnabel turnt. Nicht nur seine Singe- und
Kletterkunst, sondern auch der Aberglaube macht den Vogel zum Liebling
des Volkes. Auch Julius Mosen, der Dichter des Vogtlandes, hat daher
den Kreuzschnabel in seinen Gedichten gern besungen.

Die ebereschengesäumte Straße führt an der Tannmühle vorüber. Ein
Leipziger Wohltäter stiftete sie und die schmucken Baracken als
Ferienheim für erholungsbedürftige Leipziger Schulkinder. Hier kann
sich Lunge und Herz in frischer, reiner Waldluft gesund baden.

Landesgemeinde nennt sich das Tal.

Am vorderen Floßteich steige ich empor und wandere auf halber Höhe
durch den Bergwald mit seinen ergreisten Fichten und altersgrauen
Buchen.

Drunten im Tale herrschte einst zur Schneeschmelze und im Herbste reges
Leben. Holzflößer waren tätig. Sie flößten auf dem Wasser die gefällten
Klötzer zur weißen Elster.

Bis vor zwei Jahren war aus jenen Tagen nur der vordere Floßteich
übriggeblieben. Von dem mächtigeren hinteren Floßteich jedoch zeugte
nur noch ein breiter Damm, über welchen der Weg nach Klingental führt.
Über den einstigen Teichgrund teppichte saftiges Wiesengras.

Vielen Bemühungen der vogtländischen Gebirgsvereine und der
tatkräftigen Förderung des Herrn Forstmeisters Müller in Erlbach gelang
es, den hinteren Floßteich wieder zu schaffen.

[Illustration: Abb. 2 =Erlbach i. Vogtl.= Floßteich im Landesgemeindetal

(Phot. Franz Landgraf, Zwickau i. Sa.)]

Endlich liegt er vor mir in der Tiefe, der kleine Gebirgssee, der wohl
weit und breit in seiner landschaftlichen Schönheit seinesgleichen
sucht.

Märchenhaft, am Ende des Landesgemeindetales, in einem Bergkessel
kräuselt sich im leichten Winde die glänzende Wasserfläche.
Ausgedehnte Fichtenwälder schauen neugierig hinein und wachsen im
Spiegelbild schier unergründlich in die Tiefe. Kein Menschenlaut,
kein Hupenton stört die Gottesweihe, die über den Wipfeln liegt, und
aus entschwundenen Tagen tauchen Sagen und Erzählungen empor, deren
Gestalten um diesen Bergsee geistern.

Ich träume hinein in die Zeiten, und suche dort die geschäftigen
Flößer!

Herbstzeit! Monatelang ist das Wasser gestaut worden. Jetzt gilts! Der
Zapfen wird gezogen.

Aus dem Munde des Teiches drängt eine Wassermenge mit ungeheurer
Wucht hervor, stößt auf getürmte Holzhaufen und schießt in haushoher
Wassersäule empor.

Wie ein wildjauchzender Aufschrei langgebannter Freiheit, die mit
ungestümer Macht den Weg zum Lichte gefunden, springt das Wasser empor,
zerstäubt und bricht weißschäumend wieder zusammen.

[Illustration: Abb. 3 =Erlbach i. Vogtl.= Tannenmühle (Phot. Franz
Landgraf, Zwickau i. Sa.)]

Die gewaltsam nachdrängenden Massen tosen, gurgeln, umtoben die
Holzscheite und suchen sich Bahn. In wenigen Minuten gleicht das kleine
Rinnsal einem wildreißenden Strome.

Der Holzstoß gerät in Bewegung. Von Minute zu Minute löst sich Scheit
um Scheit, und die Flößer weisen mit ihren Floßhaken den Hölzern die
rechte Bahn ...

Ein Büchsenschuß aus dem wildreichen Waldrevier reißt mich aus meinem
Sinnen. Und ich wandre heimwärts in der Abendkühle. Das rauschende
Wasser singt mir die Wandermelodie, und über die Wipfel gleitet sacht
ein letztes purpurnes Leuchten.



Die Birkgutlinde

Von _Kurt Nierich_, Kötzschenbroda


Von dem großen, gewerbfleißigen Dorfe Oberneukirch in der Lausitz
steigt die Landstraße über Ringenhain hinauf nach Steinigtwolmsdorf,
von wo aus sie als eine echte Paßstraße sich durch den Ort Hielgersdorf
nach Böhmen senkt. Wenn man die ersten Häuser von Steinigtwolmsdorf
erreicht hat, liegt an dem Hange, der das Tal gegen den Ostwind
schützt, das Birkgut. An dem Bauernhof wäre nun nichts besonderes –
es ist ein Haus im echten Lausitzer Stil, das Erdgeschoß aus Holz mit
den charakteristischen »Umbindern«, den Bogen, die zur Winterszeit mit
dem klar gehackten Holzvorrat vollgesetzt werden und so, teils als
Schutzwände gegen die Winterkälte, teils als Holzmagazin das große
Zimmer doppelt warm halten.

[Illustration: Abb. 1 =Die Birkgutlinde= bei Oberneukirch (Phot. K.
Nierich)]

Der Schmuck des Birkgutes aber ist die alte, mächtige Linde, die
davorsteht. Es ist einer der ältesten und gewaltigsten Bäume der ganzen
Lausitz, der bei seinem Alter auch die prachtvolle Schönheit als
Baumform bewahrt hat, wie man sie in dieser Vollkommenheit wohl selten
finden wird. Wie riesige Arme breiten sich die Äste aus, als wollten
sie Garten, Wiese und auch die fernen Felder des Birkgutes segnen. Und
hoch, gewaltig über den First von Wohnhaus und Scheune erhebt sich der
Linde Wipfel in die leuchtende Sonne, zugleich der beste Blitzableiter,
wenn die schwarzen Wetterwolken über die Höhe des Valtenberges gewälzt
kommen. Treten wir ein in den Schatten des Riesenbaumes! Wie ein
Kinderspielzeug steht der große Erntewagen des Birkgutbauern darunter
und Kinder, die im Lindenschatten spielten, erscheinen wie Zwerge,
die eben erst aus dem Geflecht der mächtigen Wurzeln entstiegen. In
den gewaltigen Stamm ist eine uralte Steinbank hineingewachsen, der
Baum hält sie fest. Wieviel Liebesworte mögen auf dem Steinsitz unterm
Lindenbaum geflüstert worden sein – wie wenig gehalten und erfüllt!
Oh, wenn der Baumriese erzählen könnte! Sah er wohl gar Verbrechen
unter seinen dichten Zweigen? Sicher aber sah er frohen Tanz, sah
jugendfrische Gesichter junger Burschen und Mädels, die noch nichts
von der schlechten heißen Luft des Tanzsaals wußten, die Korsett und
Stöckelschuhe noch nicht kannten, sondern dort tanzten, wo der Tanz
hingehört, hinaus in die Natur auf den Teppich grüner Wiesen oder unter
schattige Bäume.

[Illustration: Abb. 2 =Die Birkgutlinde= bei Oberneukirch (Phot. K.
Nierich)]

Von der Lindenbank hat man eine weite Aussicht über das ganze Tal
bis zu den fernen Feldern der jenseitigen Hänge. Gewiß sah der alte
Baum auch den Rat ernster Männer, hier wurde Ting gehalten, Recht
gesprochen nach uralten ungeschriebenen Gesetzen, die eben darum den
Leuten heiliger und ehrbarer waren. Der Raum, den die Zweige der Linde
überschatten in weitem Rund ist so groß, daß sich darunter eine ganze
Gemeinde, sie kann schon ziemlich zahlreich sein – versammeln könnte.
Wie oft mag wohl unter ihm fahrendes Volk gewohnt, genächtigt haben? So
ist das Leben in seinem bunten Wechselspiel in so mannigfacher Gestalt
zu Gaste gewesen unter der Birkgutlinde: Liebe und Glück, Recht und
Gesetz, Rat und Tat, Armut und Mangel, Not und Unglück, alles sah der
mächtige Lindenbaum!

