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Title: Meyers Konversationslexikon Band 15
Author: Various
Language: German
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*** Start of this LibraryBlog Digital Book "Meyers Konversationslexikon Band 15" ***


Dies ist ein Zwischenstand (Oktober 2003) der Digitalisierung von
"Meyers Konversationslexikon" (4. Aufl., 1888-1890).  Die
Digitalisierung wird unter

    http://www.meyers-konversationslexikon.de

erarbeitet; dort kann man auch den jeweils aktuellen Stand einsehen und
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Karl Eichwalder                                         Oktober 2003



S.

Das im laufenden Alphabet nicht Verzeichnete ist im Register des
Schlußbandes aufzusuchen.

Sodbrennen (Magenbrennen, Pyrosis), Symptom des
chronischen Magenkatarrhs, besteht in einem brennenden Gefühl
im Schlund und Rachen; es beruht darauf, daß die sauren und
scharfen Flüssigkeiten und Gase, welche sich infolge des
chronischen Magenkatarrhs und der dabei stattfindenden abnormen
Verdauungsvorgänge im Magen bilden, durch Aufstoßen in
den Schlund, ja selbst bis in den Mund gelangen und auf die
Schleimhaut dieser Teile einen scharfen Reiz ausüben. Das S.
verschwindet mit dem Magenkatarrh. Zur augenblicklichen Milderung
eignet sich am meisten doppeltkohlensaures Natron, welches die
überschüssige Säure neutralisiert.

Soddoma (eigentlich Giovannantonio Bazzi), ital. Maler,
geb. 1477 zu Vercelli in Savoyen, bildete sich seit 1498 nach
Leonardo da Vinci in Mailand und kam 1501 nach Siena, wo er
verschiedene Fresken und Tafelbilder ausführte; 1505 malte er
einen großen Freskencyklus aus dem Leben des heil. Benedikt
für das Kloster Montoliveto und um dieselbe Zeit die
Kreuzabnahme, jetzt im Museum von Siena. 1507-1509 war er in Rom,
wo er im Vatikan malte; dann ging er wieder nach Siena, kehrte aber
1514 nach Rom zurück, wo er in der Villa Farnesina seine
berühmtesten Fresken malte, Alexander vor der Familie des
Dareios und seine Vermählung mit Roxane, ein Bild, das durch
Liebenswürdigkeit der Erfindung und Zartheit des Ausdrucks
bezaubert. Damals erhob ihn Leo X. für ein Bild der
Römerin Lucrezia in den Ritterstand. Im J. 1515 kam er nach
Siena zurück, wo er 1518 vier Fresken aus der Geschichte der
Maria im Oratorium von San Bernardino malte. Zwischen 1518 und 1525
scheint er sich in Oberitalien aufgehalten zu haben, wo er mehr von
der lombardischen Schule beeinflußt wurde. Von 1525 bis 1537
war er wieder in Siena ansässig, wo er seit 1525 die Fresken
aus dem Leben der heil. Katharina in der Kapelle der Heiligen in
der Kirche San Domenico, ein durch Tiefe und Wahrheit der
Empfindung ausgezeichnetes Hauptwerk des Künstlers, und
später mehrere Heiligengestalten, die Auferstehung Christi u.
a. im Stadthaus malte. Im J. 1542 war er zu Pisa thätig. Er
starb 15. Febr. 1549 in Siena. B. war ein Lebemann, dessen
exzentrisches Wesen (daher der Name S.) ihn nicht zu einem
sorgsamen Naturstudium und zu einer fleißigen
Durchführung seiner Bilder kommen ließ. Von seinen
Tafelbildern sind noch die heilige Familie mit Calixtus (im
Stadthaus zu Siena), die Anbetung der Könige (in Sant'
Agostino daselbst) sowie eine Prozessionsfahne mit der Madonna und
dem heil. Sebastian (in den Uffizien zu Florenz) hervorzuheben.
Vgl. Jansen, Leben und Werke des Malers G. Bazzi (Stuttg.
1870).

Soden, 1) Dorf und Badeort im preuß.
Regierungsbezirk Wiesbaden, Kreis Höchst, am Fuß des
Taunus und an der Linie Höchst-S. der Preußischen
Staatsbahn, 142 m ü. M., hat schöne Parkanlagen, einen
Kursaal, ein Badehaus, eine neue Trinkhalle und (1885) 1517 meist
evang. Einwohner. Die dortigen Heilquellen, 24 an der Zahl, sind
eisenhaltige Säuerlinge von 11-29,5° C. und werden
namentlich gegen chronisch-entzündliche Krankheiten der
Respirationsorgane, Skrofulose etc., die stärkern gegen
chronische Magenkatarrhe, Dyspepsie, Hämorrhoiden,
Menstruationsstörungen, Rheumatismus, Gicht etc. angewandt.
Besonders wichtig für Badezwecke ist der Solsprudel, dessen
stark gashaltiges Kochsalzwasser (1,5 Proz.) eine natürliche
Wärme von 31° C. besitzt. Die Zahl der Kurgäste
betrug 1885: 2132. S. war früher unmittelbares Reichsdorf.
Vgl. Thilenius, S. am Taunus, mit vergleichender Rücksicht auf
Ems, Kissingen etc. (2. Aufl., Frankf. 1874); Köhler, S. am
Taunus (2. Aufl., das. 1873); Haupt, S. am Taunus (2. Aufl.,
Würzb. 1883). -

2) Stadt im preuß. Regierungsbezirk Kassel, Kreis
Schlüchtern, zwischen Salza und Kinzig, 1 km von Station
Salmünster der Linie Hanau-Bebra-Göttingen der
Preußischen Staatsbahn, hat eine kath. Kirche, ein
Schloß, eine Sägemühle und
Parkettfußbodenfabrik, Schuhmacherei und (1885) 883 fast nur
kath. Einwohner. Die dortigen vier jod- und bromhaltigen Solquellen
von 12,5-13° C. werden vorzugsweise bei Skrofulose,
Unterleibsstockungen, chronischen
Gebärmutterentzündungen, alten Exsudaten etc. benutzt.
1885 ward dort auch ein an Kohlensäure reicher Säuerling
entdeckt und gefaßt. Dabei auf einer Anhöhe die
malerisch gelegenen Ruinen der Burg Stolzenberg. -

3) (Sooden) Flecken im preuß. Regierungsbezirk Kassel,
Kreis Witzenhausen, an der Werra und der Linie
Frankfurt-Bebra-Göttingen der Preußischen Staatsbahn,
der Stadt Allendorf (s. d.) gegenüber, hat eine evang. Kirche,
ein Salzwerk (schon 973 genannt) mit

Meyers Konv.-Lexikon, 4. Aufl., XV. Bd.

1

2

Soden - Sofala.

Solbad, eine Kinderheilanstalt und (1885) 758 evang. Einw. Vgl.
Sippell, S. an der Werra (Soden 1886).

Soden, Friedrich Julius Heinrich, Graf von,
Schriftsteller, geb. 4. Dez. 1754 zu Ansbach aus freiherrlichem
Geschlecht, wurde fürstlich branden-burgischer Regierungsrat,
später Geheimrat und preußischer Gesandter beim
fränkischen Kreis zu Nürnberg und 1790 in den
Reichsgrafenstand erhoben. Seit 1796 privatisierend, lebte er auf
seinem Gut Sassenfahrt am Main, führte 1804-10 die Leitung des
Bamberg-Würzburger Theaters, zog dann nach Erlangen und starb
13. Juli 1831 in Nürnberg. Als Schriftsteller hat er sich
durch Erzählungen (z. B. "Franz von Sickingen", 1808) und eine
beträchtliche Reihe dramatischer Arbeiten bekannt gemacht, von
welch letztern "Inez de Castro" (1784), "Anna Boley" (1794),
"Doktor Faust, ein Volksschauspiel" (1797), und "Virginia" (1805)
erwähnt seien. S. war auch als Übersetzer (Lope de Vega,
Cervantes) sowie als staatswissenschaftlicher Schriftsteller
thätig.

Söderhamn, Stadt im schwed. Län Gefleborg,
unweit des Bottnischen Meerbusens, an der Eisenbahn
Kilafors-Stugsund, hat lebhaften Handel mit Holz und Eisen und
(1885) 9044 Einw. S. ist Sitz eines deutschen Konsuls.

Söderköping, Stadt im schwed. Län
Ostgotland, am Götakanal, der 5 km davon in die Ostseebucht
Slätbaken mündet, einst ein ansehnlicher Ort, jetzt
unbedeutend, mit (1885) nur 1909 Einw.

Södermanland, Län im mittlern Schweden
(Swearike), zwischen der Ostsee im SO. und dem Mälar- und
Hjelmarsee im N., grenzt im Süden an Ostgotland, im W. an
Örebro, im N. an Westmanland, im NO. an das Län
Stockholm, welchem nur der nordöstliche Teil der alten
Landschaft S. zugeteilt ist, und hat ein Areal von 6841,4 qkm
(124,2 QM.). Es ist größtenteils Flachland, reich an
Seen und Wäldern (37 Proz. des Areals) und eine der
fruchtbarsten Provinzen des mittlern Schweden. Die Bewohner, deren
Zahl 1887: 152,296 betrug, treiben Ackerbau (1886 wurden 888,000 hl
Hafer, 435,000 hl Roggen, 116,000 hl Weizen geerntet), Viehzucht
(1884 zählte man 95,797 Stück Rindvieh) und Industrie in
Eisen, Wolle und Baumwolle. Das Län wird von der Westbahn
durchschnitten, an welche sich bei Flen nach Oxelösund und
Kolbäck führende Zweigbahnen und bei Katrineholm die
Ostbahn anschließt. Hauptstadt ist Nyköping.

Södertelge, Landstadt im schwed. Län Stockholm,
an der Bahn Stockholm-Gotenburg, zwischen dem Mälar und dem
kleinen See Maren, durchschnitten von dem Södertelgekanal,
welcher, 1819 eröffnet, von dem Mälar in den Maren und
von diesem in die Ostsee führt, hat ein Pädagogium, 2
mechanische Werkstätten, Zündhölzerfabrik, eine
Kaltwasserheilanstalt, ein Seebad und (1885) 3926 Einw.

Sodium, s. v. w. Natrium.

Sodom, alte Stadt Palästinas, im Thal Siddim, ging
nach mosaischem Bericht (1. Mos. 19, 24 ff.) mit dem benachbarten
Gomorra (s. d.) zu Abrahams Zeiten unter. Der Name hat sich in dem
des Salzbergs Usdum erhalten. Vgl. Totes Meer.

Sodoma, Maler, s. Soddoma.

Sodomie, s. Unzuchtsverbrechen.

Sodor und Man, engl. Bistum, welches jetzt nur die Insel
Man umfaßt, sich früher aber auch auf die Hebriden (die
Sodoreys der Normannen) erstreckte.

Soerabaya (spr. sura-), Stadt, s. Surabaja.

Soest, 1) (spr. sohst) Kreisstadt im preuß.
Regierungsbezirk Arnsberg, in einer fruchtbaren Ebene (Soester
Börde). Knotenpunkt der Linien S.-Nordhausen, Schwelm-S. und
S.-Münster der Preußischen Staatsbahn, 98 m ü. M.,
hat 6 evang. Kirchen (darunter die gotische, 1314 begonnene, 1846
restaurierte Wiesenkirche), einen kath. Dom, ein Gymnasium,
Schullehrerseminar, ein Taubstummen- und ein Blindeninstitut, ein
Rettungshaus, ein Amtsgericht, ein Puddel- und Walzwerk,
Fabrikation von Zucker, Nieten, Seife, Hüten und Zigarren,
Leinweberei, Gerberei, Bierbrauerei, Branntweinbrennerei, eine
Molkerei, Ziegeleien, Getreide- und Viehhandel, besuchte
Märkte, bedeutenden Acker- und Gartenbau und (1885) mit der
Garnison (eine Abteilung Feldartillerie Nr. 22) 14,846 meist evang.
Einwohner. - Im Mittelalter war S. eine der angesehensten und
reichsten Hansestädte mit reichsstädtischen Rechten und
einer Bevölkerung von 25-30,000 Seelen. Ihr Stadtrecht, Schran
(jus Susatense) genannt und zwischen 1144 und 1165 aufgezeichnet,
diente in vielen andern Städten, Lübeck, Hamburg etc.,
als Norm. Die Stadt galt als Hauptstadt des Landes Engern im
Herzogtum Sachsen. Nach Auflösung des letztern 1180
bemächtigte sich der Erzbischof von Köln derselben und
eignete sich das Schultheißenamt an. Dagegen stand den Grafen
von Arnsberg bis 1278 die Vogtei (Blutbann) in S. zu. Unter dem
Erzbischof Dietrich von Köln entzog sich die Stadt wegen zu
harten Drucks der erzbischöflichen Botmäßigkeit
wieder und begab sich 24. Okt. 1441 unter den Schutz Adolfs,
Herzogs von Kleve und Grafen von der Mark, was 1444 zu einer
langwierigen Belagerung der Stadt (Soester Fehde) führte, bei
welcher die dortigen Frauen sich durch Mut auszeichneten. Der
Streit endete infolge päpstlicher Entscheidung damit,
daß S. mit der Börde 1449 unter die Landeshoheit des
neuen Herzogs von Kleve, Johannes, kam. Vgl. Barthold, S., die
Stadt der Engern (Soest 1855); Schmitz, Denkwürdigkeiten aus
Soests Vorzeit (Leipz. 1873); Hansen, Die Soester Fehde (das.
1888); "Chroniken der deutschen Städte", Bd. 21; S. (das.
1889). -

2) (spr. suhst) Dorf in der niederländ. Provinz Utrecht,
Bezirk Amersfoort, am Eem und der Eisenbahn Utrecht-Kampen, mit
(1887) 3776 Einw. Dabei das Lustschloß Soestdyk, vom Prinzen
von Oranien (nachmals König Wilhelm III. von England) 1674
erbaut.

Soeste (spr. sohste), Fluß im Großherzogtum
Oldenburg, entspringt bei Kloppenburg, durchfließt das
Saterland und mündet links in die Leda.

Soeurs converses (franz., spr. ssör kongwérs,
bekehrte Schwestern), s. v. w. Beaten (s. d.).

Soeurs de la charité (franz., spr. ssör d' la
charité), s. v. w. Barmherzige Schwestern (s. d.).

Sofa, in den türk. Häusern die Vorhalle, von wo
man zu den verschiedenen Zimmern gelangt; dieselbe ist auf drei
Seiten mit Ruhesitzen versehen, woher die europäische
Bedeutung des Wortes stammt.

Sofála (arab., "Niederland"), geographische
Bezeichnung für das Küstenland Ostafrikas zwischen dem
Sambesi und der Delagoabai, bestehend aus einem flachen
Küstenstrich mit der vorliegenden Gruppe der Bazarutoinseln
und einem weiter zurückliegenden gebirgigen Teil. Zahlreiche
Flüsse, darunter Bazi, Sabia und Limpopo, münden hier in
den Ozean und überschwemmen alljährlich das Land. Der
Boden ist längs der Küste sehr fruchtbar und bringt
besonders Reis, Orseille, Indigo, Kautschuk, Zuckerrohr und

3

Soffariden - Sohar.

Kaffee hervor. Im Hinterland findet sich viel Gold, Kupfer,
Eisen, und die Kaffern, die Bewohner des Landes, bringen Elfenbein
an die Küste. Die Portugiesen, welche am Ende des 15. Jahrh.
diese Küste entdeckten, und zu deren Kolonie Mosambik dieselbe
jetzt gehört, trafen hier arabische, vom Sultan von Kilwa
abhängige Niederlassungen. Sie unterwarfen diese sowie die
benachbarten Kaffern und nannten die neue Besitzung Königreich
Algarve. Von ihren hier angelegten Militär- und
Handelsstationen S. und Inhambane unternahmen die Portugiesen
namentlich im 16. Jahrh. Züge nach den goldreichen
Kaffernstaaten Mokaranga und Monomotapa, welche als angeblich
mächtige und zivilisierte "Kaiserreiche" erschienen, in der
That aber nur barbarische Reiche waren. Im Hinterland von S. liegen
auch die Goldgruben von Manica sowie verschiedene 1871 von Karl
Mauch entdeckte Goldgruben und die Ruinen von Zimbabye (s. d.),
weshalb man schon im 16. Jahrh. das Salomonische Ophir hierher
verlegte, eine Ansicht, die mit mehr Kühnheit als
Begründung in neuerer Zeit wiederholt wurde. - Die Stadt S.,
am Kanal von Mosambik, seit 1505 im Besitz der Portugiesen, ist ein
armseliger, verfallener Ort, der kaum 1200 Einw. (darunter wenige
Weiße) zählt, aber doch Hauptort des gleichnamigen
Bezirks und Station für das submarine Kabel von Durban nach
Aden.

Soffariden, pers. Dynastie, s. Saffariden.

Soffionen (ital., "Blasebälge"), Name der
Dampfausströmungen der Borsäure (s. d.) in Toscana.

Soffítte (ital.), in der Baukunst die
ornamentierte Unteransicht eines Bogens, einer Hängeplatte,
einer Balkendecke etc.; eine in Felder geteilte oder mit
Getäfel gezierte Zimmerdecke; im Theaterwesen die über
der Bühne aufgehängten, den Himmel oder eine Decke
darstellenden Dekorationsstücke.

Sofi (arab., Sufi, Ssofi, Ssufi), s. Sûfismus.

Sófia (bulgar. Sredec), Hauptstadt des
Fürstentums Bulgarien, an der Eisenbahn von Konstantinopel
nach Belgrad und an der Bogana (Nebenflüßchen des Isker)
in einer prachtvollen, weiten Ebene, zwischen Balkan und Witosch,
580 m ü. M. gelegen. S., Mittelpunkt eines ansehnlichen
Straßennetzes, hat viele Moscheen (darunter als die
architektonisch bedeutendste die jetzt verfallene Böjük
Dschami), christliche Kirchen und Klöster; das sehenswerteste
Gebäude ist das große Bad bei der Moschee Baschi
Dschamisi, mit warmen Quellen. Doch entstehen gegenwärtig
viele Neubauten, und die alten Straßen werden reguliert und
gepflastert. Neu errichtet sind ein fürstlicher Palast, eine
Nationalbibliothek, eine Druckerei, Apotheken, Agenturen,
Gasthöfe, eine Post, eine Nationalbank mit einem Kapital von 2
Mill. Frank, ein wissenschaftlicher Verein u. a. 1887 zählte
es 30,428 Einw., darunter 5000 Juden, 2000 Türken und 1000
Zigeuner. S. hat starken Export von Häuten nach
Österreich und Frankreich, von Mais und Getreide. Es ist der
Sitz der bulgarischen Regierung, eines griechischen Metropoliten,
eines Kassations- und eines Appellhofs sowie eines deutschen
Berufskonsuls. - S. steht an der Stelle des alten Ulpia Serdica in
Obermösien (berühmt durch ein 344 daselbst gehaltenes
Konzil) und fiel 1382 in die Hände der Türken. Am 3. Jan.
1878 wurde die Stadt von den Russen unter Gurko besetzt.

Sofia-Expedition, 28. Juni bis 20. Okt. 1868, s. Maritime
wissenschaftliche Expeditionen.

Sofiero (Sophiero), königliches Lustschloß am
Öresund in Schweden, 6 km von Helsingborg; Sommersitz der
königlichen Familie.

Sofis (Safis, Sûfis), pers. Dynastie,
gegründet von Ismail, mit dem Beinamen Sofi, herrschte von
1505 bis 1735 über Persien (s. d., S. 873).

Sofismus, s. Sûfismus.

Söflingen, Marktflecken im württemberg.
Donaukreis, Oberamtsbezirk Ulm, an der Blau und der Linie
Ulm-Sigmaringen der Württembergischen Staatsbahn, hat eine
kath. Kirche, ein Forstamt, mechanische Weberei und (1885) 2501
Einw. S. war früher reichsunmittelbare Frauenabtei, kam 1802
an Bayern und 1810 an Württemberg.

Softa (pers.), in der Türkei ein der Wissenschaft
lebender, der Welt abgestorbener Besucher der Hochschulen (s.
Medresse). Die Softas rekrutieren sich jetzt aus den untersten
Volksschichten und haben mehrere Prüfungen zu bestehen, bis
sie den gesetzlichen Titel "Molla" (s. d.) erlangen, um dann als
Geistliche oder als Richter angestellt zu werden. Meist Gegner
aller europäisierenden Maßregeln, haben sie sich in der
Neuzeit auch zu politischen Demonstrationen verleiten lassen.

Sog, s. v. w. Kielwasser (s. d.).

Sogamoso, Stadt im Staat Boyacá der
südamerikan. Republik Kolumbien, am Chicamocha, 2506 m ü.
M., mit Hospital, lebhaftem Handel und (1870) 9553 Einw. Ehemals
war S. die Hauptstadt der theokratischen Regierung des Sugamuxi,
eines Hohenpriesters der Muisca oder Tschibtscha (s. d.).

Sogdiana, ehemals die nördlichste bis zum Jaxartes
reichende Satrapie des Perserreichs, mit der Hauptstadt Marakanda
(jetzt Samarkand).

Sögel, Dorf im preuß. Regierungsbezirk
Osnabrück, Kreis Lingen, am Hümmling, mit kath. Kirche,
Amtsgericht und (1885) 1100 Einw. Östlich das herzoglich
arenbergische Jagdschloß Klemenswerth.

Soggen, s. Salz, S. 238.

Soghum Kala, Stadt, s. Suchum Kalé.

Soglio (spr. ssolljo), s. Sils 3).

Sognefjord, tief einschneidender Fjord an der
Westküste Norwegens, über 200 km lang, endigt in einem
Seitenfjord, welcher den Namen Lysterfjord führt, ist kaum
irgendwo 7 km breit und fast überall von hohen, steilen
Felswänden umgeben. Die Landschaft, welche den S. umgibt, ist
die gebirgige Vogtei Sogn und gehört zu den wildesten Gegenden
des Landes. Die vom Hauptfjord abgehenden Seitenfjorde zeichnen
sich besonders durch ihre gewaltigen Umgebungen aus. So sind die
südlichen Zweige, der Aurlands- und der Näröfjord,
von Gebirgen umgeben, die sich von der See aus 1600-2000 m
senkrecht erheben. Im N. sendet der S. außer dem Lysterfjord
auch den Sogndalsfjord und den Fjärlandsfjord aus, von denen
der letztere bis zu den Gletschern des Jostedalsbrä
hineindringt, welche hier bis zu 65 m ü. M. herabsteigen.
Diese riesenhafte Schneemasse, die mit ihren Gletschern die
angrenzenden Thäler erfüllt, begrenzt den Fjord im N.,
während ihn im O. große, zu den Jotunfjelden (s. d.)
gehörige Gebirgsmassen von den angrenzenden Gegenden scheiden;
nur im Süden führt ein einziger Paß durch das
großartige Närödal, die Fortsetzung des
Näröfjords.

Sohair (Zuhair), berühmter arab. Dichter der
vormohammedanischen Zeit. Seine "Moallaka" ist einzeln
herausgegeben von Rosenmüller ("Analecta arabica", 2. Teil,
Leipz. 1826), übersetzt von Rückert ("Hamasa" I, Zugabe 1
zu Nr. 149); seine erhaltenen Gedichte s. bei Ahlwardt in den "Six
ancient poets" (Lond. 1870). Vgl. Kaab Ibn Sohair.

Sohar ("Glanz", auch S. hakadosch, der heilige S.,
genannt), das in unkorrektem Aramäisch in Form

1*

4

Sohar - Soiron.

eines Pentateuchkommentars abgefaßte Hauptwerk der Kabbala
(s. d.), das jahrhundertelang fast vergöttert wurde, aber
durch seine verworrene Vermischung von neuplatonischen,
gnostischen, Aristotelischen und jüdisch-allegorischen
Anschauungen die Entwickelung des Judentums sehr geschädigt
hat. Verfasser oder Redakteur des S. ist vermutlich der in der
zweiten Hälfte des 13. Jahrh. in verschiedenen Städten
Spaniens lebende Moses ben Schemtob de Leon und nicht Simon ben
Jochai (Mitte des 2. Jahrh. n. Chr.). Der S., der an einzelnen
Stellen eine Feindseligkeit gegen den Talmud zu erkennen gibt und
hin und wieder mit dem Christentum liebäugelt, besteht aus
drei Hauptteilen: 1) dem eigentlichen S., 2) dem treuen Hirten
(Raja mehemna) und 3) dem geheimen Midrasch (Midrasch neelam). Vgl.
Tholuck, Wichtige Stellen des rabbinischen Buches S. (Berl. 1824);
Joël, Die Religionsphilosophie des S. (Leipz. 1849); Jellinek,
Moses ben Schem-Tob de Leon und sein Verhältnis zum S. (das.
1851).

Sohar, Hafenstadt in der arab. Landschaft Oman, mit guter
Reede, einem festen Schloß, sorgfältig angebauter
Umgebung und ca. 24,000 Einw. (darunter eine Anzahl Juden mit
eigner Synagoge). Gewerbe, Weberei, Metallarbeiten blühen.

Sohl (ungar. Zólyom), ungar. Komitat am linken
Donauufer, grenzt an die Komitate Liptau, Gömör,
Neográd, Hont, Bars und Thúrócz, ist 2730 qkm
(49,7 QM.) groß, ganz von Gebirgen bedeckt, wird vom
Granfluß durchströmt, dessen Thal besonders fruchtbar
ist, und hat zahlreiche Gebirgsweiden. Die Einwohner (1881:
102,500, meist Slowaken) betreiben Rindvieh- und Schafzucht, etwas
Weinbau, lebhaften Bergbau auf Schwefel, Silber, Kupfer, Eisen,
Vitriol und Quecksilber sowie Fabrikation von Eisen- und
Töpferwaren, Tuch, Glas, Papier etc. Sitz des Komitats, das
seinen Namen von der bei Altsohl malerisch gelegenen Ruine S. an
der Mündung der Szlatina in die Gran erhielt, ist Neusohl.

Sohland, Dorf in der sächs. Kreis- und
Amtshauptmannschaft Bautzen, an der Spree und an der Linie
Bischofswerda-Zittau der Sächsischen Staatsbahn, hat eine
evang. Kirche, Hand- und mechan. Weberei, Säge- und
Mahlmühlen und (1885) 5126 Einw.

Sohle (Soole), Fisch, s. Schollen.

Sohlenbau, s. v. w. Strossenbau, s. Bergbau, 724.

Sohlengänger, Säugetiere, die mit der ganzen
Sohle auftreten, wie die Bären (s. Säugetiere, 345).

Sohlennähmaschine, s. Schuh.

Söhlig, im Bergwesen s. v. w. horizontal. Vgl.
Fallen der Schichten.

Sohn, jede Person männlichen Geschlechts im
Verhältnis zu ihren Erzeugern (Vater und Mutter). S.
Verwandtschaft.

Sohn, 1) Karl Ferdinand, Maler, geb. 10. Dez. 1805 zu
Berlin, erhielt von Schadow, dem er 1826 nach Düsseldorf
folgte, den ersten Unterricht in der Kunst und behandelte anfangs
mit Vorliebe antike Stoffe, dann auch Szenen aus neuern Dichtern,
wie Tasso, Goethe etc. Seine Hauptwerke, welche ihm in den 30er und
40er Jahren eine große Popularität einbrachten, sind:
Rinaldo und Armida, die Lautenschlägerin und der Raub des
Hylas (beide in der Nationalgalerie zu Berlin), Diana und
Aktäon, das Urteil des Paris, Romeo und Julie, die beiden
Leonoren, die Schwestern, die vier Jahreszeiten, Lurlei und
Darstellungen von sentimental-romantischen Situationen. S. war
Meister in Behandlung der Karnation und in der Darstellung von
Frauengestalten. Besonders ausgezeichnet war er im weiblichen
Bildnis. Er wurde 1832 Lehrer an der Düsseldorfer Akademie und
starb 25. Nov. 1867 während eines Besuchs in Köln. Als
Lehrer hat er einen großen Einfluß auf die Entwickelung
der Düsseldorfer Schule geübt. - Seine beiden Söhne
Richard S. (geb. 1834) und Karl S. (geb. 1845) haben sich als
Porträt- und Genremaler vorteilhaft bekannt gemacht.

2) Wilhelm, Maler, Neffe des vorigen, geb. 1830 zu Berlin, ging
1847 nach Düsseldorf und erhielt durch Karl S. seine
Ausbildung, die er durch Reisen ergänzte. Anfangs malte er
historische Bilder, wie: Christus auf stürmischer See (1853,
städtische Galerie in Düsseldorf, Christus am Ölberg
(1855, in der Friedenskirche zu Jauer in Schlesien), Genoveva
(1856); bald aber wandte er sich der Genremalerei zu. Seine
Verschiedenen Lebenswege, Gewissensfrage (1864, Galerie zu
Karlsruhe), besonders aber die Konsultation beim Rechtsanwalt
(1866, Museum in Leipzig) sind meisterhaft in der Charakteristik,
in der Zeichnung und der koloristischen Wirkung. Infolge des
Aufsehens, welches diese Gemälde machten, erhielt er den
Auftrag, für die preußische Nationalgalerie ein
großes Bild, die Abendmahlsfeier einer protestantischen
Patrizierfamilie, zu malen, das ihn noch beschäftigt. S. wurde
1874 Lehrer der Malerei an der Düsseldorfer Akademie. Seit
dieser Zeit hat er wenig geschaffen, desto ersprießlicher
aber als Lehrer gewirkt.

Soho, Vorstadt von Birmingham (s. d.), mit
berühmter, von Watt gegründeter Dampfwagenfabrik.

Sohrau, Stadt im preuß. Regierungsbezirk Oppeln,
Kreis Rybnik, am Ursprung der Ruda und an der Linie Orzesche-S. der
Preußischen Staatsbahn, 283 m ü. M., hat eine
evangelische und eine kath. Kirche, eine Synagoge, ein Amtsgericht,
Eisengießerei und Eisenwarenfabrikation, Lein- und
Wollweberei, eine Dampf- und 3 Wassermühlen, Ziegeleien und
(1885) mit der Garnison (1 Eskadron Ulanen Nr. 2) 4450 meist kath.
Einwohner.

Söhre, bewaldete Berglandschaft im preuß.
Regierungsbezirk Kassel, rechts von der Fulda, südöstlich
von Kassel, besteht aus Buntsandstein und erreicht im Stellberg 482
m Höhe.

Soi-disant (franz., spr. ssoa-disang), sogenannt.

Soignies (spr. ssoanjih), Hauptstadt eines
Arrondissements in der belg. Provinz Hennegau, an der Senne und der
Eisenbahn Brüssel-Quiévrain (mit Abzweigung nach
Houdeng-Goegnies), hat mehrere Kirchen (darunter die romanische
Vincentiuskirche aus dem 12. Jahrh.) und Klöster, ein Rathaus
im spanischen Stil, eine höhere Knabenschule, Industrieschule,
ein geistliches Seminar, Zwirnfabrikation und (1887) 8683 Einw.
Hier 10. Juli 1794 siegreiches Gefecht der Franzosen gegen die
Niederländer.

Soirée (franz., spr. ssóareh), Abend;
Abendgesellschaft; S. dansante, Abendgesellschaft mit Tanz.

Soiron (spr. ssoaróng), Alexander von, bad.
Politiker, geb. 2. Aug. 1806 zu Mannheim, studierte in Heidelberg
und Bonn, widmete sich seit 1832 der advokatorischen Praxis erst zu
Heidelberg, dann zu Mannheim und ward 1834 daselbst
Oberhofgerichtsadvokat. Seit 1845 Abgeordneter der badischen
Zweiten Kammer, hielt er zur liberalen Opposition und nahm 1848 an
den Vorbereitungen zur Berufung des Vorparlaments regen Anteil. Er
ward auch in den Fünfzigerausschuß gewählt und
führte den Vorsitz darin. In der Nationalversammlung war er
geraume Zeit erster Vizepräsident und Vorsitzender des
Verfassungsausschusses. Er handhabte seine Ämter mit Energie
und Umsicht und zog sich dadurch den Haß

5

Soissonische Stufe - Soja.

der Linken zu. S. war ein tüchtiger Redner und
fleißiger Arbeiter. Auch am Erfurter Parlament nahm er teil.
Er starb 6. Mai 1855 in Heidelberg.

Soissonische Stufe (spr. ssoa-), s.
Tertiärformation.

Soissons (spr. ssoassóng),
Arrondissementshauptstadt im franz. Departement Aisne, an der Aisne
und der Nordbahn (mit Abzweigung nach Compiègne und Reims),
mit detachierten Forts umgebene Festung zweiten Ranges, hat mehrere
Überreste gallorömischer Architektur und bedeutende
Bauwerke aus dem Mittelalter, wie die schöne Kathedrale
(12.-13. Jahrh.), die Kirche St.-Léger, die Stiftskirche
St.-Pierre, die Reste der 1076 gegründeten Abtei St.-Jean des
Vignes, das Stadthaus u. a. S. hat ein Zivil- und Handelstribunal,
ein Collège, großes und kleines Seminar, eine
Zeichenschule, eine Bibliothek mit 30,000 Bänden, ein
Antikenmuseum, ein Taubstummeninstitut und (1886) 11,850 Einw.,
welche etwas Industrie und starken Handel mit landwirtschaftlichen
Produkten treiben. Es ist Bischofsitz. - Im Altertum hieß die
Stadt Noviodunum, später Augusta Suessionum (wovon der heutige
Name) und war die Hauptstadt der Suessionen im belgischen Gallien.
In S. war ein Palatium der römischen Kaiser, und es war die
letzte Stadt, welche die Römer in Gallien besaßen.
Aetius und Syagrius residierten daselbst, und letzterer wurde 486
von Chlodwig in der Nähe der Stadt geschlagen. In der
Merowingerzeit war es fast immer Residenz eines Teilreichs und war
auch nachher von Bedeutung. Hier fand 744 eine für Neustrien
wichtige Synode und 751 die Erhebung Pippins zum König statt;
hier mußte Ludwig der Fromme 833 Kirchenbuße thun. Seit
dem 9. Jahrh. Sitz eigner Grafen, ging S. durch Kauf und Heirat in
verschiedene Hände über und fiel 1734 an die
französische Krone. Als Knotenpunkt großer
Heerstraßen und Sperrpunkt der Nordbahn spielte S. in den
Kämpfen von 1814 und 1815 sowie 1870 eine große Rolle,
15. Okt. d. J. ward es nach dreitägiger Beschießung vom
Großherzog von Mecklenburg-Schwerin genommen. Die Geschichte
dieser Belagerung beschrieben Gärtner (Berl. 1874) und H.
Müller (das. 1875).

Soissons (spr. ssoassóng), 1) Charles von Bourbon,
Graf von, Sohn des Prinzen Ludwig I. von Condé (s. d.) aus
dessen zweiter Ehe mit Françoise von
Orléans-Longueville, durch welche die Grafschaft S. an das
Haus Bourbon-Condé kam, geb. 1566, stand in den
Hugenottenkriegen bald auf seiten des Hofs, bald auf seiten des
Königs Heinrich von Navarra, schloß sich 1588 an diesen
an, leistete ihm in der Schlacht bei Coutras nützliche Dienste
und starb 1. Nov. 1612.

2) Louis von Bourbon, Graf von, Sohn des vorigen, geb. 11. Mai
1604 zu Paris, folgte seinem Vater als Grand-Maître und
Gouverneur der Dauphiné. Schon im 16. Jahr unterstützte
er die Königin-Mutter Maria von Medici gegen ihren Sohn Ludwig
XIII., während er zugleich, um sich gefürchtet zu machen,
mit den Hugenotten unterhandelte. Als diese ihn mißtrauisch
von sich wiesen, kehrte er zur Partei des Königs zurück
und begleitete diesen im Feldzug von 1622 gegen die Protestanten.
Durch die Entdeckung der Verschwörung gegen Richelieu, an der
er teilgenommen hatte, kompromittiert, floh er nach Italien; Ludwig
XIII. rief ihn jedoch zurück und beauftragte ihn mit der
Belagerung von La Rochelle. 1630 kaufte S. die Grafschaft S. vom
Prinzen von Condé, begleitete den König nochmals nach
Italien und erhielt dann das Gouvernement von Champagne und La
Brie. In dem Feldzug von 1636 befehligte er ein kleines Korps an
der Aisne und Oise, wurde jedoch von den Spaniern zum Rückzug
nach Noyon gezwungen. Ein neuer, abermals vereitelter Anschlag zur
Ermordung Richelieus nötigte S. zur Flucht nach Sedan, wo er
sich mit dem Herzog von Bouillon, dem Herzog von Guise und den
Spaniern zum Kriege gegen den Minister verband. Ein
königliches Heer unter dem Marschall Châtillon wurde 6.
Juli 1641 bei Marfée in der Nähe von Sedan geschlagen,
S. aber im Gefecht erschossen. Mit ihm erlosch die Seitenlinie S.
des Hauses Bourbon-Condé; Besitz und Titel gingen auf den
zweiten Sohn seiner Schwester Maria über, die sich 1625 mit
dem Prinzen Thomas Franz von Savoyen-Carignan vermählt
hatte.

3) Eugène Maurice von Savoyen, Graf von, Sohn des Prinzen
Thomas Franz von Savoyen-Carignan, Neffe des vorigen, geb. 1635 zu
Chambéry, widmete sich in der Jugend dem geistlichen Stand,
nahm jedoch später Kriegsdienste und heiratete 1657 Olympia
Mancini (s. Mancini 1), die Nichte des Ministers Mazarin, der ihn
zum Generalobersten der Schweizer und zum Gouverneur der Champagne
ernannte. 1667 wohnte er dem Feldzug in Flandern bei, und 1672 ward
er von Ludwig XIV. zum Generalleutnant befördert, in welcher
Eigenschaft er sich in Holland und am Rhein auszeichnete. Er starb
7. Juni 1673. Sein jüngerer Sohn war der berühmte Prinz
Eugen (s. d.) von Savoyen; der ältere, Ludwig Thomas, setzte
die Linie Savoyen-S. fort, die mit dessen Enkel 1734 erlosch.

Soja Savi (Sojabohne), Gattung aus der Familie der
Papilionaceen, mit der einzigen Art S. hispida Mönch, einer
einjährigen, in Japan, Südindien und auf den Molukken
heimischen Pflanze. Sie hat einen bis 1 m hohen, aufrechten, etwas
windenden Stengel, langgestielte, dreizählige Blätter,
welche wie Stengel und Zweige dicht rotbraun behaart sind,
kurzgestielte Blütenträubchen mit kleinen, unscheinbaren,
blaßvioletten Blüten und sichelförmige,
trockenhäutige, rötlich behaarte, zwei- bis
fünfsamige, zwischen den Samen schwammig gefächerte
Hülsen. Man kultiviert die Sojabohne in zahlreichen
Varietäten und in sehr weiter Verbreitung in Asien. Sie geht
mit ihrer nördlichen Verbreitungsgrenze noch über den
Mais hinaus, besitzt ein großes Anpassungsvermögen an
Boden- und klimatische Verhältnisse, völlige
Immunität gegen Schmarotzerpilze und nie versagende
Fruchtbarkeit. Die früh reifenden Varietäten geben in
Mitteleuropa nach zahlreichen mehrjährigen Anbauversuchen sehr
befriedigende Resultate. Die Samen sind rundlich, länglich
oder nierenförmig, gelblich, braunrot, grünlich oder
schwarz, niemals gefleckt; sie enthalten neben etwa 7 Proz. Wasser
38 Proteinkörper, 17-20 Fett, 24-28 stickstofffreie
Substanzen, 5 Rohfaser und 4,5 Proz. Asche. Ihr Nährwert ist
mithin gegenüber den übrigen Hülsenfrüchten ein
sehr hoher, und namentlich tritt der bedeutende Fettgehalt hervor.
Auf letzterm beruht zum Teil die vielfache Verwendung der
wohlschmeckenden Samen in Japan, indem der fettige Brei fast allen
Gerichten statt der Butter zugesetzt wird; in China lebt ein
großer Teil der Bevölkerung von Sojagerichten; auch
bereitet man aus Sojabohnen durch einen Gärungsprozeß
eine pikante braune Sauce für Braten und Fische, welche in
Japan, China, Ostindien sehr beliebt ist und in England wie auf dem
Kontinent und in Nordamerika ebenfalls in den Handel kommt. Die
japanische Sojasauce ist die beste, sie besitzt nicht den
süßlichen Geschmack der chinesischen. Gute Sojasauce ist
tiefbraun, sirupartig und bildet

6

Sojaro - Sokrates.

beim Schütteln eine helle, gelbbraune Decke. Bei der
Benutzung darf den Speisen nur sehr wenig zugesetzt werden. In
Österreich hat man die Samen als gutes Kaffeesurrogat benutzt.
Vgl. Haberlandt, Die Sojabohne (Wien 1878); Wein, Die Sojabohne
(Berl. 1881).

Sojaro, Beiname von Bernardino Gatti (s. d.).

Sok, siamesische Elle, = 2 Kup à 12 Niuh oder Nid
à 4 Kabiet = ½ m.

Sokal, Stadt in Ostgalizien, am Bug und an der Eisenbahn
Jaroslau-S., mit Bezirkshauptmannschaft, Bezirksgericht,
Bernhardinerkloster, Wallfahrtskirche und (1880) 6725 Einw. Hier
1519 Niederlage der Polen gegen die Tataren.

Sokol (slaw.), Falke; übertragen s. v. w. Held,
wackerer Mann; in Böhmen und Mähren häufig auch Name
von Turnvereinen.

Sokolka, Kreisstadt im russ. Gouvernement Grodno, an der
Petersburg-Warschauer Eisenbahn, mit (1885) 4125 Einw., von denen
sich die Christen mit Landbau, die Juden mit Kramhandel
beschäftigen; kam bei der dritten Teilung Polens (1795) an
Preußen und 1807 an Rußland.

Sokolow, 1) Stadt in Galizien, Bezirkshauptmannschaft
Kolbuszow, hat ein Bezirksgericht und (1880) 4296 Einw. -

2) Kreisstadt im russisch-poln. Gouvernement Sjedletz, mit
(1885) 7083 Einw.

Sókoto (Soccatu, Sakatu), Reich der Fellata im
westlichen Sudân (Afrika), grenzt nördlich an die
Sahara, östlich an Bornu, westlich an Gando und umfaßt
den größten Teil des Haussalandes mit einem
Flächenraum von ca. 440,000 qkm (8000 QM.). Hauptstadt des
Landes und Residenz des Sultans ist Wurno mit 22,000 Einw. Der
Sultan von S. übt über Gando, Bautschi, Nupe und
Adamáua mehr ein geistliches als ein weltliches Regiment.
Dennoch empfängt er von diesen Staaten mäßigen
Tribut. Das Reich, welches unter den Sultanen Bello (1819 bis 1832)
und Atiku (1832-37) in ziemlicher Blüte stand, ist unter deren
Nachfolgern sehr in Verfall gekommen. Die Stadt S., ehemals
Hauptstadt des Reichs, am gleichnamigen Fluß (Nebenfluß
des Niger), ist mit einer Mauer umgeben, ziemlich
regelmäßig gebaut, hat einen großen
Residenzpalast, mehrere Moscheen, Fabrikation von Leder- u.
Baumwollwaren, Waffen, Werkzeugen etc. Ein aus Brasilien
zurückgekehrter Fulahsklave hat in der Nähe eine
Zuckerplantage und -Raffinerie angelegt. Arabische Kaufleute aus
Ghadames bewohnen ein besonderes Viertel, auch englische
Händler erscheinen jetzt daselbst. Clapperton gelangte 1824
als erster Europäer nach S. und starb 1827 in der Nähe
der Stadt. 1853 wurde es von Barth, 1880 von Flegel und 1885 von I.
Thomson besucht. Letzterer schloß namens der National African
Company mit dem Sultan einen Vertrag ab, wonach jener Gesellschaft
gegen eine jährliche Subsidie das Monopol des Handels und der
Mineralausbeute an den Ufern des Binue eingeräumt wurde. S.
Karte bei Guinea.

Sokotora (Socotra, verderbt aus dem griech. Dioskorides),
Insel im Indischen Ozean, 220 km östlich vom Kap Gardafui, der
Ostspitze Afrikas, 3579 qkm (65 QM.) groß mit 12,000 Einw.,
ist mit Ausnahme eines schmalen Küstenstrichs von hohen, bis
über 1360 m aufsteigenden Gebirgen erfüllt, nur in
einzelnen Thälern unweit der Küste fruchtbar, in welchen
vorzugsweise die nach der Insel benannte Aloe und Dattelpalmen
gedeihen, welche nebst Drachenblut, Schildpatt, Zibetkatzen etc.
ausgeführt werden. Die Bevölkerung ist ein Mischvolk von
Arabern, Somal, Negern und Indern. Ihre Hauptbeschäftigung
bilden Handel, Viehzucht (Kamele, Rinder, Schafe, Ziegen) und etwas
Ackerbau. Der Hauptort ist Tamarida an der Nordküste. - Von
den alten Kulturvölkern Dioskorides genannt und auch im
Periplus erwähnt, wurde die Insel im 15. Jahrh. von
Niccolò Conti und 1503 von Pereira besucht und 1506 von
Tristan da Cunha erobert. Doch stellte 1510 der arabische Scheich
von Keschin seine Autorität wieder her. Damals befand sich
eine im 4. Jahrh. von Arabien aus gegründete christliche
Gemeinde auf der Insel, die später den Arabern weichen
mußte. Von 1835 bis 1839 hielten englische Truppen die Insel
besetzt, 1876 schloß die englische Regierung mit dem Scheich
von Keschin einen Vertrag ab, wodurch sie das Vorkaufsrecht erwarb,
und 30. Okt. 1886 ließ der britische Resident in Aden die
Insel besetzen. Schweinfurth hat dieselbe 1881 erforscht. Vgl.
Robinson, Sokotra (Lond. 1878).

Sokrates, 1) der berühmteste unter den griechischen
Weisen, Sohn des Bildhauers Sophroniskos und der Hebamme
Phänarete, wurde um 469 v. Chr. zu Athen geboren. Er soll die
Kunst seines Vaters erlernt und auch eine Zeitlang ausgeübt
haben; eine Gruppe am Fuß der zur Akropolis führenden
Treppe galt für sein Werk. Zu seiner Lebensaufgabe machte er
den in Gestalt von Unterredungen und im Gegensatz zu den Sophisten
unentgeltlich erteilten Unterricht, zu welchem Zweck er seine
materiellen Bedürfnisse auf das äußerste
beschränkte und den Verkehr mit Jünglingen, deren Geburt
und Talent (wie bei Alkibiades und Kritias) vorhersehen
ließen, daß sie späterhin einen großen
Einfluß auf ihre Mitbürger üben würden, um sie
zu denkenden und charaktervollen Männern zu bilden, jedem
andern vorzog. Seine Tüchtigkeit bekundete sich jedoch nicht
bloß in diesen didaktischen, sondern auch in praktischen, auf
die Erfüllung seiner Bürgerpflichten, auch der
militärischen, gerichteten Bestrebungen. Obgleich dem Krieg
abhold, beteiligte er sich an drei Feldzügen und rettete in
der Schlacht bei Potidäa dem vom Pferd gestürzten
Alkibiades durch mannhafte Verteidigung das Leben. Gerade aber sein
Streben nach unabhängiger Tüchtigkeit im Treiben einer
korrumpierten Umgebung und seine Bemühungen, die Jugend von
den verderblichen Lehren sittlicher Zersetzung abzuziehen und
edlerer Geistesverfassung zuzuführen, zogen ihm Verfolgung zu.
S. wurde bezichtigt, die Jugend zu verderben und andre Götter
als die vom Staat anerkannten zu lehren. Als seine Ankläger
werden genannt: ein mittelmäßiger Dichter, Melitos, ein
Lederhändler und Demagog, Anytos, und ein Rhetor, Lykon. S.
verteidigte sich in mutvoller und seiner würdiger Weise, ohne
eine gewisse Reizung seiner Richter zu vermeiden. Nachdem er mit
ganz geringer Majorität verurteilt war und nun selbst dem
Herkommen gemäß einen Strafantrag zu stellen hatte,
lehnte er letzteres ab, indem er ironisch an Stelle der
vorzuschlagenden Strafe eine Belohnung seiner Verdienste durch
Erhaltung auf öffentliche Kosten im Prytaneion forderte.
Hierdurch erbittert, verurteilten ihn seine Richter mit
größerer Majorität zum Tode. Der religiöse
Gebrauch, dem zufolge niemand bis zur Rückkehr eines gerade um
diese Zeit nach Delos entsendeten heiligen Schiffs hingerichtet
werden durfte, gestattete ihm, noch 30 Tage zu leben. Während
dieser Zeit unterhielt er sich im Gefängnis mit einigen seiner
Anhänger über philosophische Gegenstände und
namentlich über den Tod. Das Anerbieten Kritons, ihm zur
Flucht zu verhelfen, lehnte er ab. Mit der größten
Gemütsruhe nahm er

7

Sokratik - Sol., Soland.

nach Ablauf der Frist den Schierlingstrank und starb so in einem
Alter von etwa 70 Jahren 399. Die große Bedeutung des S. ist
in der Anregung zu suchen, die er durch sein Leben und noch mehr
durch seinen Tod gab. Sein geistreichster und edelster
Schüler, Platon, hat in seinen Dialogen Charakter und
Gedankenkreis seines Meisters, wenn auch in einer freien, mit
dichtender Umbildung versetzten Form, so doch mit jener Wahrheit,
die auch der Dichtung innewohnt, dargestellt. Eine mehr
nüchterne, aber gerade darum wertvolle Auffassung des S.
findet sich in den "Memorabilien" Xenophons, der ebenfalls zu dem
Kreise seiner Vertrauten gehörte. Die Lehre des S. ist, da er
selbst nichts geschrieben hat, nur durch seine Schüler auf uns
gekommen. Als Philosoph kam derselbe mit seinen Zeitgenossen, den
Sophisten, darin überein, daß er, wie diese, den
Schwerpunkt des Unterrichts in die (lehrbare) Methode und den Zweck
desselben nicht, wie deren Vorgänger, die griechischen
Physiker und Naturphilosophen, in die Erkenntnis der Natur, sondern
in jene des dem Menschen Nützlichen als des für diesen
einzig Wissens- und Wünschenswerten legte, unterschied sich
aber von denselben dadurch, daß einerseits seine Methode
nicht, wie die der Sophisten, ein dialektisch-rhetorisches
Kunststück, um Wahres falsch, Falsches wahr scheinen zu
machen, sondern die dialektische Kunst, das Wahre als solches zu
finden und zu erkennen, anderseits sein Zweck nicht, wie bei jenen,
auf die Erkenntnis des Nützlichen als des Guten, sondern
vielmehr auf jene des Guten als des allein wahrhaft, bleibend und
allgemein Nützlichen gerichtet war. Um seiner Abwendung von
der Physik willen ist von ihm gesagt worden, daß er die
Philosophie vom Himmel auf die Erde zurückgeführt habe.
Seine Übereinstimmung mit den Sophisten hinsichtlich des
Wertes methodischen Denkens und praktischer Ziele hat bewirkt,
daß er von Fernstehenden (z. B. von Aristophanes in den
"Wolken") zu den Sophisten gerechnet, ja seiner dialektischen
Schärfe wegen als "Erzsophist" hingestellt worden ist. Die
Reinheit seiner nur auf Erkenntnis der Wahrheit abzielenden sowie
die Uneigennützigkeit seiner nur das Gute als Zweck
menschlichen Handelns zulassenden Denkweise haben gemacht,
daß er von den ihm Nahestehenden (von seinen Schülern,
insbesondere von Platon) als deren diametraler Gegensatz erkannt
und sein Bild als Ideal eines Weisen dem des Sophisten als des
Zerrbildes eines solchen entgegengestellt wurde. Jene Kunst des S.
bestand (nach Aristoteles) darin, einerseits von der Betrachtung
des Besondern zum Allgemeinen aufzusteigen (Induktion), anderseits
durch Ausscheidung des Unwesentlichen und Ungehörigen wie
durch Zusammenfassung des Wesentlichen und Unentbehrlichen zum
Begriff zu gelangen (Definition), welch letzterer, weil er der
Sache selbst entspricht, immer derselbe bleibt, während das
Allgemeine, weil es aus dem Besondern gewonnen worden ist, dieses
letztere sämtlich in sich begreift. Dieselbe wurde von S.,
hierin dem Beispiel der Sophisten folgend, in dialogischer Form,
durch geschicktes Fragen (erotematisch), aber zu dem Zweck, die
Wahrheiten an den Tag zu bringen (daher er sie selbst mit dem
Handwerk seiner Mutter, der mäeutischen oder Hebammenkunst,
verglich), und zugleich indirekt, d. h. in der Weise geübt,
daß der Fragende (obgleich der Wissende) sich unwissend
stellt und von dem Gefragten (als ob dieser wissend wäre)
belehrt zu werden vorgibt, während er diesen belehrt (daher
diese Form des erotematischen Unterrichts als "sokratische Ironie"
bezeichnet wird). Von diesem nur aus didaktischen Gründen
gewählten Schein des Nichtwissens verschieden ist das dem S.
gleichfalls in den Mund gelegte Eingeständnis wirklichen
Nichtwissens, der anspruchsvollen Vielwisserei der Sophisten
gegenüber, um derentwillen derselbe von dem delphischen Orakel
für den weisesten aller Menschen erklärt worden sein
soll. In Bezug auf die Tugend als Verwirklichung des Guten war S.
der Meinung, daß dieselbe lehrbar, d. h. durch richtige
Erkenntnis und Unterweisung zu bewirken sei, denn es sei
unmöglich, das Gute zu wissen, ohne es zu thun. In Bezug auf
den Inhalt des Guten aber liebte es S., sich auf sein von ihm
sogenanntes Dämonion als eine in seinem Innern sich
kundgebende Stimme zu berufen, welche zwar niemals ratend, aber
stets warnend sich vernehmbar mache, wenn er etwas Unrechtes zu
thun im Begriff sei. Unter den Schülern des S. haben die
sogen. Sokratiker einzelne Seiten seines Wesens (Eukleides und
Phädon in der megarischen und elischen Schule die
dialektische, Antisthenes und Aristippos in der cynischen und
kyrenäischen Schule die moralische) einseitig entwickelt,
während Platon allein die empfangenen geistigen und sittlichen
Anregungen zu einem das Ganze der Philosophie umfassenden
Gedankenbau ausbildete. Aus der antiken Litteratur über S.
sind die Platonischen Dialoge (insbesondere Kriton, Phädon und
die "Apologie") hervorzuheben. Vgl. Lasaulx, Des S. Leben, Lehre
und Tod (Münch. 1857); Volkmann, Die Lehre des S. (Prag 1861);
Alberti, Sokrates (Götting. 1869); Fouillée, La
philosophie de Socrate (Par. 1874, 2 Bde.); Grote, Plato and the
other companions of S. (4. Aufl., Lond. 1885, 3 Bde.); Zeller,
Philosophie der Griechen, 2. Teil, 1. Abteil. (4. Aufl., Leipz.
1889).

2) S. Scholasticus, Verfasser einer Kirchengeschichte in sieben
Büchern, der Fortsetzung des Werkes des Eusebios, welche von
306-439 reicht, geboren um 380 zu Konstantinopel war eigentlich
Sachwalter. Sein Werk ist herausgegeben unter andern von Hussey
(Oxf. 1853, 3 Bde.) und Bright (das. 1878).

Sokrátik (Sokratische Methode), die
"erotematische" Kunst (s. Erotema) oder die Kunst, durch geschickt
gestellte Fragen die passende Antwort hervorzulocken, welche
Sokrates selbst, auf den Beruf seiner Mutter anspielend, eine
geistige Hebammenkunst (s. Mäeutik) genannt und seine Schule
mit Rücksicht darauf, daß der Fragende sich unwissend
stellt, aber wissend ist, als sokratische Ironie bezeichnet hat.
Vgl. Sokrates 1) und Katechetik.

Sokratiker, Schüler, Anhänger des Sokrates.

Sokratischer Dämon (Dämonion) nannte Sokrates
selbst (Xenophon und Platon zufolge) das "höhere Wesen", von
dem er meinte, daß es ihm durch ein göttliches Geschenk
von Jugend auf beiwohne und sich ihm, wenn er oder seine Freunde
etwas Unrechtes zu thun im Begriff seien, als abratende, jedoch
niemals als zu etwas zuratende Stimme kundgebe, was zu mancherlei
Mißdeutungen (z. B. durch den Spiritismus) Anlaß
gegeben hat. Vgl. Volquardsen, Das Dämonium des Sokrates (Kiel
1862).

Sol, seit 1862 Rechnungseinheit in Peru, à 100
Centavos = 5 Frank; auch s. v. w. Sou (s. d.).

Sol, in der Musik, s. Solmisation.

Sol, bei den Römern der Sonnengott, s. Helios; in
der Alchimie das Gold.

Sol., Soland., bei naturwissenschaftl. Namen
Abkürzung für Daniel Solander, geb. 1736 in Norrland,
gest. 1782 als Unterbibliothekar des Britischen Museums zu London.
Weichtiere, Korallen.

8

Sola fide - Solario.

Sola fide (lat.), d. h. "allein durch den Glauben" werden
wir nämlich gerechtfertigt. Dieses von Luther in der Stelle
Röm. 3, 28, sinn-, aber nicht textgemäß
eingeschobene Sola wurde das Stichwort der lutherischen
Reformation.

Solamen miseris socios habuisse malorum (lat.), "es ist
ein Trost für die Unglücklichen, Leidensgenossen zu
haben".

Solanaceen, dikotyle Familie aus der Ordnung der
Tubifloren, einjährige und perennierende Kräuter und
Holzpflanzen mit wechselständigen, einfachen, oft in der
Blütenstandregion gepaarten Blättern ohne
Nebenblätter und mit meist vollständigen Blüten,
welche einzeln oder in Wickeln stehen, und deren Stiele häufig
scheinbar außerhalb der Blattachseln oder aus der Seite der
Internodien entspringen. Der Kelch ist verwachsenblätterig,
meist fünfspaltig oder -teilig, selten über der stehen
bleibenden Basis abfallend, meist bleibend und an der Frucht mehr
oder weniger vergrößert. Die regelmäßige
Korolle ist dem Blütenboden inseriert,
verwachsenblätterig, rad-, glocken-, trichter- oder
präsentiertellerförmig, mit meist fünfspaltigem
Saum, dessen Zipfel gefaltet, gedreht oder klappig liegen;
bisweilen ist die Blumenkrone zygomorph. Die fünf
Staubgefäße stehen in der Röhre der Blumenkrone
abwechselnd mit den Saumabschnitten derselben. Der
oberständige Fruchtknoten wird aus zwei schräg zur
Mediane gestellten Karpiden gebildet und ist zweifächerig oder
durch sekundäre Scheidewände unvollständig oder
vollständig vierfächerig und hat eine dicke zentrale, mit
zahlreichen amphitropen Samenknospen besetzte Placenta. Die Frucht
ist eine Beere oder eine Kapsel. Die mehr oder weniger
nierenförmigen Samen haben ein reichliches fleischiges
Endosperm und einen halb oder ganz kreisförmig
gekrümmten, seltener geraden Embryo. Die Familie zählt
über 1200 Arten, die zum größten Teil den Tropen
und demnächst den beiden gemäßigten Zonen
angehören. Mehrere enthalten narkotische Alkaloide und sind
wichtige Arznei- oder gefährliche Giftpflanzen (Hyoscyamus,
Datura, Atropa, Solanum, Nicotiana); andere, wie die Kartoffel
(Solanum tuberosum), sind namentlich wegen ihres Gehalts an
Stärkemehl wichtige Nutzpflanzen. Nur sehr wenige S. sind
fossil in Tertiärschichten gefunden worden (Solanites
Sap.).

Solanin C43H71NO16 findet sich in verschiedenen Arten der
Pflanzengattung Solanum, besonders reichlich in den Keimen,
welche Kartoffeln im Frühjahr im Keller treiben. Extrahiert
man diese mit säurehaltigem Wasser und fällt den Auszug
mit Ammoniak, so entzieht Alkohol dem Niederschlag das S. Dies
bildet farb- und geruchlose Kristalle, schmeckt bitter, etwas
brennend, ist sehr schwer löslich in Wasser und Äther,
leichter in Alkohol, schmilzt bei 235°, reagiert schwach
alkalisch und bildet mit Säuren zwei Reihensalze, von denen
die neutralen nicht kristallisieren, bitter und brennend schmecken,
in Wasser und Alkohol leicht, in Äther kaum löslich sind,
und aus deren Lösung Ammoniak amorphes S. fällt. Beim
Kochen mit verdünnten Säuren wird S. in Zucker und
Solanidin C25H41NO gespalten; letzteres kristallisiert, ist
flüchtig, reagiert stärker alkalisch und bildet
kristallisierbare Salze. S. ist stark giftig.

Solano (span.), ein im südlichen Spanien in der
Mancha und Andalusien, namentlich in Sevilla und Cadiz, meist von
Juni bis September auftretender, dem Scirocco ähnlicher, von
SO. und Süden kommender heißer Wind, welcher
erschlaffend und Schwindel erregend wirkt.

Solanum L. (Nachtschatten), Gattung aus der Familie der
Solanaceen, Kräuter, Sträucher oder kleine Bäume von
sehr verschiedenem Habitus, bisweilen kletternd, oft zottig,
sternfilzig oder drüsig behaart, auch stachlig, mit
abwechselnden, einzeln stehenden oder gepaarten, einfachen,
gelappten oder fiederschnittigen Blättern, gelben,
weißen, violetten oder purpurnen Blüten in achsel- oder
endständigen Trauben oder wickeligen Infloreszenzen und
gewöhnlichen, vom bleibenden Kelche gestützten, meist
kugeligen, vielsamigen Beeren. Etwa 700 Arten, meist in den
tropischen und subtropischen Klimaten, besonders Amerikas. S.
Dulcamara L. (Bittersüß, Alpranke, Mäuseholz,
Hundskraut, Stinkteufel, Teufelszwirn), Halbstrauch mit hin- und
hergebogenem, kletterndem oder windendem Stamm, länglich
eiförmigen, zugespitzten, am Grund oft herzförmigen oder
geöhrt dreilappigen Blättern, diesen
gegenüberstehenden, wickeligen, nickenden Infloreszenzen,
violetten Blüten und roten, länglichen Beeren,
wächst an feuchten Stellen in Europa, Asien, Nordamerika. Die
Stämme riechen beim Zerbrechen sehr widrig narkotisch, sind
nach dem Trocknen geruchlos, schmecken bitterlich, hintennach
süß; sie enthalten Solanin, Dulcamarin und Zucker; seit
dem 17. Jahrh. wurden sie medizinisch benutzt, sind jetzt aber
ziemlich obsolet. Die Beeren erzeugen Erbrechen und Durchfall. S.
esculentum Dun. (S. Melongena L. Eierpflanze, Melanganapfel), in
Ostindien, einjährig, mit krautartigem, bis 60 cm hohem,
stachligem oder wehrlosem Stengel, eirunden, ganzrandige oder
buchtig gezahnten, unbewehrten oder dornigen, unterseits filzigen
Blättern und lilafarbigen, großen Blüten,
trägt ovale, violette, gelbe oder weiße Früchte
(Aubergine, Albergine) von der Größe eines
Hühnereies, die als Zuthat an Saucen, Suppen, Ragouts etc.
oder geröstet gegessen werden. Man kultiviert sie in den
Tropen, in Spanien, Südfrankreich, um Rom, Neapel, in der
Walachei und der Levante. In Deutschland kommt diese Pflanze nur in
Töpfen oder auf warmen Rabatten, besser in Mistbeeten, vor. S.
nigrum L. (Hühnertod, Saukraut, s. Tafel "Giftpflanzen II"),
aus Amerika eingewandert, allenthalben auf bebautem Land, an Wegen,
auf Schutt, unbewehrt, mit eirunden, buchtig-gezahnten
Blättern, weißen, selten ins Violette spielenden
Blüten in kurz doldenartigen Wickeln und erbsengroßen,
schwarzen (auch grünen) Beeren, und das zottig oder dicht
behaarte S. villosum Lam. mit gelben und mennigroten (S. miniatum
Bernh.) Beeren, sind bekannte Giftpflanzen und enthalten Solanin.
S. Quitoense Lam. (Orange von Quito), ein bis 2 m hoher Halbstrauch
in Peru und Quito, trägt genießbare Früchte von der
Größe einer kleinen Orange, wird auch in England
kultiviert. Von S. anthropophagorum Seem., auf den Fidschiinseln,
wurden die Beeren als Würze bei den kannibalischen Mahlzeiten
der Eingebornen benutzt. Viele Arten werden als Blattzierpflanzen
kultiviert. Über S. tuberosum s. Kartoffel.

Solar (solarisch, lat.), auf die Sonne
bezüglich.

Solarchemie, die von Kirchhoff und Bunsen
begründete, auf Beobachtung des Sonnenspektrums beruhende
Untersuchung der chemischen Beschaffenheit der
Sonnenatmosphäre; s. Spektralanalyse.

Solario, Andrea, italien. Maler, geboren um 1460 zu
Mailand, bildete sich seit 1490 in Venedig bei G. Bellini und
später nach Leonardo da Vinci. Von 1507 bis 1509 war er in
Frankreich thätig. Er starb nach 1515. Seine Hauptwerke sind:
der Ecce homo und die Ruhe auf der Flucht (im Museum Poldi-

9

Solarlicht - Soleillet.

Pezzoli zu Mailand), die Madonna mit dem grünen Kissen und
die Schüssel mit dem Haupt Johannes' des Täufers (im
Louvre zu Paris) und die Salome (in der Galerie zu Oldenburg).

Solarlicht, veraltet s. v. w. elektrisches Licht.

Solarmaschine, s. v. w. Sonnenmaschine.

Solaröl, s. Mineralöle.

Solarstearin, aus Schweineschmalz abgeschiedenes festes
Fett, dient zu Kerzen.

Solawechsel, ein nur in einem einzigen Exemplar
ausgestellter Wechsel, im Gegensatz zu einem Wechsel, von welchem
noch ein oder mehrere Duplikate ausgefertigt werden (Prima-,
Sekunda-, Tertiawechsel etc.); auch s. v. w. eigner Wechsel (s.
Wechsel).

Solbad, ein Bad, welches in einem natürlichen, viel
Kochsalz, oft auch Jod und Brom enthaltenden Mineralwasser (s. d.)
oder statt des letztern in einer künstlich bereiteten
Lösung von Seesalz oder Mutterlaugensalz (Kreuznach,
Kösen) genommen wird. Über die Anwendung der
Solbäder und die Bereitung der künstlichen s. Bad, S.
221.

Solbrunnen, s. Salz, S. 237.

Sold, s. v. w. Lohn, Bezahlung für geleistete
Dienste, namentlich Kriegsdienste, abzuleiten vom lat. solidus, der
von Alexander Severus (222-235 n. Chr.) eingeführten
Goldmünze, welche den viermonatlichen Lohn des Kriegers
ausmachte. Daher Söldner, Scharen, welche um Lohn in
Kriegsdienste treten, wie im Altertum die Griechen, im Mittelalter
Deutsche und, bis in die Neuzeit, besonders die Schweizer (s.
Fremdentruppen). Nach dem Verfall des Heerbannes, der Lehnsfolge
und des Rittertums bildeten bis gegen Ende des 18. Jahrh. geworbene
Söldner die Masse der Heere. Geregelte Soldzahlung begann erst
mit dem Aufkommen der stehenden Heere. Bei dem ausgehobenen
Wehrpflichtigen ist S. die zum Unterhalt nötige Löhnung,
die, wie schon zu Gustav Adolfs Zeit, alle zehn Tage ausbezahlt
wird. Ihre Höhe beträgt in Deutschland für den
Gemeinen der Infanterie 35 Pf. auf den Tag, für Leute der
berittenen Waffen 5 Pf. mehr, für Gefreite je 5 Pf. mehr als
für Gemeine derselben Waffe. Bei den Griechen beginnt die
Soldzahlung unter Perikles, bei den Römern schon unter den
Königen, aber aus den Gemeindekassen, aus der Staatskasse erst
seit 406 n. Chr. halbjährlich oder jährlich; der bare S.,
das Salarium (Geld für Salz) eingerechnet, entsprach dem Lohn
der ländlichen Arbeiter. Bei den Deutschen beginnt die
Soldzahlung vereinzelt unter Karl d. Gr. und war durch die Hansa im
13. Jahrh., in England um 1050 vollständig entwickelt.

Soldanella L. (Troddelblume, Alpenglöckchen),
Gattung aus der Familie der Primulaceen, kleine, perennierende
Kräuter mit grundständigen, gestielten,
nierenförmigen Blättern, auf nacktem Schaft einzeln oder
doldig stehenden, nickenden, blauen, violetten oder rosenroten
Blüten und kegelförmig länglicher Kapsel. Vier Arten
auf den südeuropäischen Hochgebirgen. S. alpina L., mit
überhängenden, hellvioletten Blüten auf zwei- bis
vierblütigem Schaft. S. pusilla Baumg., mit großer,
rötlichweißer oder rosenroter, einzeln stehender
Blüte, wird, wie die vorige, gleich andern Alpenpflanzen
kultiviert.

Soldat, jede für Sold dienende Militärperson,
mit Ausnahme der Militärbeamten; insbesondere der Gemeine (s.
Militär). Der Name S. wurde im 16. Jahrh. aus dem
Italienischen (soldato) entlehnt und stammt vom lateinischen
solidus (s. Sold).

Soldatenhandel, das Vermieten von Truppen, namentlich
seitens der Fürsten deutscher Kleinstaaten, an fremde Staaten,
lediglich zum Zweck des Gelderwerbs, gleichgültig, ob zu
gunsten der Kasse des Staats oder des Fürsten. Hierin liegt
der Unterschied zwischen dem S. und den Subsidienverträgen
behufs Truppenstellung oder Lieferung von Subsidiengeldern; diesen
Verträgen liegt eine Staatsidee zu Grunde, die dem S. mangelt.
Der letztere hat seinen Ursprung bei den Handelsstaaten des
Altertums: Syrakus, Tarent, Karthago, und fand gleiche Anwendung in
Venedig, den Niederlanden und England, die alle zur Aufstellung
ihrer Heere der Werbung von Söldnern bedurften und (wie
England) noch bedürfen. Den S. begann Bernhard von Galen,
Bischof von Münster, 1665; ihm folgte Johann Georg III. von
Sachsen, der 1685 für 120,000 Thlr. 3000 Mann an Venedig zum
Krieg in Morea vermietete. Den höchsten Aufschwung nahm der S.
während der Kriege Englands gegen seine amerikanischen
Kolonien; etwa 30,000 Mann sind dazu aus Deutschland gestellt,
wofür dieses gegen 8 Mill. Pfd. Sterl. erhielt. Der Landgraf
Wilhelm VIII. von Hessen vermietete während des
österreichischen Erbfolgekriegs sowohl Truppen an England als
an Karl VII., also an die sich bekriegenden Gegner. Die
Fremdentruppen (s. d.), die Schweizerregimenter, die sich oft in
den feindlichen Parteien gegenüberstanden, gehören zum S.
Vgl. Jähns, Heeresverfassungen und Völkerleben (Berl.
1885); Winter, Über Soldtruppen (8. Beiheft zum
"Militärwochenblatt" 1884).

Soldatéska (ital.), das Soldatentum, mit dem
Nebenbegriff des Übermütigen und Eigenmächtigen.

Soldau (poln. Dzialdowo), Stadt im preuß.
Regierungsbezirk Königsberg, Kreis Neidenburg, am Flusse S.,
Knotenpunkt der Linie Allenstein-S. und der Eisenbahn
Marienburg-Mlawka, 157 m ü. M., hat eine evangelische und eine
kath. Kirche, eine Synagoge, Ruinen eines alten Ordensschlosses,
ein Amtsgericht, Spiritusfabrikation, Getreide- und Schweinehandel
und (1885) mit der Garnison (ein Füsilierbat. Nr. 44) 3122
meist evang. Einwohner. Hier 26. Dez. 1806 heftiges Gefecht
zwischen Franzosen (Ney) und Preußen (Lestocq).

Soldin, Kreisstadt im preuß. Regierungsbezirk
Frankfurt, am Ausfluß der Miezel aus dem Soldinsee und an der
Eisenbahn Stargard i. P.-Küstrin, 76 m ü. M., hat Reste
einer Stadtmauer und einige Thore aus dem Mittelalter, eine
schöne evang. Kirche, ein Amtsgericht, Maschinenfabrikation, 3
Dampfschneidemühlen, eine Molkerei, Fischerei und (1885) 6198
meist evang. Einwohner. S. wird zuerst 1262 erwähnt. Hier
bestand 1298-1538 ein Kollegiat- oder Domstift der
Prämonstratenser.

Söldner, s. Sold.

Soldo (Mehrzahl Soldi), ital. Rechnungs- und
Kupfermünze, von welcher 20 auf die Lira gehen.

Sole (Soole), kochsalzhaltiges Wasser aus
natürlichen Salzquellen oder künstlich erzeugt (s.
Salz).

Solea (Soole), Zungenscholle, s. Schollen.

Solebai, die Reede von Southwold (s. d.).

Soleillet (spr. ssolläjäh), Paul, franz.
Afrikareisender, geb. 29. April 1842 zu Nîmes, bereiste 1865
Algerien, Tunesien und Tripolitanien, durchzog dann 1871 die
algerische Sahara und machte sich bekannt als einer der
Hauptagitatoren der transsaharischen Eisenbahn. 1873 unternahm er
eine Reise nach Tuat auf einer neuen, noch nicht begangenen Route,
durfte aber die Oase selbst nicht betreten und kehrte 1874 nach
Frankreich zurück. 1878 ging er über Senegambien nach
Segu am Niger und versuchte 1879 nach seiner Rückkehr im
Auftrag der französischen Regierung

10

Solenhofen - Solferino.

von St. Louis nach Timbuktu vorzudringen, wurde indessen bei
Schingit, in der Nähe von Adras, ausgeplündert und war
schon im Mai 1880 wieder in Paris. Im Juli d. J. versuchte er von
St. Louis aus abermals, aber wiederum vergeblich, nach Timbuktu zu
gelangen. Im Auftrag einer französischen Handelsgesellschaft
in Obok machte er 1882 einen kurzen Ausflug über Schoa nach
Kaffa und stand im Begriff, sich abermals nach Schoa zu begeben,
als er 10. Sept. 1886 in Aden starb. Er schrieb: "Exploration du
Sahara" (1876); "L'avenir de la France en Afrique" (1876);
"L'Afrique occidentale" (1877); "Les voyages et découvertes
de P. S., etc., racontés par lui-même" (1881); "Voyage
en Éthiopie 1882-1884" (1886); "Obock, le Choa, le Kaffa"
(1886); "Voyage a Ségou 1878-79" (hrsg. von Gravier, 1887).
Vgl. Gros, Paul S. en Afrique (Par. 1888).

Solenhofen, Dorf, s. Solnhofen.

Solenn (lat.), feierlich; Solennität,
Feierlichkeit.

Solenoglypha (Röhrenzähner), Unterordnung der
Schlangen (s. d., S. 501).

Solenoid (griech.), ein schraubenförmig gewundener
Draht, welcher, solange ihn ein galvanischer Strom
durchfließt, sich wie ein Magnet verhält, nämlich,
wenn beweglich aufgehängt, seine Längsachse in den
magnetischen Meridian einstellt, indem dasjenige Ende, an welchem
der Strom in der Richtung des Uhrzeigers kreist, sich nach
Süden wendet und deshalb Südpol des Solenoids genannt
wird, wogegen das andre nach N. weisende Ende Nordpol heißt.
Auch einem Magnet oder einem zweiten S. gegenüber verhält
sich ein S. wie ein Magnet. Vgl. Elektrodynamik und Magnetismus, S.
90.

Solenópsis, s. Ameisen, S. 452.

Solent, Meeresarm, welcher die engl. Insel Wight von
Hampshire trennt. Die westliche Einfahrt verteidigt Hurst
Castle.

Soleras, s. Jereswein.

Solesmes (spr. ssolähm), 1) Stadt im franz.
Departement Nord, Arrondissement Cambrai, an der Selle und der
Nordbahn, hat bedeutende Zuckerfabrikation, Woll- u.
Baumwollwebereien und (1886) 5728 Einw. -

2) Dorf im franz. Departement Sarthe, Arrondissement La
Flèche, mit Benediktinerkloster aus dem 12. Jahrh., einer
Klosterkirche aus dem 13. Jahrh. mit schönen Skulpturen und
795 Einw.

Soleure (spr. -löhr), franz. Name für
Solothurn.

Soleus (lat.), der Schollenmuskel (fälschlich
Sohlenmuskel) in der Wade.

Solfa (ital.), Tonleiter (vgl. Solmisation).

Solfatára (ital., franz. Soufrière,
Schwefelgrube), vulkan. Krater, dessen Schlot sich bei abnehmender
vulkanischer Thätigkeit allmählich verschloß und
nur noch Gase, Wasserdämpfe und Sublimationen von Schwefel aus
Spalten zu Tage treten läßt wodurch die Gesteine der
Kraterwände Zersetzungen erleiden und einen Überzug von
Schwefel erhalten. Die bekanntesten Solfataren sind in Italien.
Hier heißen so insbesondere drei kleine Seen in der Provinz
Rom, an der nach Tivoli führenden Straße, welche durch
einen Kanal mit dem Teverone in Verbindung stehen. Der Boden
exhaliert Schwefeldünste an mehreren eingebrochenen Stellen
ist trübes Schwefelwasser zu sehen. Von dem einen dieser Seen
werden Thermalbäder (Aquae Albulae) gespeist. Die S. von
Pozzuoli ist einer von den 27 Kratern, welche sich auf der schon
bei den Alten als Phlegräische Felder (s. d.) bezeichneten
vulkanischen Hügellandschaft im W. von Neapel befinden. Es ist
ein durch Einsturz des Kraters eines sich dicht über Pozzuoli
erhebenden Vulkans entstandenes fast kreisrundes Becken das rings
von den Kraterwänden umgeben und nur durch eine Bresche an der
Westseite zugänglich ist. An einigen Stellen ist der Boden
warm, an andern brennend heiß; heiße
Schwefeldämpfe strömen namentlich aus der sogen. Bocca
grande hervor. Die aufsteigenden Dünste werden zu Heilzwecken
benutzt, zu welchem Behuf Bretterhütten errichtet sind. Auch
der an den Wänden der Spalten abgelagerte Schwefel und der
durch Verbindung der porösen Kalke mit der Schwefelsäure
gebildete Gips werden industriell verwertet. Andre Solfataren
finden sich in Westindien (St. Vincent, Guadeloupe, Dominica, wo
die sogen. Grande Soufrière am 4. Jan. 1880 einen
großen vulkanischen Ausbruch hatte, etc.) und in Mexiko. Die
vielgenannte S. von Urumtsi in der Nähe der gleichnamigen
Stadt, am Nordhang des Thianschan (Westchina), ist wahrscheinlich
nur ein brennendes Kohlenlager. Vgl. Fumarolen.

Solfeggio (ital., spr. ssolféddscho. franz.
Solfège) Gesangsübung zur Ausbildung des Gehörs
und der Trefffähigkeit, musikalische Leseübung, am
Pariser Konservatorium der vorbereitende Elementarkursus für
alle Schüler, an vielen andern Anstalten leider
vernachlässigt. Die Solfeggien benannten Gesangsübungen
werden in der Regel auf die Tonnamen: ut (do), re, mi, fa, sol, la,
si gesungen und sind daher zugleich Vokalisationsübungen
(Vokalisen) und bei gesteigerter Schwierigkeit Koloratur- und
Vortragsübungen. Als Meister in der Solfeggienkomposition
stehen die Italiener, namentlich Porpora, Mazzoni, Crescentini,
Concone, obenan. Vgl. Gesang.

Solferino, rote Farbe, s. Anilin, S. 591.

Solferino, Marktflecken in der ital. Provinz Mantua,
Distrikt Castiglione, auf einer Anhöhe 3 Stunden westlich vom
Mincio und ebenso weit südlich vom

[siehe Graphik]

Kärtchen zur Schlacht bei Solferino (24. Juni 1859).

Gardasee, mit (1881) 1284 Einw., ehemals Sitz eines
Fürstentums, geschichtlich merkwürdig durch den
entscheidenden Sieg, welchen hier 24. Juni 1859 die
verbündeten Franzosen und Sardinier über die
Öster-

11

Solger - Soliman.

reicher erfochten. Die Österreicher hatten 21. Juni 1859
ihren Rückzug hinter den Mincio beendigt, am 23. aber, nachdem
der Kaiser, dem Heß zur Seite trat, den Oberbefehl
übernommen, mit 170,000 Mann wieder den Vormarsch in die
Lombardei begonnen. Auf diesem trafen sie 24. Juni früh auf
die gleichfalls vormarschierenden Alliierten (150,000 Mann). Es
entspann sich nun auf der ganzen Linie eine Reihe von
Einzelgefechten ohne Entscheidung, bis Napoleon gegen Mittag einen
energischen Angriff auf S., den Mittelpunkt und Schlüssel der
österreichischen Aufstellung, befahl. Verteidigung u. Angriff
leisteten das Äußerste. Um 3 Uhr erstürmten die
Franzosen endlich die österreichischen Stellungen von S. und
San Cassiano. Da ein Angriff Wimpffens auf den französischen
rechten Flügel von Niel zurückgewiesen wurde, traten die
Österreicher 4 Uhr den Rückzug an. Ein starkes Gewitter
mit Wolkenbruch verhüllte von 5 Uhr an diesen. Die Piemontesen
hatten mittlerweile die gefährlichste Aufgabe zu lösen:
sie sollten in der schmalen Ebene zwischen dem Nordabfall des
Hügellandes und dem Südufer des Gardasees östlich
gegen Peschiera vorgehen. General Benedek drängte sie bis
Rivoltella zwischen Desenzano und Sermione zurück und stellte
sich auf dem Plateau von San Martino auf, das gegen N. und W. steil
abfällt. Fünfmal stürmten die piemontesischen
Bataillone; aber so oft sie bis an den obern Rand gelangten, wurden
sie unter großen Verlusten zurückgeworfen. Erst am Abend
trat auch Benedek zögernd den Rückzug an. Die Schlacht
von S. war eine sehr blutige. Der Gesamtverlust der
Österreicher belief sich auf 22,350 Mann; die Franzosen
verloren 11,670, die Piemontesen 5521 Mann. Den Gefallenen ward
hier 1870 ein Denkmal errichtet.

Solger, Karl Wilhelm Ferdinand, Ästhetiker, geb. 28.
Nov. 1780 zu Schwedt in der Ukermark, studierte zu Halle und Jena
die Rechte und unter Schelling Philosophie, schloß sich am
letztern Ort und später in Berlin dem Kreis der Romantiker an,
wurde 1809 Professor der Ästhetik zu Frankfurt a. O., 1811 zu
Berlin, wo er 20. Okt. 1819 starb. Außer seinem in Form der
Platonischen Dialoge abgefaßten mystisch-dunkeln "Erwin. Vier
Gespräche über das Schöne und die Kunst" (Berl.
1815, 2 Bde.), in welchem er die ästhetischen Prinzipien der
romantischen Schule vertrat, der aber auch eindringlich auf Hegels
Ästhetik gewirkt hat, verfaßte er noch: "Philosophische
Gespräche" (das. 1817) und eine geschätzte
Übersetzung des Sophokles (das. 1808, 2 Bde.; 3. Aufl. 1837).
Seine "Nachgelassenen Schriften und Briefwechsel" wurden von Tieck
und Fr. v. Raumer (Leipz. 1826, 2 Bde.), seine "Vorlesungen
über Ästhetik" von Heyse (Berl. 1829) herausgegeben. Vgl.
Reinh. Schmidt, Solgers Philosophie (Berl. 1841).

Solicitor (engl., spr. ssollíssítör),
Anwalt, Sachwalter (s. Attorney); S. general (spr.
dschönnerel), der Obersachwalter der Krone in England.

Solid (lat.), fest, gediegen, zuverlässig;
Solidität, Festigkeit, Zuverlässigkeit.

Solidago L. (Goldrute), Gattung aus der Familie der
Kompositen, ausdauernde Kräuter mit abwechselnden,
ganzrandigen, oft gesägten Blättern, in Trauben oder
Rispen stehenden, kleinen Blütenkörbchen und
cylindrischen, gerippten Achenen mit einreihigem Pappus. Etwa 80
Arten, meist Nordamerikaner. S. canadensis L. (kanadische Goldrute,
Klapperschlangenkraut), in Nordamerika, mit bis 2,5 m hohem,
zottigem Stengel, lanzettförmigen, gesägten, scharfen
Blättern und gelben Blüten in zurückgebogenen,
einseitigen Trauben, welche wieder große Rispen bilden, wird
gegen den Biß der Klapperschlange gebraucht und häufig
als Zierpflanze kultiviert. Von S. Virga aurea L. (heidnisches
Wundkraut), in Europa, in Wäldern und Hainen, besonders an
trockenen Stellen, mit bis 1 m hohem Stengel, untern elliptischen,
gesägten, obern lanzettlichen, fast ganzrandigen Blättern
und gelben, traubigen oder rispig traubigen
Blütenständen, war das adstringierend aromatische Kraut
früher offizinell.

Solidarhaft (Solidarbürgschaft), im
Genossenschaftswesen die Haftpflicht des Einzelmitglieds für
die Verbindlichkeiten der Genossenschaft (s. Genossenschaften, S.
103).

Solidarisch (lat. in solidum), Bezeichnung für
diejenige Gemeinschaftlichkeit von Verbindlichkeiten und Rechten
(Solidarobligation), vermöge deren, wenn mehrere etwas zu
fordern haben, jeder das Ganze fordern kann und, wenn mehrere
verpflichtet sind, jeder das Ganze zu leisten schuldig ist (alle
für einen und einer für alle, samt und sonders, korreal).
Der Entwurf des deutschen bürgerlichen Gesetzbuchs spricht in
solchen Fällen von einem "Gesamtschuldverhältnis" und von
"Gesamtgläubigern" und "Gesamtschuldnern". Vgl.
Korrealverbindlichkeit.

Solidarität (lat.), völlige
Übereinstimmung, Einheit, z. B. der Interessen.

Solidarpathologie (lat.), s. Cellularpathologie und
Medizin.

Soli Deo gloria! (lat.), Gott allein die Ehre!

Solidieren (lat.), befestigen, sichern.

Solidungula, s. v. w. Einhufer.

Solidus, röm. Goldmünze, welche Kaiser
Konstantin d. Gr. um 312 an Stelle des bis dahin üblichen
Aureus (s. d.) einführte, und die seitdem nicht bloß die
allgemeine Reichsmünze war, sondern bald auch Geltung
über die ganze damals bekannte Welt erlangte. Der Wert betrug
1/72 Pfd = 4,55 g und war bisweilen durch die Zahl LXXII oder durch
die griechischen Zahlzeichen O B (d. h. 72) auf der Münze
ausgedrückt. Das gewöhnlichste Teilstück ist das
Drittel, der Tremissis oder Triens; selten sind Stücke von
1½, 2 und mehr Solidi (sogen. Medaillons). Der Name S.
("Ganzstück") erhielt sich noch lange für verschiedene
Geldwerte; schließlich ging er, da Feinheit und Kurswert der
Münzen immer mehr herabsanken, auf Kupfermünzen, wie den
italienischen Soldo und den französischen Sou, über.

Soligalitsch (Ssoligalitsch), Kreisstadt im russ.
Gouvernement Kostroma, an der Kostroma, mit (188^) 3303 Einw.,
entstand aus einem Kloster (1335 gegründet), in dessen
Nähe Salzquellen entdeckt wurden, und gehörte seit 1450
zum moskauischen Fürstentum. Die Salzgewinnung hat jetzt fast
ganz aufgehört; doch wird ein Brunnen, aus dem klares
bittersalziges Wasser hervorsprudelt, als Heilquelle benutzt.

Solikamsk (Ssolikamsk), Kreisstadt im russ. Gouvernement
Perm, unweit der Kama, hat 7 griechisch-russ. Kirchen, ein Kloster,
eine Stadtbank, wichtige Salinen (jährlich über 1 Mill.
Pud Salz) und (1885) 3901 Einw.

Soliloquium (lat.), Selbstgespräch, Monolog.

Soliman (Suleiman), Name von drei türk. Sultanen: 1)
S. I., Sohn Bajesids I., ließ sich nach der Gefangennehmung
seines Vaters bei Angora 1402 in Adrianopel zum Sultan ausrufen,
mußte aber mit seinem Bruder Musa um den Thron kämpfen,
wurde in Adrianopel eingeschlossen, auf der Flucht gefangen
genommen und seinem Bruder ausgeliefert, welcher ihn 1410
erdrosseln ließ.

12

Solimoes - Solis y Ribadeneira.

2) S. II., el Kanani ("der Große" oder "der
Prächtige"), Sohn Selims I., der berühmteste Sultan der
Osmanen, geb. 1496, war bei des Vaters Tod (22. Sept. 1520)
Statthalter von Magnesia, gab die durch seinen Vater eingezogenen
Güter an die Beraubten zurück und bestrafte mit Strenge
Staatsdiener, welche sich Unordnungen hatten zu schulden kommen
lassen. Die Verweigerung des bei einem Thronwechsel üblichen
Tributs gab ihm den Vorwand zu einem Feldzug gegen Ungarn, der ihm
den Besitz von Schabatz, Semlin und Belgrad verschaffte. Dann
rüstete er sich zur Eroberung der Insel Rhodos, welche nach
einer sechsmonatlichen Verteidigung am 25. Dez. 1522 durch Verrat
fiel. Hierauf zog er im April 1526 mit 100,000 Mann und 300 Kanonen
von neuem gegen Ungarn, und am 29. Aug. erfocht er den Sieg von
Mohács, worauf am 10. Sept. Pest und Ofen dem Sieger die
Thore öffneten. Nach Unterdrückung eines Aufstandes in
Kleinasien unternahm er zu gunsten Johann Zápolyas, Bans von
Siebenbürgen, den eine Partei zum Könige gewählt
hatte, 1529 einen dritten Feldzug nach Ungarn, nahm am 8. Sept.
Ofen und drang am 27. mit 120,000 Mann bis Wien vor, mußte
aber nach einem Verlust von 40,000 Mann am 14. Okt. die Belagerung
der Stadt aufgeben. Nun wandte er seine Waffen nach Osten. Bereits
im Herbst 1533 sandte er ein Heer unter dem Großwesir Ibrahim
nach Asien, wo die Festungen Ardschisch, Achlath und Wan fielen und
Persiens Hauptstadt Tebriz 13. Juli 1534 ihm ihre Thore
öffnete. Auch Bagdad ward noch in demselben Jahr besetzt und
hierauf von da aus das eroberte Land organisiert. Während
dessen hatte Solimans Marine unter Barbarossa den Spaniern 1533
Koron genommen und 1534 Tunis unterworfen, welches aber 1535 durch
Karls V. Expedition bald wieder verloren ging. 1541 unterwarf S.
über die Hälfte Ungarns, und Zápolyas Sohn
mußte sich mit Siebenbürgen begnügen. Endlich wurde
1547 ein fünfjähriger Waffenstillstand geschlossen, nach
welchem S. ein jährlicher Tribut von 50,000 Dukaten bewilligt
ward. Hierauf unternahm er einen zweijährigen Krieg gegen
Persien und erneuerte 1551 den Krieg in Ungarn. Erst 1562 kam mit
Ungarn ein Friede zu stande. Obschon über 70 Jahre alt,
unternahm S. 1566 einen abermaligen Heereszug gegen Ungarn, fand
aber vor Szigeth am 5. Sept. 1566 das Ende seines thatenreichen
Lebens. S. beschließt die Periode der Blüte der
osmanischen Herrschaft. Die Türken verehren in ihm ihren
größten Fürsten. Als Krieger ausgezeichnet und
glücklich, war er auch ein weiser Gesetzgeber und Staatsmann.
Er übte Gerechtigkeit, hielt die Beamten in Pflicht und
Gehorsam, beförderte Ackerbau, Gewerbfleiß und Handel
und war freigebig gegen Gelehrte und Dichter. Doch hielt er sich
nicht frei von Grausamkeit; so ließ er seiner Favoritin
Roxelane, einer gebornen Russin, zu Gefallen alle ihm von andern
Frauen gebornen Kinder umbringen, um ihrem Sohn Selim II. die
Nachfolge zu sichern.

3) S. III., Sohn Ibrahims, Bruder Mohammeds IV., geb. 1647,
folgte, nach dessen Absetzung von den Ulemas aus seiner
langjährigen Haft befreit, 1687, hatte mit Empörungen zu
kämpfen und führte den Krieg in Ungarn unglücklich,
bis er 1689 Mustafa Köprili zum Großwesir ernannte;
starb 1691.

Solimões, s. Amazonenstrom.

Solingen, Kreisstadt im preuß. Regierungsbezirk
Düsseldorf, auf einer Anhöhe unweit der Wupper und an der
Linie Ohligswald-S. der Preußischen Staatsbahn, 216 m ü.
M., hat 2 evangelische und eine kath. Kirche, eine Synagoge, ein
Realprogymnasium, ein Kranken-, Armen- und Waisenhaus, ein
Amtsgericht, eine Handelskammer, eine Reichsbanknebenstelle, sehr
bedeutende Fabrikation von Eisen- und Stahlwaren, insbesondere von
trefflichen Säbel- und Degenklingen, Messern, Gabeln, Scheren,
chirurgischen Instrumenten etc., welche in die entferntesten
Länder ausgeführt werden, ferner Eisengießereien
und Fabriken für Patronentaschen, Helme, Zigarren etc. und
(1885) 18,641 meist evang. Einwohner. Die Entstehung der
Eisenindustrie soll unter Adolf IV. von Berg 1147 durch Damaszener
Waffenschmiede, nach andrer Annahme um 1290 durch eingewanderte
Steiermärker begründet worden sein. Erst 1359 wurde der
Herrenhof S. vom Grafen von Berg erworben und erhielt bald darauf
Stadtrecht. 1815 kam S. an Preußen. Vgl. Cronau, Geschichte
der Solinger Klingenindustrie (Stuttg. u. Leipz. 1885).

Solinus, Gajus Julius, röm. Schriftsteller,
wahrscheinlich aus dem 3. Jahrh. n. Chr., veranstaltete aus des
Plinius "Historia naturalis" einen Auszug, meist geographischen
Inhalts, der unter dem Titel: "Polyhistor" auf uns gekommen ist
(beste Bearbeitung von Th. Mommsen, Berl. 1864).

Soliped (lat.), Einhufer.

Solipsen (v. lat. solus, allein, und ipse, selbst, = S.
I.), satir. Name für die Jesuiten, insofern diese nur an sich
selbst zuerst denken. Vgl. Imhofer (Scotti), Monarchia Solipsorum
(Vened. 1645).

Solipsismus, in theoretischer Hinsicht der subjektive
Idealismus (Fichtes), weil das Ich aus sich allein die Welt
schafft, in praktischer Hinsicht der Egoismus, weil der Einzelne
handelt, als ob die Welt sein wäre; Solipsist, ein
Selbstsüchtiger.

Solis, Virgilius, Zeichner und Kupferstecher, geb. 1514
zu Nürnberg, bildete sich nach den Stichen der sogen.
Kleinmeister, verlor sich aber bald in charakterlose Manier, welche
den meisten seiner Kupferstiche (ca. 650) und Federzeichnungen
eigen ist. Er hat seine Motive mit Vorliebe aus der antiken
Mythologie und Geschichte gewählt, aber auch viele Bildnisse
und Szenen aus dem Leben seiner Zeit gezeichnet und gestochen.
Zuletzt schloß er sich ganz den Italienern an. Er starb 1.
Aug. 1562 in Nürnberg.

Solist (lat.), Solosänger.

Solis y Ribadeneira, Antonio de, span. Dichter und
Geschichtschreiber, geb. 28. Okt. 1610 zu Alcalá de Henares,
studierte in Salamanca die Rechte, begleitete später den
Grafen von Oropesa, Vizekönig von Navarra und später von
Valencia, als Sekretär und leistete in dieser Stellung
ausgezeichnete Dienste. Seine Talente erregten die Aufmerksamkeit
Philipps IV., der ihm eine Stelle im Staatssekretariat verlieh und
ihn später zu seinem eignen Sekretär machte. Dasselbe Amt
bekleidete S. auch bei der Königin-Regentin, die ihn
außerdem 1666 zum Chronisten von Indien ernannte. Nicht lange
darauf ließ er sich zum Priester weihen und starb 19. April
1686. Seine "Poesías varias" wurden von I. de Goyeneche
(Madr. 1692) herausgegeben, neuerdings auch in der "Biblioteca de
autores españoles" (Bd. 42) abgedruckt. Viel bedeutender ist
er aber durch seine "Comedias" und er kann als der letzte gute
Dramatiker im Nationalgeschmack betrachtet werden. Seine
Stücke zeichnen sich weniger durch Originalität der
Erfindung, die meistens nicht ihm gehört, als durch geschickte
Behandlung sowie große Reinheit und Eleganz der Sprache und
des Stils aus und wurden zu Madrid 1681 und 1732 gedruckt (eine
Auswahl auch im 47. Bande der genannten "Biblioteca"). Unter
denselben waren die Schauspiele: "El amor al uso" und

13

Solitär - Solmisation.

"El alcazar del segreto" sowie die nach Cervantes' schöner
Novelle bearbeitete "Gitanilla de Madrid" (auch von P. A. Wolff zu
seiner "Pretiosa" benutzt) besonders beliebt. Am berühmtesten
und außerhalb Spaniens am bekanntesten ist S. als
Geschichtschreiber durch seine "Historia de la conquista de Mejico"
(Madr. 1684; am besten, das. 1783-84, 2 Bde., u. öfter; auch
im 28. Bd. der "Biblioteca de autores españoles", 1853;
deutsch von Förster, Quedlinb. 1838), welche, wenn auch kein
kritisches Geschichtswerk im strengen Sinn des Wortes, doch wegen
der kunstreichen Darstellung und der geistvollen Betrachtungsweise
sowie wegen des Reichtums, der Eleganz und Klarheit der Sprache zu
den klassischen Werken der spanischen Litteratur gerechnet wird.
Noch hat man von S. eine Anzahl vortrefflich geschriebener Briefe,
die Mayans y Siscar in seiner Sammlung "Cartas morales etc." (Val.
1773, 5 Bde.) herausgab.

Solitär (franz. solitaire), Einsiedler,
einsiedlerisch lebender Mensch; ein einzeln stehender, funkelnder
Stern; ein einzeln gefaßter Diamant oder Edelstein von
besonderm Wert. Auch ein Geduldspiel für eine einzelne Person,
das sich vielfach in Kinderstuben findet, heißt S. Auf einem
Brett sind 37 Löcher in 7 Reihen so angebracht, daß die
1. und 7. Reihe je 3, die 2. und 6. je 5, die 3., 4. und 5. je 7
Löcher enthalten. In jedem Loch steckt ein leicht ausziehbarer
Stift. Das Spiel besteht darin, daß man einen Stift weglegt,
sodann immer einen Stift in gerader Linie über einen andern
wegsteckt und den übersprungenen herausnimmt. Um das Spiel zu
gewinnen, darf man zuletzt nur noch einen Stift im Brett behalten.
Solitärpflanzen, Pflanzen mit schönen Blättern etc.
zur Einzelstellung auf Rasen.

Solitüde (franz., "Einsamkeit"), öfters Name
von Lustschlössern. Besonders bekannt ist die S. bei
Stuttgart, 1763-67 von Herzog Karl erbaut und 1770-1775 Sitz der
durch Schiller berühmt gewordenen Karlsschule (s. d.).

Solium (lat.), s. v. w. Thron, ein hoher erhabener Sitz
mit Rücken- und Seitenlehnen. Auf einem solchen saß bei
den Römern der Pater familias, wenn er morgens seinen Klienten
Audienz gab.

Soljanka, russ. Gericht aus mit Zwiebeln gedämpftem
Sauerkraut, welches mit gebratenem Fleisch geschichtet, mit
Pfeffergurken, Pilzen, Würstchen bedeckt und im Ofen leicht
gebacken wird.

Soll, in der Buchhaltung (s. d., S. 564) s. v. w. Debet.
Solleinnahmen, Sollausgaben, erwartete, noch nicht erfolgte
Einnahmen und Ausgaben (Sollposten). Demgemäß spricht
man auch von einem Budgetsoll oder Etatsoll, während das
Kassensoll die Summe angibt, welche, entsprechend den Buchungen, in
der Kasse vorhanden sein soll.

Sölle, s. Riesentöpfe.

Sollen unterscheidet sich von Müssen wie das Sitten- vom
Naturgesetz dadurch, daß eine durch das erstere gebotene
Handlung unterlassen werden kann, aber nicht unterlassen werden
darf, ohne mißfällig zu werden, während von dem
durch das letztere vorgeschriebenen Geschehen keine Ausnahme
stattfinden kann.

Söller (v. lat. solarium), s. v. w. Saal oder
Vorplatz im obern Stockwerk eines Hauses; auch ein offener Gang
oder Altan um dasselbe.

Sollicitudo omnium ecclesiarum (lat.), die Bulle vom 7.
Aug. 1814, durch welche Papst Pius VII. den Jesuitenorden
wiederherstellte ; s. Jesuiten, 210.

Solling (Solinger Wald), ein den Weserbergen
angehöriger Bergzug in der preuß. Provinz Hannover und
im Herzogtum Braunschweig, fällt steil von Bodenfelde bis
Holzminden westlich zum Weserthal und östlich bei Einbeck zu
den Thälern der Leine und Elme ab. Der S., welcher im Moosberg
zu 513 m Höhe ansteigt, ist ganz bewaldet und besteht aus
Buntsandstein, der vielfach gebrochen wird (Höxtersandstein).
Mit dem S. schließt das durch die hessischen Länder nach
Süden bis zum Odenwald sich erstreckende Buntsandsteingebirge
im N. ab.

Sollizitieren (lat.), nachsuchen, inständig bitten;
Sollizitant, Bittsteller, Rechtssucher; Sollizitation, Gesuch;
Sollizitator, Anwalt.

Sollm., bei naturwissenschaftl. Namen Abkürzung
für A. Sollmann, Lehrer in Koburg (Pilze).

Sollogub, Wladimir Alexandrowitsch, Graf, russ.
Schriftsteller, geb. 1814 zu St. Petersburg, studierte in Dorpat,
schlug dann die diplomatische Laufbahn ein und erhielt bei der
Gesandtschaft in Wien einen Posten. Später wurde er vom
Ministerium des Innern in den Süden Rußlands
abkommandiert, um statistische Nachrichten über die
südlichen Gouvernements zu sammeln. Nachdem er sich vom
Staatsdienst zurückgezogen, nahm er seinen Wohnsitz in Dorpat
und starb 17. Juni 1882 im Bad Homburg. Sein Hauptwerk ist
"Tarantas" (1845; deutsch, Leipz. 1847), eine mit trefflichem Humor
verfaßte Schilderung der verschiedenen Schichten der
Gesellschaft in der Provinz. Außerdem sind zahlreiche
Novellen und Erzählungen (darunter die rührende
"Geschichte zweier Galoschen" und "Die große Welt")
vorhanden, die von Phantasie und Beobachtungsgabe zeugen, wenn sie
auch der künstlerischen Tiefe ermangeln. Gelegentlich
versuchte sich S. auch als Theaterdichter (z. B. mit dem Lustspiel
"Der Beamte", 1857) und veröffentlichte "Erinnerungen an
Gogol, Puschkin und Lermontow" (deutsch, Dorp. 1883) u. a.

Solmisation, eine eigentümliche, Jahrhunderte
hindurch üblich gewesene Methode, die Kenntnis der Intervalle
und der Tonleitern zu lehren, welche auf Guido von Arezzo (um 1026)
zurückgeführt wird; sicher ist, daß sie um 1100
bereits sehr verbreitet war. Die S. hängt offenbar eng
zusammen mit der damals aufkommenden Musica ficta, d. h. dem
Gebrauch chromatischer, der Grundskala fremder Töne, und
verrät eine Ahnung von dem innersten Wesen der Modulation, d.
h. des Überganges in andre, transponierte Tonarten,
entsprechend unserm G dur, F dur etc., die nichts als Nachbildungen
des C dur auf andrer Stufe sind. Die sechs Töne C D E F G A
(Hexachordum naturale) erhielten nämlich die Namen ut, re, mi,
fa, sol, la (nach den Anfangssilben eines Johanneshymnus: ut queant
laxis resonare fibris mira gestorum famuli tuorum, sole polluti
labii reatum, sancte Ioannes); dieselben Silben konnten nun aber
auch von F oder von G aus anfangend zur Anwendung kommen, so
daß F oder G zum ut wurde, G oder A zum re etc. Da stellte
sich nun heraus, daß, wenn A mi war, der nächste Schritt
(mi-fa) einen andern Ton erreichte als das mi des mit G als ut
beginnenden Hexachords, d. h. die Unterscheidung des B von H (B
rotundum oder molle [b] und B quadratum oder durum [#], vgl.
Versetzungszeichen) wurde damit begreiflich gemacht. Jedes
Überschreiten des Tons A nach der Höhe (sei es nach B
oder H) bedingte nun aber einen Übergang aus dem Hexachordum
naturale entweder in das mit F beginnende (mit B molle [B], daher
Hexachordum molle) oder das mit G beginnende (mit B durum [H],
daher Hexachordum durum); im erstern Fall erschien der
Übergang von G nach A als sol-mi. im andern als sol-re. Vom
erstern stammt der Name S. Jeder

14

Solmona - Solms.

derartige Hexachordwechsel hieß Mutation. Die folgende
Tabelle mag das veranschaulichen:

[siehe Graphik]

Die geklammerten Vertikalreihen hier sind die Hexachorde: die
unterhalb mit # bezeichneten Reihen Hexachorda dura (mit h), die
mit b bezeichneten Hexachorda mollia (mit b), die ohne Abzeichen
naturalia (weder h noch b enthaltend). Die Horizontalreihen ergeben
die zusammengesetzten Solmisationsnamen der Töne (Gamma ut bis
e la). Zur bequemen Demonstration der S. bediente man sich der
sogen. Harmonischen Hand (s. d.). In Deutschland ist die S. nie
sehr beliebt gewesen; dagegen verdrängten in Italien und
Frankreich die Solmisationsnamen gänzlich die Buchstabennamen
der Töne, ja man bediente sich längere Zeit daselbst
sogar der zusammengesetzten Namen C solfaut, G solreut etc., weil
nämlich C im Hexachordum naturale ut, im Hexachordum durum fa
und im Hexachordum molle sol war etc. Der italienische Name Solfa
für Tonleiter sowie solfeggiare, solfeggieren (d. h. die
Tonleiter singen), kommt natürlich auch von der S. her.
Für das moderne System der transponierten Tonarten wurde die
S. unpraktikabel. Als man anfing, die zusammengesetzten
Solmisationsnamen zu schwerfällig und, was wichtiger ist,
nicht ausreichend zu finden (nämlich für die Benennung
der chromatischen Töne), und den einfachen Silben ut, re, mi,
fa, sol, la ein für allemal feststehende Bedeutung anwies, um
sie durch b und # beliebig verändern zu können, bemerkte
man, daß ein Ton (unser H) gar keinen Namen hatte; indem man
nun auch diesem Ton einen Namen gab, versetzte man der S. den
Todesstoß, denn die damit beseitigte Mutation war deren
Wesenskern. Einfacher wäre es freilich gewesen, zur schlichten
Buchstabenbenennung zurückzukehren, wie sie durch die
Schlüsselzeichen [Grafik] ein für allemal in unsrer
Tonschrift implizite enthalten ist. Statt dessen soll um 1550
Hubert Waelrant, ein belgischer Tonsetzer, die sogen. belgische S.
mit den sieben Silben: bo, ce, di, ga, lo, ma, ni (Bocedisation)
vorgeschlagen und eingeführt haben, während um dieselbe
Zeit der bayrische Hofmusikus Anselm von Flandern für H den
Namen si, für B aber bo wählte (beide galten nach alter
Anschauung für Stammtöne). Henri van de Putte (Puteanus,
Dupuy) stellte in seiner "Modulata Pallas" (1599) bi für H
auf, Adriano Banchieri in der "Cartella musicale" (1610) dagegen ba
und Pedro d'Urenna, ein spanischer Mönch um 1620, ni. Ganz
andre Silben wünschte Daniel Hitzler (1628): la, be, ce, de,
me, fe, ge (Bebisation), unserm A, B, C, D, E, F, G entsprechend,
und noch Graun (1750) glaubte mit dem Vorschlag von da, me, ni, po,
tu, la, be etwas Nützliches zu thun (Damenisation). Von allen
diesen Vorschlägen gelangte schließlich nur der zu
allgemeiner Geltung, die Silbe si für H (aber ohne bo für
B) zu setzen, und dies erklärt sich hinreichend daraus,
daß das si wie die übrigen Solmisationssilben dem
erwähnten Johanneshymnus entnommen ist (die Anfangsbuchstaben
der beiden Schlußworte: Sancte Ioannes).

Solmona, Kreishauptstadt in der ital. Provinz Aquila
(Abruzzen), in herrlicher Gebirgsgegend am Fluß Gizzio, an
der Eisenbahn Castellammare Adriatico-Aquila-Terni, ist
Bischofsitz, hat mehrere Kirchen (darunter San Pamfilo mit
schönem Portal), ein schönes Rathaus, eine alte
Wasserleitung, ein Gymnasium, technische Schule, Seminar, Papier-
und Walkmühlen, Fabrikation von Webwaren, Darmsaiten und
Konfitüren, Weinbau und (1881) 14,171 Einw. S. ist das alte
Sulmo, Ovids Geburtsort, wovon sich noch einzelne Baureste erhalten
haben.

Solms, altes gräfliches, zum Teil fürstliches
Geschlecht, dessen Stammschloß seit dem 14. Jahrh. Braunfels
in der Wetterau war, und das Marquard, Grafen von S. im Hessengau,
der 1129 erwähnt wird, zum ersten gewissen Stammvater hat.
1409 teilte sich das Geschlecht in die Linien S.-Braunfels und
S.-Lich. Erstere teilte sich wieder in drei Zweige, wovon nur noch
der Zweig Greiffenstein besteht, der 1693 den Namen Braunfels
annahm und 1742 in den Reichsfürstenstand erhoben ward. Die
zweite Linie teilte sich in zwei Hauptzweige: S.-Hohen-S.-Lich,
1792 in den Reichsfürstenstand erhoben, und S.-Laubach,
gräflich. Letzterer teilte sich wieder in zwei Unterlinien,
S.-Sonnenwalde und S.-Baruth; die letztgenannte wieder in zwei
Äste, S.-Rödelheim und Assenheim, in beiden Hessen
standesherrlich, und S.-Wildenfels mit den Nebenästen
S.-Wildenfels-Laubach und S.-Wildenfels zu Wildenfels. Die
Reichsunmittelbarkeit verloren die fürstlichen und
gräflichen Linien 1806. Den ansehnlichsten
zusammenhängenden Teil der Ländereien des Hauses besitzt
Georg, Fürst von S.-Braunfels (geb. 18. März 1836;
succedierte 7. März 1880 seinem Bruder, dem Fürsten
Ernst), nämlich unter preußischer Landeshoheit die
Ämter Braunfels, Greiffenstein, unter großherzoglich
hessischer die Ämter Hungen, Wölfersheim und Gambach,
unter württembergischer einen Teil von Limpurg-Gaildorf,
zusammen 514 qkm, mit welchen Besitzungen eine Virilstimme beim
Landtag der Rheinprovinz verbunden ist. Residenz ist Braunfels.
Dieser Linie gehörte auch der österreichische
Feldmarschallleutnant Prinz Karl zu S.-Braunfels (geb. 27. Juli
1812, gest. 13. Nov. 1875) an, der Sohn der in zweiter Ehe mit dem
Prinzen Friedrich Wilhelm (gest. 1814) vermählten Prinzessin
Friederike von Mecklenburg-Strelitz, Stiefbruder des Exkönigs
Georg von Hannover, auf den er in österreichischem Interesse
einwirkte; seine Söhne sind katholisch und stehen in
österreichischen Diensten. Der Fürst von
S.-Hohen-S.-Lich, Hermann, geb. 15. April 1838, besitzt unter
preußischer Landeshoheit das Amt Hohen-S. und unter
großherzoglich hessi-

15

Solnhofen - Solombala.

scher die Ämter Lich und Niederweisel, zusammen 220 qkm. Er
residiert zu Lich und ist erbliches Mitglied der
großherzoglich hessischen Ersten Kammer, wie er auch auf dem
Landtag der Rheinprovinz eine Virilstimme hat. Haupt der in
Preußen und Sachsen ansässigen, nicht standesherrlichen
Linie S.-Sonnenwalde ist Graf Theodor, geb. 6. Febr. 1814; sein
jüngerer Bruder, Graf Eberhard, geb. 2. Juli 1825, war 1878-87
deutscher Gesandter in Madrid und ist jetzt Botschafter in Rom.
Standesherr in der Linie S.-Laubach zu Rödelheim und Assenheim
ist Graf Maximilian, geb. 14. April 1826, der auf Grund seiner
Besitzungen im Groß Herzogtum Hessen erbliches Mitglied der
dortigen Ersten Kammer ist. Gleicherweise ist der Standesherr zu
S.-Laubach, Graf Friedrich, geb. 23. Juni 1833, erbliches Mitglied
der Ersten Kammer im Großherzogtum Hessen. Der Standesherr
von S.-Wildenfels zu Wildenfels, Graf Friedrich Magnus, geb. 26.
Juli 1847, der neben der Herrschaft Wildenfels unter königlich
sächsischer Landeshoheit im Großherzogtum Hessen und in
Sachsen-Weimar Besitzungen hat, ist erbliches Mitglied der Ersten
Kammer des Königreichs Sachsen. Das Haupt der Baruther Linie,
Graf Friedrich Hermann Karl Adolf, geb. 29. Mai 1821, erbliches
Mitglied des preußischen Herrenhauses, ward im April 1888 in
den Fürstenstand erhoben. Vgl. Graf zu S.-Laubach, Geschichte
des Grafen- und Fürstenhauses S. (Frankf. a. M. 1865).

Solnhofen (Solenhofen), Dorf im bayr. Regierungsbezirk
Mittelfranken, Bezirksamt Weißenburg, an der Altmühl und
der Linie München-Ingolstadt-Hof der Bayrischen Staatsbahn,
hat eine evang. Kirche, ein ehemaliges Benediktinerkloster von 743
und (1885) 1128 Einw. Berühmt sind die Solnhofener Schiefer,
womit man die obersten schieferigen Jurakalke bezeichnet, die
zwischen S. und Monheim und bis tief nach Schwaben hinein den
Jurakalk und Dolomit bedecken und in ausgedehnten Brüchen, die
bei S. ihren Mittelpunkt haben, für die verschiedensten
Zwecke: als lithographische Steine, zu Tischplatten, für
Kegelbahnen, Fußböden etc., verarbeitet werden. In ihnen
fand man die Überreste des ersten bekannten Vogels (s.
Archaeopteryx).

Solnhofener Schichten, s. Juraformation.

Solo (ital., "allein"), in der Musik Bezeichnung eines
Instrumentalstücks, welches allein, ohne Begleitung eines
andern Instruments, vorgetragen wird. Innerhalb der für
Orchester geschriebenen Werke bedeutet S. soviel wie eine sich
auffallend heraushebende, von einem einzelnen Instrument
ausdrucksvoll vorzutragende Stelle, die indes in der Regel von
andern Instrumenten begleitet wird. Wieder eine andre Nüance
der Bedeutung des Wortes ist die, daß es bei Instrumenten,
welche vielfach besetzt sind, als Gegensatz von Tutti gebraucht
wird; die Anweisung "S." im Parte der Violinen eines
Orchesterwerkes bedeutet, daß nur Ein Violinist (der
Konzertmeister) die Stelle spielen soll; der Wiedereintritt der
übrigen Geiger wird dann durch "Tutti" bezeichnet. In
demselben Sinn ist in Chorwerken S. der Gegensatz von "Chor" (vgl.
Ripieno). Tasto s. (t. s.) bedeutet in der
Generalbaßbezifferung, daß die übrigen Stimmen
pausieren und nur die Baßstimme selbst angegeben werden
soll.

Solo (ital., "allein"), im Kartenspiel entweder (z. B.
beim Skatspiel) ein Spiel, welches mit denjenigen Karten allein
gemacht wird, die man ursprünglich erhalten hat, oder ein
selbständiges Spiel mit deutscher Karte, dem L'hombre
nachgebildet. Zu diesem Spiel gehören vier Personen, welche
zunächst die vier Farben untereinander auslosen. Wer Eicheln
hat, gibt an, und Eicheln ist für die ersten 16 Spiele (eine
Tour) die Kouleur. In der nächsten Tour wird die Farbe des
zweiten Spielers Kouleur etc. Jeder erhält 8 Blätter.
Treffdame oder Eichelnober (Spadille), die Sieben der jedesmaligen
Trumpffarbe (Manille oder Spitze) und Pikdame oder Grünober
(Baste) sind beständige Trümpfe und rangieren in der
genannten Folge; der Wert der übrigen Karten ist der
natürliche. In Treff und Pik (Eicheln und Grün) sind 9,
in Coeur und Karo (Rot und Schellen) aber 10 Trümpfe
vorhanden. Es gibt im S. 4 Spiele: Frage, Groß-Casco
(Forcée partout, Respect), Solo und Klein-Casco
(Forcée simple). Die beiden Cascos sind Zwangsspiele: das
kleine muß, wenn alle 4 Personen gepaßt haben, der
Inhaber der Spadille machen; das große muß der Besitzer
von Spadille und Baste spielen, außer wenn er selbst oder ein
andrer S. hat. Frage und S. werden durch Frage und S. in Kouleur
überboten. Nur im S. spielt einer gegen drei; bei Casco oder
Frage nimmt sich der Meldende durch das sogen. Dausrufen einen
Gehilfen. Spielt jemand Frage, so wählt er eine Farbe zu
Trumpf und nennt zugleich ein Daus von einer andern Farbe. Wer
dieses Daus hat, ist Gehilfe; er darf dies aber nicht entdecken.
Spielt einer Casco, so ruft er ebenfalls ein Daus; den Trumpf macht
aber der aufgerufene Gehilfe. Zum Gewinn sind mindestens 5 Stiche
erforderlich; bei 4 Stichen ist das Spiel einfach verloren und bei
nur 3 Stichen "Codille". Vole, Tout, Wäsche oder Lese ist
gemacht, wenn der oder die Spieler alle 8 Stiche bekommen, eine
Revolte oder Devole, wenn sie gar keine bekommen, Remis, wenn jede
Partei 4 Stiche macht. Es gilt Matadorrechnung, wie im Skat. Das
Solospiel ist in vielfacher Weise erweitert und abgeändert
worden; eine interessante Abart ist das S. unter 5 Personen,
welches nach gleichen Regeln mit einer Karte von 5 Farben (40
Blättern) gespielt wird. Die hinzugefügte Farbe
heißt die blaue. Eine andre ist die mit dem Mediateur, wobei
von einem der Mitspieler ein Daus (As) gegen eine entbehrliche
Karte eingetauscht und dann S. gespielt wird.

Solo, Landschaft, s. Surakarta.

Solofänger, ein Windhund, der einen Hasen allein,
ohne Hilfe andrer Hunde, zu fangen vermag.

Solofra, Stadt in der ital. Provinz Avellino, am
Fuß des Monte Terminio, Station der Eisenbahn von Neapel nach
Avellino, hat bedeutende Fabrikation von Leder und Pergament,
Handel mit Wolle und gesalzenem Schweinefleisch und (1881) 5178
Einw.

Sologne (spr. ssolonnj), franz. Landstrich in den
Departements Cher, Loiret und Loir-et-Cher, 460,000 Hektar
groß und sprichwörtlich wegen seiner Unfruchtbarkeit,
enthält sandige Heiden, zahlreiche Teiche und Sümpfe (zu
deren Entwässerung in neuerer Zeit allerdings viel gethan
worden ist) und etwas Wald, produziert Buchweizen und Wein
(Solognewein), Schafe und eine eigne Rasse Pferde (Solognote).

Sololá, Departement im mittelamerikan. Staat
Guatemala, erstreckt sich an der Küste des Stillen Ozeans bis
auf die Hochebene und hat (1885) 76,342 Einw. In seiner Mitte liegt
der reizende Atitlansee (s. d.) und in dessen Nähe die
Hauptstadt S.

Solombala (Ssolombala), ehemaliger Kriegshafen im russ.
Gouvernement Archangel, am Weißen Meer, von Peter I.
angelegt, mit einer Admiralität, wurde 1862 als solcher
aufgehoben und bildet gegenwärtig eine Vorstadt von Archangel,
von welchem der Ort durch einen Arm der Dwina getrennt ist. S.

16

Solon - Solothurn.

hat 2 Kirchen, ein kath. Bethaus, eine Seemannsschule, eine
Schiffswerfte, einen geräumigen Kauffahrteihafen und gegen
11,000 Einw.

Solon, berühmter Gesetzgeber Athens, unter den
sieben Weisen Griechenlands der bedeutendste, geboren um 640 v.
Chr. zu Athen, Sohn des Exekestides, aus einem alten edlen
Geschlecht, welches Kodros unter seinen Ahnen zählte, widmete
sich dem Handel und ging frühzeitig auf Reisen. Zum erstenmal
trat er 604 öffentlich auf. Die Athener, eines langen
resultatlosen Kampfes mit Megara um Salamis müde, hatten ein
Gesetz gegeben, welches jeden mit dem Tod bedrohte, der eine
Erneuerung des Kampfes beantragen würde. S. erschien hierauf
in der Rolle eines Wahnsinnigen auf dem Markt, sang vom Stein des
Herolds herab eine von ihm verfertigte Elegie: "Salamis", und
entflammte dadurch die Kriegslust der Athener aufs neue in solchem
Grade, daß der Kampf wieder begonnen und mit der Eroberung
der Insel beendigt wurde. Nicht lange nachher (600) wurde auf
Solons Betrieb der erste Heilige Krieg gegen Krissa zum Schutz des
delphischen Heiligtums beschlossen. Athen selbst aber befand sich
um diese Zeit in einer bedenklichen Lage. Die Zerrüttung war
allgemein, und der Zwiespalt der Parteien drohte den Staat zu
untergraben. Da trat S. im entscheidenden Augenblick abermals als
Retter seiner Vaterstadt auf, bewirkte eine allgemeine Sühnung
des Volkes durch Epimenides und stiftete Frieden. Hierauf machte
er, um der wachsenden Not und Verarmung des niedern Volkes zu
steuern, durch die Seisachtheia (s. d.) dem Wucher ein Ende und
ermöglichte die Abwälzung der Schulden. 594 zum ersten
Archon gewählt, gab er dem Staat eine neue Verfassung. Seine
Absicht ging hierbei vornehmlich dahin, die bisher zwischen Adel
und Volk bestandene Kluft auszufüllen, die Anmaßung des
erstern zu brechen, die Entwürdigung der letztern zu
beseitigen, Standesvorrechte und Beamtenwillkür abzuschaffen
und eine nach den Leistungen abgestufte Beteiligung aller
Staatsbürger an der Staatsregierung einzuführen (s.
Athen, S. 1001). Seine Verfassung war also eine Timokratie. Ihren
Charakter und Zweck hat S. selbst am schönsten in den Versen
bezeichnet (nach der Übersetzung von Geibel):

So viel Teil an der Macht, als genug ist, gab ich dem Volke,

Nahm an Berechtigung ihm nichts, noch gewährt' ich zu
viel.

Für die Gewaltigen auch und die reicher Begüterten
sorgt' ich,

Daß man ihr Ansehen nicht schädige wider
Gebühr.

Also stand ich mit mächtigem Schild und schützte sie
beide,

Doch vor beiden zugleich schützt' ich das heilige
Recht.

Außerdem gab er dem Volk eine dessen ganzes Leben und
ganze Thätigkeit umfassende Gesetzgebung, deren segensreiche
Wirkungen seine Verfassung überdauert haben; sie gewöhnte
das Volk zu lebendiger, selbständiger Teilnahme am
öffentlichen Leben, hob die geistige Bildung und erzeugte
bewußte Sittlichkeit und edle Humanität in ihm. Die Sage
erzählt, daß S. die Athener verpflichtet habe,
während eines zehnjährigen Zeitraums an seiner
Gesetzgebung nichts zu ändern, und daß er eine Reise ins
Ausland deshalb gemacht habe, um nicht selbst Hand an die
Abänderung seiner Gesetze legen zu müssen. Er ging
zunächst nach Ägypten, wo er mit den Priestern von
Heliopolis und Sais Umgang hatte, dann nach Cypern und nach Sardes
zu Krösos, mit dem er nach der (historisch unmöglichen)
Sage die bekannte Unterredung über die Nichtigkeit
menschlicher Glückseligkeit hatte. Nach seiner Rückkehr
nach Athen suchte er vergeblich den von neuem ausbrechenden
Zerwürfnissen daselbst zu steuern und mußte noch sehen,
daß sich Peisistratos zum Tyrannen aufwarf. Er starb 559;
seine Gebeine sollen auf sein eignes Verlangen nach Salamis
gebracht und dort verbrannt, die Asche aber auf der ganzen Insel
umhergestreut worden sein. Als Sittenspruch wurde ihm beigelegt:
"Nichts zu viel". Als Dichter war er nicht minder ausgezeichnet wie
als Gesetzgeber. Seine Gedichte sind größtenteils
hervorgegangen aus dem Bedürfnis, seinen Mitbürgern die
Notwendigkeit der von ihm getroffenen Staatseinrichtungen
darzuthun. Die Fragmente derselben sind gesammelt von Bach (Bonn
1825), in Schneidewins "Delectus poesis Graecorum elegiacae"
(Göttingen 1838) und in Bergks "Poetae lyrici graeci". Ins
Deutsche übersetzte sie Weber in den "Elegischen Dichtern der
Hellenen" (Frankf. 1826). Die ihm von Diogenes Laertius beigelegten
Briefe an Peisistratos und einige der sieben Weisen sind
untergeschoben. Solons Leben beschrieb Plutarch. Vgl. Kleine,
Quaestiones de Solonis vita et fragmentis (Kref. 1832); Schelling,
De Solonis legibus (Berl. 1842).

Solothurn (franz. Soleure), ein Kanton der Schweiz, wird
im O. von Basel und Aargau, im Süden und W. von Bern, im N.
von Basel begrenzt und hat einen Flächengehalt von 784 qkm
(14,2 QM.). Abgesehen von den beiden Exklaven Mariastein und
Klein-Lützel, die auf bernischem Gebiet an der Elsässer
Grenze liegen, ist das Land von eigentümlich zerrissenen
Umrißformen und zerfällt zunächst in Anteile der
Schweizer Hochebene und in solche des Jura. Zu jenen gehören
das Aarethal von S., in welches die Thalebene der Großen Emme
ausmündet, und das Aarethal von Olten. Beide Thalstrecken
scheidet ein vorspringendes Stück des bernischen Ober-Aargaues
(Wangen-Wiedlisbach), und eine Jurakette, deren Häupter
Hasenmatt (1449 m), Weißenstein (1284 m) und Röthifluh
(1398 m) sind, schließt sie nach der Seite der jurassischen
Landschaften ab. In der Klus von Önsingen-Balsthal bricht die
Dünnern aus ihrem dem Aarelauf parallelen jurassischen
Hochthal hervor, um bei Olten in die Aare zu münden,
während ebenfalls bei Balsthal das jenem parallele Guldenthal
sich öffnet. Ein zweiter Jurazug, die Kette des Paßwang
(1005 m), führt von Mümliswyl hinüber in das
Birsgebiet (Schwarzbubenland). Das Klima gehört eher zu den
rauhen als milden, so daß das Land ohne Weinbau ist. Die
Volkszahl beläuft sich auf (1888) 85,720 Köpfe. Die
Solothurner, deutschen Stammes und katholischer Konfession (nur
21,898 Protestanten, vorwiegend im Bucheggberger Amt), gelten
für "ein gutmütiges, munteres und rechtschaffenes
Völkchen". Seit durch Referendum vom 4. Okt. 1874 die
Benediktinerabtei Mariastein und die beiden Chorherrenstifter von
Solothurn und Schönenwerd aufgehoben sind, besitzt der Kanton
noch drei Kapuziner- und drei Nonnenklöster. Die Katholiken
des Kantons sind der Diözese Basel zugeteilt, und seit
längerer Zeit ist die Stadt S. Bischofsitz. Einige Gemeinden
haben sich dem 1874 geschaffenen Nationalbistum angeschlossen. S.
ist ein vorzugsweise Ackerbau treibendes Ländchen, einer der
wenigen Schweizer Kantone, welche Getreide über den Bedarf
erzeugen; auch kommen Obst und Kirschwasser sowie (bei guter
Waldwirtschaft) Holz zur Ausfuhr. Rindvieh, meist vom Berner
Schlag, wird viel gehalten. Einige Käse kommen dem Emmenthaler
gleich; um Mümliswyl wird der "Geißkäse" bereitet.
Auch viele Schafe und Ziegen werden gehalten, Pferde weniger als
früher; hingegen besteht noch eine treffliche Schweinezucht.
Der Jura liefert Gips und trefflichen Kalkstein; in der Nähe
der Hauptstadt wird "Marmor"

17

Solothurn (Kanton und Stadt).

gebrochen und weithin versandt. Bohnerzlager finden sich bei
Matzendorf (seit 1877 so gut wie erschöpft). Gerlafingen hat
in neuerer Zeit Baumwollspinnerei (Derendingen) u.
Papierfabrikation eingeführt. Sonst besitzt die Gegend von
Olten-Schönenwerd eine rege Industrie: einen Eisendrahtzug,
eine große Maschinenbauwerkstätte, Strumpffabrikation u.
a. Die Bandweberei des Schwarzbubenlandes ist eine Dependenz von
Basel (s. d., S. 418). Ferner bestehen Glashütten,
Parkettfabriken etc. Wenn auch weder die Stadt S. noch Olten zu den
Handelsplätzen gehört, sind beide doch bedeutsame
Knotenpunkte im Schweizer Bahnnetz geworden. Im Kur- und
Touristenverkehr nimmt S. keine hervorragende Stelle ein; nur der
Weißenstein und Bad Lostorf sind stark besuchte Punkte. Die
heutige Volksschule gliedert sich, wie in den meisten Kantonen, in
eine allgemein verbindliche primäre und eine fakultative
sekundäre Stufe. Von humanitären Anstalten besitzt der
Kanton eine Irrenheilanstalt (Rosegg), die Dischersche
Rettungsanstalt Hofmatt und eine von Schwendimann dotierte
Blindenanstalt. Die öffentlichen Bibliotheken zählen ca.
85,000 Bände (die Stadtbibliothek Solothurns allein
40,000).

Die Verfassung des Kantons, 12. Dez. 1875 vom Volk angenommen,
23. Okt. 1887 revidiert, hat an die Stelle der
Repräsentativdemokratie das Referendum gesetzt.
Demgemäß unterliegen alle Gesetze und
Staatsverträge sowie alle neuen Ausgaben von höherm
Betrag und alle Staatsanleihen von mehr als einer halben Million
dem obligatorischen Referendum. Das Recht der Initiative ist
geregelt; ein Volksentscheid muß stattfinden, wenn eine
Anregung von 2000 Votanten eingereicht ist. Das Volk kann sowohl
Legislative als oberste Exekutive abberufen; eine Abstimmung
entscheidet, sobald die Abberufung von 4000 Votanten verlangt wird.
Der Kantonsrat, als gesetzgebende Behörde, wird vom Volk auf
vier Jahre gewählt. Die Exekutive übt ein Regierungsrat
von fünf Mitgliedern, welche das Volk auf vier Jahre
erwählt. Der Präsident führt den Titel Landammann.
Ein Obergericht, durch den Kantonsrat ebenfalls auf vier Jahre
ernannt, besteht aus sieben Mitgliedern. Im übrigen garantiert
die Verfassung alle in den Schweizer Kantonen üblichen
Grundrechte. Der Kanton ist in fünf Amteien eingeteilt, jede
mit Oberamtmann und Amtsgericht. Die Staatsrechnung für 1887
ergibt an Einnahmen 1,736,746 Frank, davon an Abgaben 611,581 Fr.;
die Ausgaben belaufen sich auf 1,865,956 Fr., wovon 333,558 Fr. auf
das Erziehungswesen entfallen. Zu Ende 1887 betrugen die Aktiva des
Staatsvermögens 13,245,122 Fr., die Passiva 10,079,000 Fr.,
also reines Staatsvermögen 3,166,122 Fr.; dazu die
Spezialfonds, 15 an Zahl, im Betrag von 3,685,089 Fr., zusammen
6,851,211 Fr.

Die gleichnamige Hauptstadt des Kantons, zu beiden Seiten der
Aare, Knotenpunkt der Bahnlinien Herzogenbuchsee-Biel,
Olten-Lyß und S.-Langnau, bietet außer dem
Ursusmünster (1773 von Pisoni vollendet) und dem Zeughaus nur
die eine Sehenswürdigkeit der Verena-Einsiedelei, mit einem
Felskirchlein und einer großen Felsenhöhle. Die Stadt
selbst hat sich in neuerer Zeit erweitert und verschönert und
besitzt eine Kantonsschule (Gymnasium und Industrieschule), eine
Stadtbibliothek mit einer Sammlung von Altertümern und
Münzen, eine Gemäldegalerie, 3 Bankinstitute (darunter
eine Notenbank mit 3 Mill. Fr. Kapital), Uhren-, Eisen-,
Zementfabrikation, Baumwollweberei, Marmorsteinbrüche und
(1888) 8305 Einw. (darunter ca. 2000 Protestanten). Entferntere
Punkte sind Zuchwyl, wo Kosciuszko begraben liegt, und der Kurort
Weißenstein. Vgl. Hartmann, S. und seine Umgebungen (Soloth.
1885).

[Geschichte.] Die Stadt S. (Salodurum) war schon zur
Römerzeit ein Knotenpunkt der großen Heerstraßen
Helvetiens. Im Mittelalter lehnt sich ihre Geschichte an das im 10.
Jahrh. entstandene Chorherrenstift des heil. Ursus an, das
ursprünglich alle Hoheitsrechte mit Ausnahme des Blutbanns
innehatte, von dem sich die Bürgerschaft aber allmählich
emanzipierte. Nach dem Aussterben der Zähringer (1218), welche
die Reichsvogtei besessen, wurde S. reichsunmittelbar; 1295
schloß es mit Bern ein ewiges Bündnis und hatte 1318
eine Belagerung durch Herzog Leopold auszustehen, weil es Friedrich
den Schönen nicht als König anerkannte. Ein Versuch des
verarmten Grafen Rudolf von Kyburg, sich der Stadt durch Verrat zu
bemächtigen, wurde glücklich vereitelt (Solothurner
Mordnacht, vom 10. zum 11. Nov. 1382) u. führte zu dem
Kyburger Krieg, in welchem Bern und S. das Grafenhaus vernichteten.
Als treue Verbündete Berns nahm S. an den Schicksalen der
Eidgenossen schon seit dem 14. Jahrh. Anteil, wurde aber infolge
des Widerstandes der "Länder" erst 22. Dez. 1481 gleichzeitig
mit Freiburg in den Bund aufgenommen, nachdem es sich durch Kauf
den größten Teil des heutigen Kantons als
Unterthanenland erworben. Gegen die Reformation verhielt sich S.
eine Zeitlang schwankend, aber nach der Schlacht von Kappel waren
die Katholiken im Begriff, die reformierte Minderheit mit den
Waffen zu vernichten, als der katholische Schultheiß Wengi
sich vor die Mündung der Kanonen stellte und durch seine
hochherzige Dazwischenkunft den blutigen Zusammenstoß
vermied. Doch blieb S. der Reformation verloren und schloß
sich 1586 dem Borromeischen Bund an. Dagegen hielt es sich fern von
dem Bunde der übrigen katholischen Orte mit Spanien (1587),
vornehmlich aus Ergebenheit gegen Frankreich, dessen Ambassadoren
S. zu ihrer regelmäßigen Residenz erwählt hatten.
Aus ihrem glänzenden Hofhalt und den reichlich
fließenden französischen Gnadengeldern schöpfte die
Stadt einen Wohlstand, den der Adel in höfischen
Festlichkeiten zu entfalten liebte. Auch in S. bildete sich
nämlich ein erbliches Patriziat aus, dessen Regiment erst 1798
mit dem Einrücken der Franzosen ein Ende nahm (1. März).
Die Mediationsakte erhob 1803 S. zu einem der sechs
Direktorialkantone mit einer Repräsentativverfassung. Nach dem
Einrücken der Österreicher bemächtigten sich die
noch lebenden Mitglieder der alten patrizischen Räte in der
Nacht vom 8. zum 9. Jan. 1814 des Rathauses, erklärten sich
für die rechtmäßige Regierung und schlugen eine
Erhebung der Landschaft mit bernischer Hilfe nieder; nur ein
Drittel des Großen Rats wurde dieser zugestanden. 1828 wurde
S. durch ein Konkordat der Kantone Bern, Luzern, Zug, S., Aargau
und Thurgau zum Sitz des neugegründeten Bistums Basel erhoben.
1830 mußte der Große Rat dem stürmischen Verlangen
der Landschaft nachgeben und vereinbarte mit den Ausschüssen
derselben eine neue Verfassung, welche, obwohl sie der Hauptstadt
noch 37 Vertreter auf 109 gewährte, 13. Jan. 1831 mit
großer Mehrheit angenommen wurde. Nach dem "Züricher
Putsch" wurde das Wahlvorrecht der Stadt beseitigt und die
Mitgliederzahl der Regierung vermindert, worauf die neue Verfassung
10. Jan. 1841 angenommen und das liberale Regiment durch
fortschrittliche Wahlen aufs neue befestigt wurde. Daher hielt sich
der Kan-

Meyers Konv.-Lexikon, 4. Aufl., XV. Bd.

2

18

Solotnik - Soltikow.

ton trotz seiner überwiegend katholischen Bevölkerung
zu den entschiedensten Gegnern des Sonderbundes und nahm die neue
Bundesverfassung 1848 mit großer Mehrheit an. Durch zwei
Verfassungsrevisionen (1851 und 1856) ward das lange festgehaltene
System der indirekten Wahlen und der Allmacht der Regierung auch in
Kommunalangelegenheiten beseitigt. Nachdem 1869 Referendum und
Initiative eingeführt worden waren, wurde 1875 die gesamte
Verfassung revidiert. Inzwischen war der Konflikt der Baseler
Diözesanstände gegen den in S. residierenden Bischof
Lachat ausgebrochen, in welchem S. sich der Mehrheit anschloß
und den Bischof nötigte, nach seiner Entsetzung seine
Amtswohnung zu räumen. Zugleich strengte die Regierung namens
der Stände einen Aufsehen erregenden Prozeß gegen Lachat
wegen stiftungswidriger Verwendung von bedeutenden Legaten an, der
1877 vom Obergericht zu ihren gunsten entschieden wurde. Eine Folge
dieses Konflikts war die Aufhebung einer Anzahl kirchlicher
Stiftungen, deren ca. 4 Mill. betragendes Vermögen zu Schul-
u. Krankenfonds verwendet wurde (18. Sept. 1874). Auch fand das
christkatholische Bistum staatliche Anerkennung in S., doch
vermieden sowohl die Regierung als die römisch-katholische
Geistlichkeit einen offenen Bruch, und die letztere unterwarf sich
auch 1879 der in der Verfassung vorgesehenen periodischen
Wiederwahl durch die Gemeinden. 1885 wurde der Friede mit der Kurie
durch Wiedererrichtung des Bistums Basel und des Domkapitels in S.
hergestellt, wo der neue Bischof Fiala seinen Sitz nahm. Da die
Regierung sich durch Beteiligung mehrerer ihrer Mitglieder an einem
Bankschwindel bloßstellte, trat sie 1887 zurück, und das
Volk beschloß 23. Okt. d. J. eine neue, rein demokratische
Verfassung. Vgl. Strohmeier, Der Kanton S. historisch,
geographisch, statistisch (St. Gallen 1836); Fiala, Geschichtliches
über die Schule von S. (das. 1875-1879, 4 Tle.); Amiet, S. im
Bunde der Eidgenossen (Soloth. 1881).

Solotnik, Gewicht in Rußland, = 1/96 Pfund = 96
Doli = 4,265 g.

Solotonoscha, Kreisstadt im russ. Gouvernement Poltawa,
am Flusse S., der dem Dnjepr zuströmt, mit 9 Kirchen,
Mädchenprogymnasium und (1885) 8417 Einw., die sich meist mit
Landwirtschaft beschäftigen. S. kam 1654 an Rußland.

Solotschow, Stadt im russ. Gouvernement Charkow, an der
Uda, mit (1885) 6584 Einw., die sich mit Garten- und Ackerbau,
Schuhmacherei, Kürschnerei und Viehhandel
beschäftigen.

Solowezk (Ssolowezk), russ. Inselgruppe im Weißen
Meer, im Eingang zum Onegabusen gelegen, zum Teil mit Tundren und
Gestrüppe bedeckt, zum Teil mit Birken und Kiefern bewachsen.
Auf der Hauptinsel liegt das reiche Solowjezkische Kloster, ein
berühmter, jährlich von ca. 8000 Pilgern besuchter
Wallfahrtsort, seit 1429 bestehend und aus Anlaß der
häufigen Überfälle von seiten der Schweden mit
betürmten Granitmauern umgeben. Die Mönche betreiben
Thransiederei und in dem an den Ufern schon sehr tiefen Meer
Herings-, Hausen- und Lachsfanng (vgl. die vortreffliche
Schilderung von Dixon in "New Russia").

Solowjew, 1) Sergei Michailowitsch, russ.
Geschichtschreiber, geb. 5. Mai 1820 zu Moskau, studierte daselbst
und brachte als Hauslehrer bei dem Grafen Stroganow die Jahre
1842-44 im Ausland, meist in Paris, zu. Nachdem er mit einer
Schrift: "Über die Beziehungen Nowgorods zu den
Großfürsten", die Magisterwürde und mit einer
andern: "Die Geschichte der Beziehungen zwischen den Fürsten
des Rurikschen Geschlechts", den Doktorgrad erlangt hatte, hielt er
Vorlesungen über Geschichte an der Moskauer Universität,
ward 1855 Dekan der philosophischen Fakultät und 1871 Rektor
der Universität Moskau. Daneben unterrichtete er die
Großfürsten in Petersburg in der Geschichte und versah
das Amt eines Direktors der Antiquitätensammlung im Kreml. Als
der Unterrichtsminister Tolstoi das freisinnige
Universitätsstatut abschaffen wollte, geriet S. in Streit mit
den Behörden und forderte 1877 seine Entlassung, die er auch
erhielt. Er starb 4. Okt. 1879 in Moskau. Außer zahlreichen
Aufsätzen über Geschichtswissenschaft und russische
Geschichte in periodischen Zeitschriften schrieb S.: "Historische
Briefe" (1858-59); "Schlözer und die antihistorische
Richtung"; "Die Geschichte des Falles von Polen" (1863; deutsch von
Spörer, Gotha 1865); "Kaiser Alexander I., Politik und
Diplomatie" (1877); "Lehrbuch der russischen Geschichte" (7. Aufl.
1879); "Populäre Vorlesungen über russische Geschichte"
(1874); "Kursus der neuen Geschichte" ; "Politisch-diplomatische
Geschichte Alexanders I." (1877) u. a. Sein Hauptwerk ist die
"Russische Geschichte von den ältesten Zeiten" (1851-80, Bd.
1-29, bis 1774 reichend).

2) Alexander Konstantinowitsch, russ. Revolutionär, geb.
1846, ward Lehrer, dann Amtsschreiber, ging 1878 nach Petersburg,
trat hier der nihilistischen Verschwörung bei und unternahm
14. April 1879 ein Attentat auf Kaiser Alexander II., indem er
fünf Revolverschüsse auf ihn abfeuerte, ohne ihn zu
verletzen; S. ward 10. Juni d. J. gehenkt.

Solözismus (griech.), Sprachfehler, besonders ein
auf die Konstruktion des Satzes bezüglicher. Die Alten
leiteten das Wort von dem Namen der athenischen Kolonie Soloi in
Kilikien ab, deren Einwohner ihren Heimatsdialekt rasch vergessen
und sich durch fehlerhafte Sprechweise ausgezeichnet haben
sollen.

Solpuga, Walzenspinne.

Solquellen, s. Salz (S. 237) und Mineralwässer.

Solsalz, aus Salzlösungen gewonnenes Kochsalz im
Gegensatz zum Steinsalz.

Solsona (das alte Setelsis), Bezirksstadt in der span.
Provinz Lerida, hat 2 Kastelle, eine Kathedrale,
Quincailleriefabriken, Baumwoll- und Leinweberei und (1878) 2413
Einw.

Solspindel, s. Gradierwage.

Solstitium (lat., "Sonnenstillstand"), s. Sonnenwenden;
solstitial, die Solstitien betreffend.

Solt, Markt im ungar. Komitat Pest mit (1881) 5692
ungarischen und serbischen Einwohnern.

Solta, österreich. Insel im Adriatischen Meer,
südlich von Spalato, 56 qkm groß, ist fruchtbar, hat
mehrere Häfen, eine Landwirtschaftsgesellschaft und in sechs
Ortschaften (1880) 2556 Einw.

Soltau, Kreisstadt im preuß. Regierungsbezirk
Lüneburg, an der Linie Stendal-Langwedel der Preußischen
Staatsbahn, hat eine evang. Kirche, ein Amtsgericht, Filz-,
Teppich-, Faßkräne- und bedeutende
Fruchtweinfabrikation, Honig- und Bettfedernhandel und (1885) 2827
Einw. S., schon 937 genannt, ist durch die Schlacht vom 28. Juni
1519 (beim Dorf Langeloh) in der Hildesheimer Stiftsfehde
bekannt.

Soltikow (Ssaltykow), russ. Adelsgeschlecht, welches auf
die Zeiten Alexander Newskijs zurückreicht und unter seinen
Gliedern viele Bojaren zählt. Praskowja Fedorowna S. ward die
Gemahlin des Zaren Iwan Alexejewitsch (gest. 1696) und dadurch
Mutter der Kaiserin Anna. Der General Se-

19

Soltyk - Somal.

men S., Gouverneur von Moskau, ward durch diese 1732 in den
russischen Grafenstand erhoben. Dessen Sohn, Graf Peter
Semenowitsch S., geb. 1700, führte im Siebenjährigen
Krieg seit 1759 den Oberbefehl über die russische Armee, trug
23. Juli 1759 bei Kai einen Sieg über den preußischen
General Wedel davon und gewann 12. Aug., nachdem er sich mit dem
österreichischen General Laudon vereinigt hatte, den
entscheidenden Sieg bei Kunersdorf über den König
Friedrich II. selbst. Dafür mit der Feldmarschallswürde
belohnt, ward er später Generalgouverneur in Moskau und starb
15. Dez. 1772. Nikolai Iwanowitsch S., geb. 24. Okt. 1736, wurde
1783 Erzieher des nachmaligen Kaisers Alexander I. und des
Großfürsten Konstantin, 1796 Feldmarschall und
Präsident des Kriegskollegiums, 1812 Präsident des
Reichsrats und 1813-15 Vorsitzender des Ministerkomitees. 1814 in
den Fürstenstand erhoben, starb er 28. Mai 1816 in Petersburg.
Sein ältester Sohn, Fürst Alexander S., war kurze Zeit
Minister des Äußern und starb 1837. Dessen Neffe,
Fürst Alexei S., machte sich durch seine Reisen in Persien
1838 und Ostindien 1841-46 bekannt, die er in "Voyages dans l'Inde"
(3. Aufl., Par. 1858) und "Voyage en Perse" (das. 1851)
beschrieb.

Soltyk, Roman, poln. General, geb. 1791 zu Warschau, Sohn
des Reichstagsmarschalls Stanislaus S. und der Prinzessin Karoline
Sapieha, besuchte die polytechnische Schule in Paris, trat 1807 als
Leutnant in die Fußartillerie des damaligen
Großherzogtums Warschau und machte 1809 den Feldzug gegen
Österreich mit. 1812 als Adjutant des Generals Sokolnicki in
den Generalstab Napoleons I. berufen, befehligte er in der Schlacht
bei Leipzig die Sachsen und geriet durch deren Übergang in die
Gefangenschaft der Alliierten. Wieder frei, verließ er den
Militärdienst und eröffnete in Warschau ein Eisenmagazin.
Seit 1822 beteiligte er sich an den geheimen politischen
Gesellschaften. Nach dem Ausbruch der Revolution vom 29. Nov. 1830
begab er sich nach Warschau, ward Generalkommandant der vier auf
dem rechten Weichselufer liegenden Woiwodschaften, organisierte
hier 47,000 Mann mobiler Nationalgarden und beantragte auf dem
Reichstag die Absetzung des Kaisers Nikolaus und die Erklärung
der Souveränität des Volkes (21. Jan. 1831). Während
der Belagerung Warschaus durch die Russen Befehlshaber der
Artillerie in der Stadt, widersetzte er sich aufs eifrigste der
Kapitulation Krukowieckis und hielt stand bis zum letzten
Augenblick, ging dann mit der Armee nach Plozk und übernahm
eine Sendung nach England und Frankreich, um dort eine Vermittelung
dieser Mächte für Polen nachzusuchen. Er starb am 22.
Okt. 1843 in St. Germain en Laye. Im Exil schrieb er den
"Précis historique, politique et militaire de la
révolution du 29 novembre" (Par. 1833, 2 Bde.; deutsch
bearbeitet von Elsner, Stuttg. 1834) und "Napoléon en 1812"
(Par. 1836; deutsch, Wesel 1837).

Soluntum (Solus), im Altertum befestigte Stadt auf
Sizilien, östlich von Palermo, phönikischen Ursprungs,
zur Zeit des Dionys (397 v. Chr.) mit den Karthagern verbündet
und im ersten Punischen Krieg erst nach dem Fall von Panormos zu
Rom übergehend, wahrscheinlich durch die Sarazenen
zerstört; jetzt Ruinen Solanto. Seit 1826 (in
größerm Maßstab seit 1863) werden hier, ½
Stunde Gehens von der Station Santa Flavia, Ausgrabungen
vorgenommen, durch welche bereits die meisten Straßen der
Stadt, viele Mosaikböden und mancherlei Skulpturen freigelegt
worden sind.

Solution (lat.), Lösung; solubel, löslich.

Solutivum (neulat.), Auflösungsmittel.

Solutum (lat.), Zahlung.

Solvabel (lat.), auflösbar; solvieren, lösen,
seiner Verbindlichkeit nachkommen; solvent, zahlungsfähig
(daher insolvent, zahlungsunfähig); Solvenz,
Zahlungsfähigkeit, im Gegensatz zu Insolvenz (s. d.).

Solventia (lat.), lösende Mittel, Expektoranzien,
welche eine Lösung des zähen Schleims bewirken, den
Auswurf befördern.

Solway Firth (spr. ssóllwe), Golf des Irischen
Meers, zwischen England und Schottland, schneidet in
nordöstlicher Richtung 56 km tief in das Land ein und
enthält viele Lachse und Heringe. Während der Ebbe kann
der obere Teil des S. fast trocknen Fußes durchkreuzt werden,
die Flut steigt aber rasch und mit großer Heftigkeit. In ihn
münden die Flüsse Cocker, Eden, Esk, Annan und Nith. Sein
oberes Ende überspannt ein Eisenbahnviadukt.

Solwytschegodsk (Ssolwytschegodsk), Kreisstadt im russ.
Gouvernement Wologda, an der Wytschegda, mit (1885) 1313 Einw.

Solzy (Ssolzy), Flecken im russ. Gouvernement Pskow,
Kreis Porchow, am Schelonj, mit (1885) 5903 Einw., welche lebhaften
Flachshandel nach Petersburg treiben.

Soma (griech.), Leib, Körper.

Soma (ital.), in der Lombardei s. v. w. Hektoliter.

Soma, in den Hymnen des Weda (s. d.) ursprünglich
der berauschende, mit Milch und Mehl gemischte und einige Zeit der
Gärung überlassene Saft einer Pflanze, der eine
begeisternde und heilende Wirkung auf Menschen und Götter
übt; besonders häufig wird der berauschende Einfluß
des Trankes auf den Gott Indra geschildert. Als die betreffende
Pflanze gilt heute eine Sarcostemma-Art (Asclepias acida), die
indes in südlichern Strecken wächst, als die Wohnsitze
des wedischen Volkes gelegen waren, so daß wahrscheinlich mit
den Sitzen auch die Pflanze gewechselt hat. Die begeisternde Macht
des Trankes führte bereits in indo-iranischer Zeit dazu, den
Saft als Gott S. zu personifizieren und ihm fast alle Thaten andrer
Götter zuzuschreiben. Bei den Ostiraniern steht dem Somakult
der ganz analoge Haomakult zur Seite. Vgl. Windischmann, Über
den Somakultus der Arier (Münch. 1847); Muir, Original
Sanskrit texts (Bd. 2, S. 469 ff., und Bd. 5, S. 258 ff.); Haug,
Essays on the sacred language etc. of the Parsis (2. Ausg., Lond.
1878, S. 282 ff.); Hovelacqe, L'Avesta (Par. 1880, S. 272 ff.).

Somain (spr. ssomäng), Stadt im franz. Departement
Nord, Arrondissement Douai, Knotenpunkt der Eisenbahnlinien
zwischen Douai und Valenciennes, mit bedeutenden Steinkohlengruben
und darauf gegründeter Industrie in Zucker, Leinwand, Glas,
Chemikalien und 1881) 4782 Einw.

Somal (Singular Somali), ein den Hamiten und zwar der
äthiopischen Familie derselben zugerechneter großer
Volksstamm, welcher das ganze östliche Horn Afrikas
östlich von den Galla und südlich von den Danakil
über den Dschubbfluß hinaus bis gegen den Tana bewohnt.
Sie zerfallen in drei voneinander unabhängige Stämme: die
Adschi von Tadschura am Golf von Aden bis Kap Gardafui, die Hawijah
an der Küste des Indischen Ozeans bis zur Stadt Obbia und die
Rahanwin im W. der Hawijah zwischen Dschubb und Webbi (s. Tafel
"Afrikanische Völker", Fig. 29 u. 30). Die ethnographische
Stellung der S. ist noch keine sichere; sie scheinen ein Mischvolk
zu sein, bei dem nach den physischen Eigenschaften

20

Somateria - Somerset.

einmal der nordostafrikanische Typus durchschlägt, dann
aber wieder eine Annäherung an das Semitische sich kundgibt.
Unzweifelhaft sind sie Verwandte der Abessinier und Galla. Als
fanatische Mohammedaner rühmen sie sich ihrer Herkunft aus
Arabien. Bemerkenswert ist die von Revoil bei Somalweibern
häufiger beobachtete Steatopygie (s. d.). Das Haar
läßt man lang wachsen, beizt es mit Kalk rötlich;
im Innern werden Perücken aus Schaffell getragen. Die Zahl der
S. (zu 5 Mill. geschätzt) ist nicht bekannt, da in den
eigentlichen Kern ihres Landes bis jetzt nur der Brite L. James
nebst Genossen eingedrungen ist. Die Sprache der S. gehört zu
dem äthiopischen (südlichen) Zweig des hamitischen
Sprachstammes (dargestellt von Prätorius in der "Zeitschrift
der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft", Bd. 24, 1870;
auch von Hunter: "Somal-Grammatik", Bombay 1880). Eine Schrift
besitzen die S. nicht. Der Charakter des Volkes ist nach der
Lebensweise verschieden. Die beduinischen S. sind leidenschaftlich,
verräterisch und grausam, der Wert eines Mannes wird bei ihnen
nach der Zahl seiner Mordthaten bemessen. Dagegen zeigen die
Bewohner der größern Ortschaften eine
verhältnismäßig nicht unbedeutende Bildung. Alle
aber sind stolz und freiheitliebend u. im allgemeinen Feinde der
Fremden. Sie leben meist in Monogamie, Sklaven sind nicht
häufig. Die Kinder beiderlei Geschlechts werden beschnitten,
die Mädchen bis zur Verheiratung vernäht. Bei der
Verheiratung wählt das Mädchen den Mann, letzterer
muß aber den Schwiegervater für dasselbe bezahlen. Auf
die Frauen fällt die ganze Arbeitslast. Als Kleidung dienten
früher Felle, jetzt ein der abessinischen Schama
ähnliches Baumwollentuch, auch tragen die Frauen Beinkleider,
Sandalen sind häufig in Gebrauch. Als Waffen dienen Lanzen,
runde Schilde, Messer, im Süden auch Schwerter, ferner Bogen
und vergiftete Pfeile. Die Wohnungen werden in den Städten aus
Steinen und Lehmziegeln, sonst aus Fachwerk und Strohmatten
errichtet; die nomadisierenden S. haben leicht abtragbare,
zeltähnliche Hütten. Die Nahrung besteht im Fleisch ihrer
Herden, in Sorghum, Mais, Milch, Butter sowie eingeführten
Datteln und Reis. Spirituosen und Schweinefleisch sind verboten.
Als Haustiere werden Kamele, Rinder (Zebu), Schafe, Ziegen, Pferde,
Esel gehalten. Gelegentlich jagt man Elefanten, Nashorn,
Büffel, Antilopen, Strauße. Den Toten zollt man viel
Verehrung. Die Stämme stehen unter Häuptlingen, die aber
wenig Macht haben. Die Gesellschaft zerfällt in drei Klassen:
die Saladin, die Reichen und Würdenträger; die Barkele
oder Beduinen und die Mödgan, letztere sind die Eisenarbeiter
und werden als Zauberer scheel angesehen. Eine Art Hörige sind
die Tomal, welche als Hirten, Kamelreiter u. a. dienen; eine Art
Zigeuner, verachtet, aber wegen ihrer Zaubereien gefürchtet,
sind die Jibbir. Bei allen hat die Blutrache Geltung. Das Somal-
oder Somaliland besteht aus einem schmalen, sandigen
Küstenstreifen, der an der Nordseite mehrere Häfen
(Zeila, Bulhar, Berbera, Las Gori, sämtlich in englischem
Besitz, ferner am Osthorn Bender Felek, Ras Felek) hat,
während die Ostküste ganz ohne Häfen verläuft
bis zu den im Besitz von Sansibar befindlichen: Warscheich,
Mogduschu, Merka, Barawa, Kismaju. Das Innere ist eine weite, von
einzelnen Höhenrücken unterbrochene Hochfläche, die
zum Teil aus großen wüsten Strichen mit hartem Boden
besteht. Die Wasserläufe, die das Land durchziehen, sind den
größten Teil des Jahrs trocken, nur der Dschubb
führt das ganze Jahr hindurch Wasser und ist auch eine
beträchtliche Strecke aufwärts bis Bardera, wo v. d.
Decken ermordet wurde, schiffbar; der nächstbedeutende Webi
erreicht die See nicht. Auf dem Hochland sind der Tug Dehr und Tug
Faf ihrer fruchtbaren Thalmulden wegen zu bemerken. Die hohe
Temperatur des Küstenstrichs wird durch heftige Seewinde sehr
gemildert; auf dem Hochland bilden 8° C. das Temperaturminimum
und 32° C. das Maximum. Mimosen, Calotropis procera, Euphorbien
und Koloquinten charakterisieren die Vegetation des Tieflandes,
während im Hochland Weihrauchbäume, alle Gummisorten,
Leuchtereuphorbien, im Webigebiet auch der Affenbrotbaum gedeihen.
Die Fauna bietet Wanderheuschrecken, giftige große Ameisen,
viele Bienen, Flußpferde und Krokodile, Strauße, alle
afrikanischen Katzen, große Antilopenherden, das Zebra und
den Wildesel. Vgl. Haggenmacher, Reise im Somaliland (Gotha 1876);
Révoil, La vallée du Darror. Voyage au pays
Çomalis (Par. 1882); Derselbe, Faune et flore des pays
Çomalis (das. 1882); Paulitschke, Beiträge zur
Ethnographie und Anthropologie der S., Galla und Harari (Leipz.
1886); James, The unknown horn of Africa (Lond. 1888).