Noch steht er frisch und stark, ein Wahrzeichen des ganzen Tales und in
seinen Ästen wohnen lustige Vögel, singen und schwatzen. Möge der Riese
noch lange stehen und zur Sommerzeit seine süßen Düfte wie Segen in das
Tal hinabsenden. Mir aber fallen Baumbachs Worte ein, die er von einer
alten Linde singt:

    »Zehn Bären mit ihren Pranken
    umspannen die Linde kaum!
    Sie stand als Wacht der Marken
    schon manches liebe Jahr,
    als Asathor, dem Starken,
    rauchte der Steinaltar.
    Noch ladet tausend Immen
    der Baum zum Sonnwendfest,
    und süße Vogelstimmen
    tönen in seinem Geäst.
    Die Erdmännlein, die braunen,
    pflegen ihn dienstbereit,
    und seine Zweige raunen
    Mären aus alter Zeit!«



Die Jagd auf den Eisvogel

Von _Paul Bernhardt_, Dresden


Welch wunderbarer Anblick, wenn der farbenprächtige Eisvogel wie ein
gleißender Funken über die vom Schnee umrahmte schwarze Wasserfläche
dahinschießt, bald grüne oder blaue Strahlen aussendend! Da packt es
den Kamerajäger und alles versucht er, diesen lebenden Edelstein im
Bilde festzuhalten. Vielleicht führt die Pirsch zum Ziele. Es gelingt
mir, den mürrischen Einzelgänger am Hochsitz zu belauschen. Den Kopf
tief eingezogen, sitzt er einem Kobold gleich auf dem überhängenden
Ast. Er ist ganz bei der Sache; all sein Sinnen ist aufs Wasser vor
ihm gerichtet. Und doch entgeht ihm nichts, ich darf mich nicht
bewegen. Plötzlich verschwindet er in den klaren Fluten und erscheint
mit einem Fischchen im Schnabel am selben Platze. Nun die drolligen
Schlingbewegungen. So einfach ist die Mahlzeit nicht, denn die
fingerlange Beute muß ganz verschlungen werden. Er wendet sie hin und
her, bis die geeignete Lage gefunden und dann verschwindet das oft
noch zappelnde Fischchen mit dem Kopf zuerst im Schnabel des Vogels.
Bei dieser anstrengenden Arbeit vergißt der Eisvogel alles um sich
her. Ich nütze die Gelegenheit, springe bis auf drei Meter vor, den
Apparat schußbereit. – Doch zu täppisch war die Jagd. Der Eisvogel
ist schon lange wieder bei Sinnen und fliegt mit lautem »tit tit« ab.
Die Pirsch war zwar interessant, aber von vornherein erfolglos. Man
versucht aber alles und fällt immer wieder rein. Nicht der Pirschgang,
sondern die Jagd am Anstand führt bestimmt zum Ziel und liefert die
ersehnte Aufnahme. Doch sie ist nur am Brutplatz möglich und bis jetzt
habe ich im Gebiet trotz eifrigem Suchen noch kein Brutpaar feststellen
können. Immer waren es nur Durchzügler, die im Herbste fischten. Nur
einmal begegnete ich einem Eisvogel während der Brutzeit. Es konnte ein
Einzelgänger sein. Und trotzdem behauptet der alte Teichwart von B.
steif und fest, er habe dort und dort den »Wasserstar« ganz bestimmt
im vorigen Mai die flüggen Jungen füttern sehen. Nur über das Nest
sei er sich nicht im klaren. Im Busche oder auf einem Baume könne es
nicht sein; vielleicht brüte er aber im Abflußkanal des Teiches, denn
dort sei er öfters herausgekommen. Mein alter Freund verstieg sich in
seiner Vermutung wenigstens nicht soweit, wie jener Fischer meiner
Heimat, der mir erklärte, der Eisvogel müsse unter Wasser brüten. Er
habe ihn oft tauchen und nicht wieder herauskommen sehen. Im Interesse
des Naturschutzes stimmte ich damals seinen Ausführungen zu. Er hat das
Nest jedenfalls nie gefunden. Doch mit meinem lieben Teichwart wollte
ich nicht so schnöde handeln, wenn er auch oft mitleidig seinen grauen
Kopf über meine ...geduld schüttelte. Ihm war ich dankbar.

Mitte April 1923 durchforsche ich die Gegend von »dort und dort«
gründlich nach einer Eisvogelhöhle, krieche unter großen Mühen in den
genannten Abflußkanal, lasse keine Erdwand ununtersucht – aber die
Nisthöhle bleibt verborgen. Auch läßt nichts auf die Anwesenheit der
Vögel schließen. Doch – dort! Der Felsvorsprung am Teichrand ist arg
bekalkt – der Ansitz des kleinen Fischers. Nun führt mich mein Weg
weiter weg vom Wasser, hinein in den Busch. Was liegt da vor meinen
Füßen? Ich halte ein weißes, kugelförmiges Gebilde aus Fischgräten
in meiner Hand, das »Gewölle« des Eisvogels. Also bin ich doch an
der richtigen Stelle. Dort in der Kieswand einer engen Schlucht, die
das Wildwasser gerissen, befinden sich zwei Niströhren. Eine davon,
hundertachtzig Zentimeter über dem Erdboden, ist bestimmt befahren,
denn feucht fühlt sich der Sand an und ganz deutlich erkennt man
zwei Laufrinnen, die der hineinkriechende Vogel hinterläßt. Die
vorspringende Baumwurzel und der große Stein sind stark bekalkt.
Weitere »Gewölle« liegen umher. All das sagt mir, daß dort drinnen
in der Röhre der farbenprächtige Eisvogel sitzt und seinem stillen
Brutgeschäfte nachgeht. Groß ist meine Freude über die Entdeckung. Mein
alter Freund, der Teichwart, hat doch kein Latein gesprochen; er darf
von meinem guten Tabak kosten! Jetzt ist mir auch die Aufnahme sicher.

[Illustration: Abb. 1 =Eisvogel mit Beute im Schnabel= (Phot. Paul
Bernhardt, Dresden)]

Vorsichtig nähere ich mich in den nächsten Tagen dem Nistplatz und
lenke Holzfrauen, Kinder, Naturbummler und sonstige Eindringlinge
durch allerhand Manöver von meinem Kleinod ab. Ausgerechnet am 1. Mai
höre ich zum ersten Male das grillenähnliche Gezirpe der Jungen in der
Niströhre. Nun ist aller Zweifel ausgeschlossen. Jetzt müssen sich
auch die Alten beim Füttern zeigen, und die Aufnahme kann vorbereitet
werden. Der »bekalkte« Stein ist günstig für mein Unternehmen; ihn
nimmt der Vogel an, ehe er zur Röhre fliegt. Er wird deshalb in eine
passende Lage gerückt. Ich gehe in Deckung und beobachte mit dem Glase.
Ein lautes Pfeifen ertönt, etwas Blauschimmerndes saust durch die
Schlucht und der schönste Eisvogel sitzt mit Beute im Schnabel auf dem
Stein. Von hier aus fliegt er zur Nisthöhle. Mein Versuch ist gelungen.
Morgen werden die weiteren Vorbereitungen fortgesetzt. Hacke und Spaten
werfen in der Kieswand eine Höhle aus, so groß, daß meine Kamera und
ich, allerdings nur in Hockstellung, gerade Platz darin finden. Achtzig
Zentimeter davon liegt der erwähnte Stein im hellsten Sonnenlichte. Ich
muß mich bei meiner Arbeit beeilen, denn schon melden sich die Alten.
Auf keinen Fall darf mein Eingriff sie vergrämen. Doch übelnehmisch
ist der Eisvogel nicht, ich kenne ihn von früher. Schnell wird die
Höhle mit Reisig zugedeckt. Ein großer Buchenzweig muß noch zur Seite
gebunden werden, denn sein Schatten fällt auf den Stein. Mit Freude
stelle ich aus weiter Entfernung fest, daß der Vogel füttert. Er hat
sich nicht stören lassen. Heute wird die Aufnahme noch nicht gemacht.
Ich lasse mir Zeit. Überstürzung schadet der Sache.

[Illustration: Abb. 2 =Junge Eisvögel= (Phot. Paul Bernhardt, Dresden)]

An einem schönen, sonnigen Maienmorgen ziehe ich voller Hoffnung hinaus
ins Jagdgebiet. Die Kamera und den bewährten Lodenhut im Rucksack. Wird
mir Weidmannsheil beschieden sein? Der befreundete Forstmann begleitet
mich; auch er hat Sinn für diese unblutige Jagd. Am Brutplatz ist
alles noch in schönster Ordnung. Die Jungen rufen nach Futter. Der
Apparat wird schußfertig gemacht. Schnell bin ich mit der Kamera in der
gegrabenen Höhle »verstaut«. Der Förster gibt sich die größte Mühe, mit
Reisig alles gut zu verblenden. Das kennt er ja von der Birkhahnbalz.
Bald verschwindet er und wünscht mir »Hals- und Beinbruch!«

Ich sitze in meinem Loch und warte der Dinge, die da kommen sollen, den
Blick immer auf den Stein vor mir gerichtet. Zehn Minuten vergehen,
zwanzig Minuten – noch meldet sich kein Eisvogel, wohl aber mein linkes
Bein, das gern in eine andere Lage möchte. Ich tue ihm den Gefallen,
doch da löst sich durch den Gegendruck eine Sandschicht an der Decke.
Wenn auch mein Lodenhut den größten Teil abhält, so kann er doch nicht
vermeiden, daß ziemlich viel Sand meinen Rücken herunterrieselt. Die
Sache fängt an ungemütlich zu werden. Auch den jungen Eisvögeln scheint
das längere Ausbleiben der Alten nicht zu behagen; ihr Gezirpe wird
laut und deutlich. Ich stelle trotz meiner nicht gerade glücklichen
Lage fest, daß einer mit sehr tiefer Stimme darunter ist. »Tit – tit«!
Das war der Alte. Jetzt größte Ruhe. Ausgerechnet gerade da machen sich
einige Mücken bemerkbar, die der Förster vergessen hat herauszujagen.
Doch alle Mißhelligkeiten sind vergessen. Ganz dicht vor mir sitzt der
in allen Farben schimmernde Eisvogel! Fast kann ich ihn greifen. Dieses
wunderbare Saphirblau – die zinnoberroten Füße, der silberglänzende
Fisch im Schnabel. Ich weiß nicht, ob mir der Leser dieses innere
Erleben nachfühlen kann. Mutter Natur spricht wieder einmal unmittelbar
zu mir. Ganz ergriffen sitze ich und staune und vergesse ganz den Zweck
meines Hierseins. Die Kamera erinnert mich daran. Der Vogel sitzt noch
fest, bewegt aber den Kopf hin und her. Ich schnalze mit der Zunge.
Er horcht und spannt. Der Verschluß wird gelöst, und die Platte ist
belichtet. Mit lautem Pfiff fliegt der Eisvogel ab. Ich verlasse rasch
meine Marterhöhle und den Brutplatz, um die Vögel nicht länger zu
stören. Am Himmel türmt sich ein Gewitter auf; schnell führt mich mein
Rad der Großstadt zu. Voller Erwartung entwickle ich die Platte. Bald
zeigt es sich: die Aufnahme ist gelungen! (Siehe Bild 1.)