Somateria, Eiderente.

Somátisch (griech.), körperlich.

Somatologie (griech.), die Lehre vom menschlichen
Körper, also besonders Anatomie.

Sombreréte, Bergstadt im mexikan. Staat Zacatecas,
2369 m ü. M., an der Eisenbahn von Zacatecas nach Durango,
1570 gegründet, hat eine höhere Schule und (1882) 5173
Einw.

Sombrerit, ein jüngst gebildeter, an Korallen
reicher Kalk, der durch überlagernden Guano teilweise
metamorphosiert worden ist und neben kohlensaurem Kalk und Thon
75-90 Proz. phosphorsauren Kalk enthält. Er findet sich auf
der Insel Sombrero. Die Amerikaner beuteten 1856 den S. aus und
brachten ihn als Dungmittel in den Handel, doch scheint das Lager
rasch erschöpft worden zu sein. Vgl. Guano.

Sombrero ("Hutinsel"), eine der Kleinen Antillen, 5 qkm
groß, zwischen den Jungferninseln und Anguilla gelegen, ist
ein Kalksteinfels, der schroff aus dem Meer aufsteigt, einen
Leuchtturm trägt, fast ohne Vegetation ist, aber seiner
Kalkbrüche halber doch einigen Wert besitzt; eine Zeit lang
lieferte die Insel den Sombrerit.

Sombreros (span.), breitrandige, leichte und dauerhafte
Hüte, aus Palmblättern gefertigt (s. Sabal).

Somerset (spr. ssommersset), 1) Grafschaft im
südwestlichen England, grenzt nordwestlich an den
Bristolkanal, wird zu Lande von den Grafschaften Gloucester, Wilts,
Dorset und Devon umschlossen und umfaßt 4248 qkm (77,1 QM.)
mit (1881) 469,109 Einw. Die Küste ist großenteils steil
und unzugänglich, hat aber teilweise auch schöne Buchten
mit niedrigem Landsaum; die bedeutendste derselben ist die
Bridgewaterbai. Im N. und W. ist die Grafschaft gebirgig und von
langen, jäh abfallenden Hügelketten (Mendip, Blackdown
und Quantock Hills) durchschnitten; an der Westgrenze gegen Devon
zu erhebt sich das Bergland Exmoorforest (509 m). Die bedeutendern
Flüsse sind: der Avon, welcher zum Teil die Nordgrenze bildet,
der Ex, Yeo, Axe, Brue und Parret. Der Boden ist teils steinig,
teils Heide, teils Marsch- und Moorland, im allgemeinen aber
fruchtbar, und namentlich ist die Thalebene von Taunton einer der
reichsten Bezirke von England. Das Klima ist gemäßigt.
Von der Oberfläche sind 22,1 Proz. unter dem Pflug, 60,5 Proz.
bestehen aus Weideland; 1888 zählte man 34,701 Ackerpferde,
217,728 Rinder 557,857 Schafe, 123,901 Schweine. Der Bergbau

Die Sonne.

Fig. 1. Die Sonne (photographiert von Rutherford).

Fig. 2. Sonnenflecke, beobachtet vom 10.-22. Mai 1868.

Fig. 4. Protuberanzen, beobachtet von Zöllner 1869.

Fig. 3. Totale Sonnenfinsternis am 18. Juni 1860, nach
Rümker, I-VI sind Koronastrahlen.

Fig. 5. Protuberanzen, beobachtet von Zöllner 1869.

Fig. 6. Protuberanzen, beobachtet von Secchi 1871.

21

Somerset (engl. Adelstitel).

liefert Steinkohlen, Eisen und Blei. Die Industrie erstreckt
sich auf die Herstellung von Tuch, Seide, Spitzen, Handschuhen,
Eisen und Stahl, Maschinen etc. Hauptstadt ist Taunton, die
größte Stadt aber Bath. -

2) Die nördlichste Niederlassung der britisch-austral.
Kolonie Queensland auf der Kap-York-Halbinsel, mit sicherm
Zufluchtshafen. Das früher hier bestehende
Regierungsetablissement wurde nach der Thursdayinsel und die hier
1872 errichtete Hauptstation der Londoner Missionsgesellschaft nach
der Murrayinsel (Neuguinea) verlegt.

Somerset (spr. ssómmersset) , engl. Adelstitel.
1397 erhielt das von den Plantagenets abstammende ältere Haus
Beaufort den Grafentitel und 1443 den Herzogstitel von S. Dies Haus
starb mit Edmund, dem vierten Herzog von S., der nach der Schlacht
bei Tewkesbury auf Eduards IV. Befehl enthauptet wurde, aus. Ein
natürlicher Sohn des dritten Herzogs Henry von S. nahm den
Familiennamen S. an, und dessen Nachkommen sind 1514 Grafen, 1642
Marquis von Worcester, 1682 aber wieder Herzöge von Beaufort
geworden, so daß die jüngern Söhne dieses
Herzogshauses Lords S. heißen. Unter ihnen ist hervorzuheben
Lord Granville Charles Henry S., geb. 27. Dez. 1792, unter
Liverpool Lord des Schatzes, unter Peel Domänenminister und
1841 Kanzler des Herzogtums Lancaster, gest. 23. Febr. 1848. Dessen
Oheim war Fitzroy James Henry S., später Lord Raglan (s. d.).
Den Titel Graf S. führte im 17. Jahrh. Robert Carr, Viscount
von Rochester, Graf von S., geb. 1590. Derselbe stammte aus einer
schottischen Adelsfamilie, kam als Page an den Hof Jakobs I.,
gewann durch seine Schönheit dessen Gunst, ward von ihm 3.
Nov. 1611 zum Viscount von Rochester erhoben und erhielt
großen Einfluß auf die britische Regierung. 1613
vermählte er sich mit Frances Howard, Gräfin von Essex,
deren Ehe mit dem Grafen von Essex zu diesem Zweck getrennt werden
mußte. Einen Gegner dieser Verbindung, Sir Thomas Overbury,
ließ der mächtige Günstling im Tower vergiften,
ward aber später durch George Villiers, nachmaligen Herzog von
Buckingham, aus des Königs Gunst verdrängt und samt
seiner Gemahlin als Mörder Overburys zum Tod verurteilt.
Nachdem beide mehrere Jahre im Gefängnis gesessen, woselbst S.
mit der Enthüllung von Geheimnissen drohte, die den König
kompromittieren würden, erhielten sie die Freiheit und lebten
seitdem in stiller Zurückgezogenheit. S. starb im Juli 1645.
Aus der Ehe seiner einzigen Tochter mit dem Herzog von Bedford
entsprang der unter Karl II. hingerichtete Lord William Russell (s.
d. 1). Schon im 16. Jahrh. war der Herzogstitel von S. an die
Familie Seymour (s. d.) gekommen. Der erste Herzog war Edward
Seymour. Derselbe erhielt bei der Vermählung Heinrichs VIII.
mit seiner Schwester Jane S. 1536 den Titel eines Viscount von
Beauchamp, wurde 1537 zum Grafen von Hertford ernannt, kämpfte
1544 in Schottland, verwüstete Leith und Edinburg und folgte
darauf dem König nach Frankreich, wo er Boulogne erobern half.
1547 ernannte ihn Heinrich VIII. zu einem der Geheimräte, die
während der Minderjährigkeit des jungen Eduard VI.,
seines Neffen, die Regierung führen sollten. Gleich in den
ersten Sitzungen des Geheimen Rats nach Heinrichs Tod ließ
sich aber Hertford zum Protektor des Königreichs und zum
Herzog von S. erheben und zugleich durch ein Patent des jungen
Königs die volle Regierungsgewalt übertragen. S. benutzte
seine Macht zuvörderst, um unter Cranmers Leitung die
Kirchenreformation durchzuführen. Dann unternahm er im August
1547 einen abermaligen Feldzug nach Schottland und brachte den
Schotten 10. Sept. die Niederlage bei Pinkey bei. Nach seiner
Rückkehr ließ er vom Parlament alle blutigen Gesetze
Heinrichs VIII. aufheben. Gleichwohl bildete sich allmählich
eine Partei gegen ihn, an deren Spitze die Grafen Southampton und
John Dudley, Graf von Warwick, später Herzog von
Northumberland, standen. Diesen Gegnern gelang es infolge des
Mißvergnügens über des Protektors kirchliche
Reformen und den Krieg mit Frankreich, in welchen sein schottischer
Feldzug die Nation verwickelte, den Herzog zu stürzen: der
Geheime Rat entschied sich gegen ihn, und S. wurde gefangen
gesetzt. Im November 1549 ward seine Sache vor das Parlament
gebracht, doch verurteilte ihn dieses bloß zu einer
Geldstrafe. Darauf trat S. wieder in den Rat ein; aber seine alte
Macht erlangte er nicht wieder, und seine Zerwürfnisse mit
Warwick dauerten trotz einer zwischen beiden geschlossenen
Familienverbindung fort. Nachdem sich Warwick des Königs
bemächtigt und die Staatsgewalt an sich gerissen, ließ
er S. 16. Okt. 1551 verhaften und beschuldigte denselben, ihm nach
dem Leben getrachtet und verräterische Anschläge auf die
Staatsgewalt gemacht zu haben. Von der Anklage des Verrats
freigesprochen, aber wegen Felonie verurteilt, da er einen Vasallen
des Königs habe ermorden wollen, ward S. 22. Jan. 1552 auf
Tower Hill enthauptet. Der Titel Herzog von S. erlosch darauf;
seine übrigen Titel und Güter hatte S. auf seine Kinder
zweiter Ehe übertragen lassen, nach deren Aussterben erst die
Nachkommenschaft aus erster Ehe folgen sollte. Sein Enkel William
Seymour ging 1610 eine heimliche Ehe mit Lady Arabella Stuart,
einer Verwandten König Jakobs I., ein und mußte deshalb
ins Ausland flüchten, während seine Gattin 1615 im Tower
starb. Gleichwohl bewies er sich nachmals als treuen Anhänger
der königlichen Sache, ward 1640 zum Marquis von Hertford
erhoben und 1660 nach Karls II. Restauration wieder mit dem Titel
eines Herzogs von S. ausgestattet. Er starb 24. Okt. 1660. Charles
Seymour, siebenter Herzog von S., geb. 12. Aug. 1662, spielte unter
Karl II., Wilhelm III., Anna und Georg I. als erster Peer des
Reichs eine hervorragende Rolle, trug durch seine Gemahlin, die
Erbin der Percy, wesentlich zum Sturz Marlboroughs bei, ward
Lord-Oberkammerherr und starb 2. Dez. 1748. Da sein einziger Sohn,
Algernon, achter Herzog von S., 7. Febr. 1750 ohne männliche
Nachkommen starb, trat jene frühere Klausel in Kraft, und die
Titel des Herzogs von S. und Lord Seymour gingen auf Sir Edward
Seymour, einen Nachkommen des Protektors aus erster Ehe, über,
welcher 15. Dez. 1757 starb. Dessen Urenkel Edward Adolphus, 12.
Herzog von S., geb. 20. Dez. 1804, trat 1834 für Totneß
ins Parlament. Als eifriger Whig ward er 1835 zum Lord des
Schatzes, 1839 zum Sekretär des indischen Amtes und 1841 auf
einige Zeit zum Unterstaatssekretär des Innern ernannt. Von
1849 bis Februar 1852 war er Oberkommissar der Wälder und
Forsten, zog sich aber durch Willkürlichkeiten viele Gegner zu
und wurde beim Wiedereintritt der Whigregierung 1855
übergangen, dagegen 1859 in das Whigministerium unter
Palmerston als erster Lord der Admiralität berufen, welches
Amt er bis 1866 verwaltete. Seitdem gehörte S. keiner
Regierung mehr an und starb 28. Nov. 1885 in London. Ihm folgte
sein Bruder Archibald (geb. 30. Dez. 1810) als 13. Herzog von
S.

22

Somersinseln - Somme.

Somersinseln (spr. ssömmers), s. Bermudas.

Somerville (spr. ssömmerwill), Stadt im
nordamerikan. Staat Massachusetts, dicht bei Cambridge und
Charlestown, und Wohnstadt von Boston, hat ein Irrenhaus und (1885)
29,992 Einw.

Somerville (spr. ssömmerwill), 1) William, engl.
Dichter, geb. 1677 (nicht 1692) zu Edston in Warwickshire, kam 1690
auf die Schule zu Winchester, wurde dann Fellow am New College zu
Oxford und lebte später als Friedensrichter auf dem von seinem
Vater ererbten Gut. Er starb am 19. Juli 1742. Sein Hauptwerk ist:
"The chace" (1735, mit kritischem Essay von Aikin 1796; neue Ausg.
1873), ein gefälliges didaktisch-deskriptives Gedicht in
reimlosen Versen, in welchen die Sportsmen besonders die
Sachkenntnis, die sich darin ausspricht, hervorheben. Seine "Works"
erschienen zu London 1742, 1776 u. öfter.

2) Mary, engl. Schriftstellerin im Fach der Physik und
Astronomie, Tochter des Vizeadmirals Sir William Fairfax, geb. 26.
Dez. 1780 zu Jedburg in Roxburghshire, wurde in der Nähe von
Edinburg erzogen und heiratete den Kapitän Samuel Greig, der
sie in den exakten Wissenschaften unterrichtete. Schon 1811 hatte
sie mehrere wissenschaftliche Probleme gelöst, 1826
veröffentlichte sie eine Arbeit über die magnetisierende
Kraft der Sonnenstrahlen; dann folgten unter dem Titel: "Mechanism
of the heavens" (Lond. 1831) eine Einleitung in das Studium der
Astronomie und "On the connexion of the physical sciences" (das.
1851; 10. Aufl., das. 1877), ihr Hauptwerk, welches wegen seiner
Tiefe und Klarheit außerordentlichen Beifall fand. S. wurde
1835 zum Mitglied der königlichen Gesellschaft der
wissenschaften ernannt. Sie vermählte sich nach dem Tod ihres
ersten Gatten mit dem Arzt William S., mit dem sie in London lebte.
1838 siedelte sie mit den Ihrigen nach Italien über, wo sie
1860 von neuem Witwe ward und 29. Nov. 1872 in Neapel starb. Von
ihren Werken sind noch die treffliche "Physical geography" (Lond.
1848, 2 Bde.; 7. Aufl. 1877; deutsch, Leipz. 1852) und "On the
molecular and microscopic science" (l869, 2 Bde.) zu erwähnen.
Vgl. ihre "Personal recollections from early life to old age"
(1873).

Somino (Ssomino), Flußhafen im russ. Gouvernement
Nowgorod, Kreis Ustjuschna, an der Somina, ist ein bedeutender
Stapelplatz, hauptsächlich für Getreide, Glas und
Metalle, wo alljährlich gegen 4000 Flußfahrzeuge
(Barken) ankommen und gegen 5000 abgehen.

Somma, 1) (S. Lombarda) Flecken in der ital. Provinz
Mailand, Kreis Gallarate, an der Simplonstraße und der
Eisenbahn von Mailand nach Arona, mit altem Kastell und (1881) 3422
Einw. Als Sehenswürdigkeit gilt eine uralte Cypresse von 28 m
Höhe.

2) (S. Vesuviana) Flecken in der ital. Provinz Neapel, am
nördlichen Abhang des Vesuvs, hat ein Schloß, Reste von
alten Stadtmauern, Weinbau und (1881) 4533 Einw. Hiernach ist auch
der nördliche Gipfel des Vesuvs "S." benannt.

Somma-Campagna, Dorf bei Custozza (s. d.).

Sommatino, Stadt in der ital. Provinz Caltanissetta, 368
m ü. M. auf einer Hochebene südlich von Caltanissetta
gelegen, mit Olivenkultur, Schwefelbergbau und (1881) 5375
Einw.

Sommation (franz.), die vor dem Zwangseinschreiten
erlassene Aufforderung oder gütliche Mahnung; diplomatisch s.
v. w. Ultimatum.

Somme (spr. ssomm, im Altertum Samara), Fluß im
nördlichen Frankreich, entspringt bei Font-S. unweit
St.-Quentin im Departement Aisne, fließt südwestlich,
wendet sich dann nordwestlich, tritt in das Departement S. ein,
wird bei Bray für kleinere, bei Amiens für
größere Fahrzeuge schiffbar und fällt nach einem
Laufe von 245 km unterhalb St.-Valéry mit breitem
Mündungsbecken in den Kanal (La Manche). Der Sommekanal
begleitet einen großen Teil ihres Laufs; außerdem steht
die S. noch durch den St.-Quentin-Kanal mit der Schelde und durch
den Crozatkanal mit der Oise in Verbindung.

Das Departement Somme, gebildet aus den ehemals zur Picardie
gehörigen Landschaften Santerre, Amiénais, Vimeux,
Ponthieu, Vermandois und Marquenterre, grenzt nördlich an das
Departement Pas de Calais, nordöstlich an das Departement
Nord, östlich an Aisne, südlich an Oise, südwestlich
an Niederseine, westlich an den Kanal (La Manche) und umfaßt
6161 qkm (111,89 QM.). Das Departement gehört zu den
fruchtbarsten des nördlichen Frankreich; es bildet eine weite,
nur gegen die Küste hin sandige Ebene, die sich namentlich um
den Sommebusen allmählich durch Anschwemmungen und
Eindeichungen vergrößert hat und noch
vergrößert; nur im SO. ist das Land von einzelnen
Ausläufern der Ardennen durchzogen. Bewässert wird das
Departement von der Authie, Maye, Somme mit ihren Nebenflüssen
und der Bresle. Das Klima ist kühl und feucht, im allgemeinen
aber gesund. Die Bevölkerung belief sich 1886 auf 548,982
Einw. und hat seit 25 Jahren um 24,000 Seelen abgenommen. Von der
Oberfläche kamen 1882 auf Äcker und Gärten 499,714
Hektar, Wiesen 21,596, Wälder 39,449, Heiden und Weiden 5553
Hektar. Der hoch entwickelte Ackerbau liefert Getreide über
den Bedarf (jährlich 7-8 Mill. hl), besonders: Weizen (2,8
Mill. hl), Hafer (3,4 Mill. hl), Halbfrucht, Gerste und Roggen,
Kartoffeln, viel Hülsenfrüchte, Gemüse, Hanf,
Flachs, Raps, andere Ölpflanzen und Zuckerrüben. Sehr
bedeutend ist ferner die Torfgewinnung (85,500 Ton.). Geringere
Ausdehnung hat die Viehzucht; doch ist die Zahl der Pferde (1882:
77,590), der Schafe (423,948) und namentlich des Geflügels
(1,8 Mill. Stück) immerhin ansehnlich. Einen
größern Holzbestand bildet nur der Wald von Crécy
im NW. Die Industrie ist sehr lebhaft. Ihre vorzüglichsten
Zweige sind die Spinnerei und zwar in Wolle (125,000 Spindeln),
Baumwolle (75,000 Spindeln), Flachs und Hanf (50,600 Spindeln) und
Seide (18,000 Spindeln) nebst der Schafwollkämmerei und
Zwirnerei; außerdem die Weberei (3400 mechanische und 10,500
Handstühle), insbesondere die Erzeugung von sogen. Articles
d'Amiens (Gewebe aus verschiedenen Stoffen), Tuch (besonders zu
Abbeville), Baumwollsamt, Teppichen etc. Neben der Textilindustrie
ist besonders wichtig die Rübenzuckerfabrikation (69
Etablissements mit 6600 Arbeitern, Produktion 970,000 metr. Ztr.);
ferner sind zu nennen die Eisengießerei, die Erzeugung von
Schlosserwaren und Maschinen, Seife, Kerzen, chemischen Produkten,
Papier, Bier und Branntwein. Von geringerer Wichtigkeit dagegen ist
der Handel, namentlich der Seehandel, da es dem Departement an
guten Häfen fehlt; er erstreckt sich auf die einheimischen
Ackerbau- und Industrieprodukte in der Ausfuhr, Wein, Holz, Kohlen
etc. in der Einfuhr. Das Departement wird von der Nordbahn
(Paris-Brüssel) durchschnitten, die hier von Amiens nach
Beauvais, Rouen, Abbeville, St.-Valéry, Tréport,
Boulogne und Doullens sowie nach Laon abzweigt. Es zerfällt in
fünf Arrondissement Abbeville, Amiens, Doullens, Montdidier
und Péronne. Hauptstadt ist Amiens.

23

Sommer - Sommersprossen.

Sommer, die Jahreszeit zwischen Frühling und Herbst,
astronomisch die Zeit vom längsten Tag bis zum darauf
folgenden Äquinoktium. Auf der nördlichen Halbkugel der
Erde beginnt der S., wenn die Sonne den Wendekreis des Krebses und
damit ihre größte nördliche Abweichung vom
Äquator erreicht hat (Sommersonnenwende, 21. oder 22. Juni),
und endet, wenn die Sonne auf ihrem Rückgang wieder den
Äquator erreicht hat (Herbstäquinoktium, 22. oder 23.
Sept.). Der S. der südlichen Hemisphäre dagegen
fällt auf unsern Winter und umfaßt den Zeitraum,
während dessen die Sonne von ihrer größten
südlichen Abweichung vom Äquator, also vom Wendekreis des
Steinbocks (Wintersonnenwende, 21. oder 22. Dez.), wieder zum
Äquator zurückkehrt (Frühlingsäquinoktium, 20.
oder 21. März). Auf der nördlichen Halbkugel ist der S.
um einige Tage länger als auf der südlichen, was davon
herrührt, daß die Erde während unsers
Frühlings und Sommers die von der Sonne entferntere
Hälfte ihrer Bahn durchläuft, in welcher, dem zweiten
Keplerschen Gesetz zufolge, ihre Geschwindigkeit eine geringere
ist. Der höhere Stand der Sonne, der ein mehr senkrechtes
Auftreffen der Strahlen bewirkt, sowie die längere Dauer des
Verweilens der Sonne über dem Horizont bewirken, daß
trotz des größern Abstandes der Sonne unser S.
wärmer ist als unser Winter; der Einfluß der
verschiedenen Entfernung der Sonne ist in Bezug auf die durch sie
bewirkte Erwärmung nicht bedeutend und wird erst merklich bei
Vergleichung der S. beider Hemisphären. Infolge der
stärkern Bestrahlung während des Sommers der
Südhalbkugel ist z. B. in Australien und Neuseeland
während des Sommers der Wechsel, wenn man aus dem Schatten in
die Sonne tritt, fühlbarer als bei uns. Im meteorologischen
Sinn rechnet man den S. bei uns vom 1. Juni bis 1. Sept., auf der
Südhalbkugel vom 1. Dez. bis 1. März. Die
größte Sommerwärme tritt etwa einen Monat nach dem
längsten Tag und zwar erst dann ein, wenn die Erwärmung
durch die Sonnenstrahlen gleich der Abkühlung durch die
Wärmeausstrahlung geworden ist. Daher ist der Juli der
wärmste Monat auf der nördlichen und der Januar auf der
südlichen Halbkugel, und damit dieser wärmste Monat in
die Mitte des Sommers fällt, ist die oben angegebene
Begrenzung desselben erforderlich. Vgl. Jahreszeiten.

Sommer, 1) Anton, thüring. Dialektdichter, geb. 11.
Dez. 1816 zu Rudolstadt, studierte 1835-38 in Jena Theologie,
übernahm 1847 die Leitung einer Töchterschule in seiner
Vaterstadt und daneben das Pfarramt zu Schaala und wurde 1864 zum
Garnisonprediger in Rudolstadt ernannt, wo er, halb erblindet und
seit 1881 Ehrenbürger, 1. Juni 1888 starb. Seine
gemütvollen "Bilder und Klänge aus Rudolstadt in
Volksmundart" (11. Aufl., Rudolst. 1886, 2 Bde.) haben vielen
Beifall gefunden.

2) Otto, Pseudonym, s. Möller 3).

Sommercypresse, s. Chenopodium.

Sömmerda, Stadt im preuß. Regierungsbezirk
Erfurt, Kreis Weißensee, an der Unstrut, Knotenpunkt der
Linie Sangerhausen-Erfurt der Preußischen Staatsbahn u. der
Eisenbahn Großheringen-Straußfurt, 160 m ü. M.,
hat 2 evangelische und eine kath. Kirche, ein Amtsgericht, Gewehr-,
Munitions-, Zündhütchen- und Eisenwarenfabrikation,
Eisengießerei und (1885) 4795 meist evang. Einwohner. S. war
Geburtsort und Wohnsitz von Dreyse (s. d.).

Sommerendivien, s. Lattich.

Sommerfäden, s. v. w. Alterweibersommer.

Sommerfeld, Stadt im preuß. Regierungsbezirk
Frankfurt, Kreis Krossen, an der Lubis, Knotenpunkt der Linien
Berlin-S., S.-Breslau und S.-Liegnitz der Preußischen
Staatsbahn, 82 m ü. M., besteht aus der Stadt, 2
Vorstädten (Schönfeld und Hinkau) und 3 Kolonien (Karras,
Bornstadt und Klinge), hat 2 evang. Kirchen, ein Schloß, ein
Rettungshaus, ein Amtsgericht, eine Reichsbanknebenstelle,
bedeutende Tuchfabrikation, eine Hutfabrik, eine mechanische
Bandweberei, 3 Dampffärbereien, 2 Maschinenbauanstalten, eine
Flachsgarnspinnerei, Appretur- u. Karbonisieranstalten, Ziegeleien,
eine Ofenfabrik, Dampfschneidemühlen, Bierbrauereien u. (1885)
11,362 meist ev. Einw.

Sommerfrischen, die im Sommer zu benutzenden klimatischen
Kurorte (s. d.).

Sommergewächse, einjährige Pflanzen, s.
Einjährig.

Sommerkatarrh (Catarrhus aestivus), s. Heufieber.

Sommerkleid, s. Vögel.

Sommerkönig, Vogel, s. Laubsänger und
Goldhähnchen.

Sommerpappel, s. Lavatera.

Sommerpunkt, s. v. w. Sommersolstitium, s.
Sonnenwenden.

Sömmerring, Samuel Thomas von, Mediziner, geb. 28.
Jan. 1755 zu Thorn, studierte seit 1774 in Göttingen, ward
1778 Professor der Anatomie in Kassel, 1784 in Mainz, praktizierte
seit 1798 in Frankfurt a. M., wurde 1805 königlicher Leibarzt
in München, dann Geheimrat und in den Adelstand erhoben. 1820
kehrte er nach Frankfurt zurück, wo er 2. März 1830
starb. Seine Untersuchungen über Gehirn- und Nervensystem,
über die Sinnesorgane, über den Embryo und seine
Mißbildungen, über den Bau der Lungen, über die
Brüche etc. stellen ihn in die Reihe der ersten deutschen
Anatomen. Er konstruierte auch 1809 einen elektrischen Telegraphen,
bei welchem die Zeichen durch galvanische Zersetzung von Wasser
gegeben werden sollten, arbeitete über die Veredelung des
Weins, über die Zeichnungen, welche sich bei der Ätzung
des Meteoreisens auf demselben bilden, über die Sonnenflecke
etc. Er schrieb: "Vom Hirn- und Rückenmark" (Mainz 1788, 2.
Aufl. 1792); "Vom Bau des menschlichen Körpers" (Frankf.
1791-96, 6 Bde.; 2. Aufl. 1800; neue Aufl. von Bischoff, Henle u.
a., Leipz. 1839-45, 8 Bde.); "De corporis humani fabrica" (Frankf.
1794-1801, 6 Bde.); "De morbis vasorum absorbentium corporis
humani" (das. 1795); "Tabula sceleti feminini" (das. 1798);
"Abbildungen des menschlichen Auges" (das. 1801), "des menschlichen
Hörorgans" (das.1806), "des menschlichen Organs des Geschmacks
und der Stimme" (das. 1806), "der menschlichen Organe des Geruchs"
(1809). Sömmerrings Briefwechsel mit Georg Forster wurde von
Hettner (Braunschw. 1878) herausgegeben. Vgl. R. Wagner,
Sömmerrings Leben und Verkehr mit Zeitgenossen (Leipz.
1844).

Sommerschlaf s. Winterschlaf.

Sommersolstitium, s. Sonnenwenden.

Sommersporen, s. Pilze, S. 66, und Rostpilze, S. 989.

Sommersprossen (Sommerflecke, Ephelides), kleine,
rundliche, bräunliche Flecke, welche sich namentlich bei
blonden und rothaarigen Menschen, unter der Einwirkung des
Sonnenlichts und der Sonnenwärme, der Feuchtigkeit und des
Windes an den unbedeckten Stellen der Haut bilden. Die S. beruhen
auf der Ablagerung eines bräunlichen Pigments in den
oberflächlichen Hautschichten. Während des Win-

24

Sommerthürchen - Son.

ters blassen sie ab oder verschwinden auch ganz. Durch Mittel,
welche eine Abstoßung der Epidermis mit Einschluß ihrer
tiefern pigmenthaltigen Schichten bewirken, kann man die S.
vertreiben; sie kehren aber nach wenigen Wochen wieder, wenn die
Haut von neuem den erwähnten Schädlichkeiten ausgesetzt
wird. Auf diese Weise wirken die Lilionese und Umschläge mit
einprozentiger Lösung von Sublimat (Quecksilberchlorid,
höchst giftig!). Man läßt diese Umschläge nur
einige Stunden lang wirken und sorgt dafür, daß die mit
der Sublimatlösung befeuchteten Leinwandläppchen keine
Falten schlagen. Zeigt sich die Haut hiernach stärker
entzündet, so bedeckt man sie mit in Öl getränkten
Kompressen.

Sommerthürchen, Pflanze, s. Leucojum.

Sommertuch, s. Halbtuch.

Sommerwal, s. Finnfisch.

Sommerwurz, s. Orobranche.

Sommières (spr. ssommjähr), Stadt im franz.
Departement Gard, Arrondissement Nîmes, am Vidourle und an
der Eisenbahnlinie Lunel-Le Vigan (mit Abzweigung nach Nimes und
Les Mazes), hat ein altes Schloß, eine Brücke mit Turm,
eine reformierte Konsistorialkirche, Fabrikation von Likör,
Essenzen, Decken, Wollenstoffen, Hüten etc. und (1881) 3644
Einw.

Sommitäten (franz.), die Höchsten,
Vornehmsten.

Somnambulismus (lat.), im engern Sinn das "Umherwandeln
im Schlaf", das Schlafwandeln; dann das habituell gewordene, dem
Anschein nach mit Überlegung vor sich gehende, in Wahrheit
aber nur traumbewußte Verrichten von Handlungen während
des Schlafs, das Schlafhandeln; gewöhnlich rechnet man zum S.
auch diejenigen meist auf Selbsttäuschung oder Betrug
beruhenden Fälle, in welchen gewisse Personen Dinge oder
Ereignisse wahrzunehmen glauben oder vorgeben, welche mittels
gesunder Sinne nicht wahrzunehmen sind (das Hellsehen,
clairvoyance); endlich auch die Gesamtheit der noch vielfach
problematischen Erscheinungen des sogen. tierischen Magnetismus (s.
Magnetische Kuren und Hypnotismus). Die beiden ersten Arten des S.,
welche man gewöhnlich als Nachtwandeln bezeichnet,
charakterisieren sich besonders dadurch, daß bei mangelndem
klaren Bewußtsein Handlungen vorgenommen werden, welche den
Schein der Willkürlichkeit und Zweckmäßigkeit an
sich tragen. Das Nachtwandeln nimmt niemals einen tödlichen
Ausgang und stört den Fortgang der Körperentwickelung
nicht auf eine erhebliche Weise. Beim Traum wie beim Nachtwandeln
ist das dämmernde Selbstbewußtsein der Mittelpunkt,
worin sich die dunkeln und verworrenen Empfindungen der Sinne und
des Gemeingefühls, wenn nämlich solche noch zur
Wahrnehmung kommen, sammeln, während Reihen von Vorstellungen
und Willensantrieben auftreten, welche zu den mannigfaltigsten,
ihnen entsprechenden Bewegungen der Glieder sowie zu einem
völlig artikulierten und zusammenhängenden Sprechen
Veranlassung geben. Nur die höchsten Grade dieser
Erscheinungen kommen aber hier in Betracht, insofern bei ihnen die
charakteristischen Bedingungen des Schlafs nicht mehr vorhanden zu
sein scheinen. Dahin ist vor allem zu rechnen, daß die
Nachtwandler ungeachtet der größten Anstrengung beim
Erklettern von Fenstern, Dächern etc. nicht erwachen, was doch
der Fall sein würde, wenn bei ihnen, wie beim
gewöhnlichen Schlaf, die Fähigkeit zur Empfindung und
Bewegung in gleichem Maß ab- und zunähme. Vielmehr geben
sie bei äußerer ordentlicher Bethätigung ihres
ganzen Muskelsystems zuweilen eine so gänzliche
Empfindungslosigkeit kund, daß weder das stärkste Licht,
noch der Schall von lärmenden Instrumenten, noch die
schärfsten Gerüche, noch Verletzungen der Haut den
geringsten Eindruck auf sie machen. Auch haben die Reden des
Nachtwandlers nicht jenen Charakter der Zerfahrenheit und des
Unzusammenhängenden wie die des Träumenden, sondern meist
logischen Zusammenhang und bewegen sich, wie seine Handlungen,
größtenteils im Kreis früherer Erinnerungen. Nach
dem bisherigen Stand unsers Wissens unerklärlich ist der
angebliche, im Volksmund allgemein behauptete Einfluß des
Mondes auf die Nachtwandler, welcher zu der Bezeichnung Mondsucht
(Lunatismus) Veranlassung gegeben hat. Die oft erzählten Sagen
von Mondsüchtigen, welche auf Bäume, Dächer und
Türme gleichsam dem Mond entgegengeklettert seien etc., sind
noch zu wenig beglaubigt, als daß man sie unbedenklich gelten
lassen könnte. Erwähnung verdient noch, daß die
Nachtwandler ihre Bewegungen auch auf gefährlichen Wegen mit
der größten Sicherheit ausführen sollen, wobei das
Freibleiben von Schwindel eine wirksame Unterstützung
gewähren mag. Da das Nachtwandeln gewöhnlich einen
völlig konstitutionellen Zustand darstellt, welcher als
solcher das Individuum Jahrzehnte behaften kann, so läßt
es sich höchstens durch kräftige diätetische
Maßregeln mit einigem Erfolg bekämpfen. Zu letztern
würden vor allem angemessene Körperanstrengungen, um
einen möglichst festen und tiefen Schlaf zu bewirken, und
Vermeidung aller das Nervensystem stärker aufregenden
psychischen und physischen Reize, z. B. allzu reichliche
Abendmahlzeiten, zu rechnen sein. Entschieden abzuraten ist von den
gebräuchlichen Gewaltmitteln, wie z. B. den vor das Bett
gestellten Wassergefäßen, Prügeln u. dgl.
Jedenfalls hat man die Nachtwandler unter eine angemessene Aufsicht
zu stellen, damit sie in ihren Paroxysmen weder sich noch andern
Schaden zufügen können. Vgl. Magnetische Kuren.

Somnium (lat.), Traum.

Somnolénz (lat.), Schläfrigkeit,
schlafsüchtiger Zustand, leichtester Grad von
Betäubtheit.

Somnus (lat.), Gott des Schlafs, s. Hypnos.

Somogy (spr. schómodj, Sümeg), Komitat in
Ungarn, am rechten Donauufer zwischen dem Plattensee und der Drau,
hat 6531 qkm (118,6 QM.) Areal mit (1881) 307,448 meist
ungarischen, kath. Einwohnern. Es wird von zahlreichen kleinen
Flüssen bewässert, ist sehr fruchtbar und im Süden
an der Drau teilweise sumpfig; 1/3 des Gebiets bedeckt Wald. Sitz
des Komitats, das nach dem alten Schlosse Somogyvár benannt
ist und von der Donau-Draubahn, der Linie
Stuhlweißenburg-Kanizsa und der Fünfkirchen-Barcser Bahn
durchschnitten wird, ist Kaposvár.

Somorrostro, kleiner Ort in der span. Provinz Viscaya,
10km nordwestlich von Bilbao, berühmt wegen seiner reichen
Eisenminen.

Somosierra, Dorf in der span. Provinz Madrid, am
Südabhang des gleichnamigen Gebirges (Fortsetzung der Sierra
de Guadarrama), historisch merkwürdig durch das siegreiche
Gefecht Napoleons I. gegen die Spanier 30. Nov. 1808.

Somvix ("Oberdorf", rätoroman. Sumvigel), Ort im
schweizer. Kanton Graubünden, am Vorderrhein, 880 m ü. M.
gelegen, zum Bezirk Vorderrhein gehörig, mit (1880) 1235 Einw.
Gegenüber öffnet sich das alpine, vom Somvixer Rhein
durchströmte Val S. in das Hauptthal; es bildet den Zugang zu
dem (nicht fahrbaren) Paß Greina.

Son (Sona), Fluß in Britisch-Indien, entspringt in
Zentralindien am Gebirgsstock des Amarkantak

25

Sonate.

und fließt in nordöstlicher Richtung dem Ganges zu,
den er oberhalb Patna nach einem Laufe von 748 km erreicht. Im
Unterlauf ist er schiffbar und seit 1871 durch einen bei Dehri
vollendeten Querdamm, wodurch fünf Kanäle gespeist
werden, zur künstlichen Überflutung seiner Ufer
eingerichtet.

Sonate (ital. sonata, suonata), ein in der Regel aus drei
oder vier abgeschlossenen, aber durch innere Verwandtschaft unter
sich verbundenen Sätzen bestehendes Tonwerk von ganz
bestimmter Form, zunächst für ein Soloinstrument,
namentlich Klavier, Cello, Flöte, Violine, Orgel etc.,
bestimmt, jedoch, als Duo, Trio, Quartett etc., auch auf mehrere
Instrumente und, als Symphonie, sogar auf großes Orchester
übertragen. Der erste Satz ist der speziell für die S.
charakteristische und sie von der Suite, Serenade etc.
unterscheidende; seine Form ist die darum speziell so genannte
Sonatenform. Er beginnt entweder mit einer langsamen Einleitung
(Grave, Largo) oder gleich mit dem Hauptthema (Hauptsatz) in
bewegtem Tempo (Allegro), von welchem geschlossene, modulierende
(nicht in allzufern liegende Tonarten ausschweifende) Gänge
zum zweiten Thema (Nebensatz, Seitensatz) überleiten, das zwar
in gleichem Tempo, aber in längern Notenwerten, gesangartiger
gehalten ist. Steht der Hauptsatz in Dur, so pflegt der Seitensatz
auf der Tonart der Dominante zu stehen; steht er in Moll, so kommt
die Parallel-Durtonart oder Durtonart der kleinen Sexte (z. B. bei
A moll: F dur) oder auch eine verwandte Molltonart in Anwendung.
Entweder schließt nun der erste Teil hiermit ab, oder es
folgt noch ein kleiner Schlußsatz, der zum ersten Thema
zurückführt. Die Repetition (Reprise) der den ersten Teil
des Sonatensatzes konstituierenden Themata ist durchaus für
die Form charakteristisch, und Abweichungen sind selten und
bedeuten ein Zerbrechen der Form (Beethoven). Der nun folgende
zweite Teil (Durchführungssatz) besteht ausschließlich
in Verarbeitung des vorausgegangenen thematischen Materials (selten
bringt er noch ein selbständiges Thema) und leitet ohne
Wiederholung durch den sogen. Rückgang zum dritten Teil
über. Dieser bringt wieder das Hauptthema in der Haupttonart,
führt jedoch diesmal (mit oder ohne Gang) den Seitensatz und
etwanigen Schlußsatz gleichfalls in der Haupttonart oder
gleichnamigen Molltonart ein und beschließt entweder hiermit
das Tonstück, oder es folgt ihm noch ein besonderer Anhang
(coda), der hier meistens etwas länger ausgeführt ist als
im ersten Teil. Bildungen wie die der ersten Sätze der sogen.
Mondscheinsonate (Op. 27, Cis moll) oder der As dur-Sonate (Op. 26)
von Beethoven haben mit diesem Schema nichts zu thun. Beiden
Sonaten fehlt der eigentliche erste Satz; sie beginnen mit dem
langsamen, der in der Regel der zweite ist. Charakteristikum des
zweiten Satzes ist die langsame Bewegung (nur ausnahmsweise
vertauschen der langsame Satz und das gleich zu besprechende
Scherzo ihren Platz). Seine Form kann eine sehr verschiedenartige
sein. Ist er wie der erste mit zwei kontrastiernden Themata
ausgestattet, so ist das bewegtere das zweite; die Reprise und
Durchführung fallen weg, dagegen erscheint gern das Hauptthema
dreimal, meist mit immer gesteigerter Figuration. Oft begnügt
sich der Tonsetzer mit der Liedform, d. h. der Themataordnung
I-II-I. Sehr beliebt ist auch die Variationenform für den
zweiten Satz. Die Tonart des zweiten Satzes ist meist die der
Unterdominante. Der dritte Satz bringt Menuett oder Scherzo,
gewöhnlich wieder in der Haupt- oder doch in einer eng
verwandten Tonart. In ältern Sonaten fehlt Menuett oder
Scherzo gänzlich, so daß man gleich vom zweiten zum
letzten Satz, dem Finale, gelangt. Dieser steht bei
durchschnittlich schneller Bewegung immer in der Haupttonart,
verwandelt sie aber nicht selten aus Moll in Dur. Seine Form ist
entweder die Sonatenform, in der Regel ohne Reprise, aber mit
Durchführung, oder eine weit ausgesponnene Rondoform mit mehr
als zwei meist kurzen Themata. In seltenen Fällen läuft
er in eine Fuge aus. Beethoven handhabt die Form sehr frei und
beschränkt sich manchmal auf nur zwei Sätze und zwar
nicht nur in der kleinen S. (Sonatine), bei der das fast die Regel
ist, sondern auch in groß und ernst angelegten Werken (Op.
53, 54, 78, 90, 101, 111).

Geschichte. Sonata ("Klingstück") ist ursprünglich, d.
h. als die Anfänge einer selbständigen Instrumentalmusik
sich entwickelten (gegen Ende des 15. Jahrh.), eine ganz allgemeine
Bezeichnung für Instrumentalstücke und der Gegensatz von
Cantata ("Singstück"). Die ältesten Komponisten, welche
den Namen S. gebrauchten, waren Giovanni Croce (1580) und Andrea
Gabrieli, dessen "S. a 5 istromenti" (1586) leider nicht mehr zu
finden sind. Dagegen sind uns einige Sonaten von seinem Neffen
Giovanni Gabrieli erhalten (I597 und 1615). Diese ältesten
Sonaten sind Stücke für mehrere Instrumente (Violinen,
Violen, Zinken und Posaunen), und ihr Schwerpunkt liegt in der
Entfaltung harmonischer Fülle. Ihre praktische Bestimmung war
die, einem kirchlichen Gesangswerk als Einleitung vorausgeschickt
zu werden, die S. tritt in der Folge (völlig gleichbedeutend
mit Symphonia) als Einleitung der Kantate auf. Gegen Ende des 17.
Jahrh. begann man die Sonata da chiesa (Kirchensonate) von der
Sonata da camera (Kammersonate) zu unterscheiden. Die letztere
schied die Blasinstrumente aus und wurde schließlich die
Prärogative der Violine (Biber, Corelli), ja die alte Art der
für die Kirche bestimmten S. wurde gleichfalls nach Art der
Kammersonate zugestutzt und nur, statt mit Cembalo, mit der Orgel
begleitet. Neben beiden bestand die vielstimmige, besonders mit
Blasinstrumenten besetzte S. fort für Tafelmusik und
ähnliche weltliche Bestimmungen. Diese Sonaten, auch die
Corellischen und Biberschen, haben mit der neuern Sonatenform noch
wenig mehr gemeinsam als die Zusammensetzung aus mehreren Teilen
von verschiedener Bewegungsart, welche bereits I. Gabrieli seinen
letzten Sonaten gegeben hatte. Corelli schrieb sie viersätzig:
Adagio, Allegro, Adagio, Allegro. Die Übertragung des Namens
S. auf Klavierwerke ähnlicher Gestaltung ist das Werk Johann
Kuhnaus (s. d.). Die letzte Vollendung der Form der S., namentlich
ihres charakteristischen ersten Satzes, erfolgte durch Domenico
Scarlatti, J. S. Bach, Philipp Emanuel Bach, Joseph Haydn, Mozart
und Beethoven. Die Umbildung des Stils der S. ist nichts derselben
Eigentümliches, sondern geht parallel mit der Entwickelung der
Instrumentalmusik und insbesondere des Klavierstils überhaupt,
welcher nach J. S. Bach allgemein, aber schon früher in
ziemlich ausgedehntem Maß eine freiere (homophone) Setzweise
erfuhr. Die Form der S. wurde durch Haydn, Mozart und Beethoven auf
die Komposition für verschiedene Ensembles (Violine und
Klavier, Klavier, Violine und Cello, Streichtrio, Streichquartett
etc.) und für Orchester (Symphonie) übertragen. Nach
Beethoven haben die Form der S. mit besonderm Glück Franz
Schubert, Mendelsohn, Rob. Schumann und in neuester Zeit Johannes
Brahms, Joachim Raff, Anton Rubinstein, I. Rhein-

26

Sonatine - Sonett.

berger und Robert Volkmann behandelt. Vgl. Marx,
Kompositionslehre, Tl. 3 (5. Aufl., Leipz. 1868); Faißt,
Beiträge zur Geschichte der Klaviersonate (in der
"Cäcilia", Bd. 25 u. 26, Mainz 1847); Bagge, Geschichtliche
Entwickelung der S. (Leipz. 1880).

Sonatine, s. v. w. kleine Sonate, leichtverständlich
und leicht zu spielen; der erste Satz der S. hat entweder keine
oder nur eine sehr kurze Durchführung, die Zahl der Sätze
ist meist 2 oder 3 (vgl. Sonate).

Soncino (spr. ssontschino), Dorf in der ital. Provinz
Cremona, Kreis Crema, unweit des Oglio, hat ein altes Schloß,
bekannt durch die Gefangenschaft und den Tod (1259) des
Statthalters Ezzelino, Seidenbau und (1881) 3965 Einw.

Sond., bei botan. Namen Abkürzung für W.
Sonder, Apotheker in Hamburg (Algen, Kapflora).

Sonde (Specillum), dünnes, rundes, 12-28 cm langes
Stäbchen, gewöhnlich aus Stahl oder Silber, an der Spitze
abgerundet oder mit einem Knöpfchen oder Öhr versehen,
dient zur Untersuchung von Wunden, Geschwüren etc., zum
Einbringen von Scharpie oder Fäden oder als Leitungswerkzeug
für schneidende Instrumente, in welchem Fall es der Länge
nach gefurcht oder gerinnt ist (Hohlsonde). Im Seewesen ist S. s.
v. w. Senkblei.

Sonderbund, der Bund der sechs ultramontanen Kantone der
Schweiz (1845), der 1847 den Sonderbundskrieg zur Folge hatte. S.
Schweiz, S. 762.

Sonderburg, Kreisstadt in der preuß. Provinz
Schleswig-Holstein, auf der Insel Alsen und am Alsensund, über
welchen eine Schiffbrücke zum Festland führt, hat eine
evang. Kirche, ein Schloß, ein Realprogymnasium, ein
Amtsgericht, Eisengießereien, Dampfmahlmühlen,
Färbereien, ein Seebad, einen guten Hafen und (1885) mit der
Garnison (ein Füsilierbataillon Nr. 86) 5266 fast nur evang.
Einwohner. - S. war schon 1253 vorhanden, brannte 1864 während
der Belagerung der Düppeler Schanzen teilweise nieder und fiel
29. Juni d. J. mit dem Übergang der Preußen nach Alsen
in deren Hände. Die Festungswerke sind neuerdings aufgegeben.
Nach S. wird die apanagierte Linie der Herzöge von S. benannt
(s. Schleswig-Holstein, S. 524).

Sondereigen, gesondertes Privateigentum im Gegensatz zum
gemeinschaftlichen oder Gemeineigen.

Sondergut (Einhands-, Rezeptiziengut), das Vermögen
der Ehefrau, welches sie sich zur freien Verfügung
vorbehält (s. Güterrecht etc., S. 949).

Sonderland, Johann Baptist, Maler und Radierer, geb. 2.
Febr. 1805 zu Düsseldorf und an der Akademie daselbst sowie
auf Studienreisen in Paris, Holland und Frankfurt a. M. gebildet,
zeichnete sich in seinen Genrebildern durch Reichtum der Erfindung,
Lebendigkeit der Darstellung und naiven Humor aus. Unter dem Titel:
"Bilder und Randzeichnungen zu deutschen Dichtern" fertigte er eine
große Anzahl radierter Blätter sowie auch die
Illustrationen zu Reinicks "Malerliedern", zu "Münchhausen"
von Immermann etc. In den letzten Jahren seines Lebens wandte er
sich ausschließlich der Illustration zu und schuf eine
große Zahl von Aquarellkompositionen, Lithographien nach
eignen und fremden Originalen, Randzeichnungen etc. Er starb 21.
Juli 1878. Sein Sohn Friedrich S., geb. 20. Sept. 1836 zu
Düsseldorf ist ebenfalls ein begabter Maler, der besonders im
humoristischen Genre hervorragend ist.

Sonderling, Schmetterling, s. Aprikosenspinner.

Sondernachfolge, s. Rechtsnachfolge.

Sondershausen, Haupt- und Residenzstadt des
Fürstentums Schwarzburg-S., in der sogen. Unterherrschaft, am
Fuß der Hainleite, an der Wipper und der Linie
Nordhausen-Erfurt der Preußischen Staatsbahn, hat 3 Kirchen,
ein ansehnliches Residenzschloß mit Antiquitäten- und
Naturaliensammlung und schönem Garten, ein Gymnasium, eine
Realschule, ein Schullehrerseminar, ein Konservatorium, ein
Theater, ein Zeughaus, ein Landeskrankenhaus, Nadelfabrikation, 2
Dampfziegeleien, eine Dampfschneidemühle und (1885) 6336 meist
evang. Einwohner. S. ist Sitz der obersten Landesbehörden,
eines Landratsamtes und eines Amtsgerichts. Vor der Stadt liegt das
Loh, ein Vergnügungsort, und unweit von S. auf der Hainleite
das Jagdschloß Possen (s. d.).

Sondersieche, s. v. w. Aussätzige, s. Aussatz, S.
127.

Sondieren, mit dem Senkblei (Sonde) die Tiefe
ergründen; ausforschen, prüfen.

Sondrio, ital. Provinz im N. der Lombardei, begreift
großenteils das bis 1797 zu Graubünden gehörige
Veltlin, wird im N. von der Schweiz, im O. von Tirol und der
Provinz Brescia, im Süden von Bergamo und im W. von Como
begrenzt und umfaßt 3268, nach Strelbitsky 3123 qkm (56,7
QM.) mit (1881) 120,534 Einw. Das Land besteht der Hauptsache nach
aus den Thälern der obern Adda und der Mera, welche von
mehreren Gebirgsgruppen der Alpen (Bernina-, Ortler- und
Bergamasker Alpen) flankiert werden. Über das Gebirge
führen im W. der Splügen, im O. das Stilfser Joch; auch
münden hier die Straßen über den Maloja- und
Berninapaß. Der Boden ist großenteils Weide und Wald
(57,538 Hektar); das bebaute Land bringt Wein (1886: 119,200 hl,
doch gute Sorten), etwas Getreide, viel Kartoffeln, Obst etc.
hervor; das Mineralreich liefert Eisen, Blei und andre Metalle und
Mineralien. Neben dem sehr beschränkten Ackerbau, der Vieh-
und Seidenzucht und Holzgewinnung wird etwas Industrie
(Seidenfilanden, Baumwollspinnerei, Metallindustrie) und Handel
betrieben. Durch die Eisenbahnen Colico-Sondrio und
Colico-Chiavenna in Verbindung mit der Dampfschiffahrt am Comersee
ist die Provinz in neuester Zeit dem Weltverkehr näher
gerückt worden. Von Bedeutung sind endlich die ausgezeichneten
Mineralquellen (vor allen die zu Bormio). Doch genügen die
vorhandenen Erwerbsquellen nicht, so daß viele Bewohner
alljährlich auswärts Beschäftigung suchen
müssen. Die gleichnamige Hauptstadt, malerisch an der
Mündung des Mallero in die Adda und an der Bahn Colico-S.
gelegen, hat ein königliches Lyceum und Gymnasium, eine
technische Schule, ein Gewerbeinstitut, eine städtische
Bibliothek, ein Nationalkonvikt, ein großes Krankenhaus, ein
schönes Theater, ein ehemaliges Kloster (jetzt
Traubenkuranstalt), Ruinen eines Schlosses, Seidenindustrie,
Töpferei (aus dem im Val Malenco gebrochenen Lavezstein),
Handel und (1881) 3989 Einw. S. ist Sitz eines Präfekten.

Sonett (ital., Klanggedicht), kleines Gedicht von
bestimmter Form, bestehend aus 14 (in der Regel iambischen) Zeilen,
von denen die ersten 8 und die letzten 6 miteinander reimen und
zwar so, daß die 8 ersten, in zwei Strophen von je 4 Zeilen
zerfallend (Quaternarien oder Quatrains), nur zwei Reime haben,
welche je viermal anklingen und in dem Verhältnis der
Reimumschlingung zu einander stehen

27

Songarei - Sonnborn.

(abba abba), die 6 letzten dagegen, in zwei Strophen von je 3
Zeilen zerfallend (Terzinen), mit zwei oder auch drei
Reimklängen beliebig wechseln können (cdc ded, cde cde,
cde dce etc.). Das S. ist eine ebenso schöne wie kunstvolle,
aber auch schwierige Form für die reflektierende Lyrik, weil
sie nicht nur einen bedeutenden Reichtum an Reimen erfordert,
sondern auch die innere Gedankenordnung sich genau den Abteilungen
anschmiegen soll, nicht bloß so, daß mit der 4., 8. und
11. Zeile eine Sinnpause eintreten muß, sondern die Art des
Gedankenvortrags soll auch mit jeder neuen Strophe eine neue
Wendung nehmen. Unbedingt verpönt ist namentlich das
Herüberziehen des Satzes aus der 8. in die 9. Zeile.
Hervorgegangen aus der provencalischen Poesie, fand das S. in der
Mitte des 13. Jahrh. in die italienische Poesie Aufnahme. Die erste
regelmäßige Gestalt gab ihm Fra Guittone von Arezzo, die
höchste Vollendung Dante und Petrarca; im übrigen ist die
Zahl der italienischen Sonettendichter unendlich. In Frankreich
ward das S. erst im 16. Jahrh. wieder aufgenommen, aber als Bouts
rimés zum leeren Witz- und Reimspiel herabgewürdigt.
Auch in England, wohin es durch Howard Graf Surrey verpflanzt ward,
war es eine Zeitlang Modeform (Shakespeare). In Spanien haben sich
Boscau, Garcilaso de la Vega, Mendoza etc., in Portugal namentlich
Camoens als Meister des Sonetts ausgezeichnet. In der deutschen
Poesie finden sich Anklänge an das S. bereits bei Walther von
der Vogelweide. Eigentlich eingeführt ward es zuerst von
Weckherlin und Opitz (in Alexandrinern) und unter dem Namen
Klanggedicht bald mit Vorliebe (Gryphius, P. Fleming etc.)
bearbeitet. Später geriet es wieder in Vergessenheit, bis es
durch Bürger und dann durch die romantische Schule von neuem
aufgenommen und mit Eifer kultiviert wurde. Treffliche deutsche
Sonette haben Schlegel, Goethe, Rückert, Platen, Chamisso,
Herwegh, Geibel, Strachwitz u. a. geliefert. Sonettenkranz ist eine
Reihe von 15 Sonetten, von denen 14 durch ihre Anfangs- oder
Endzeilen das 15., das sogen. Meistersonett, bilden. Vgl.
Tomlinson, The sonnet, its origin, structure etc. (Lond. 1874);
Welti, Geschichte des Sonetts in der deutschen Dichtung (Leipz.
1884); Lentzner, Über das S. in der englischen Dichtung (Halle
1886).

Songarei, Land, s. Dsungarei.

Songhay, Negerstamm, s. Sonrhai.

Songka (Sangkoi oder Roter Fluß), Hauptfluß
der franz. Kolonie Tongking (Hinterindien), entspringt mit drei
westlichern und einer östlichen Quelle in den
Südabhängen der die chinesische Provinz Jünnan
durchziehenden hohen Gebirgskette. In China heißt er
Hongkiang, bei Laokai tritt er über die Grenze, bleibt wie
zuvor noch 140 km von Bergen eingefaßt und bildet zahlreiche
Stromschnellen. Später wird er ruhiger, nimmt rechts den
Hellen Fluß und links den Klaren Fluß auf und spaltet
sich unterhalb in zahlreiche Arme, von denen die linksseitigen mit
dem Thaibinh oder Bakha durch drei künstliche Kanäle und
andre Wasseradern in Verbindung stehen, so daß hier ein
mächtiges Delta gebildet wird, und ergießt sich in den
Meerbusen von Tongking. An einem Arm des Thaibinh liegt Haiphong,
der Haupthafen des Gebiets. Der S. wurde zuerst 1870 von Dupuis von
der chinesischen Stadt Manghao bis zu seinem Eintritt in die Ebene
und 1872 aufwärts bis Jünnan hinein befahren. Auch der
Klare Fluß ist bis zur chinesischen Grenze, der Schwarze
Fluß eine große Strecke aufwärts für leichte
Fahrzeuge befahrbar. Am rechten Ufer des S., 175 km von der
Mündung, liegt die Hauptstadt Hanoi, die im 8. Jahrh. noch am
Meer gelegen haben soll, ein Beweis für die rasche
Deltabildung des Flusses.

Sonica (franz.), wird in Hasardspielen von einer Karte
gesagt, die beim ersten Aufschlagen über Gewinn und Verlust
entscheidet; im weitern Sinn s. v. w.. sogleich, zu rechter
Zeit.

Soninke, Negerstamm, s. Serechule.

Sonklar, Karl, Edler von Innstädten,
österreich. Militär und Geograph, geb. 2. Dez. 1816 zu
Weißkirchen in der damaligen Militärgrenze, besuchte
1829-32 die mathematische Schule in Karansebes, an welcher er eine
Zeitlang auch Lehrer war, stand 1839-48 als Infanterieoffizier in
Agram, Graz und Innsbruck und benutzte seinen Aufenthalt in Graz
dazu, Studien über Physik und Chemie an der dortigen
Universität zu machen, wogegen er von Innsbruck aus
weitreichende Wanderungen in den Alpen machte. Von 1848 bis 1857
lebte er als Erzieher des Erzherzogs Karl Viktor in
Schönbrunn, wirkte seit 1857 als Lehrer der Geographie an der
Militärakademie in Wiener-Neustadt, aus welcher Stellung er
1872 als Generalmajor in den Ruhestand trat und seinen Aufenthalt
in Innsbruck nahm, wo er 10. Jan. 1885 starb. Seine ersten
Schriften: "Über Führung einer Arrieregarde" (1844),
"Über die Heeresverwaltung der alten Römer im Frieden und
Krieg etc." (Innsbr. 1847), waren rein militärischen
Charakters; später aber wandte er sich der Geographie zu und
hat auf dem Gebiet der Orographie die größten Erfolge
aufzuweisen. Als Anhänger K. Ritters war er bestrebt, die
Ursachen der Erscheinungen, welche unmittelbar zu beobachten er
seit 1857 jährlich Reisen in die Alpen (1870 nach Ungarn, 1875
nach Italien) unternahm, aufzuspüren und darzulegen. Als
Frucht dieser Einzelforschungen veröffentlichte er:
"Reiseskizzen aus den Alpen und Karpathen" (Wien 1857); "Die
Gebirgsgruppe der Hochschwab" (das. 1859); "Die Ötzthaler
Gebirgsgruppe" (Gotha 1860, mit Atlas); "Die Gebirgsgruppe der
Hohen Tauern" (Wien 1866); "Die Zillerthaler Alpen" (Gotha 1877).
Sein in mehrfacher Hinsicht grundlegendes Hauptwerk ist aber die
"Allgemeine Orographie oder Lehre von den Reliefformen der
Erdoberfläche" (Wien 1872). Noch veröffentlichte er
außer verschiedenen Lehrbüchern der Geographie, die
ebenfalls besonderes Gewicht auf die Darstellung des Erdreliefs
legen: "Die Überschwemmungen" (Wien 1883) und bearbeitete
für die vom Deutschen u. Österreichischen Alpenverein
herausgegebene "Anleitung zur wissenschaftlichen Beobachtung auf
Reisen" den Teil "Die Orographie u. Topographie, Hydrographie und
Gletscherwesen" (Münch. 1879). In der Kunstlitteratur
versuchte er sich durch eine "Graphische Darstellung der Geschichte
der Malerei" (Wien 1853).

Sonn., bei naturwissenschaftl. Namen Abkürzung
für P. Sonnerat (spr. ssonn'ra), geb. 1749, Reisender, gest.
1814 in Paris (Zoologie, Botanik).

Sonnabend (d. h. der Abend vor dem Sonntag), der siebente
Tag der Woche im christlichen Kalender, der Sabbat im
jüdischen Kalender. An die letztere Bedeutung erinnern die
Namen Samstag im Deutschen, samedi im Französischen u. a.,
wogegen sich die römische Bezeichnung dies Saturni
(Saturnustag), im plattdeutschen Zaturdag, Saterdag sowie im
englischen Saturday erhalten hat.

Sonnblick, Berg, s. Rauriser Thal.

Sonnborn, Landgemeinde im preuß. Regierungsbezirk
Düsseldorf, Kreis Mettmann, an der Wupper

28

Sonne (Entfernung, Parallaxe, Größe,
Oberfläche).

und an den Linien Neuß-Schwelm und Düsseldorf-Schwelm
der Preußischen Staatsbahn, hat eine evangelische und eine
kath. Kirche, mechanische Weberei, eine Tapetenfabrik,
Kalksteinindustrie, Fabrikation landwirtschaftlicher Maschinen und
(1885) 7543 meist evang. Einwohner.

Sonne (hierzu Tafel "Sonne"), der Zentralkörper des
Planetensystems, zu dem die Erde gehört, an Volumen und Masse
weitaus der größte unter den Körpern dieses Systems
und für sie alle Quelle von Licht und Wärme.

[Entfernung von der Erde, Parallaxe.] Da die Erde sich in einer
Ellipse um die im Brennpunkt stehende S. bewegt, so ist die
Entfernung beider Himmelskörper voneinander veränderlich,
wie sich schon aus den zwischen 32' 36'' und 31' 32'' schwankenden
Werten des scheinbaren Halbmessers der S. ergibt. Die mittlere
Größe dieser Entfernung ist eins der wichtigsten
Elemente der Astronomie, denn sie bildet die Einheit, in welcher
man die Entfernungen der Weltkörper zunächst ermittelt.
Man bezeichnet sie gewöhnlich mit den Namen Sonnenweite,
Sonnenferne oder auch Erdweite. Dem dritten Keplerschen Gesetz
zufolge verhalten sich die dritten Potenzen der mittlern
Entfernungen zweier Planeten von der S. wie die Quadrate ihrer
Umlaufszeiten. Sind daher die letztern durch Beobachtung bekannt,
so kann man das Verhältnis zwischen den mittlern Entfernungen
berechnen. Ebenso läßt sich die Entfernung derjenigen
Fixsterne, bei denen die Bestimmung der jährlichen Parallaxe
(s. d.) gelungen ist, in Erdweiten angeben. Um nun die
Größe einer Erdweite in geographischen Meilen oder
Kilometern zu finden, muß die Parallaxe der S. bekannt sein.
Diese kann man aber, ihrer Kleinheit wegen, nicht direkt durch
Beobachtung von Sonnenhöhen an verschiedenen Punkten der Erde
finden; man bestimmt sie vielmehr indirekt, indem man die Parallaxe
und Entfernung der Planeten Mars und Venus in ihrem geringsten
Abstand von der Erde durch Beobachtung ermittelt. Dom. Cassini
leitete zuerst aus den Beobachtungen des Mars zur Zeit seiner
Opposition eine Parallaxe von 25'' ab, und da die Entfernung des
Mars von der Erde zur Zeit der Beobachtung 0,4 von der Entfernung
der Erde von der S. betrug, so ergab sich daraus die
Sonnenparallaxe = 0,4.25'' oder 10'', was eine Entfernung der S.
von 20,700 Erdhalbmessern gibt. Statt des Mars kann man auch die
Venus in ihrer Erdnähe beobachten. Dieselbe kehrt uns dann
ihre dunkle Seite zu und ist nur sichtbar, wenn sie vor der
Sonnenscheibe vorübergeht, wenn ein sogen. "Durchgang der
Venus durch die S." stattfindet. Halley machte zuerst (1677) auf
die Wichtigkeit der Venusdurchgänge für die Bestimmung
der Sonnenparallaxe aufmerksam und schlug eine hierzu geeignete
Beobachtungsmethode vor (1691 u. 1716). Seitdem sind alle
Venusdurchgänge (9. Juni 1761, 2. Juni 1769, 8. Dez. 1874 und
6. Dez. 1882) mit größter Sorgfalt beobachtet worden.
Aus den Beobachtungen von 1761 und 1769 hat Encke den Wert der
Sonnenparallaxe zu 8,57116'' bestimmt, was eine Entfernung der S.
gleich 24,043 Erdhalbmessern oder 20,682,000 geogr. Meilen gibt.
Bis Anfang der 60er Jahre galt dieser Wert als der
zuverlässigste. Eine neue Berechnung von Powalky, bei welcher
genauere Werte für die Längen einiger Beobachtungsorte
benutzt wurden, gab für die Sonnenparallaxe den
größern Wert 8,855''. Ferner berechnete Newcomb aus den
Beobachtungen des Mars zur Zeit seiner Opposition 1862, die nach
einem von Winnecke entworfenen Plan auf zahlreichen Sternwarten
angestellt wurden, den Wert 8,848''. Später hat Galle aus
Oppositionsbeobachtungen des Planeten Flora, der im Oktober und
November 1873 sich der Erde bis auf 0,87 Sonnenweiten näherte,
den Wert 8,873'' berechnet, fast übereinstimmend mit der Zahl
8,879, welche Puiseux aus den französischen Beobachtungen des
Venusdurchganges von 1874 abgeleitet hat. Leverrier hatte
früher aus den Störungen der Venus den Wert 8,95''
berechnet, und ähnliche Werte, sämtlich größer
als der Enckesche, sind von Hansen, Delaunay und Plana aus gewissen
Ungleichheiten der Mondbewegung gefunden worden. Endlich kann man
die Sonnenparallaxe auch finden, wenn man die Lichtgeschwindigkeit
unabhängig von astronomischen Beobachtungen bestimmt und die
sogen. Lichtgleichung, d. h. die Zeit, in welcher das Licht von der
S. zur Erde gelangt, oder auch den Aberrationswinkel (s. Aberration
des Lichts) kennt. Nach den neuesten Versuchen von Newcomb
beträgt aber die Lichtgeschwindigkeit im leeren Raum 299,860
km, und daraus ergibt sich mit Nyréns Wert der
Aberrationskonstanten (s. Aberration) eine Sonnenparallaxe von
8,794'', entsprechend einer Entfernung der S. von 149,61 Mill. km.
Da eine Bearbeitung der sämtlichen Beobachtungen der
Venusdurchgänge von 1874 und 1882 zur Zeit noch nicht
vorliegt, so bedient man sich gewöhnlich des Newcombschen
Wertes 8,85'' für die Sonnenparallaxe. Hiernach beträgt
die mittlere Entfernung der S. 23,307 Erdhalbmesser = 148,670,000
km = 20,036,000 geogr. Meilen. Das Licht braucht 8 Min. 18 Sek. zur
Zurücklegung dieses Wegs. Da die Exzentrizität der
Erdbahn ungefähr 1/60 beträgt, so wird die Entfernung im
Perihel um etwa 1/3 Mill. Meilen verkleinert, im Aphel um
ebensoviel vergrößert.

[Scheinbare und wahre Größe.] In mittlerer Entfernung
erscheint der Sonnenhalbmesser unter einem Winkel von 16' 1,8''
oder 961,8''; daraus berechnet sich der wahre Durchmesser der S. =
(961,8)/(8,85) = 108,556 Erddurchmessern = 1,387,600 km = 187,000
geogr. Meilen, also ungefähr 1 4/5 mal so groß als der
Durchmesser der Mondbahn. Ein Bogen auf der Mitte der S., der uns
unter einem Winkel von 1'' erscheint, hat eine Länge von 720
km, und selbst der feinste Spinnwebenfaden eines Mikrometers
verdeckt noch gegen 200km. Die S. hat 11,800 mal soviel
Oberfläche und 1,279,000 mal soviel Volumen als die Erde, 600
mal soviel als alle Planeten zusammen. Ihre Masse ist das 319,500
fache von der Erdmasse, mehr als das 700 fache aller
Planetenmassen. Die mittlere Dichte aber ist nur 0,253 oder
ungefähr 1/4 von der unsrer Erde, also 1,4 von der des
Wassers. Da die Schwerkraft an der Oberfläche eines
Himmelskörpers, abgesehen von den Wirkungen der
Zentrifugalkraft, proportional ist dem Produkt aus mittlerer Dichte
und Durchmesser, so ist dieselbe auf der S. 108,6.0,253 = 27,5 mal
so groß als bei uns, und während ein Körper auf der
Erde 4,9 m in der ersten Sekunde fällt, beträgt der
Fallraum auf der S. 135 m.

[Oberfläche.] Während bei Anwendung mäßiger
Vergrößerung die leuchtende Oberfläche der S. , die
Photosphäre, glatt und gleichförmig erscheint, erblickt
man sie durch Instrumente von großer Öffnung mit starker
Vergrößerung bei klarer und ruhiger Luft wie bedeckt mit
leuchtenden, in ein weniger helles Netzwerk eingebetteten
Körnern. Schon W. Herschel hat dieselben wahrgenommen und als
"Runzeln" bezeichnet, später hat sie Nasmyth mit
Weidenblättern, Secchi aber mit Reiskörnern verglichen.
Nach

29

Sonne (Flecke und Fackeln, Rotation).

Langley hat die Photosphäre ein wollig-wolkenartiges
Aussehen, aber neben den verwaschen wolkenartigen Gebilden
unterscheidet man noch zahlreiche schwache Fleckchen auf hellem
Grund, und unter günstigen Umständen lösen sich die
wolkenähnlichen Gebilde in eine Menge kleiner intensiv
leuchtender Körner auf, die in einem dunklern Medium
suspendiert erscheinen. Die erwähnten Fleckchen haben jetzt
das Aussehen von Öffnungen oder Poren, entstanden durch
Abwesenheit der weißen Wolkenknoten und Durchscheinen des
dunklern Grundes; der Durchmesser beträgt bei den deutlicher
wahrnehmbaren 2-4 Bogensekunden. Die hellen Knötchen oder
Reiskörner Secchis bestehen nach Langley aus Anhäufungen
kleiner Lichtpunkte von ungefähr 1/3'' Durchmesser. Janssen
hat Photographien der S. bis zu einem Durchmesser von 30cm und mehr
dargestellt, die unter der Lupe sehr deutlich die granulierte
Beschaffenheit der Photosphäre zeigen. An Stellen, wo die
Granulationen am deutlichsten ausgeprägt sind, besitzen die
Elemente alle eine mehr oder minder kugelförmige Gestalt, und
das um so mehr, je geringer ihre Größe ist. Der
Durchmesser dieser Kugeln ist sehr verschieden, von wenigen
Zehnteln der Bogensekunde bis zu 3 und 4''. Die ganze
Oberfläche der Photosphäre erscheint in eine Reihe von
mehr oder minder abgerundeten, oft fast geradlinigen, meist an
Vielecke erinnernden Figuren abgeteilt, deren Größe sehr
verschieden ist, oft einen Durchmesser bis zu 1' und darüber
erreicht. Während nun in den Zwischenräumen dieser
Figuren die einzelnen Körner bestimmt und gut begrenzt, obwohl
von sehr verschiedener Größe sind, erscheinen sie im
Innern wie zur Hälfte ausgelöscht, gestreckt oder
gewunden; ja, am häufigsten sind sie ganz verschwunden, um
Strömen von leuchtender Materie Platz zu machen, die an die
Stelle der Granulationen getreten sind. Janssen hat diese
Gestaltung als photosphärisches Netz bezeichnet.

[Sonnenflecke, Rotation.] Ferner bemerkt man auf der
Sonnenfläche schon bei schwachen Vergrößerungen
bald einzelne, bald in Gruppen zusammenstehende dunklere Stellen,
sogen. Sonnenflecke. Dieselben wurden zuerst 1610 von Fabricius
wahrgenommen, 1611 auch von Galilei und von Scheiner in Ingolstadt
entdeckt. Während ersterer die S. mit ungeschütztem Auge
beobachtete, wenn sie in der Nähe des Horizonts stand, wandte
Scheiner zuerst dunkel gefärbte Blendgläser an.
Gegenwärtig polarisiert man auch das Licht im Fernrohr durch
Reflexion und kann es dann durch abermalige Reflexion beliebig
abschwächen (Helioskop von Merz). Vielfach beobachtet man auch
das objektive Sonnenbild, das durch ein Äquatorial auf einer
weißen Fläche entworfen wird. Auch wendet man jetzt nach
dem Vorgang von Warren de la Rue häufig die Photographie an,
um getreue Abbildungen der Sonnenfläche mit ihren Flecken etc.
zu erhalten. Fig. 1 der Tafel "Sonne" zeigt den Anblick der S. nach
einer Photographie von Rutherfurd in New York 23. Sept. 1870.
Außer den Sonnenflecken zeigt dieselbe auch noch nach dem
Rand hin helle Adern, sogen. Fackeln, in Silberlicht glänzende
Streifen, die schon Galilei beobachtete. Die Sonnenflecke sind von
sehr verschiedener Größe, oft nur als dunkle Punkte
erkennbar, sogen. Poren, und oftmals 1000 Meilen und mehr im
Durchmesser haltend. Schwabe beobachtete im September 1850 einen
Fleck von 30,000 Meilen Durchmesser. Große Flecke von mehr
als 50'' = 4800 Meilen Durchmesser sind auch mit bloßem Auge
sichtbar, wenn man die S. durch dünnes Gewölk oder nahe
am Horizont oder auch ein berußtes Glas beobachtet, und es
sind solche schon vor Erfindung der Fernröhre, namentlich von
den Chinesen, vereinzelt gesehen worden. An den größern
Flecken unterscheidet man meist einen dunkeln Kern, den Kernfleck,
bisweilen mit noch dunklern Stellen, Dawes' Centra. Diese Kerne
sind umgeben mit einem matten, nach der leuchtenden
Sonnenfläche gut abgegrenzten Hof oder Halbschatten
(penumbra), ungefähr von der grauen Färbung der
Mondmeere. Doch sind auch bisweilen rötliche Färbungen
beobachtet worden, namentlich hat Secchi größere Flecke
wiederholt wie durch einen rötlichen Schleier gesehen. Nicht
selten fehlt übrigens die Penumbra, andre Male wieder der
Kernfleck.

Gleich die ersten Beobachter bemerkten, daß die
Sonnenflecke sich vom östlichen Rande der S. nach dem
westlichen bewegen, und erklärten diese Bewegung richtig durch
eine Rotation der S. um eine Achse. Die Bestimmung der Dauer der
Rotation ist aber mit Schwierigkeiten verbunden, einesteils wegen
der Veränderlichkeit, andernteils wegen der eignen Bewegung
der Flecke, die nach Laugier bisweilen über 100m in der
Sekunde beträgt. Verhältnismäßig nicht viele
Flecke behalten ihre Gestalt so lange, daß man sie
während mehrerer Rotationen verfolgen kann; viele ändern
von einem Tag zum andern ihre Gestalt teils durch Zerfallen (s.
Tafel, Fig. 2), teils durch Zusammenfließen mit andern
derart, daß sie nicht wieder zu erkennen sind; andre
verschwinden gänzlich, neue erscheinen. Das Auftreten neuer
Fleckengruppen wird meist vorher angezeigt durch ausgedehnte helle
Fackeln an der gleichen Stelle. Dessen ungeachtet hat man
zahlreiche Flecke durch mehrere Rotationen beobachtet. Man findet
nun, daß ein Fleck ungefähr 27½ Tage nach seinem
ersten Erscheinen sich wieder am Ostrand zeigt, und daraus ergibt
sich, mit Berücksichtigung der Bewegung der Erde, die wahre
Dauer einer Rotation der S. zu ungefähr 25½ Tagen. Die
genauere Bestimmung liefert aber für Flecke, die dem
Sonnenäquator nahe sind, eine kürzere Dauer als für
solche in höhern Breiten. Spörer fand z. B. für
1,5° heliographischer Breite 25,118 Tage, für 24,6°
aber 26,216 Tage. Es deutet dies auf eine Bewegung der Flecke
parallel zum Äquator. Außerdem aber ändern sich
auch die Breiten, es zeigen die meisten Flecke eine Bewegung vom
Äquator nach den Polen hin. Spörer vermutet, daß
diese Bewegungen mit Winden auf der S. zusammenhängen. Nach
seiner Bestimmung beträgt die Rotationszeit der S. 25,234
Tage, der Sonnenäquator ist um 6° 57' geneigt gegen die
Ekliptik, und die Länge seines aufsteigenden Knotens ist
74° 36'; Carrington hat 25,38 Tage, 7° 15' und 73° 57'
gefunden.