Noch öfter war ich draußen, sah dem Treiben dieser prächtigen Vögel
zu, überraschte die Kleinen beim Ausflug (Bild 2), besah mir ihre
Kinderstube aufs genaueste und staunte nicht schlecht, als nach
vierzehn Tagen die Alten sich anschickten, in der zweiten Nisthöhle
wiederum fünf bis sechs jungen Eisvögeln das Leben zu geben. Im Juni
rufen auch dort hungrige Kinder nach Nahrung. Ein »Brummer« ist aber
nicht wieder unter ihnen.

Sollte es wirklich Menschen geben, die da sagen, der Eisvogel sei zu
verfolgen, weil er der Fischerei schadet? Diesen Krämerseelen zur
Beruhigung: Keine Schleie, keinen Karpfen, keine Forelle brachte mein
Eisvogelpaar, immer waren es wertlose Fischchen. Dafür bürge ich. Gönnt
ihm diese und beraubt nicht den Waldbach seines schönsten Schmuckes!

[Illustration]



Eiszeitliche Gletscherschrammen beim Teufelsstein
(Pließkowitz-Oberlausitz)

Von ~Dr.~ _Hans Stübler_, Bautzen


Schon früher einmal konnte ich die Leser der Mitteilungen des
Sächsischen Heimatschutzes zu einem geologischen Naturdenkmal unsrer
Lausitz in dieser Gegend führen, zu dem Quarzriff der _Zschemelschka_
bei Doberschütz, die nun durch das Entgegenkommen der beiden Besitzer
durch eine Tafel des Heimatschutzes als solches gekennzeichnet und
geschützt ist. Ich wandre gern in dieses Gebiet hinaus mit seinen
rundlichen Granitbuckeln, die aus der eiszeitlichen Schuttdecke dort
herausgucken und meistens noch eine Waldhaube tragen, wie z. B. die
bekannten _Kreckwitzer Höhen_, die auch in den Kämpfen vom Mai 1813
eine Rolle gespielt haben. Manche freilich sind ganz entblößt und der
Steinbruchsbetrieb hat sie angenagt. So wird z. B. der »feinkörnige,
aber durch große klumpige Mikroklineinsprenglinge porphyrische
Schwarzglimmergranit von Doberschütz (~Gt~φ₁)«, wahrscheinlich »ein
kleiner stockförmiger Nachschub in der großen Lausitzer Granitmasse«[3]
wegen seiner Härte dort gebrochen, ganz in der Nähe des »Lausitzer
Pfahls«, von dem die Zschemelschka ein herausgewitterter riffartiger
Rest ist.

Auch beim _Teufelsstein_, östlich davon gegen Preititz zu, sind
in einem grobkörnigeren, porphyrischen Lausitzer Granit, (~Gt~π)
der von zahlreichen Nordwest-Südost streichenden Grünsteinbändern
durchschwärmt ist, einige alte Brüche vorhanden. Wir aber gehen heute
zuerst nach dem rechts der Verbindungsstraße Pließkowitz–Kleinbautzen
gelegenen, auf dem Blatt Baruth–Neudorf der Geologischen Spezialkarte
des Freistaates Sachsen mit »Bauers Berg« bezeichneten Rundhöcker des
~Gt~φ₁. Dort liegt ein Flankenbruch, an dessen östlichem Rande letzthin
ein etwa neun Quadratmeter großes Stück zur Erweiterung des Bruches
frisch abgedeckt worden ist. Die dünne Schuttkrume aus Lößlehm, vom
Besenstrauch (~Sarothamnus scoparius (L.) Wimm.~) und zahlreichen
Brombeerbüschen durchwuchert, ist zur Seite geworfen worden und
darunter sind an den Kanten der Granitbänke sehr deutliche, fingertiefe
Schrammen zu sehen, wie sie unsre Abbildung, von Herrn Studienrat
Kaubisch in Bautzen trefflich aufgenommen, zeigt. Sie verlaufen hier,
an der Nordseite des Granitbuckels, der Stoßseite der Eisströme der
Diluvialzeit, gelegen, alle gleisig etwa Nord 15° Ost bis Süd 15° West.
Das stimmt sehr gut mit der Richtung der vom verstorbenen Prof. ~Dr.~
Beyer, Dresden-Plauen, bei Demitz einst entdeckten Glazial_schliffe_
überein, die mit Nord 18 bis 20° Ost bis Süd 18 bis 20° West bestimmt
wurden, nur daß es sich _hier_ nicht um blank geschliffene harte
aplitische Adern im Granit, sondern um ziemlich tief von den im
Eisstrom mitgeführten, harten nordischen Geschieben in den Granitit des
Rundhöckers eingegrabene Schrammen handelt. Durch dieses am zweiten
September 1923 auf einer Wanderung von mir aufgefundene Zeugnis
des Eisschubs längst vergangener Tage ist die bucklige Landschaft
zwischen Kreckwitz–Doberschütz–Pließkowitz–Preititz–Kleinbautzen als
eine _eiszeitliche Rundhöckerlandschaft_ von ausgeprägter Eigenart im
Vorgelände unsrer Lausitzer Granitberge erwiesen. Sie kann sich mit der
von Kamenz im Spittelforst und bei Jesau, die Beyer mit dem Anblick
einer skandinavischen Schärenlandschaft verglich, mit der zwischen
Jauer und Wendisch-Baselitz, zwischen Schmeckwitz und Krostwitz, bei
Maltitz, Loga und Luppa durchaus messen; ja sie hat vor ihnen vieles
voraus. Vor allem kann hier nun der Beweis der Bildung durch die
darüber hingleitenden Eismassen dem Wandrer vor Augen geführt werden,
solange nicht der Steinbruchsbetrieb oder die Wettereinflüsse, denen
der bloßgelegte Teil nun ausgesetzt ist, das Schrammenfeld beseitigen.

[Illustration: Abb. 1 =Der Teufelsstein= bei Pließkowitz (Oberlausitz)
Aufnahme von Berta Zillessen, Bautzen]

Ein zweites aber ist die reizvolle Umgebung dieses geologischen
Naturdenkmals. Wir wandern nun hinüber zum _Teufelsstein_. Mitten aus
den im Mai-Juni schwefelgelbleuchtenden Besenstrauchbüschen ragt er
wie ein riesiges Hünenbett auf. Sein Name deutet schon darauf hin, daß
die sonderbare Felsbildung wohl schon in vorwendischer Zeit kultischen
Zwecken gedient haben mag; denn als das Christentum seinen Einzug in
diese Gegend hielt, verkehrte es die alten Götternamen der »Heidenzeit«
hier wie anderswo regelmäßig mit folgerichtigem Abscheu in den des
Teufels. Und erklettern wir die großen, gewaltigen Blöcke, so erkennen
wir, daß hier auch _gewaltsame_ Zerstörung das alte »Heidenmal«
vernichten wollte. Die große Deckplatte ist mit Hebeln offenbar zur
Seite gedrückt und gewaltsam zerbrochen worden, aber es ist nicht
gelungen, die beiden ovalen, bestimmt künstlich hergestellten, etwa
waschschüsselgroßen Becken im Granit ganz zu beseitigen, wie sie uns
z. B. von den Deckplatten der Gräber aus der Steinzeit, den »Dösen«
von Bohuslän in Westergötland, beschrieben werden. Vielleicht deuten
auch einige eingemeißelte kleine Kreuze auf der Oberfläche darauf hin,
daß hier einem alten »Heidenteufel« sein Heiligtum gründlich verekelt
werden sollte, daß er dem neuen gewaltigen Christengott für immer
weichen mußte.

[Illustration:

    Nord      Süd

=Eiszeitliche Gletscherschrammen auf dem Granit= (~Gt~φ₁) =eines
Rundhöckers beim Teufelsstein= (Pließkowitz, Oberlausitz)

Aufnahme von Studienrat Oskar Kaubisch, Bautzen]

Das Volk erzählt sich freilich, daß der Teufel jene mächtigen
Granitblöcke vom Czorneboh her, der im Süden herüberblaut und an
dessen Flanken ja wirklich ein gewaltiges granitisches Blockmeer
lagert, hierhin geschleudert habe. Er wollte, voller Wut über den Bau
des freundlichen Kirchleins von Malschwitz, das von Norden mit seinem
weißen Turm aus der seenreiche Aue der Spree herübergrüßt, das ihm
unbequeme neue Heiligtum zertrümmern! Aber seine Kraft reichte nicht
mehr aus, die Riesengeschosse blieben _vor_ dem Ziele liegen – und
bilden nun den Teufelsstein bei Pließkowitz.

Wir aber halten – ohne Furcht vor dem gehörnten Gottseibeiuns – dort
oben friedliche Rundschau, steigen dann herab, gehen vorsichtig durch
die Besenstrauchwildnis; denn Hunderte von wilden Kaninchen haben den
Lößlehm hier durchwühlt und Fallöcher für unsern Fuß gebaut, wie an
all den andern »Rundhöckern« ringsum. »Kröck, kröck« – warnt ein Fasan
aus dem Brombeergeheck, als wir in südwestlicher Richtung, zum Teil
auf Rainen, durch die Rundhöckerlandschaft mit ihren kleinen Wäldchen
Bautzen wieder zustreben – und Rehe treten aus und äsen auf den Feldern.

Bei Doberschütz erreichen wir die Straße. Hinter den letzten Häusern
zweigt ein Feldweg ab, der uns in eine Reihe von Kiesgruben führt. Dort
ist der nordische Moränenschutt der Eisströme noch sehr gut erhalten
und erschlossen, der jene Schrammen am Teufelsstein mitschaffen
half. Außer ziemlich großen Brocken unsers Lausitzer Granites und
der am Nordsaume des Granitmassivs noch heute restweise erhaltenen
Kieselschiefer, Quarzite und Konglomerate des alten Deckgebirges stoßen
wir auf große Blöcke rötlicher schwedischer Granite und Gneisgranite,
Porphyre, Quarzite, vor allem aber auf Feuersteine, in denen oft
Kieselschwämme und Seeigel (~Cidaris~) eingeschlossen sind.


Fußnoten:

    [3] Vgl. Martin Sommer, Beitrag zur petrochemischen
        Kenntnis des Lausitzer Granitmassivs. Berichte über
        die Verhandlungen der Kgl. Sächs. Gesellschaft der
        Wissenschaften zu Leipzig 1915 Bd. 1. S. 117 ff.

[Illustration]



Weihnachten im Landesmuseum für Sächsische Volkskunst

Von _O. Seyffert_


In der Weihnachtszeit hat unser Museum seine festlichen Tage. Die
langen Reihen seiner Fenster leuchten abends hell in den Schnee
hinein und wetteifern mit den Lichtern des nahen Zirkus. Dunkel,
fast unheimlich, liegt der große Steinkasten, das Finanzministerium,
ihm gegenüber. Und noch ein zweiter, ungewohnter Anblick wird der
staunenden Nachbarschaft zuteil. Aus den Feueressen des Jägerhofes
kringelt sich tagsüber blauer Rauch. Der wackere Heizer des Zirkus
hat auch hier seines Amtes gewaltet und versorgt emsig und mit sicht-
und fühlbarem Erfolge die zwei Gebäude, eine Bildungs- und eine
Vergnügungsstätte.

Tausende pilgern in diesen Tagen zum Landesmuseum. Das lohnt sich aber
auch.

Hier stehen überall geschmückte Weihnachtstannen, die aber eigentlich
Fichtenbäume sind. Im Erzgebirge, in den Pfaffrodaer Waldungen, ist
ihre Heimat. Ihr Christbaumschmuck ist durch öffentlichen Wettbewerb
gewonnen. Volksschulen, die Akademie für Kunstgewerbe, Männer und
Frauen haben daran teilgenommen. Wir wollen die Volkskunst nicht als
antiquarischen Begriff ansehen. Sie soll, mehr als bisher, wieder in
die Familien und überall hindringen und hier Glück schenken. Unser
alter Grundsatz ist: Ein Menschenkind, daß sich seine Feste selber
_schafft_, ist reich, und arm, ganz arm ist dasjenige, das sich alles
_kaufen_ muß. Wohl kann man sich Vergnügungen erkaufen, Feste aber,
die den inneren Menschen angehen, muß man sich selbst gestalten.
Weihnachten muß ein solcher Tag sein. Kein Volk auf der weiten Erde hat
es so zu einem Feste aller Feste emporwachsen lassen, wie das deutsche,
kein Volk empfindet es so heimatlich innerlich, wie das deutsche.
Freilich, viele glauben, mit einem Gänse- oder Hasenbraten, mit
»selbstgebackenen« Stollen ist eine würdige Feier gewährleistet. Wer
Geld hat, kann ja nach uraltem Gebrauch auch des Magens gedenken. War
doch bis in das Mittelalter es also zur Jahreswende üblich, begingen
doch auch unsre Vorfahren, die alten Germanen, in dieser Zeit ihre
reichlichen Gelage, die sie den Toten zu Ehren gaben.

Der lichterstrahlende Weihnachtsbaum ist der Mittelpunkt des
Christfestes geworden.

Er ist aber noch nicht alt – in Deutschland finden wir urkundlich
die ersten Nachrichten über ihn im siebzehnten Jahrhundert. Aber ist
die Sitte deshalb etwa weniger schön, weil sie nicht urgermanisch
ist, wie so viele denken? Kann nicht _jeder_ Tag etwas Wundersames
hervorbringen? Die Welt wäre ja entsetzlich arm, wenn dies nicht der
Fall wäre.

Nun ein Wort über unsre Ausstellung.

[Illustration: Abb. 1 =Selbstgefertigter Christbaumschmuck aus buntem
Glanzpapier=]

Da gab es einen Baum, über und über mit rotglühendem Schmucke besäet,
da hatten kleine Mädchen allerhand goldglitzernde Gebilde aus Papier
gezaubert, da waren Glöckchen und Rosetten aus bunten Hobelspänen,
die von einer Werkstatt erzählten. Dort leuchtete strahlend ein
Transparent, aus dem die dunkelgrüne Fichte wuchs. Dort hatten fleißige
Kinder viele kleine, grellfarbige Häuschen aus Glanzpapier verfertigt.
Das war echte, rechte Freude, das sah überaus lustig aus! Und wenn nach
dem Feste die Häuslein vom Baume genommen wurden, da konnte man mit
ihnen eine große Märchenstadt erbauen und darinnen spazieren gehen und
noch im Sommer von der schönen Weihnacht träumen. Aber noch buntere,
noch reichere Fröhlichkeit strahlte der große Baum im Volkstrachtenraum
aus. Den hatte ein Vater mit seinen artigen Kindern ersonnen. Hier war
ein ganzes Bilderbuch lebendig geworden. Goldne Glocken, allerhand
Getier, Kometen mit silbernem Schweif, Trompeten, Schaukelpferdchen,
Monde und Sterne – ich kann die vielen Dinge wahrlich nicht aufzählen
– hingen an den grünen Zweigen. An dieser Kinderherrlichkeit konnte
ich mich nicht satt sehen, es gab immer neue Überraschungen. An einem
andren Baume funkelten feierliche Sterne. Da dachte man, die seien
alle vom Himmel gefallen und just auf den Weihnachtsbaum. Und in der
Großschönauer Damastweberstube hatten sich weiße Schneeflocken und
Eisgebilde ein Stelldichein gegeben. Sie waren wohl erst unentschlossen
durch die Winternacht getaumelt und hatten sich dann auf dem Baum
herniedergelassen. Wer aber genauer hinsah, entdeckte, daß es allerhand
kunstreich zusammengelegte weiße Papiersterne waren.

[Illustration: Abb. 2 =Selbstgefertigter Christbaumschmuck aus Papier
und Hobelspänen=]

Und nun die Pfefferkuchen!

Auch sie waren besonders entworfen und mit süßem Zuckerguß versehen
worden. Als Gegenbeispiel wirkten die mit aufgeklebten Bilderzierat
versehenen. Ein Junge fragte: »Nicht wahr, beim Essen muß man das
Papier wieder ausspucken?« Ein besseres Urteil können wir auch nicht
abgeben. Kleine Krippen und allerhand Christbaumgebilde, von sinniger
Hand gemeistert, zeigten reiche Gestaltungsfreudigkeit.

Wir bringen in unsern Bilderbeilagen einige Proben. Vielleicht geben
sie Anlaß, daß zur nächsten Weihnacht fleißige Kinder sich regen werden
und vielleicht schickt uns dann der oder jener kleine Freund einige
Beispiele seiner Kunst. Es braucht wahrlich nicht etwas ganz Neues zu
sein. Weihnachten ist keine Messe, wo man immer nach den »neuesten
Schlagern« sucht.