Bei der Rotation der S. zeigen die Flecke, den Regeln der
Perspektive entsprechend, gewisse regelmäßige
Formveränderungen: wenn ein Fleck sich vom Ostrand aus nach
der Mitte der S. bewegt, so wird seine Ausdehnung parallel zum
Äquator immer größer; entfernt er sich aber von der
Mitte, so wird sie immer kleiner, während gleichzeitig seine
Ausdehnung senkrecht zum Äquator ungeändert bleibt.
Wilson in Glasgow beobachtete 1769 an einem großen
Sonnenfleck, daß die Penumbra, als derselbe in der Mitte der
S. stand, links und rechts ungefähr gleich groß, vor-
und nachher aber, bei exzentrischer Stellung, allemal auf der dem
Rande der S. zunächst liegenden Seite sich am breitesten
zeigte. Wilson kam dadurch zu der Ansicht, daß die Penumbra
gebildet werde durch die trichterförmig nach unten
abfallenden, nur wenig leuchtenden Seitenwände einer
Öffnung in

30

Sonne (Korona, Protuberanzen etc.).

der Lichthülle der S., durch welche wir deren dunkeln Kern
erblicken. Daß der eigentliche Sonnenkörper dunkel sei,
hatte schon Dom. Cassini (1671) behauptet; Bode (1776) und
später W. Herschel haben der Wilsonschen Hypothese, daß
der dunkle Kern der S. zunächst von einer wenig leuchtenden,
wolkenähnlichen Hülle umgeben sei, über welche sich
die eigentliche Lichthülle ausbreite, allgemein Eingang
verschafft. Erst Kirchhoff (1861) machte darauf aufmerksam,
daß die leuchtende Hülle der S. unmöglich
bloß nach außen Licht und Wärme senden könne,
daß vielmehr auch die unter ihr liegende wolkenartige Schicht
und der Sonnenkörper selbst längst durch Leitung und
Strahlung erwärmt und ins Glühen versetzt worden sein
müßten. Aus diesen Gründen ist die Wilsonsche
Hypothese aufgegeben worden.

Die Sonnenflecke erscheinen nicht an allen Stellen der
Sonnenoberfläche in gleicher Häufigkeit. In der
Hauptsache sind sie beschränkt auf die Zonen zwischen 10 und
30° heliographischer Breite, die sogen. Königszonen. In
der Nähe des Sonnenäquators selbst sind sie nur
spärlich vorhanden, und ebenso finden sie sich selten jenseit
des 35. Breitengrads. Ferner sind die Sonnenflecke nicht zu allen
Zeiten gleich häufig, und es hat zuerst Schwabe 1843 aus
seiner seit 1826 fortgesetzten Beobachtung auf eine etwa
zehnjährige Periode der Häufigkeit geschlossen. Zu
allgemeiner Anerkennung gelangte diese Behauptung namentlich durch
die Diskussion älterer Fleckenbeobachtungen durch Wolf 1852.
Derselbe fand eine mittlere Dauer der Periode von 11 1/9 Jahren mit
Abweichungen von durchschnittlich 1 2/3 Jahren; etwa fünf
solcher Perioden bilden wieder eine größere Periode, die
durch die Höhe der Fleckenmaxima und die Tiefe der Minima
charakterisiert ist. Merkwürdig ist das 1852 von Sabine,
Gautier und Wolf erkannte Zusammentreffen der Sonnenfleckenperiode
mit derjenigen der erdmagnetischen Störungen und Variationen.
Später hat man auch in den Erscheinungen der Nordlichter, des
Regenfalls, der Stürme etc. dieselbe Periode zu erkennen
geglaubt; auch hatte schon W. Herschel einen Zusammenhang zwischen
der Häufigkeit der Sonnenflecke und der Fruchtbarkeit der
einzelnen Jahre zu erkennen geglaubt. Vgl. Hahn, Über die
Beziehungen der Sonnenfleckenperiode zu meteorologischen
Erscheinungen (Leipz. 1877); Fritz, Die Beziehungen der
Sonnenflecke zu den magnetischen und meteorologischen Erscheinungen
der Erde (Haarlem 1878).

[Korona und Protuberanzen.] Bei totalen Sonnenfinsternissen
erscheint der vor der S. stehende Mond rings umgeben mit einem
silberglänzenden, wallenden Lichtschimmer, aus dem einzelne,
oft wunderbar gekrümmte Strahlengruppen hervorschießen.
Es ist dies die sogen. Korona. Außerdem aber hat man auch
noch bei diesen Gelegenheiten eigentümliche rosenrote Gebilde
am Sonnenrand bemerkt, die bald wie Berge oder Flammen an der S.
haften, bald wie Wolken frei schweben, die Protuberanzen (vgl.
Tafel "Sonne", Fig. 3). Solche Protuberanzen sind bereits 1733 von
Vassenius in Gotenburg beobachtet und abgebildet worden; ihr
genaueres Studium beginnt aber erst mit der Sonnenfinsternis vom 8.
Juli 1842, wo Arago, Airy, Schumacher u. a. sie wahrnahmen; 1860
wurden sie bereits photographiert, und 1867 glückte es Rziha,
bei Ragusa eine Protuberanz während einer zehnzölligen
ringförmigen Finsternis zu beobachten. Endlich haben 1868
Lockyer, Janssen, Huggins und Zöllner Methoden angegeben, um
diese Gebilde auch bei vollem Sonnenschein zu beobachten. Als
Mittel hierzu dient das Spektroskop. Das Sonnenspektrum ist ein
kontinuierliches Spektrum, welches von zahlreichen dunkeln
(Fraunhoferschen) Linien unterbrochen wird, die genau dieselbe
Stelle einnehmen wie die hellen Linien in den Spektren
verschiedener Metalldämpfe. Kirchhoff zeigte, daß ein
jedes glühende Gas ausschließlich Strahlen von der
Brechbarkeit derer schwächt, die es selbst aussendet, so
daß die hellen Linien eines glühenden Gases in dunkle
verwandelt werden müssen, wenn durch dasselbe Strahlen einer
Lichtquelle treten, die hinreichend hell ist und an sich ein
kontinuierliches Spektrum gibt. Um also die dunkeln Linien des
Sonnenspektrums zu erklären, muß man annehmen, daß
die Sonnenatmosphäre einen leuchtenden Körper
umhüllt, der für sich allein ein kontinuierliches
Spektrum gibt. Die wahrscheinlichste Annahme scheint Kirchhoff die
zu sein, daß die S. aus einem festen oder
tropfbarflüssigen, in der höchsten Glühhitze
befindlichen Kern besteht, der umgeben ist von einer
Atmosphäre von etwas niedrigerer Temperatur. Durch das
erwähnte Zusammentreffen der Fraunhoferschen mit den hellen
Linien in den Spektren gewisser Metalldämpfe ist zugleich die
Anwesenheit der letztern in der Sonnenatmosphäre nachgewiesen,
und man hat auf diese Weise gefunden, daß Natrium, Calcium,
Baryum, Magnesium, Eisen, Chrom, Nickel, Kupfer, Zink, Strontium,
Kadmium, Kobalt, Wasserstoff, Mangan, Aluminium, Titan in der
Sonnenatmosphäre vorkommen; Wasserstoff und Eisendampf bilden
die Hauptgemengteile. Die Sonnenflecke zeigen nach Huggins und
Secchi dasselbe Spektrum wie die übrige Sonnenfläche, nur
sind die dunkeln Linien breiter; Secchi schließt daraus,
daß in ihnen die metallischen Dämpfe sich im Zustand
größerer Dichte befinden. Die Protuberanzen aber zeigen
ein Linienspektrum mit den hauptsächlichsten Linien des
Wasserstoffs und einigen Eisenlinien. Darauf beruht die
Möglichkeit, diese Gebilde bei hellem Sonnenschein selbst auf
der Sonnenscheibe zu beobachten. Man bringt nämlich im
Spektroskop eine größere Anzahl Prismen an, durch welche
das Spektrum des störenden Sonnenlichts so
vergrößert wird, daß es nicht mehr blendet;
dagegen bleibt die Protuberanz im Licht einer der hellen
Wasserstofflinien sichtbar, wenn man den Spalt weit öffnet
(Lockyer, Zöllner). Man weiß gegenwärtig, daß
die Protuberanzen in der Hauptsache aus glühendem Wasserstoff
bestehen, der in Massen von mannigfachster Form bis zur Höhe
von 1-3', ja in einzelnen Fällen bis über 4' Höhe
(23,000 geogr. Meilen) mit rasender Schnelligkeit (über 20
geogr. Meilen in der Sekunde) aufsteigt. Durch die Neigung der
obern Teile der Protuberanzen gibt sich eine in den höhern
Schichten der Atmosphäre herrschende Strömung nach den
Polen kund. Eine Hülle glühenden Wasserstoffgases umgibt
auch den ganzen Sonnenkörper, in der Fleckenregion fast zu
6000 Meilen, anderwärts nur etwa zu 1000 Meilen aufsteigend,
die sogen. Chromosphäre, welche namentlich in mittlern Breiten
zahlreiche haarförmige Hervorragungen zeigt. Die Korona
endlich gibt ein kontinuierliches Spektrum mit einigen hellen
Linien, darunter einer grünen Eisenlinie, die auch im
Nordlichtspektrum auftritt. Zwischen Protuberanzen und Fackeln
besteht eine enge Beziehung; es treten durchschnittlich die
schönsten Protuberanzen in der Region der Fackeln auf, und
Secchi versichert, noch niemals eine einigermaßen
glänzende Fackel am Sonnenrand selbst angetroffen zu haben,
ohne daselbst zugleich eine Protuberanz oder wenigstens eine
höhere Erhebung und

31

Sonneberg - Sonnenberg.

einen stärkern Glanz der Chromosphäre zu sehen.
Spörer hält die Protuberanzen für Vorläufer
später erscheinender Fleckengruppen. Fig. 4-6 auf Tafel
"Sonne" zeigen eine Anzahl Protuberanzen: Fig. 4 I eine Protuberanz
von 2' (11,500 geograph. Meilen) Höhe 3 Uhr 45 Min., II, III,
IV eine andre von 35 bis 40'' (3400-3800 Meilen) Höhe 6 Uhr 45
Min., 55 Min. und 57 Min.; Fig. 5 I 2. Juli 1869, 11 Uhr 35 Min.,
Höhe 65'' (6300 Meilen), II 4. Juli, 9 Uhr, Höhe 40''
(3800 Meilen), III und IV eine Protuberanz von 50-60'' (4800-5700
Meilen) Höhe 4. Juli, II Uhr 50 Min. und 12 Uhr 50 Min.

[Temperatur.] Über die Temperatur, welche auf der
Oberfläche der S. herrscht, gehen die Ansichten der Forscher
weit auseinander: während Zöllner aus theoretischen
Erwägungen über 27,000° C. findet, hat Secchi aus
aktinometrischen Messungen 5-6 Mill. Grad als untere Grenze
abgeleitet. Aus solchen Messungen haben aber anderseits Pouillet
und neuerdings wieder Vicaire und Violle bloß 1500°
gefunden. Diese verschiedenen Resultate sind Folge verschiedener
Annahmen des Wärmestrahlungsgesetzes, dessen Form uns freilich
nur innerhalb ziemlich enger Temperaturgrenzen sicher bekannt ist.
Licht- und Wärmestrahlung sind infolge der Absorption in der
Sonnenatmosphäre am Rand geringer als in der Mitte der
Sonnenscheibe. Secchi fand die Wärmestrahlung am Rand nur halb
so groß als in der Mitte, auch am Äquator bedeutender
als an den Polen. Langley hat 1874 diese ältern Beobachtungen
bestätigt gefunden. Die Flecke strahlen weniger Wärme aus
als die benachbarte Sonnenfläche (Henry 1845); doch gibt nach
Langley selbst ein Kernfleck noch mehr Wärme als ein gleich
großes, hell leuchtendes Randstück.

[Theorie der Sonne.] Nach Kirchhoffs Ansicht, die auch von
Spörer, Zöllner u. a. in der Hauptsache adoptiert worden
ist, besteht die S. aus einem in der höchsten Glühhitze
befindlichen Kern, der von einer Atmosphäre von niedrigerer
Temperatur umgeben ist. Die Sonnenflecke sind Wolken, die
Kernflecke werden durch tiefer liegende dichtere, die Höfe
durch darübergelagerte dünnere und ausgebreitetere Wolken
gebildet. Zöllner dagegen hält die Kernflecke für
Schlackenmassen, die sich auf der glühend flüssigen
Sonnenoberfläche durch Abkühlung gebildet haben und sich
auch infolge der in der Sonnenatmosphäre erzeugten
Gleichgewichtsstörungen von selbst wieder auflösen.
Diesen Anschauungen gerade entgegengesetzt, denkt sich Faye die
Sonnenmasse als einen gasförmigen, infolge seiner hohen
Temperatur in einem Zustand allgemeiner physischer und chemischer
Dissociation befindlichen Körper, an dessen durch Strahlung
etwas erkalteter Oberfläche sich chemische Verbindungen bilden
können, welche aber sofort wieder untersinken und durch neue
ersetzt werden; die Lichthülle oder Photosphäre ist daher
diese in beständiger Neubildung begriffene Oberfläche.
Wird diese Hülle an einer Stelle durch aufsteigende
Strömungen unterbrochen, oder werden Teile des Innern an die
Oberfläche gebracht, in denen der chemische (Verbrennungs-)
Prozeß nicht thätig ist, so haben wir den Anblick eines
Sonnenflecks. Während nach diesen und andern Theorien die S.
allmählich kälter wird, hat neuerdings William Siemens
("Die Erhaltung der Sonnenenergie", deutsch, Berl. 1885) eine
Theorie aufgestellt, nach welcher die von der S. ausgestrahlte
Energie derselben beständig wieder zugeführt wird. Vgl.
Faye, Sur la constitution physique du soleil (in den
"Comptes-rendus" 1865 ff.); Secchi, Die S. (deutsch von Schellen,
Braunschw. 1872); Young, Die S. (Leipz. 1883); kürzere
Darstellungen von Reis (das. 1869) und Hirsch (Basel 1874).

Sonneberg, Kreisstadt im Herzogtum Sachsen-Meiningen, 3
km lang, eng eingeklemmt zwischen Bergen an der Südseite des
Thüringer Waldes (der neue Stadtteil liegt in der Ebene), an
der Röthen, der Zweigbahn Koburg-S. (Werrabahn) und der
Sekundärbahn S.-Lauscha, hat eine schöne neue Kirche im
gotischen Stil, eine Wasserheilanstalt, blühende Industrie und
(1885) 10,247 Einw. S. ist namentlich berühmt als Mittelpunkt
der vielen umliegenden Fabrikorte, in welchen wie in der Stadt
selbst die sogen. Sonneberger Spielwaren (aus Holz und
Papiermaché), Attrappen, Masken, Glas-, Porzellan- und
Eisenwaren geliefert und von hier aus im Wert von jährlich 7,5
Mill. Mk. nach allen Weltgegenden hin versandt werden.
Außerdem liefert S. Farben, Schiefertafeln, Schieferstifte,
Schleif- und Poliersteine, Lederarbeiten etc. und hat Brauereien,
Masse-, Loh- und Schneidemühlen und Ziegelhütten. S. hat
ein Amtsgericht und eine Realschule und ist Sitz eines
Landratsamtes, eines Forstdepartements und eines Konsulats der
Vereinigten Staaten von Amerika. Vgl. Fleischmann, Gewerbe,
Industrie und Handel des meiningenschen Oberlandes (Hildburgh. 1876
ff.).

Sonnefeld, Flecken in Sachsen-Koburg, hat eine evang.
Kirche, ein Amtsgericht und 1180 Einw.; in der Umgegend
Verfertigung von Korbwaren.

Sonnemann (eigentlich Saul), Leopold, Journalist, geb.
29. Okt. 1831 zu Höchberg in Unterfranken von jüdischen
Eltern, wurde erst Kaufmann, gründete 1856 die in
Handelskreisen einflußreiche "Frankfurter Zeitung" und ist
seit 1867 alleiniger Eigentümer und Herausgeber derselben.
Auch war er Mitbegründer des volkswirtschaftlichen Kongresses
und langjähriger Referent über Bankwesen in demselben.
1871-76 und 1878-84 Mitglied des deutschen Reichstags, trat er, der
Haltung seiner Zeitung entsprechend, als Vertreter der deutschen
Volkspartei meist oppositionell auf, stimmte gegen die Annexion von
Elsaß-Lothringen, unterstützte die Beschwerden der
elsässischen Protestler und der Sozialdemokraten und
beteiligte sich positiv nur an der Beratung über das
Münz- und Bankgesetz sowie über den Zolltarif.

Sonnenbad, Bestrahlung des menschlichen Körpers
durch die Sonne zu Heilzwecken.

Sonnenbahn, s. v. w. Ekliptik (s. d.).

Sonnenbaum, s. Retinospora.

Sonnenberg, Franz Anton Joseph Ignaz Maria, Freiherr von,
Dichter, geb. 5. Sept. 1779 zu Münster, entwarf schon auf dem
Gymnasium in Münster nach Klopstocks "Messiade" den Plan zu
einem Epos: "Das Weltende" (Bd. 1, Wien 1801), das alle Fehler
einer wilden Phantasie, eines regellosen Umrisses und einer
schwülstigen Diktion vereinigt. Er studierte die Rechte, doch
nicht aus Neigung, lebte späterhin zurückgezogen in Jena
und arbeitete hier an einem zweiten Epos: "Donatoa", abermals einem
Gemälde des Weltuntergangs, welches dergestalt seine ganze
Seele erfüllte, daß er Schlaf und Speise, Umgang und
jede Lebensfreude dafür aufopferte. Er endete 22. Nov. 1805
freiwillig in Jena durch einen Sturz aus dem Fenster. Auch in
"Donatoa" (Rudolst. 1806, 2 Bde., mit Biographie von Gruber)
erscheint S. als ein Nacheiferer Klopstocks. Bei allen Fehlern in
Plan und Ausführung zeigen einzelne Stellen eine gewisse Kraft
und Hoheit und eine tiefe Innigkeit des Gemüts. Aus seinem
Nachlaß erschienen auch "Gedichte" (Rudolst. 1808).

32

Sonnenblume - Sonnenfinsternis.

Sonnenblume, s. Helianthus.

Sonnenblumenöl, fettes Öl, durch Pressen aus
den Samen von Helianthus annuus gewonnen (Ausbeute 15 Proz.), ist
hellgelb, schmeckt sehr rein, erstarrt bei -16°, trocknet,
dient als Speiseöl, zur Verfälschung des Baumöls,
zum Malen etc.

Sonnenburg, Stadt im preuß. Regierungsbezirk
Frankfurt, Kreis Oststernberg, an der Lenze und dem Warthebruch,
hat eine evang. Kirche, ein Schloß aus dem 16. Jahrh. (einst
Sitz eines Johanniter-Herrenmeisters, jetzt Sitz des neuen
preußischen Johanniterordens), ein Johanniterkrankenhaus,
eine Strafanstalt, ein Amtsgericht, Seidenweberei, Filzfabrikation,
eine Bilderrahmen-, eine Messingstift- und eine
Blechemballagenfabrik, Ziegelbrennerei, Dampfmühle und (1885)
6226 meist evang. Einwohner.

Sonnendarre, s. Samendarre.

Sonnendistel, s. Carlina.

Sonnenfackeln, s. Sonne, S. 29.

Sonnenfels, Joseph von, Schriftsteller, geb. 1732 zu
Nikolsburg in Mähren, besuchte die dortige Schule der
Piaristen und wollte Mönch werden, wählte aber den
Soldatenstand und diente fünf Jahre im Deutschmeisterregiment
zu Klagenfurt und Wien, wo er seine Entlassung nahm. Hierauf
beschäftigte er sich in Wien mit Rechtsstudien und arbeitete
als Gehilfe bei einem höhern Justizbeamten. Zugleich suchte er
die Wiener mit der neuern deutschen Litteratur, die neben und nach
den Erzeugnissen der Gottschedschen Schule frisch aufgeschossen
war, bekannt zu machen, gründete zu diesem Behuf 1761 eine
Deutsche Gesellschaft in Wien, schrieb Wochenblätter ("Der
Mann ohne Vorurteile", 1773) und eiferte in gleicher Weise gegen
die Versunkenheit der Wiener Bühne, zu deren Reform er durch
seine "Briefe über die wienerische Schaubühne" (Wien
1768, 4 Bde.; Neudruck 1884) wesentlich beitrug, wie gegen die
Tortur, welche infolge seiner Schrift "Über Abschaffung der
Tortur" (Zürich 1775) in ganz Österreich wirklich
beseitigt wurde. S. hatte inzwischen (1763) die Professur der
politischen Wissenschaften an der Wiener Universität erhalten;
später wurde er von der Kaiserin Maria Theresia zum Rat, 1779
zum Wirklichen Hofrat bei der Geheimen böhmischen und
österreichischen Hofkanzlei und zum Beisitzer der Studien- und
Zensurkommission, endlich 1810 zum Präsidenten der k. k.
Akademie der bildenden Künste ernannt. Er starb 25. April
1817. Auch auf dem Gebiet des peinlichen Rechts, der Polizei und
des Finanzwesens hat er sich durch Anregung wesentlicher
Verbesserungen großes Verdienst erworben. Diesem Zweck
dienten namentlich das "Handbuch der innern Staatsverwaltung" (Wien
1798) und besonders die "Grundsätze der Polizei, Handlung und
Finanz" (das. 1804, 3 Tle.). Auf der Elisabethbrücke zu Wien
wurde seine Statue (von Hans Gasser) errichtet. Seine "Gesammelten
Schriften" erschienen Wien 1783-87, 13 Bände. Vgl. W.
Müller, Joseph v. S. (Wien 1882); Kopetzky, Joseph und Franz
v. S. (das. 1882); v. Görner, Der Hanswurststreit in Wien und
Joseph v. S. (das. 1885); Simonson, I. v. S. und seine
"Grundsätze der Polizei" (Leipz. 1885).

Sonnenferne und Sonnennähe, s. Aphelium.

Sonnenfinsternis, Himmelserscheinung, bei welcher die
Sonne für eine gewisse Gegend der Erde ganz oder teilweise
durch den Mond verdeckt wird. Der Name S. ist insofern unrichtig,
als die Sonne nicht verfinstert, wie der Mond bei einer
Mondfinsternis, sondern lediglich durch den Mond für das Auge
des Beobachters verdeckt wird. Während daher eine
Mondfinsternis überall, wo der Mond über dem Horizont
steht, in demselben Augenblick und in gleicher Größe
gesehen wird, wird eine S. an verschiedenen Orten zu verschiedenen
Zeiten und in verschiedener Form beobachtet. Eine S. kann nur zur
Zeit des Neumondes eintreten, und es würde bei jedem Neumond
eine solche stattfinden, wenn die Bahn des Mondes mit der Erdbahn
in einer Ebene läge. Da aber beide Ebenen einen Winkel von
5° 8' einschließen, so kann eine S. nur eintreten, wenn
sich der Mond als Neumond in der Nähe eines Knotens,
höchstens 19° 44' von demselben entfernt, befindet. Die
verschiedene Größe der Finsternis hängt davon ab,
in welchem Teil des Mondschattens sich der Beobachter befindet. Ist
in Fig. 1 S der Mittelpunkt der Sonne, M derjenige des Mondes, so
ist der kegelförmige Raum ABC der Kernschatten des Mondes;
innerhalb desselben ist die Sonne vollständig durch den Mond
verdeckt, die S. ist für einen Beobachter in diesem Raum
total. Damit eine solche S. eintrete, darf der Mond nicht über
13 1/3° vom Knoten entfernt sein; auch muß der Mond sich
nahezu in seiner Erdnähe befinden, denn sonst erreicht die
Spitze des Kernschattens die Erde gar nicht. Der Kernschatten ist
rings umgeben von dem Halbschatten, dessen kegelförmige Grenze
durch die Linien AD und BE angedeutet wird. Ein Beobachter
innerhalb dieses Raums sieht nur einen Teil der Sonne und zwar
einen um so größern, je näher dem Rand er steht.
Ein Beobachter in F, Fig. 2, sieht die Sonne, wie es bei K
angegeben ist; die Finsternis ist für ihn (in diesem
Augenblick) partiell. Befindet sich ferner der Beobachter auf der
Verlängerung der Linie SM, so ist für ihn die Finsternis
zentral, der Mondmittelpunkt geht über den Sonnenmittelpunkt
weg; vgl. Fig. 3 und 4, wo G den Beobachtungspunkt, L die S.
darstellt. In Fig. 3 liegt G im Kernschatten, der Mond
erscheint

33

Sonnenfisch - Sonnenkultus.

größer als die Sonne: die S. ist total. In Fig. 4
aber liegt G jenseit der Spitze des Kernschattens, der Mond
erscheint kleiner als die Sonne, und ein leuchtender Ring der
letztern umgibt ihn: die S. ist ringförmig. Jede totale S.
beginnt und endigt mit einer partiellen. Wenn man eine Finsternis
für einen bestimmten Ort schlechthin als partiell bezeichnet,
so bedeutet dies, daß auch zur Zeit der stärksten
Verdeckung noch ein Teil der Sonne sichtbar ist. Man gibt die
Größe einer S. in der Weise an, daß man den
scheinbaren Sonnendurchmesser in zwölf gleiche Teile, Zolle
genannt, teilt und angibt, wieviel solcher Teile bei der
stärksten Verfinsterung bedeckt werden; die S. K in Fig. 2 ist
also neunzöllig. Eine totale Finsternis ist nur von kurzer
Dauer, denn durch die vereinigte Wirkung der Erdrotation und der
Bewegung des Mondes werden schnell andre als die anfänglich
getroffenen Punkte der Erde in den Kernschatten des Mondes
geführt. Für einen einzelnen Ort und zwar am Äquator
kann sie höchstens 8 Minuten währen, und für die
ganze Erde ist ihre größte mögliche Dauer 4 Stunden
38 Minuten. Die Zone, innerhalb deren eine S. total ist, kann am
Äquator nur eine Breite von etwa 30 Meilen haben (gleich dem
Durchmesser des Kernschattens an dieser Stelle); in polaren
Gegenden der Erde dagegen kann diese Breite gegen 200 Meilen
erreichen. Die Längenausdehnung der Zone der Totalität
beträgt nicht selten Tausende von Meilen. Östlich und
westlich sowie nördlich und südlich von der schmalen Zone
der Totalität liegen diejenigen Gegenden, die von dem
Halbschatten des Mondes getroffen werden, in denen also die
Finsternis nur partiell und zwar um so unbedeutender ist, je mehr
ihr Abstand von jener Zone beträgt. Mit Einschluß der
partiellen Finsternis östlich und westlich von der
Totalitätszone kann eine S. im äußersten Fall eine
Gesamtdauer von etwa 7 Stunden haben. Unmittelbar vor und nach der
totalen Finsternis erscheint die Sonne als schmale Sichel, die aber
weniger als den Halbkreis umfaßt, weil der Mond
größer erscheint als die Sonne. Die Berge und
Thäler am Rande des Mondes sind dann selbst bei
mäßiger Vergrößerung mit einer sonst nie zu
erreichenden Schärfe sichtbar. Während der totalen
Finsternis selbst entsteht eine eigentümliche Dunkelheit, der
Himmel erscheint grünlichblau, einige der hellern Sterne
werden sichtbar; die schwarze Mondscheibe aber ist mit einem
lebhaft glänzenden, in heftiger Wallung begriffenen breiten
Lichtring, der Korona, umgeben, von welchem gelbe Strahlen
ausgehen. Auch gewahrt man am Rande des Mondes die Protuberanzen
(vgl. Sonne und Tafel "Sonne"). Partielle Sonnenfinsternisse sind
in der Regel nicht von besondern Erscheinungen begleitet; nur wenn
mehr als drei Viertel der Sonnenscheibe verfinstert werden, bemerkt
man eine Abnahme der Tageshelle. Die Sonnenfinsternisse sind im
allgemeinen häufiger als die Mondfinsternisse. Innerhalb 18
Jahren (der von den Chaldäern mit dem Namen Saros belegten
Periode von 18 Jahren 11 Tagen = 223 synodischen oder 242
Drachenmonaten) ereignen sich nur etwa 29 Mondfinsternisse, dagegen
40 Sonnenfinsternisse, für einen bestimmten Ort aber nur 9,
und unter diesen ist alle 200 Jahre ungefähr eine totale oder
ringförmige. Die letztern sind ungefähr gleich selten. -
über die Vorausbestimmung der Sonnenfinsternisse durch
Rechnung oder Zeichnung vgl. Drechsler, Die Sonnen- und
Mondfinsternisse (Dresd. 1858); Oppolzer, Kanon der Finsternisse
(hrsg. von der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, Wien
1887).

Sonnenfisch (Zeus Cuv.), Gattung aus der Ordnung der
Stachelflosser und der Familie der Makrelen (Scomberoidei), Fische
mit länglich eirundem, hohem, seitlich stark
zusammengedrücktem Körper, vorstreckbarem Maul,
schwachen, nicht zahlreichen Zähnen, einfacher oder doppelter
Rückenflosse, unter oder vor den kleinen Brustflossen
stehender Bauchflosse und nackter oder mit kleinen Schuppen
bedeckter Haut. Sie bewohnen nur das Meer, besonders in niedern
Breiten. Der Heringskönig (Peters-, Christus-, Martinsfisch,
Z. faber L.), 1-1,25 m lang und 15-20 kg schwer, mit zwei
getrennten Rückenflossen, von denen die erste
verlängerte, in Fäden auslaufende Strahlen besitzt, zwei
getrennten Afterflossen, welche die Bildung der Rückenflosse
bis zu einem gewissen Grad wiederholen, großen Bauch-,
kleinen Brustflossen und gabelförmigen Stacheln auf der
Bauchschneide, ist im Norden graugelb, im Mittelmeer oft
goldfarben, mit einem runden, schwarzen Fleck auf jeder Seite,
bewohnt das Atlantische und das Mittelmeer, kommt nicht selten an
den englischen Küsten vor, bevorzugt die hohe See, lebt
einzeln, folgt aber den Zügen des Pilchards an die Küste,
nährt sich von Fischen, Sepien und Krustern und wird seines
schmackhaften Fleisches halber seit dem Altertum
geschätzt.

Sonnenflecke, s. Sonne, S. 29.

Sonnengeflecht, s. Plexus.

Sonnengläser, Scheiben aus dunkel gefärbtem
(London smoke) oder schwach versilbertem Glas, welche bei
Beobachtung der Sonne zur Dämpfung des Lichts am Okular des
Fernrohrs angebracht werden. Zur Beobachtung einer Sonnenfinsternis
ohne Fernrohr genügt ein Stück über einer Flamme
gleichmäßig angerußtes Fensterglas.

Sonnengold, Pflanze, s. Helichrysum.

Sonnengott, s. Apollon und Helios.

Sonnenherde, geheiligte Viehherde des Sonnengottes
(Helios). Es gab deren mehrere im Altertum, zu Erytheia, Apollonia
und auf Thrinakia. Am bekanntesten ist die letztere durch die
Odyssee geworden. Es waren sieben Herden Kühe und sieben
Herden Lämmer, jede zu 50 Stück, an denen der Sonnengott
seine Freude hatte; als die Gefährten des Odysseus, von Hunger
getrieben, einige derselben schlachteten, zürnte Helios
unversöhnlich und sendete Unheil. Wahrscheinlich werden durch
die 7*50 Kühe und Lämmer die Tage und Nächte des
Mondjahrs angedeutet. Auch der Stier des Minos auf Kreta
gehörte zu einer S. Der Gigant Alkyoneus hatte die Rinder des
Helios von Erytheia weggetrieben; Herakles erlegte ihn.

Sonnenjahr, die Zeit eines Umlaufs der Erde um die Sonne,
s. Jahr.

Sonnenkälbchen, s. Marienkäfer.

Sonnenkorn, s. Ricinus.

Sonnenkultus (Sonnenanbetung), die Verehrung der Sonne
als einer Licht und Wärme spendenden Gottheit, von deren
Wohlwollen alles Leben auf der Erde abhängt. Bei niedrig
stehenden Völkern äußert sich der S.
hauptsächlich nur in den Zeremonien, die bei
Sonnenfinsternissen zur Verscheuchung des Ungeheuers angewendet
werden, welches nach Ansicht derselben die Sonne zu verschlingen
droht, gewöhnlichen Gestalt eines Wolfs oder Dämons
gedacht, den man ebenso wie den Mondwolf mit Lärm, Geschrei
und Bogenschüssen zu verscheuchen sucht. Auf höherer
Stufe, die in der kulturgeschichtlichen Entwickelung in der Regel
mit der Kupfer- oder Bronzezeit zusammenfällt, fand der mit
Opfern und Zeremonien verknüpfte Kultus gewöhnlich in

Meyers Konv.- Lexikon, 4. Aufl., XV. Bd.

3

34

Sonnenlehen - Sonnenmikroskop.

Anlehnung an ein Sonnenepos statt, in welchem das Lichtprinzip
(Surya der Inder, Ormuzd der Perser, Izdubar oder Nimrod der
Assyrer, Osiris der Ägypter, Herakles der Phöniker und
ältern Griechen, Dionysos der spätern Griechen, Balder
der Germanen etc.) im Kampf mit den Mächten der Finsternis
(Ahriman, Typhon, Loki etc.) gedacht wurde, bald in Form einer
Siegesreise durch die zwölf Himmelszeichen (die zwölf
Thaten des Herakles), bald eines Einzelkampfes dargestellt, bei
welchem der Sonnengott zeitweise (im Winter) unterliegt, in Fesseln
geschlagen, gebunden und geschwächt, auch wohl
verstümmelt wird, weil seine Strahlen alsdann keine Kraft
haben, aber allmählich wieder erstarkt und über seine
Gegner siegt. Als die Hauptfeste dieses Kultus wurden die Zeit der
wieder erstarkenden Sonne, das alte Julfest, und das der
Sonnenstärke (Mittsommerfest) der germanischen Stämme
begangen. Einige Völker feierten auch Klagefeste zur Zeit der
verwundeten Sonne oder des absterbenden Naturlebens, die Adonis-,
Osiris- und Thammuzfeste der assyrischen, ägyptischen und
semitischen Völker, die Dionysien und Bacchusfeste der
Griechen und Römer, die sich in Frühlings- und
Herbstfeier schieden. Bei manchen Völkern, wie z. B. den
Persern, Altmexikanern und Peruanern, fand eine Verschmelzung des
Sonnen- und Feuerdienstes (s. d.) statt, und die Sonnenopfer
mußten an den Hauptfesten mit neuem oder Notfeuer (s. d.)
entzündet werden. In spätern Zeiten wurde der Sonnengott
dann auch wohl als Mittler- und Versöhnungsgott gefeiert,
namentlich im indischen Agni, im persischen Mithra und
griechisch-italischen Dionysos. Vielfach scheint dem ausgebildeten
S. ein Mondkultus mit nächtlichen Mysterien und weiblicher
Priesterschaft vorausgegangen zu sein, namentlich bei solchen
Völkern, wo das Mutterrecht (s. d.) galt und Frauen an der
Spitze der Gemeinwesen standen (Amazonenstaaten). Ein solcher
Kultus findet sich noch heute unter ähnlichen
Verhältnissen bei wilden Völkern Afrikas und Amerikas,
und da Ähnliches in der alten Welt stattgefunden, so
erklärt sich, weshalb die Sonnengottheiten zugleich als
Schützer des Vaterrechts und Unterdrücker der Amazonen
galten, namentlich Apollon, Herakles, Perseus und andre
Sonnenkämpfer. Vgl. Dupuis, L'origine de tous les cultes (Par.
1795, 3 Bde.; neue Ausg. 1835-37).

Sonnenlehen, ehedem Bezeichnung für Besitzungen, die
in niemandes Lehen, vielmehr im vollen Eigentum der Besitzer
standen, bei welchen aber die Sonne als Lehnsherrin fingiert
ward.

Sonnenmaschine, eine Kraftmaschine zur Umsetzung der von
der Sonne gespendeten Wärme in mechanische Arbeit. Der
Gedanke, die Sonnenwärme zur Arbeitsleistung heranzuziehen,
ist alt; doch war erst nach der Ausbildung der mechanischen
Wärmetheorie eine Beurteilung der von einer solchen Maschine
zu erwartenden Leistung möglich. Nach Versuchen von Pouillet,
Herschel und Ericsson beträgt die nutzbar zu machende
Wärmemenge der Sonne pro Quadratmeter der Erdoberfläche
zwischen dem Äquator und dem 43. Breitengrad etwa 10 Kalorien
pro Minute (1 Kalorie oder Wärmeeinheit ist die zur
Erwärmung von 1 kg Wasser um 1° C. erforderliche
Wärmemenge), also 1/6 Kalorie pro Sekunde. Da nun 1 Kalorie
einer Arbeitsmenge von 426 Meterkilogramm gleichwertig ist, so
erhält man pro Quadratmeter 1/6*426=71 Meterkilogramm pro
Sekunde oder 71/75 = 0,95 Pferdekräfte. Um die erforderlichen
Temperaturen zu erzielen, muß die Sonnenwärme mittels
großer Reflektoren konzentriert werden, wozu sich nach
Provostaye und Desains Silberspiegel am besten eignen, welche 92
Proz. der auffallenden Wärme zurückstrahlen. Ferner ist
es nötig, den mit der Sonnenwärme zu heizenden
Körpern (Dampfkesseln, Heiztöpfen) eine möglichst
gut wärmeabsorbierende Oberfläche zu geben (nach Melloni
absorbieren mit Lampenruß geschwärzte Metallflächen
unter Glasbedeckung die Wärmestrahlen am besten). Die bisher
zur Verwertung der Sonnenwärme benutzten Maschinen sind
Heißluft- oder Dampfmaschinen. Ericssons S. besteht aus einer
Heißluftmaschine (s. d.), deren Heiztopf in dem Brennpunkt
eines paraboloidisch gestalteten Brennspiegels liegt. Mouchot heizt
einen Dampfkessel mittels Sonnenstrahlen, indem er ihn in Gestalt
von kupfernen, mit Ruß überzogenen und von einer
Glasglocke überdeckten Röhren in den linearen Fokus eines
trichterförmigen, aus versilberten Blechplatten gebildeten
Reflektors stellt. Der ganze Apparat ist auf einem Gelenksystem so
angebracht, daß er mit seiner Achse leicht dem Lauf der Sonne
folgen kann. Dieser Kessel lieferte mit einem Sonnenrezeptor von
3,8 qm Bestrahlungsfläche zur Winterzeit in Algier 5100 Lit.
Dampf von normalem Druck = 3,1 kg Dampf, welcher ca. 2000 Kalorien
enthält, so daß pro Minute und pro Meter
Bestrahlungsfläche 2000/60.3,8 = 8 2/3 Kalorien oder 87 Proz.
der angegebenen 10 pro Quadratmeter Fläche disponibeln
Kalorien durch Dampfbildung nutzbar gemacht wurden, während
der Rest durch unvollständige Reflexion und Absorption
verloren ging. Eine mit dem Kessel betriebene kleine Dampfmaschine
leistete eine Arbeit von 8 Meterkilogramm pro Sekunde oder 8/75 =
ungefähr 1/9 Pferdekraft, während nach obigen Angaben in
der auf 3,8 qm Fläche fallenden Sonnenwärme 3,8.0,95 =
3,6 Pferdekräfte disponibel sind, so daß nur
8.100/75.3,6 = 3 Proz. der Sonnenwärme ausgenutzt werden.
Demnach wären für eine S. von nur 1 Pferdekraft 9.3,8 =
35 qm und für eine S. von 100 Pferdekräften 3500 qm
Bestrahlungsfläche erforderlich. Dieses ungünstige
Resultat rührt jedoch nicht von der Wärmeübertragung
her, die ja 87 Proz. der Wärme nutzbar macht, sondern ist in
der Natur der Dampfmaschine begründet, welche auch in der
besten Ausführung nur etwa 5-6 Proz. der Wärme eines
Brennmaterials in Arbeit verwandeln kann, während alle
übrige Wärme teils durch Strahlung, teils durch den
Schornstein, zum größten Teil jedoch durch den
abziehenden Dampf, bez. das Kondensationswasser verloren geht.
Solange es daher keine Maschine gibt, welche die Wärme
bedeutend besser ausnutzt als die Dampfmaschine, wird die S.
schwerlich, auch nicht in den für sie günstigsten
Tropenländern, eine nennenswerte Verwendung finden
können.

Sonnenmesser, s. v. w. Heliometer (s. d.).

Sonnenmikroskop, Vorrichtung, um vergrößerte
Bilder sehr kleiner Gegenstände auf einem Schirm, für
viele Zuschauer gleichzeitig sichtbar, zu entwerfen. Sein
wesentlichster Teil ist eine in die Röhre e (s. Figur, S. 35)
bei d eingeschraubte Konvexlinse von kurzer Brennweite, welche von
einem kleinen, gewöhnlich zwischen zwei Glasplatten
gefaßten und bei cc etwas außerhalb der Brennweite der
Linse d festgeklemmten Gegenstand auf einem Schirm ein riesiges
Bild entwirft. Da die Lichtmenge, welche von dem kleinen Gegenstand
ausgeht, sich auf die im Verhältnis enorm große
Fläche des Bildes verteilt, so begreift man, daß der
Gegenstand sehr hell erleuchtet sein muß, wenn das Bild nicht
zu lichtschwach

35

Sonnenorden - Sonnenthal.

ausfallen soll. Die starke Beleuchtung des Gegenstandes wird
bewirkt durch eine große Konvexlinse a am Ende des weiten
Rohrs, welches den Hauptkörper des Instruments ausmacht;
dieselbe sammelt unter Beihilfe der kleinern Linse b die zur
Beleuchtung bestimmten Lichtstrahlen aus dem kleinen Gegenstand.
Eine Zahnstange mit Trieb dient dazu, den Objektträger cc in
den Brennpunkt der Beleuchtungslinsen einzustellen, eine andre hat
den Zweck, durch Verschiebung der Fassung de das Bild genau auf den
Schirm zu bringen. Zur Beleuchtung wird entweder Sonnenlicht
benutzt, indem man die Vorrichtung als eigentliches "S." in die
Öffnung eines Fensterladens einsetzt und ihm durch einen
Spiegel (Heliostat, s. d.) die Sonnenstrahlen zuführt; oder
man beleuchtet das Mikroskop mit elektrischen. oder mit
Drummondschem Kalklicht (s. Knallgas), für welche Fälle
man ihm die überflüssigen Namen photoelektrisches
Mikroskop und Hydrooxygenmikroskop (Knallgasmikroskop) beigelegt
hat.

Sonnenorden, 1) Argentinischer S., Stifter und
Stiftungszeit unbekannt; das Ordenszeichen besteht in einer
goldenen Medaille, welche die Sonne, umgeben von einem
Lorbeerkranz, zeigt. - 2) Persischer Sonnen- und Löwenorden,
1808 von Schah Feth Ali gestiftet unter dem Namen
Nishan-i-Schir-u-Khorschid für Zivil- und
Militärverdienst, erhielt seine Organisation nach dem Muster
der französischen Ehrenlegion von Ferukchan und hat fünf
Klassen. Die Großkreuze tragen einen achtstrahligen
silbernen, brillantierten Stern, in der Mitte von einer dreifachen
Perlenreihe umgeben, das Bild des schwerttragenden Löwen,
stehend für Perser, liegend für Ausländer, mit der
aufgehenden Sonne; die zweite Klasse den siebenstrahligen Stern;
die dritte Klasse mit sechs Strahlen um den Hals; die vierte die
Dekoration mit fünf Strahlen und einer Rosette im Knopfloch
und die fünfte die fünfstrahlige Dekoration ohne Rosette.
Blau, Rot oder Weiß ist die Farbe des Bandes für die
Perser, Grün für die Ausländer.

Sonnenparallaxe, s. Parallaxe u. Sonne, S. 28.

Sonnenrauch, s. Herauch.

Sonnenring, s. Hof, S. 604 f.

Sonnenrisse, das Aufreißen der Rinde von
Bäumen im Frühling auf der Südseite, hervorgerufen
durch die starke Erwärmung und Austrocknung durch die Sonne,
wahrscheinlich nach vorangehenden Spätfrösten.

Sonnenröschen, s. Helianthemum.

Sonnenrose, s. Helianthus.

Sonnenscheibe, geflügelte (Tebta), ein in der
ägyptischen Architektur häufig angewandtes Symbol des
Gottes Horos von Apollinopolis magna (Edfu). Es findet sich zumeist
über den Thüren und Thoren der Tempel gleichsam als
Abwehr des Bösen ausgemeißelt. Um die Scheibe winden
sich gewöhnlich zwei Uräusschlangen, die Ober- und
Unterägypten symbolisieren (s. Abbild.). Die spätere Zeit
hat die Bedeutung, welche der geflügelten S. in den
Kämpfen des Horos gegen Seth beigelegt wurde, in einer Sage
weiter ausgebildet.

Sonnenschein, Franz Leopold, Chemiker, geb. 13. Juli 1817
zu Köln, erlernte daselbst die Pharmazie, errichtete in den
30er Jahren in Berlin ein kleines Laboratorium und bereitete in
Gemeinschaft mit einem Arzt andre Apotheker auf das Staatsexamen
vor. Gleichzeitig studierte er Chemie und habilitierte sich 1852
als Privatdozent. Er widmete sich speziell der analytischen Chemie
und entfaltete eine sehr ausgedehnte praktische Thätigkeit,
durch welche er ein Ansehen gewann wie kaum ein Chemiker vor ihm.
Viele technische Unternehmungen verdankten ihm hauptsächlich
ihren Erfolg. Die analytische und die gerichtliche Chemie
förderte er durch zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen.
Er starb 26. Febr. 1879 als Professor an der Universität in
Berlin. Von seinen Schriften sind hervorzuheben: "Anleitung zur
chemischen Analyse" (Berl. 1852, 3. Aufl. 1858); "Anleitung zur
quantitativen chemischen Analyse" (das. 1864); "Handbuch der
gerichtlichen Chemie" (2. Aufl. von Clafsen, das. 1881) und
"Handbuch der analytischen Chemie" (das. 1870-71, 2 Bde.).

Sonnenscheinautograph, s. Insolation.

Sonnenstein, s. Adular, Bernstein (S. 785), Korund und
Oligoklas.

Sonnenstein, Schloß, s. Pirna.

Sonnensteine, s. Gräber, prähistorische.

Sonnenstich (Insolation, Heliosis), im weitern Sinn alle
Krankheitserscheinungen, welche durch anstrengende Bewegungen bei
hoher Wärme auftreten (s. Hitzschlag); im engern Sinn eine
Reihe von Erregungszuständen, Delirien mit Selbstmordideen,
welche bei marschierenden Soldaten in den Tropen unter Einwirkung
direkter Sonnenstrahlung beobachtet worden sind und als Wirkung der
strahlenden Wärme auf das Gehirn aufgefaßt werden. Vgl.
Jacubasch, S. und Hitzschlag (Berl. 1879).

Sonnensystem, die Gesamtheit der Weltkörper, welche
sich um die Sonne als Zentralkörper bewegen, mit
Einschluß der Sonne selbst. Vgl. Karte "Planetensystem".

Sonnentafeln, astronom. Tafeln, welche den Himmelsort der
Sonne für den Mittag jedes Tags angeben. Große
Verdienste um Herstellung guter S. erwarb sich der italienische
Astronom Carlini, dessen Werk (Mail. 1810) von Bessel durch
Korrektionstafeln noch mannigfach verbessert worden ist (1827).
Ältere Tafeln besitzen wir von Lacaille, Mayer, Zach (1804)
und Delambre (1805); die genaueren sind gegenwärtig die von
Hansen und Olufsen (Kopenh. 1853) und Leverrier (Par. 1858).

Sonnentag, s. Sonnenzeit.

Sonnentau, Pflanzengattung , s. Drosera.

Sonnentaugewächse, s. Droseraceen.

Sonnenthal, Adolf von, Schauspieler, geb. 21. Dez. 1834
zu Pest, mußte infolge plötzlicher Verarmung seiner
Eltern das Schneiderhandwerk ergreifen, wandte sich später,
seiner Neigung folgend und von Dawison ermuntert und
einigermaßen vorbereitet, zur Bühne und debütierte
1851 zu Temesvár als Phöbus im "Glöckner von Notre
Dame". 1852 ging er nach Hermannstadt, von hier 1854 nach Graz und
im Winter 1855-56 nach Königsberg, wo er mit solchem Erfolg
auftrat, daß Laube ihm ein Engagement am Wiener Burgtheater
antrug. Hier trat er im Mai 1856

36

Sonnentierchen - Sonnenzeit.

zum erstenmal (als Mortimer) auf, wurde nach drei Jahren auf
Lebenszeit engagiert und entwickelte sich unter Laubes Leitung zu
einem der bedeutendsten Künstler der Gegenwart. 1881
gelegentlich seines 25jährigen Dienstjubiläums durch
Verleihung des Ordens der Eisernen Krone in den Adelstand erhoben,
wurde er 1884 zum Oberregisseur ernannt und fungierte seit dem
Abgang des Direktors Wilbrandt (Juni 1887) bis Ende 1888 als
artistischer Leiter der Anstalt. Sonnenthals eigentliche
Stärke liegt im Schauspiel und im Lustspiel; als Darsteller
sogen. Salonrollen nimmt er unbestritten den ersten Platz ein. Aus
seinem vielseitigen Repertoire sind Ahasver, Hamlet, Narciß,
Mortimer, Graf Waldemar, Lord Rochester ("Waise von Lowood"),
Fürst Lübbenau ("Aus der Gesellschaft"), Fox, Bolz,
Ringelstern, Posa, Raoul Gérard ("Aus der komischen Oper"),
Gesandtschaftsattaché, Marcel de Prie ("Wildfeuer"),
König ("Esther"), auch Faust, Tell u. a. hervorzuheben. S. hat
auch einige französische Bühnenstücke, z. B. den
"Marquis von Villemer", gewandt und wirksam übertragen.

Sonnentierchen, s. Rhizopoden (2).

Sonnenuhr, eine Vorrichtung, welche die Zeit angibt
mittels der Lage des Schattens, den ein von der Sonne beschienener,
zur Weltachse paralleler Stab (Gnomon oder Weiser) auf eine in der
Regel ebene Fläche, das Zifferblatt, wirft. Nicht selten
bezeichnet man auch die ganze S. mit dem Namen Gnomon (s. d.). Die
einfachste S. ist die Äquinoktialuhr. Bei ihr ist die Ebene,
auf welche der Schatten fällt, senkrecht zum Stab, also
parallel zur Ebene des Äquators, und da die Sonne bei ihrer
scheinbaren täglichen Bewegung sich parallel zu dieser Ebene
bewegt, so rückt der Schatten um ebensoviel Grade auf der
Ebene weiter als die Sonne am Himmel; es entspricht einer jeden
Stunde ein Winkel von 15°. Man erhält das Zifferblatt,
wenn man um den Punkt, in welchem der Stab besestigt ist, einen
Kreis schlägt, denselben in 24 gleiche Teile teilt und die
Radien nach den Teilungspunkten zieht; dreht man nun noch die Ebene
so, daß der eine Radius in die Ebene des Meridians zu liegen
kommt, so fällt auf ihn der Schatten des Stabes mittags, auf
die beiden benachbarten vormittags 11 und nachmittags 1 Uhr etc.
Bei der Horizontaluhr liegt das Zifferblatt horizontal; die
Stundenlinie 12 Uhr liegt auch hier in der Ebene des Meridians,
aber die Winkel, welche die übrigen Stundenlinien mit dieser
ersten einschließen, sind nicht der Zeit proportional,
sondern wenn t diesen Winkel für die Aquinoktialuhr bedeutet
(also t = 15° für 1 Uhr, 30° für 2 Uhr), so
findet man für die geographische Breite ^|phi| den
entsprechenden Winkel u der Horizontaluhr mittels der Gleichung tan
u = sin ^|phi|. tan t. Man kann diesen Winkel auch einfach
konstruieren (s. Figur). Man mache OA = 1, AM = sin ^|phi| (z. B.
für Berlin = 0,798, weil ^|phi| = 52° 30'), errichte AB
rechtwinkelig auf O M und mache Winkel AMC = t; dann ist Winkel AOC
= u. Die Vertikaluhr hat ihr Zifferblatt in einer vertikalen Ebene,
die im einfachsten Fall von O. nach W. geht; die Stundenlinie 12
Uhr liegt in der Ebene des Meridians, und den Winkel u, den irgend
eine andre Stundenlinie mit der mittägigen einschließt,
berechnet man aus dem entsprechenden Winkel t der
Äquinoktialuhr mittels der Formel tan u = cos ^|phi| . tan t.
Man kann demnach u auch auf die in der Figur erläuterte Art
konstruieren, wenn man AM = cos ^|phi| (für Berlin = 0,609)
macht. Äquinoktial- und Horizontaluhren geben alle Stunden an,
solange die Sonne scheint; bei den erstern fällt der Schatten
im Sommerhalbjahr auf die obere, im Winterhalbjahr auf die untere
Seite des Zifferblatts, weshalb auch der Stab nach beiden Seiten
hin gehen muß. Eine Vertikaluhr der beschriebenen Art gibt
aber nur die Zeit von früh 6 bis abends 6 Uhr an.
Übrigens geben die Sonnenuhren nicht die im bürgerlichen
Leben übliche mittlere Zeit, sondern die wahre Sonnenzeit (s.
d.) an. Bei den neuern hemisphärischen Sonnenuhren zeigt ein
schattenwerfendes Fadenkreuz das ganze Jahr hindurch die Sonnenzeit
auf der in einer halben Hohlkugel angebrachten Teilung an. Vgl.
Littrow, Gnomonik (2. Aufl., Wien 1838); Goring, Die S. (Arnsb.
1864); Vidal, La gnomonique (Par. 1876); Mollet, Gnomonique
graphique (7. Aufl., das. 1884).

Sonnenvogel (Pekingnachtigall, Leiothrix luteus Scop.),
Sperlingsvogel aus der Familie der Lärmdrosseln (Timaliidae
Gray), von der Größe der Kohlmeise, oberseits
olivengraubraun, am Kopf gelblich, Kinn und Kehle orange,
unterseits gelblichweiß, an den Seiten graubräunlich, an
den Flügeln schwarz mit orange und am Schwanz braun und
schwarz, mit braunen Augen, korallenrotem Schnabel und
fleischbraunen Füßen, bewohnt dichte Wälder im
Himalaja zwischen 1500 und 2500 m Höhe und in
Südwestchina, nährt sich von allerlei Kerbtieren,
Früchten und Sämereien, ist sehr munter, hat einen
ansprechenden Gesang, legt 3-4 bläulichweiße, rot
getüpfelte Eier und wird in China und Indien seit langer Zeit,
jetzt auch bei uns vielfach als Stubenvogel gehalten und
gezüchtet. S. Tafel "Stubenvögel".

Sonnenweite, die mittlere Entfernung der Erde von der
Sonne, 148,670,000 km oder 20,036,000 geogr. Meilen; sie bildet die
Einheit, nach der man häufig die Entfernungen im Sonnensystem
mißt.

Sonnenwende, Name einiger Pflanzen, s. Cichorium und
Heliotropium.

Sonnenwenden (Solstitien, Solstitial- oder
Sonnenstillstandspunkte), die zwei um 180° voneinander
entfernten Punkte der Ekliptik, welche am weitesten, nämlich
23° 27½', vom Äquator entfernt sind. Der
nördlich vom Äquator gelegene ist der Anfangspunkt des
Sternzeichens des Krebses und heißt die Sommersonnenwende
oder das Sommersolstitium, weil der Durchgang der Sonne durch
denselben den Anfang des astronomischen Sommers der nördlichen
Erdhalbkugel bezeichnet; der südliche dagegen, der
Anfangspunkt des Steinbocks, wird die Wintersonnenwende, das
Wintersolstitium, genannt, weil dort die Sonne zu Anfang des
astronomischen Winters steht. Mit dem Namen S. (Solstitien)
bezeichnet man auch die Zeitpunkte, in denen die Sonne durch diese
Punkte geht; die durch die letztern gelegten Parallelkreise des
Himmels heißen Wendekreise. Vgl. Ekliptik.

Sonnenwendfeier, s. Johannisfest.

Sonnenzeit, die durch die scheinbare tägliche
Bewegung der Sonne bestimmte Zeit im Gegensatz zur Sternzeit, deren
Grundlage der Sterntag (s. Tag) bildet. Der wahre Sonnentag oder
die Zeit zwi-

37

Sonnenzirkel - Sonntag.

schen zwei aufeinander folgenden Kulminationen der Sonne
muß etwas länger sein als der Sterntag, weil die Sonne
unter den Fixsternen von W. nach O. geht; denn kulminiert heute die
Sonne gleichzeitig mit einem Fixstern, so wird sie morgen, wenn der
letztere wieder kulminiert, noch etwas östlich vom Meridian
stehen und diesen erst später erreichen. Die Bewegung der
Sonne in ihrem Parallelkreis bildet die Grundlage für die
Bestimmung der wahren S. Es ist wahrer Mittag, wenn die Sonne im
Meridian steht; nachmittags 1 Uhr, 2 Uhr etc., wenn die Sonne in
ihrem Parallelkreis 15°, 30° etc. westlich vom Meridian
steht. Diese wahre S. wird von den Sonnenuhren angegeben. Die Dauer
eines wahren Sonnentags ist aber im Lauf eines Jahrs
veränderlich, weil die Sonne nicht alle Tage um dasselbe
Stück am Himmel nach O. rückt; am größten, 24
Stunden 0 Minuten 30 Sekunden, ist sie 23. Dez., am kleinsten, 23
Stund. 59 Min. 39 Sek., Mitte September. Diese
Ungleichförmigkeit hat zwei Ursachen. Einmal bewegt sich die
Erde in ihrer elliptischen Bahn mit veränderlicher
Geschwindigkeit, in der Sonnennähe rascher als in der
Sonnenferne; dem entsprechend ist auch die scheinbare Bewegung der
Sonne in der Ekliptik ungleichförmig. Ferner sind aber auch
die verschiedenen Stücke der scheinbaren Sonnenbahn (Ekliptik)
ungleich geneigt gegen den Äquator. In der Nähe der
Solstitialpunkte liegt sie parallel zum Äquator, in den
Äquinoktien schneidet sie denselben unter 23½°; an
den letztern Punkten wird daher das Vorrücken nach O. (die
Vergrößerung der Rektaszension) nur einen Bruchteil der
scheinbaren Belegung in der Ekliptik betragen, während in den
Solstitien beide Bewegungen gleich sind. So wie die Sonnentage,
sind auch die einzelnen Stunden von ungleicher Länge. Deshalb
eignet sich die wahre S. nicht für die Zwecke des
bürgerlichen Lebens; man kann auch keine mechanischen Uhren
herstellen, welche dieselbe angeben. Andernteils würde es
unzweckmäßig sein, im bürgerlichen Leben nach
Sternzeit zu rechnen, da der Anfang des Sterntags bald auf den Tag,
bald auf die Nacht fällt. Deshalb rechnet man nach mittlerer
Zeit. Die Sonne braucht, um in der Ekliptik vom Frühlingspunkt
bis wieder zu demselben Punkt zu gelangen (tropisches Jahr)
366,2422 Sterntage; sie selbst geht in dieser Zeit einmal weniger
durch den Meridian als ein beliebiger Fixstern, und man teilt daher
diesen Zeitraum in 365,2422 gleich lange Abschnitte, die man
mittlere Tage nennt, und deren jeder wieder in 24 gleich lange
Standen zu 60 Minuten zu 60 Sekunden zerfällt. Da 365,2422
mittlere Tage = 366,2422 Sterntagen sind, so ist 1 mittlerer Tag =
1 Tag 3 Min. 56,55 Sek. Sternzeit und 1 Sterntag = 1 Tag weniger 3
Min. 55,91 Sek. mittlerer Zeit. Viermal im Jahr, nämlich 15.
April, 14. Juni, 31. Aug. und 24. Dez., fällt die wahre S. mit
der mittlern Zeit zusammen; in den Zwischenzeiten ist abwechselnd
die eine oder die andre voraus. Den Unterschied beider nennt man
die Zeitgleichung. Man gibt dieselbe in mittlerer Zeit an und zwar
positiv, wenn man sie zur wahren Zeit addieren muß, um die
mittlere zu finden, negativ, wenn sie zu subtrahieren ist. Gibt
also eine Sonnenuhr nachmittags 4 Uhr 30 Min. an, und ist die
Zeitgleichung +12 Min., so ist es nach mittlerer Zeit um 4 Uhr 42
Min.; wäre aber die Zeitgleichung -12 Min., so hätte man
erst 4 Uhr 18 Min. mittlere Zeit. Die astronomischen
Jahrbücher geben die Zeitgleichung für den wahren Mittag
eines bestimmten Meridians (das Berliner "Astronomische Jahrbuch"
für den Meridian von Berlin) von Tag zu Tag an. Statt dessen
findet man in den meisten Kalendern die mittlere Zeit im wahren
Mittag verzeichnet, die man durch Addition (bez. Subtraktion) der
Zeitgleichung zu 12 Uhr erhält; statt Zeitgleichung +12 Min.
30 Sek. findet man also mittlere Zeit im wahren Mittag 12 Uhr 12
Min. 30 Sek. Weitere Zahlenangaben erscheinen hier unnötig;
nur die größten Werte, welche die Zeitgleichung im Lauf
des Jahrs erreicht, mögen noch erwähnt werden,
nämlich:

+ 14 Min. 34 Sek. - 3 Min. 53 Sek.

am 12. Febr., 14. Mai,

+ 6 Min. 12 Sek. - 16 Min. 18 Sek.

am 26. Juni, 18. Nov.

Mit der Zeitgleichung im Zusammenhang steht noch der Umstand,
daß die Zeiten des Auf- und Unterganges der Sonne, die in
unsern Kalendern verzeichnet sind, nicht gleich weit von mittags 12
Uhr abstehen. So findet man z. B. für Leipzig 1. Juli den
Sonnenaufgang um 3 Uhr 50 Min. früh und den Untergang 8 Uhr 17
Min. abends angegeben; das Mittel aus beiden Zeiten ist 12 Uhr
3½ Min. mittags. Dies ist aber annähernd die Zeit des
wahren Mittags (12 Uhr 3 Min. 33 Sek.). Ganz genau gleich weit vom
wahren Mittag entfernt sind übrigens die Momente des Auf- und
Unterganges nicht wegen der ungleichen Bewegung der Sonne in der
Ekliptik. Vgl. Förster, Ortszeit und Weltzeit (Berl.
1884).

Sonnenzirkel, s. Kalender, S. 383.

Sonnewalde, Stadt im preuß. Regierungsbezirk
Frankfurt, Kreis Luckau, hat eine Dampfbrauerei und (1885) 1152
Einw. Dabei das Schloß S. des Grafen von Solms.

Sonnino, Dorf in der ital. Provinz Rom, Kreis Frosinone,
in den Volsker Bergen gelegen, mit (1881) 3200 Einw., Geburtsort
des Kardinals Antonelli, war früher ein berüchtigtes
Räubernest und wurde deshalb 1819 teilweise zerstört.

Sonntag (Dies Solis), der Tag der Sonne (althochd.
Sunnentac, altnord. Sunnudaga, engl. Sunday, niederländ.
Sondag, schwed. Sondag, dän. Sondag), im Brauch der Kirche der
erste Tag der Woche und als Tag des Herrn (dies dominicus oder
dominica, woraus das franz. dimanche, das ital. domenica, das span.
und portug. domingo gebildet worden ist) zugleich der
wöchentliche Ruhe- und Feiertag der Christen. Wiewohl sich im
Neuen Testament kein bestimmtes Gebot für denselben findet
(doch vgl. 1. Kor. 16, 2; Offenb. 1, 10; Apostelgesch. 20, 7), ward
er schon im nachapostolischen Zeitalter als Auferstehungstag
Christi neben dem jüdischen Sabbat gefeiert, und zwar als
Freudentag. Mit dem Aufgeben der Heilighaltung des Sabbats trug man
viele der auf diesen bezüglichen Anschauungen auf den S.
über; doch datieren förmliche Verbote irdischer, nicht
ganz dringender Geschäfte an Sonntagen von seiten der
weltlichen Obrigkeit erst aus der Zeit Konstantins d. Gr., und
Kaiser Leo III. (717-741) untersagte endlich jegliche Arbeit an
diesem Tag. Die Reformatoren wollten den S., ohne Berufung auf ein
göttliches Gebot, bloß der Zweckmäßigkeit
wegen beobachtet wissen. Dagegen hat schon Beza die Ansicht
vertreten, daß der S. eine göttliche Einsetzung und an
die Stelle des jüdischen Sabbats getreten sei, und so hat sich
auf reformiertem Gebiet, besonders in England, Schottland und
Nordamerika, die strengste Form der Sonntagsfeier bis auf den
heutigen Tag erhalten, selbst wenn die bezüglichen Gesetze
nicht mehr aufrecht erhalten werden. In

38

Sonntagsbuchstabe - Sonometer.

Frankreich dagegen ist seit der großen Revolution der
Unterschied zwischen Sonn- und Wochentagen thatsächlich
aufgehoben worden. Auch in Italien sind alle auf Nichtbeobachtung
der Feiertage gesetzten Strafen gesetzlich beseitigt. Die neuere
Gesetzgebung in Deutschland, namentlich in Preußen, ist von
dem durch die Humanität gebotenen Gesichtspunkt ausgegangen,
daß der Staat alle offiziellen Amtshandlungen am S. zu
untersagen, bei seinen eignen Unternehmungen die Sonntagsarbeit zu
vermeiden und die Tagelöhner, Dienstboten und Fabrikarbeiter
gegen die Forderungen ihrer Herren vor Sonntagsarbeit zu
schützen hat. Die deutsche Gewerbeordnung (§ 136)
verbietet die Beschäftigung von jugendlichen Arbeitern an
Sonn- und Festtagen; auch können die Gewerbtreibenden die
Arbeiter an Sonn- und Festtagen zum Arbeiten nicht verpflichten
(§ 105). Auch die evangelische Kirche hat neuerdings ihre
Aufmerksamkeit wieder auf diesen Punkt gelenkt und ist dabei
vornehmlich dem Mißbrauch des Sonntags zu Vergnügungen
und Ausschweifungen entgegengetreten. Ein "internationaler
Kongreß für Sonntagsruhe" tagte 1877 in Genf, 1879 in
Bern. Die jetzt noch gewöhnlichen Namen der Sonntage kommen
teils von den Festen her, denen sie folgen, teils von den
Anfangsworten der alten lateinischen Kirchengesänge oder
Kollekten, welche meistens aus den Psalmen entlehnt waren. Unsre
Kalendersonntage sind: 1) ein S. nach Neujahr, der jedoch nur in
solchen Jahren eintritt, in welchen Neujahr auf einen der vier
letzten Wochentage fällt; 2) zwei bis sechs Sonntage nach
Epiphania (s. d.); 3) die Sonntage Septuagesimä,
Sexagesimä und Estomihi (Ps. 71, 3); 4) die Fastensonntage
Invokovit (Ps. 91, 15), Reminiscere (Ps. 25, 6), Okuli (Ps. 25,
15), Lätare (Jes. 66, 10), Judika (Ps. 43, 1) und der
Palmsonntag (s. d.); 5) sechs Sonntage nach Ostern: Quasimodogeniti
(1. Petr. 2, 2), Misericordias Domini (Ps. 23, 6, oder 89, 2),
Jubilate (Ps. 66, 1), Kantate (Ps. 96, 1), Rogate (Matth. 7, 7) und
Exaudi (Ps. 27, 7); 6) die Trinitatissonntage, deren Anzahl von dem
frühern oder spätern Eintritt des Osterfestes
abhängt und höchstens 27 beträgt; 7) die vier
Adventsonntage (s. Advent); 8) ein S. nach Weihnachten, welcher nur
dann eintritt, wenn das Weihnachtsfest nicht auf den Sonnabend oder
S. fällt. Vgl. Litteratur bei Kirchenjahr; ferner: Henke,
Beiträge zur Geschichte der Lehre von der Sonntagsfeier
(Stendal 1873); Zahn, Geschichte des Sonntags, vornehmlich in der
alten Kirche (Hannov. 1878); Rauschenbusch, Der Ursprung des
Sonntags (Hamb. 1887); Grimelund, Geschichte des Sonntags
(Gütersl. 1889); Lammers, Sonntagsfeier in Deutschland (Berl.
1882); "Gesetze und Verordnungen, betreffend die Ruhe an Sonn- und
Feiertagen" (das. 1886); über die Sonntagsfeier vom Standpunkt
der Gesundheitslehre die Schriften von Schauenburg (das. 1876) und
Niemeyer (das. 1877).

Sonntagsbuchstabe, s. Kalender, S. 383.

Sonntagsschulen, dem Wortlaut nach jede Schule, in
welcher am Sonntag unterrichtet wird, was vielfach in den
Fortbildungsschulen (s. d.) der Fall ist. Vorzugsweise bezeichnet
man aber mit dem Namen S. solche Anstalten, in welchen die Jugend
des niedern Volkes durch freiwillige Lehrer und Lehrerinnen der
gebildeten Stände im religiösen Interesse unterrichtet
wird. Solche Schulen gründete schon der Erzbischof Karl
Borromeo von Mailand (gest. 1584), und andre hervorragende
Männer der katholischen Kirche, namentlich J. B. de La Salle,
Stifter der christlichen Schulbrüder, folgten ihm darin. Doch
blieben diese Bestrebungen vereinzelt. Dagegen erwachte im letzten
Viertel des vorigen Jahrhunderts in England und Schottland ein
begeisterter Eifer für die Gründung von S., welcher sich
in alle Länder der angelsächsischen Zunge, besonders nach
Nordamerika, verbreitet hat. Nach einigen sollen die ersten
englischen S. von den Töchtern des Geistlichen More zu Hanham
bei Bristol, namentlich von der auch als Schriftstellerin bekannten
Hannah More, gegen 1780 eingerichtet worden sein. Gewöhnlich
wird Robert Raikes, ein reicher Buchdrucker in Gleucester (geb.
1735, gest. 1811), als erster Gründer der S. genannt. Er
gründete 1781 (1784) eine Sunday School in seiner Vaterstadt
und gab die Anregung zu der von William Fox gestifteten London
Sunday School Society (1785), welche in kurzer Zeit
außerordentliche Erfolge aufzuweisen hatte. In Deutschland
entstand 1791 eine Sonntagsschule in München; 1799
gründete Professor Müchler in Berlin eine solche für
Knaben, 1800 der jüdische Menschenfreund Samuel Levi eine
solche für Mädchen. Der Eifer für die S. nahm in
evangelisch-kirchlichen Kreisen seit 1864 noch einmal lebhaften
Aufschwung durch die Bemühungen des Amerikaners Albert
Woodruff aus Brooklyn sowie seiner deutsch-amerikanischen Freunde
Bröckelmann aus Heidelberg und Professor Schaff aus New York,
nachdem schon 1857 die Versammlung der Evangelischen Allianz in
Berlin auf diese bezeichnende Form englischer Kirchlichkeit von
neuem die Aufmerksamkeit gerichtet hatte. Da in Deutschland die
Ergänzung des öffentlichen Schulunterrichts durch private
Wohlthätigkeit im allgemeinen nicht Bedürfnis ist, haben
die S. hier mehr Wesen und Namen der Jugendgottesdienste
angenommen. An S. aller Art waren 1888 in Deutschland nach
glaubhafter Angabe 30,000 Lehrer und Lehrerinnen unter etwa 230.000
Kindern thätig.

Sonometer (Audiometer), ein von Hughes angegebener
Apparat zur Bestimmung der Empfindlichkeit des menschlichen Ohrs,
besteht aus einem Mikrophon (ein vertikal stehendes
Kohlenstäbchen, das mit seinen zugespitzten Enden zwei mit
Klemmschrauben versehene Kohlenstückchen berührt),
welches auf dem Sockel einer Pendeluhr steht und in den
Schließungsbogen einer Batterie aus drei Daniellschen
Elementen eingeschaltet ist; der galvanische Strom
durchfließt ferner zwei etwa 30 cm voneinander entfernte,
miteinander parallele Drahtrollen, deren eine mit einem Draht von
100 m, die andre mit einem Draht von 9 m Länge umwickelt ist.
Zwischen diesen beiden Rollen, auf einem Stab verschiebbar,
befindet sich eine dritte, auf welcher gleichfalls ein Draht von
100 m Länge aufgewunden ist, dessen Enden mit einem Telephon
verbunden sind. Die Drähte der beiden ersten Rollen sind so
gewickelt, daß sie in der mittlern Ströme von
entgegengesetzter Richtung induzieren. Verschiebt man die mittlere
Rolle so lange, bis die in ihr induzierten entgegengesetzten
Ströme gleiche Stärke besitzen, so heben sie sich auf,
und in dem Telephon wird das Ticken der Uhr nicht gehört.
Diese Stellung wird als Nullpunkt bezeichnet und der Abstand
zwischen demselben und der ersten Rolle auf dem Stab in 200 gleiche
Teile (Grade) eingeteilt. Verschiebt man nun die mittlere Rolle
gegen die erste hin, so hört man das Ticken der Uhr im
Telephon zuerst schwach und bei weiterer Verschiebung immer
stärker. Versuche an verschiedenen Personen lehrten, daß
beim ersten Grade das Ticken nur von einem äußerst
empfindlichen Gehörorgan wahrgenommen

39

Sonor - Sontag.

werden kann; die mittlere Empfindlichkeit des menschlichen Ohrs
entspricht den Graden 4-10; Personen, welche bei der Rollenstellung
200 den Schlag der Uhr nicht hören, müssen als absolut
taub angesehen werden.

Sonor (lat.), helltönend, wohlklingend.

Sonora, der nordwestlichste Staat der Republik Mexiko, am
Kalifornischen Meerbusen, umfaßt 197,973 qkm (3595,4 QM.).
Die Küstengegend ist meist flach und im NW. so sandig,
daß selbst die Viehzucht unmöglich wird; das Innere aber
besteht aus Gebirgsland, dicht bewaldet, von fruchtbaren
Thälern durchzogen und reich an Mineralschätzen. Die
wichtigsten Flüsse sind der Yaqui, der Mayo und der S., von
denen die beiden erstern das ganze Jahr durch Wasser haben, der
Sonora aber sich in den sandigen Ebenen von Siete Cerritos
verliert. Das Klima ist auch an der Küste gesund; nur in der
Nähe von den Sümpfen von Santa Cruz kommen Wechselfieber
vor. Von Juni bis zum August bläst gelegentlich der Viento
caliente. Im Innern trifft man alle Extreme der Temperatur, und in
den höher gelegenen Gegenden friert es vom November bis zum
März. Die Bevölkerung betrug 1882: 115,424 Seelen, zum
großen Teil Indianer, den Stämmen der Yaqui, Mayo, Seri,
Papayo, Opata und Apatschen angehörig. Ackerbau ist fast
überall nur bei künstlicher Berieselung möglich,
ergibt dann aber reichen Ertrag an Mais, Weizen, Zuckerrohr,
Bohnen, Baumwolle, Kaffee, Tabak, Indigo etc. Wein und alle Arten
von Obst gedeihen vortrefflich. Auch die Viehzucht ist von
Bedeutung. Die Austern- und Perlenfischerei wird mit Erfolg
getrieben. Der Bergbau beschäftigte 1878: 5600 Menschen und
ergab einen Ertrag von 1,640,272 Pesos, vornehmlich Gold und
Silber. Außerdem findet man aber auch Kupfer, Eisen (im N.),
Graphit (bei San José de la Pimas) und Steinkohlen (Santa
Clara). Die Industrie beschränkt sich auf Baumwollfabrikation
(4 Fabriken), Hut- und Schuhmacherei, Seifensiederei etc.
Hauptartikel der Ausfuhr sind Edelmetalle, Erze, Häute und
Hüte. Hauptstadt ist Hermosillo, wichtigster Hafen Guaymas. S.
Karte "Mexiko". - Die sonorischen Sprachen bilden nach den
Untersuchungen Professor Buschmanns einen weitverzweigten
Sprachstamm, der nicht allein in S., sondern im ganzen
nördlichen Mexiko sowie im südlichen Arizona und
Kalifornien herrscht; auch die Sprache der Schoschonen oder
Schlangenindianer im Felsengebirge, der Juta in Utah u. a.
gehören zu demselben. Vgl. Buschmann, Die Spuren der
aztekischen Sprache im nördlichen Mexiko; Derselbe, Die
Zahlwörter in den sonorischen Sprachen (in den "Abhandlungen
der Akademie der Wissenschaften", Berl. 1859 u. 1867).

Sonrhai (Songhay), Negerstamm im westlichen Sudân,
zu beiden Seiten des mittlern Niger, bildete ehemals ein
großes Reich, welches 1009 den Islam annahm, unter dem Sultan
Askia, einem der größten afrikanischen Eroberer,
mächtig erweitert, zu Ende des 15. Jahrh. das ganze innere
Nordafrika bis östlich zum Tschadsee umfaßte, Garo zur
Hauptstadt hatte und 1592 durch die Marokkaner zerstört wurde.
Zu ihm gehörte auch Timbuktu. Nach Barth besitzen die S.
feinere, edlere Züge von kleinern Umrissen, die Gestalten sind
schlank, die Beine wadenlos. Die Sprache der S. ist neuerdings von
Barth und Lepsius, ausführlicher von Fr. Müller
("Grundriß der Sprachwissenschaft", I, 2, Wien 1877)
dargestellt, der sie für völlig isoliert hält.

Sonsonate, Stadt im zentralamerikan. Staat Salvador, am
Rio Grande, in reizender, aber von Erdbeben oft heimgesuchter
Gegend, hat lebhaften Handel und (1878) 5127 Einw. Eisenbahnen
verbinden die Stadt mit den Häfen Acajutla und Libertad. S.
wurde 1524 von Pedro de Alvarado gegründet.

Sontag, 1) Henriette, Gräfin Rossi,
Opernsängerin, geb. 3. Jan. 1806 zu Koblenz, wo ihre Eltern
als Schauspieler wirkten, erhielt ihre musikalische Ausbildung im
Konservatorium zu Prag, debütierte daselbst in ihrem 15. Jahr
als Prinzessin in "Johann von Paris" mit großem Erfolg, ging
darauf mit ihrer Mutter nach Wien, wo sie an der Deutschen und
Italienischen Oper mitwirkte, ward 1824 am neuen
Königstädter Theater in Berlin engagiert und bald darauf
zur Hof- und Kammersängerin ernannt. Zwei Jahre später
trat sie ihre erste Reise nach Paris an, wo sie einen
unbeschreiblichen Enthusiasmus erregte und 1827 für zwei Jahre
Engagement annahm. Nachdem sie sich 1828 insgeheim mit dem Grafen
Carlo Rossi, damals Geschäftsträger des sardinischen Hofs
im Haag, verheiratet hatte, trat sie nur noch als
Konzertsängerin auf, besuchte als solche Petersburg und Moskau
und kehrte dann über Hamburg nach den Niederlanden
zurück, wo bald darauf die öffentliche Bekanntmachung
ihrer Heirat erfolgte. Bedeutende Vermögensverluste
veranlaßten sie, 1849 zur Bühne zurückzukehren, und
der Zauber ihrer Persönlichkeit, die ungeschmälerte
Frische und Lieblichkeit ihrer Stimme verschafften ihr überall
den frühern Beifall. 1853 unternahm sie eine Kunstreise nach
Amerika und feierte auch hier die glänzendsten Triumphe, starb
aber 17. Juni 1854 in Mexiko an der Cholera. Ihr Leichnam ward im
Kloster Marienthal bei Ostritz in der sächsischen Lausitz
beigesetzt. In ihrer Blütezeit besaß Frau S. neben der
äußersten Reinheit, Klarheit und Biegsamkeit der Stimme
eine unübertreffliche Leichtigkeit, Sauberkeit und Anmut des
Vortrags. Sie erschütterte nicht durch imponierende
Stimmfülle, bezauberte aber durch die Grazie ihres Gesanges,
besonders in Koloraturen, welche sie größtenteils mit
halber Stimme, aber mit der vollkommensten Deutlichkeit vortrug.
Namentlich im Sentimentalen und Scherzhaften war sie
unvergleichlich. Gundling hat ihr Jugendleben zu dem Kunstroman
"Henriette S." (Leipz. 1861, 2 Bde.) benutzt. In der
Selbstbiographie ihres Bruders sind zahlreiche sie betreffende
biographische Einzelheiten enthalten.

2) Karl, Schauspieler, Bruder der vorigen, geb. 7. Jan. 1828 zu
Dresden, begann seine Bühnenlaufbahn 1848 am dortigen
Hoftheater, war 1851-52 am Hofburgtheater in Wien thätig und
folgte dann einem Ruf nach Schwerin, wo er sieben Jahre lang die
ersten Helden- und Bonvivantrollen spielte. Im J. 1859 wurde er in
Dresden, 1862 in Hannover angestellt, wo er sich
ausschließlich dem Lustspiel widmete; seit 1877 gibt er nur
Gastrollen, die ihn wiederholt auch nach Nordamerika führten.
1885 siedelte er nach Dresden über. S. versteht seinen
Lebemännern und sogen. Chargen so drollige Züge zu
verleihen, daß sie eine unwiderstehliche Wirkung
ausüben. Zu seinen bedeutendsten Rollen gehören Doktor
Wespe, Orgon ("Tartüffe"), Petrucchio, Bolingbroke,
Königsleutnant, auch Nathan, Karlos u. a. S. hat sich auch als
Schriftsteller versucht; er veröffentlichte das
Theaterstück "Frauenemanzipation" (Hannov. 1875), das die
Runde über alle Bühnen machte, und ein sehr
rückhaltlos urteilendes autobiographisches Werk unter dem
Titel: "Vom Nachtwächter zum türkischen Kaiser" (3.
Aufl., Hannov. 1876), das Veranlassung zu seiner Entlassung aus dem
Verband des hannoverschen Hoftheaters (1877) wurde.

40

Sonthofen - Sophie.

Sonthofen, Flecken und Bezirksamtshauptort im bayr.
Regierungsbezirk Schwaben, an der Iller und der Linie
Immenstadt-Oberstorf der Bayrischen Staatsbahn, 742 m ü. M.,
hat eine kath. Kirche, ein Schloß, ein Amtsgericht, ein
Hüttenwerk, Baumwollweberei, sehr besuchte Viehmärkte und
(1885) 1819 Einw. Nordöstlich erhebt sich der Grünten (s.
d.).

Sontra, Stadt im preuß. Regierungsbezirk Kassel,
Kreis Rotenburg, am Flüßchen S. und an der Linie
Frankfurt-Bebra-Göttingen der Preußischen Staatsbahn,
242 m ü.M., hat eine evang. Kirche, ein Schloß, ein
Amtsgericht, Branntweinbrennerei, Preßhefenfabrikation,
Schlauchweberei, Molkerei, Schwerspatmüllerei und (1885) 1945
Einw. Vgl. Collmann, Geschichte der Bergstadt S. (Kassel 1863).

Sontschi, chines. Stadt, s. Kutschun.

Sonus (lat.), Schall, Klang.

Soodbrot, s. Ceratonia.

Soole, s. Sole.

Soonwald, s. Hunsrück.

Soor, s. Schwämmchen.

Soor (Sohr, Sorr), Dorf südwestlich von Trautenau im
nordöstlichen Böhmen, ist durch zwei preußische
Siege berühmt geworden. Friedrich d. Gr. schlug hier 30. Sept.
1745 mit 19,000 Mann die Österreicher und Sachsen, welche,
32,000 Mann stark, vom Prinzen Karl von Lothringen befehligt
wurden; einem beabsichtigten Überfall der letztern auf das
preußische Lager von den Höhen von Burkersdorf aus kam
Friedrich durch einen Angriff auf diese zuvor, erstürmte sie
und sicherte sich dadurch den Rückzug durch das Gebirge nach
Schlesien. Bei dem zweiten Gefecht von Trautenau (s. d.), 28. Juni
1866 gegen Gablenz, ward das Dorf von der 1. preußischen
Gardedivision unter General Hiller v. Gärtringeu
erstürmt. Vgl. Kühne, Das Gefecht bei S. ("Kritische
Wanderungen" Heft 4 u. 5, 2. Aufl., Berl. 1887).

Soorpilz, s. Oidium.

Soovar, Ort, s. Sovar.

Sopha, s. v. w. Sofa.

Sopher (hebr., "Schreiber"), in älterer Zeit
Schriftgelehrter, heutzutage der Gesetzrollen-, Tefillin- und
Mesusotschreiber in größern jüdischen
Gemeinden.

Sophia (griech.), Weisheit.

Sophie (Sophia), weiblicher Name. Unter den
fürstlichen Trägern desselben sind hervorzuheben:

[Hannover.] 1) Kurfürstin von Hannover, geb. 14. Okt. 1630
im Haag als zwölftes Kind des flüchtigen
"Winterkönigs", Friedrichs V. von der Pfalz, und der Elisabeth
Stuart, fühlte sich im Haus ihrer kaltherzigen Mutter
höchst unglücklich, begab sich daher zu ihrem Bruder Karl
Ludwig, nachdem derselbe 1648 die Kurpfalz zurückerhalten
hatte, nach Heidelberg und vermählte sich 1658 mit dem Herzog
Ernst August von Hannover, der 1692 Kurfürst ward.
Hochmütigund hartherzig, verfolgte sie ihre Schwiegertochter
Sophie Dorothea von Celle (s. S. 2) mit unversöhnlichem
Haß und führte deren gerichtliche Scheidung herbei. Seit
23. Okt. 1698 Witwe, ward sie als Enkelin König Jakobs I. 22.
März 1701 zur Erbin von England erklärt, und nach ihrem
Tod (8. Juni 1714) bestieg ihr ältester Sohn, Georg Ludwig,
31. Okt. 1714 den Thron von Großbritannien. Mit ihren
pfälzischen Verwandten führte sie einen sehr lebhaften
Briefwechsel, so mit ihrem Bruder, dem Kurfürsten Karl Ludwig
(hrsg. von Bodemann in den "Publikationen aus den preußischen
Staatsarchiven", Bd. 26, Leipz. 1885), und ihrer Nichte Elisabeth
Charlotte von Orléans (hrsg. von Bodemann, das., Bd. 37,
1888; s. Elisabeth 3). Ihre Memoiren gab Köcher heraus (das.,
Bd. 4, 1879).

2) S. Dorothea, bekannt als Prinzessin von Ahlden, geboren im
Herbst 1666, war die einzige Tochter und Allodialerbin des Herzogs
Georg Wilhelm von Braunschweig-Lüneburg-Celle und der Eleonore
d'Olbreuse (s. d.) und wurde 1682 mit dem Erbprinzen Georg Ludwig
von Hannover (später als Georg I. König von England)
vermählt. Vortrefflich gebildet und sehr schön, vermochte
sie doch nicht, ihren Gemahl, der den Haß seiner Mutter, der
Herzogin Sophie, gegen S., die Tochter der d'Olbreuse, geerbt
hatte, zu fesseln. Nachdem sie ihm einen Sohn, den nachmaligen
König Georg II., und eine Tochter, Sophie Dorothea (die
spätere Gemahlin König Friedrich Wilhelms I. von
Preußen, s. unten 5), geboren, sah sie sich nicht nur von ihm
oft rauh behandelt, sondern auch von der Mätresse ihres
Schwiegervaters Ernst August, der Gräfin von Platen, im
geheimen verfolgt. Denn da der Zweck der Heirat, die Vereinigung
Celles mit Hannover, nun gesichert war, legten der Kurfürst
Ernst August und seine Gemahlin Sophie ihrem Haß gegen ihre
Schwiegertochter keine Zügel mehr an. Unvorsichtige
Bevorzugung des Grafen Philipp Christoph von Königsmark (s. d.
2), der am Hof ihres Vaters als Page aufgewachsen war, gab dem
hannöverschen Hof den Vorwand, S. eines anstößigen
Verhältnisses mit Königsmark zu beschuldigen. Als S. den
Vater nicht für eine Lösung ihrer Ehe gewinnen konnte,
verabredete sie für den 2. Juli 1694 mit Königsmark die
Flucht nach Wolfenbüttel zu ihrem Verwandten, dem Herzog Anton
Ulrich. Am Abend des 1. Juli wurde Königsmark, als er aus den
Zimmern der Prinzessin kam, von dazu bestellten Leuten ermordet und
sein Leichnam im Schloß verborgen, die Prinzessin aber
hieraus verhaftet. Da sie jeden Versuch, eine Aussöhnung mit
ihrem Gemahl herbeizuführen, von sich wies, wurde die Ehe 28.
Dez. 1694 gelöst und die Prinzessin auf das Schloß
Ahlden verbannt, wo sie, allerdings unter Beobachtung der ihr
gebührenden Rücksichten, bis zu ihrem 13. Nov. 1726
erfolgenden Tod gefangen gehalten wurde. Daß sie ihrem Gatten
die Treue gebrochen, ist durchaus nicht erwiesen worden und ihr
Briefwechsel mit Königsmark, den Palmblad herausgab,
gefälscht. Vgl. Schaumann, S. Dorothea, Prinzessin von Ahlden,
und Kurfürstin Sophie von Hannover (Hannov. 1879).

[Österreich.] 3) Erzherzogin von Österreich, geb. 27.
Jan. 1805, Tochter des Königs Maximilian I. Joseph von Bayern
und Zwillingsschwester der Königin Maria von Sachsen,
vermählte sich 1824 mit dem Erzherzog Franz Karl von
Österreich und starb 28. Mai 1872. S. war die Mutter des
jetzigen Kaisers von Österreich, Franz Joseph, und
einflußreiche Gönner in der ultramontanen
Bestrebungen.

[Preußen.] 4) S. Charlotte, Königin von
Preußen, "die philosophische Königin", geb. 20. Okt.
1668 auf Schloß Iburg bei Osnabrück, Tochter des
Herzogs, spätern Kurfürsten Ernst August von Hannover und
der Sophie 1), lebte längere Zeit in Paris bei ihrer Tante,
der berühmten Pfalzgräfin Elisabeth Charlotte, wo sie
feine Sitte und Geschmack für Kunst sich aneignete,
während sie im Umgang mit Leibniz, dem Freund ihrer Mutter,
ihren lebhaften Geist auch in religiösen und philosophischen
Problemen übte, wurde 8. Okt. 1684 mit dem Kurprinzen
Friedrich von Brandenburg, spätern König Friedrich I.,
vermählt, dem sie nach seinem Regierungsantritt 1688 seinen
einzigen Sohn (den König Friedrich Wilhelm I.) gebar, lebte am
Hof ihres verschwenderischen und eiteln Gemahls der Pflege der
Künste und Wissenschaften, für welche sie auch Leib-

41

Sophienkirche - Sophokles.

niz nach Berlin zog, und erbaute sich in Lietzow das
Schloß Charlottenburg, wo sie einen eignen Hofhalt hattet
starb 1. Febr. 1705 in Hannover auf einer Reise nach den
Niederlanden. Vgl. Varnhagen v. Ense, Biographische Denkmale, Bd. 4
(3. Aufl., Leipz 1872).

5) S. Dorothea, Königin von Preußen, geb. 16.
März 1687, Tochter von Sophie 2) und des Königs Georg I.
von England und Nichte der vorigen, ward 28. Nov. 1706 mit dem
Kronprinzen Friedrich Wilhelm von Preußen vermählt, dem
sie 24. Jan. 1712 als dritten Sohn (die zwei ersten starben
früh) Friedrich d. Gr., dann noch mehrere Kinder gebar. Eifrig
bemüht, die Beziehungen zwischen Preußen und
Hannover-England noch fester und inniger zu knüpfen, kam sie
wiederholt mit dem von Österreich beherrschten Gemahl in
Konflikt, namentlich als sie, um die englischen Heiraten des
Kronprinzen und der Prinzessin Wilhelmine zu stande zu bringen,
heimlich mit dem englischen Hofe verhandelte, und hatte von dem
Jähzorn und der rauhen Härte des Königs viel zu
leiden. Nach dessen Tod (31. Mai 1740) lebte sie im Schloß
Monbijou in Berlin und starb 28. Juni 1757.

[Rußland.] 6) S. Alexejewna, russ. Großfürstin,
geb. 27. Sept. 1657, Tochter des Zaren Alexei Michailowitsch aus
dessen erster Ehe mit Maria Miloslawskij und daher Halbschwester
Peters d. Gr., machte sich nach dem Tode des Zaren Feodor III. 1682
durch einen Aufstand der Strelitzen zur Regentin für ihre
Brüder, den blödsinnigen Iwan und den unmündigen
Peter, die gemeinschaftlich den Thron bestiegen. Ihre Regentschaft
währte von 1682 bis 1689. Sie maßte sich gegen das Ende
dieses Zeitraums den Titel einer "Selbstherrscherin" an. Es
mußte zu einem Konflikt zwischen ihr und Peter kommen.
Derselbe ließ sie endlich 1689 in das Jungfrauenkloster zu
Moskau bringen, wo sie 14. Juli 1704 starb.

Sophienkirche, s. Konstantinopel, S. 29.

Sophisma (griech.), Trugschluß, ein Schluß,
den man mittels der Kunst der Sophistik zieht.

Sophisten (griech.), zur Zeit des Perikles und Sokrates
eine Klasse von Philosophen, welche den Unterricht in der
Philosophie nicht als Sache der freien Mitteilung trieben, sondern
denselben, meist von Ort zu Ort reisend, um Geld erteilten. Die
Sophistik, welche Platon und Aristoteles als die Kunst, mit
Hintansetzung ernsten wissenschaftlichen Sinnes den leeren Schein
des Wissens zu erregen, bezeichnen, entwickelte sich zunächst
aus dem Streben, dem Gedanken und der Sprache durch Biegsamkeit und
Gewandtheit für politische Zwecke die möglichste Kraft,
nicht sowohl der Überzeugung als der Überredung, zu
geben. Ihre Bedeutung für die Geschichte der Philosophie
beruht vorzugsweise darauf, daß sie in ihrem übrigens
durch mannigfache Kenntnisse und zum Teil durch glänzende
Talente unterstützten Streben, die Haltbarkeit alles durch
Überlegung zu erreichenden Wissens durch die Überlegung
selbst zu untergraben und die Festigkeit sittlicher
Überzeugung aufzulösen, für Sokrates und seine
Nachfolger die Veranlassung wurden, die Probleme der Wissenschaft
tiefer aufzufassen, als es bisher geschehen war. Die S. waren meist
Lehrer der Rhetorik, erniedrigten aber die Redekunst zu
bloßer Deklamation ebenso für wie wider jeden beliebigen
Gegenstand. Je ausschließlicher sich die Sophistik dieser
Richtung hingab, um so mehr verfiel sie in ein gehaltloses, nur auf
Beifall und Gewinn gerichtetes Wesen und endigte mit frivoler
Ableugnung jeder sittlichen Verbindlichkeit und mit spottender
Ableitung des Guten und Gerechten aus dem gebietenden Belieben der
Mächtigen. Wissenschaftlich knüpften die einen, wie
Gorgias (s. d.), an die eleatische Schule, die andern, wie
Protagoras (s. d.), an die Heraklitische an. Jene gaben den Eleaten
darin recht, daß das Viele nicht, aber darin unrecht,
daß das Eine sei; denn wäre dies, so müßte es
irgendwo sein. Dann aber wäre es nicht das Einzige: also sei
überhaupt Nichts (metaphysischer Nihilismus). Diese stimmten
mit den Herakliteern darin überein, daß alle Dinge
veränderlich seien, gingen aber dadurch über dieselben
hinaus, daß auch das Wissen veränderlich sei: also gebe
es überhaupt kein Wissen (logischer Nihilismus). Die
berühmtesten S. außer Gorgias und Protagoras waren:
Prodikos, Hippias, Thrasymachos, Kritias u. a. Vgl. Wecklein, Die
S. (Würzb. 1866).

Sophistik (Sophisterei, griech.), die Kunst der Sophisten
im schlimmen Sinn des Wortes; dann überhaupt die Kunst, durch
Zweideutigkeiten, trügerische Schlüsse (Sophismen) und
halb wahre Argumente Scheinbeweise herzustellen; s. Sophisten.

Sophokles, der gefeiertste tragische Dichter des griech.
Altertums, geb. 496 v. Chr. im attischen Kolonos, Sohn des
Sophillos, des wohlhabenden Besitzers einer Waffenfabrik, erhielt
eine sorgfältige Bildung in den musischen Künsten und
soll 480 den Siegesreigen nach der Schlacht bei Salamis
angeführt haben. Gleich bei seinem ersten Auftreten als
tragischer Dichter im Alter von 28 Jahren (468) gewann er den Sieg
über den 30 Jahre ältern Äschylos, um fortan den
ersten Rang in der Tragödie bis in sein hohes Alter zu
behaupten. Er hat über 20 mal den ersten, nie aber den dritten
Preis erhalten. Anders als Euripides beteiligte er sich am
politischen Leben und bekleidete mehrere Ämter; so war er 440
mit Perikles Befehlshaber der Flotte gegen Samos. Daß er im
hohen Alter von seinem Sohn Iophon, der gleichfalls als Tragiker
geachtet war, wegen Unfähigkeit, sein Vermögen zu
verwalten, vor Gericht gezogen sei, aber durch Vorlesung seines
"Ödipus auf Kolonos" seine völlige Freisprechung erwirkt
habe, scheint eine unbegründete Sage zu sein, wie sich auch
mancherlei Sagen an seinen 405 erfolgten Tod, der nach dem Zeugnis
eines Zeitgenossen seinem Leben entsprechend ein schöner war,
und sein Begräbnis anknüpften. Auf seinem Grab stand eine
Sirene als Sinnbild des Zaubers der Poesie. Die Athener errichteten
ihm später, wie Äschylos und Euripides, ein ehernes
Standbild im Theater. S. galt schon im Altertum für den
Vollender und Meister der Tragödie. Er erweiterte die
dramatische Handlung durch Einführung eines dritten
Schauspielers und durch die Beschränkung des Chors, dem er
anderseits eine kunstreichere Ausbildung gab, wie er auch sein
Personal auf 15 Mitglieder vermehrte. Indem er die Komposition der
Äschyleischen Tetralogie (s. d.) verließ, gestaltete er
jede Tragödie zu einem einheitlichen Kunstwerk mit einer in
sich abgeschlossenen Handlung, die er im einzelnen aufs
kunstvollste motivierte, namentlich aus dem Charakter der
handelnden Personen. Ganz besonders zeigt sich seine Kunst in der
scharfen, bis ins einzelnste sorgfältig durchgeführten
Charakteristik der Personen, in der er die Mitte hält zwischen
der übermenschlichen Erhabenheit des Äschylos und der
Neigung des Euripides, das gewöhnliche Leben zu kopieren. Mit
dem erstern hat er die tiefe Frömmigkeit gemein, die jedoch
bei ihm auf einer erheblich mildern Anschauung von der Stellung der
Götter zu den Menschen beruht. Die dem Wesen des S.
eigentümliche Anmut zeigt sich auch in der Sprache, deren
Süßigkeit von den Alten allgemein gerühmt

42

Sophonias - Sopran.

wird, und die in ihrer edlen Einfachheiten der Mitte zwischen
dem großartigen Pathos des Äschylos und der Glätte
und dem rhetorischen Schmuck des Euripides steht. S. gehört zu
den fruchtbarsten Dichtern. Außer Päanen, Elegien,
Epigrammen und einer prosaischen Schrift über den Chor hat er
123-130 Dramen verfaßt, von denen uns über 100 durch
Titel und Bruchstücke bekannt, aber nur 7 vollständig
erhalten sind: "Aias", "Antigone", "König Ödipus",
"Ödipus auf Kolonos", "Elektra", "Trachinierinnen" (Tod des
Herakles), "Philoktetes". Dieselben gehörten, mit Ausnahme der
"Trachinierinnen", unter die berühmtesten des S. Von ihnen
wurde "Antigone" 442, "Philoktet" 410, "Ödipus auf Kolonos"
erst nach dem Tode des Dichters von seinem gleichnamigen Enkel 401
auf die Bühne gebracht; die Abfassungszeit der übrigen
ist nicht genau bekannt. Namentlich die "Antigone" und der
"Ödipus auf Kolonos" wurden in neuester Zeit durch deutsche
Übersetzungen und die Musikbegleitung von
Mendelssohn-Bartholdy für die moderne Bühne bearbeitet
und seit 1841 (zuerst in Berlin) mit Beifall aufgeführt.

Gesamtausgaben, außer der Editio princeps, einer Aldina
(Vened. 1502), besorgten namentlich Brunck (Straßb. 1786-89,
4 Bde.), Erfurdt (Leipz. 1802-11, 6 Bde.; Bd. 7 von Heller u.
Döderlein, 1825; kleinere Ausg. von G. Hermann, 3. Aufl., das.
1830-51, 7 Bde.), Schneider (Weim. 1823-30, 10 Bde.), Wunder (4.,
zum Teil 5. Ausg., Leipz. 1847-1879, 2 Bde.), Dindorf (3. Aufl.,
Oxf. 1860, 8 Bde.; auch in dessen "Poetae scenici graeci", 5.
Aufl., Leipz. 1869), Schneidewin u. Nauck (zum Teil schon 9. Aufl.,
Berl. 1880, 7 Bde.), Nauck (das. 1868), Bergk (neue Aufl., Leipz.
1868), Wolff und Bellermann (5 Stücke, zum Teil in 4. Aufl.,
das.). Von Bearbeitungen einzelner Stücke sind hervorzuheben:
"Aias" von Lobeck (3. Aufl., Berl. 1866), M. Seyffert (das. 1866);
"Antigone" von Böckh (mit Übersetzung, neue Ausg., Leipz.
1884), Meineke (Berl. 1861), M. Seyffert (das. 1865), Schmidt (Jena
1880); "König Ödipus" von Elmsley (Cambr. 1811, Leipz.
1821), Herwerden (Utr. 1866); "Ödipus auf Kolonos" von Reisig
(Jena 1820), Elmsley (Oxf. 1823, Leipz. 1824), Mineke (Berl.1864);
"Philoktetes" von Buttmann (das. 1822) und M. Seyffert (das. 1867);
"Elektra" von O. Jahn (3. Aufl. von Michaelis, Bonn 1882);
"Trachinierinnen" von Blaydes (Jena 1872). Die Fragmente der
übrigen Stücke des S. sind gesammelt von Nauck in
"Fragmenta tragicorum graecorum" (2. Aufl., Leipz. 1889). Ausgaben
der Scholien zu sämtlichen Stücken besorgten Elmsley und
Dindorf (3. Aufl., Oxf. 1860) und Papageorg (Leipz. 1888). Ein
treffliches "Lexicon Sophocleum" hat Ellendt (2. Aufl. von Genthe,
Berl. 1872, 2 Bde.) veröffentlicht, ein gleiches auch Dindorf
(Leipz. 1871). Von den Übersetzungen der Sophokleischen Dramen
nennen wir die von Solger (3. Aufl., Berl. 1837, 2 Bde.), Donner
(10. Aufl., Leipz. 1882), Thudichum (3. Aufl., das. 1875), Hartung
(das. 1853), Minckwitz (neue Aufl., Stuttg. 1869), W. Jordan (Berl.
1862, 2 Bde.), Viehoff (Hildburgh. 1866), Scholl (Stuttg. 1869-71),
Bruch (Bresl. 1879), Prell-Erckens (Leipz. 1883), Wendt (Stuttg.
1884, 2 Bde.) und Türkheim (das. 1887, 2 Bde.). Wilbrandt
veröffentlichte "Ausgewählte Dramen des S. und Euripides,
mit Rücksicht auf die Bühne bearbeitet" (Nördlingen
1866). Eine berühmte Statue des Dichters, ein griechisches
Originalwerk von höchstem Kunstwert (in Terracina
aufgefunden), befindet sich im Lateran zu Rom. Vgl. Lessing, Leben
des S. (in dessen Werken); Schöll, S., sein Leben und Wirken
(Frankf. 1842); Patin, Études sur les tragiques grecs, Bd.
2: Sophocle (5. Aufl., Par. 1877).

Sophonias, s. Zephanja.

Sophonisbe (Sophonibe), Tochter des karthag. Feldherrn
Hasdrubal, Sohns des Gisgo, ausgezeichnet durch Schönheit,
Geist und Vaterlandsliebe, ward früh mit Masinissa (s. d.)
verlobt, aber dann mit König Syphax von Numidien
vermählt, um denselben für Karthago zu gewinnen. Nach der
Niederlage und Gefangennahme des Syphax (203 v. Chr.) fiel sie
Masinissa in die Hände, der sich sofort mit ihr
vermählte, um sie der Gewalt der Römer zu entziehen; als
aber Scipio, den Einfluß der unversöhnlichen Feindin
Roms auf Masinissa fürchtend, ihre Auslieferung forderte,
trank sie heldenmütig den ihr von Masinissa gereichten
Giftbecher. Vielfach dramatisch behandelt, so von Lohenstein
(1666), Hersch (1859), Geibel (1873), Roeber (1884) u. a.

Sophora L., Gattung aus der Familie der Papilionaceen,
Bäume und Sträucher, selten Kräuter, in den
tropischen und gemäßigten Gegenden der Alten und Neuen
Welt, mit unpaarig gefiederten Blättern, weißen, gelben,
selten violetten Blüten in endständigen Trauben oder
Rispen und mehr oder weniger gestielten, rosenkranzartigen,
dickschaligen, nicht aufspringenden Hülsen. S. japonica L.;
ein hoher Baum mit fein gefiedertem Laub, 11-13 unterseits
graugrün behaarten Blättchen mit krautartiger Borste,
endständigen Blütenrispen, weißlichen Blüten
und etwas fleischiger Hülse, wächst in China und Japan
und wird bei uns in Gärten kultiviert. Das sehr feste Holz
enthält einen stark riechenden, scharfen Stoff, der bei
Verwundungen mancherlei Übel hervorrufen kann; auch wirken
alle Teile des Baums purgierend. In China kultiviert man ihn in
großem Maßstab, weil die getrockneten Blüten
(Waifa) zum Gelb- und Grünfärben benutzt werden. - S.
tinctoria, s. Baptisia.

Sophron, griech. Mimendichter, aus Syrakus, älterer
Zeitgenosse des Euripides, verfaßte prosaische Dialoge in
dorischem Dialekt, teils ernsthaften, teils spaßhaften
Inhalts, welche Szenen des Volkslebens aufs treueste schilderten.
Trotz der prosaischen Form wurden seine Mimen von den Alten als
Dichtungen betrachtet. Platon, durch den sie in Athen zuerst
bekannt wurden, schätzte sie überaus und benutzte sie zur
dramatischen Einkleidung seiner Dialoge; Theokrit nahm sie in
seinen Idyllen zum Vorbild, und auch die Grammatiker schenkten
ihnen wegen ihrer volkstümlichen Sprachformen besondere
Beachtung. Die Dürftigkeit der erhaltenen Bruchstücke
(zuletzt gesammelt von Botzon, Marienburg 1867) verstattet weder
von Inhalt noch Ausführung eine Anschauung. Vgl. die Schriften
von Grysar (Köln 1838), Heitz (Straßb. 1851) und Botzon
(Lyck 1856).

Sophronisten (griech.), Sittenmeister, bei den Griechen
Beamte, welche das sittliche Verhalten der Jünglinge in den
Gymnasien zu überwachen hatten.

Sophrosyne (griech.), s. v. w. weise Mäßigung,
eine der vier Haupttugenden der Platonischen Ethik und zwar
diejenige, welche sich auf die Begierden der sinnlichen Natur des
Menschen bezieht.

Sopor (lat.), s. Schlafsucht.

Sopran (ital. Soprano, lat. Supremus, Discantus, Cantus,
franz. Dessus. engl. Treble), die höchste aller Gattungen der
Singstimmen, von der Altstimme dadurch verschieden, daß ihr
Schwerpunkt nicht wie bei dieser in dem sogen. Brustregister,
sondern in der Kopfstimme liegt. Der S. ist entweder eine
Frauen-,

43

Sopranschlüssel - Sorben.

Knaben- oder Kastratenstimme; die grausame, naturwidrige
Kastration (s. d.) erzeugte Sopranstimmen von dem Timbre der
Knabenstimme und der mächtigen Lungenkraft des Mannes. In der
päpstlichen Kapelle und auch anderweit wurden statt der
Kastraten, die nur zeitweilig zugelassen wurden, und statt der
Knaben, welche die schwierige Mensuraltheorie nicht schnell genug
zu erlernen vermochten, im 15.-17. Jahrh. sogen. Falsettisten
(Tenorini, Alti naturali) zur Ausführung der Sopranparte
verwendet, die darum verhältnismäßig tief
geschrieben wurden, um die Stimmen nicht allzu schnell zu
ruinieren. Der Normalumfang des Soprans ist vom (eingestrichenen)
c' bis zum (zweigestrichenen) a''; das Brustregister erstreckt sich
auf die Töne von f' oder fis' abwärts, die Kopfstimme
beinahe auf den ganzen Umfang, höchstens versagen c' und d'.
Es sind also dann die Töne d' bis fis' beiden Registern
gemein, d. h. können auf beide Weise hervorgebracht werden.
Bis zum a'' läßt sich so ziemlich jede normale
Sopranstimme ausdehnen, hohe Soprane singen bis c''',
phänomenale bis fis''', g''', ja c'''' (z. B. Lucrezia
Agujari, gest. 1783). Vgl. Mezzosopran.

Sopranschlüssel, s. v. w. Diskantschlüssel.

Sopratara (ital.), s. Tara.

Sora, Kreishauptstadt in der ital. Provinz Caserta, am
Garigliano, Bischofsitz, mit Seminar, Gewerbeschule, Resten von
Mauern des antiken S. und der mittelalterlichen Burg Sorella,
Tuchfabrikation, Papiermühlen und (1881) 5411 Einw.

Sorácte (jetzt Monte Sant' Oreste), berühmter
Berg, 45 km nördlich von Rom, die höchste Spitze eines
sich zwischen der Via Flaminia und dem Tiber hinziehenden
Bergrückens. Auf seinem Gipfel stand im Altertum ein
berühmter Tempel des Apollon (daher dessen Beiname Soranus),
dem daselbst Feste seltsamer Art gefeiert wurden. Am Abhang des
Bergs befanden sich warme Quellen; an seinem Fuß lag ein
Heiligtum der Feronia. Der S. ist 692 m hoch und gewährt
besonders mit Schnee bedeckt einen pittoresken Anblick (candidus
Soractes bei Horaz). Karlmann, der Bruder Pippins, gründete
748 am Ostabhang des S. das Kloster des heil. Silvester.

Sorano, Ortschaft in der ital. Provinz Grosseto, mit
Mineralquellen und (1881) 1217 Einw. Dazu gehört Sovana
(Soana), ein vormals bedeutender, aber schon seit langer Zeit wegen
des ungesunden Klimas verlassener Ort, mit Bistum (Sitz in
Pitigliano) und großer Kathedrale, Geburtsort Papst Gregors
VII. In der Nähe zahlreiche etruskische Gräber und die
Trümmer des alten Saturnia.

Soranus, Beiname des Apollon (s. Soracte).

Sorata, Revado de (Ilampu), nächst dem Aconeagua
höchster Berg des amerikan. Kontinents, erhebt sich als
vulkanischer Kegel auf der östlichen Umwallung (Cordillera
Real) der Hochebene von Bolivia in Südamerika, im O. des
Titicacasees, und überragt das Plateau um 2700 m, indem er bis
6544 m aufsteigt.

Sorau, 1) Kreisstadt im preuß. Regierungsbezirk
Frankfurt, Knotenpunkt der Linien Sommerfeld-Iegnitz, S.-Sagan und
S.-Kottbus der Preußischen Staatsbahn, 160 m ü. M.,
besteht aus dem Schloßbezirk, mit dem alten Schloß (von
1207) und dem daneben erbauten neuen Schloß (von 1716, jetzt
Lokal der Behörden) nebst der Peterskirche (um 1200 erbaut),
und der eigentlichen Stadt. Von hervorragenden Gebäuden sind
zu nennen: die evangelische Hauptkirche (aus dem 14. Jahrh., 1870
restauriert), die Schloß- und Klosterkirche (1728 neugebaut)
und die Gräbigerkirche (seit 1874 den Altlutheranern
eingeräumt), das Rathaus, das Krankenhaus und das
Waldschloß (von 1557). Öffentliche Plätze sind: der
Kaiserplatz mit dem Kriegerdenkmal und der Bismarckplatz. Die
Bevölkerung beträgt (1885) 13,665 Seelen, meist
Evangelische, welche Tuch-, Leinwand- und Damastweberei,
Färberei, Druckerei, Wachslicht-, Ziegel- u.
Drainröhrenfabrikation, Porzellanmalerei, Kunst- und
Handelsgärtnerei betreiben. Für den Handelsverkehr
befinden sich dort eine Handelskammer und eine
Reichsbanknebenstelle. S. hat ein Gymnasium, eine Webschule, ein
Amtsgericht, eine Oberförsterei, eine Irrenanstalt und ein
Waisenhaus. In der Umgegend zahlreiche Braunkohlengruben. - S. ist
wendischen Ursprungs und erhielt 1260 Stadtrecht. Damals
gehörte es den Burggrafen von Dewin, 1355 kam es an die
Burggrafen von Biberstein, welche auch die Umgebung der Stadt, die
Herrschaft S., erwarben. Diese fiel, nachdem sie 1490-1512 zu
Sachsen gehört hatte, nach dem Aussterben der Burggrafen von
Biberstein 1551 an König Ferdinand I. von Böhmen, der sie
1557 nebst der Herrschaft Triebel an den Bischof von Breslau,
Balthasar von Promnitz, verkaufte. Der letzte Sprößling
dieses Hauses überließ beide 1765 gegen eine Leibrente
von 12,000 Thlr. an Kursachsen, von dem sie 1815 an Preußen
kamen. Vgl. Worbs, Geschichte der Herrschaft S. und Triebel (Sor.
1826); Saalborn, Beiträge zur Geschichte von S. (das. 1876,
Heft 1). -

2) Stadt, s. Sohrau.

Sorauer, Paul, Botaniker, geb. 9. Juni 1839 zu Breslau,
erlernte daselbst die Gärtnerei, hörte gleichzeitig
botanische Vorlesungen, ging zu weiterer praktischer Ausbildung
nach Berlin, Brüssel, Paris und London, lebte ein Jahr in
Donaueschingen und studierte dann 1864-68 in Berlin
Naturwissenschaft, besonders Botanik. Er arbeitete als Assistent in
Karstens pflanzenphysiologischem Institut und widmete seine
Untersuchungen von nun an ausschließlich der Phytopathologie.
Er begann Vorlesungen über diese Disziplin am
landwirtschaftlichen Institut in Berlin, ging aber bald als
Assistent zu Hellriegel in Dahme und folgte 1871 einem Ruf an das
pomologische Institut in Proslau. Hier errichtete er die erste dem
Gartenbau speziell gewidmete botanische Versuchsstation und suchte
namentlich die bis dahin fast unbeachtet gebliebenen nicht
parasitären Krankheiten der Pflanzen zu erforschen. Er
schrieb: "Handbuch der Pflanzenkrankheiten" (2. Aufl., Berl. 1887,
2 Bde.; dazu der "Atlas", 1887 ff.); "Die Obstbaumkrankheiten"
(das. 1878); "Untersuchungen über die Ringelkrankheit und den
Rußtau der Hyazinthen" (Leipz. 1878); "Die Schäden der
einheimischen Kulturpflanzen durch Schmarotzer etc." (Berl.
1888).

Sorben (Sorbenwenden), slaw. Volk, welches im 6. Jahrh.
n. Chr. das Gebiet zwischen Saale und Elbe in Besitz nahm. Schon im
7. Jahrh. den Franken unterthan, fielen die S. 631 unter ihrem
Herzog Dervan ab und schlossen sich an Samo von Böhmen an.
Nicht Karl d. Gr., der 782 ein Heer gegen sie aussandte, sondern
erst Heinrich I. gelang um 928 ihre völlige Unterwerfung; auf
ihrem Gebiet entstanden die Marken Zeitz und Merseburg,
während das nördliche Sorbenland zur Mark Lausitz
geschlagen wurde. Unter Otto I. brach sich das Christentum unter
den S. allmählich Bahn, besonders seitdem die Bistümer
Merseburg und Zeitz 968 als Mittelpunkte der Mission gegründet
worden waren. Die S. verschmolzen teils mit den deutschen
Einwanderern, teils zogen sie sich in die jetzigen beiden Lausitzen
zurück, wo sie noch heute die ländliche Bevölkerung
bilden. Über die Sprache der S. s. Wendische Sprache.

44

Sorbett - Sorby.

Die Haupterzeugnisse ihrer Litteratur findet man verzeichnet in
den "Jahrbüchern für slawische Litteratur" (hrsg. von
Jordan, Leipz. 1843-48; fortgesetzt von Schmaler, Bautz.
1852-56).

Sorbett (arab.), s. Scherbett.

Sorbonne, die altberühmte Theologenschule in Paris,
deren Gründung auf Robert von Sorbon (gest. 1274), den
Hofkaplan Ludwigs des Heiligen, zurückgeführt wird; die
Bestätigungsbulle Clemens' IV. datiert von 1268.
Ursprünglich ein Alumnat für arme Studierende der
Theologie, gelangte die S. (welchen Namen die Anstalt erst seit dem
14. Jahrh. erhielt) durch berühmte Lehrer, welche an ihr
wirkten, sowie durch reiche Ausstattung gegenüber andern
ähnlichen Kollegien zu immer größerm Ansehen. In
ihrem Haus fanden regelmäßig die Sitzungen der
theologischen Fakultät der Pariser Universität statt, so
daß es seit dem Ende des 15. Jahrh. üblich wurde, diese
Fakultät selbst mit dem Namen S. zu bezeichnen. An diesen
Namen knüpfen sich daher die wichtigsten Entscheidungen,
welche vom Mittelalter bis zur Neuzeit für Gestaltung des
Katholizismus in Frankreich ausschlaggebend waren. Aber als
Vorkämpferin des Gallikanismus (s. d.) und Feindin des
Jesuitenordens, dessen Einführung in Frankreich (1562) sie
vergeblich zu verhindern suchte, verlor die S. allmählich an
Einfluß und Ansehen in dem selben Maß, als die Macht
der Päpste wuchs. Vollends war es um ihren Ruhm geschehen, als
sie sich im Sinn beschränkter Orthodoxie in einen erbitterten
Kampf mit den freisinnigen Schriftstellern des 18. Jahrh.
einließ (vgl. Voltaires "Tombeau de la S."). Durch die
Dekrete der Nationalversammlung von 1789 und 1790 wurden ihre
ausgedehnten, prächtigen Gebäude (1635-53 vom Kardinal
Richelieu errichtet) als Nationalgut eingezogen, 1808 aber der
neuen kaiserlichen Universität wieder übergeben. Jetzt
bilden sie den Mittelpunkt des Quartier latin und beherbergen die
theologische, die historisch-philologische und die
naturwissenschaftliche Fakultät der Pariser Universität.
Vgl. Duvernet, Histoire de la S. (deutsch, Straßb. 1792, 2
Bde.); Franklin, La S. (2. Aufl., Par. 1875); Méric, La S.
et son fondateur (das. 1888).

Sorbus L. (Eberesche), Gattung aus der Familie der
Rosaceen, Bäume von mittlerer Höhe, häufiger
Sträucher, mit einfachen, gelappten oder gefiederten
Blättern, in einfachen oder zusammengesetzten Trauben- oder
Scheindolden stehenden Blüten und beerenartiger Apfelfrucht
mit dünnhäutigen Fruchtfächern. I.
Apfelbeersträucher (Adenorrhachus Dec.), Sträucher mit
einfachen, auf der Mittelrippe oft mit Drüsen besetzten
Blättern, einfachen Doldentrauben, weißen, an der Basis
nicht bewimperten oder behaarten Blumenblättern, fünf
Griffeln. Rotfrüchtiger Apfelbeerstrauch (S. arbutifolia L.),
in Nordamerika, 1-2 m hoher Strauch mit aufrecht abstehenden
Zweigen, länglich ovalen, unterseits behaarten Blättern
und roten, behaarten Früchten, färbt sich im Herbst
intensiv rot, wird als Zierstrauch angepflanzt. Ein Bastard dieser
Art mit S. Aria ist S. heterophylla Rchb., mit sehr
veränderlichen, ganzen, eingeschnittenen, meist mehr oder
weniger gefiederten, unterseits graufilzigen Blättern,
vielblütigen Doldentrauben und schwarzroten Früchten. II.
Ebereschen (Aucuparia Med.), Sträucher und Bäume mit
gefiederten Blättern, zusammengesetzten, rispenartigen
Doldentrauben, an der Basis mit einigen abfallenden Härchen
besetzten Blumenblättern, zwei oder drei Griffeln und glatten
Früchten. S. aucuparia L. (gemeine Eberesche, Vogelbeerbaum,
Quitzstrauch), ein mittelhoher Baum mit gefiederten, wenigstens auf
der Unterseite lange Zeit wollig behaarten Blättern,
gesägten Blättchen, weißen, unangenehm riechenden
Blüten und roten Früchten, wächst in Europa und
Nordasien bis in die subarktische Zone, im Süden auf dem St.
Gotthard bis zur Grenze der Fichte. Die Eberesche gehört zu
unsern schönsten Gehölzen und eignet sich trefflich zu
Anpflanzungen in Gärten und an Wegen. Das ziemlich harte Holz
wird von Tischlern, Büchsenschäftern und Wagnern benutzt;
die Früchte dienen zum Vogelfang (aucupium, daher der Name),
besonders für Drosseln (Drosselbeere), auch als Futter
für Federvieh und Schafe, zur Darstellung von
Äpfelsäure, Branntwein, Essig etc. III. Mehlbirn (Aria
Host.), Sträucher und Bäume mit einfachen, unten filzigen
Blättern, Blüten in Doldentrauben,
zurückgeschlagenen Blumenblättern, wolligen Griffeln und
Früchten. S. Aria Crtz. (gemeine Mehlbirn, Mehlbaum,
weißer Elsbeerbaum, Alzbeere, Arlesbeere), ein 9-12 m hoher
Baum mit rundlichen oder länglichen, doppelt gesägten
oder eingeschnittenen, unterseits weißfilzigen Blättern,
in verästelten Doldentrauben stehenden, weißen
Blüten und rundlichen, rotorangen, punktierten, süß
säuerlichen Früchten, findet sich in Mittel- und
Südeuropa und im Orient, in der untern Alpenregion bis 1700 m,
nördlich bis zum Harz, liefert Nutzholz; er wird in mehreren
Varietäten in den Gärten kultiviert. Ein Bastard mit S.
torminalis ist S. latifolia Pers., mit länglich
breiteiförmigen, am Rand lappigen, gesägten, unterseits
graufilzigen Blättern, großer, filziger Doldentraube und
ovalrunden, rotorangen, gelb punktierten Früchten. IV.
Elsbeerbäume (Torminaria Ser.), Bäume mit gelappten,
unbehaarten Blättern, Doldentrauben, flachen, etwas
bärtigen Blumenblättern, zwei Griffeln, unbehaarten
Früchten. S. torminalis L. (Elsebeerbaum, Atlasbeerbaum), ein
mittelhoher Baum mit eirunden, tief und ungleich gelappten,
ungleich scharf gesägten, unbehaarten Blättern, filziger
Doldentraube, weißen Blüten und graubraunen, weiß
punktierten Früchten, ist in Mitteleuropa einheimisch, bei uns
nördlich bis zum Harz, liefert genießbare Früchte
u. Nutzholz (Atlasholz). V. Speierling (Cormus Spach), mit
gefiederten Blättern, an der Basis wolligen
Blumenblättern und fünf meist einsamigen, im
Querdurchschnitt spitzen Fruchtfächern. S. domestica L.
(Speierling, Sperber-, Spierlingsvogelbeere), ein großer Baum
mit gefiederten Blättern, gesägten, unterseits meist
weißlich behaarten Blättchen, kleinen Blüten in
endständiger Doldentraube und birn- oder apfelförmigen,
orangegelben Früchten, welche durch Liegen weich und
wohlschmeckend werden, wächst in Italien, Frankreich und dem
westlichen Nordafrika, wird in Süddeutschland in Gärten
kultiviert und findet sich bei uns verwildert bis zum Harz.

Sorby, Henry Clifton, Naturforscher, geb. 10. Mai 1826 zu
Woodbourne bei Sheffield, widmete sich naturwissenschaftlichen
Studien auf seinem Gut Broomfield bei Sheffield und erreichte
bedeutende Erfolge namentlich durch Anwendung mikroskopischer
Forschungen auf physikalische Gegenstände und physikalischer
Methoden aus geologische Probleme. Er wies zuerst auf die
mikroskopische Untersuchung der Kristalle und Gesteine und auf die
Wichtigkeit derselben für theoretische Schlußfolgerungen
hin und veröffentlichte seine ersten darauf bezüglichen
Arbeiten 1858 im "Quarterly Journal of the Geological Society". Er
wandte auch zuerst die Spektralanalyse

45

Sordid - Soria.

bei mikroskopischen Untersuchungen an und konstruierte ein
Spektroskop zur Analyse gefärbter Flüssigkeiten, welches
seitdem weite Verbreitung gefunden hat.

Sordid (lat.), schmutzig, unflätig, geizig;
Sordidität, schmutziges Wesen, Geiz.

Sordino (ital.), s. Dämpfer.

Sordo (ital.), musikal. Bezeichnung: gedämpft.

Sordun, Name eines im 17. Jahrh. gebräuchlichen
Holzblasinstruments und einer veralteten Orgelstimme von
gedämpftem Klang.

Soredien (griech.), s. Flechten, S. 353.

Sorel, Stadt in der britisch-amerikan. Provinz Quebec, am
St. Lorenzstrom, an der Mündung des Richelieu, hat Handel,
Fischerei und (1881) 5791 Einw.

Sorel, 1) (Soreau) Agnes, die Geliebte König Karls
VII. von Frankreich, geboren um 1409 zu Fromenteau in Touraine von
adligen Eltern, kam als Ehrendame der Herzogin von Anjou, Isabella
von Lothringen, 1431 (also erst nach dem Tode der Jungfrau von
Orléans) an den französischen Hof und fesselte durch
ihre Schönheit und Geistesbildung den König so sehr,
daß er sie zur Ehrendame der Königin ernannte und ihr
das Schloß Beauté an der Marne schenkte, daher ihr
Name Dame de Beauté. Obwohl sie ihren Einfluß auf den
König nie mißbrauchte und selbst die Achtung der
Königin genoß, hatte sie doch viel von der Roheit des
Dauphins, nachmaligen Königs Ludwig XI., zu leiden. Nachdem
sie seit 1442 zu Loches in der Zurückgezogenheit gelebt,
ließ sie die Königin wieder an den Hof kommen. Um dem
König stets nahe zu sein, begab sie sich nach dem Schloß
Masmal la Belle, wo sie aber schon 9. Febr. 1450 starb. Sie
hinterließ dem König drei Töchter. Vgl.
Steenackers, Agnes S. et Charles VII (Par. 1868).

2) Albert, franz. Schriftsteller, geb. 13. Aug. 1842 zu Honfleur
(Calvados), war 1866 im Auswärtigen Ministerium angestellt,
begleitete 1870 die Delegation nach Tours und Bordeaux, ward 1872
Professor der diplomatischen Geschichte in Paris und 1876
Generalsekretär des Präsidiums des Senats. Außer
vielen Artikeln in der "Revue des Deux Mondes" und andern
Zeitschriften schrieb er die Romane: "La grande falaise" (1872) und
"Le Docteur Egra" (1873) und die historischen Werke: "Le
traité de Paris du 20 nov. 1815" (1873); "Histoire
diplomatique de la guerre franco-allemande" (1875, 2 Bde.);
"Laquestion d'Orient au XVIII. siècle" (1878); "Essais
d'histoire et de critique" (1882); "L'Europe et la
Révolution française" (1885-87, 2 Bde.);
"Montesquieu" (1887), und in Gemeinschaft mit Funck-Brentano:
"Précis du droit des gens" (2. Aufl. 1887).

Soresina, Stadt in der ital. Provinz Cremona, an der
Eisenbahn von Treviglio nach Cremona, hat Seiden- und Weinkultur,
Bereitung von Senf und Konfitüren, Handel und (1881) 6765
Einw.

Sorex, Spitzmaus.

Sorèze (spr. ssorähs), Flecken im franz.
Departement Tarn, Arrondissement Castres, pittoresk durch Lage und
Bauart und berühmt durch ein Collège der Benediktiner,
mit (1881) 1348 Einw. In der Nähe eine große
Stalaktitengrotte und das Bassin von St.-Ferréol des Canal
du Midi.

Sorgh, Hendrik Martensz, niederländ. Maler, geboren
um 1611 zu Rotterdam, war dort Schüler des Willem Buyteweck
und starb daselbst um 1670. Er hat biblische Darstellungen in
genrehafter Auffassung (z. B. die Anbetung der Hirten, in
Petersburg, die Parabel vom Weinberg des Herrn, in Dresden) und
Genrebilder aus dem Volksleben (Fisch- und Gemüsemärkte,
Interieurs mit Figuren), aber auch Marinen und Flußufer
gemalt, die zum Teil den Einfluß von C. Saftleven zeigen und
sich durch Feinheit der Färbung und Lebendigkeit der
Darstellung auszeichnen.

Sorghum Pers. (Mohrenhirse), Gattung aus der Familie der
Gramineen, in wärmern Ländern heimische große,
breitblätterige Gräser mit markigem Stengel,
reichverzweigten, derbästigen Rispen mit elliptischen bis
kugelig elliptischen Ährchen, lederigen, schwach behaarten, an
der Spitze gezähnelten, selten begrannten Hüllspelzen,
tief ausgerandeten, begrannten oder grannenlosen Deckspelzen und
mehligen Samen. S. vulgare Pers. (Mohren-, Moorhirse, Kafferkorn,
Negerkorn, Durrha, Dari, Dara, Doura [S. tartaricum]),
einjähriges Gewächs mit knotig gegliedertem, bis 5 m
hohem Halm, eirund-ovaler, zusammengezogener, fast
kolbenförmiger Rispe und braunen, braunroten oder schwarzen
Spelzen, stammt vielleicht aus Indien, kam zu Plinius' Zeit nach
Europa, im 13. Jahrh. nach Italien und im 16. Jahrh. als
sarazenische Hirse nach Frankreich. Sie wird jetzt als
Charakterpflanze Afrikas an der West- und Ostküste, in der
Nordhälfte bis Timbuktu, in Abessinien bis 2500 m ü. M.
als Brotkorn gebaut, auch in Polen, Ungarn, Dalmatien, Portugal,
Italien, in Arabien, Ostindien und Turkistan in mehreren
Varietäten kultiviert. In Afrika liefert sie unter allen
Brotfrüchten die reichsten Erträge. Man bereitet aus den
Körnern auch Grütze, ein berauschendes Getränk und
Essig und verarbeitet sie in Belgien, Irland, Schottland in den
Brennereien; außerdem dienen sie, wie auch die Halme mit den
Blättern, als Viehfutter; aus den entkernten Blütenrispen
macht man die sogen. Reisbesen (Besenkraut). S. saccharatum Pers.
(Zuckermoorhirse, Himalajakorn), 3-3,75 m hoch, mit
quirlästiger Rispe mit überhängenden Ästen, aus
Ostindien und Arabien stammend, wird in China, Südafrika und
dem südlichen Nordamerika sehr ausgedehnt kultiviert. 1857
importierte man nach Amerika den ersten Samen, und 1863 waren schon
250,000 Acres mit S. (Imphee) bebaut, aus dessen Stengeln man
Zucker gewann. Als indisches Futter-Sorgho (indisches Korn) wurde
die Pflanze auch bei uns zum Anbau als Grünfutter empfohlen;
sie gibt hohen Ertrag, ist aber unsicherer als Mais und verlangt
heiße Sommer zu ihrem Gedeihen. Vgl. Collier, S., its culture
etc. (Lond. 1884).

Sorgues (spr. ssorgh), Flecken im franz. Departement
Vaucluse, Arrondissement Avignon, am gleichnamigen Fluß,
welcher seinen Ursprung in der wasserreichen Quelle Vaucluse (s.
d.) hat und nach 40 km langem Lauf in den Rhône mündet,
und an der Eisenbahn Lyon-Marseille (Abzweigung nach Carpentras)
gelegen, hat Weinbau, Seidenspinnerei, Fabrikation von chemischen
Produkten und (1881) 2977 Einw.

Soria, span. Provinz in der Landschaft Altkastilien,
grenzt im N. an die Provinz Logroño, im O. an Saragossa, im
Süden an Guadalajara, im W. an Segovia u. Burgos und hat ein
Areal von 10,318 qkm (187,4 QM.). Das Land ist im ganzen ein
Hochplateau, welches im N. von Berggruppen des Iberischen
Gebirgssystems (darunter Pico de Urbion, 2252 m, Sierra del
Moncayo, 2349 m), im südlichen Teil von den Ausläufern
des Kastilischen Scheidegebirges eingeschlossen wird. Das Zentrum
der Provinz bildet das Becken des obern Duero, welcher hier den
Rituerto und Ucero aufnimmt. Einige Wasserläufe im
östlichen Teil, darunter der Jalon, fließen dem Ebro zu.
Im N. finden sich große Kiefernwaldungen, sonst aber herrscht
Mangel an Bäumen, dafür jedoch sehr reicher Graswuchs auf
den öden Hochflächen. Das Klima ist

46

Soria - Sosh.

in den Thälern mild, auf den Gebirgen rauh. Die sehr
spärliche, arme Bevölkerung betrug 1878: 153,652 Seelen,
demnach nur 15 pro QKilometer (1886 auf 162,000 Seelen
geschätzt). Die wichtigsten Produkte sind: Schafe, Pferde,
Maulesel, Getreide, Wein (geringe Qualität), Öl, Flachs
und Hanf; das Mineralreich bietet wohl Erze, welche aber nicht
abgebaut werden, dann Salz und Gips. Hauptbeschäftigung bildet
Vieh-, besonders Schafzucht, daneben kommen höchstens noch
Weberei und Gerberei in Betracht. Die Südostecke der Provinz
wird von der Spanischen Ostbahn (Madrid-Saragossa) durchschnitten.
Die Provinz umfaßt fünf Gerichtsbezirke (darunter Burgo
de Osma und Medinaceli). - Die gleichnamige Hauptstadt, rechts am
Duero, mit zinnengekrönten Mauern umgeben und von einem
hochgetürmten Schloß überragt, hat (1886) 5834
Einw. u. ist Sitz des Gouverneurs.

Soria, Fabrikstadt im mexikan. Staat Guanajuato, bei
Celayo, hat eine Baumwollspinnerei u. -Weberei und eine
Kasimirfabrik.

Soriano, Departement des südamerikan. Staats
Uruguay, 9223 qkm (151,2 QM.) groß mit (1885) 24,988 Einw.,
am Uruguay, ist malerisch gelegen und hat viel Viehzucht (Schafe,
Rinder). Hauptstadt ist Mercedes am Rio Negro, 30 km oberhalb
dessen Mündung in den Paraguay, mit 4000 Einw.; der
älteste Ort aber ist Soriano, an der Mündung des
genannten Flusses, 1624 gegründet, mit 600 Einw.

Soriano nel Cimino (spr. tschi-), Dorf in der ital.
Provinz Rom, Kreis Viterbo, am Fuß des Monte Cimino, hat
Ringmauern und (1881) 4601 Einw.

Soringaöl (Sorinjaöl), s. Behenöl.

Soristan, s. v. w. Syrien.

Sorites (griech., Kettenschluß), ein aus mehreren
Schlüssen zusammengesetzter Schluß, dessen Erfindung
gewöhnlich dem Eubulides zugeschrieben wird. Derselbe
entsteht, indem zwei Schlüsse enthymematisch, d. h. durch
Hinweglassung entweder des Ober- (Aristotelischer S.) oder des
Untersatzes (Goclenianischer S.), abgekürzt und so verbunden
werden, daß sie alle einen gemeinschaftlichen
Schlußsatz erhalten; z. B.: die Gestirne sind Körper;
alle Körper sind beweglich; alles Bewegliche ist
veränderlich; alles Veränderliche ist vergänglich:
also sind die Gestirne vergänglich (Krug).

Sorlingues (spr. ssorlängh), s. Scillyinseln.

Sorö, dän. Amt auf der Insel Seeland, 1475 qkm
(26,8 QM.) mit (1880) 87,509 Einw. Die gleichnamige Hauptstadt in
schöner Lage am Sorösee und an der Eisenbahn von
Kopenhagen nach Korsör, mit berühmter Akademie und (1880)
1464 Einw. Die Akademie (jetzt gelehrte Schule und
Erziehungsanstalt), eine der reichsten Stiftungen des Landes, wurde
1586 aus den Einkünften der 1161 hier gegründeten
Cistercienser-Mönchsabtei gestiftet und 1822 neu organisiert.
Von den großartigen alten Klostergebäuden ist nur noch
die Kirche (mit den Grabmälern mehrerer dänischer
Könige und Ludwig Holbergs) vorhanden.

Sörö, norweg. Insel an der Küste des
Nördlichen Eismeers, unweit der Stadt Hammerfest, 971 qkm
(17,6 QM.) groß.

Sorocaba, Stadt in der brasil. Provinz São Paulo,
am gleichnamigen Nebenfluß des Tieté, in fruchtbarer
Gegend, hat vielbesuchte Maultier-, Pferde- und Rindviehmärkte
und 3000 Einw. 5 km nördlich davon liegen die Eisenhütten
von Ipanema.

Soroki (Ssoroki), Kreisstadt im russ. Gouvernement
Bessarabien, rechts am Dnjestr, hat 2 Kirchen und (1885) 11,876
Einw., welche Handel mit Tabak, Wein und Getreide treiben. An der
Stelle von S. stand einst Olchionia, ein Handelsplatz der Genuesen.
Im Bukarester Traktat 1812 kam S. an Rußland.

Sorr, Dorf in Böhmen, s. Soor.

Sorrénto, Stadt in der ital. Provinz Neapel, Kreis
Castellammare, in reizender Lage auf der Nordseite der Halbinsel
von S., welche den Golf von Neapel von dem von Salerno trennt, an
der landschaftlich schönen Straße von Castellammare nach
Massa, von Orangen- und Olivenhainen, Wein-, Obst- und
Maulbeerpflanzungen umgeben, ist Sitz eines Erzbischofs, hat Reste
von römischen Bauwerken, eine Kathedrale, ein Seminar,
Seebäder, Schiffahrt und Handel (in der Marina von S. sind
1886: 91 Schiffe mit 38,025 Ton. angelaufen), Seidenindustrie,
Fabrikation von Holzmosaikwaren und (1881) 6089 Einw. Die
schöne Lage und das herrliche Klima machen es zum
Lieblingsaufenthalt der Fremden auch im Sommer (zahlreiche Hotels
und Villen). Einen malerischen Anblick gewährt die Küste
ringsumher durch ihre jäh niederstürzenden, 30-60 m hohen
Felswände mit Höhlen und tiefen Einkerbungen. Die
Umgebung der Stadt enthält zahlreiche schöne Punkte (wie
das ehemalige Kloster Deserto, der Arco naturale, die Punta della
Campanella etc.). S., im Altertum Surrentum, war eine uralte,
anfänglich etruskische Stadt Kampaniens, später
römische Kolonie und ist Geburtsort Torquato Tassos, welchem
hier ein Denkmal errichtet worden ist.

Sört (Saird), Hauptort eines Liwa im
asiatisch-türk. Wilajet Bitlis, zwischen dem Bitlis Su und dem
östlichen Tigris (Schatt), ist Sitz eines nestorianischen
Bischofs, hat einige Moscheen und 5000 Einw.

Sorte (franz.), Art, Gattung, besonders von Waren oder
Geld; Sortenzettel, s. Bordereau.

Sortes ("Lose"), bei den Römern Losorakel, von denen
sich besonders die zu Antium, Cäre und Präneste
großen Ansehens erfreuten. Die letztern wurden geleitet durch
den Willen der Fortuna Primigenia (s. d.) und bestanden aus sieben
eichenen, mit alten Schriftzügen versehenen Stäbchen,
welche, nachdem der Befragende sich mit Gebet und Opfer an die
Göttin gewendet hatte, ein Knabe mischte, um sodann eins davon
zu ziehen. Mit Unrecht führen den Namen S. Praenestinae einige
inschriftlich erhaltene Prophezeiungen (vgl. Preller-Jordan,
Römische Mythologie, Bd. 2, S. 190). S. nannte man dann auch
die als Prophezeiungen verwendeten Stellen eines Buches (z. B. der
Bibel), welche durch Aufschlagen ermittelt wurden, oder auch auf
Blätter geschriebene Verse (namentlich des Vergil), die man
zog.

Sortie (franz., spr. ssortih), Ans-, Weggang; Ausfall,
Ausfallthor; s. de bal, leichter Damenumhang.

Sortieren (franz.), nach Sorten ordnen.

Sortiment (franz. assortiment), Sammlung von
Gegenständen derselben Gattung, aber von den verschiedensten
Arten, besonders in gehöriger Abstufung der Güte (vgl.
Assortiment); Sortimentshandel, s. Buchhandel, S. 574.

Sortita (ital.), die Eintrittsarie der Primadonna in der
italienischen Oper früherer Zeit, auf welche die Komponisten
großen Fleiß verwandten, um sie zu einer dankbaren und
brillanten Nummer zu gestalten.

Sorus (lat.), Fruchthäufchen, s. Farne, S. 51.

Sosandra, mutmaßlicher Beiname der Aphrodite, von
welcher Kalamis (s. d.) eine berühmte Statue (auf der
Akropolis zu Athen) gemacht hatte.

Sosh (Ssosh), Nebenfluß des Dnjepr in
Rußland, durchfließt die Gouvernements Smolensk und
Mohilew und ist durch seine Schiffbarkeit für den Handel
wichtig.

47

Sosier - Sottie.

Sosier (Sosii), Name einer Buchhändlerfirma im alten
Rom, zur Zeit des Augustus, welche einen großen, von Horaz
rühmend erwähnten Betrieb hatte; deshalb typischer Name
für angesehene Buchhändler.

Sosiphanes, griech. Tragiker der sogen. Pleias, aus
Syrakus, lebte um 300 v. Chr. und soll 73 Tragödien
geschrieben haben, von denen aber nur geringe Fragmente (bei Nauck:
"Tragicorum graecorum fragmenta", 2. Aufl., Leipz. 1889) erhalten
sind.

Sositheos, griech. Tragiker der sogen. Pleias, aus
Alexandria in Troas, lebte um 280 v. Chr. zu Athen und Alexandria
in Ägypten und gilt als Wiederhersteller des Satyrspiels. Von
seinen Dramen sind nur spärliche Fragmente erhalten (bei
Nauck: "Tragicorum graecorum fragmenta", 2. Aufl., Leipz.
1889).

Sosna (Ssosna), Fluß im russ. Gouvernement Orel,
fließt zwischen waldlosen, steilen Ufern hin und mündet
von rechts in den Don; 220 km lang.

Sosniza (Ssosniza), Kreisstadt im russ. Gonvernement
Tschernigow, unweit der Mündung der Ubeda in die Desna, hat 5
Kirchen, ein Stadtkrankenhaus und (1885) 6774 Einw., welche sich
vornehmlich mit Ackerbau und Tabaksanpflanzung beschäftigen.
Ursprünglich eine Stadt des Tschernigower Fürstentums,
stand S. lange unter polnischer Herrschaft, bis es 1686 die Russen
wieder in Besitz nahmen.

Sóso, afrikan. Stadt, s. Saria.

Sosos, griech. Mosaikkünstler, der wahrscheinlich
zur Zeit der Attaliden zu Pergamon thätig war. Dort befand
sich sein berühmtes Werk mit den vier trinkenden oder sich
sonnenden Tauben auf dem Rand eines Wassergefäßes, aus
natürlichen Steinen zusammengesetzt, wovon sich eine
römische Nachbildung im kapitolinischen Museum zu Rom
befindet.

Sospel (ital. Sospello), Stadt im franz. Departement
Seealpen, Arrondissement Nizza, in einem tiefen Thal an der Bevera
und an der Straße zum Col di Tenda, hat Reste alter
Befestigungen und (1881) 3097 Einw.

Sospirante (ital.), seufzend.

Sospiro (ital., franz. soupir, "Seufzer"), in der
Notenschrift s. v. w. Viertelpause.

Sospita (auch Sispita, Sospes, Sispes, "Erretterin,
Heilbringerin"), Beiname besonders der Juno, als welche sie
namentlich in Lanuvium, aber auch in Rom verehrt wurde, angethan
mit Ziegenfell, welches ihr zugleich als Helm und als Panzer
diente, gebogenen Schnabelschuhen, Schild und Spieß. Eine
vorzügliche Statue derselben enthält das vatikanische
Museum zu Rom.

Sospität (lat.), Wohlsein, Wohlstand.

Sostenuto (ital.), s. v. w. gehalten, eine
Tempobezeichnung, die etwa mit Andante oder Adagio
übereinstimmt, zu welchen beiden es auch als Zusatz
auftritt.

Sotades, griech. Dichter, aus Maroneia in Thrakien, lebte
in Alexandria unter Ptolemäos Philadelphos (um 280 v. Chr.)
und soll auf Geheiß des Königs, dessen Ehe mit seiner
leiblichen Schwester Arsinoe er verspottet hatte, ersäuft
worden sein. Er verfaßte im ionischen Dialekt und einem
eigentümlichen nach ihm benannten Metrum (Sotadeen,
Grundschema: ^^^^^^^^^^^^^^) boshafte Spottgedichte und
mythologische Travestien zum Teil unzüchtigen Inhalts, welche
auf mündlichen Vortrag unter mimischer Tanzbegleitung
berechnet waren. Diese sogen. Sotadische Dichtgattung fand
zahlreiche Nachahmer. Vgl. Sommerbrodt, De phlyacographis Graecorum
(Bresl. 1875).

Soetbeer (spr. söt-), Adolf, deutscher
Nationalökonom, geb. 23. Nov. 1814 zu Hamburg, studierte
Philologie, wurde infolge seiner Schrift "Des Stader Elbzolls
Ursprung, Fortgang und Bestand" 1840 Bibliothekar der
Kommerzbibliothek und 1843 Sekretär und Konsulent der
Kommerzdeputation in Hamburg. Die Universität Kiel ernannte
ihn zum Ehrendoktor der Rechte. 1872 siedelte er nach
Göttingen über, wo er zum Honorarprofessor und Geheimen
Regierungsrat ernannt wurde. S. hat seit vielen Jahren eifrig
für eine deutsche Münzreform auf Grundlage der
Goldwährung gewirkt; auch der Münzgeschichte, der
Statistik der Flußschiffahrt, den Handelsverträgen
widmete er ein reges Interesse. Er übersetzte Mills
"Politische Ökonomie" (4. Ausg., Leipz. 1881, 3 Bde.), schrieb
Kommentare zum deutschen Münzgesetz und dem deutschen
Bankgesetz (Erlang. 1874-76) und veröffentlichte
außerdem: "Edelmetallproduktion und Wertverhältnis
zwischen Gold und Silber seit der Entdeckung Amerikas" (Gotha 1879)
und "Materialien zur Erläuterung und Beurteilung der
wirtschaftlichen Edelmetallverhältnisse und der
Währungsfrage" (2. Ausg., Berl. 1886).

Soteira (griech., "Retterin"), Name der Göttinnen,
welche als Schützerinnen eines Landes galten, z. B. der
Artemis in Korinth, der Athene in Athen.

Soter (griech., "Erhalter, Retter"), Beiname aller Stadt
und Land beschützenden Götter, des Zeus, Helios, Apollon,
Dionysos, Asklepios, Poseidon, Herakles etc.; auch Beiname vieler
Könige und Kaiser.

Soteriologie (griech.), die Lehre von Christus als dem
Erlöser (Soter).

Sothisperiode (Hundssternperiode), s. Periode.

Sotnie (russ.), bei den Kosaken s. v. w. Kompanie oder
Eskadron; Sotnik, der Kommandant einer S.

Soto, 1) (Sotus) Dominico de, gelehrter kathol. Theolog,
geb. 1494, war Dominikaner, beteiligte sich 1545-47 am Konzil von
Trient, war 1547-50 Beichtvater Karls V. und lebte später zu
Salamanca, wo er 1560 starb. Unter seinen Schriften ward namentlich
die "De justitia et jure" (Salam. 1556) dadurch berühmt,
daß sie dem Volk das Recht vindiziert, einen tyrannischen
Fürsten abzusetzen. Auch bekämpfte S. als einer der
ersten den Negerhandel.

2) Hernando de, span. Seefahrer, geboren um 1496 zu Villanueva
in Estremadura, machte erst Entdeckungsreisen auf Cuba, ward
Gouverneur von Santiago de Cuba, erbaute das 1528 von
französischen Seeräubern zerstörte Havana wieder,
begleitete dann 1532 Pizarro auf seiner Unternehmung gegen Peru und
kundschaftete das Land aus, zeigte sich human und mild und suchte
vergeblich Atahualpas Hinrichtung zu hindern, unternahm 1539 die
Eroberung Floridas und kam auf einer seiner Expeditionen 25. Juni
1542 um. Vgl. Garcilaso de la Vega, Historia del adelantado H. de
S. (Madr. 1723).

Sotteville (spr. ssott'wil, S. lès Rouen), Dorf im
franz. Departement Niederseine, links an der Seine, Rouen
gegenüber, an der Eisenbahn Paris-Le Havre, hat
Eisenbahnwerkstätten der Ostbahn, Baumwollspinnerei und
-Weberei, Fabriken für Chemikalien, Seilerwaren, Öl,
Seife etc. und (1886) 13,628 Einw.

Sottíe (franz. sotie, von sot, "Narr"),
Narrenspiel, Name einer Art dramatischer Possen oder Satiren,
welche wie die Moralitäten und Farcen den Anfangszeiten des
französischen Dramas angehörten, und deren Personen
Narren waren. Sie wurden von den Enfants sans souci (s. d.), dann
auch von den Mitgliedern der Bazoche (s. d.) aufgeführt und
zeichneten sich besonders durch die Plumpheit ihrer Rollen und
kühn tadelnde Sprache aus. Seit Gringore (s. d.),

48

Sottise - Söul.

der viele solcher Stücke schrieb, meist mit typischen
Narrenfiguren, wie le prince Sot, la mère Sotte etc., wurden
sie ausgeführter und erhielten eine politisch- oder
kirchlich-satirische Zuspitzung. In der ersten Hälfte des 17.
Jahrh. verschwanden die Sottien allmählich von der Bühne
wie von der Straße. In Deutschland, wohin sich dieselben von
Frankreich aus auch verbreiteten, verschmolzen sie mit den
Fastnachtsspielen (s. d.).

Sottise (franz.), Albernheit; beleidigende Rede.

Sottovoce (ital., spr. ssottowohtsche), mit
gedämpfter Stimme, halblaut.

Sou (franz., spr. ssu. früher Sol), franz.
Kupfermünze, ehedem die Basis der französischen
Münzrechnung, 20 Sous = 1 Livre; jetzt das 1/20-Frank- oder
5-Centimesstück.

Soubise (spr. ssubihs'), Zwiebelpüree; à la
S., mit Zwiebelpüree.

Soubise (spr. ssubihs'), altes franz. Geschlecht, dessen
Güter und Titel 1575 durch die Verheiratung der Erbtochter des
Hauses, Catherine de Parthenay, mit dem Vicomte René II. von
Rohan auf das Geschlecht der Rohans übergingen.
Merkwürdig sind die beiden aus dieser Ehe entsprossenen und
als Kriegshäupter der Hugenotten berühmten Söhne:
der Herzog Henri von Rohan (s. d.) und Benjamin von Rohan, Baron
von Frontenai, als Erbe seiner Mutter Herr von S., geb. 1583. Er
focht schon unter Moritz von Oranien in den niederländischen
Feldzügen und schloß sich 1615 der Partei des Prinzen
Condé an. In den Religionskriegen, die unter Ludwig XIII.
1621 wieder begannen, führte er das Kommando über die
Hugenotten in den Provinzen Poitou, Bretagne und Anjou mit vieler
Umsicht und bewies besondere Tapferkeit bei der Verteidigung von
St.-Jean d'Angely, mußte aber 1622 vor der feindlichen
Übermacht nach La Rochelle zurückweichen. S.
bemächtigte sich darauf der Inseln Ré und Oleron
(Anfang 1625) sowie in dem Hafen Blavet an der bretagnischen
Küste der königlichen, aus 15 großen Schiffen
bestehenden Flotte. Dagegen mißlang seine Expedition nach der
Landschaft Médoc. Am 15. Sept. 1625 schlug ihn der Herzog
von Montmorency auf der Höhe der Insel Ré und vertrieb
ihn aus Oleron. S. unternahm darauf eine zweite Reise nach England,
wo er Karl I. bewog, nacheinander drei ansehnliche Flotten dem
bedrängten La Rochelle zu Hilfe zu schicken; gleichwohl fiel
dies letzte Bollwerk der Hugenotten. Obschon in den Frieden vom 29.
Juni 1629 eingeschlossen, blieb S. dennoch in England, um von hier
aus die Sache der Protestanten zu fördern. Er starb 9. Okt.
1642 in London, ohne Kinder zu hinterlassen. Die Güter und
Titel des Hauses S. erbte einer seiner Seitenverwandten,
François von Rohan. Ein Nachkomme dieses letztern war
Charles von Rohan, Prinz von S., Pair und Marschall von Frankreich,
geb. 16. Juli 1715; er begleitete Ludwig XV. als dessen Adjutant in
den Feldzügen von 1744 bis 1748 und nötigte 1746 Mecheln
zur Kapitulation, infolgedessen er 1748 zum Maréchal de Camp
und 1751 zum Gouverneur von Flandern und Hennegau ernannt wurde.
Bei Beginn des Siebenjährigen Kriegs mit dem Kommando
über ein Korps von 24,000 Mann betraut, eroberte er Wesel,
besetzte Kleve und Geldern und vereinigte sich mit der deutschen
Reichsarmee, um Sachsen von den Preußen zu säubern. In
Gotha aber im September von Seydlitz beim Diner im Schloß
überfallen, ergriff er eiligst die Flucht, und 5. Nov. erlitt
er bei Roßbach eine schimpfliche Niederlage. Gleichwohl
verlieh ihm Ludwig XV. das Portefeuille des Kriegsministers und
sandte ihn 1758 mit dem Herzog von Broglie wieder auf den
Kriegsschauplatz in Deutschland. Wiewohl zwischen beiden
fortwährende Eifersucht herrschte, errangen sie 10. Okt. 1758
bei Lutternberg doch einen Sieg, infolge dessen Hessen in ihre
Hände fiel. S. erhielt daher den Marschallsstab und behielt
das Kommando bis zum Friedensschluß von 1763. Nach dem Tode
der Pompadour fand er eine ebenso starke Stütze an der
Dubarry. Als Ludwig XV. starb, war er der einzige von den
Hofleuten, welcher den Leichnam bis zu seiner Bestattung nicht
verließ; dieser Zug der Ergebenheit bewog Ludwig XVI., S. die
Stelle im Ministerrat zu lassen. Er starb 4. Juli 1787, und mit ihm
erlosch die Linie von Rohan-S.

Soubrette (franz., spr. ssu-), Rollenfach der
französischen und deutschen Bühne. Eigentlich Zofe,
Kammerjungfer, mit dem Nebenbegriff der List und Verschmitztheit,
bezeichnet S. jetzt eine muntere oder komische jugendliche
Mädchenrolle und ist besonders in der modernen Operette u.
Posse zu Bedeutung gelangt.

Souche (franz., spr. ssuhsch), "Stumpf" am Stammregister
oder Juxtabuch (s. d.).

Souches (spr. ssuhsch), Louis Rattuit, Graf von,
kaiserlicher Feldherr, geb. 1608 zu La Rochelle als Sohn eines
protestantischen Edelmanns, verließ Frankreich nach dem
Hugenottenkrieg 1629 und begab sich erst in schwedische, dann in
kaiserliche Kriegsdienste, zeichnete sich im
Dreißigjährigen Krieg, insbesondere als tapferer
Verteidiger Brünns gegen die Schweden (1645), dann gegen die
Türken aus, eroberte 1664 Neutra, kämpfte bei St.
Gotthardt mit, ward Kammerherr, Hofkriegsrat und
Feldmarschallleutnant, befehligte 1674 die Kaiserlichen in den
Niederlanden, schadete aber den Unternehmungen der Verbündeten
durch sein verdächtiges, aus seinem Starrsinn und seiner
Unbotmäßigkeit erklärliches Zaudern, namentlich in
der Schlacht bei Senesse, so daß er abberufen wurde, und
starb 1682 in Mähren.

Soufflé (franz., Omelette soufflée),
Eierauflauf.

Soufflet (franz., spr. ssufla, Blasebalg), faltige
Seitenwände an Koffern etc., welche die
Vergrößerung des Raums ermöglichen.

Souffleur (franz., spr. ssuflör, "Einblaser"), am
Theater diejenige Person, welche, unter einem in der Mitte des
Proszeniums auf dem Podium angebrachten Kasten sitzend,
während der Vorstellung das Stück aus dem Buch abliest,
um dem Gedächtnis der Schauspieler zu Hilfe zu kommen.
Soufflieren, einem das zu Sagende zuflüstern, den S.
machen.

Soufflot (spr. ssufloh), Jacques Germain, franz.
Architekt, geb. 1713 zu Irancy bei Auxerre, studierte in Rom,
erbaute dann in Lyon das Hospital und ging 1750 zum zweitenmal nach
Italien. Nach seiner Rückkehr begann er sein Hauptwerk, die
Kirche Ste.-Geneviève in Paris (jetzt Panthéon),
deren großartige Kuppel zu den schönsten der Welt
gehört. Er erbaute auch die Sakristei und die Schatzkammer von
Notre Dame in Paris und starb 1781 daselbst.

Souffrance (franz., spr. ssufrangs), Leiden; auch s. v.
w. streitiger Posten (in einer Rechnung).

Souillac (spr. ssnják), Stadt im franz.
Departement Lot, Arrondissement Gourdon, an der Dordogne, mit
Handelsgericht, schöner Kirche (12. Jahrh.), Gewehrfabrik,
Gerberei, Färberei und (1881) 2749 Einw.

Söul, Hauptstadt des Königreichs Korea, am
rechten Ufer des Hanflusses, 45 km (nach dem Stromlauf 120 km) von
dessen Mündung in das Gelbe Meer, unter 37° 31'
nördl. Br. und 127° 19' östl. L. v. Gr., hat 150,000,
mit Einschluß der weithin sich erstreckenden

49

Soulagieren - Soult.

Vorstädte 300,000 Einw. Von Ausländern zählte man
1887: 619 (300 Chinesen, 263 Japaner, 26 Amerikaner, 11 Deutsche, 8
Engländer etc.). Die eigentliche Stadt liegt 5 km vom
Fluß, in einem Becken, das auf drei Seiten von Höhen
eingefaßt wird, an denen die Stadtmauer hinläuft, durch
welche vier den Haupthimmelsrichtungen entsprechende Thore
führen. Im Zentrum der Stadt steht ein hölzerner Turm,
dessen Glocke das Zeichen zum Öffnen und Schließen der
Thore gibt. Die Straßen sind eng und schmutzig, nur drei
können von Wagen benutzt werden; die Häuser sind niedrig
und ärmlich, auch die auf weiten, von Mauern umschlossenen
Plätzen erbauten Wohnungen der Vornehmen kaum besser. Die
weiten Plätze sind öde; einen Garten besitzt nur der
König, dessen Palastgebäude mit großem
Exerzierplatz, Teichen etc. 2,6 qkm bedecken und von einer 12 m
hohen Mauer eingefaßt werden, durch welche drei Thore
führen. S. ist Residenz des Königs und Sitz der Regierung
sowie der diplomatischen Vertreter Deutschlands, Englands, Japans,
Chinas, Rußlands und der Vereinigten Staaten von Nordamerika.
Die Industrie war früher weit bedeutender; nennenswerte
Produkte sind: Seide, Papier, Matten, Fächer, Dachziegel,
Tabak, Bürsten.