Und zwischen den Bäumen erzählten Pyramiden von alten Sitten oder von
unserm Erzgebirge, wo sie jetzt noch heimisch sind.

Eine besondere Freude ward nun den vielen Besuchern zuteil, wenn
im Museum Weihnachts- und Volkslieder gesungen wurden, oder wenn
Heimatdichter von dem Reichtume der sächsischen Mundarten Kunde
gaben. Es ist unmöglich, hier aufzuzählen, wie viele liebe Helfer
und Helferinnen uns erfreut haben. Ein jeder Tag brachte neue Gaben.
Herzlichen Dank allen! Besonderen Dank Herrn Studienrat Richard
Bürckner, dem Nimmermüden. Am liebsten war es aber doch wohl den
Besuchern, wenn sie selber sangen. In einem Museum zu singen, ist
ebenso ehrenvoll wie genußreich. Das Lied vom Tannenbaum machte stets
den Anfang. Oben im ersten Stockwerk, unter der größten Tanne, die aber
eigentlich eine Fichte war, bildete der Sang vom Vugelbeerbaam den
Beschluß.

Ein jeder konnte, wenn sein Wunsch vom Museumsleiter gebilligt worden
war, mitwirken. Etwas verschenken, etwas geben, ist ja Weihnachtsbrauch.

Lustig ist folgendes Erlebnis.

Ein junger Mann frug mich schüchtern, ob er nicht vielleicht auf einer
im Museum ausgestellten Ziehharmonika einige Volksweisen spielen
könnte? »Aber ja, mein Freund, jeder volkskundliche Beitrag ist hier
willkommen.«

Fast hätte ich die Angelegenheit vergessen. Da hörte ich, in weiter
Ferne, die Klänge der »Orgel des kleinen Mannes« – – wie etwa an
Sommerabenden, wenn man durch reifende Felder wandert und ein leiser
Wind die Töne vom nächsten Dorfe herüberträgt. In dem oberen Stockwerke
des Museums drang aber besagtes Musizieren energischer an mein Ohr.
Ich forschte nach dem Urheber. Er hatte sich ungeeigneterweise in die
wendische Wöchnerinnenstube gesetzt und entlockte, als ich ankam,
soeben vor dem mit Bändern behangenen Himmelbette seinem Instrument den
Radetzkymarsch. Und ich weiß, Mutter und Kind wollten soeben schlafen.
Auf mein Zureden übte er seine Fertigkeit dann in der Weberstube aus,
und er erwarb sich dort meinen Dank und den vieler Zuhörer. Hier war er
am Platze.

Aber auch kurze Christspiele – ein Gymnasium führte ein solches sogar
mit Chorgesang und Orchester auf – wurden uns gegeben. Hier, ohne Bühne
und allen Beleuchtungskünsten, wirkten sie wie Offenbarungen.

Eines Abends war es. Wir alle hatten eben mit Hingebung das Lied »O
Tannenbaum« gesungen. Ich freute mich, daß die Anwesenden den Wortlaut
der drei Strophen auswendig konnten. Da kam ein kleines Mädel zu mir.
Ein Dreikäsehoch mit hellen Augen und steifem Zöpflein. »Wir möchten
auch ein ganz kleines Christspiel aufführen. Wir sind unsrer fünfe.
Fünf Minuten wirds dauern. Wo können wir uns denn umziehen?«

Die Mädchen trippelten mir nach, ich führte sie in mein Zimmer. Das
Umkleiden dauerte reichlich lange, ich glaube, ein Othello hätte
nicht mehr Zeit dazu gebraucht. Aber die Kinder hatten sich nicht
wie er geschminkt, hatten keine Perücken aufgesetzt und sich kein
flittriges Maskenzeug angezogen. Maria trug ein rotes Kopftüchlein,
ein Dirndelkleidchen und eine schneeweiße Schürze – die Mutter hatte
sie sorglich geplättet. – Der Joseph war ein ehrsamer Zimmermeister
mit langen Hosen. Sein breiter Schlapphut bedeckte ein liebes
Mädchengesicht.

Und die Englein.

Zweie hatten Hemdchen an, auf die goldne Sterne genäht waren. Das
dritte trug ein helles Sommerkleid. Auf den blonden, herabfallenden
Haaren blinkten Papierkronen.

[Illustration: Abb. 3 =Selbstgefertigter Pfefferkuchen als
Christbaumschmuck=]

Das Spiel, das vor dem Altar im Raume der Grabkreuze stattfand,
begann. Joseph und Maria wiegten das Christkindlein, das eine Puppe
mit gesunden, roten Backen war, in den Schlaf. Hell und rein klangen
die Stimmen. Sie sangen nicht nur das Kind, sondern sich selbst in den
Schlummer. Und da nahte auf den Zehenspitzen das erste Englein. Es
brachte dem Heiland Brot, eine Bemme, stark mit Margarine gestrichen.
Das zweite brachte dazu edlen Burgunderwein. Es hielt in seinem
Patschhändchen einen Eierbecher aus blankem Messing. Das letzte Englein
trug eine brennende Kerze, an der das heilige Kind in kalter Nacht sich
wärmen sollte. Alle dreie sangen andächtig ihre Sprüche, sie glaubten
wohl selber, daß sie Englein seien. Ich glaubte es.

Die Anwesenden waren gerührt ob der schlichten Gabe, die hier aus
reinen Herzen geschenkt wurde. Und manche faßten den Entschluß, in
kommender Weihnachtszeit ihre Kinder im eigenen Heim Ähnliches zu
lehren, ihnen und sich zum Glück.

Und nun zuletzt will ich noch ein Märchen, das ich erlebt habe,
erzählen.

Abends nach Schluß der Ausstellung ging ich oft nochmals durch die
Museumsräume, um mich zu überzeugen, ob die Lichter verlöscht seien.
Ich kam nach dem Raum, in dem der geschnitzte, buntbemalte kleine
Altar, Maria mit dem Christkind darstellend, steht. Ein schwacher,
letzter Lichtstrahl huschte noch über das wunderliebliche, süße Antlitz
der Madonna. Da war es, als ob mir jemand leise etwas zurief. Ich blieb
stehen. »Ich war es,« sagte die Maria, »ich will dir etwas sagen.«

»Du weißt, ich bin schon sehr, sehr alt.« »Ja, das ist wahr, du stammst
etwa aus dem Jahre 1420.« »Du kannst recht haben – nein, was so ein
Museumsdirektor nicht alles weiß! Zu der Zeit, als ich noch jung war,
lebten auf Erden viel weniger Menschen, als heute, und sie waren
ganz andrer Art. Ich finde mich oft nicht mehr zurecht.« »Da tröste
dich, Maria, mir geht es manchmal auch so.« »Eines war in jenen Tagen
wundersam schön, es gab noch einfache Menschen und noch nicht soviel
Kunst. Aber die es gab, die war blühende lebendige Volkskunst.«

»Ich stand in einer kleinen Dorfkirche einige Jahrhunderte lang. Eines
Tages wurde ich abgebaut. Nicht wahr, so sagt man doch heutzutage.«
»Ja, doch jetzt wartet man nicht jahrhundertelang, wie anno dazumal.«
»Dann kam ich auf den verstaubten Kirchenboden, wo viele, viele
Spinnweben mich sorgsam einhüllten. Dort habe ich das Träumen gelernt.
Seit zehn Jahren bin ich nun in deinem Museum. Die Spinnweben, die mir
treu geblieben sind, werden hier von sorgender Hand entfernt. Viele
Menschen gehen vorüber und werfen nur einen flüchtigen Blick auf mich.
Andre betrachten mich lange, lange sinnend und einige haben mich sogar
abkonterfeit. Da nahte die Weihnachtszeit und du hast mich mit deinen
Schülerinnen gar köstlich mit Reisigranken und silbernen und goldenen
Sternen geschmückt. Ich glaube, so festlich habe ich schon einmal vor
vielen Jahrhunderten ausgesehen. Nun aber erlebte ich das Schönste,
das Allerschönste in meinem Dasein. Jeden Tag kamen Männer, Frauen und
Kinder. Die sangen liebe Weihnachtslieder und liebe Volkslieder. Du
weißt, ich bin schon sehr alt. Ich stamme aus dem Jahre 1420. Aber das
war das Allerschönste, auf das ich mich besinnen kann.« Das Altarbild
schwieg, das Märchen war aus – –

Und wenn ich nicht gestorben bin, so lebe ich heute noch.