Soulagieren (franz., spr. ssulasch-), erleichtern,
helfen, erquicken; Soulagement (spr. ssulaschmáng),
Linderung, Unterstützung, Erleichterung.

Soulary (spr. ssu-), Josephin, eigentlich Joseph Marie,
franz. Dichter, geb. 23. Febr. 1815 zu Lyon, trat schon mit 16
Jahren in das Militär, wo er bis 1836 blieb. Schon von hier
aus schickte er an den "L'Indicateur de Bordeaux" seine poetischen
Versuche mit der Unterschrift "S. grenadier". 1840 erhielt er bei
der Präfektur des Rhônedepartements eine Anstellung.
Seine Dichtungen sind: "A travers champs" (1838); "Le chemin de
fer" (1839); "Les Éphémères" (2 Serien, 1846
und 1857); "Sonnets humoristiques" (Lyon 1857), welche J. Janins
Bewunderung erregten; "Les Figulines" (1862); "Les diables bleus"
(1870); "Pendant l'invasion"(1871); "La chasse aux mouches d'or"
(1876); "Les rimes ironiques" (1877), ein Lustspiel in Versen: "Un
grand homme qu'on attend" (1879) und "Promenade autour d'un tiroir"
(1886). Eine Sammlung seiner "OEuvres poetiques" erschien 1872-83
in 3 Bänden. Vgl. Mariéton, Jos. S. et la
Pléiade lyonnaise (Par. 1884).

Soulié (spr. ssu-), Melchior
Frédéric, franz. Novellist und Bühnendichter,
geb. 23. Dez. 1800 zu Foix, war eine Zeitlang Advokat, sodann
Steuerbeamter, später Dirigent einer Tischlerei und erhielt
endlich eine Stelle als Unterbibliothekar am Arsenal. Mit dem Jahr
1829 warf er sich ganz in die Romantik und lieferte nun eine lange
Reihe von Dramen und Melodramen, von denen aber nur das Shakespeare
nachgeahmte Trauerspiel "Roméo et Juliétte", die
Schauspiele: "Clotilde" und "La closerie des genêts"
bemerkenswert sind. Andre erschienen gesammelt als "Drames inconnus
(1879, 4 Bde.). Von seinen meist auf Erfolg beim großen
Publikum berechneten historischen und sonstigen Romanen sind
hervorzuheben: "Les deux cadavres". "Le magnétiseur", "Le
vicomte de Breziérs", "Le comte de Toulouse",
hauptsächlich aber "Le lion amoureux" und "Les mémoires
du diable", sorgfältige psychologische Studien, welche durch
dramatische Lebendigkeit, phantastische Situationen und
blühenden Feuilletonstil das Publikum fesselten. S. starb 23.
Sept. 1847 in Bièvre bei Paris. Vgl. Champion, Fréd.
S. (Par. 1847).

Soulouque (spr. ssuluhk), Faustin, als Faustin I. Kaiser
von Haïti, geb. 1782 als Negersklave im Distrikt Petit Goyave
auf der Insel Haïti, erhielt 1793 nach Aufhebung der Sklaverei
seine Freiheit, wurde 1804 Bedienter des Generals Lamarre,
später dessen Adjutant, 1810 unter dem Präsidenten
Pétion Leutnant, 1820 unter Boyer Hauptmann. 1843 zum
Obersten befördert und dann zum General und Oberbefehlshaber
der Präsidialgarde ernannt, erhielt er 1846 die Kommandantur
von Port au Prince und ward 1. März 1847 vom Senat zum
Präsidenten der Republik erwählt, wiewohl er weder lesen
noch schreiben konnte. Im höchsten Grad argwöhnisch und
besonders die über seine Unwissenheit und seinen Aberglauben
spottenden Mulatten fürchtend, schürte er den Haß
des schwarzen Pöbels gegen die Mulattenbourgeoisie und
ließ unter dem Vorwand einer Verschwörung derselben vom
16. April 1848 an in Port au Prince ein viertägiges Blutbad
unter denselben anrichten. Darauf votierte die
Repräsentantenkammer 3. Dez. 1848 dem Diktator ihren Dank,
daß er das Vaterland und die Verfassung gerettet habe. Ein
Feldzug gegen die "rebellischen Mulatten" von San Domingo im
März 1849 endete mit einem schmählichen Rückzug.
Gleichwohl veranstaltete man im August 1849 zu Port au Prince eine
Petition an die Kammern, wodurch das haïtische Volk aus
Dankbarkeit S. den Kaisertitel übertrug; der Senat willigte
ein, und zu Weihnachten 1850 ließ er sich als Faustin I.
öffentlich als erblicher Kaiser krönen. Eine nochmalige
feierliche Krönung erfolgte 18. April 1852. Sein Hofstaat
wurde nach französischem Muster kopiert, und auch seine
Staatseinrichtungen waren eine Karikatur der Napoleonischen. Nach
seiner Thronbesteigung stiftete er zwei Orden, nämlich den
Orden des heil. Faustin für Militärpersonen und den
Ehrenlegionsorden für Zivilisten. Seine wiederholten Versuche,
San Domingo zu unterwerfen, scheiterten kläglich. Im Innern
herrschte er verschwenderisch und grausam, so daß die
Erbitterung gegen ihn schließlich allgemein wurde. Als
General Geffrard 22. Dez. 1858 zu Gonaïves die Republik
proklamiert hatte und S. gegen ihn auszog, ging der
größte Teil seiner Truppen zu den Insurgenten über.
Am 15. Jan. 1859 wurde S. in seiner Hauptstadt Port au Prince durch
Verrat gefangen; doch schonte man sein Leben und ließ ihn
nach Jamaica übersiedeln. Nach dem Sturz Geffrards 1867
erhielt er die Erlaubnis zur Rückkehr in die Heimat und starb
4. Aug. d. J. in Petit Goyave.

Soult (spr. ssult), Nicolas Jean de Dieu, Herzog von
Dalmatien, franz. Marschall, geb. 29. März 1769 zu St.-Amans
la Bastide (Tarn) als Sohn eines Landmanns, trat 1785 als Gemeiner
in das Regiment Royal-Infanterie, ward 1791 Offizier, bald darauf
Kapitän und zeichnete sich unter Custine und Hoche aus. 1794
zum Brigadegeneral ernannt, focht er 1796 und 1797 am Main und
Rhein, befehligte 1799 eine Brigade in der Avantgarde unter
Lefebvre bei der Donauarmee und erwarb sich hierauf als Führer
einer Division besonders in der Schlacht von Stockach (25.
März) hohen Ruhm. Dafür zum Divisionsgeneral ernannt und
zu der Armee in der Schweiz unter Masséna versetzt,
unterwarf er die widerspenstigen kleinen Kantone, überfiel,
während Masséna die Russen schlug, die
Österreicher und verfolgte auch die russischen
Heerestrümmer. 1800 übernahm er unter Massénas
Oberkommando den Befehl über den rechten Flügel der
italienischen Armee und wurde, bei einem Ausfall aus Genua schwer
ver-

Meyers Konv.-Lexikon, 4. Aufl., XV. Bd.

4

50

Soultz - Soust de Borkenfeldt.

wundet, gefangen. Nach der Schlacht von Marengo in Freiheit
gesetzt, erhielt er den Oberbefehl in Piemont, wo er mit kluger
Mäßigung die ausbrechenden Aufstände zu
dämpfen wußte. 1802 wurde er zum Generalobersten der
Konsulargarde ernannt und befehligte von 1803 bis 1805 die Truppen
im Lager von Boulogne. Bei Napoleons I. Thronbesteigung ward er zum
Marschall erhoben. 1805-1807 befehligte er das 4. Armeekorps bei
Austerlitz, Jena und Eylau. Nach dem Tilsiter Frieden zum Herzog
von Dalmatien ernannt, erhielt er 1808 das Kommando der
Zentralarmee in Spanien. Er bestand hier 16. Juni 1809 gegen das
britische Heer den blutigen Kampf bei Coruña,
überschritt Anfang März den Minho und trieb das
britisch-portugiesische Heer bis Porto zurück. An Jourdans
Stelle zum Generalstabschef der Armee in Spanien ernannt, schlug er
12. Nov. 1809 die spanische Armee bei Ocaña, nahm 1810
Sevilla und trieb die Spanier nach Cadiz zurück. Am 11.
März 1811 eroberte er Badajoz und lieferte 16. Mai den
Engländern und Portugiesen die Schlacht bei Albuera. 1813
übernahm er in der Schlacht bei Großgörschen an
Bessières' Stelle das Kommando über die Gardeinfanterie
und befehligte bei Bautzen das Zentrum, ward aber dann wieder nach
Bayonne geschickt, um Wellingtons weiterm Vordringen Schranken zu
setzen. Er drang Ende Juli von neuem in Spanien ein, ward aber bei
Cubiry (27. Juli) mit großem Verlust zurückgeschlagen.
Ein zweiter Versuch des Vordringens (Ende August) endete mit seiner
Niederlage bei Irun und seinem Rückzug nach Bayonne. Obwohl er
27. Febr. 1814 die Schlacht bei Orthez verlor, lieferte er
Wellington noch 10. April mit kaum 20,000 Mann die blutige Schlacht
von Toulouse. Erst am 12. räumte er Toulouse und schloß,
indem er sich zugleich dem König von Frankreich unterwarf, am
19. einen Waffenstillstand. Er wurde von Ludwig XVIII. zum
Gouverneur der 13. Militärdivision, 3. Dez. 1814 aber an
General Duponts Stelle zum Kriegsminister ernannt. Als Napoleon 1.
März bei Fréjus landete, dankte S. ab; er zog sich auf
ein Landgut bei St.-Cloud zurück, erschien erst nach
mehrmaliger Aufforderung bei Napoleon und übernahm 11. Mai die
Stelle eines Generalstabschefs. Er befand sich in den Schlachten
von Ligny und Waterloo an Napoleons Seite, übernahm, als
dieser in Laon die Armee verließ, das Oberkommando derselben
und leitete den Rückzug bis Soissons. Durch die
königliche Ordonnanz vom 12. Jan. 1816 aus Frankreich
verbannt, ging er nach Düsseldorf. 1819 erhielt er die
Erlaubnis zur Rückkehr und ward sei 1821 wieder unter den
Marsch allen aufgeführt und 1827 zum Pair erhoben. Von Ludwig
Philipp 18. Nov. 1830 zum Kriegsminister ernannt, behauptete er
sich beinahe vier Jahre (bis 1834) auf seinem Posten und erhielt
auch im Mai 1832 die Präsidentschaft im Kabinett. Im Mai 1839
übernahm er nach Molés Sturz von neuem das
Präsidium im Kabinett zugleich mit dem Portefeuille des
Auswärtigen, doch scheiterte dieses liberale Ministerium schon
im Januar 1840 an der Dotationsfrage. Nach Thiers' Rücktritt
ließ sich S. 29. Okt. 1840 nochmals zur Übernahme des
Portefeuilles des Kriegs und der Präsidentschaft bewegen,
legte aber 1846 ersteres und 1847 letztere nieder und ward zum
Maréchal général de France ernannt. Er starb
26. Nov. 1851 auf seinem Schloß in St.-Amans. Seine wertvolle
Gemäldesammlung, die er in den spanischen Feldzügen
zusammengeraubt, trug bei der Versteigerung fast 1½ Mill.
Frank ein. S. war ohne höhere Bildung, besaß aber um so
mehr natürlichen Scharfblick, große Bravur und
glühenden Ehrgeiz. Er galt für den besten Taktiker unter
Napoleons Generalen. Die 1816 geschriebenen Memoiren des Marschalls
gab sein Sohn heraus (I. Teil: "Histoire des guerres de la
Révolution", 1854, 3 Bde.). Vgl. Combes, Histoire
anecdotique de Jean de Dieu S. (Par. 1870). - Sein Sohn Hector
Napoléon S., Herzog von Dalmatien, geb. 1801, diente unter
der Restauration im Generalstab und betrat 1830 die diplomatische
Laufbahn. Er war erst französischer Gesandter in den
Niederlanden, dann zu Turin und bekleidete seit 1844 dieselbe
Stelle zu Berlin. Vor der Februarrevolution Mitglied der Zweiten
Kammer, trat er 1850 in die Legislative und verfocht hier die Sache
der Orléans. Nach dem Staatsstreich vom 2. Dez. 1851 trat er
ins Privatleben zurück und starb 31. Dez. 1857. Des Marschalls
Bruder, Pierre Benoît S., geb. 20. Juli 1770 zu St.-Amans,
schwang sich in den Kriegen der Republik und des Kaiserreichs
ebenfalls zu höhern Chargen empor und starb als
Generalleutnant 7. Mai 1843 in Tarbes.

Soultz, Stadt, s. Sulz.

Soumet (spr. ssuma), Alexandre, franz. Dramatiker, geb.
8. Febr. 1788 zu Castelnaudary, folgte frühzeitig seiner
Neigung zur Poesie und begründete seinen Ruhm 1814 durch die
rührende Elegie "La pauvre fille". Er besang nacheinander das
Kaiserreich, die Restauration und die Juliregierung und wurde von
allen belohnt; 1815 erhielt er von der Akademie Preise für die
Gedichte: "La découverte de la vaccine" und "Les derniers
moments de Bayard", trat 1824 in die Akademie und starb 30.
März 1845 als Bibliothekar in Compiègne. Am meisten
berühmt ist er wegen seiner Tragödien und Epen. In der
Mitte stehend zwischen Klassizität und Romantizismus, hat er
eine gewisse Mittelmäßigkeit nie überschritten;
doch wußte er sich durch kluges Eingehen auf die Ideen und
den Geschmack seiner Zeit großen Erfolg zu sichern. Von
seinen Tragödien sind zu nennen: "Clytemnestre" und
"Saül" (1822), Jeanne d'Arc" (1825), "Élisabeth de
France" (1828, eine lächerliche Bearbeitung von Schillers "Don
Karlos"), "Une fête de Néron" (1829) und einige andre,
an denen seine Tochter mitgearbeitet hat. Unter seinen Epen ist
bemerkenswert "La divine épopée" (1840, 2 Bde.; 2.
Aufl. 1841), die ab er weit hinter ihrem Vorbild, der
"Göttlichen Komödie", zurückbleibt. Das Thema ist
die Erlösung der Hölle durch Christus, aber die
Gedankenarmut sucht er durch wilde Phantasien und abgeschmackte
Ungeheuerlichkeiten zu verdecken. Einzelnes Gute findet sich in dem
Epos "Jeanne d'Arc" (1845). Außerdem schrieb er:
"L'incrédulité", Gedicht (1810); "Les scrupules
littéraires de Madame de Staël" (1814) u. a.

Souper (franz., spr. ssupeh), Abend-, Nachtessen;
soupieren, zu Abend essen. S. de Candide, Gastmahl, bei dem die
Gäste betrunken gemacht werden, um dann im Spiel etc.
ausgeplündert zu werden (nach Voltaires "Candide", 2).

Soupir (franz., spr. ssupihr. "Seufzer"), s. Sospiro.

Source (franz., spr. ssurs), Quelle, Ursprung.

Sourdeval (spr. ssurd'wall), Marktflecken im franz.
Departement Manche, Arrondissement Mortain, an der Bahnlinie
Montsecret-S., hat Granitbrüche, Fabrikation von Metallwaren,
Papier etc., Pferdehandel und (1881) 1534 Einw.

Sous bande (franz., spr. ssu bangd), unter Kreuz- oder
Streifband.

Soust de Borkenfeldt, Adolphe van, belg. Dichter und
Kunsthistoriker, geb. 6. Juli 1824 zu Brüssel,

51

Soutache - Southey.

gest. 23. April 1877 als Chef der Abteilung für die
schönen Künste im Ministerium des Innern daselbst. Von
seinen Dichtungen, welche der vlämischen Bewegung in seinem
Vaterland wie der Wiedergeburt des Deutschen Reichs galten, sind zu
nennen: "Rénovation tlamande", "Venise sauvée" und
"L'année sanglante" (Lond. 1871, unter dem Pseudonym Paul
Jane; deutsch von Dannehl, Bresl. 1874); von seinen
kunstgeschichtlichen und kunstkritischen Büchern:
"Études sur l'état présent de l'art en
Belgique" (1858) und "L'école d'Anvers".

Soutache (franz., spr. ssutásch), Litzenbesatz;
soutachieren, mit Litzenbesatz verzieren.

Soutane (franz., spr. ssu-), ein von den katholischen
geistlichen nicht im Amt getragener, langer, eng anliegender Rock
mit engen Ärmeln, von oben bis unten durch dicht gesetzte
Knöpfe verschlossen, bei Kardinälen hochrot, bei
Bischöfen und Hausprälaten des Papstes violett, beim
Papst weiß, bei allen übrigen Geistlichen schwarz; von
derselben Farbe der dazu gehörende Gürtel. Die erst
angehenden Kleriker pflegen die kürzere Soutanelle zu
tragen.

Soutenieren (franz., spr. ssu-), (aufrecht) halten,
stützen, unterstützen; bewähren, behaupten.

Souterrain (franz., spr. ssuterrang), das zum Teil in den
Erdboden versenkte Geschoß eines Hauses, zu Wohnungen,
Geschäfts- und Wirtfchaftsräumen dienend. Im ersten Fall
muß es eine lichte Höhe von mindestens 2,6 m besitzen,
wovon 1,6 m über dem Erdboden sich befinden müssen; auch
soll es nach Süden oder SO. gelegen und zum Schutz gegen
Bodenfeuchtigkeit mit Isolierschichten versehen sein.

Souterraine, La (spr. ssuterrähn), Stadt im franz.
Departement Creuse, Arrondissement Guéret, an der Sedelle
und der Eisenbahn Orléans-Limoges, in einer an
römischen Ruinen und vorhistorischen Denkmälern reichen
Gegend, mit befestigtem Thor, einer Kirche aus dem 12. Jahrh.,
Fabrikation von Holzschuhen und Faßdauben, Tuch,
Bierbrauerei, Handel mit Vieh, Wein und Likör und (1881) 2978
Einw., von denen namentlich viele als Maurer periodisch
auswandern.

Southampton (spr. ssauthammt'n), Stadt in Hampshire
(England), auf einer durch den Zusammenfluß des Itchin und
Test gebildeten Halbinsel, im Hintergrund der Southampton Water
genannten, 16 km tiefen Bucht, an deren Mündung die Insel
Wight liegt. Von den alten Stadtmauern sind noch Reste und ein Thor
(Bargate) übrig, aber die Stadt hat sich bedeutend über
dieselben ausgedehnt. Unter den gottesdienstlichen Gebäuden
ist die normännische St. Michaeliskirche die älteste; ihr
schlanker Turm dient den Seefahrern als Merkmal. Das Spital Domus
Dei, aus der Zeit Heinrichs III., ist eins der ältesten
Englands. S. besitzt im Hartley Institution eine Schule für
Wissenschaft und Kunstgewerbe mit Museum (seit 1872), eine
Seeschule und die Zentralstelle der großbritannischen
Landesaufnahme (Ordnance Survey Office). Im N. liegen zwei Parke,
in deren einem ein Denkmal des geistlichen Liederdichters Watts
steht, der, ebenso wie der Seeliederdichter Dibdin, hier geboren
wurde. Die Bevölkerung der Stadt ist rasch gewachsen; sie
betrug 1831 erst 19,324, 1881 aber 60,051 Seelen. Die Industrie
beschränkt sich fast nur auf Maschinen- und Schiffbau. S. ist
vorwiegend Handelsstadt, und seine trefflichen Docks (25,5 Hektar
Wasserfläche) lassen zu jeder Zeit die größten
Schiffe zu. Es ist Haupthafen für den Postdampferverkehr mit
Ostindien (die Peninsular and Oriental Company hat ihre Werfte
hier), mit Afrika, Südamerika und Westindien, der Iberischen
Halbinsel und durch Vermittelung der Bremer Dampfer auch mit
Nordamerika. Zum Hafen gehörten 1887: 328 Schiffe (100
Dampfer) von 73,970 Ton. Gehalt. Den Wert der Einfuhr schätzte
man im genannten Jahr auf 6,719,110 Pfd. Sterl., den der Ausfuhr
auf 2,640,935 Pfd. Sterl. S. ist Sitz eines deutschen Konsuls. In
der Nähe Southamptons liegt die malerische Ruine von Netley
Abbey (s. d.) und gegenüber der von Wilhelm dem Eroberer
angelegte New Forest. Vgl. Davies, History of S. (1883).

South Bend (spr. ssauth), Stadt an der Nordgrenze des
nordamerikan. Staats Indiana, am schiffbaren St. Josephsfluß,
mit zahlreichen Mühlen, dem katholischen Notre
Dame-Collège und (1880) 13,280 Einw.

Southcott (spr. ssauth-), Johanna, Schwärmerin, die
einige Zeit in London die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich
zog. Geb. 1750, gab sie sich 1801 für das in der Offenbarung
Johannis (12, 1) erwähnte Sonnenweib aus und betrieb nebenbei
einen gewinnreichen Handel mit Siegeln, welche die Kraft haben
sollten, die ewige Seligkeit zu verleihen. Schon über 60 Jahre
alt, behauptete sie 1814, mit dem wahren Messias schwanger zu sein,
und fand mit dieser Behauptung bei Tausenden Glauben, der selbst
dadurch nicht bei allen Anhängern (Neuisraeliten, Sabbatianer)
erschüttert ward, daß sie 27. Dez. starb, ohne
überhaupt schwanger gewesen zu sein. Vgl. Fairburn, The life
of J. S. (Lond. 1814).

Southend (spr. ssauth-), beliebtes Seebad in der engl.
Grafschaft Essex, links an der Mündung der Themse, mit 2 km
langer Landebrücke und (1881) 7979 Einw.

Southey (spr. ssauthí), Robert, engl.
Geschichtschreiber und Dichter, als solcher zur "Seeschule" zu
zählen, geb. 12. Aug. 1774 zu Bristol, Sohn eines
Leinwandhändlers, besuchte die Westminsterschule, die er aber
nach vier Jahren wegen eines Artikels gegen die körperliche
Züchtigung auf englischen Schulen, den er in der von ihm
begründeten Zeitschrift "Flagellant" erscheinen ließ,
verlassen mußte. Er studierte in Oxford Theologie, ohne als
Unitarier Aussicht auf ein Kirchenamt zu haben. Seine exzentrischen
Ansichten führten ihn mit Coleridge zusammen, dessen Plan, in
Amerika einen freien Staat zu gründen, seinen Beifall fand.
Die ihn damals beherrschenden Ideen spiegeln sich in der
Tragödie "Wat Tyler", die ohne seine Zustimmung
veröffentlicht, von ihm selbst später verworfen ward, wie
er überhaupt bald von den Extremen zurückkam. Ein Band
Gedichte (1794) machte keinen Eindruck, mehr das Epos "Joan of
Arc", das von reicher Phantasie, aber auch von jugendlicher
Überspannung zeugt. In Bristol hielt er, um sein Leben zu
fristen, geschichtliche Vorträge, bis ihn sein Oheim im
November 1795 mit sich nach Lissabon nahm. Vor der Abreise
vermählte sich S. heimlich mit Miß Fricker. Nach sechs
Monaten kehrte er zurück und widmete sich in London dem
Rechtsstudium und angestrengter litterarischer Thätigkeit.
1800 finden wir ihn wieder in Portugal, dann aber lebte er in Greta
bei Keswick in Cumberland, nur 1802 als Sekretär des Kanzlers
der Schatzkammer von Irland, Carry, etwa auf Jahresfrist abwesend.
1807 erlangte er eine Staatspension und wurde 1813 poet-laureate.
Seit 1839 infolge einer Lähmung bewußtlos, starb er 21.
März 1843. Seine litterarische Thätigkeit ist
bewunderungswürdig: er schrieb 109 Bände und 52 Artikel
zum "Annual Review", 3 zum "Foreign Quarterly", 94 zum "Quarterly
Revier", und stets machte er umfassende Studien zu seinen Arbeiten.
Das 1801 veröffentlichte epische Gedicht "Thalaba, the
destroyer" ist eins

4*

52

South Paß City - Souvestre.

arabische Erzählung in reimlosen Versen (deutsch zum Teil
von Freiligrath); 1804 folgten: "Metrical tales", 1805 "Madoc",
eine wallisische Sage behandelnd; 1810 "The curse of Kehama", seine
größte Dichtung, eine auf Hindusagen beruhende
phantastische Erzählung; 1814 "Roderick, the last of the
Goths", ein wieder in Blankversen abgefaßtes Gedicht, das die
Zerstörung des Westgotenreichs durch die Araber besingt. Unter
Southeys kleinern Gedichten zeichnen sich die Balladen aus (z. B.
"Mary, the maid of the inn"); als Hofpoet verherrlichte er im
"Carmen triumphale" Wellingtons Siege und dichtete Oden aus den
Prinz-Regenten und die alliierten Monarchen. Die "Vision of
judgment" (1821) ward von Byron, der darin das Haupt der
"satanischen Schule" heißt, schonungslos gegeißelt.
Bedeutend ist S. als Biograph und Geschichtschreiber. Stilistisch
vollendet ist das oft aufgelegte "Life of Nelson" (1813; deutsch,
Stuttg. 1837), dem sich "Lives of the British admirals" (4 Bde.)
und "Life of Vesley" (1820; deutsch, Hamb. 1841) anreihen. Auch
hinterließ er eine "History of Brazil" (1810-19, 3 Bde.) und
eine "History of the Peninsular war" (1823-28, 2 Bde.) sowie
religiöse, soziale und politische Schriften. Hierher
gehören: "The book of the church" (3. Aufl. 1825), "Letters
from England by Don Manuel Espriella" (1807, 3 Bde.), "Colloquies
on the progress and prospects of society" (1829, 2 Bde.); ferner:
"The Doctor", die beste seiner Prosaschriften, voll scharfsinniger
Gedanken und Bemerkungen (1834-37, 5 Bde.; neue Ausg. 1856), und
"Omniana" (1812, 2 Bde.). Die Diktion ist überall klar und
kräftig; Parteilichkeit und starke Subjektivität wirken
indessen oft störend. Endlich gab er die "Select works of
British poets from Chaucer to Jonson" (1836) sowie Umarbeitungen
mittelalterlicher Romane (z. B. "Amadis of Gaul", 1803, 4 Bde.)
heraus. Southeys "Poetical works" erschienen gesammelt in 11
Bänden London 1820, in 10 Bänden 1854, in 1 Band l863.
Vgl. "Life and correspondence of R. S." (hrsg. von seinem Sohn
Charles Cuthbert S., neue Ausg. 1862, 6 Bde.), seinen Briefwechsel
mit Karoline Bowles (1881) und die Biographien Southeys von Browne
(Lond. 1859), Dowden (das. 1880) und Dennis (Boston 1887).

South Paß City (spr. ssauth paß ssitti),
Hauptort des Bergbaubezirks am Sweetwater (Nebenfluß des
Platte) im nordamerikan. Territorium Wyoming, beim 2280 m hohen
South Paß.

Southport (spr. ssauth-), beliebtes Seebad in Lancashire
(England), 25 km nördlich von Liverpool (das "englische
Montpellier"), mit allen Annehmlichkeiten für Badegäste,
als Wintergarten, Aquarium, Landungsbrücke (1 km lang),
großer Markthalle, Konzertsaal etc. und (1881) 32,206 Einw.
Dicht dabei Birkdale mit 8706 Einw.

Southsea (spr. ssauth-ssih), Vorstadt von Portsmouth (s.
d.), der Insel Wight gegenüber, mit Fort, wird als Seebad viel
besucht.

Southwark (spr. ssáthärk), Stadtteil Londons,
der City gegenüber, mit der ihn vier Brücken verbinden,
hat (1881) 99,252 Einw. (als parlamentarischer Wahlbezirk aber
221,946). In ihm liegen die bemerkenswerte St. Saviour's-Kirche,
die Zentralstation der Londoner Feuerwehr, die Hopfen- und
Malzbörse, die Brauerei von Barclay u. Perkins etc.

Southwell (spr. ssauth-), Stadt in Nottinghamshire
(England), mit Kathedrale und (1881) 2866 Einw.

Southwold (spr. ssauth-), Flecken in der engl. Grafschaft
Suffolk, mit (1881) 2107 Einw. Auf der Reede bei S. (der sogen.
Solebai) 7. Juni 1672 Seeschlacht zwischen der englischen Flotte
unter dem Herzog von York (nachmaligem König Jakob II.) und
der holländischen unter de Ruyter.

Soutien (franz., spr. ssutjang), Stütze,
Unterstützung, Rückhalt; im Militärwesen s. v. w.
Unterstützungstrupp, die hinter einer ausgeschwärmten
Schützenlinie geschlossen zurückbleibende
Truppenabteilung, welche nach Erfordernis in das
Schützengefecht einzugreifen hat; s. auch
Sicherheitsdienst.

Soutmann (spr. saut-), Peter, niederländ. Maler und
Kupferstecher, geboren um 1590 zu Haarlem, bildete sich bei Rubens
in Antwerpen, nach dessen Gemälden und Zeichnungen er eine
Anzahl von Radierungen (vier Jagden, der wunderbare Fischzug, das
Abendmahl nach Leonardo da Vinci) fertigte, und welchem er auch bei
der Ausführung seiner Bilder half, und soll von 1624 bis 1628
als Hofmaler des Königs in Polen thätig gewesen sein.
Seit 1628 war er wieder in Haarlem ansässig, wo er eine
Werkstatt von Kupferstechern gründete, die unter seiner
Leitung nach eignen und fremden Zeichnungen, besonders nach Rubens,
stachen. S. selbst schloß sich in Haarlem mehr dem Frans Hals
an, in dessen Art er mehrere Bildnisse und Schützenstücke
malte und dekorative Malereien im Huis ten Bosch im Haag
ausführte. Er starb 16. Aug. 1657.

Souvenir (franz., spr. ssuw'nihr), Andenken, Geschenk zum
Andenken; auch s. v. w. Notizbuch.

Souveraind'or (spr. ssuwerän-), früher für
die österreich. Niederlande geprägte Goldmünze,
22¼ Karat sein, im Wert von 14,224 Mk.

Souverän (franz. souverain, v. mittellat. superanus,
"zuoberst befindlich"), höchst, oberst, oberherrlich,
unabhängig. So spricht man von einem souveränen Urteil,
von welchem es keine Berufung an ein höheres Gericht gibt;
einem souveränen Heilmittel, das unfehlbar gegen ein
bestimmtes Leiden wirkt; von souveräner Verachtung etc.
Namentlich aber wird im Staats- und Völkerleben der Inhaber
der höchsten Gewalt im Staat, welche von keiner andern Macht
abhängig ist, als S. und jene höchste Machtvollkommenheit
(Staatshoheit) selbst als Souveränität bezeichnet; daher
Souveränitätsrechte, s. v. w.. Hoheitsrechte (s. Staat).
Vgl. Suzeränität.

Souvestre (spr. ssuwéstr), Emile, franz. Roman-
und Bühnendichter, geb. 15. April 1806 zu Morlaix
(Finistère), ließ sich 1836 dauernd in Paris nieder,
machte sich zuerst durch Schilderungen der Bretagne: "Le
Finistère en 1836", "La Bretagne pittoresque" (1841),
bekannt und lieferte dann eine große Anzahl Romane, auch
Dramen und Vaudevilles, welche ein reiches Talent für
Beobachtung, aber wenig Erfindungskraft bekunden. In seinen Romanen
tritt die -philosophierende oder moralisierende (d. h. die den
Gegensatz zwischen arm und reich in sozialistischer Schärfe
hervorhebende) Richtung zu stark hervor. Hervorzuheben sind davon:
"Riche et pauvre" (1836); "Les derniers Bretons" (1837); "Pierre et
Jean" (1842) "Les Réprouvés et les Élus"
(1845); "Confessions d'un ouvrier" (1851); die von der Akademie
gekrönten: "Un philosophe sous les toits". "Au coin du feu"
und "Sous latonnelle" (1851); "Le memorial de famille" (1854).
Seine dramatischen Dichtungen, wie "Henri Hamelin", "L'oncle
Baptiste", "La Parisienne", "Le Mousse" etc., bilden den Gegensatz
zu Scribes Stücken, indem sie nicht, wie diese, die reichen,
sondern vorwiegend die besitzlosen Klassen als
Hauptrepräsentanten der Moral darstellen. Noch sind seine
geistvollen "Causeries historiques et lit-

53

Souvigny - Sozialdemokratie.

téraires" (1854, 2 Bde.) zu erwähnen. S. starb 5.
Juli 1854 in Paris. Eine Gesamtausgabe seiner auch teilweise ins
Deutsche übersetzten Werke erschien in der "Collection
Lévy" (60 Bde.).

Souvigny (spr. ssuwinji), Stadt im franz. Departement
Allier, Arrondissement Moulins, an der Eisenbahn
Moulins-Montluçon, mit alter gotischer Kirche (früher
Begräbnisort der Fürsten von Bourbon), Glasfabrikation,
Weinbau und (1881) 1943 Einw.

Souza (spr. ssusa), Adelaïde Marie Emilie,
Gräfin von Flahaut, dann Marquise von S., geborne Filleul,
franz. Schriftstellerin, geb. 14. Mai 1761 zu Paris, heiratete 1784
den Grafen Flahaut, floh, nachdem derselbe 1793 guillotiniert
worden, mit ihrem Sohn (dem nachherigen Adjutanten Napoleons I. und
spätern General Flahaut) nach England und ward dort durch
Mangel zur Schriftstellerei getrieben. So entstanden ihre
"Adèle de Sénanges" (Lond. 1794, 2 Bde.) und der
Roman "Émile et Alphonse" (Hamb. 1799, 3 Bde.). Nach ihrer
Rückkehr nach Paris heiratete sie 1802 den portugiesischen
Gesandten José Maria de S.-Botelho, der sich durch
Herausgabe einer Prachtausgabe der "Lusiaden" (Par. 1817) um die
Litteratur seines Vaterlandes verdient gemacht hatte. Es erschienen
darauf nacheinander: "Charles et Marie" (1802); "Eugène de
Rothelin" 1808, 2 Bde.); "Eugène et Mathilde" (1811, 3
Bde.); "Mademoiselle de Tournon" (1820, 2 Bde.); "La comtesse de
Fargy" (1823, 4 Bde.) u. a. S. starb 16. April 1836 in Paris. Man
rühmt ihren Schriften treffende Schilderung der
Leidenschaften, gute Beobachtung, klaren und geistreichen Stil und
äußerste Delikatesse in Situationen und Worten nach.
Ihre "OEuvres complètes" erschienen 1811-22, 6 Bde.; Auswahl
1840 u. öfter.

Sóvár (Soóvár, Salzburg),
Dorf im ungar. Komitat Sáros, südlich von Eperies, mit
(1881) 1307 slowakischen und deutschen Einwohnern, großem
Salzsiedewerk, Forst- und Bergamt. Der Sóvárer
Gebirgszug der Karpathen erstreckt sich zwischen der Tarcza und
Topla von Bartfeld in südlicher Richtung bis an die Tokayer
Berge (die Hegyalja). Vgl. Gesell, Geologische Verhältnisse
des Steinsalzbergbaugebiets von S. (Pest 1886).

Sovereign (spr. ssowwerin), seit 1816 ausgeprägte
brit. Goldmünze, = 1 Pfund Sterling (s. d.).

Sovrano, frühere lombardisch-venez. Goldmünze
von 40 Lire austriache, = 28,4548 Mk.

Sow., bei naturwissenschaftl. Namen Abkürzung
für James Sowerby (s. d.).

Sowerby (spr. ssauerbi), zwei aneinander stoßende
Städte (S. und S. Bridge), im westlichen Yorkshire (England),
am Calder, südwestlich von Halifax, mit Baum- und
Kammwollspinnerei, chemischen Fabriken, Wachstuchfabrikation und
(1881) 14,903 Einw.

Sowerby (spr. ssauerbi) James, Naturforscher und Maler,
geb. 21. März 1757 zu London, besuchte die königliche
Akademie, widmete sich dann aber den Naturwissenschaften, speziell
der Botanik und Malakozoologie. Er starb 25. Okt. 1822 in Lambeth.
Von seinen Arbeiten sind hervorzuheben: "Coloured figures of
English Fungi" (Lond. 1797-1809, 3 Bde. u. Supplement); "English
botany" (das. 1790-1814, 36 Bde. mit 2592 kolorierten Tafeln;
Supplement 1831 ff.; 3. Aufl. von Syme, 1863-72, 11 Bde.); "Mineral
conchology" (das. 1841, 6 Bde.; deutsch von Desor und Agassiz). Die
letzten beiden großen Werke setzte sein Sohn James de Carle
S., geb. 1787, gest. 1854, fort. Dieser gab auch heraus: "The ferns
of Great Britain" (mit Johnson, Lond. 1855); "The fern-allies"
(das. 1856); "Grasses of Great-Britain" (das. 1857-58, neue Ausg.
1883); "British wild flowers" (mit Johnson, das. 1863; neue Ausg.
1882); "Useful plants of Great Britain" (das. 1862). Sein zweiter
Sohn, George Brettingham S., geb. 1788 zu London, gest. 1854,
schrieb "The genera of recent and fossil shells" (Lond. 1820-24, 2
Bde. mit 264 kolorierten Tafeln); auch beteiligte er sich mit
Vigors und Horsfield an der Herausgabedes "Zoological Journal".
Dessen gleichnamiger Sohn, geb. 1812, gleichfalls ein bedeutender
Konchyliolog, schrieb: "Conchological illustrations" (Lond.
1841-45, 6 Bde.); "Conchological manual" (das. 1839, neue Ausg.
1852); "Thesaurus conchyliorum" (das. 1842-70, 30 Tle.); "Popular
British conchology" (das. 1853); "Illustrated index of British
shells" (das. 1859, 2. Aufl. 1887) etc.

Sowinski, Leonard, poln. Dichter und Litterarhistoriker,
geb. 1831 zu Berezowka in Podolien, studierte zu Kiew, verbrachte
später sechs Jahre in der Verbannung zu Kursk, lebte seit 1868
in Warschau; starb 23. Dez. 1887 auf dem Gut Statkowce in
Wolhynien. In seinen lyrischen Gedichten (Posen 1878, 2 Bde.)
bekundet S. schwungvolle Phantasie. Weniger Anklang fand sein
Trauerspiel "Na Ukrainie" (Wien 1873). Mit seiner großen
"Geschichte der polnischen Litteratur" (Wilna 1874-78, 5 Bde.; die
ersten Bände mit Benutzung der Vorträge von Professor
Zdanowicz) hat sich S. eine der ersten Stellen unter den polnischen
Literarhistorikern erworben.

Soyaux (spr. ssoajoh), Hermann, Botaniker und Reisender,
geb. 4. Jan. 1852 zu Breslau, erlernte die Gärtnerei,
studierte 1872 Botanik in Berlin und war 1873-76 als Mitglied der
Loango-Expedition in Westafrika für die Deutsche Afrikanische
Gesellschaft thätig. 1879 ging er im Auftrag des
Wörmannschen Hauses in Hamburg nach Gabun, um dort
Kaffeeplantagen anzulegen, kehrte 1885 nach Berlin zurück und
trat in den Dienst des Deutschen Kolonialvereins, für den er
1886 nach Südbrasilien ging, um die dortigen Verhältnisse
zu studieren. Er nahm dort den untern Camaquam auf, in dessen
Nähe eine deutsche Kolonie (San Feliciano) gegründet
werden sollte, und kehrte dann nach Deutschland zurück. Er
schrieb: "Aus Westafrika" (Leipz. 1879, 2 Bde.) und "Deutsche
Arbeit in Afrika" (das. 1888).

Soyeuse (spr. ssoajöhs'), vegetabilische Seide, s.
Asclepias.

Soyons amis, Cinna! (franz., spr. ssoajóng-samih,
ssinna!), "Laß uns Freunde sein, Cinna." Citat aus Corneilles
"Cinna", Akt 5, Szene 3.

Sozialaristokratie, s. Aristokratie.

Sozialdemokratie, diejenige sozialistische Richtung und
Partei, welche für die Klasse der Lohnarbeiter die Herrschaft
in einem demokratischen Staat erstrebt, um die sozialistischen
Ideen und Forderungen verwirklichen zu können. Der
Begründer der S. ist der Franzose Louis Blanc (s. d. und
Sozialismus). Die von ihm in den 40er Jahren in Paris
gegründete Arbeiterpartei war die erste sozialdemokratische.
Dieselbe erlangte vorübergehend einen Einfluß auf die
Politik in Frankreich dadurch, daß zwei ihrer Führer, L.
Blanc und Albert, nach der Februarrevolution 1848 Mitglieder der
provisorischen Regierung wurden; sie wurde mit andern radikalen
Parteien in der Junischlacht 1848 besiegt. In Deutschland war der
von F. Lassalle (s. d.) 23. Mai 1863 gegründete Allgemeine
Deutsche Arbeiterverein die erste Organisation der S. Der einzige
statutarische Zweck dieses Vereins, der sich zu dem sozialistischen
Programm

54

Sozialdemokratie (Entwickelung in Deutschland).

Lassalles bekannte, war die "friedliche und legale" Agitation
für das damals noch nicht in Deutschland bestehende
allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht mit geheimer Abstimmung.
Der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein, welcher unter der
Präsidentschaft Lassalles nur einige tausend Mitglieder
zählte und nach Lassalles Tod (31. Aug. 1864) unter
unbedeutenden Führern (Bernhard Becker, Försterling,
Mende, Tölcke u. a.) sich in verschiedene, sich gegenseitig
bekämpfende Parteien spaltete, gelangte erst zu
größerer Bedeutung, seit das von Lassalle geforderte
Wahlgesetz 1867 durch Bismarck das Wahlgesetz für den
Reichstag des Norddeutschen Bundes geworden war und der begabte
Litterat J. B. v. Schweitzer 1867 die Leitung übernahm. Als
Führer der Lassalleaner in den Reichstag des Norddeutschen
Bundes gewählt, vertrat v. Schweitzer dort mit andern
Sozialdemokraten die Sache der S. Schon unter seiner
Präsidentschaft wurde das ökonomische und politische
Programm des Vereins erweitert. In dem Verein vertraten Hasenclever
und Hasselmann eine radikalere Richtung, diese siegte, und 1871
wurde v. Schweitzer als ein bezahlter Agent der preußischen
Regierung verdächtigt und aus dem Verein gestoßen. Unter
der Führung jener beiden Männer nahm die Mitgliederzahl,
nachdem inzwischen das Wahlgesetz für den Norddeutschen Bund
auch das für das Deutsche Reich geworden war, in kurzer Zeit
enorm zu (1873 hatte der Verein schon über 60,000 Mitglieder
und in 246 Orten Lokalvereine), wurde aber auch das
ökonomische und politische Parteiprogramm radikaler
(Ausdehnung des aktiven und passiven Wahlrechts für alle
Staats- und Gemeindewahlen auf alle Altersklassen vom 20. Jahr ab,
Abschaffung der stehenden Heere, Abschaffung aller indirekten
Steuern und Einführung einer progressiven Einkommensteuer mit
Freilassung der Einkommen unter 500 Thlr. und mit einem
Steuerfuß von 20-60 Proz. für Einkommen über 1000
Thlr., Abschaffung der Gymnasien und höhern Realschulen,
Unentgeltlichkeit des Unterrichts in allen öffentlichen
Lehranstalten etc.). Hauptblatt des Vereins war der Berliner
"Sozialdemokrat". Die Forderungen und ganze Art der Agitation
näherten sich immer mehr dem Programm und der Agitationsweise
einer zweiten sozialdemokratischen Partei, welche unter dem
Einfluß von Karl Marx und der internationalen
Arbeiterassociation im August 1869 Wilhelm Liebknecht und August
Bebel gegründet hatten. In der internationalen
Arbeiterassociation war seit 1866 die erste internationale und
zugleich eine radikale und revolutionäre sozialdemokratische
Partei entstanden (s. über deren Programm, Organisation und
Agitation die Art. Internationale und Sozialismus). Liebknecht und
Bebel, Anhänger der Internationale, setzten, nachdem sie sich
lange vergeblich bemüht hatten, den Allgemeinen Deutschen
Arbeiterverein in das Lager der Internationale
hinüberzuführen, auf einem allgemeinen
Arbeiterkongreß in Eisenach im August 1869 die Gründung
einer zweiten Partei, der sozialdemokratischen Arbeiterpartei,
durch, welche sich ausdrücklich als deutscher Zweig der
Internationale konstituierte. Die neue Partei, vortrefflich
organisiert und dirigiert (Hauptorgan der Leipziger "Volksstaat"),
entfaltete namentlich seit Anfang der 70er Jahre eine
außerordentliche Rührigkeit, im Mai 1875 vereinigte sie
sich mit dem Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein auf dem
Kongreß in Gotha (22.-27. Mai) zur sozialistischen
Arbeiterpartei Deutschlands. Das Parteiprogramm (s. d. im Art.
Sozialismus), ein radikal-sozialistisches, stimmte in allen
wesentlichen Punkten mit dem frühern Eisenacher Programm von
1869 überein. Der "Volksstaat" (später "Vorwärts")
wurde das Hauptorgan. Die Partei nahm bei der fast vollen Freiheit,
die man ihr gewährte, einen großen Aufschwung. Nach dem
Jahresbericht von 1877 verfügte sie über 41 politische
Preßorgane mit 150,000 Abonnenten, außerdem über
15 Gewerkschaftsblätter mit etwa 40,000 Abonnenten und ein
illustriertes Unterhaltungsblatt, "Die Neue Welt", mit 35,000
Abonnenten. Ein Hauptagitationsorgan waren die besoldeten,
redegewandten Agitatoren (1876: 54 ganz besoldete, 14 zum Teil
besoldete) und die nicht besoldeten "Redner" (1876. 77). Bei den
Reichstagswahlen stimmten für sozialdemokratische Kandidaten
1871: 124,655, 1874: 351,952, 1877: 493,288 (s. unten). Die ganze
Agitation war seit 1870 eine entschieden revolutionäre, mit
diabolischem Geschick wurden in ihrer Presse die radikalen
sozialistischen und politischen Anschauungen der S. erörtert
und in den Arbeiterkreisen der Klassenhaß geschürt und
revolutionäre Stimmung gemacht. Nachdem die Reichsregierung,
um dieser Agitation, welche zu einer ernsten Gefahr für den
sozialen Frieden und das gemeine Wohl geworden war, wirksam
entgegentreten zu können, im Reichstag vergeblich eine
Verschärfung des Strafgesetzbuchs versucht hatte, griff man
nach den Attentaten von Hödel und Nobiling auf Kaiser Wilhelm
(11. Mai und 2. Juni 1878), in denen man eine Folge jener Agitation
erkennen mußte, zu dem Mittel eines Ausnahmegesetzes gegen
die S., und es erging das zunächst nur bis 31. März 1881
gültige Reichsgesetz vom 21. Okt. 1878 "gegen die
gemeingefährlichen Bestrebungen der S." Es wollte verhindern
die gefährliche, das öffentliche Wohl schädigende
sozialdemokratische Agitation, insbesondere Bestrebungen
sozialdemokratischer, sozialistischer oder kommunistischer Art,
welche, auf den Umsturz der bestehendem Rechts- oder
Gesellschaftsordnung gerichtet, diesen direkt bezwecken oder in
einer den öffentlichen Frieden, insbesondere die Eintracht der
Bevölkerungsklassen, gefährdenden Weise zu Tage treten.
Es verbot bei Strafe daher Vereine, Versammlungen, Druckschriften
dieser Art sowie die Einsammlung von Beiträgen zu diesen
Zwecken; Personen, welche sich die sozialdemokratische Agitation
zum Geschäft machen, können aus bestimmten Landesteilen
oder Orten ausgewiesen, Wirten, Buchhändlern etc. kann aus dem
gleichen Grunde der Betrieb ihres Gewerbes untersagt werden. Auch
kann über Bezirke und Orte, in welchem durch
sozialdemokratische Bestrebungen die öffentliche Sicherheit
bedroht erscheint, der sogen. kleine Belagerungszustand mit
Beschränkung des Versammlungsrechts und Ausweisung
ansässiger Personen verhängt werden. Das Gesetz wurde
1880 bis zum 30. Sept. 1884, dann bis 30. Sept. 1886, hierauf bis
30. Sept. 1888 und darauf nochmals bis 30. Sept. 1890
verlängert. Das Gesetz hat nicht die Partei beseitigt, auch
nicht die Zahl der Stimmen für sozialdemokratische Kandidaten
bei den Reichstagswahlen auf die Dauer verringert (1881: 311,961,
1884: 549,990, 1887: 763,128); aber es hat die in hohem Grad
gefährliche und gemeinschädliche Art der Agitation, wie
sie früher in der sozialdemokratischen Presse betrieben wurde,
verhindert. In der deutschen S. sonderte sich seit 1878 immer
entschiedener unter der Führung von Most und Hasselmann eine
radikale Anarchistenpartei ab, deren Hauptorgan 1879 die von Most
in London herausgegebene "Freiheit" wurde, und deren Mitglieder
auch in Deutschland und Österreich eine Reihe von Attentaten
gegen Beamte und von Raubmorden

55

Soziale Frage - Sozialismus.

ausführten. Das Hauptorgan der deutschen S. und der ihr
verbündeten internationalen S. wurde der seit Oktober 1879 in
Zürich erscheinende "Sozialdemokrat". Zu einer definitiven
Spaltung zwischen den Anarchisten und der sogen.
gemäßigten, aber noch immer radikalen und
revolutionären Bebel-Liebknechtschen Partei kam es auf dem
Kongreß in Wyden (Schweiz) im August 1880, auf dem aber auch
die "gemäßigte" Richtung aus dem Gothaer Programm in dem
Satz, daß die sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands mit
allen gesetzlichen Mitteln ihre Ziele erstreben wolle, das Wort
"gesetzlichen" strich. Das radikale sozialistische Programm, wie es
in den statutarischen Bestimmungen und
Kongreßbeschlüssen der Internationale und in dem Gothaer
Programm von 1875 festgesetzt wurde, ist im wesentlichen das
Programm der Sozialdemokraten in allen Ländern, wo die S.
besteht und organisiert ist, und dies ist außer in
Deutschland heute namentlich in Österreich, Frankreich,
Italien, Spanien, Belgien, Dänemark und in Nordamerika der
Fall. Vgl. Mehring, Die deutsche S. (3. Aufl., Brem. 1879); weitere
Litteratur bei Internationale und Sozialismus.

Soziale Frage, s. Arbeiterfrage.

Soziale Republik, der von den Sozialdemokraten
angestrebte Freistaat mit Beseitigung der kapitalistischen
Produktionsweise und jeglichen Klassenunterschiedes. S.
Sozialdemokratie.

Sozialismus (lat.), nach dem in der Wissenschaft noch
heute üblichsten, auch in der deutschen Gesetzgebung und im
großen Publikum herrschenden Sprachgebrauch die Bezeichnung
für eine bestimmte Richtung, ein bestimmtes System zur
Lösung der Arbeiterfrage (s. d.). Dieser S. unterscheidet sich
scharf von dem Kommunismus (s. d.), obschon er mit demselben manche
Grundanschauungen teilt, namentlich den Glauben an die unbedingte
Lösung dieser Frage, die ausschließliche
Zurückführung der für sie in Betracht kommenden
Übelstände auf verkehrte menschliche Einrichtungen und
die Forderung einer gänzlichen Umgestaltung des
Wirtschaftsorganismus, der Rechtsordnung und des Staatswesens der
Kulturvölker, nach welcher unter Beseitigung der individuellen
wirtschaftlichen Freiheit die Gesamtheit die Verantwortlichkeit und
Sorge für die ökonomische und soziale Lage der Einzelnen
zu übernehmen habe. Die ihm eigentümlichen, von allen
andern sozialpolitischen Richtungen (s. Arbeiterfrage)
verschiedenen Anschauungen und praktischen Forderungen haben sich
erst allmählich in der Geschichte des S. klarer und
schärfer herausgebildet. Dieselben sind heute folgende: der
Kernpunkt der sozialen Frage ist ihm die ungerechte Verteilung der
Güter, und diese führt er vorzugsweise auf die
Einrichtung des privaten Grundeigentums und Erbrechts und auf die
freie individualistische und kapitalistische Produktionsweise mit
der Trennung von Unternehmern und Lohnarbeitern, mit dem Eigentum
der erstern an den Produktionsmitteln und der Herrschaft des
"ehernen Lohngesetzes" über die letztern zurück. Er
vertritt die falsche Ansicht der ältern englischen
Nationalökonomen, daß allein die Arbeit Werte erzeuge,
und behauptet, daß infolge jener Ursachen die bisherige
Vermögensbildung und die heutige Verteilung der neu
produzierten Güter auf einer Ausbeutung der Lohnarbeiter durch
Unternehmer, Grundeigentümer und Kapitalisten, mit andern
Worten der Nichtbesitzenden durch die besitzende Klasse beruhe.
Diese ungerechte Verteilung ist ihm die wesentliche Ursache des
Proletariats und aller andern Übelstände in den untern
Volksklassen. Beseitigung dieser Übelstände erwartet er
nicht wie der Kommunismus von der völligen Gleichheit aller,
aber doch von einer sehr starken Ausgleichung der ökonomischen
und sozialen Unterschiede und von einer gesellschaftlichen
Verfassung, in welcher allein die Arbeit einen Anspruch auf
Einkommen und Vermögen gibt. Das Einkommen soll nur noch
Arbeitsertrag sein. Bekämpft wird deshalb das private
Grundeigentum, das Erbrecht und die Kapitalrente (Kapitalzins und
Kapitalgewinn). Jene beiden Rechtsinstitutionen sollen durch
Gesetz, diese Einkommensart soll durch eine neue Organisation der
Produktion: die sozialistisch-genossenschaftliche
("kollektivistische") Produktionsweise, abgeschafft werden. Das
Wesen dieser besteht darin, daß nur noch in
genossenschaftlichen Kollektivunternehmungen in
planmäßiger Regelung (Beseitigung der Lohnarbeit und
soziale Organisation der Arbeit) produziert wird, in welchen das
Eigentum an den Produktionsmitteln (Grundstücken und
Kapitalien) Kollektiveigentum der Gesellschaft ist und der Ertrag
nur an die Arbeiter und gerecht verteilt wird (Beseitigung des
Einkommens aus Kapital und Grundstücken und des "ehernen
Lohngesetzes"). Diese Umwandlung der bisherigen Produktionsweise in
die sozialistische und die planmäßige Regelung der
letztern soll durch den Staat geschehen.

Die Manchesterschule (s. d.) bezeichnet als S. jede direkte
Mitwirkung des Staats zur Lösung der sozialen Frage,
insbesondere jede staatliche Maßregel, welche zum Schutz der
Arbeiter die persönliche Freiheit in der Gestaltung der
Arbeitsvertragsverhältnisse einschränkt. Daher kam es,
daß, als Anfang der 70er Jahre Professoren der
Nationalökonomie eine solche Mitwirkung des Staats forderten,
Vertreter der Freihandelsschule (H. B. Oppenheim u. a.) ebendiese
Forderungen sozialistische und, weil dieselben von den Inhabern
akademischer Katheder ausgingen, letztere Kathedersozialisten (s.
d.) nannten. Andre nennen noch allgemeiner S. jede Richtung, welche
für die Volkswirtschaft im Gegensatz zu dem Individualismus
(s. d.) das soziale Prinzip betont und für die
Wirtschaftspolitik als Ausgangspunkt und Ziel nicht das Individuum
mit ihm zugeschriebenen Trieben und Rechten (wie es die
naturrechtliche Wirtschaftstheorie oder der Smithianismus thut),
sondern die Gesellschaft nimmt. Im folgenden ist von dem S. im
obigen Sinn die Rede.

Als eine selbständige Wirtschaftstheorie ist dieser S. ein
Produkt des 19. Jahrh.; als sein Begründer gilt mit Recht der
französische Graf Saint-Simon, der auch zuerst die Lösung
der sozialen Frage als die große Aufgabe der modernen
Gesellschaft hinstellte. Die Vertreter des S. stimmen in den oben
erwähnten allgemeinen Grundanschauungen überein, im
einzelnen aber gehen sie in ihren Ansichten wie in ihren
Forderungen wieder weit auseinander, so daß man deshalb
verschiedene sozialistische Systeme oder Theorien (insbesondere die
des Saint-Simonismus, von Ch. Fourier, L. Blanc, F. Lassalle, K.
Marx) unterscheidet. Saint-Simon (s. d. 2) hat seine
sozialistischen Anschauungen nicht zu einem geschlossenen System
entwickelt. Das geschah erst durch seine Schüler (die
Saint-Simonisten), vor allen durch den hervorragendsten derselben,
Bazard (s. d.). Dieselben nannten nach ihrem Lehrer und Meister
dies System den Saint-Simonismus. Die soziale Frage betrachten sie
nicht nur als eine ökonomische, sondern ebensosehr als eine
moralische, religiöse und politische, da es sich in ihr um
eine Reform aller Verhältnisse des Volkslebens

56

Sozialismus (Saint-Simon, Fourier, Louis Blanc).

handle. Von der Ansicht ausgehend, daß die Arbeit die
Quelle aller Werte sei, sehen sie das Hauptunrecht in Staat und
Gesellschaft darin, daß der nützlichste Stand, der der
Arbeiter (industriels), den letzten Rang einnehme, zum weitaus
größten Teil mißachtet, in traurigster Lage und
politisch ohne Einfluß sei. Es sei deshalb eine neue
Organisation der Gesellschaft zu bilden, in welcher die Klasse der
Besitzenden und der "légistes" (Beamten, Gelehrten,
Advokaten) wie die militärische Gewalt dem arbeitenden Teil
der Gesellschaft untergeordnet sei, so daß an die Stelle der
bisherigen feudalen Organisation des Staats eine "industrielle"
trete, die zugleich das ideale Ziel Saint-Simons erreiche, "allen
Menschen die freieste Entfaltung ihrer Fähigkeiten zu
sichern". Erziehung und Ausbildung sollen auf der Grundlage einer
neuen Religion, eines neuen Christentums der Bruderliebe und
werkthätigen Moral, die wirtschaftliche Thätigkeit durch
eine Änderung der Rechtsordnung umgestaltet werden. Um eine
gerechte volkswirtschaftliche Verteilung herbeizuführen,
müsse die Arbeit zum einzigen Eigentumstitel gemacht und eine
Verteilung nach dem Prinzip organisiert werden: "Jedem nach seiner
Fähigkeit, und jeder Fähigkeit nach ihren Werken". Vor
allem sei das Erbrecht der Blutsverwandtschaft abzuschaffen und
durch ein Erbrecht des Verdienstes zu ersetzen. Die Güter der
Einzelnen sollten nach ihrem Tode der Gesamtheit zufallen, der
Staat als Vertreter derselben der Erbe sein und nun die ihm
anfallenden Güter denjenigen zuweisen, die sie am besten zum
Wohl des Ganzen gebrauchen würden. Außerdem sollten
Staatsbanken zur leichtern Gewährung eines billigen Kredits
gegründet werden. Der Unterricht sollte ein unentgeltlicher,
öffentlicher und zwar der allgemeine theoretische ein gleicher
für alle (mit besonderer Berücksichtigung der moralischen
Ausbildung), der professionelle aber ein den individuellen
Fähigkeiten entsprechender sein. - Die Saint-Simonisten haben
später die Bazardsche Erbrechtsreform auf die Forderung hoher
progressiver Erbschaftssteuern und Aufhebung des Erbrechts in den
weitern Verwandtschaftsgraden beschränkt.

Gleichzeitig mit Saint-Simon, aber völlig unabhängig
von ihm, entwickelte Ch. Fourier (s. d.) ein sozialistisches
System, das durch seine Schüler, besonders durch V.
Considérant (s. d.), um die Mitte der 30er Jahre in
Frankreich allgemeiner bekannt wurde. Im Gegensatz zu Saint-Simon
konstruierte er seine neue sozialistische Gesellschaftsordnung bis
ins einzelne. Er stützt dieselbe auf eine eigentümliche
wissenschaftlich unhaltbare Psychologie und auf eine eingehende
Kritik der ökonomischen Zustände seiner Zeit, die neben
vielem Falschen wertvolle Wahrheiten enthält. Diese
Zustände erscheinen ihm von Grund aus schlecht, weil die
große Masse des Volkes, durch eine kleine Zahl ausgebeutet,
eine elende Existenz führe und keine Freude an der Arbeit und
am Dasein haben könne. Er findet es völlig verkehrt,
daß die Produktion eine individualistische (in
Einzelunternehmungen) mit freier Konkurrenz sei. Durch die Existenz
der vielen kleinen Unternehmungen finde eine ungeheure
Verschwendung in der Benutzung der Arbeitsmittel und -Kräfte
statt; würde nur in großen genossenschaftlichen
Unternehmungen produziert, so könnte mit gleichem Aufwand viel
mehr produziert und bei gerechter Verteilung ein höheres
Genußleben für die Arbeiter herbeigeführt werden.
Sie bewirke weiter eine solche Ausdehnung der Arbeitsteilung,
daß die meisten Menschen keine Abwechselung bei der Arbeit
hätten und diese dadurch, statt zu einer Freude, zu einer Last
und für viele zu einer unerträglichen Last und Qual
werde. Sie veranlasse endlich auch die Existenz einer großen
Zahl an sich völlig überflüssiger Kaufleute und
dadurch eine unnötige Verteurung der Produkte. Fourier findet
ebenso die bestehende Art der Konsumtion in den Einzelwirtschaften
völlig unwirtschaftlich. Er fordert deshalb eine
genossenschaftliche Produktion und Konsumtion in großen
Verbänden, die, etwa 300-400 Familien umfassend,
möglichst alle Genußmittel für die Mitglieder
herstellen, jedenfalls Landwirtschaft und Gewerbe betreiben, in
einem großen Gebäude (Phalanstère) alle ihre
Wohnungen und Arbeitsräume einrichten, in wenigen Küchen
die Speisen für alle bereiten und zugleich für die
Vergnügungen und den Unterricht sorgen. Er entwirft den Plan
dieser sozialen Wirtschaftsorganismen, von ihm Phalangen genannt,
im einzelnen und sucht nachzuweisen, daß sie, richtig
organisiert, eine Garantie dafür bieten, daß jeder durch
seine Arbeit die Mittel erlange, ein behagliches Genußleben
zu führen, dabei an derselben Frende habe und für alle
aus der freien naturgesetzlichen Entfaltung der Triebe die Harmonie
der Triebe sich ergebe, die nach Fouriers Philosophie die
Glückseligkeit der Menschen sei. Die Gründung der
Phalangen soll aber nicht durch staatlichen Zwang, sondern durch
den freien Willen der Einzelnen erfolgen. Fourier trug sich mit der
überspannten Hoffnung, daß, wenn nur erst eine Phalange
gebildet worden, die Phalangen sich allmählich über die
ganze Welt verbreiten würden. Fourier stellte zuerst die
Abschaffung der Lohnarbeit und Gründung großer
Produktiv- und Konsumgenossenschaften als die Panacee für die
soziale Frage auf.

Eine neue Ausbildung erfuhr der S. durch Louis Blanc (s. d.),
zuerst in dessen kleiner Schrift über "Die Organisation der
Arbeit" (1839). Auch er will die Lohnarbeit durch
Produktivgenossenschaften beseitigen. Aber seine
Produktivgenossenschaften sind wesentlich andrer Art als die
Fourierschen Phalangen, und die Gründung derselben fordert er
vom Staat. Wie bei dem bisherigen Wirtschaftssystem der große
Unternehmer den kleinen, das große Kapital das kleine
unterdrücke, so könne der Staat, als der
größte Kapitalist, durch die Gründung von
größern Unternehmungen als die bestehenden in der Form
von Produktivgenossenschaften alle, auch die größten
Unternehmer allmählich konkurrenzunfähig machen und so
ohne Zwang und Gewalt der höchste Ordner und Herr der
Produktion werden. Wenn dies geschehen, habe er es in der Hand,
durch die Regelung der innern Organisation dieser Genossenschaften
und der Art der Ertragsverteilung den arbeitenden Klassen die
genügende materielle Existenz zu sichern. Louis Blanc denkt
sich dann die Entwickelung für die gewerbliche Produktion in
drei Stadien. In dem ersten gründe der Staat die Ateliers
sociaux für die verschiedenen Industriezweige, zunächst
als Staatsunternehmungen; nach einiger Zeit aber wandle er sie um
in reine Produktivgenossenschaften, überlasse die Verwaltung
den Mitgliedern und beschränke sich nur auf die gesetzliche
Regelung der Organisation und der Gewinnverteilung. Diese
Genossenschaften würden sofort die bessern Arbeitskräfte
an sich ziehen und mit geringern Kosten produzieren, zumal wenn sie
gleichzeitig große Konsumgenossenschaften errichten
würden. Die bestehenden Unternehmungen würden gezwungen
werden, entweder den Betrieb einzustellen, oder sich in solche
Genossenschaften umzuwandeln. In dem zweiten Stadium sollen dann,
damit keine Konkurrenz unter den Genossenschaften entstehe, die
Ge-

57

Sozialismus (Lassalle, Karl Marx).

nossenschaften gleichartiger Produktionszweige sich zu
größern Genossenschaften associieren, bis in jedem nur
eine Landesgenossenschaft existiere. Im dritten associieren sich
auch diese, so daß schließlich eine große
Produktivgenossenschaft produziere, deren Organisation und
Gewinnverteilung das Staatsgesetz regele. Eine Reform der Erziehung
(mit obligatorischem und unentgeltlichem Unterricht) würde
diese Entwickelung sichern. Um auch die Landwirtschaft zu
reformieren, soll das Erbrecht der Seitenverwandten fortfallen, an
ihrer Stelle soll die Gemeinde erben und mit dem ihr so anfallenden
Vermögen ähnlich verwaltete landwirtschaftliche
Produktivgenossenschaften gründen. Da von der herrschenden
Gesellschaft mit monarchischer Staatsform eine Lösung dieser
Aufgaben nicht zu erwarten sei, so müsse zunächst der
Staat in eine sozialdemokratische Republik umgewandelt werden, in
welcher die untern Klassen, im Besitz der Herrschaft, dann auf dem
vorgezeichneten Weg vorgehen könnten.

Diese Ideen wurden in den 40er Jahren das Programm der
französischen Sozialisten, an deren Spitze Louis Blanc stand.
Er ist der Gründer der Sozialdemokratie, d. h. derjenigen
Partei, welche für die Klasse der Lohnarbeiter die Herrschaft
in einer demokratischen Republik erstrebt, um im Besitz dieser
Herrschaft das sozialistische Programm zu verwirklichen.
Modifiziert wurde dies Programm durch die Beschlüsse des
Arbeiterparlaments, welches 1848 nach der Februarrevolution, von
der provisorischen Regierung einberufen, im Palais Luxembourg unter
dem Vorsitz von Louis Blanc tagte. Nach denselben sollte ein eignes
Ministerium (ministère du progrès) die sozialistische
Reform herbeiführen: zunächst die Bergwerke und
Eisenbahnen für den Staat ankaufen, das Versicherungswesen in
Staatsanstalten zentralisieren, große Warenhallen und
Vorratshäuser zu entgeltlicher Benutzung errichten, die
französische Bank in eine Staatsbank umwandeln und mit dem
Reinertrag aus diesen Geschäften industrielle und
landwirtschaftliche Genossenschaften nach dem Plan Louis Blancs mit
einigen Abänderungen desselben gründen. Zur Beseitigung
einer verderblichen Konkurrenz sollte für alle Produkte durch
gesetzliche Feststellung des auf die Kosten zu schlagenden Gewinns
ein Normalpreis vorgeschrieben werden.

Eine andre Modifikation gab dem Blancschen S. Ferdinand Lassalle
(s. d.). Er betrachtet die soziale Frage als Einkommensfrage,
hervorgerufen durch die ungerechte Verteilung des Ertrags der
Unternehmungen infolge des "ehernen Lohngesetzes" der freien
Konkurrenz, nach welchem der Lohn stets um einen Punkt oszilliere,
bei welchem er den Arbeitern nur die notdürftig Befriedigung
der Existenzbedürfnisse gestatte. Die Lösung sieht er in
der Beseitigung dieser Lohnregulierung und Abschaffung der
Lohnarbeit durch Produktivassociationen mit Hilfe des Staats. Aber
dieser soll nicht, wie Louis Blanc will, dieselben gründen und
ihre Organisation wie die Art der Gewinnverteilung bestimmen,
sondern der Staat soll nur freiwillig sich bildende mit seinem
Kredit unterstützen, wobei er zur Wahrung seines Interesses
sich die Genehmigung der Statuten und eine Kontrolle der
Geschäftsführung vorbehalten könne. Darin stimmt
Lassalle wieder mit Louis Blanc überein, daß, um diese
Staatsunterstützung zu erreichen, der Arbeiterstand sich zum
herrschenden im Staat machen müsse. Er wähnte, daß
die Einführung des allgemeinen, gleichen und direkten
Wahlrechts mit geheimer Abstimmung demselben in Deutschland zu
dieser Herrschaft verhelfen würde, und forderte deshalb die
deutschen Arbeiter auf, ihre ganze Agitation zunächst nur auf
dieses Ziel zu richten.

Derjenige, der in neuerer Zeit den S. eigentlich allein in
umfassender Weise und wirklich wissenschaftlich zu begründen
versucht, ihm zugleich die radikalste Ausdehnung gegeben hat, ist
Karl Marx (s. d.). In seinem Hauptwerk: "Das Kapital", sucht er
nachzuweisen, daß die Verteilung in der bisherigen
Volkswirtschaft eine durchaus ungerechte sei, denn das Kapital
entstehe und vermehre sich nur dadurch, daß es einen
möglichst großen Teil des Arbeitsprodukts in sich
aufsauge; die Arbeit, nicht das Kapital setze dem Produkt Wert zu,
der Arbeiter leiste stets mehr, als ihm im Lohn vergolten werde,
der ihm nicht bezahlte Mehrwert seiner Leistung aber falle dem
Eigentümer der Produktionsmittel zu und vermehre das Kapital.
Marx folgert daraus die Ungerechtigkeit eines Einkommens aus
Kapital- und Grundbesitz. Weiter sucht er zu erweisen, daß
aus der gegenwärtigen kapitalistischen Produktionsweise die
sozialistisch-kooperative notwendig entstehen müsse.
Zunächst würden in dem freien Konkurrenzkampf die
Produktionsmittel sich in den Händen einer immer kleinern
Anzahl konzentrieren, dadurch aber der Zustand für die
Arbeiter endlich so unerträglich werden, daß dieselben,
ihre Macht benutzend, die wenigen Expropriateure einfach
expropriieren und, geschult und organisiert durch den bisherigen
kapitalistischen Produktionsprozeß, auf der Grundlage
gemeinsamen Eigentums an den Produktionsmitteln in den schon
bestehenden großen Unternehmungen weiter produzieren, den
Ertrag derselben, entsprechend seiner ökonomischen Natur als
Arbeitsertrag, aber fortan nur nach Maßgabe der
Arbeitsleistungen verteilen würden. Besser indes sei es,
diesen Expropriations- und Produktionsumwandlungsprozeß zu
beschleunigen. Die praktischen Konsequenzen hat dann der Agitator
Marx gezogen und in den Beschlüssen der von ihm
gegründeten und geleiteten internationalen Arbeiterassociation
(vgl. Internationale) sowie in dem Programm der heutigen deutschen
Sozialdemokratie, dessen geistiger Urheber er ist, zum Ausdruck
gebracht. Von diesen Beschlüssen sind für die
sozialistischen Bestrebungen insbesondere charakteristisch die der
Kongresse in Brüssel und Basel. Auf dem Kongreß in
Brüssel (1868) wurde die Abschaffung des Kapitaleinkommens und
der Grundrente, die Gründung von Produktivgenossenschaften mit
Kollektiveigentum an den Produktionsmitteln und von besondern
Kreditanstalten für dieselben, die Umwandlung aller
Transportanstalten in Staatsanstalten, aller Bergwerke, Wälder
und landwirtschaftlichen Grundstücke in Staatseigentum, mit
Überweisung der letztern an Arbeitergesellschaften zur
Benutzung, in das Programm aufgenommen. Der Kongreß in Basel
(1869) sprach sich für die Abschaffung des privaten
Grundeigentums und für die Bebauung des Bodens durch
solidarisierte Gemeinden sowie für die Abschaffung des
Erbrechts aus. Das sozialistisch-politische Programm der deutschen
Sozialdemokratie (sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands)
lautet nach der Fassung des Gothaer Kongresses von 1875:

"1) Die Arbeit ist die Quelle alles Reichtums und aller Kultur,
und da allgemein nutzbringende Arbeit nur durch die Gesellschaft
möglich ist, so gehört der Gesellschaft, d. h. allen
ihren Gliedern, das gesamte Arbeitsprodukt, bei allgemeiner
Arbeitspflicht, nach gleichem Recht jedem nach seinen
vernunftgemäßen Bedürfnissen. In der heutigen
Gesellschaft sind die Arbeitsmittel Monopol der Kapitalistenklasse;
die hierdurch bedingte Abhängigkeit der Arbeiterklasse ist die
Ursache des Elends und der Knechtschaft in allen Formen. Die
Befreiung der Arbeit erfordert die

58

Sozialismus (Rodbertus; Umsturzbestrebungen in der
Gegenwart).

Verwandlung der Arbeitsmittel in Gemeingut der Gesellschaft und
die genossenschaftliche Regelung der Gesamtarbeit mit
gemeinnütziger Verwendung und gerechter Verteilung des
Arbeitsertrags. Die Befreiung der Arbeit muß das Werk der
Arbeiterklasse sein, der gegenüber alle andern Klassen nur
eine reaktionäre Masse sind. 2) Von diesen Grundsätzen
ausgehend, erstrebt die sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands
(die hier ursprünglich im Programm enthaltenen Worte: 'mit
allen gesetzlichen Mitteln' wurden später gestrichen) den
freien Staat und die sozialistische Gesellschaft, die Zerbrechung
des ehernen Lohngesetzes durch Abschaffung des Systems der
Lohnarbeit, die Aufhebung der Ausbeutung in jeder Gestalt, die
Beseitigung aller sozialen und politischen Ungleichheit. Die
sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands, obgleich zunächst
im nationalen Rahmen wirkend, ist sich des internationalen
Charakters der Arbeiterbewegung bewußt und entschlossen, alle
Pflichten, welche derselbe den Arbeitern auferlegt, zu
erfüllen, um die Verbrüderung aller Menschen zur Wahrheit
zu machen. Die sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands fordert,
um die Lösung der sozialen Frage anzubahnen, die Errichtung
von sozialistischen Produktivgenossenschaften mit Staatshilfe unter
der demokratischen Kontrolle des arbeitenden Volkes. Die
Produktivgenossenschaften sind für Industrie und Ackerbau in
solchem Umfang ins Leben zu rufen, daß aus ihnen die
sozialistische Organisation der Gesamtheit entsteht. 3) Die
sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands fordert als Grundlagen
des Staats: a) Allgemeines, gleiches, direktes Wahl- und Stimmrecht
mit geheimer, obligatorischer Stimmabgabe aller
Staatsangehörigen vom 20. Lebensjahr an für alle Wahlen
und Abstimmungen in Staat und Gemeinde. Der Wahl- oder
Abstimmungstag muß ein Sonntag oder Feiertag sein. d) Direkte
Gesetzgebung durch das Volk; Entscheidung über Krieg und
Frieden durch das Volk. c) Allgemeine Wehrhaftigkeit, Volkswehr an
Stelle der stehenden Heere. d) Abschaffung aller Ausnahmegesetze,
namentlich der Preß-, Vereins- und Versammlungsgesetze,
überhaupt aller Gesetze, welche die freie
Meinungsäußerung, das freie Denken und Forschen
beschränken. e) Rechtsprechung durch das Volk; unentgeltliche
Rechtspflege. f) Allgemeine und gleiche Volkserziehung durch den
Staat; allgemeine Schulpflicht; unentgeltlicher Unterricht in allen
Bildungsanstalten; Erklärung der Religion zur
Privatsache."

Das Programm enthält außerdem noch eine Reihe von
Forderungen, die indes ausdrücklich als Forderungen "innerhalb
der heutigen Gesellschaft" bezeichnet werden und nicht mehr
spezifisch sozialistische sind. Mit diesem Programm stimmt im
wesentlichen überein das Programm des Parti ouvrier socialiste
révolutionnaire français von 1880, welches die Basis
der gegenwärtigen sozialistischen Bewegung in Frankreich ist
und in der Hauptsache auch von den spanischen und italienischen
Sozialisten angenommen wurde, ebenso das Programm der
sozialistischen Arbeiterpartei von Nordamerika von 1877 (weiteres
hierüber bei Zacher, s. Litteratur).

In Deutschland entstand Mitte der 70er Jahre neben der
Sozialdemokratie vorübergehend eine konservative
sozialistische Richtung, der sogen. Staatssozialismus, deren
politischer Grundgedanke ein Bündnis der Monarchie mit dem
vierten Stand war, um die vermeintliche Herrschaft der Bourgeoisie
und des Kapitals zu brechen, die berechtigten Forderungen der
Arbeiterklasse durch eine sozialistische Organisation der
Volkswirtschaft zu befriedigen und damit zugleich die Machtstellung
der Monarchie zu befestigen. Das unklare sozialistische Programm
(s. dasselbe in Nr. 23 des "Staatssozialist" vom 1. Juni 1878)
dieser Richtung, die wenige Anhänger fand, und deren
Hauptvertreter unter andern Pastor R. Todt ("Der radikale deutsche
S. und die christliche Gesellschaft. Aufl., Wittenb. 1878) und der
Schriftsteller Rudolf Meyer waren (Organ: "Der Staatssozialist.
Wochenschrift für Sozialreform", 1877 ff.), stützt sich
auf die sozialistischen Anschauungen von J. K. Rodbertus (s. d.),
der die Berechtigung eines Einkommens aus Besitz, der "Rente"
(Grundrente wie Kapitalrente), bestritt und den Kernpunkt der
sozialen Frage in dem angeblichen "Gesetz" sah, daß, wenn der
Verkehr in Bezug auf die Verteilung der Nationalprodukte sich
selbst überlassen bleibe, bei steigender Produktivität
der gesellschaftlichen Arbeit der Lohn der arbeitenden Klassen ein
immer kleinerer Teil des Nationalprodukts werde, daß der
relative Lohn der Arbeit in dem Verhältnis sinke, als sie
selbst produktiver werde, und daß folglich die Kaufkraft der
Mehrzahl der Gesellschaft immer kleiner werde. Die Lösung der
Frage erblickte Rodbertus darin, daß den Arbeitern ein mit
der steigenden nationalen Produktivität mitsteigender
Arbeitslohn gesichert würde, und er glaubte, dieselbe - ohne
daß man dem Grund- und Kapitaleigentum von seinem heutigen
Grundrenten- und Gewinnbetrag etwas fortnehme, sondern nur
verhindere, daß auch für alle Zukunft, wie bisher, das
Plus einer steigenden nationalen Produktion der Grundrente und dem
Kapitalgewinn zuwachse - durch eine Reihe von Vorschlägen
gefunden zu haben, deren wichtigste sind: der Staat solle
zunächst für jedes "Gewerk" einen normalen Zeitarbeitstag
und einen normalen Werkarbeitstag festsetzen und den Lohnsatz
für den letztern mit periodischen Revisionen bestimmen, bez.
zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer unter seiner Autorität
festsetzen lassen. Sodann soll "der normale Werkarbeitstag zu
Werkzeit oder Normalarbeit erhoben und nach solcher Werkzeit oder
Normalarbeit (nach solcher in sich ausgeglichener Arbeit) nicht
bloß der Wert des Produkts jedes Gewerks normiert, sondern
auch der Lohn in jedem Gewerk als Quote dieses nach Normalarbeit
berechneten Produktwerts fixiert und bezahlt werden".

In der Geschichte der sozialistischen Agitation ist die Phase
des friedlichen, doktrinären S. und die des gewaltsamen,
praktischen S. zu unterscheiden. In jener, welcher die
Thätigkeit Saint-Simons und Fouriers und ihrer Schüler
angehört, war die Bewegung eine wesentlich theoretische und
friedliche. Jene Sozialisten erhofften auf friedlichem Weg die
allmähliche Verwirklichung ihrer Ansichten. Sie wandten sich
deshalb nur an die Gebildeten, nicht an diejenigen Klassen, deren
Besserung sie wollten, und wenn auch ihre Äußerungen
nicht frei waren von Anklagen gegen die bestehenden Einrichtungen
und Zustände, so enthielten sie doch nur selten Anklagen gegen
Personen und gegen die besitzenden Klassen. Diesen friedlichen
Charakter verliert aber die sozialistische Agitation seit Louis
Blanc und im Verlauf der Zeit mehr und mehr. Neue sozialistische
Systeme und Forderungen werden aufgestellt nicht mehr als
wissenschaftliche Theorien, sondern als Programme praktischer
Agitationsparteien. Die Vertreter derselben wenden sich nun mit
ihren Lehren direkt an die untern Volksklassen, um sie zum S. zu
bekehren und für dessen Durchführung zu gewinnen; sie
werden Arbeiteragitatoren. Ein Hauptmittel ihrer Agitation wird es,
bei den untern Klassen die Gefühle der Erbitterung und des
Hasses nicht bloß gegen die bestehenden Zustände des
öffentlichen Lebens, sondern auch gegen die Träger der
Staatsgewalt und gegen die besitzenden Klassen zu erzeugen. Das
ökonomische sozialistische Programm wurde hiermit ein
radikaleres, und da es durch den Staat verwirklicht werden sollte,
wurde die Bewegung eine politische. Da man sich sagen mußte,
daß die bestehenden Staaten die sozialistischen Wünsche
nicht erfüllen würden, wurde die Erlangung der Herrschaft
im Staat für die Lohnarbeiterklasse in das Programm
aufgenommen und das praktische Ziel. Die sozialistische

59

Soziallast - Spach.

Partei wurde eine sozialdemokratische. Naturgemäß
gesellten sich nun weitere politische Forderungen (betreffend die
Verfassung des Staats, das Wahlrecht, das Gerichts-, Schul- und
Militärwesen etc.) hinzu, und wie das ökonomische wurde
auch das politische Programm, namentlich seit der Gründung der
Internationalen Arbeiterassociation, immer radikaler. Man machte
auch kein Hehl daraus, daß allein die Revolution der
Sozialdemokratie zum Sieg verhelfen könne, und sprach es offen
aus, daß man nicht zaudern würde, zu diesem Mittel zu
greifen, wenn man nur die Möglichkeit des Gelingens sähe.
Daher entstand nun eine Art der Agitation, die nur die Vorbereitung
zur Revolution war. Und deshalb ist diese Partei auch die Gegnerin
einer starken, mächtigen Staatsgewalt in den bestehenden
Staaten, deshalb bekämpft sie vor allem das stehende Heer,
deshalb ihre ausgesprochene Feindschaft gegen die Religion, nicht
bloß gegen die Kirche. Der ganze Charakter, den die Bewegung
angenommen, zwang und zwingt die Staaten zu einem entschiedenen
Vorgehen gegen dieselbe, wie es das Deutsche Reich in dem Gesetz
vom 21. Okt. 1878 (s. Sozialdemokratie) und andre Staaten in andrer
Weise gethan haben. In neuester Zeit ist in der Sozialdemokratie
eine noch radikalere Richtung in den Anarchisten hervorgetreten,
die, ohne ein neues sozialistisches Programm aufzustellen, den
sofortigen Umsturz alles Bestehenden mit allen nur möglichen
Mitteln will, inzwischen aber die Beseitigung der Gegner durch Mord
empfiehlt (s. Anarchie).

Vgl. außer den im Art. "Kommunismus" (S. 990) angegebenen
Werken von Stein, Sudre, Hildebrand, Marlo, Schäffle, Meyer:
L. Reybaud, Études sur les réformateurs (6. Aufl.,
Par. 1849, 2 Bde.); E. Jäger, Der moderne S. (Berl. 1873);
Derselbe, Geschichte des S. in Frankreich (das. 1876, Bd. 1);
Schuster, Die Sozialdemokratie (2. Aufl., Stuttg. 1876); Mehring,
Die deutsche Sozialdemokratie (3. Aufl., Brem. 1879); v. Scheel,
Unsre sozialpolitischen Parteien (Leipz. 1878); Schäffle,
Quintessenz des S. (8. Aufl. 1885); E. de Laveleye, Le socialisme
contemporaine (4. Aufl., Par. 1889; deutsch, Tübing. 1884);
Zacher, Die rote Internationale (Berl. 1884); Kleinwächter,
Grundlagen und Ziele des sogen. wissenschaftlichen S. (Innsbr.
1885); Adler, Geschichte der ersten sozialpolitischen
Arbeiterbewegung in Deutschland (Bresl. 1885); Zander, Die
sozialpolitischen Gesetze des Deutschen Reichs (Kattowitz 1887);
Dawson, German socialism (Lond. 1888); Semler, Geschichte des S.
und Kommunismus in Nordamerika (Leipz. 1880); "S. und Anarchismus
in England und Nordamerika während der Jahre 1883-86" (Berl.
1887); v. Scheel, S. und Kommunismus, in Schönbergs "Handbuch
der politischen Ökonomie" (2. Aufl., Tübing. 1885, Bd. 1,
S. 107 ff.); Schönberg, Gewerbliche Arbeiterfrage (ebenda, Bd.
2).

Soziallast (Societätslast), Genossenschaftssteuer,
in süddeutschen Gemeinden eine Steuer, welche zur Abwendung
besonderer Nachteile oder zur Erreichung besonderer Vorteile
einzelner Einwohner oder Besitzer oder einzelner Klassen von
solchen bestimmt ist. Vgl. Gemeindehaushalt, S. 68.

Sozialpolitik, der Inbegriff der auf Besserung der
sozialen Verhältnisse, vorzüglich auf Regelung der
Arbeiterfrage, gerichteten Bestrebungen und Maßregeln,
insbesondere derjenigen des Staats. Während der Sozialismus
die gesellschaftliche Verfassung von Grund aus ändern will,
hält die heutige praktische S. an der gegebenen sozialen und
Eigentumsordnung grundsätzlich fest und will auf deren Boden
durch die Arbeiterschutzgesetzgebung (s. Fabrikgesetzgebung), durch
die Arbeiterversicherung (s. d.), durch entsprechende
Steuerverteilung, Verwaltungsmaßnahmen verschiedener Art etc.
die Lage der untern Klassen verbessern und die durch Privateigentum
und freien Wettbewerb sich bildenden Klassengegensätze
mildern. In diesem Sinn wirkt der Verein für S., welcher 1872
zu Eisenach gegründet wurde und bis zur Neuzeit für
Vorbereitung von seither in Gesetzgebung und Verwaltung
eingetretenen Änderungen thätig gewesen ist (vgl.
Kathedersozialisten). Über die verschiedenen sozialpolitischen
Richtungen der Gegenwart s. Arbeiterfrage.

Sozomenos, Salamanes Hermias, Kirchenhistoriker, geboren
um 400 n. Chr. bei Gaza in Palästina, trat als Sachwalter in
Konstantinopel auf und starb nach 443. Er schrieb unter Benutzung
des Sokrates eine Fortsetzung der Kirchengeschichte des Eusebios
(von 323 bis 439), herausgegeben von Valesius (Par. 1668) und
Hussey (Lond. 1860 u. 1874 ff.).

Sozopolis (türk. Sizebolu), Stadt in Ostrumelien, an
der Südseite des Golfs von Burgas, mit guter Reede, auf einem
Vorgebirge, Sitz eines griechischen Erzbischofs, hat ca. 2000
griech. Einwohner, welche Handel (vorzüglich mit Holz)
treiben; hieß im Altertum und bis 430 n. Chr. Apollonia.

Sp., auch Spach, bei botan. Namen für Eduard Spach,
geb. 1801 zu Straßburg, gest. 1879 als Oberaufseher der
Herbarien des Jardin des plantes in Paris.

Spaa (Spa), Flecken in der belg. Provinz Lüttich,
Arrondissement Verviers, in waldiger Gebirgsgegend, an der
Staatsbahnlinie Gouvy-Pepinster, hat Fabrikation von lackierten
Holzwaren (bois de Spa), Wollkratzen und Spindeln, Gerbereien,
Eisenhämmer, Hochöfen, eine höhere Knabenschule und
(1887) 7278 Einw., ist aber namentlich berühmt durch seine
Mineralquellen, von denen die stärkste (Pouhon) in der Stadt,
15 außerhalb derselben liegen. Die wichtigsten der letztern
sind: Géronstère, Sauvenière, die beiden
Tonnelets, Groesbeck, Barisart, Nivesé und Marie-Henriette.
Sie besitzen eine Temperatur von 9-10° C. und gehören zu
den alkalisch-eisenhaltigen Säuerlingen, weshalb sie
namentlich gegen Hypochondrie, Hysterie, Verschleimung,
Magenleiden, Nervenschwäche empfohlen und jährlich von
11-12,000 Kurgästen aus allen Weltgegenden, insbesondere aus
England, besucht werden. S. besitzt daher auch viele prächtige
Gebäude, mit allem Komfort eingerichtete Gasthäuser,
glänzende Etablissements für Vergnügungen und
reizende Spaziergänge. Das Wasser des Pouhon wird unter dem
Namen Spaawasser weithin versendet. Vgl. Scheuer, Traité des
eaux de S. (2. Aufl., Brüssel 1881).

Spaargebirge, Höhenzug auf dem rechten Elbufer bei
Meißen in Sachsen, 199 m hoch. Hier wird der beste
Meißener Wein gebaut.

Spaccaforno, Stadt in der ital. Provinz Syrakus
(Sizilien), Kreis Modica, mit (1881) 8588 Einw. In der Nähe
das sogen. Troglodytenthal (Valle d'Ispica) mit vielen oft in drei
Geschossen übereinander in den Fels gehauenen, teilweise sehr
schwer zugänglichen Höhlen, welche der
ursprünglichen Bevölkerung wahrscheinlich zu Wohnungen
dienten.

Spaccio (ital., spr. spattscho), Absatz, Vertrieb.

Spach (spackig), vor Trockenheit geborsten (Holz).

Spach, Ludwig Adolf, elsäss. Geschichtsforscher,
geb. 27. Sept. 1800 zu Straßburg, studierte daselbst

60

Spachtel - Spalato.

1820-23 die Rechte, ward dann Erzieher in Paris, Rom und der
Schweiz, 1840 Archivar des Departements Niederrhein und daneben
1848-54 Schriftführer des protestantischen Direktoriums und
1872 Honorarprofessor an der Universität. Er starb 16. Okt.
1879 in Straßburg. Er schrieb: "Histoire de la Basse-Alsace"
(1859); "Lettres sur les archives départementales du
Bas-Rhin" (Straßb. 1861); "Inventaire sommaire des archives
départementales du Bas-Rhin" (das. 1863 ff., 3 Bde.). Seine
zahlreichen kleinern Arbeiten (darunter die "Biographies
alsaciennes", 3 Bde.) erschienen gesammelt als "OEuvres choisies"
(Nancy 1869-71, 5 Bde.). In deutscher Sprache veröffentlichte
er: "Moderne Kulturzustände im Elsaß" (Straßb.
1872-74, 3 Bde.); das Drama "Heinr. Waser" (das. 1875); "Zur
Geschichte der modernen französischen Litteratur" (das. 1877);
"Dramatische Bilder aus Straßburgs Vergangenheit" (das. 1876,
2 Bde.). Unter dem Pseudonym Louis Lavater verfaßte er
mehrere Romane: "Henri Farel" (1834), "Le nouveau Candide" (1835),
"Roger de Manesse" (1849). Vgl. Kraus, Ludw. S. (Straßb.
1880).

Spachtel, s. v. w. Spatel.

Spack, s. v. w. Steinsalz, s. Salz, S. 236.

Spada (ital.), Schwert, Degen.

Spada, Palast in Rom, s. Rom, S. 908.

Spadicifloren (Kolbenblütler), Ordnung im
natürlichen Pflanzensystem unter den Monokotyledonen,
charakterisiert durch einen meist kolbenförmigen
Blütenstand, der häufig von einem großen
Hüllblatt umgeben ist und zahlreiche kleine Blüten
trägt, welche gewöhnlich eingeschlechtig, ein- oder
zweihäusig sind und kein oder doch kein blumenkronartig
gefärbtes Perigon besitzen; die Samen enthalten Endosperm,
welches den kleinen, geraden Keimling umgibt. Die Ordnung besteht
aus den Familien: Aroideen, Pandaneen, Cyklantheen, Palmen und
Typhaceen.

Spadille (franz., spr. -dihj), die höchste
Trumpfkarte im L'hombrespiel (Pik-As) und in dem diesem nach
gebildeten Solospiel (Eichel-Ober).

Spadix (lat.), Kolben, s. Blütenstand, S. 80.

Spado (lat.), ein Verschnittener, Eunuch.

Spagat (Spaget, v. ital. spaghetto), in Österreich,
Bayern etc. s. v. w. Kanzleibindfaden.

Spagirisch (ital.), s. v. w. alchimistisch.

Spagniolgeschmack, s. Firnewein.

Spaguolette (ital., spr. spanjo-), spanischer Drehriegel,
Riegelstange am Fenster; auch s. v. w. spanische Zigarrette.

Spaguoletto (spr. spanjo-), Maler, s. Ribera.

Spagnuólo (spr. spanj-), Maler, s. Crespi 3).

Spahi (türk., pers. Sipahi, "Krieger, Heer"), in
Mittelasien der dem Fürsten zur Stellung von Soldaten
verpflichtete Adel, welche Bezeichnung später auf die Soldaten
selbst überging, woraus die englischen Sepoys (s. d.)
entstanden. S. hießen in der Türkei die von den
Lehnsträgern zu stellenden Reiter, später war es die
Bezeichnung der irregulären türkischen Reiterei, welche
gleichzeitig mit den Janitscharen (s. d.) entstand und den Kern der
türkischen Reiterei bildete. S. heißen die 4
französischen Reiterregimenter, von denen 3 zu 6 Eskadrons in
Algerien und 1 zu 3 Eskadrons in Tunis stehen. Sie wurden um 1834
aus Eingebornen gebildet und sind heute organisiert und bewaffnet
wie die übrige französische Kavallerie, aber von
französischen Offizieren befehligt.

Spaichingen, Oberamtsstadt im württemberg.
Schwarzwaldkreis, an der Prim und der Linie Rottweil-Immendingen
der Württembergischen Staatsbahn, 659 m ü. M., hat eine
kath. Kirche, ein Gewerbemuseum, ein Amtsgericht, ein Revieramt,
ein Hauptsteueramt, Zigarren-, Trikot-, Schuh- und Holzwaren- und
Uhrenfabrikation, Klavier- und Orgelbau, Buchdruckerei,
Bierbrauerei und (1885) 2441 meist kath. Einwohner. Nahebei der
Dreifaltigkeitsberg mit Wallfahrtskirche.

Spalatin, Georg Burkhardt, Beförderer der
Reformation, geb. 1484 zu Spalt im Bistum Eichstätt (daher
sein Name), lag seit 1499 in Erfurt, gleichzeitig mit Luther,
humanistisch-philosophischen Studien ob, ward 1502 Magister zu
Wittenberg, studierte dann in Erfurt noch die Rechte und Theologie,
wurde 1509 Erzieher von Johann Friedrich, dem nachherigen
Kurfürsten von Sachsen, 1514 ernannte ihn Friedrich der Weise
zu seinem Hofkaplan, dann zu seinem Geheimschreiber und zum
Bibliothekar an der Universität Wittenberg. S. war seitdem der
vertrauteste Diener des Kurfürsten, den er fast zu allen
Reichstagen begleitete, und dessen Beziehungen zu Luther er fast
ausschließlich vermittelte; seine nicht hoch genug
anzuschlagenden Verdienste um die deutsche Reformation sind bisher
noch viel zu wenig gewürdigt. Johann der Beständige, der
ihn ebenso wie sein Vorgänger zu schätzen wußte,
ernannte ihn 1525 zum Ortspfarrer und Superintendenten von
Altenburg. 1530 begleitete S. den Kurfürsten zum Augsburger
Reichstag. Von 1527 bis 1542 entwickelte er eine bedeutende
Thätigkeit bei der Organisation der evangelischen Kirche der
sächsischen Lande. Er starb 16. Jan. 1545 in Altenburg. S.
schrieb die Biographien von Friedrich dem Weisen (hrsg. von
Neudecker und Preller, Weim. 1851) und Johann dem Beständigen;
"Christliche Religionshändel oder Religionssachen", von
Cyprian irrig "Annales Reformationis" (Leipz. 1718) genannt, und
eine Geschichte der Päpste und Kaiser des
Reformationszeitalters. Seine meist im Archiv zu Weimar liegenden
Briefe sind noch ungedruckt. Vgl. J. Wagner, G. S. und die
Reformation der Kirchen und Schulen in Altenburg (Altenb. 1830);
Seelheim, G. S. als sächsischer Historiograph (Halle 1876);
Burkhardt, Geschichte der sächsischen Kirchen- und
Schulvisitationen von 1524 bis 1545 (Leipz. 1879).

Spálato (slaw. Spljet), Stadt in Dalmatien,
halbmondförmig auf der Südseite einer Halbinsel im Grund
einer Bucht des Adriatischen Meers gelegen, die schönste und
volkreichste Stadt des Landes, teilt sich in die Altstadt, die
Neustadt und vier Vorstädte. Öffentliche Plätze
sind: der Domplatz (Piazza del Tempio) und der Herrenplatz. Die
Stadt ist reich an antiken Baudenkmälern. Den ganzen Raum der
Altstadt nahm der umfangreiche Palast des Kaisers Diokletian ein,
von dessen südlicher Fronte namentlich ein 125 m langes
Peristyl mit Vestibulum erhalten ist (s. Tafel "Baukunst VI", Fig.
12 u. 13), welches gegenwärtig den Domplatz bildet. Die an
demselben gelegene Kathedrale (das ehemalige Diokletianische
Mausoleum), ein wohlerhaltener römischer Gewölbebau,
bildet außen ein mit korinthischen Säulen geziertes
Achteck, innen eine Rotunde mit Kuppel. Beim Eingang steht eine
ägyptische Sphinx, und neben dem Dom erhebt sich ein
imposanter Glockenturm aus dem 15. Jahrh. Der
gegenüberstehende Äskulaptempel dient jetzt als
Taufkapelle und ist gleichfalls sehr gut erhalten. Außerdem
sind die Trümmer der Diokletianischen Wasserleitung
bemerkenswert. Auf der Ostseite der Stadt erhebt sich das Fort
Grippi. S. zählt (1880) mit den Vorstädten 14,513 Einw.
Der Hafen ist etwas versandet und wird

61

Spalding - Spaltbarkeit.

durch einen Damm gegen die Südwinde geschützt. 1886
sind daselbst 1814 beladene Schiffe mit 286,366 Ton. eingelaufen.
Die Stadt treibt Wein-, Öl- und Gemüsebau, Fabrikation
von Likören (Rosoglio und Maraschino), Seiler- und Teigwaren,
Seife, Ziegeln, Kalk und Zement, ferner Schiffbau,
Küstenschiffahrt, lebhaften Handel mit Wein und Vieh sowie
auch Durchfuhrhandel und Niederlagsverkehr nach Bosnien und der
Herzegowina. S. besitzt eine Gasanstalt, eine Filiale der
Österreichisch-Ungarischen Bank, 2 Lokalbanken und ist der
Ausgangspunkt der Dalmatischen Eisenbahn nach Siveric mit
Abzweigung nach Sebenico. Es ist Sitz einer Bezirkshauptmannschaft,
eines Kreis- und Bezirksgerichts, einer Finanzbezirksdirektion,
eines Hauptzoll- und Hauptsteueramtes, eines Hafenkapitanats, einer
Handels- und Gewerbekammer, eines deutschen Konsuls, eines Bischofs
(bis 1807 Erzbischofs) und Kathedralkapitels und hat 8
Klöster, ein Diözesanseminar, ein Obergymnasium, eine
Oberrealschule, Knaben- und Mädchenschule, Lehr- und
Erziehungsanstalt der Barmherzigen Schwestern, Kinderbewahranstalt,
ein Krankenhaus, Findelhaus, Theater, Museum für
Altertümer (insbesondere die Ausgrabungen aus Salonä
enthaltend). Am Fuß des Bergs Marian (170 m, schöner
Überblick) sind zu Bädern benutzte kalte Schwefelquellen.
- In den oben erwähnten Kaiserpalast zog sich Diokletian nach
seiner Abdankung zurück. Als im 6. und 7. Jahrh. das
benachbarte Salonä (s. d.) zerstört worden war, bauten
sich dessen Einwohner innerhalb der Residenz Diokletians an, und so
entstand eine kleine Stadt, welche anfangs Palatium, dann Spalatium
(Salonae Palatium) hieß, woraus dann der Name S. entstand.
Die um die Mitte des 17. Jahrh. errichteten Festungswerke sind bis
auf das Fort Grippi unter der französischen Herrschaft
abgetragen worden. Vgl. Lanza, Dell' antico palazzo di Diocleziano
in S. (Triest 1855); Hauser, S. und die römischen Monumente
Dalmatiens (Wien 1883).

Spalding, Stadt in Lincolnshire (England), am schiffbaren
Welland, Hauptort des "Holland" genannten Distrikts der Fens (s.
d.), hat lebhaften Handel mit Wolle, Vieh und Kohlen und (1881)
9260 Einw.

Spalding, 1) Johann Joachim, protest. Theolog, geb. 1.
Nov. 1714 zu Tribsees in Schwedisch-Pommern, ward 1749 Prediger zu
Lassahn, 1757 erster Prediger zu Barth, 1764 Propst an der
Nikolaikirche in Berlin und später auch Oberkonsistorialrat,
in welcher Stellung er für religiöse Aufklärung
wirkte, bis ihn 1788 das Wöllnersche Religionsedikt (s. d.)
veranlaßte, seine Stelle niederzulegen. Er starb 26.
März 1804 in Berlin. Unter seinen Schriften sind als typisch
für seine Zeit noch heute hervorzuheben: "Gedanken über
den Wert der Gefühle in dem Christentum" (Leipz. 1761, 5.
Aufl. 1785); "Über die Nutzbarkeit des Predigtamts" (1772, 3.
Aufl. 1791). Seine Autobiographie erschien Halle 1804.

2) Georg Ludwig, Philolog, Sohn des vorigen, geb. 8. April 1762
zu Barth, vorgebildet in Berlin, studierte seit 1780 in
Göttingen und Halle, ward 1787 Professor am Grauen Kloster und
Mitglied der Akademie der Wissenschaften in Berlin und starb 7.
Juni 1811 in Friedrichsfelde bei Berlin. Er schrieb: "Vindiciae
philosophorum megaricorum" (Halle 1792), gab Demosthenes' "In
Midiam" (Berl. 1794; neubearbeitet von Buttmann, das. 1823) heraus
und machte sich namentlich um Quintilian verdient ("Quintiliani
opera", Leipz. 1798-1816, 4 Bde.; Bd. 5 von Zumpt, 1829; Bd. 6:
"Lexicon" von Bonnel, 1834). Vgl. Walch, Memoria Spaldingii (Berl.
1821).

Spalier (franz. espalier, ital. spaliéra,
Baumgeländer), Latten- und Drahtwerk, woran Weinstöcke
und Obstbäume in die Breite gezogen und mit den Ästen und
Zweigen angebunden werden; wird gewöhnlich an sonnigen
Wänden angebracht. Am besten benutzt man hierzu verzinkten
Eisendraht, der durch verzinkte Eisenstützen festgehalten,
durch sogen. Drahtspanner (s. d.) angezogen, bez. (über
Winter) nachgelassen wird.

Spalierbaum, s. Obstgarten, S. 312.

Spallanzani, Lazzaro, Naturforscher, geb. 12. Jan. 1729
zu Scandiano im Herzogtum Modena, studierte zu Bologna
Naturwissenschaft, ward 1756 Professor zu Reggio, später in
Modena und Pavia, bereiste die Schweiz, den Orient und einen Teil
Deutschlands und starb 11. Febr. 1799 in Pavia. Er lieferte 1785 in
seiner Arbeit über die Zeugung den experimentellen Nachweis
der Befruchtung der Eier durch die Samenkörper, machte auch
Untersuchungen über die Reproduktion und die Fortpflanzung der
Frösche, über die Infusionstierchen, über einen
eigentümlichen Sinn der Fledermäuse, über die
Wirkung des Magensafts und den Blutkreislauf und beschrieb die
naturhistorischen Merkwürdigkeiten der von ihm bereisten
Länder. Er schrieb: "Opuscoli di fisica animale e vegetabile"
(Mod. 1780, 2 Bde): "Viaggi alle due Sicilie ed in alcune parti
degli Apennini" (Pavia 1792, 6 Bde.; deutsch, Leipz. 1795, 4 Bde.);
"Expériences pour servir à l'histoire de la
génération des animaux et des plantes" (Genf 1786).
1889 wurde ihm in Scandiano ein Denkmal errichtet.

Spalmadores (Kujun-Adassi, "Schaf-Inseln"), kleine
türk. Inselgruppe in der gleichnamigen Meerenge zwischen der
Insel Chios und der Westküste von Kleinafien (im Altertum
Önussä).

Spalmeggio (spr. -meddscho), ein Nebel, s. Bora.

Spalt, Stadt im bayr. Regierungsbezirk Mittelfranken,
Bezirksamt Schwabach, an der Fränkischen Rezat u. der Linie
Georgensgmünd-S. der Bayrischen Staatsbahn, 362 m ü. M.,
hat 3 Kirchen, Bierbrauerei, starken Hopfenbau und (1885) 2060
meist kath. Einw.

Spaltbarkeit der Mineralien, die Eigenschaft, in
bestimmten Richtungen geringere Grade der Kohärenz zu besitzen
als in den übrigen dazwischenfallenden Richtungen, so
daß selbst bei unbedeutender Größe trennender
Kräfte senkrecht zu diesen Richtungen der Minima der
Kohärenz Spaltbarkeitsflächen
(Blätterdurchgänge) erzeugt werden können. Die
Flächen, welche durch die S. erzeugt werden, stehen im engsten
Zusammenhang mit den morphologischen Eigenschaften der Mineralien
und gehören ausnahmslos einer Figur an, die demselben
Kristallsystem zuzuzählen ist, in welchem die betreffende
Spezies kristallisiert. So ist der tesseral kristallisierende
Bleiglanz in drei aufeinander senkrechten Richtungen, den sechs
Würfelflächen entsprechend, spaltbar, der tesserale
Flußspat in vier (oktaedrischen) Richtungen, der hexagonale
Kalkspat nach den Flächen eines Rhomboeders und zwar derart,
daß diese durch Spaltung erhaltenen Formen, abgesehen von der
Zugehörigkeit zum gleichen System, von der äußern
Begrenzung der Individuen unabhängig ist. So erhält man
durch Zertrümmerung von Kalkspat Rhomboeder, sei der Kristall
selbst ein Rhomboeder oder ein Skalenoeder oder eine hexagonale
Säule. Diesem Zusammenhang zwischen Spaltungsform und
Kristallsystem entsprechend, können zu Blättchen teilbare
Mineralien (monotome) nicht dem tesseralen System angehören,
da in diesem eine der Monotomie entsprechende Kristallform (ein
Flächenpaar)

62

Spaltfrüchte - Spangenberg.

nicht möglich ist. Aus gleichem Grund können
quadratisch oder hexagonal kristallisierende Mineralien nur
senkrecht zur kristallographischen Hauptachse (optischen Achse)
monotom spaltbar sein, während in dem rhombischen und den
klinoedrischen Systemen Monotomie nach mehr denn einer Richtung
möglich ist. Die Leichtigkeit, charakterisierende Formen
selbst bei äußerlich mangelnder
Gesetzmäßigkeit der Begrenzung darstellen zu
können, macht die S. für die Bestimmung der
Mineralspezies sehr wertvoll.

Spaltfrüchte (Schizocarpia), s. Frucht, S. 755.

Spaltfüßer (Entomostraca), s. Krebstiere,
177.

Spalthufer, s. v. w. Wiederkäuer.

Spaltöffnungen (Stomata), s. Epidermis.

Spaltpilze, s. Pilze I., S. 68.

Spaltschnäbler (Fissirostres), nach Cuvier u. a.
Familie aus der Ordnung der Sperlingsvögel, mit kurzem,
dreieckigem, flachem, bis weit hinter die Augen gespaltenem
Schnabel. Hierher gehört die Gattung Schwalbe u. a.

Spaltung (Kirchenspaltung), s. Schisma.

Spampanaten (ital.), Aufschneidereien.

Spanböden, s. v. w. Sparterie, s. Geflechte.

Spandau (Spandow), Stadt (Stadtkreis) und Festung im
preuß. Regierungsbezirk Potsdam, am Einfluß der Spree
in die Havel und an den Linien Berlin-Buchholz und Berlin-Lehrte
der Preußischen Staatsbahn, 32 m ü. M., hat 2
evangelische und eine kath. Kirche (unter jenen die Nikolaikirche
aus dem 14. Jahrh.), ein Gymnasium, ein Amtsgericht, eine
Militärschießschule, ein Krankenhaus, 2 Hospitäler,
ein Militärlazarett, ein Zentralfestungsgefängnis,
Geschützgießerei, Pulver-, Munition- und
Gewehrfabrikation, eine Artilleriewerkstatt, ein
Feuerwerkslaboratorium (sämtlich Staatsanstalten), einen
großen Pferdemarkt und (1885) mit der Garnison (4. Gardereg.
zu Fuß, 3. Gardegrenadierreg., 2 Bat.
Gardefußartillerie und ein Trainbat. Nr. 3) 32,009 meist
evang. Einwohner. Durch zahlreiche Neubauten und die Anlage von
detachierten Forts ist S. zum Schutz von Berlin in eine Festung
ersten Ranges umgewandelt. In der Citadelle steht der Juliusturm
mit dem deutschen Reichskriegsschatz (s. d.). - S., eine der
ältesten Städte der Mittelmark, empfing schon 1232
Stadtrecht und war später mehrfach Residenz der
Kurfürsten von Brandenburg. Nachdem es schon 1319-50 mit einer
Mauer umgeben war, wurden die Festungswerke 1626-48 verstärkt
und 1842 bis 1854 zeitgemäß umgebaut. 1631-34 wurde S.
von Georg Wilhelm den Schweden eingeräumt, 25. Okt. 1806 von
Beneckendorf an die Franzosen übergeben. Am 26. April 1813
ergab es sich nach kurzer Blockade dem preußischen General v.
Thümen. Vgl. Krüger, Chronik der Stadt und Festung S.
(Spand. 1867); Kuntzemüller, Geschichte der Stadt und Festung
S. (das. 1881).

Spandrille, in der Baukunst ein Zwickel zwischen einem
Bogen und dessen rechtwinkeliger Einfassung (s. vorstehende
Abbildung).

Spange, Nadel, Schmucknadel (s. Fibel), ursprünglich
zur Befestigung des Mantels oder Gürtels dienend; dann auch im
weitern Sinn für Brosche, Armband etc. gebraucht. Über
vorhistorische Spangen s. Metallzeit.

Spangenberg, Stadt im preuß. Regierungsbezirk
Kassel, Kreis Melsungen, an der Pfiefe und der Linie
Treysa-Leinefelde der Preußischen Staatsbahn, 264 m ü.
M., hat eine evang. Kirche, ein Amtsgericht, eine
Oberförsterei, Zigarren- und Peitschenfabrikation, Ziegeleien
und (1885) 1676 Einw. Dabei das gleichnamige Bergschloß, das
zur kurhessischen Zeit als Staatsgefängnis benutzt wurde,
jetzt aber leer steht. S., ursprünglich einem Zweig der Herren
v. Treffurt gehörig, wurde 1347 hessisch.

Spangenberg, 1) August Gottlieb, der zweite Stifter der
Evangelischen Brüderunität, geb. 1704 zu Klettenberg in
der Grafschaft Hohenstein, ward auf der Universität Jena
gebildet und 1732 Adjunkt der theologischen Fakultät zu Halle
sowie Inspektor des dortigen Waisenhauses. Nachdem er 1743 aus
Halle auf Befehl des Königs vertrieben war, schloß er
sich der Brüdergemeinde an, machte mehrere Missionsreisen in
Europa und Amerika, wurde 1762 nach Zinzendorfs Tode dessen
Nachfolger als Bischof und starb 18. Sept. 1792 in Berthelsdorf. Er
schrieb das "Leben Zinzendorfs" (Barby 1772, 2 Bde.) und "Idea
fidei fratrum, oder kurzer Begriff der christlichen Lehre in der
Brüdergemeinde" (das. 1779). Vgl. Ledderhose, Leben
Spangenbergs (Heidelb. 1846); Knapp, Beiträge zur
Lebensgeschichte Spangenbergs (1792; hrsg. von Frick, Halle
1884).

2) Ernst Peter Johannes, gelehrter Jurist, geb. 6. Aug. 1784 zu
Göttingen, studierte daselbst die Rechte, habilitierte sich
1806, trat aber dann zur richterlichen Laufbahn über und ward
1811 Generaladvokat bei dem kaiserlichen Gerichtshof zu Hamburg,
1814 Assessor bei der Justizkanzlei in Celle, 1816 Hof- und
Kanzleirat an diesem Gerichtshof, 1824 Oberappellationsgerichtsrat
und 1831 Beisitzer des königlichen Geheimratskollegiums zu
Hannover. Er starb 18. Febr. 1833 in Celle. Während der
westfälischen Herrschaft schrieb er mehrere auf das
französische Recht bezügliche Werke, wie die
"Institutiones juris civilis Napoleonei" (Götting. 1808) und
den "Kommentar über den Code Napoléon" (das. 1810-1811,
3 Bde.). Von seinen übrigen zahlreichen Schriften nennen wir:
"Einleitung in das Römisch-Justinianeische Rechtsbuch"
(Hannov.1817); "Die Minnehöfe des Mittelalters" (Leipz. 1821);
"Beiträge zu den deutschen Rechten des Mittelalters" (Halle
1822); "Jakob Cujas" (Leipz. 1822); "Juris romani tabulae
negotiorum sollemnium" (das. 1822); "Die Lehre von dem
Urkundenbeweise" (Heidelb. 1827, 2 Abtlgn.). Von Strubes
"Rechtlichen Bedenken" besorgte S. eine neue Ausgabe (Hannov.
1827-28, 3 Bde.), wie er auch Hagemanns "Praktische
Erörterungen aus allen Teilen der Rechtsgelehrsamkeit" (Bd.
8-10, 1829-37) fortsetzte. Noch sind von ihm zu erwähnen:
"Sammlung der Verordnungen und Ausschreiben für sämtliche
Provinzen des hannoverschen Staats bis zur Zeit der Usurpation"
(Hannov. 1819-25, Tl. 1-3 und Tl. 4 in 4 Abtlgn.); "Neues
vaterländisches Archiv" (Lüneb. 1822-32, 22 Bde.);
"Kommentar zur Prozeßordnung für die Untergerichte des
Königreichs Hannover" (Hannov. 1829-1830, 2 Abtlgn.); "Das
Oberappellationsgericht in Celle" (Celle 1833).

3) Louis, Maler, geb. 1824 zu Hamburg, war anfangs Architekt und
Eisenbahntechniker und wid-

63

Spangenhelm - Spanien.

mete sich erst nach 1845 der Landschafts- und Architekturmalerei
in München bei E. Kirchner und in Brüssel. Nach
längern Studienreisen durch Frankreich, England, Italien und
Griechenland ließ er sich 1857 in Berlin nieder. Seine
Landschaften, deren Motive teils Norddeutschland, teils
Griechenland und Italien entlehnt sind, zeichnen sich durch
großartige und strenge Auffassung mit Neigung zum Stilisieren
und bei meist ernster Stimmung aus. Die hervorragendsten derselben
sind: Akrokorinth, die Akropolis von Athen, Bauernhof in Oldenburg,
der Regenstein im Harz, norddeutscher Eichenwald, Neptuntempel und
Basilika in Pästum, Theater des Herodes Atticus in Athen,
Motiv aus dem Engadin, Torfmoor in Holstein. In der technischen
Hochschule zu Charlottenburg hat er eine Reihe von
Wandgemälden mit berühmten Baudenkmälern des
Altertums ausgeführt.

4) Gustav, Maler, Bruder des vorigen, geb. 1. Febr. 1828 zu
Hamburg, hatte 1844 den ersten Zeichenunterricht bei H. Kauffmann
in Hamburg, besuchte 1845-48 die Gewerbe- und Zeichenschule in
Hanau unter Th. Plissier, lebte 1849-51 in Antwerpen, wo er die
Akademie jedoch nur kurze Zeit besuchte, und ging 1851 nach Paris,
wo er bei Couture und dem Bildhauer Triqueti arbeitete, sich aber
vorwiegend durch das Studium der Meister der deutschen Renaissance
(Dürer und Holbein) bildete. Nachdem er noch ein Jahr in
Italien zugebracht (1857-1858), ließ er sich in Berlin
nieder, wo er als Professor lebt. Von seinen frühern Bildern
sind zu nennen: das geraubte Kind, der Rattenfänger von
Hameln, St. Johannisabend in Köln, Walpurgisnacht. Seinen Ruf
begründete S. jedoch erst durch seine Historienbilder, die im
Anschluß an die altdeutschen Meister sich durch klare
Komposition, Korrektheit der Zeichnung und fleißige
Durchführung des Einzelnen auszeichnen. Luthers Hausmusik,
Luther als Junker Georg, Luther die Bibel übersetzend (1870,
Berliner Nationalgalerie), Luther und Melanchthon, Luther im Kreise
seiner Familie musizierend und Luthers Einzug in Worms sind die
Hauptbilder dieser Reihe. Den Höhepunkt seines Schaffens
erreichte er in dem tief ergreifenden Zug des Todes (1876, in der
Berliner Nationalgalerie), mit Figuren in der Tracht der
Renaissance, welcher ihm die große goldene Medaille
einbrachte. Hinter diesem Hauptwerk blieben seine spätern
Schöpfungen (am Scheideweg, das Irrlicht, die Frauen am Grab
Christi) an Tiefe der Empfindung und Gedankeninhalt zurück.
Für das Treppenhaus der Universität Halle führte er
einen Cyklus von die vier Fakultäten versinnlichenden
Wandgemälden aus, wofür er 1888 zum Ehrendoktor der
Philosophie promoviert wurde.

5) Paul, Maler, geb. 26. Juli 1843 zu Güstrow
(Mecklenburg), bildete sich an der Akademie zu Berlin, bei
Professor Stesseck daselbst und bei Stever in Düsseldorf, dann
ein Jahr lang in Paris, machte Reisen nach Spanien und Italien und
ließ sich 1876 in Berlin nieder, wo er als Porträtmaler
thätig ist und namentlich in Damenbildnissen durch geschicktes
Arrangement und glänzende koloristische Behandlung des
Stofflichen Hervorragendes leistet.

Spangenhelm, s. Helm, S. 363.

Spangrün, s. Grünspan.

Spanheim, 1) Ezechiel, namhafter Staatsmann und
Rechtsgelehrter, geb. 7. Dez. 1629 zu Genf, wo sein Vater Friedrich
S. (gest. 1648 in Leiden) Professor der Theologie war, studierte
hier und in Leiden, wurde 1651 Professor der Beredsamkeit in seiner
Vaterstadt und Mitglied des Großen Rats, später Erzieher
der Söhne des Kurfürsten von der Pfalz, mit denen er
Italien u. Sizilien bereiste. 1665 wurde er kurpfälzischer und
zugleich brandenburgischer Resident in England, trat dann ganz in
die Dienste des Kurfürsten von Brandenburg, ging 1680 als
außerordentlicher Gesandter nach Paris, wo er neun Jahre
verweilte, und ward dann zum Staatsminister ernannt. Er nahm 1697
teil an den Friedensverhandlungen zu Ryswyk und ging darauf von
neuem als Gesandter nach Paris, 1702 als außerordentlicher
Gesandter nach London, wo er 7. Nov. 1710 starb. S. besaß
eine umfassende Gelehrsamkeit im Gebiet der Staaten- und
Rechtsgeschichte und im Münzwesen des Altertums. Seine
Hauptwerke sind: die "Dissertationes de usu et praestantia
numismatum antiquorum" (beste Ausgabe, Lond. u. Amsterd. 1706-16, 2
Bde.) und die Schrift "Orbis romanus" (Lond. 1704, Halle 1728).
Wegen der sachlichen Erläuterungen sind seine Ausgaben des
Julianus (Leipz. 1696) und Kallimachos (Utr. 1697, 2 Bde.) sowie
die französische Übersetzung der "Imperatores" des
Julianus (beste Ausg., Amsterd. 1728) schätzenswert. Auch
lieferte er Kommentare zu mehreren Komödien des Aristophanes
(Amsterd. 1710). Seine wertvolle Bibliothek wurde von Friedrich I.
angekauft und der königlichen Bibliothek in Berlin
einverleibt.

2) Friedrich, Kirchenhistoriker, Bruder des vorigen, geb. 1632
zu Genf, studierte in Leiden und erhielt nach Vollendung seiner
Studien 1656 eine Professor der Theologie zu Heidelberg, 1670 zu
Leiden, wo er 1701 starb. Er hat sich als Polemiker und Forscher im
Fach der Kirchengeschichte bekannt gemacht. Seine Werke erschienen,
mit Ausnahme der in französischer Sprache geschriebenen, in 3
Bänden (Leid. 1701-1703).

Spani, Prospero, ital. Bildhauer, s. Clementi 1).

Spanien (hierzu die Karte "Spanien und Portugal", bei den
Alten auch Iberien, bei den Griechen Hesperien genannt, span.
España, franz. l'Espagne, lat. Hispania),
westeuropäisches Königreich, erstreckt sich, den bei
weitem größten Teil der Pyrenäischen Halbinsel
einnehmend, zwischen 36-43° 47' nördl. Br. und 9° 22'
westl. - 3° 20' östl. L. v. Gr.

Übersicht des Inhalts.

Seite

Grenzen, Küsten.................63

Bodengestaltung.................64

Gewässer........................65

Klima...........................65

Vegetation, Tierwelt............66

Areal und Bevölkerung...........66

Bildungsanstalten...............67

Land- und Forstwirtschaft.......68

Bergbau und Hüttenwesen.........70

Industrie.......................71

Handel und Verkehr..............72

Wohlthätigkeitsanstalten........73

Staatsverfassung................73

Verwaltung......................74

Rechtspflege....................74

Finanzen........................75

Heer und Flotte.................75

Wappen, Orden...................75

Geograph.-statist. Litteratur...76

Geschichte......................76

S. grenzt gegen N. an Frankreich (durch die Pyrenäen davon
geschieden), an die Republik Andorra und an den Viscayischen
Meerbusen, gegen W. an das Atlantische Meer und an Portugal,
während es im übrigen vom Atlantischen Ozean und vom
Mittelländischen Meer bespült wird. Der nördlichste
Punkt Spaniens ist die Estaca de Vares, der westlichste das Kap
Toriñana, beide in Galicien, der südlichste die Punta
Marroqui bei Tarifa, der östlichste das Kap de Creus. Die
größte Ausdehnung von N. nach Süden beträgt
856 und von O. nach W. 1020 km. Die Grenzentwickelung beläuft
sich auf 3340 km. Die Nordküste verläuft fast geradlinig,
bildet nur zwischen Gijon und Aviles sowie zwischen Rivadeo und La
Coruña bedeutendere Vorsprünge gegen N. und zeichnet
sich vor den übrigen Küsten des Landes durch Schroff-

63a

Karte Spanien und Portugal.

64

Spanien (Bodengestaltung).

heit und Unzugänglichkeit aus, indem hier die Gebirge fast
überall dicht ans Meer heranrücken. Zugänglich ist
sie nur an den Mündungen der Flüsse und der tief in das
Land einschneidenden Meeresarme (rias), welche namentlich an der
Küste von Galicien häufig auftreten. Auch die
Westküste Spaniens trägt im ganzen diesen Charakter; doch
ist sie viel zugänglicher als jene, weil hier die Gebirge nur
in den Kaps bis an das Meer herantreten und sich im Hintergrund der
Rias gewöhnlich Ebenen befinden. Die Süd- und
Ostküste läßt dagegen eine Anzahl weiter, flacher
Meerbusen und dazwischen befindliche, in felsige Vorgebirge endende
Landvorsprünge erkennen, ist also gegliederter als die Nord-
und Westküste und durch sichere Häfen zugänglich.
Die wichtigsten Buchten der Südküste sind von W. nach O.
die Golfe von Cadiz, Malaga und Almeria sowie die Bucht von
Cartagena, an der Ostküste die Bai von Alicante und der Golf
von Valencia.

Bodengestaltung.

Was die Bodengestaltung anlangt, so besteht die Pyrenäische
Halbinsel zum großen Teil aus einem das Zentrum derselben
einnehmenden Plateau oder Tafelland von trapezoidaler Gestalt, das
ein Areal von etwa 231,000 qkm (4200 QM.) bedeckt und ringsum von
Gebirgen umwallt ist, auch mehrere Gebirgsmassen auf seiner
Oberfläche trägt. Dieses zentrale Tafelland gehört
ganz und gar zu S. und besteht aus zwei großen Plateaus,
einem höhern nördlichen und einem etwas niedrigern
südlichen. Ersteres umfaßt die Hochebenen von Leon und
Altkastilien, letzteres die von Neukastilien, Estremadura und die
nördliche Hälfte von Murcia. Beide Plateaus sind durch
einen hohen, von ONO. nach WSW. sich erstreckenden Gebirgszug
(Kastilisches Scheidegebirge) größtenteils voneinander
geschieden. Nach O. ansteigend, senken sie sich nach W., so
daß die Hauptflüsse westlichen Lauf haben, im
nördlichen Plateau der Duero, im südlichen der Tajo und
Guadiana, zwischen welchen beiden Flüssen sich in der
westlichen Hälfte des Plateaus das ziemlich bedeutende
Gebirgssystem von Estremadura erhebt. Die Hochebene von
Altkastilien und Leon hat eine mittlere Höhe von 810, die von
Neukastilien und Estremadura von 784 m. Die vier Abhänge des
zentralen Tafellandes zeigen sehr verschiedene Gestaltung. Der
steil ins Meer abstürzende Nordabhang wird vom Kantabrischen
Gebirge, der westlichen Fortsetzung der Pyrenäen, gebildet und
ist sehr schmal. Weit breiter ist der östliche oder iberische
Abhang, der in mehreren terrassenartigen Absätzen in die
Tiefebene von Aragonien und zum Golf von Valencia abfällt und
bloß stellenweise isolierte Gebirgsmassen aufweist. Eine
ähnliche, wenn auch weniger deutlich ausgeprägte
Terrassenbildung zeigt der südliche oder bätische Abhang,
welcher bloß gegen O. (in den Provinzen Murcia und Alicante)
bis an die Küste des Mittelmeers herantritt, im übrigen
in die Tiefebene Niederandalusiens und zu den Küsten des
Atlantischen Meers absinkt. Derselbe wird ganz von den welligen
Bergen der Sierra Morena eingenommen, welche sich über die
Hochebenen Neukastiliens und Estremaduras nur als niedrige
Gebirgskette erhebt. Der westliche oder lusitanische Abhang, der
breiteste und eigentümlichste, gehört
größtenteils Portugal an. Im ganzen lassen sich sechs
voneinander fast unabhängige Gebirgssysteme unterscheiden,
nämlich: das pyrenäische System, das iberische System
oder das östliche Randgebirge des Tafellandes, das zentrale
System oder das Kastilische Scheidegebirge, das Gebirgssystem von
Estremadura oder das Scheidegebirge zwischen Tajo und Guadiana, das
marianische System oder das südliche Randgebirge des
Tafellandes und das bätische System oder die Bergterrasse von
Granada (mit der Sierra Nevada, der höchsten Erhebung der
Halbinsel). Die eingehendere Beschreibung dieser Gebirgssysteme
findet sich in den Artikeln Pyrenäen, Kantabrisches Gebirge,
Iberisches Gebirge, Sierra Morena, Sierra Nevada etc. Zwischen dem
iberischen und pyrenäischen Gebirgssystem breitet sich das
ausgedehnte Ebrobassin oder das iberische Tiefland aus. Dasselbe
erstreckt sich von NW. nach SO. und mißt gegen 300 km in der
Länge und gegen 150 km in der Breite. Es zerfällt in eine
nordwestliche kleinere und eine südöstliche
größere Abteilung, welche, durch Höhenzüge
voneinander getrennt, bei Tudela ineinander übergehen.
Während das obere Bassin ein eigentliches Plateau bildet,
dessen tiefste Punkte noch eine absolute Höhe von mehr als 300
m haben, trägt das untere Ebrobassin, wenigstens in seiner
letzten Hälfte, wo es sich bedeutend erweitert, mehr den
Charakter eines Tieflandes, dessen tiefste Punkte, z. B. die
Salzseen von Bajaraloz, ungefähr 100 m ü. M. liegen.
Beide Bassins enthalten neben höchst fruchtbaren Strecken auch
weite öde Steppengebiete. Zwischen dem bätischen und
marianischen Gebirgssystem breitet sich das bätische Tiefland
oder das Bassin des Guadalquivir aus, welches sich von ONO. nach
WSW. erstreckt, 330 km lang und bis 90 km breit ist und ebenfalls
in zwei Hauptabteilungen zerfällt: das kleine Becken des obern
Guadalquivir und das fünfmal so große Bassin des
mittlern und untern Guadalquivir. Während jenes ein
entschiedenes Plateau ist, das sich bis 475 m ü. M. erhebt und
nicht tiefer als bis 160 m herabsinkt, bildet das letztere oder
Niederandalusien ein Flachland, welches durch den Jenil in zwei
ungleiche Stücke geteilt wird. Das östliche kleinere
Stück, die Campiña de Cordova bildet eine hügelige
Fläche mit bis über 130 m ansteigenden Punkten; das
restliche größere, die Ebene von Sevilla, ein
eigentliches Tiefland, dessen Boden sich nirgends über 80 m
ü. M. erhebt. Das Bassin des Ebro und das des Guadalquivir
sind alte Meeresgolfe und daher mit brackischen
mitteltertiären Ablagerungen erfüllt. Durch jenes werden
die Pyrenäen (s. d.) mit ihrem Terrassenabfall nach Katalonien
und Aragonien, durch dieses die Gebirge von Granada mit der Sierra
Nevada in der Art vom Hauptkörper des spanischen Hochlandes
getrennt, daß dieselben nur an ihren Enden mit ihm durch
Berg- und Plateaulandschaften in Verbindung stehen.

Was die geognostische Beschaffenheit des Landes betrifft, so
spielen die plutonischen Eruptivgesteine und die ältern oder
primären Sedimentärgesteine eine hervorragende Rolle,
namentlich in der südwestlichen Hälfte der Halbinsel, wo
Granit, Gneis und andre kristallinische Gesteine, Thonschiefer und
Grauwacke fast ausschließlich vorherrschen, während in
der nordöstlichen Hälfte die jüngern Sedimente
vorwiegend sind. Nur in der Pyrenäenkette und längs der
Küste von Katalonien (zwischen dem Golf von Rosas und
Barcelona) treten Gneis und kristallinische Sedimentärgesteine
wieder in bedeutender Mächtigkeit auf. Unter den
sekundären Sedimenten erscheinen die Glieder der Kreide-, der
jurassischen und der Triasperiode am meisten verbreitet. Die
Kreideformation umfaßt namentlich den größten Teil
der Kantabrischen Kette, der Pyrenäischen Terrasse und den
Nordrand des nördlichen Tafellandes und tritt

Spanien (Gewässer, Klima).

65

außerdem am Ost- und Südrand des Plateaus von
Altkastilien und im westlichen Teil des zentralen Gebirgssystems
sowie im nordwestlichen Randgebirge der Terrasse von Granada auf.
Die ältern Sekundärformationen, wie die Gesteine der
Steinkohlenformation, treten nur in geringem Umfang und zerstreut
auf. Gleichwohl besitzt S. so gewaltige Steinkohlenbecken,
daß, wenn dieselben gehörig aufgeschlossen wären,
das Land nicht nur keiner fremden Kohlen mehr bedürfte,
sondern sogar bedeutende Mengen ausführen könnte. Am
meisten ist die Steinkohlenformation in Asturien, Leon und
Altkastilien entwickelt. Eine ungeheure Verbreitung haben dann
wieder die tertiären und diluvialen Ablagerungen, die nicht
nur den bei weitem größten Teil der beiden
Zentralplateaus, sondern auch die Becken des Ebro, des
Guadalquivir, des mittlern Guadiana und des untern Tajo
erfüllen. Diese Ablagerungen enthalten sehr viel Salz.
Vulkane, aber schon seit vorgeschichtlicher Zeit erloschen, finden
sich vereinzelt, z. B. bei Rio Tinto, Ciudad Real in der Mancha,
Gerona etc. Sehr verbreitet, besonders in der südwestlichen
Hälfte (z. B. Estremadura), sind Eruptionen der
verschiedenartigsten Porphyre und Grünsteine, daher auch das
häufige Vorkommen metamorphosierter Gesteine, im SW.
namentlich metamorphischer Schiefer. Über den Reichtum
Spaniens an Erzen und Mineralien s. den Abschnitt "Bergbau und
Hüttenwesen" (S. 70).

Gewässer.

In hydrographischer Hinsicht zerfällt das Land in das
Gebiet des Atlantischen Ozeans und das des Mittelmeers, welch
letzterm sein östliches Dritteil angehört. Die
Wasserscheide zwischen beiden Gebieten beginnt auf den Parameras
von Reinosa am Südrand der Kantabrischen Kette, wo die
Quellbäche des Ebro und des in den Duero sich
ergießenden Pisuerga nicht 10 km weit voneinander entfernt
auf einer vollkommen ebenen Fläche entspringen, und endigt an
der Meerenge von Gibraltar, indem sie über den Kamm des
iberischen Gebirgszugs (Sierra de la Demanda, Pico de Urbion,
Sierra del Moncayo, die Parameras von Molina) bis zur Sierra de
Albarracin läuft, dann das Plateau von Neukastilien schneidet
und über die Sierra de Alcaraz und das Gebirge von Segura auf
die Plateaus der Terrasse von Granada übergeht, deren
östliches Randgebirge ihr letztes Stück bildet. Der
westlichen Abdachung zum Atlantischen Ozean gehören an: der
Duero, Tajo, Guadiana und Guadalquivir, der östlichen zum
Mittelmeer der Ebro. Unter den zahlreichen Küstenflüssen
zeichnen sich die der Nordküste dadurch aus, daß sie
trotz ihrer unbedeutenden Länge in ihrem untersten Lauf
schiffbar sind. Die beträchtlichsten sind von O. nach W.:
Bidassoa, Orio, Deva, Nervion, Besaya, Nalon, Navia, Rivadeo,
Landrone, Mandeo und Allones. Die Flüsse der Westküste
sind zwar länger, doch meist gar nicht schiffbar; die
bedeutenden sind: der Tambre, Ulla und besonders der Minho
(Miño). Die Südküste hat zwar viele Flüsse,
doch nur einen einzigen im untersten Lauf schiffbaren, nämlich
den Guadalete; außerdem verdienen noch der Odiel und Rio
Tinto Erwähnung sowie zwischen der Meerenge von Gibraltar und
dem Kap Palos: der Guadiaro, Guadalhorce, Rio de Almeria,
Almanzora. Auch die lange Ostküste hat nur zwei schiffbare
Küftenflüsse aufzuweisen, den Segura und Llobregat.
Nächstdem sind zu nennen: der Jucar, Turia oder Guadalaviar,
Millares (Mijares), Tordera, Ter und Fluvia. Größere
Seen gibt es nur an der Süd- und Südostküste,
nämlich die Strandseen Albusera und Mar Menor und die Laguna
de la Janda in der Nähe der Meerenge von Gibraltar. Kleinere
Seen sind: die wegen ihrer mephitischen Ausdünstung
berüchtigte Laguna de la Nava bei Palencia, die salzhaltige
Laguna de Zoñar in der bätischen Steppe und die
gleichfalls salzige Laguna de Gallocanta im Süden von Daroca
am Ostabhang des Tafellandes. Sehr zahlreich sind die
Mineralquellen; von 1500, die S. besitzt, sind aber erst etwa 325
untersucht. Die kälteste ist die Schwefelsaline zu Loeches in
Neukastilien (15° C.), die heißeste die Fuente de Leon zu
Mombuy in Katalonien (70° C.).

Klima.

Die eigentümliche Plastik des Landes hat eine große
Verschiedenheit des Klimas zur Folge. Es lassen sich drei
klimatische Zonen unterscheiden: eine mitteleuropäische oder
kältere gemäßigte Zone, zu welcher der
größte Teil der Nordküste, die nördlichen
Gegenden der Hochebene von Leon und Kastilien und das Plateau von
Alava gehören; eine afrikanische oder subtropische, welche
Andalusien bis zur Sierra Morena, Granada, die
südöstliche Hälfte von Murcia und den
südlichsten Teil von Valencia begreift, und eine
südeuropäische oder wärmere gemäßigte
Zone, welche alles übrige Land umfaßt. In der
mitteleuropäischen Zone haben die Litoral- und tiefer
gelegenen Gegenden ein sehr angenehmes Klima, indem die Temperatur
selbst im heißesten Sommer nicht leicht über +33° C.
steigt, an den kältesten Wintertagen kaum unter -3° sinkt
und Frost und Schneefall nur vorübergehend auftreten. Die
Atmosphäre ist meist feucht, Regen besonders im Herbst und
Frühling häufig. Die Thäler der Nordküste
gehören zu den gesündesten Gegenden Europas. Ein ganz
andres Klima herrscht auf den Hochflächen des altkastilischen
Tafellandes; hier sind heftiger Frost und starker Schneefall schon
im Spätherbst keine Seltenheit, und während des Winters
ist durch Schneemassen oft wochenlang alle Kommunikation
unterbrochen. Im Frühling bedecken kalte Nebel oft tagelang
das Land, und im Sommer herrscht glühende Hitze, die selten
durch Regen gemäßigt wird. Dabei sind in jeder
Jahreszeit Stürme häufig. Erst die von Regengüssen
begleiteten Äquinoktialstürme bringen dem Plateauland
angenehme Witterung. Von Ende September bis November ist der Himmel
fast stets unbewölkt, und die Fluren bedecken sich mit
frischem Grün; doch oft schon im Oktober machen
Frühfröste diesem zweiten Frühling ein Ende. Einen
Gegensatz zu diesem der Gesundheit sehr nachteiligen Klima bieten
die innerhalb der südeuropäischen Zone gelegenen
Küstenstriche dar, namentlich die Flußthäler
Südgaliciens, wo ein gleichmäßiges, mildes
Küstenklima herrscht, indem die mittlere Temperatur des
Sommers ungefähr +20°, die des Winters +16°
beträgt und Frost und Schnee selten, Regen und Tau häufig
sind. Die Ebenen und Thäler der Südost- und Ostküste
haben im allgemeinen ein dem des südlichen Frankreich
entsprechendes, nur wärmeres Küstenklima, doch nicht ohne
bedeutende und häufige Temperaturschwankungen. Die
afrikanische Zone der Halbinsel ist dadurch ausgezeichnet,
daß in ihren Tiefebenen, Küstengegenden und tiefen
Thälern Schnee und Frost fast unbekannte Erscheinungen sind,
indem die Temperatur höchst selten bis 3° sinkt. Die
heißesten Gegenden sind die Südostküste bis
Alicante sowie die angrenzenden Ebenen, Hügelgelände und
Plateaus von Murcia und Ostgranada. Weit gemäßigter sind
die Küstengegenden Niederandalusiens. Der glühend
heiße, alle Vegetation versengende Solano (Samum) sucht
am

Meyers Konv.-Lexikon, 4. Aufl., XV. Bd.

5

66

Spanien (Pflanzen- und Tierwelt, Areal und
Bevölkerung).

häufigsten die südöstlichen Küstenstriche
heim. Im übrigen ist das Klima in den niedern Gegenden der
afrikanischen Zone ein angenehmes Küstenklima mit einer
mittlern Temperatur, die nicht leicht über +24,5° steigt
oder unter +12° C. fällt. Der eigentliche Frühling
beginnt hier Ende Februar und dauert an der Küste bis Mitte
Mai, im Innern bis Anfang Juni. Während des Sommers
vertrocknet auch hier die Vegetation, wie auch die
Äquinoktialregen einen zweiten Frühling hervorzaubern,
welcher aber nicht schnell verfließt, wie im Plateauland,
sondern durch den minder blütenreichen Winter, fast die
angenehmste Jahreszeit jener Gegenden, in den eigentlichen
Frühling übergeht. Die Ebenen und Küstengegenden der
afrikanischen Zone haben folglich acht Monate Frühling und
vier Monate Sommer. Was die eigentlichen Gebirgsgegenden anlangt,
so lassen sich hier fünf Regionen unterscheiden: die untere
oder warme (bis 800 m) mit 27-17° mittlerer Temperatur, die
Bergregion (800-1600 m) mit 16-9°, die subalpine Regton
(1600-2000 m) mit etwa 8-4°, die alpine Region (2000-2500 m)
mit 3°-0, die Schneeregion (2500-3500 m) mit einer mittlern
Jahrestemperatur von wahrscheinlich unter 0. In den Pyrenäen
findet sich ewiger Schnee nur in der Zentral- und östlichen
Kette, wo die Grenze desselben auf der spanischen Seite bei 2780 m
liegt. In der Sierra Nevada, dem höchsten Gebirge Spaniens,
nimmt man die Schneelinie am Nordabhang bei 3350, am Südabhang
bei 3500 m an, weshalb hier bloß die höchsten Gipfel,
und auch diese sparsam, mit ewigem Schnee bedeckt sind.

Pflanzen- und Tierwelt.

Die Verschiedenheit des Klimas und der Bodengestaltung hat eine
große Mannigfaltigkeit der Flora und Fauna zur Folge.
Hinsichtlich des Charakters der Vegetation zerfällt S. in
folgende fünf Vegetationsregionen: 1) die nördliche oder
mitteleuropäische mit mitteleuropäischer Flora (Eichen,
Buchen, edle Kastanien, Erlen, Ulmen, Obst- und
Walnußbäume, Getreide- und Gemüsebau; Weinbau nur
in günstigen Lagen); 2) die peninsulare oder zentrale (Alpen-
und Pyrenäenpflanzen, Heiden mit Cistineen, Thymian und andern
Labiaten, Ginster, Centaureen, Disteln, Artemisien, hier und da
ausgedehnte Nadelwälder sowie Bestände von
immergrünen Eichen und Kastanien); 3) die westliche oder
atlantische, im N. mit vorwiegend mitteleuropäischer, im S.
mit bereits an Afrika erinnernder Vegetation (Ölbaum,
Orangen-, Feigen- und Mandelbaum, Weinbau, Lorbeer, Cypresse,
Agave, indische Feige, Dattel- und Zwergpalme, Johannisbrotbaum,
Cistusheiden mit Myrten, Pistazien und andern immergrünen
Sträuchern; in der Bergregion Eichen, Kastanien, Wacholder,
Obstbau, Alpentristen); 4) die östliche oder mediterrane
(Labiatenheiden und öde Steppen, Gehölze von
immergrünen Eichen und von Kiefern, Ölbaum, Wein-und
Weizenbau, Maulbeer-, Feigen- und Mandelbaum, Pfirsisch- und
Aprikosenbaum, Walnußbaum, Mais, Hanf, Flachs; im Süden
Orangen-, Johannisbrotbaum, Dattel- und Zwergpalme, Artischocken-
und Melonenbau, in den sumpfigen Niederungen Reis); 5) die
südliche oder afrikanische Region bis zur Höhe von ca.
630 m, charakterisiert durch das Vorherrschen solcher Pflanzen,
welche Nordafrika, Sizilien, Ägypten, Syrien, Kleinasien etc.
eigentümlich sind, und durch die Kultur subtropischer und
tropischer Gewächse (Zuckerrohr, Baumwolle, Batate,
Kochenillekaktus etc.). Nicht minder mannigfaltig und ausgezeichnet
ist die Tierwelt, die außer Arten der unter entsprechender
Breite gelegenen Länder Europas und außer einer Menge
der Halbinsel eigentümlicher zahlreiche Vertreter der Fauna
Afrikas, ja selbst des Orients und Innerasiens aufweist. Die
europäische Zone, im allgemeinen der mitteleuropäischen
Vegetationsregion entsprechend, wird charakterisiert durch
mitteleuropäische Tiere (darunter der Wolf,
Siebenschläfer, Schneehase, die Gemse, Wildkatze, der
Pyrenäensteinbock, der Bartgeier, Aasgeier etc.). Die mittlere
oder südeuropäische Zone, die zentrale westliche und
östliche Vegetationsregion umfassend, weist ein buntes Gemisch
europäischer und afrikanischer Tierformen (Pantherluchs,
Genettkatze, Ichneumon, südliche Geier-, Adler- und
Falkenarten, Schrei- und Klettervögel etc., zahlreiche
Schmetterlinge, Skorpione etc.) auf. Die südliche oder
afrikanische Zone zeigt viele echt afrikanische Tierformen
(darunter der nordafrikanische Affe am Gibraltarfelsen, das
Dromedar, afrikanische Vögel, Chamäleon etc.) neben
andern nur im südlichsten Europa vorkommenden oder auch S.
eigentümlichen (spanischer Steinbock auf der Sierra Nevada,
spanischer Hase, Flamingo etc.).

Bevölkerungsverhältnisse.

Das Areal von S. und zwar des europäischen Mutterlandes mit
Einschluß der Balearen und der Kanarischen Inseln sowie der
nordafrikanischen Besitzungen beträgt 504,552 qkm (9163,6
QM.). Die Bevölkerung bezifferte sich nach dem letzten Zensus
vom 31. Dez. 1877 auf 16,634,345 Einw., deren Verteilung auf die
einzelnen Provinzen aus nebenstehender Tabelle ersichtlich ist.

Die Vermehrung der spanischen Bevölkerung ist eine sehr
schwache; sie belief sich gegenüber der im J. 1857
vorgenommenen ersten ordentlichen Volkszählung, welche
15,464,340 Einw. ergab, 1877 nur auf 1,170,005 Seelen oder pro Jahr
kaum auf 0,4 Proz. Der Grund liegt, abgesehen von den vielfachen
Kriegen, welche S. im Innern und in den Kolonien zu bestehen hatte,
in einer beträchtlichen Auswanderung, insbesondere nach
Südamerika und nach Algerien (Provinz Oran). Für Ende
1886 wurde die Bevölkerung mit 17,358,404 Einw. berechnet.
Bemerkenswert in der Verteilung der Bevölkerung ist, daß
die Dichtigkeit derselben vom Zentrum gegen die Peripherie hin
zunimmt. Die schwächste relative Bevölkerung weisen die
Provinzen Ciudad Real und Cuenca auf (13 und 14 Einw. auf das
QKilometer), am dichtesten bevölkert (über 100 Einw. auf
das QKilometer) sind Barcelona und Pontevedra. Nach dem Geschlecht
entfallen auf je 1000 männliche Personen 1044 weibliche. Nach
dem Geburtsland waren von der (1877) anwesenden Bevölkerung
geboren: in S. 16,591,796, in Frankreich 17,657, in Portugal 7941,
in Großbritannien 4771, in Italien 3497, in Deutschland
952.

Die spanische Nation ist ein Gemisch verschiedener
Völkerschaften. Zu den alten Iberern gesellten sich anfangs
Kelten, dann Phöniker und Karthager, hierauf Römer, dann
Goten; später mischten sich Juden, Berber und Araber (diese
insbesondere in Andalusien, Murcia und Valencia), endlich auch
Neger (aus Marokko und weiterher) bei. Die herrschende Sprache ist
die kastilische; daneben wird das Katalonische (ein dem
Provençalischen verwandtes Idiom) in Katalonien, Valencia
und den Balearen, das Baskische (in den baskischen Provinzen und in
Navarra) und das Galicische (welches sich dem Portugiesischen sehr
nähert) gesprochen. Die spanische Sprache ist übrigens
als Weltsprache in Mittel- und Südamerika stark verbreitet und
gewinnt dadurch immer wachsende Bedeutung.

67

Spanien (Volkscharakter, geistige Kultur).

Areal Spaniens.

Einwohner

Provinzen QKilometer QMeilen Ende 1877 Ende 1886 auf 1 qkm

Alava . . 3045 55,3 93538 99034 33

Albacete. . 14863 269,9 219058 221894 15

Alicante . . 5660 102,8 411565 423808 75

Almeria . . 8704 158,1 349076 358486 41

Avila . . 7882 143,2 180436 193565 25

Badajoz. . 21894 397,6 432809 469952 21

Barcelona . 7691 139,7 836887 861212 112

Burgos . . 14196 257,8 332625 351293 25

Caceres . . 19863 360,8 306594 329707 17

Cadiz¹ . . 7342 133,3 429206 433516 59

Castellon . 6465 117,4 283981 298965 46

Ciudad Real 19608 356,1 260358 285341 15

Cordova . . 13727 249,3 385482 406059 30

Coruña . . 7903 143,5 596436 623575 79

Cuenca . . 17193 312,3 236253 245112 14

Gerona . . 5865 106,5 299702 309992 53

Granada . 12768 231,9 479066 480594 38

Guadalajara 12113 220,0 201288 207030 17

Guipuzcoa . 1885 34,2 167207 181673 97

Huelva . . 10138 184,1 210447 227116 22

Huesca . . 15149 275,1 252239 263634 17

Jaen. . . 13480 244,8 423025 436184 32

Leon ... 15377 279,3 350210 378098 25

Lerida . . 12151 220,7 285339 290856 24

Logroño . . 5041 91,6 174425 179897 36

Lugo ... 9881 179,5 410810 429430 43

Madrid . . 7989 145,1 594194 590065 74

Malaga. . 7349 133,5 500322 522376 71

Murcia . . 11537 209,5 451611 462039 40

Navarra. . 10506 190,8 304184 321015 30

Orense . . 6979 126,8 388835 399552 57

Oviedo . . 10895 197,9 576352 596856 55

Palencia . 8434 153,2 180771 190724 23

Pontevedra. 4391 79,8 451946 467289 106

Salamanca 12510 227,2 285695 311428 25

Santander . 5460 99,2 235299 248753 46

Saragossa . 17424 316,5 400587 401386 23

Segovia . . 6827 124,o 150052 160111 23

Sevilla . . 14062 255,4 506812 526864 37

Soria . . 10318 187,2 153652 162555 16

Tarragona . 6490 117,9 330105 345601 53

Teruel . . 14818 269,1 242165 250823 17

Toledo . . 15257 277,1 335038 357886 23

Valencia . 10751 195,3 679046 692245 64

Valladolid . 7569 137,5 247458 261254 35

Viscaya . . 2165 39,3 189954 204043 94

Zamora . . 10615 192,8 249720 274312 26

Zusammen : 492230 8939,9 16061860 16733200 34

Balearen . 5014 91,o 289035 311652 62

Kanarische Inseln 7273 132,1 280974 311030 43

Spanien: 504517 9163,o 6631869 17355882 34

In Nordafrika² 35 0,6 [ 2476 2522 72

Totalsumme: 504552 9163,6 16634345 17358404 34

1 Mit Ceuta. - 2 Ohne Ceuta, welches zu Cadiz gehört.

Die Kolonien oder überseeischen Besitzungen (s. Karte
"Kolonien" mit Tabelle), nur noch ein geringer Überrest von
den unermeßlichen Gebieten, welche S. einst beherrschte,
umfassen zur Zeit

in Amerika: QKilom. QMeilen Einw.

Cuba. ........ 118833 2158,13 1521684

Puerto Rico ...... 9315 169,17 754313

in Asien:

Philippinen ...... 293726 5334,37 5559020

Sulu-Inseln . ..... 2456 44,60 75000

in Ozeanien :

Marianen ....... 1140 20,72 8665

Karolinen ....... 700 12,71 22000

Palau ... 750 13,62 14000

in Afrika (Guinea):

Fernando Po, San Juan etc. 2200 39,95 68656

Zusammen: 429120 7793,27 8023383

Die Spanier sind im allgemeinen ein körperlich
wohlgebildetes Volk, meist mittlerer Statur, hager, mit schwarzem
Haar. Die Frauen zeichnen sich durch feurige Augen und anmutiges
Wesen aus, entwickeln sich sehr frühzeitig, altern aber auch
bald. Der Spanier ist nüchtern, mäßig, mutig, voll
Nationalstolz, aber auch rachgierig, bigott und träge.
Nationalkleid der Männer ist der rund geschnittene, den ganzen
Körper umhüllende spanische Mantel (capa), das der Frauen
die Mantilla, welche mit einem Kamm am Kopf befestigt und über
der Brust gekreuzt wird. Die vorherrschende Farbe der Kleidung ist
die schwarze. Im übrigen wechselt die Tracht in den einzelnen
Provinzen bedeutend. Die höhern Stände haben
gegenwärtig meist die französische Mode angenommen.
Hauptvergnügen sind der Tanz, der mit Gesang oder
Kastagnetten, Tamburin und Guitarre begleitet wird, und die
Stiergefechte. Was die Konfession betrifft, so waren 16,603,959
Katholiken, 6654 Protestanten, 4021 Israeliten, 9645 Rationalisten,
271 Mohammedaner, 209 Buddhisten etc. Nach der Staatsverfassung
gilt die römisch-katholische Religion als Staatskirche; doch
darf niemand wegen seiner Konfession und wegen der Ausübung
seines Kultus, sofern die christliche Moral nicht darunter leidet,
behelligt werden. Für die Leitung der geistlichen
Angelegenheiten der katholischen Kirche gibt es in S. 9
Erzbischöfe (zu Toledo, Primas von S., Burgos, Granada,
Santiago, Saragossa, Sevilla, Tarragona, Valencia und Valladolid)
und 45 Suffraganbischöfe. Bischöfliche Jurisdiktion
übt auch der Patriarch von Indien aus, indem derselbe
Generalvikar des Heers und der Flotte ist. Der unterstehende Klerus
beziffert sich mit ca. 40,000 Weltgeistlichen, 800 Mönchen und
13,000 Nonnen. Eigentliche Mönchsklöster bestehen nicht
mehr, da dieselben bereits 1841 gesetzlich aufgehoben wurden. Es
sind nur 41 Häuser solcher religiöser Orden geblieben,
welche sich der Heranbildung von Missionären, dem
Jugendunterricht oder der Krankenpflege widmen. Protestantische
Gemeinden gibt es 60.

Bildungsanstalten.

In Bezug auf die geistige Kultur steht das spanische Volk trotz
seiner Begabung wegen des mangelhaften Volksunterrichts noch auf
einer tiefen Stufe, was darin seine Erklärung findet,
daß bis 1808 das öffentliche Unterrichtswesen ganz in
den Händen des Klerus war. Für den Elementarunterricht
bestehen (1881) 29,828 Volksschulen. Der Schulbesuch ist
obligatorisch. Während 1797 nur 393,126 Kinder die Volksschule
besuchten, stieg diese Zahl allmählich, namentlich infolge der
gesetzlichen Reformen der Jahre 1838, 1847 und 1857, auf 663,711 im
J. 1848, auf 1,046,558 im J. 1861 und auf 1,769,608 im J. 1881.
Normalschulen bestehen zur Heranbildung von Lehrern 47, für
Lehrerinnen 29. Zu den Sekundärschulen gehören die seit
1845 anstatt der frühern Lateinschulen bestehenden Institute
(institutos de segunda enseñanza), in welchen in einem
sechsjährigen Kursus die humanistischen und Realstudien
betrieben werden. Solcher Institute gibt es 61 mit ca. 35,000
Schülern. Neben ihnen bestehen die Colegios,
Privatvorbereitungsschulen zu den Universitäts- und
Spezialstudien. Universitäten hat S. 10: zu Madrid, Barcelona,
Granada (jede mit 5 Fakultäten, für Philosophie und
Litteratur, exakte Wissenschaften, Pharmazie, Medizin, Rechte), zu
Salamanca, Sevilla, Valencia (jede mit 4 Fakultäten, die
obigen ohne Pharmazie), Santiago und Saragossa (je 3
Fakultäten, erstere für Medizin, Pharmazie und Rechte,
letztere für Philosophie, Medizin und Rechte), Valladolid (2
Fakul-

68

Spanien (Landwirtschaft).

täten, für Medizin und Rechte), Oviedo (eine Fakultut,
für Rechte). Alle Universitäten zählen zusammen 475
Professoren und Dozenten und gegen 16,000 Studierende. Mit 7
Universitäten ist je eine Notariatsschule verbunden.
Höhere technische Lehranstalten sind: eine Architekturschule,
eine Schule für Handel und Industrie und eine Ingenieurschule
für Wege-, Kanal- und Hafenbau in Madrid; ferner eine Schule
für industrielle Technik in Barcelona. Zu den Fachschulen
gehören: die theologischen Seminare in den Bischofsitzen, die
königliche Schule für Diplomatik in Madrid, die neun
nautischen Schulen, die königliche Agrikulturschule in Madrid,
die königliche Forstingenieurschule im Escorial, die
landwirtschaftliche Schule in Cordova, die Lehranstalten für
Tierheilkunde in Madrid, Cordova, Leon und Saragossa, die
königliche Bergwerksingenieurschule in Madrid, die
Steigerschule in Almaden, die königliche Schule der
schönen Künste, die Nationalschule für Musik und
Deklamation (beide in Madrid), die Provinzialschulen für
schöne Künste in Barcelona, Sevilla, Valencia und
Valladolid, die Akademien für den Generalstab in Madrid,
für die Artillerie zu Segovia, für das Ingenieurkorps in
Guadalajara, für die Kavallerie in Valladolid, die allgemeine
Militärakademie in Toledo, die Seeschule in Ferrol. Zu den
Beförderungsmitteln der intellektuellen Bildung gehören
außerdem acht Akademien (davon sieben zu Madrid) und die
öffentlichen Bibliotheken, von denen die Nationalbibliothek zu
Madrid und die des Escorial die hervorragendsten sind. Die
bedeutendsten historischen und Kunstsammlungen sind: die
königliche Rüstkammer, das königliche Münz- und
Antiquitätenkabinett, das königliche Museum für
Gemälde und Skulpturen, das Nationalmuseum für
Gemälde und das naturhistorische Museum, sämtlich zu
Madrid. Botanische Gärten sind zu Madrid und Valencia, ein
astronomisch-meteorologisches Observatorium besitzt Madrid.

Land- und Forstwirtschaft etc.