Das frühere Vorkommen von Auer- und Birkwild in Sachsen


Es ist eine bekannte Tatsache, daß unser Wildstand zurückgeht. Hiervon
sind auch unsre Waldhühner betroffen: Auer- und Birkhuhn, und zwar das
erstere in höherem Grad als das letztere. Nach der Zusammenstellung
_Heyders_ in seiner trefflichen ~Ornis Saxonica~ (Berlin, Deutsche
Ornithologische Gesellschaft), sind die Hauptreviere für ~Tetrao
urogallus L.~ Elster, das Zittauer Revier, Ober- und Unterwiesental,
Antonstal, Raschau, Johanngeorgenstadt, Wildental, Bockau, Reitzenhain,
Markersbach, Postelwitz, Mittelndorf. Die Fragekarten, die _Heyder_ an
die Forstämter versandte, sind leider nicht alle beantwortet worden
(von 71 sind 58 beantwortet). Man muß aber annehmen, daß keine Antwort
auf Nichtvorkommen deutet. In den Akten des Hauptstaatsarchivs finden
sich nun amtliche Umfragen aus dem Jahre 1727 über das Vorkommen von
Auer- und Birkwild aus verschiedenen Teilen Sachsens, die uns zeigen,
daß der Auerhahn sich einer viel größeren Verbreitung erfreute als
gegenwärtig. (Es sind auch Reviere der Preußischen Provinz Sachsen
aufgeführt.) Ebenso ist noch eine Aufzeichnung des Wildmeisters
_Puttrich_ aus 1758 über den Bestand der Dresdner Heide vorhanden, aus
der das teilweise Vorkommen beider Wildarten in unsrer Heide hervorgeht:

    =============+=============+=====================+==================
      Auerhuhn   |  Birkhuhn   |       Revier        | Revierverwalter
      ♁   |  ♀   |  ♁   |  ♀   |                     |
    ------+------+------+------+---------------------+------------------
      52  |  64  |  21  |  25  | Bärenfels           | v. Leubnitz
      20  |  30  |  23  |  35  | Schöneck            | v. Reibold
       9  |  18  |   1  |   2  | Grillenburg         | v. Schmertzing
      26  |  59  |  12  |  21  | Cunersdorf          | Körbitz
      13  |  41  |   1  |   2  | Liebenwerda         | Ende
      69  |  93  |  72  | 123  | Schlettau           | v. Beulwitz
       4  |   4  |   –  |   –  | Augustusburg        | v. Leubnitz
       6  |   5  |  17  |   7  | Altdresdner Heide   |
      10  |  12  |   –  |   –  | Lausnitz            | König
      12  |  24  |   7  |  10  | Dahlen              | Freiesleben

    In der Dresdner Heide war 1758 nach Wildmeister _Puttrich_
    vorhanden:

          14     |       –     | Fischhauser Revier  |
           6     |      16     | Bühlauer Revier     |
           4     |      14     | Ullersdorfer Revier |
           –     |       7     | Langebrücker Revier |

Ein Verzeichnis der Oberforst- und Wildmeisterei Bärenfels aus dem
Jahre 1735 gibt folgende Zahlen:

      I. Amt Altenberg   15 Auerhähne, 13 Hennen,  3 Birkhähne, 4 Hennen
     II. Amt Frauenstein  3     "       5   "      6     "      8   "
    III. Amt Lauenstein  10     "      23   "      –     "      –   "
     IV. Amt Wolkenstein 23     "      46   "     13     "     19   "

Andre interessante Notizen fanden sich in dem Verzeichnis der zu
Dresden-Friedrichstadt 1778 eingebrachten und versteuerten Viktualien;
es werden darin aufgeführt:

       64 Stück Auerhähne und Trappen
     1959 Stück Birkhühner und Fasanen
    12361 Stück Repphühner und »Schneppen«
     4031 Stück Ziemer
     1507 Mandeln Drosseln
     3733 Mandeln Lerchen
     7611 Mandeln »gemeine Vögel«

Im Churfürstlichen Proviant- und _Rauchhaus Dresden_ wurden 1669 zum
Räuchern oder Einsetzen u. a. eingeliefert:

4 Schwäne, 65 Auerwildbret, 751 Rebhühner, 20 »indianische Gänse«.

An drei Tagen des Februar 1741 wurden im _Großen Garten_ zu Dresden 700
Fasanen, am 4. Februar 1740 ebenda 500 Stück, am 18. Januar 1729 400
Fasanen erlegt. Der Große Garten diente eben damals mehr jagdlichen
Zwecken und hatte einen guten Fasanenstand.

            ~Dr.~ _Koepert_.



Zur Geschichte der Starmeste

Von _Martin Braeß_


Könnte man unter unsern Staren so eine Art Volkszählung vornehmen,
so würde sich herausstellen, daß die meisten durch die runde Öffnung
einer Starmeste oder sonst einer künstlichen Bruthöhle das Licht der
Welt erblickt haben. Wie kein andrer Vogel hat es ja gerade der Star
verstanden, dem Winke des Vogelfreundes zu folgen, der ihm im Gipfel
höherer Bäume, an der Giebelwand des Hauses, selbst auf schwankender
Stange im baumlosen Kraut- und Gemüsegarten die bekannten Brutkästen
aufhängt. Sie sind in den meisten Gegenden Deutschlands, zum Teil auch
in den angrenzenden Ländern, ein solch alltäglicher Anblick, daß wir
uns kaum vorstellen können, wie man vor verhältnismäßig kurzer Zeit
noch gar nicht daran dachte, Freund Star auf diese Weise an Hof und
Garten zu fesseln.

»Vergraben ist in ewige Nacht der Erfinder großer Name zu oft.«
Das gilt auch von dem Erbauer der ersten Starmeste. Im Altertum
oder Mittelalter wird er kaum gelebt haben; denn damals übte man
Vogelschutz in unserm heutigen Sinne so gut wie nicht, und der alte
_Geßner_ († 1565) erwähnt in seinem »Vogelbuch« auch nichts davon. Die
erste Bemerkung über Starmesten habe ich bei _Lehmann_ »Historischer
Schauplatz derer natürlichen Merckwürdigkeiten in dem Meißnischen
Ober-Ertzgebirge«, Leipzig 1699, gefunden, wo von den Staren erzählt
wird, daß sie »in hohlen Stöcken und Eichenen Büschlein, anderswo in
Häuslein auf den Bäumen« brüten. Weiter berichtet _J. Th. Klein_ in
seiner »Historie der Vögel«, Danzig 1760, wie man in Ostfriesland
an den »Kaminen« Verschläge für die Stare einrichtet, und Vater
_Bechstein_ erwähnt in seiner »Naturgeschichte der Stubenvögel«, Gotha
1795, daß die Landleute hölzerne Kästen oder auch tönerne Gefäße
den Staren an Bäume, unter Dächer und in Taubenschläge hängen. Mit
Vogelschutz hatte das aber nichts zu tun; im Gegenteil, man behandelte,
wie _Naumann_ in der »Naturgeschichte der Vögel Deutschlands«, Leipzig
1822, angibt, die Stare wie die Tauben; man nahm ihnen die Jungen,
wenn sie flügge waren, und verzehrte sie. Im Vogtlande war diese
Unsitte noch um die Mitte des vorigen Jahrhunderts recht verbreitet.
Auch die Starenkästen, die nach _Marshall_ die Bewohner in Astrachans
Umgebung gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts aufhängten, ebenso die
buntbemalten Nistkästen, die _Floericke_ in Transkaspien und Turkestan
auf hohen Stangen antraf, werden nur dazu gedient haben, die Jungvögel
dem Kochtopf oder der Bratpfanne auszuliefern.

Vielleicht war der erste, der mehr aus idealen Gründen Nisthöhlen
aufhing, d. h. um Staren und andern Höhlenbrütern Wohnungen in unsern
Gemüse- und Obstgärten zu bereiten, Pfarrer _Hofinger_. Wenigstens
empfahl ein von ihm im Jahre 1824 veröffentlichter Aufsatz allen
Garten- und Obstplantagebesitzern, in ihrem eigenen Interesse Stare und
andre Kleinvögel durch Aushängen von Nisthöhlen – er nennt sie »Köbel«
– in die Gärten zu locken, wo sie Beete und Obstbäume von dem lästigen
Ungeziefer befreien. Dieser Hinweis des Vogelfreundes fand allgemeine
Aufmerksamkeit, so daß sich Hofinger veranlaßt sah, noch genaue
Vorschriften zu geben. Auch _K. Hennicke_ kann in seinem »Handbuch
des Vogelschutzes« niemand nennen, der schon vorher – wohlverstanden
aus vogelfreundlichen Gründen – durch Aushängen von Nisthöhlen den
Vögeln entgegengekommen wäre, und so dürften die Starenkästen, die im
kommenden Frühjahr unsre lieben Freunde wieder aufnehmen werden, _genau
auf eine hundertjährige Geschichte_ blicken. Wüßten’s die Stare, die es
doch am meisten angeht, sie würden in diesem Lenz bei ihrer Rückkehr
gewiß in noch ausgelassenerer Weise jubeln, pfeifen und schnalzen, um
das Jubiläum würdig zu feiern.

Im Laufe der Zeit hat die Starmeste in ihrer äußeren Erscheinung
mancherlei Veränderungen erfahren. Bei Hofinger war sie ein
ausgehöhltes Aststück mit einem Stöpsel verschlossen und mit Armen
versehen, um sie mittels Weidenruten am Baumstamm befestigen zu
können. _Gloger_, der auf diesem Gebiet eifrig tätig war, baute
recht künstliche sechseckige Kasten, deren Innenraum er durch eine
Querwand teilte, daß Katzen und andere Räuber nicht in den unteren,
den eigentlichen Brutraum greifen konnten. Mit wasserdichter Ölfarbe
überzog er die ganze Behausung, auch mit Flechten und Moos, oder er
benagelte die Wände mit Baumrinde. Auch _H. O. Lenz_ trat warm für
den Star ein. In seiner »Gemeinnützigen Naturgeschichte«, Gotha 1834
bis 1839, empfiehlt er sogar Massenquartiere für seine Freunde, die
durchaus an die Taubenschläge erinnern. Die größten Verdienste auf
diesem Gebiet erwarb sich dann mein väterlicher Freund, Hofrat _K. Th.
Liebe_, dessen Broschüre »Winke betreffend das Aufhängen von Nistkästen
für Vögel« aus dem Jahre 1883 die größte Verbreitung und Beachtung
fand. Er ahmte durch ausgehöhlte Baumstücke mit aufgeschraubtem
Boden und Dach die natürlichen Brutstätten möglichst nach, ließ
aber, wenigstens für Stare, auch die aus Brettern zusammengefügten
Nistkästen gelten. Schon vorher, im Jahre 1878, konnte er berichten,
daß sich die Stare überall in Thüringen, dem klassischen Lande der
deutschen Vogelkunde und des Vogelschutzes, außerordentlich vermehrt
haben; ihre Zahl sei während der letzten fünfzig Jahre mindestens auf
das Vierfache gestiegen. Liebes Fürsorge galt aber keineswegs nur den
Staren, sondern ebenso den Fliegenschnäppern, Rotschwänzchen, Meisen,
Kleibern, Mauerseglern, dem Wendehals, Zaunkönig, der Bachstelze, auch
den Hohltauben, Käuzen, Turmfalken u. a.

Mit unermüdlichem Eifer hat sich dann Freiherr _v. Berlepsch_ der
Nisthöhlenfrage angenommen und sie restlos gelöst, so daß eine weitere
Verbesserung ausgeschlossen erscheint. Seine Veröffentlichung in der
»Ornithologischen Monatsschrift« 1896 über »Die Schaffung künstlicher
Nistgelegenheiten für Vögel« bildete in der Tat, wie Hennicke schreibt,
»den Beginn einer neuen Ära in der Fabrikation von Nisthöhlen«. Die
Spechthöhlen dienten als Vorbild. Ihre Tiefe und Form des Innenraums,
die Stärke der Wandung, die Größe des Fluglochs, der Zugang von diesem
zur eigentlichen Höhle: all diese Einzelheiten ahmen die Berlepschschen
Nisthöhlen aufs genaueste nach. Auch dem Deckelverschluß, der
Aufhängeleiste, jedem Schraubennagel, kurz jeder scheinbaren
Kleinigkeit wandte Freiherr v. Berlepsch seine Aufmerksamkeit zu und
probierte in seiner Versuchsstation Seebach alles sorgfältigst aus.

Gewiß, es gibt auch noch andre künstliche Nisthöhlen, z. B. die
_Schlüterschen_ Nisturnen aus Ton, die sich gleichfalls mancherorts
gut bewährt haben; indessen »wenn ich ein Vöglein wär’«, ich würde
jedenfalls eine Berlepschsche Nisthöhle vorziehen, und so wünsche
ich meinen nun bald wieder zurückkehrenden Freunden, daß sie eine
solche Wohnung finden. Wer aber der Wohnungsnot, unter der nicht nur
wir Menschen, sondern auch die gefiederten Höhlenbrüter arg leiden,
wirksam abhelfen will, dem empfehle ich das Büchlein des Freiherrn _v.
Berlepsch_: »Der gesamte Vogelschutz« oder auch _Hiesemann_: »Lösung
der Vogelschutzfrage nach Freiherrn v. Berlepsch«.



Ein Heimatschützer im fernen Osten


Am 19. Februar dieses Jahres beging _Emil Sigerus_ in Hermannstadt
seinen siebzigsten Geburtstag. Er ist ein Sohn des siebenbürgischen
Sachsenvolks, das wie kein andrer deutscher Stamm dem Mutterlande mehr
als acht Jahrhunderte hindurch unter den schwierigsten Verhältnissen
die Treue bewahrt hat, ein kleines Häuflein, umbrandet von den Fluten
andrer Völker. Die Kraft zu solchem Ausharren haben die Siebenbürger
Sachsen aus dem Mutterboden gesogen, mit dem sie stets in geistiger
Verbindung geblieben sind; der unerschütterliche Wille, deutsch zu
bleiben, hat ihre Führer zu allen Zeiten beseelt.

Auch Emil Sigerus ist seinen Volksgenossen ein Führer geworden, ein
Führer auf dem weiten Gebiete der Denkmalpflege und des Heimatschutzes,
indem er ihnen die Augen öffnete für die Schönheiten ihres
karpathenumgürteten Landes mit den blühenden sächsischen Städten und
Dörfern, sie hinwies auf den Wert ihrer vielhundertjährigen Sitten und
Gebräuche, ihrer Volkstrachten, ihrer Bauweise, ihres Handwerks usw.
Das Karpathenmuseum in Hermannstadt, ähnlich unserm Volkskundemuseum in
Dresden, ist eine Schöpfung, zum größten Teil zugleich eine Schenkung
von ihm, dem unermüdlichen Sammler deutscher Kulturgüter.

Von seinen literarischen Arbeiten, deren Zahl unbegrenzt ist, nennen
wir nur die Sammelwerke: »Sächsische Burgen und Kirchenkastelle«, »Aus
alter Zeit«, »Durch Siebenbürgen, eine Touristenfahrt«, die reich
ausgestatteten Mappen »Siebenbürgisch-sächsische Leinenstickereien«
und das kultur-historisch so überaus wertvolle Werk »Vom alten
Hermannstadt« (zwei Bände). Sich und seinem Volke hat Emil Sigerus
mit diesen Arbeiten, die auch in Deutschland die Aufmerksamkeit weiter
Kreise auf sich gelenkt haben, ein dauerndes Denkmal gesetzt.

Manche, die diese Zeilen lesen, werden auch die persönliche
Bekanntschaft des Jubilars gemacht haben. Denn wenn ein Reichsdeutscher
nach Hermannstadt kam, fand er bei E. Sigerus stets aufopfernde
Hilfsbereitschaft, und so werden viele seiner in Dankbarkeit gedenken.

Mögen diese Zeilen dem Jubilar beweisen, daß man auch im deutschen
Mutterlande seine Lebensarbeit hoch einzuschätzen weiß!

            Martin Braeß



Luftbild und Heimatschutz

Von Oberleutnant _Tschoeltsch_, Dresden


Die Betrachtung unsrer Heimat vom Flugzeug aus ist trotz der
wundervollen Entwicklung der Luftfahrt den meisten Menschen noch nicht
möglich. Die Kosten für einen Flug sind unerschwinglich hoch und viele
müssen sich aus diesem Grunde den größten Genuß, den es gibt, nämlich
das Fliegen, versagen. Die Entwicklung der Photographie aus der Luft,
die durch den Krieg nur gefördert worden ist, gestattet uns aber, heute
brauchbare Luftbilder von unsrer Heimat herzustellen, die geeignet
sind, einen Flug zu ersetzen. Und wenn man vollends versteht, aus den
Luftbildern das herauszulesen, was das Luftbild erzählt, dann hat man
beim Betrachten von Luftbildern mindestens den gleichen Gewinn wie beim
Betrachten von künstlerischen Erdaufnahmen. Die Erdaufnahme zeigt uns
aus einem großen Ganzen die Einzelheiten, das Luftbild dagegen zeigt
uns das große Ganze selbst.

Meine kleine Arbeit soll einige besonders charakteristische Luftbilder
zeigen, die, leicht erkennbar, da aus niedrigen Höhen aufgenommen, auch
dem im Lesen von Luftbildern noch Ungeübten genügend zu erzählen haben.

Bild 1 zeigt uns das alte Bischofsschloß von Merseburg mit seinen
Türmen, Giebeln und Höfen. Wir sehen, wie der Wehrgedanke es war, der
den Bau dieses Schlosses beeinflußt hat. Hochgelegen am Ufer der Saale
beherrscht es die Saalebrücke, man konnte also vom Schloß aus den
Verkehr über die Brücke kontrollieren und gegebenenfalls verhindern.
Die Erfindung des Schießpulvers machte diesen Bau militärisch wertlos,
gegen Kanonenkugeln gaben auch diese imposanten Mauern keine Sicherheit
mehr. Die Bedeutung dieses Schlosses schwand dahin – heute sind die
Regierungsbehörden des Regierungsbezirkes Merseburg in diesem Schloß
untergebracht.

[Illustration: Abb. 1 =Schloß Merseburg=]

Auf Bild 2 sehen wir Zwickau, die alte Schwanenstadt mit dem
Schwanenteich vor uns. Wundervoll hebt sich aus dem Gewirr der Häuser
die alte Stadtsiedlung heraus: die breite Grabenpromenade, die an
Stelle der alten Wälle und Gräben angelegt ist, umgibt sie. Und in
dieser alten Stadt erkennen wir als Mittelpunkt den Hauptmarkt, der an
der Stelle liegt, wo die von Nord nach Süd und die von Ost nach West
führenden Hauptverkehrsstraßen sich schneiden. Unmittelbar neben dem
Hauptmarkt liegt als Nebenmarkt der Kornmarkt, der dazu diente, den
Hauptmarkt zu entlasten. Zwei Brücken führen über die Zwickauer Mulde,
zwischen beiden, am Graben gelegen, erblicken wir die gewaltige Anlage
des Schlosses Osterstein (heute Gefangenenanstalt).

[Illustration: Abb. 2 =Zwickau=]

An die alte (innere) Stadt ist dann das »moderne« Zwickau angebaut.
Die Baufläche ist schematisch in Längs- und Querstraßen aufgeteilt,
die ohne Rücksicht darauf, ob sie verkehrsreich sind oder nicht, in
gleichmäßiger Breite angelegt wurden – das typische einer modernen
Großstadt, die keine stillen Gäßchen, keine lauschigen Winkel
kennt, die nur mit dem Lineal des Technikers, ohne die Liebe eines
Städtebaukünstlers, konstruiert ist.

[Illustration: Abb. 3 =Plauen= (Vogtland)]

Noch deutlicher tritt diese schematische Raumaufteilung bei Bild 3 in
Erscheinung: Plauen im Vogtland. Trostlos wirkt, von oben gesehen,
eine derartige, an amerikanische Städte erinnernde Bauweise. Die Höfe
der Häuserblöcke sind verbaut mit Hinterhäusern und Fabrikgebäuden,
es kommt durch dieses Verbauen der Höfe nicht genügend Licht, Luft
und Sonne in die Wohnungen, die in diesen Häusern sich befinden.
Die Grundbedingungen also, die Gesundheit gewährleisten, bleiben
unerfüllt. Die Bewohner derartiger Mietskasernen (die übrigens noch
direkt harmlos gegen die Berliner Mietskasernen sind, bei denen vier
bis sechs Höfe und Hinterhäuser hinter einem Vorderhaus liegen) müssen
den Zusammenhang mit dem Grund und Boden, mit der Heimaterde verlieren
– die verhängnisvollen Folgen der seit 1870 betriebenen Spekulation
mit Grund und Boden (Bodenwucher), die zwingt, hoch und eng zu bauen,
treten auf diesem Bild deutlich zutage. Wer aber den Zusammenhang
mit der Heimaterde verloren hat, wer in seiner »Wohnung« nur noch
den Abstellraum für seine Möbel erblicken kann, der kann auch keine
Heimatliebe mehr empfinden, weil er sich als ein Ausbeutungsobjekt
andrer betrachten muß. Wir haben wirklich keine Veranlassung,
verächtlich auf die Bauweise unsrer Vorfahren herabzublicken, die es
viel besser verstanden haben zu bauen als wir.

[Illustration: Abb. 4 =Bautzen=]

Den Beweis für diese Behauptung bringt das Bild 4. Wir erkennen auf
den ersten Blick die Form der alten Stadt Bautzen. Genügend breite
Märkte sind vorhanden. Bei der Straßenaufteilung ist zwischen Wohn-
und Verkehrsstraßen unterschieden, das heißt es gibt schmale Straßen,
die nur den Zweck haben, den Weg zu den Anliegern zu vermitteln, und
breite Straßen, durch die der Verkehr geleitet wird. Wenn wir von oben
aus luftiger Höhe in die verschiedenen Häuserblocks hineinschauen, dann
finden wir, daß es manchen stillen, heimlichen Winkel gibt, der im
Frühjahr und Sommer blüht und grünt, manchen Winkel, in dem man sich
ungestört von den Lasten und Mühen des Berufs erholen kann, ohne daß
an einem der Verkehr vorbeibraust, wie es auf den Schmuckplätzen der
modernen Großstädte üblich ist, die außer staubigen Bänken nur einen
Zeitungskiosk und eine Bedürfnisanstalt aufzuweisen haben.

Der Unterschied zwischen alter und neuer Bauerei ist auch auf diesem
Bild deutlich zu erkennen: Die alte Stadt paßt sich natürlich dem Lauf
der Spree an, ihre Form wird unter geschickter Ausnutzung des Geländes
zwar uneinheitlich, aber ansprechend – im Gegensatz zur neuen Stadt,
die (rechts oben im Bild deutlich erkennbar) genau so lieblos mit dem
Lineal konstruiert ist, wie wir es bei Zwickau gesehen haben.

[Illustration: Abb. 5 =Leipzig= (Hauptbahnhof)]

Daß aber auch in der modernen Zeit schön gebaut werden kann, daß
auch die moderne Zeit den Anforderungen gewachsen ist, die die
Entwicklung des Verkehrs stellt, ist aus dem nächsten Bild (Bild
5) erkennbar. Wir sehen vor uns den Hauptbahnhof von Leipzig – den
größten Bahnhof Europas. Sechs große Bahnhofshallen nehmen den aus
allen Himmelsrichtungen zu diesem Zentralpunkt zusammengeleiteten
Verkehr auf, eine mächtige Querhalle verbindet diese sechs Hallen, von
dieser Querhalle aus wird dann der auf sechsundzwanzig Bahngleisen
in die Großstadt hereinbrausende Nah- und Fernverkehr aufgesogen
und verteilt. Ein Blick auf die wohlgeordnete – den Laien auf den
ersten Blick vielleicht verwirrende – Gleisanlage zeigt die gesamten
eisenbahntechnischen Anlagen deutlicher und übersichtlicher als
man das alles übersehen kann, wenn man im Zuge schnell an alledem
vorüberflitzt. Auch vor dem Bahnhof herrscht lebhafter Verkehr – wir
erkennen das an den zahlreichen Straßenbahnen, Autos, Droschken und –
sogar einzelnen Menschen.

[Illustration: Abb. 6 =Chemnitz= (Kohlenbahnhof)]

Und schließlich noch ein modernes Bild: der Kohlenbahnhof und die
Eisenbahnwerkstätten von Chemnitz. Diese Anlage stellt einen Höhepunkt
unsrer technischen Entwicklung dar – allerdings ist der Rückgang,
der sich auf allen Gebieten nach dem verlorenen Krieg und dem
Friedensvertrag von Versailles zeigt, auch hier zu spüren: in frühren
Zeiten war auf diesem Bahnhof wesentlich mehr rollendes Material
abgestellt als heute. Das Ganze macht einen wohldurchdachten Eindruck,
vom Standpunkt des Technikers kann man die ganze Anlage schön und
formvollendet nennen. Wir merken in unserm Flugzeug nichts von Staub
und Rauch, der unten auf der Erde die Menschen belästigt, wir urteilen
also frei und unbefangen und schließen uns der Ansicht des Technikers
an. Die Bahnhöfe unsrer Heimat haben auch ihre guten Seiten, wenn es
auch nicht immer gleich auf den ersten Blick zu spüren ist!

Der mir zur Verfügung stehende geringe Raum zwingt mich, meine Arbeit
mit dieser Auswahl von sechs Luftbildern abzubrechen. Ich hoffe, mit
diesen Bildern einige Anregungen gegeben zu haben, die gelegentlich
einmal ergänzt werden können. Gerade weil uns diese Luftbilder eine
Fülle von Gedanken zu geben vermögen, sind sie als Unterrichtsmittel
für alle Bestrebungen zu verwenden, die sich damit befassen, die Liebe
zu unsrer Heimat zu erwecken und zu pflegen.

    (Das benutzte Bildmaterial stammt aus dem ehemaligen
    Fliegerhorst Großenhain)


    Für die Schriftleitung des Textes verantwortlich: Werner Schmidt –
        Druck: Lehmannsche Buchdruckerei
    Klischees von Römmler & Jonas, sämtlich in Dresden



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    --------------------------------       -------------------
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    ================================       ===================

Ziehung endgültig 7. und 8. April 1924

Der Reingewinn dieser Lotterie dient zur Erhaltung des
Landesvereins Sächsischer Heimatschutz, seiner Vorträge und seiner
Veröffentlichungen. Er dient somit einer Bewegung, die alle Volkskreise
umfaßt und dem Sachsenvolke das Beste erhalten will, das es noch
besitzt: die Schönheiten in Natur, Kultur und Kunst seiner Heimat.

Hauptvertrieb der Lose: =Landesverein Sächsischer Heimatschutz=,

=Dresden-A., Schießgasse 24=

Fernsprecher 16903 u. 17038


Lehmannsche Buchdruckerei, Dresden-A.



    Weitere Anmerkungen zur Transkription


    Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Die
    Darstellung der Ellipsen wurde vereinheitlicht. Die Symbole ♀
    bzw. ♁ für das Geschlecht wurden wie im Original beibehalten.

    Die doppelte Werbeseite am Ende des Heftes wurde entfernt.



*** End of this LibraryBlog Digital Book "Landesverein Sächsischer Heimatschutz — Mitteilungen Band XII, Heft 10-12 : Monatsschrift für Heimatschutz und Denkmalpflege" ***


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