Unter den Nahrungszweigen der Bevölkerung von S. nimmt der
Betrieb der Landwirtschaft die erste Stelle ein. Dabei steht aber
die Bodenbehandlung noch auf einer sehr unbefriedigenden Stufe. Die
Düngung ist eine ganz primitive, und auch in Bezug auf
landwirtschaftliche Geräte und Betriebsart haben die
Erfahrungen und Verbesserungen der Neuzeit fast gar keinen Eingang
gefunden. Zu Anfang des 19. Jahrh. war noch ein sehr großer
Teil vom Grund und Boden im Besitz der Toten Hand, d. h. des
Klerus, der Gemeinden, der milden Stiftungen und des Staats. Der
Verkauf der Kirchengüter wurde bereits 1820 und 1841
angeordnet sowie durch das Gesetz vom 1. Mai 1855 bestätigt,
welches überhaupt allen Grundbesitz und alle Grundzinsen der
Toten Hand der Veräußerlichkeit unterwirft. Die Bauern
sind persönlich frei und teils Eigentümer ihrer in der
Regel kleinen Grundstücke, teils Erbpachter. Der produktive
Boden umfaßt im ganzen 79,6 Proz. der Gesamtfläche, und
zwar kommen 33,8 Proz. auf Äcker und Gärten, 3.7 auf
Weinland, 1,6 auf Olivenpflanzungen, 19,7 auf natürliche
Wiesen und Weiden und 20,8 Proz. auf Wald. Der Boden bedarf in S.
zur Ertragsfähigkeit in der Regel künstlicher
Bewässerung, zu welchem Behuf großartige Anlagen teils
durch die Regierung, teils durch Vereine, teils durch große
Grundbesitzer und Kommunen hergestellt worden sind; gleichwohl
machen die bewässerten Ländereien nur einen kleinen Teil
der produktiven Bodenfläche aus. Am besten angebaut ist der
Boden in den Provinzen Palencia, Pontevedra, Coruña,
Valladolid und Barcelona, am wenigsten in den Provinzen Oviedo,
Huelva, Almeria und Santander. Die spanischen Staatsökonomen
unterscheiden in S. sieben Kulturregionen, nämlich die Region
des Zuckerrohrs, der Orangen, des Ölbaums, des Weinstocks, der
Cerealien, der Wiesen und Triften, der Heiden. Der Getreidebau ist
zwar fast überall ein wichtiger Zweig der Landwirtschaft, am
bedeutendsten aber auf den Ebenen beider Kastilien, in Leon und im
Guadalquivirbecken. Die jährliche Getreideproduktion
beläuft sich bei einer guten Mittelernte auf nachfolgende
Mengen:

Weizen ..... 61142000 hl

Hafer ...... 4481000 hl

Roggen ..... 11629000 hl

Mais ....... 13173000 hl

Gerste ..... 27792000 hl

Reis ....... 1212000 hl

Am meisten wird Weizen gebaut, Roggen und Gerste besonders in
den nördlichen, Mais in den südlichen Provinzen. In
letztern kommen an verschiedenen Orten, aber vereinzelt, Reisfelder
vor, während sie in der Provinz Valencia eine
Hauptnahrungsquelle bilden. Einen Exportartikel bildet Weizenmehl,
insbesondere für die Provinz Valladolid. Der Anbau von
Kartoffeln ist minder bedeutend (18,3 Mill. hl Ertrag), jener von
Hülsenfrüchten dagegen sehr ausgedehnt, indem Erbsen und
Bohnen eine Lieblingsspeise der Spanier bilden und in großen
Mengen als Feldfrüchte gezogen werden (Ertrag an Kichererbsen
2,354,000hl). Kein Staat in Europa produziert so mannigfache Arten
von Gemüse wie S., wo die gartenmäßige Kultur
insbesondere in der Provinz Valencia betrieben wird. Außer
den gewöhnlichen Küchengewächsen werden kultiviert:
spanischer Pfeffer, der Liebesapfel (Lycopersicum esculentum) im
großen, die Wassermelone, die Schlangengurke, der
Kalebassenkürbis, stellenweise die tropische Batate (Batatas
edulis) und die Erdnuß (Cyperus esculentus). Die
verbreiterten Gartengewächse sind: Kohl, Salat, Zwiebeln,
Knoblauch, Gurken, Artischocken, Erdbeeren. Gemüse und
Gartenfrüchte geben auch einen nicht unbedeutenden
Exportartikel ab. Die Runkelrübe kennt man dagegen nur als
Viehfutter. Die Handelsgewächse des Landes sind: Hanf (am
besten in Granada und Murcia), Flachs, Waid, Safran,
Süßholz, Zuckerrohr, welches an der südlichen und
östlichen Küste, namentlich in der Provinz Malaga, gebaut
wird, und zwar infolge gesetzlichen Schutzes in steigendem
Maß, Raps in den nördlichen Provinzen, Kümmel in
der Mancha; ferner Senf, Mohn, Sesam, Rizinus und andre
Ölpflanzen. Die Baumwollstaude, welche noch vor 30 Jahren
einen Ausfuhrartikel für die Balkarischen Inseln bildete, wird
gegenwärtig fast gar nicht mehr kultiviert. Der Tabaksbau ist
untersagt. Espartogras (s. d.), das im Süden Spaniens unweit
der Seeküste ohne irgend eine Pflege reichlich wächst,
wird zu verschiedenen Flechtwerken, Seilen, Lauftüchern,
Bundschuhen etc. sowie zur Papierfabrikation verwendet und in
großen Mengen exportiert (jährlich ca. 400,000 metr.
Ztr.). Ein wichtiger Zweig der Bodenkultur ist die Fruchtbaumzucht.
Neben den mitteleuropäischen Obstarten, Wal- und
Haselnüssen findet man die schönsten Kastanienwälder
und die verschiedenartigsten Südfrüchte (Orangen,
Zitronen, Granaten, Feigen, Mandeln, Datteln, Johannisbrot,
indische Feigen, Bananen) nicht nur längs der Küste und
in den südlichen Provinzen, sondern auch in den warmen
Flußthälern des Nordens. Die Südfrüchte sowie
die Wal- und Haselnüsse bilden einen ergiebigen
Ausfuhrartikel. 1886 wurden an Orangen 816,666, Zitronen 73,493,
Mandeln 27,730 und Haselnüssen 40,090 metr. Ztr. ex-

69

Spanien (Viehzucht, Jagd, Fischerei, Forstwesen).

portiert. Ausgedehnte Landstriche sind namentlich im Süden
der Olivenkultur eingeräumt, welche einen wichtigen
Exportartikel liefert. Doch steht das spanische Öl wegen
schlechter Behandlung der Frucht in geringem Preis und wird
großenteils erst im Ausland, namentlich in Frankreich,
raffiniert. Die Produktion, welche vornehmlich in Andalusien,
Murcia, Valencia, Aragonien und Katalonien vertreten ist, ergibt in
günstigen Jahren ca. 2,5 Mill. hl Öl; die Ausfuhr
beträgt im Durchschnitt der letzten Jahre 250,000 metr. Ztr.
In den letzten Jahren hat sich der Anbau von Cacahuetes oder Mani,
einer Art Pistazie, aus der ein billiges und brauchbares Öl
bereitet wird, zu einem besondern Zweig der landwirtschaftlichen
Thätigkeit in der Provinz Valencia herausgebildet. Wichtige
Bodenkulturzweige sind noch die in großem Maßstab
betriebene Maulbeerbaum- und die Weinkultur. Durch die
geographische Lage und durch die klimatischen Verhältnisse
begünstigt, bringt das Land die feurigsten Weine in allen
Abarten und in großer Menge hervor. Der durchschnittliche
Ertrag beläuft sich auf mehr als 20 (1887: 28) Mill. hl. Die
berühmtesten Weine sind die andalusischen, insbesondere die
von Jeres de la Frontera, Puerto de Santa Maria und Malaga. Der
Export dieser Weine geht hauptsächlich nach England und
Amerika. Von den katalonischen Weinen sind nur die Sorten von Reus
und Tarragona vorzüglich, von den Valenciaweinen die roten
Benicarloweine geschätzt. Die Alicantiner Weine sind sehr fein
und ziemlich alkoholreich. Die kastilischen Weine, darunter der
ausgezeichnete Manchawein (Valdepeñas), werden meist im
Inland konsumiert. Die Aragonweine sind am dunkelsten, feinsten und
am wenigsten säuerlich. Vorzügliche Weingegenden sind
außerdem: Südnavarra, das untere Duerothal, Viscaya,
Orense, die Gegend von Plasencia und die Serena in Estremadura,
endlich Mallorca (vgl. Spanische Weine). Großen Absatz finden
die spanischen Weine seit den letzten Jahren in Frankreich, wo die
durch die Reblaus und durch die schlechten Ernten verursachten
Ausfälle außer durch italienische auch durch spanische
Weine (meist aus den nordöstlichen Provinzen) gedeckt werden.
Im ganzen werden jährlich über 7 Mill. hl, davon gegen 6
Mill. nach Frankreich, exportiert. Daneben bilden auch frische
Trauben einen Ausfuhrartikel (1886: 192,000 metr. Ztr.). Von
Wichtigkeit ist ferner die Kultur der Rosinen, namentlich werden
Rosinen aus den Provinzen Alicante (Denia) und Malaga ins Ausland,
hauptsächlich nach England und Nordamerika, geführt
(1886: 384,460 metr. Ztr.). Die hervorragendsten Futterkräuter
sind Luzerne und Esparsette. Eigentliche Wiesen gibt es nur in den
nördlichen Provinzen und in den höhern Gebirgsgegenden.
Viel ausgedehnter ist das Weideland in solchen Strecken, welche
auch zum Ackerbau oder zur Forstkultur geeignet wären, jedoch
vorzugsweise zur Zucht von Schafen dienen, wie in Estremadura,
Niederandalusien, Aragonien, Altkastilien und Leon.

Von großer Bedeutung ist die Viehzucht. Man zählte
1878 in S. 460,760 Pferde, 941,653 Maultiere, 890,982 Esel,
2,353,247 Rinder, 16,939,288 Schafe, 3,813,006 Ziegen, 2,348,602
Schweine. Die früher so berühmte, dann in Verfall
geratene Pferdezucht hat einen neuen Aufschwung genommen. Die
besten Pferde sind die andalusischen und unter diesen wieder die
von Cordova. Indessen reicht die Zahl der gezüchteten Pferde
für den Bedarf des Landes nicht aus. Auf die Zucht der
Maultiere und Esel, welche nicht nur die bevorzugtesten Haustiere
sind, sondern auch in Menge ausgeführt werden, wird
große Sorgfalt verwendet. Die Zucht des Rindviehs
zerfällt in die der zahmen Rinder und die der zu den
Stiergefechten erforderlichen wilden Stiere, welche auf einsamen,
hoch gelegenen Triften und in den Gebirgen, namentlich in Navarra,
in der Sierra Guadarrama, Sierra Morena und am Guadalquivir, gehegt
werden. Das zahme Rindvieh ist nicht sehr groß, aber stark
und gut gebaut; das beste wird in den nördlichen Provinzen
gezüchtet, wo auch allein Milch-, Butter- und
Käsewirtschaft getrieben wird. Die spanische Schafzucht, einst
die erste der Welt und Quelle ungeheurer Einkünfte, ist, wenn
auch immer noch ansehnlich, von der andrer Länder
überflügelt worden und in Abnahme begriffen. Die Ursache
hiervon ist besonders darin zu suchen, daß die Regierung
behufs der Hebung der Agrikultur 1858 die lästige Bestimmung
aufhob, daß von den Grundbesitzern, durch deren Gebiet die
Herden (von und nach den Winterquartieren in Estremadura) ziehen,
eine Schaftrift von 90 Schritt Breite zu beiden Seiten der
Straße freigelassen werden mußte. Gegenwärtig
muß, soweit das Wandern mit Schafherden noch besteht,
für die Benutzung der Weiden ein Pachtgeld gezahlt werden. Die
Mehrzahl der Merinoherden gehört nämlich großen
Grundbesitzern von Leon, Altkastilien und Niederandalusien. Der
Wollertrag der spanischen Schafe ist zwar sehr gesunken (auf ca. 20
Mill. kg, und zwar nur zum geringern Teil feine und brauchbare
Wolle); doch bildet Schafwolle noch immer einen Exportartikel
(1886: 92,000 metr. Ztr.). Wichtig ist die Hämmelzucht,
vorzüglich für Niederaragonien, wo sich stets Käufer
aus ganz S. zusammenfinden. Die Ziegenzucht ist besonders in den
Gebirgsgegenden heimisch und Ziegenkäse ein wichtiger
Gegenstand des innern Handels, während die Felle in Menge
exportiert werden. Schweinezucht wird überall, im
größten Maßstab jedoch in Estremadura betrieben.
Treffliche Schinken sowie Würste und Borsten gelangen zur
Ausfuhr. Schweine- und Ziegenhäute werden in S. allgemein zu
Weinschläuchen, welche inwendig ausgepicht werden,
verarbeitet. In den Provinzen Murcia und Cadiz kommen auch Kamele
(1878: 1597 Stück) vor. Beträchtliche Ausfuhr von Vieh
findet nach Portugal und England statt. Von Federvieh werden
vornehmlich Hühner, in Estremadura und Andalusien auch
Truthühner gezüchtet; von geringem Belang ist die
Bienenzucht, von Wichtigkeit dagegen die (früher allerdings
noch bedeutendere) Seidenzucht, die namentlich in Valencia und
Murcia ihren Sitz hat (s. unten). Die Kochenillezucht (1820 in
Südspanien eingeführt) wird jetzt um Malaga und Motril in
größerm Maßstab betrieben.

Jagd und Fischerei sind in S. frei, doch wird erstere nicht
besonders eifrig getrieben; das häufigste Haarwild sind
Kaninchen, das meiste Federwild Rebhühner. Der Fang von
Thunfischen, Sardinen, Sardellen und Salmen und das
Einräuchern derselben beschäftigt an den Küsten von
Viscaya, Galicien, Andalusien, Valencia und Katalonien Tausende von
Menschen und liefert bedeutende Mengen für den Export. Auch
die Korallenfischerei an der Küste von Andalusien hat sich in
neuester Zeit gehoben. Die Waldwirtschaft steht in S. noch auf
einer niedrigen Stufe. Der Holzboden nimmt zwar über 20 Proz.
des gesamten Areals ein; doch sind infolge der
Vernachlässigung der Kultur, der unbeschränkten
Brennholznutzung, der Schädigung der Wälder durch Hirten
und Herden und der planlosen Ausnutzung der Privat- und
Staatsforsten nur etwa 9 Proz. noch wirklich mit Holz
bestanden.

70

Spanien (Bergbau und Hüttenwesen).

Das wichtigste Nadelholz ist die Kiefer, die vorzüglichsten
Laubhölzer sind: die Eiche, Rotbuche, Kastanie, die
Rüster und der Ölbaum, welcher besonders in Andalusien
ganze Wälder bildet. Nach Gesetz vom 19. Febr. 1859 soll von
den Staats-, Kommunal- und Körperschaftsforsten ein Teil
(3½ Mill. Hektar) verkauft, der andre Teil (6½ Mill.
Hektar) aber regelmäßig bewirtschaftet werden. Zu diesem
Zweck ist das Land in zehn Forstdistrikte eingeteilt worden; auch
besteht eine königliche Forstingenieurschule im Escorial. Sehr
gesegnet mit Waldungen ist Katalonien, wo (insbesondere im
Monsenygebirge) die gewinnreichsten Holzgattungen, wie Kastanien
(zu Faßdauben vorzüglich geeignet),
Walnußbäume (zu Holzreifen verwendet) und Korkeichen, am
besten gedeihen, welch letztere wegen des Korks, des als
Gerbmaterial geschätzten Bastes und des sich zu Kohlen
trefflich eignenden Astholzes einen reichlichen Ertrag liesern.
Außer in Katalonien findet man diese Baumgattung in
Estremadura, Andalusien und Valencia. Die jährliche Produktion
an Korkplatten beträgt 520,000 metr. Ztr., der Export von
Pfropfen durchschnittlich 1010 Mill. Stück, an Platten und
Tafeln 25,000 metr. Ztr. Nebenprodukte der Wälder sind:
Sumachrinde (als Gerbmaterial), Ladanbalsam, eßbare Eicheln,
Maronen, Beeren, Arzneikräuter etc.

Bergbau und Hüttenwesen.

S. ist ein an Metallen und Erzen außerordentlich reiches
Land und könnte in seinem Bergbau und Hüttenwesen eine
Quelle großen Nationalreichtums finden, wenn ersterer
rationell betrieben und entsprechend ausgebeutet würde. Das
Bergwesen untersteht dem Ministerium für Volkswirtschaft,
resp. der bei demselben errichteten Junta für dasselbe. Nach
dem Gesetz vom 6. Juli 1859 wurde das Land in 17 Minendistrikte
eingeteilt, von denen jeder unter einem königlichen
Bergingenieur steht, und in Madrid auch ein Oberbergamt
eingerichtet. Laut des genannten Gesetzes hat sich der Staat die
Ausbeutung der meisten Bergwerke, sämtlicher Salzbergwerke und
Salinen (ausgenommen die in den baskischen Provinzen) reserviert.
Durch die finanzielle Notlage wurde indessen die Regierung in
neuerer Zeit genötigt, sich des größten Teils des
Staatseigentums und so auch des Montanbesitzes zu
entäußern, so daß jetzt nur noch die
Quecksilbergruben von Almaden und einige Salinen Staatseigentum
sind. Im ganzen Land gibt es etwa 6000 Minen aller Art, wozu noch
die aus alter Zeit, teilweise von den Römern,
zurückgelassenen Schlackenhaufen als Ausbeutungsobjekte
kommen. Bei der Gewinnung von Erzen u. Metallen sind über
45,000 Arbeiter beschäftigt. Der Bergbau und
Hüttenbetrieb ergaben nach der letzten Erhebung (1883)
folgende Mengen: Silber 540 metr. Ztr., Quecksilber 16,670,
Roheisen 1,422,240, Kupfer 321,560, Blei 993,120, Zink 68,430,
Kohle 10,707,500, Salz 6,750,000, Schwefel 11 1,290 metr. Ztr.
Bemerkenswert ist jedoch, daß das Hüttenwesen mit dem
Bergbau nicht gleichen Schritt hält, und daß ein
großer Teil der gewonnenen Erze nach England und andern
Ländern exportiert wird und häufig in verhütteter
Form wieder ins Land zurückkehrt. So wurden 1886: 49,2 Mill.
metr. Ztr. Erze (davon 41,8 Mill. Eisenerz und 6,7 Mill. Kupfererz)
ausgeführt. Was die einzelnen Produktionszweige betrifft, so
wird Gold gegenwärtig nur in den Arsenikgruben bei Culera
(Katalonien), in kleinern Quantitäten auch aus dem Sande des
Flusses Sil gewonnen. Ebenso ist die Produktion von Silber
herabgegangen, wenngleich mehrere Bergwerke hierfür bestehen,
von welchen jene in den westlichen Abhängen der Sierra
Almagrera (Provinz Almeria), die von Hiende la Encina (Provinz
Guadalajara) und die von Farena (Provinz Tarragona) die
mächtigsten sind. In den Quecksilbergruben von Almaden (12
Minen) sind über 3000 Arbeiter beschäftigt. Der Export
beträgt durchschnittlich 11,000 metr. Ztr. An Eisenerz birgt
S. in vielen Provinzen, besonders in Viscaya (zu Somorrostro),
Guipuzcoa (Irun), Navarra (Lesaca, Vera), Santander, Oviedo und
Granada, reiche Schätze, die aber nicht gehörig
ausgenutzt werden. Die bedeutendsten Hüttenwerke befinden sich
in den Provinzen Viscaya, Navarra, Oviedo, Sevilla, Malaga u. a. An
Kupfer besitzt die Provinz Huelva in den Minen von Rio Tinto,
Tharsis und andern schon von den Karthagern u. Römern
bearbeiteten Bergwerken unerschöpfliche Lager. Die Minen von
Rio Tinto (s. d.) wurden 1873 von der spanischen Regierung (um 96
Mill. Frank) an ein Syndikat von Londoner und Bremer Firmen
verkauft; Tharsis gehört bereits seit längerer Zeit einer
englischen Aktiengesellschaft. Hinsichtlich der Bleiproduktion
überragt S. alle andern Staaten Europas. Die Hauptsitze
für diesen Bergbau und Hüttenbetrieb sind: die Provinzen
Murcia (bei Cartagena 76 Werke mit 150 Hochöfen und 1500
Arbeitern), Almeria (Bleiminen der Sierra Gador, Sierra Almagrera,
Alhamilla etc.; 13 Schmelzwerke bei Garrucha) und Jaen (Linares und
Baylen). Der Export an metallischem Blei betrug 1886: 1,150,000
metr. Ztr. Für den Zinkbergbau sind die Hauptsitze: die
Provinzen Santander, Guipuzcoa, Murcia, Granada, Malaga und
Almeria. Die Verhüttung ist von geringem Umfang; die
gewonnenen Erze werden größtenteils nach Belgien und
andern Ländern exportiert. Die wichtigsten Kohlendistrikte
sind in der Provinz Oviedo, dann in Burgos und Soria, Leon und
Palencia, Teruel und Santander. Die jährliche Produktion ist
von 355,000 metr. Ton. im J. 1861 gegenwärtig auf mehr als 1
Mill. metr. T., größtenteils Steinkohle, gestiegen,
wobei immer noch eine überwiegende Einfuhr englischer Kohle
(1886: 1,4 Mill. metr. T.) stattfindet. An Salz ist S. überaus
reich. Dasselbe ist kein Monopolgegenstand; es gibt zwar staatliche
Etablissements dafür, welche in 20 Haupt- und 12
Unteranstalten zerfallen, aber ebensowohl befassen sich mit der
Salzgewinnung und zwar aus Seewasser u. aus Bergsalinen viele
Private, die aus Anlaß des Betriebs nur der gewöhnlichen
Industrialsteuer unterworfen sind. Steinsalzminen gibt es zu
Cardona (Provinz Barcelona), Pinoso (Provinz Alicante), Gerry y
Villanova (Provinz Gerona), Minglanilla (Provinz Cuenca) u. a. O.
Seesalz wird am meisten in den Lagunen der Bai von Cadiz und an den
Ufern des untern Guadalquivir ausgebeutet, ferner auf der Insel
Iviza, aus den Lagunen von Torrevieja (Provinz Alicante, in der
Regie des Staats) etc. Der gesamte Salzexport beträgt
jährlich 2,5 Mill. metr. Ztr. Manganerz (Braunstein) wird am
meisten in der Provinz Huelva zu Tage gefördert, doch droht es
infolge des Raubbaues bald gänzlich zu versiegen. Alaungruben
finden sich an vielen Orten; Schwefel wird besonders in Murcia und
Ostgranada, Schwefelkies in der Provinz Huelva (namentlich in den
schon erwähnten Gruben von Rio Tinto und Tharsis mit
fortwährend steigendem Export), Asphalt in der Provinz Alava,
Antimon in Saragossa, Ciudad Real und bei Cartagena, außerdem
Graphit, Bergöl, Naphtha und Phosphorit (letzteres für
die Agrikultur äußerst wichtige Material in 9 Minen der
Provinz Caceres mit einer durchschnittlichen Ausbeute von 1,8 Mill.
metr. Ztr.) gewonnen.

71

Spanien (Industrie).

Industrie.

Die spanische Industrie nimmt zwar noch lange nicht den Platz
ein, der ihr in anbetracht der reichen Hilfsquellen und der
günstigen kommerziellen Lage des Landes gebührt; doch hat
dieselbe in neuester Zeit einen bedeutenden Aufschwung genommen.
Die industriellsten Provinzen sind: Barcelona, Gerona, Tarragona,
Guipuzcoa und Viscaya, nächst diesen Valencia, Murcia,
Alicante, Almeria, Granada, Sevilla, Malaga, Galicien, Asturien,
Santander, Madrid und Ciudad Real. Was die einzelnen
Industriezweige betrifft, so wird die Verfertigung von Eisen- und
Stahlwaren am ausgedehntesten in Katalonien, in den baskischen
Landschaften und in den Provinzen Malaga und Sevilla betrieben.
Guten Ruf hat das Land in der Erzeugung von Handwaffen, wofür
Fabriken zu Toledo, Oviedo und Plasencia (Guipuzcoa) bestehen;
berühmt sind insbesondere die Klingen von Toledo. Ein
großes Etablissement ist auch die Nationalfabrik zu Trubio
(Oviedo) für Eisengußwaren und Artilleriematerial. Neben
den Eisenwaren produziert S. viel Kupfer- und Bleiwaren, Messing
namentlich zu San Juan de Alcaraz (Provinz Albacete), Bronzewaren
zu Barcelona, Eibar (Guipuzcoa) und in Navarra, Schmucksachen und
Filigranarbeiten. Der Maschinenbau hat seine Hauptsitze zu
Barcelona (4 große Werkstätten mit ca. 1700 Arbeitern),
Sevilla, Malaga, Madrid und Valladolid, der Schiffbau zu Barcelona,
Cartagena, Cadiz und Santander, die Verfertigung von chirurgischen
und Präzisionsinstrumenten zu Madrid. Musikinstrumente, und
zwar Pianos, werden zu Barcelona, Sevilla, Saragossa und
Valladolid, Guitarren zu Murcia, Streichinstrumente vorzugsweise zu
Palma fabriziert. Für Porzellan bestehen zwei Fabriken,
für Steingut- und Fayenceerzeugung ein ansehnliches
Etablissement zu Sevilla und weitere Unternehmungen in den
Provinzen Valencia, Madrid und Castellon. Die Fabrikation
feuerfester Thonwaren steht zu Barcelona auf einer Höhe,
welche einen nicht unbedeutenden Export nach den Häfen des
Mittelmeers bis nach Konstantinopel zuläßt. Eine
wichtige Industrie ist auch die Erzeugung von Ziegelfliesen,
glasierten Platten und Mosaikfußböden, welche namentlich
als Hausindustrie Tausende von Arbeitskräften, insbesondere in
der Provinz Valencia, beschäftigt und einen wesentlichen
Exportartikel liefert. Hydraulischer Kalk (Zement) wird nur in
Guipuzcoa in einer Menge von jährlich ca. 100,000 metr. Ztr.
erzeugt. S. liefert gutes Glas in ziemlich großer Menge, aber
hauptsächlich nur für den inländischen Bedarf,
während der Export nach den Kolonien ein geringer ist;
geschliffene Glaswaren werden eingeführt. Die Glasindustrie
wird an vielen Orten, insbesondere in Badalona, Murcia, Cadalso
(Madrid) und Gijon, betrieben. Die Verarbeitung des Korks zu
Pfropfen, Platten und Tafeln bildet einen ergiebigen Industriezweig
in der Heimat des Rohstoffs, der Provinz Gerona (Exportwert 1886
über 17 Mill. Pesetas). Tischlerwaren werden zu Madrid und
Barcelona verfertigt, ohne daß jedoch in feinern Artikeln die
ausländische Industrie vom Markt verdrängt wäre.
Bedeutend ist namentlich für die Hausindustrie die Stroh- und
Binsenflechterei. Die Lederindustrie Spaniens stand in
früherer Zeit auf einer viel höhern Stufe als dies
gegenwärtig der Fall ist, obschon das Land noch immer durch
die Erzeugung von Saffian und Korduan hervorragt und gewisse
Quantitäten von Leder ausführt. Die besten Fabrikate
kommen von Cordova, Barcelona, Toledo, Burgos und aus den
baskischen Provinzen. Insbesondere ist S. die Heimat der
kunstvollsten Riemerartikel (Sättel und Reitzeuge). Die
Seidenindustrie, für welche alle klimatischen Bedingungen
vorhanden sind, ist durch die Seidenraupenkrankheit sehr
beeinträchtigt worden und beschränkt sich
gegenwärtig hauptsächlich auf die Provinzen Murcia,
Valencia und Sevilla, in welchen übrigens die Seidenspinnerei
ein vorzügliches Erzeugnis liefert. Die Produktion an
Seidenkokons beträgt etwas über 1 Mill., an Rohseide
durchschnittlich 85,000 kg. Die Seidenweberei war in frühern
Jahrhunderten blühend und wird gegenwärtig noch, ohne den
Bedarf zu decken, fabrikmäßig zu Madrid, Valencia,
Barcelona, Granada, Sevilla und Toledo betrieben. Die
Schafwollweberei macht große Fortschritte, arbeitet jedoch
bloß für den einheimischen Markt, wobei ihr das Ausland
Konkurrenz bietet. Der Hauptsitz ist Katalonien, namentlich
Barcelona, Tarrasa, Sabadell, Manresa u. a. O. Barcelona zeichnet
sich auch in der Fabrikation von Shawls und Möbelstoffen durch
gediegene Leistungen aus. Gute Tuche und Flanelle werden in Alcoy,
Palencia, Bejar (Provinz Salamanca) etc. erzeugt. Valencia und
Murcia liefern Decken aus Streich- und Kammgarn, welche den
Bewohnern zur Bekleidung, zum Schmuck und zum Tragen der Utensilien
unentbehrlich sind. Verhältnismäßig günstig
entwickelt ist die spanische Baumwollindustrie. Während die
Spinnerei 1834 erst 600,000 Feinspindeln zählte, hob sich
diese Ziffer 1881 auf 1,835,000. Der Baumwollkonsum betrug im
Durchschnitt der letzten Jahre 490,000 metr. Ztr. Die
größte Bedeutung hat die Baumwollindustrie für
Katalonien. Barcelona versteht mit gewebten und bedruckten Stoffen
(Indiennes) fast alle spanischen Kolonien. Außerdem ist diese
Industrie noch in den baskischen Provinzen, in Malaga, Santander,
Valladolid und den Balearen vertreten, obgleich immer noch ein
Import (Garne 1886 für 2,1, Gewebe für 11,4 Mill.
Pesetas) notwendig ist. Die Flachsspinnerei macht gute
Fortschritte. Die Leinweberei arbeitet für die
Bedürfnisse des eignen Landes und exportiert nach den Kolonien
und Brasilien, wogegen aber auch ein Import aus
Großbritannien und Irland stattfindet. Die Sitze dieser
Industrie sind: die Landschaften Katalonien, Aragonien, Kastilien,
Galicien u. Navarra. Die Espartoweberei, welche in Murcia, Alicante
u. a. O. betrieben wird, liefert verschiedene Waren, als:
Überzieher für Bergleute, Teppiche, Lauftücher etc.
In Leinen- und Hanfgarn fand in den letzten Jahren ein Import von
durchschnittlich 42,000 metr. Ztr., an Geweben ein solcher von 6300
metr. Ztr. statt. Färberei und Druckerei sind alte und
wichtige Zweige der spanischen Industrie, zumal in Katalonien und
in den baskischen Provinzen. Die Spitzenmanufaktur ist gleichfalls
sehr alt und im Fortschreiten begriffen; ihre Heimat ist
Katalonien. Maschinenspitzen werden zu Barcelona, Mataro u. a. O.
erzeugt. Handschuhe liefern Madrid und Valladolid, Wirkwaren
Barcelona. Die Industrie in Schuhwaren schwingt sich auf den
Balearen sichtlich empor (Export über Barcelona nach den
spanischen Kolonien). Für den Konsum der spanischen
Landbevölkerung werden auch Schuhwaren aus Hanf (Alpargatas)
an vielen Orten gefertigt. Neu aufstrebende Industrien sind die
Fächerfabrikation in Valencia und die Knopffabrikation in
Madrid. In der Papierfabrikation findet der Maschinenbetrieb immer
weitere Verbreitung. Es gibt bereits ca. 40 Papierfabriken (zu
Barcelona, Tolosa etc.), während die Zahl der
Papiermühlen mit Büttenbetrieb immer mehr abnimmt. Ein
Hauptartikel der

72

Spanien (Handel, Schiffahrt).

Papierfabrikation ist das Zigarrettenpapier (namentlich in
Alcoy). Bedeutend ist die Industrie in Nahrungs- u.
Genußmitteln. Es bestehen 18 Raffinerien für
Kolonialzucker (Barcelona, Malaga und Umgebung, Granada und
Almeria; Produktion jährlich ca. 150,000 metr. Ztr.),
zahlreiche Schokoladefabriken, so zu Madrid und Umgebung,
Barcelona, Saragossa, Ciudad Real, Leon, Astorga, Oviedo, Malaga
etc., mehrere Fabriken für konservierte und kandierte
Früchte, einige große Fabriken für Fisch- und
Fleischkonserven (in Guipuzcoa und Coruña) und mehrere
Unternehmungen für Maccaroni- und Teigwarenerzeugung (in
Malaga). Weizenmehl wird von Santander aus nach den spanischen
Kolonien verschifft (in den letzten Jahren durchschnittlich 275,000
metr. Ztr.). Erwähnenswert sind ferner: die Spirituserzeugung
aus Wein und dessen Rückständen, die Fabrikation von
Likören (besonders Anislikör in der Provinz Albacete) und
die Bierbrauerei in den größern Städten. Die
Tabaksfabrikation ist Staatsmonopol, welches aber seit 1887
verpachtet ist, und beschäftigt große Etablissements zu
Madrid, Sevilla, Santander, Gijon, Coruña, Valencia und
Alicante. Die erforderlichen Blätter kommen
größtenteils aus den überseeischen Kolonien (Cuba,
Puerto Rico, Philippinen), teilweise auch aus Deutschland. Doch
werden daneben Massen von fremden Zigarren eingeschmuggelt. Endlich
sind noch die Zinnobererzeugung, die Fabrikation von Seife
(Katalonien und Andalusien, insbesondere Malaga), Kerzen und
verschiedenen Chemikalien, die Buchdruckerei und Lithographie
(Hauptort Madrid) hervorzuheben. In ganz S. besteht schon seit
geraumer Zeit Gewerbefreiheit. Es gibt daher keine Innungen und
Zünfte, sondern bloß Vereinigungen (gremios) von
Handwerkern und Gewerbtreibenden zu irgend einem gemeinsam besser
als einzeln zu erreichenden Zweck. Zur Beförderung der
Industrie und der Gewerbe dienen außer den Handelskammern (s.
unten): der Industrieverein zu Madrid, die Gewerbevereine in
verschiedenen Städten und die technischen
Unterrichtsanstalten.

Handel und Verkehr.

S. hat eine für den Handel, namentlich den Welthandel,
äußerst günstige Lage, und geraume Zeit war der
spanische Handel einer der umfangreichsten der Welt. Wenn er in der
Gegenwart kaum noch an das erinnert, was er einst gewesen, so sind
daran einerseits die äußern und innern Kriege,
anderseits aber die Vernachlässigung der natürlichen
Hilfsquellen des Landes schuld. Das Zentrum des gesamten innern
Handels bildet Madrid. Nächstem sind Valladolid, Palencia,
Burgos, Oviedo, Vitoria, Saragossa und Granada die wichtigsten
Plätze des Binnenhandels. In betreff des äußern
Handels zerfällt S. in mehrere selbständige Zollgebiete,
nämlich: das Festland mit den Balearen, die Kanarischen
Inseln, die Provinzen in Amerika, die Besitzungen in Asien und
Ozeanien, die Insel Fernando Po mit deren Dependenzen, die
nordafrikanischen Besitzungen. Jedes dieser Zollgebiete hat seinen
besondern Tarif; die nordafrikanischen Häfen sind zu
Freihäfen erklärt worden. In dem Zollgebiet des
spanischen Festlandes und der Balearen wurde ein Tarif 5. Okt. 1849
eingeführt, seitdem aber vielfach modifiziert und namentlich
durch die abgeschlossenen Handelsverträge ermäßigt.
So hat S. 1861 mit Marokko, 1862 mit der Türkei, 1864 mit
China, 1865 mit Frankreich, dann seit 1870 mit den meisten andern
europäischen Staaten und mit Siam Handels- und
Schiffahrtsverträge abgeschlossen, darin
Einfuhrzollbegünstigungen für fremde Produkte zugestanden
und sich zugleich verpflichtet, diese Zollsätze in einem
spätern Termin noch weiter herabzusetzen. Die finanzielle Lage
und der Vorgang der übrigen Kontinentalstaaten auf dem Weg des
Schutzzollsystems veranlaßten jedoch auch S., zur
Erhöhung der Einfuhrzollsätze mittels neuer Tarife (1882
und 1886) zu schreiten und in diesem Sinn modifizierte
Handelsverträge mit den übrigen Staaten
abzuschließen. Bemerkenswert für den auswärtigen
Handel Spaniens ist, daß von seiten Portugals und von
Gibraltar aus starker Schleichhandel (von letzterm Punkt namentlich
mit englischen Waren) getrieben wird. Der Gesamtwert der Ein- und
Ausfuhr Spaniens (und zwar des Festlandes mit Einschluß der
Balearen) betrug in den letzten Jahren in Millionen Pesetas (1
Peseta = 80 Pfennig):

Jahr Einfuhr Ausfuhr Jahr Einfuhr Ausfuhr

1882 816,7 765,4 1885 764,8 698,0

1883 893,4 719,5 1886 855,2 727,3

1884 779,6 619,2 1887 811,2 722,2

Der auswärtige Handel von S. bewegt sich hauptsächlich
auf dem Seeweg. Auf den Landhandel kamen nämlich vom gesamten
Warenverkehr des letztgenannten Jahrs nur 16, auf den Seehandel
dagegen 84 Proz. Die Hauptartikel des auswärtigen Handels sind
in der Ausfuhr (mit Angabe des Wertes 1887 in Millionen Pesetas):
Wein (281,7), Erze (86,7), Blei (22,0), Rosinen (22,2), Vieh
(12,4), Kork (16,8), Orangen (15,4), Schafwolle (14,1),
Olivenöl (9,7, 1885: 40,0), Schuhwaren (12,4), Esparto (8,9),
Weintrauben (9,7), Weizenmehl (5,2), Konserven (6,9), Eisen und
Eisenwaren (10,4); in der Einfuhr: Weizen (62,8), Baumwolle (62,5),
Spiritus (45,0), Holz (35,3), Tabak (30,3), Fische (29,8), Zucker
(29,7), Mineralkohle (25,6), Schafwollwaren (24,9), Maschinen
(20,1), Häute und Felle (19,4), andre Cerealien (17,5), Vieh
(17,1), Eisen und Eisenwaren (16,9), Chemikalien (15,8), Kakao
(13,6), Flachs- und Hanfgarn (13,3). Was die einzelnen Länder
betrifft, welche an dem auswärtigen Handel Spaniens
partizipieren, so kommt der Hauptanteil auf Frankreich (234,7 Mill.
Pesetas in der Einfuhr und 308,9 Mill. in der Ausfuhr) und
Großbritannien (114,0, resp. 184,6 Mill. Pesetas). Hieran
reihen sich die Vereinigten Staaten von Nordamerika (99,6 und 21,9
Mill.), Cuba (37,3 und 61,0 Mill.), Deutschland (82,9 und 9,6
Mill.), Belgien, Portugal, Italien, die Philippinen, Puerto Rico,
Argentinien, Niederlande, Norwegen etc.

Die Schiffahrt Spaniens zeigt im letzten Jahrzehnt einen
kräftigen Aufschwung. Die Zahl der Häfen an der
spanischen Küste und auf den Balearen beträgt 116, wovon
56 auf die Küste des Atlantischen Meers, 60 auf die des
Mittelmeers kommen. Die wichtigsten von erstern sind: Bilbao,
Santander, Gijon, Ferrol (Kriegshafen), Coruña, Vigo, Huelva
und Cadiz; von letztern: Malaga, Almeria, Cartagena, Alicante,
Valencia-Grao, Tarragona und Barcelona; auf den Balearen und
Pithyusen: Palma, Mahon und Iviza. In den letzten Jahrzehnten sah
man die Notwendigkeit der Herstellung sicherer und verbesserter
Hafenanlagen ein. Demgemäß wurden auch die Arbeiten,
zunächst in Alicante, Barcelona, Cartagena, Tarragona und
Valencia-Grao, in Angriff genommen und großenteils bereits
durchgeführt. Die Zahl der im Betrieb befindlichen
Leuchttürme beträgt 198. In dem Leuchtturm auf Kap
Machichaco in Viscaya besteht eine Schule für
Leuchtturmwächter. Die Handelsmarine Spaniens zählte
Anfang 1884: 1544 Segelschiffe mit 308,779 Registertonnen und 282
Dampfer

73

Spanien (Eisenbahnen etc., Münzen, Wohlthätigkeits- u.
Strafanstalten, Staatsverfassung).

mit 200,100 Ton., zusammen 1826 Seeschiffe mit 508,879 T. Die
Schiffahrtsbewegung sämtlicher Häfen Spaniens bezifferte
sich 1887 in Registertonnen:

Eingelaufen Ausgelaufen

Spanische Schiffe 4264482 4420130

Fremde Schiffe 6900494 6696443

Zusammen: 11164976 11116573

Hierzu Küstenschiffahrt (1885) 5661952 5237227

Die Binnenschiffahrt ist in S. von geringem Belang. Unter den
Strömen ist ein einziger, welcher bei hohem Wasserstand
streckenweise befahren werden kann, nämlich der Ebro, auf
welchem flache Fahrzeuge dann bis Saragossa, wohl auch bis in die
Provinz Navarra gelangen können. Der Guadalquivir, Guadiana
und Minho sind nur ein Stück von der Mündung an hinauf
für größere Schiffe fahrbar, der erstgenannte
für Seeschiffe bis Sevilla; dieselben kommen daher bei der
Binnenschiffahrt nicht in Betracht. Die übrigen Ströme
sind, soweit sie S. angehören, so voller Sandbänke,
Löcher und Strudel, daß sie sich gar nicht zur
Schiffahrt eignen. Unter den Kanälen steht der unter Karl V.
begonnene Kaiserkanal von Aragonien obenan, 119 km lang, 3,35 m
tief und an der Oberfläche 23,5 m breit, außer zur
Schiffahrt auch zur Bewässerung dienend. Im 18. Jahrh. wurden
drei schiffbare Kanäle hergestellt, worunter der 160 km lange
Kastilische, der bei Alar del Rey aus dem Pisuerga ausgeht und
unweit Simancas an demselben Fluß endigt, der wichtigste ist.
Der Manzanareskanal (von Toledo nach Madrid, 14 km) sowie der
Canale Nuevo, bei Amposta aus dem Ebro ausgehend und in San Carlos
de la Rapita nach 11 km Länge endigend, werden zur Schiffahrt
wenig benutzt. Aus diesem Jahrhundert datieren der Guadarramakanal
(17 km) und der Murciakanal (28 km). Neuerlich hat eine
Aktiengesellschaft auch die Kanalisierung des Ebro bis Saragossa
unternommen. Die Gesamtlänge aller schiffbaren Kanäle und
Flüsse Spaniens beträgt ungefähr 700 km.

Die erste Eisenbahn, von Barcelona nach Mataro (28 km), wurde
28. Okt. 1848 dem Verkehr übergeben. Seitdem entwickelte sich
das Eisenbahnnetz Spaniens in folgender Progression: 1855: 595 km,
1865: 5226 km, 1876: 5796 km, 1886: 9185 km. Die
hauptsächlichsten Linien sind: Die Spanische Nordbahn von
Madrid über Irun an die französische Grenze, mit
Zweiglinien nach Zamora, Salamanca, Segovia und Santander. An die
Nordbahn schließen sich die Nordwestliche oder Galicische
Eisenbahn mit den Linien Palencia-Coruña, Monforte-Vigo und
Leon-Gijon, dann die Eisenbahn Tudela-Bilbao, welche die Nordbahn
bei Miranda kreuzt. Eine wichtige Linie ist im NO. die Eisenbahn
von Saragossa nach Pamplona, welche einen Zweig zur Nordbahn nach
Alsasua entsendet. Von Madrid laufen außer der
ersterwähnten Bahn noch die Eisenbahn über Saragossa nach
Barcelona und die nach Alicante aus, welche beide miteinander durch
die Küstenbahn über Tarragona und Valencia nach Almansa
in Verbindung stehen, und wovon die erstere mehrere Zweiglinien in
Katalonien und die Linie über Portbou nach Frankreich, die
letztere die Zweiglinien nach Toledo und Cartagena entsenden. An
die Eisenbahn Madrid-Alicante schließen sich endlich die
andalusischen Bahnen nach Cadiz, Malaga und Granada sowie die
Eisenbahn über Ciudad Real und Badajoz nach Portugal an. Von
Madrid nach Lissabon führt außerdem die neue direkte
Linie über Talavera. Auch die Insel Mallorca hat ihre
Eisenbahn Palma-Manacor. Die Ausführung der einzelnen
Eisenbahnlinien erfolgte durch Privatgesellschaften, meist mit
englischen Kapitalien. Pferdebahnen bestehen zu Madrid, Barcelona
und Valencia-Grao. Auch auf den arg vernachlässigten
Straßenbau hat man in neuerer Zeit große Summen
verwendet; die Gesamtlänge der fertigen Straßen
beträgt gegenwärtig ca. 19,000 km. Weitere 3000 km sind
teils im Bau, teils projektiert. Am meisten leidet noch das Zentrum
des Landes durch Mangel an Verkehrswegen. Auch auf Vizinalwege wird
wenig Bedacht genommen. Das spanische Staatstelegraphenwesen
umfaßte 1886 ein Netz von 17,840 km Linien mit einem
Betriebspersonal von 3540 Individuen. Der Korrespondenzverkehr
ergab 2,8 Mill. Depeschen. Dem Postwesen standen 1886: 2655
Anstalten mit einem Personal von 7112 Individuen zur
Verfügung. Der Briefpostverkehr umfaßte 111 Mill.
Stück. Seit 1886 sind 15 Handels-, Industrie- und
Schiffahrtskammern errichtet worden. Banken mit dem Rechte der
Notenemission bestanden früher in den meisten
größern Städten. Durch das Gesetz vom 19. März
1874 wurde jedoch die Kreditzirkulation in einer einzigen Bank, der
Bank von S. (Grundkapital 100 Mill. Pesetas) in Madrid,
konzentriert und zu ihren gunsten die Aufhebung aller andern
Zettel- und Diskontobanken angeordnet. Die meisten derselben haben
sich zu Filialen der Bank von S. umgestaltet. Außerdem gibt
es eine größere Anzahl von selbständigen
Kreditinstituten, zahlreiche Sparkassen, Leihhäuser,
Börsen in allen großen Handelsplätzen etc. Die
berühmtesten Messen sind die von Talavera de la Reina in
Neukastilien, Palencia, Valladolid, Medina de Rioseco und Soria in
Altkastilien, Puenta de la Reina, Estrella und Corella in Navarra,
Granollers und Tarrasa in Katalonien, Ronda und Puerto de Santa
Maria in Andalusien; Hauptwollmärkte die von Cuenca in
Neukastilien und Bejar in Leon. Münzeinheit ist seit 1871 die
Peseta à 100 Centimos = 1 Frank = 4 Reales de vellon
(Kupferreal). Die gangbaren Münzsorten sind in Gold: der
Golddoblon = 100 Realen = 21,06 Mk., der Goldthaler (escudo de oro)
= 40 Realen = 8,42 Mk., der halbe Goldthaler (coronilla) = 20
Realen; in Silber: der Duro oder spanische Thaler (peso fuerte, im
Ausland Piaster genannt) = 20 Realen = 4,20 Mk., der halbe Duro
oder Escudo (medioduro, escudo) = 10 Realen, die Peseta = 4 Realen,
die halbe Peseta = 2 Realen, der einfache Real (real de vellon).
Das einzige Papiergeld des Landes sind gegenwärtig die Noten
der Bank von S., deren höchste Abschnitte aber nicht auf mehr
als 1000 Pesetas lauten dürfen. In Bezug auf Maß und
Gewicht ist seit 1855 gesetzlich das metrische System
eingeführt.

Ungemein groß ist die Zahl der
Wohlthätigkeitsanstalten, deren man bereits 1859: 1028
zählte, worin 455,290 Individuen verpflegt wurden. Die Straf-
und Besserungsanstalten zerfallen in Zuchthäuser für
männliche Verbrecher und Korrektionshäuser für
Weiber. Die schwersten Verbrecher werden in den an die Stelle der
ehemaligen Galeeren getretenen Zuchthäusern in Ceuta,
Alhucemas, Melilla und Peñon de Velez untergebracht.

Staatsverfassung und Verwaltung.

Das Grundgesetz der gegenwärtigen Staatsverfassung des
Königreichs S. bildet die Konstitution vom 30. Juni 1876.
Hiernach ist S. eine eingeschränkte Monarchie,
gegenwärtig unter der Dynastie Bourbon. Als Thronfolgeordnung
gilt die kognatische, wonach das weibliche Geschlecht in Bezug auf
die Succession gleiches Recht mit dem männlichen besitzt und
nur die Nähe der Linie darüber entscheidet, wer
nachfol-

74

Spanien (Staatsverwaltung, Rechtspflege).

gen soll, so daß ein näher verwandter weiblicher
Abkömmling einem entfernter verwandten männlichen
vorangeht, in der erbenden Linie aber der jüngere Prinz vor
der ältern Prinzessin den Vorzug hat. Die
Successionsfähigkeit ist von dem römisch-katholischen
Glaubensbekenntnis abhängig. Die Großjährigkeit
tritt mit dem vollendeten 16. Jahr ein. Wenn die Erbfolge einen
noch minderjährigen Succedenten trifft, oder wenn der Monarch
durch längere Zeit verhindert ist, selbst zu regieren, so
tritt im ersten Fall eine Vormundschaft, in beiden Fällen eine
Regentschaft ein, deren Bestellung durch die Volksvertretung
erfolgt. Gegenwärtiger König ist Alfons XIII.,
nachgeborner Sohn Alfons' XII., geb. 17. Mai 1886. Regentin ist
seine Mutter Marie Christine. Der König, bez. Regent übt
die gesetzgebende Gewalt gemeinsam mit den Cortes aus, welche sich
in zwei Kammern gliedern: den Senat und den Kongreß der
Deputierten. Der Senat wird gebildet: von den Senatoren
vermöge eignen Rechts; von den Senatoren, welche von der Krone
auf Lebenszeit ernannt werden; von den Senatoren, welche durch die
Provinzialvertretungen und die Höchstbesteuerten gewählt
werden und sich alle fünf Jahre zur Hälfte erneuern.
Senatoren von Rechts wegen sind: die großjährigen
Söhne des Königs und des Thronfolgers; die Granden von
S., welche eine jährliche Rente von 60,000 Pesetas
genießen; die Generalkapitäne des Heers und die Admirale
der Flotte; die Erzbischöfe; die Präsidenten des
Staatsrats, des obersten Gerichtshofs, des Rechnungshofs, des
obersten Kriegs- und des obersten Marinerats, wenn sie sich zwei
Jahre im Amt befinden. Die vom König ernannten oder von den
Provinzialvertretungen u. den Höchstbesteuerten gewählten
Senatoren müssen bestimmten Klassen des Beamtenstandes, der
Armee, des Klerus angehören oder eine jährliche Rente von
20,000 Pesetas beziehen. Die Zahl der Senatoren kraft eignen Rechts
und der vom König ernannten Senatoren darf zusammen 180 nicht
übersteigen, und dieselbe Zahl entfällt auf die
gewählten Senatoren. Jeder Senator muß Spanier und 35
Jahre alt sein. Der Kongreß der Deputierten setzt sich aus
denjenigen Mitgliedern zusammen, welche von den Wahljunten auf
fünf Jahre, im Verhältnis von einem Deputierten auf
40,000 Einw., gewählt werden. Um zum Deputierten gewählt
zu werden, sind die spanische Staatsbürgerschaft, der
weltliche Stand, die Großjährigkeit und der Genuß
aller bürgerlichen Rechte erforderlich. Das passive Wahlrecht
ist durch keinen Zensus, das aktive Wahlrecht seit der Wahlreform
vom 20. Juli 1877 durch einen solchen von 25 Pesetas
beschränkt. Die Cortes versammeln sich alle Jahre. Der
Präsident und die Vizepräsidenten der Zweiten Kammer
werden von der Kammer gewählt, die der Ersten Kammer vom
König ernannt. Der König und jede der beiden legislativen
Körperschaften besitzen das Recht der Initiative zu den
Gesetzen. Finanzgesetze müssen zuerst dem Kongreß der
Deputierten vorgelegt werden. Der Kongreß besitzt das Recht
der Ministeranklage, wobei der Senat als Gericht fungiert. Die
Abgeordneten erhalten keine Vergütung oder Diäten. Die
Staatsbürgerrechte entsprechen den in den übrigen
repräsentativen Monarchien gewährleisteten Grundrechten.
Die Staatsbürger teilen sich dem Stand nach in Adel,
Geistlichkeit, Bürger und Bauern, welche Stände aber vor
dem Gesetz gleich sind. Der Adel zerfällt in den hohen, der
sich wieder in Grandes und Titulados teilt, und in den niedern der
Hidalgos oder Fidalgos. Die "Grandeza" wird gegenwärtig vom
König teils als persönliche Auszeichnung, teils erblich
erteilt und führt das Prädikat "Exzellenz". Die Titulados
sind Familien, welche von alters her den stets nur auf den
ältesten Sohn übergehenden Titel Herzog, Marquis, Graf,
Visconde oder Baron führen. Der äußerst zahlreiche
niedere Adel zerfällt in Ritter- und Briefadel. Aber weder der
hohe noch der niedere Adel hat irgend welche politische Vorrechte.
Das Prädikat "Don", früher nur dem hohen Adel zustehend,
wird jetzt jedem gebildeten Mann gegeben. Die Gemeindeverfassung
datiert in ihrer jetzigen Form von 1845 und ist, wie auch die
Provinzialverfassung, im wesentlichen der französischen
nachgebildet. In jeder Provinz sind Provinzialdeputationen
eingesetzt, deren Mitglieder von den Gemeindevertretungen
gewählt werden. Jede Gemeinde von mindestens 30 Mitgliedern
hat ihre eigne Gemeindevertretung (ayuntamiento), welche auf zwei
Jahre gewählt wird, und welcher der Alkalde, der zugleich
Friedensrichter ist, präsidiert. Die Alkalden werden von den
Gemeinden alljährlich neu gewählt, aber von der Regierung
bestätigt.

An der Spitze der gesamten Staatsverwaltung steht der
Ministerrat (consejo de ministros), dem der königliche
Staatsrat (consejo de estado) zur Seite steht. Der Staatsrat
besteht aus 33 Räten, die vom König ernannt werden, und
den Ministern, berät in seinen den Ministerien entsprechenden
Sektionen Regierungsmaßregeln und entscheidet über
Kompetenzkonflikte zwischen Gerichts- und Verwaltungsbehörden.
Königliche Ministerien sind: das Ministerium des
Äußern (zugleich für die Angelegenheiten des
königlichen Hauses), das Ministerium der Gnaden und Justiz
(auch für den Kultus), das Kriegsministerium, das
Marineministerium, das Finanzministerium, das Ministerium des
Innern (ministerio de la gobernacion, auch für das Eisenbahn-,
Post- und Telegraphenwesen), das Ministerium für die
Volkswirtschaft (ministerio de fomento, für Landwirtschaft,
Bergbau, Industrie, Handel, Bauten und Unterrichtswesen) und das
Ministerium der Kolonien (ministerio de ultramar). Selbständig
ist der Rechnungshof. Zur Leitung der Provinzialverwaltung stehen
an der Spitze der 49 Provinzen für die gesamte innere und
Steuerverwaltung die Gouverneure, welchen die
Provinzialdeputationen und deren permanente Kommissionen beigegeben
sind. Ferner bestehen in jeder Provinz eine Sanitätsjunta und
eine Hauptpostverwaltung. Die Polizei wird in den Gemeinden von den
Alkalden, in größern Städten von besondern
Polizeikommissaren, unter Aufsicht des Gouverneurs, gehandhabt.
Für die Militärverwaltung sind 16 Generalkapitanate und
unter diesen Provinzialmilitärgubernien, für die Marine 3
Departements (Generalkapitanate) errichtet. Die Kolonialverwaltung
besteht für jede Kolonie aus einer Regierung mit dem
Generalkapitän, dem obersten Militärkommandanten und
einem Zivilgouverneur, welch letzterer unmittelbar vom König
dependiert. Der Volksvertretung ist keine Beteiligung dabei
eingeräumt.

Die Gerichtsverfassung beruht auf Öffentlichkeit und
Mündlichkeit des Verfahrens und Geschwornengerichten.
Römisches Recht und Landrecht bilden die Grundlage des
Rechtswesens; die in den baskischen Provinzen bisher geltenden
Sonderrechte (fueros) wurden 1876 aufgehoben. Die unterste Instanz
bilden die Alkalden der Gemeinden als Friedensrichter.
Außerdem bestehen noch 500 Untergerichtsbezirke (partidos)
mit je einem Gerichtshof erster Instanz. Diese sind verteilt unter
15 Ober- oder Appellations-

75

Spanien (Finanzen, Heer und Flotte, Wappen, Orden etc.).

gerichtshöfe (audiencias territoriales). Die oberste
Instanz bildet der höchste Gerichtshof zu Madrid. In
Preßprozessen erkennen Geschwornengerichte. Außer
diesen ordentlichen Gerichten bestehen noch: geistliche und
Militärgerichte, das Tribunal de hacienda publica in
Steuersachen, Handelsgerichte, Berggerichte sowie Gerichte für
das Post- und Straßenwesen. Das spanische
Zivilgerichtsverfahren ist jetzt auch in den Kolonien Cuba und
Puerto Rico eingeführt.

Finanzen.

Die Budgetvoranschläge für das Finanzjahr

1888/89 ergaben (in Pesetas):

A. Einnahmen.

Direkte Steuern 310 983 000

Indirekte Steuern 314 294 394

Zölle 172 993 000

Staatsmonopole 21 198 038

Nationalgüter 7 944 000

Staatsschatz 24 255 500

Zusammen 851 667 932

B. Ausgaben.

Zivilliste 9 350 000

Portes 1 940 205

Staatsschuld 279 099 611

Gerichtshöfe 1 361 276

Pensionen 50 593 826

Ministerpräsidium 1 148 959

Auswärtiges 5 300 620

Gnaden und Justiz 59 092 859

Krieg 154 720 262

Marine 26 683 627

Inneres 31 186 581

Öffentliche Arbeiten u. Unterricht 100 385 507

Finanzen 20 826 781

Verwaltung der Steuern 106 967 871

Zusammen: 848 657 985

Die Staatsschuld, welche in den 70er Jahren bereits einen Stand
von 12,000 Mill. Pesetas überschritten hatte, wurde seither
durch eine umfassende Konversion um mehr als die Hälfte
verringert; am 1. Jan. 1887 belief sie sich schon wieder auf ein
Kapital von 6334 Mill. Pesetas; die Jahreszinsen betrugen 238 Mill.
Pesetas.

Meer und Flotte.

Das Kriegswesen Spaniens ist nach der Beendigung des
Bürgerkriegs in den Jahren 1877 und 1878 neu organisiert
worden. Hiernach besteht in S. das System der allgemeinen
Wehrpflicht, jedoch mit Loskauf (für gebildete junge Leute vom
Dienst in der aktiven Armee) und Stellvertretung (unter
Brüdern). Die Militärpflicht beginnt mit dem 20.
Lebensjahr und dauert 12 Jahre (3 Jahre in der aktiven Armee, 3
Jahre in der Reserve derselben und 6 Jahre in der zweiten Reserve).
Die Ergänzung der Kriegsflotte erfolgt nach denselben
Prinzipien aus der seemännischen Bevölkerung. Die
Kolonialtruppen werden teils durch die Bewohner der
überseeischen Besitzungen, teils durch die Ausgehobenen im
Mutterland ergänzt. Die Truppen des Heers sind: a) Infanterie:
61 Linienregimenter zu 2 Bataillonen und 21 Jägerbataillone,
alle diese zu je 4 Feld- und 2 Depotkompanien, 140
Reservebataillone und 140 Depotbataillone zu 6 Kompanien (davon 2
in Kadrestärke), 31 Disziplinarbataillone; b) Kavallerie: 1
Eskadron königlicher Garden, 28 Regimenter (8 Ulanen-, 14
Jäger-, 4 Dragoner- und 2 Husarenregimenter) zu 4 Eskadrons,
28 Reserveregimenter; c) Artillerie: 5 Regimenter zu 4 Batterien
Korpsartillerie, 5 Regimenter zu 6 Batterien Divisionsartillerie, 1
reitende Batterie, 2 Gebirgsartillerieregimenter (zu 6
Bataillonen), 1 Regiment Belagerungsartillerie (mit 4 Batterien), 9
Bataillone Festungsartillerie, 7 Reserveregimenter; die Batterie
zählt im Frieden 4, im Krieg 6 Geschütze; d)
Ingenieurtruppen: 4 Regimenter Sappeure und Mineure (zu 2
Bataillonen), 4 Reserveregimenter, 1 Pontonierregiment, 1
Eisenbahn- und 1 Telegraphenbataillon; e) die Guardia civil
(Gendarmerie), die Karabiniere (Zoll- und Grenzwache) und die
Provinzialmiliz auf den Kanarischen Inseln - letztere mit 7
Bataillonen). Der Friedens- und Kriegsstand betragen:

im Frieden

Infanterie 83 808 Mann

Kavallerie 14 364 -

Artillerie 11 340 -

Ingenieurtruppen 4 279 -

Andre Formationen 2 422 -

Zusammen: 116 213 Mann

im Krieg

Infanterie 734 679 Mann

Kavallerie 21 452 -

Artillerie 30 355 -

Ingenieurtruppen 7 163 -

Andre Formationen 9 538 -

Zusammen: 803 187 Mann

Die Kavallerie verfügt im Frieden über 10,233, im
Krieg über 17,205 Pferde, die Artillerie zählt im Frieden
392, im Krieg 460 Geschütze. Hierzu kommen dann die Guardia
civil mit 15,302 und die Karabiniere mit 10,940 Mann sowie die
selbständigen Kolonialtruppen (39,924 Mann). Die Kriegsflotte
ist verhältnismäßig sehr bedeutend an Zahl der
Schiffe, doch entspricht nur der geringste Teil derselben den
modernen Anforderungen an gefechtstüchtige Schiffe. Es ist
deshalb der Plan einer Reorganisation der Flotte beschlossen und
der Bau einer Anzahl neuer Schlachtschiffe, Kreuzer, Kanonen- und
Torpedoboote teils in Angriff, teils in Aussicht genommen worden.
Ende 1886 umfaßte die Flotte:

4 Panzerschiffe 74 Kanonen 13 300 Pferdekr.

13 Torpedoboote 4 Kanonen 10 444 Pferdekr.

11 Kreuzer u. Korvetten 94 Kanonen 38 135 Pferdekr.

63 andre Dampfer 95 Kanonen 11 775 Pferdekr.

20 Schulschiffe u. Hulks 246 Kanonen 13 000 Pferdekr.

Zusammen:

111 Fahrzeuge 513 Kanonen 86 654 Pferdekr.

Die Bemannung beträgt 14,000 Köpfe; außerdem
bestehen 3 aktive und 3 nicht aktive Regimenter Marineinfanterie
(zu 2 Bataillonen), die aktiven mit 7033 Mann; hierzu kommen 400
Maschinisten, 180 Bootsleute, 1500 Arsenalarbeiter etc.

Wappen, Orden.

Das königliche Wappen (s. Tafel "Wappen") besteht aus einem
in vier Felder abgeteilten Schild mit einem Mittelschild, welcher
durch das Wappen des Hauses Bourbon-Anjou, drei goldene Lilien im
blauen Feld, gebildet wird. Das erste Quartier enthält die
Wappen von Kastilien (drei goldene Türme im roten Feld) und
Leon (ein gekrönter roter Löwe im silbernen Feld) und
zwar doppelt, indem es kreuzweise in Felder abgeteilt ist. Zwischen
seinen beiden untersten Feldern befindet sich das Wappen von
Granada, ein aufgesprungener Granatapfel im roten Felde. Das
zweite, der Quere nach gespaltene Quartier enthält die Wappen
von Aragonien (vier rote Pfähle im goldenen Feld) und des
Königreichs beider Sizilien. Das dritte, ebenfalls geteilte
Quartier zeigt oben das Wappen des Erzhauses Österreich, unten
das der alten Herzöge von Burgund, das vierte Quartier aber
das neuburgundische Wappen, unten das Wappen von Brabant. Der ganze
Wappenschild ist mit der Kette des Goldenen Vlieses umgeben und mit
der königlichen Krone bedeckt; als Schildhalter dienen zwei
aufrechte Löwen. Als gewöhnliches Wappen dient bloß
der Wappenschild von Kastilien und Leon mit dem Wappen von
Bourbon-Anjou im Mittelschild. Die Landesfarben sind Rot und Gelb.
Die Flagge (s. Tafel "Flaggen") ist in drei horizontale Streifen,
zwei rote und einen gelben (in der Mitte), geteilt, die
königliche mit dem Wappen im Mittelstreifen versehen. S. hat
zehn Ritterorden: den Orden des Goldenen Vlieses (toison de oro),
1431 gestiftet, in einer Klasse, nur für Souveräne,
Prinzen und Granden von S.; den Orden Karls III. (s. Tafel
"Orden"), 1773 gestiftet, in drei Klassen; den Damenorden der
Königin Maria Luise, 1792 gestiftet, in einer Klasse; den
amerikanischen Orden Isabellas der Katholischen, 1815 gestiftet, in
drei Klassen; den Militärorden von San Fernando, 1815 ge-

76

Spanien (geographisch-statistische Litteratur; Geschichte).

stiftet, in fünf Klassen; den Militärorden von St.
Hermenegild, gleichfalls 1815 gestiftet, in drei Klassen; den
Militärorden von Santiago, 1175 gestiftet, in vier Klassen;
den Militärorden von Calatrava, 1058 gestiftet, in einer
Klasse; den Militärorden von Alcantara, 1177 gestiftet, in
drei Klassen; den Orden von Montesa, 1319 gestiftet, in einer
Klasse. Außer diesen Orden bestehen noch mehrere Ehrenzeichen
für Militärs. Königliche Residenz ist Madrid. Den
Mai pflegt der Hof nach altem Herkommen in Aranjuez, den Sommer in
San Ildefonso (La Granja), den Herbst im Escorial und in Pardo
zuzubringen.

[Litteratur.] M. Willkomm in Stein-Hörschelmanns "Handbuch
der Geographie" (Leipz. 1862); Derselbe, Die Pyrenäische
Halbinsel (Prag 1884); Carrasco, Geografia general de España
(Madr. 1861 ff.); Coello, Reseña geografica de España
(das. 1859); Mingotey Tarazona, Geografia de España y sus
colonias (das. 1887); "Diccionario geografico-historico de
España por la Real Academia de la historia" (das. 1802-46, 8
Bde.); Madoz, Diccionario geografico-historico-estadistico de
España (das. 1846-50, 16 Bde.); Mariana y Sanz, Diccionario
geografico, estadistico, municipal de España (Valencia
1886); Martinez Alcubilla, Diccionario de la administracion
española (4. Aufl., Madr. 1886 ff.); Cuendias, S. und die
Spanier (Brüssel 1851); v. Minutoli, S. und seine
fortschreitende Entwickelung (Berl. 1852); Leftgarens, La situation
économique et industrielle de l'Espagne en 1860 (Par. 1860);
Garrido, Das heutige S. (deutsch von A. Ruge, Leipz. 1863);
Davillier, L'Espagne (Par. 1873, illustriert von Doré);
Simons, S. in Schilderungen (illustr. von Wagner, Berl. 1880);
Lauser, Aus Spaniens Gegenwart. Kulturskizzen (Leipz. 1872);
Parlow, Kultur und Gesellschaft im heutigen S. (das. 1888); die
Reiseschilderungen von v. Minutoli, Huber, Cook, O'Shea, Th.
Gautier, E. Qninet, Boissier, v. Rochau, Willkomm, v.Quandt,
Ziegler, Roßmäßler, Wachenhusen, Hackländer,
v. Wolzogen, W. Mohr (Köln 1876, 2 Bde.), Lauser (Berl. 1881),
de Amicis (deutsch, Stuttg. 1880), Bark (Berl. 1883), Passarge
(Leipz. 1884), Th. v. Bernhardi (Berl. 1886), Parlow (Wien 1889);
Reisehandbücher von Murray (6. Aufl., Lond. 1882), O'Shea (6.
Aufl., Edinb. 1878), Roswag (Madr. 1879), Germond de Lavigne (3.
Aufl. 1880); die amtlichen Publikationen ("Annuario estadistico de
España", die Handels- und Schiffahrtsausweise, "Guia oficial
de España"); das "Boletin de la Sociedad geografica de
Madrid"; Vizaino, Atlas geografico español (Madr. 1860);
eine topographische Karte wird auf Grund der Landesvermessung unter
Leitung von Ibanez seit 1878 veröffentlicht; bis zu ihrer
Vollendung dient Coello, Atlas de España (1 : 200,000), als
offizielle Karte; geologische Übersichtskarten lieferte F. de
Botella (1:1,000,000, 1875, und 1:2,000,000, 1880).

Geschichte.

[Die Zeit der Römer und Westgoten.]

Die Ureinwohner der Pyrenäischen Halbinsel waren die
Iberer, von denen die ganze Halbinsel Iberien hieß. Mit ihnen
verschmolzen die in vorhistorischer Zeit über die
Pyrenäen aus Gallien eingewanderten Kelten nach langen
Kämpfen zu dem Volk der Keltiberer. Um 1100 v. Chr. siedelten
sich Phöniker an der Südküste an; unter ihren
Kolonien war Cadiz (Gades) die berühmteste. Sie nannten das
Land nach dem im Thal des Bätis (Guadalquivir) wohnenden Volk
der Turdetaner Tarschisch (griech. Tartessos). Später setzten
sich Griechen an der Ostküste fest. Nach dem ersten Punischen
Krieg eroberten die Karthager 237-219 den Süden und Osten der
Halbinsel; Neukarthago (Cartagena) wurde ihre wichtigste
Niederlassung. In dem zweiten Punischen Krieg aber, der zum Teil in
S. geführt wurde, verloren sie diese Besitzungen wieder (206).
Die Römer suchten nun das ganze Land unter ihre
Botmäßigkeit zu bringen, was ihnen jedoch erst nach 200
jährigen blutigen Kämpfen gelang. Namentlich die
Keltiberer und die Lusitanier (unter Viriathus) leisteten
hartnäckigen Widerstand, und die Kantabrer wurden erst 19 v.
Chr. unter Augustus bezwungen, der S. anstatt wie bisher in zwei
Provinzen (Hispania citerior und H. ulterior) in drei, Lusitania,
Baetica und Tarraconensis, einteilte, von welch letztern
größten Provinz unter Hadrianus die neue Provinz
Gallaecia et Asturia abgezweigt wurde. Nur die Basken behaupteten
in ihren Gebirgen ihre Unabhängigkeit. Da die Römer das
Land mit vielen Militärstraßen durchzogen und zahlreiche
Soldatenkolonien anlegten, so wurde S. sehr rasch romanisiert, bald
ein Hauptsitz römischer Kultur und eins der blühendsten
Länder des römischen Weltreichs, dem es mehrere seiner
tüchtigsten Kaiser (Trajan, Hadrianus, Antoninus, Marcus
Aurelius, Theodosius) u. angesehene Schriftsteller (Seneca,
Lucanus, Martialis, Flavius, Quintilian u. a.) gab. Handel und
Verkehr blühten, Gewerbe und Ackerbau standen auf einer hohen
Stufe der Vervollkommnung, und die Bevölkerung war eine
äußerst zahlreiche. Frühzeitig gewann auch das
Christentum hier Anklang und breitete sich trotz blutiger
Verfolgungen mehr und mehr aus, bis es durch Konstantin auch hier
herrschende Religion ward.

Zu Anfang des 5. Jahrh., als der innere Verfall des
römischen Reichs auch seine äußere Macht
erschütterte, drangen die germanischen Völkerschaften der
Alanen, Vandalen und Sueven verwüstend in S. ein und setzten
sich in Lusitanien, Andalusien und Galicien fest, während die
Römer sich noch eine Zeitlang im östlichen Teil der
Halbinsel behaupteten. 415 erschienen die Westgoten (s. Goten, S.
537), anfangs als Bundesgenossen der Römer, in S. und
verdrängten bald die andern germanischen Stämme; ihr
König Eurich entriß den Römern auch den letzten
Rest ihres Gebiets, und Leovigild unterwarf nach gänzlicher
Unterjochung der Sueven 582 die ganze Halbinsel der westgotischen
Herrschaft. Sein Sohn und Nachfolger Reccared I. trat mit seinem
Volk vom arianischen zum katholischen Glauben über (586) und
bahnte dadurch die Verschmelzung der Goten mit den Römern zu
einem romanischen Volk an. Allerdings hatte dieser Schritt noch die
andre Folge, daß die katholische Geistlichkeit
übermäßige Macht erlangte und im Bund mit dem Adel
die sich schon befestigende Erblichkeit der Krone verhinderte, um
bei der Wahl jedes neuen Oberhauptes die königliche Gewalt
möglichst einzuschränken. Als 710 König Witiza von
dem Klerus und dem Adel unter Führung des Grafen Roderich
gestürzt und getötet wurde, riefen seine Söhne die
Araber von Afrika zu Hilfe, welche 711 unter Tarik bei Gibraltar
landeten und dem westgotischen Reich nach fast 300jähriger
Dauer durch den Sieg bei Jeres de la Frontera (19.-25. Juli d. J.)
ein Ende machten. Fast ganz S. wurde in kurzer Zeit von den Arabern
erobert und ein Teil des großen Kalifats der Omejjaden.

Herrschaft der Araber.

Die Araber (Mauren) verfuhren in der ersten Zeit sehr schonend
gegen die alten Einwohner und ließen

77

Spanien (Geschichte bis 1118).

ihr Eigentum, ihre Sprache und Religion unangetastet. Ihre
Herrschaft erleichterte den untern Klassen sowie den zahlreichen
Juden ihre Lage, und der Übertritt zum Islam verschaffte den
hart bedrückten Leibeignen die ersehnte Freiheit. Aber auch
viele Freie und Angesehene traten zum Islam über; denen, die
Christen blieben, wurden bloß Steuern auferlegt. Den
aufreibenden Zwistigkeiten und blutigen Fehden, welche Ehrgeiz und
Herrschsucht der arabischen Häuptlinge in dieser entfernten
Provinz des Kalifats hervorriefen, machte 755 der bei der
Vernichtung durch die Abbassiden einzig übriggebliebene
Sproß der Omejjaden, Abd ur Rahmân, ein Ende, welcher
nach S. flüchtete und hier, vom Volk mit Jubel
begrüßt, ein eignes Reich mit der Hauptstadt Cordova,
das sogen. Kalifat von Cordova, gründete, welches er auch bis
zu seinem Tod (788) behauptete und auf seine Nachkommen vererbte.
Obwohl diese ebenfalls wiederholte Empörungen der Statthalter
und andre durch Thronansprüche und Abgabendruck hervorgerufene
Unruhen zu bekämpfen hatten, so konnten sie doch Künste
und Wissenschaften pflegen und die friedliche Entwickelung von
Gewerbe, Handel und Ackerbau schützen. Wohlstand und Bildung
mehrten sich, und Cordova ward ein glänzender Herrschersitz.
Unter Abd ur Rahmân III. (912-961) erreichten arabische Kunst
und Wissenschaft in S. ihre höchste Blüte. Volkreiche
Städte schmückten das Land; das Gebiet des Guadalquivir
soll allein 12,000 bewohnte Orte gezählt haben. Cordova hatte
113,000 Häuser, 600 Moscheen, darunter die prachtvolle
Hauptmoschee, und herrliche Paläste, darunter den Alkazar; mit
Cordova wetteiferten andre Städte, wie Granada mit der
Alhambra, Sevilla, Toledo u. a. In gleichem Sinn wie Abd ur
Rahmân III. regierte sein als Dichter und Gelehrter
ausgezeichneter Sohn Hakem II. (961-976), wogegen unter dem
schwachen Hischam II. (976-1013) das Kalifat zu sinken begann. Es
gelang den Arabern nicht, mit den altspanischen Einwohnern sich zu
verschmelzen und ein Staatswesen mit feststehenden gesetzlichen
Ordnungen zu begründen. Despotismus und Anarchie wechselten
miteinander ab: bald zerriß der ganze Reichsverband, wenn die
Statthalter und hohen Befehlshaber den Gehorsam verweigerten; bald
lag das Land blutend und demütig zu Füßen des
Herrschers, wenn diesem die Unterdrückung der Empörer
mittels fremder Söldnerscharen gelungen war. Das Volk verfiel
in Genußsucht und Verweichlichung und ließ willenlos
alles über sich ergehen. Der berühmteste unter den
kriegerischen Statthaltern Hischams II. war Mansur, der ebenso
kunstsinnig und klug wie tapfer und gewaltthätig den Staat mit
unumschränkter Macht leitete, Santiago, den heiligen
Apostelsitz Galiciens, zerstörte (994) und die Christen in
vielen blutigen Fehden überwand, bis er endlich an den Wunden,
die er in der heißen Schlacht am Adlerschloß (Kalat
Nosur) unweit der Quellen des Duero in kühnem Handgemenge
empfangen, in den Armen seines Sohns Abd al Malik Modhaffer starb
(1002). Nach dem Tode dieses (1008), der mit gleicher Kraft wie
sein Vater regierte, machten die Statthalter ihr Amt erblich und
gründeten sich unabhängige Herrschaften; um den Thron
wurde mit wilder Erbitterung gekämpft, und der letzte
omejjadische Kalif, Hischam III., wurde 1031 durch einen Aufstand
in Cordova gestürzt. Diesen Zustand benutzend, griffen die
christlichen Spanier die Araber immer erfolgreicher an und
drängten sie allmählich in den südlichen Teil der
Halbinsel zurück.

Das Emporkommen christlicher Königreiche.

Nur in den nördlichen Gebirgen, in Asturien, hatten Scharen
flüchtiger Westgoten ihre Unabhängigkeit behauptet und
sich unter der Herrschaft des tapfern Pelayo (Pelagius) vereinigt,
der, ein Nachkomme des westgotischen Königs Receswinth, 718
(oder 734) ein arabisches Heer besiegt haben und darauf zum
König ausgerufen worden sein soll; er wird deshalb el
restaurador de la libertad de los Españoles genannt. Sein
durch Wahl erhobener zweiter Nachfolger, Alfons I. (739-757), auch
ein Abkömmling jenes Westgotenkönigs und Sohn des Herzogs
Peter von Kantabrien, vereinigte dieses Land mit Asturien. Alfons
II. (791-842) drang auf seinen verheerenden Streifzügen gegen
die Araber bis zum Tajo vor und eroberte das Baskenland im Osten,
Galicien bis zum Minho im Westen. Gleichzeitig wurde im Nordosten
Spaniens von den Franken die Spanische Mark gegründet und die
Herrschaft des Christentums in Katalonien durch zahlreiche
Einwanderer gesichert. In den fast ununterbrochenen Kämpfen
mit den Ungläubigen bildete sich ein christlicher Lehnsadel,
welcher durch ritterliche Tapferkeit zugleich Ruhm, weltlichen
Besitz und das ewige Seelenheil zu erlangen strebte. So bildeten
sich nördlich vom Duero und Ebro allmählich vier
christliche Ländergruppen, welche sich durch feste
Institutionen, Reichstage, Gesetzsammlungen und den Ständen
zugesicherte Rechte (Fueros) zu konsolidieren bemüht waren: 1)
im Nordwesten Asturien, Leon und Galicien, welche nach
vorübergehenden Teilungen im 10. Jahrh. unter Ordoño
II. und Ramiro II. zu dem Königreich Leon vereinigt wurden,
das 1057 nach kurzer Unterwerfung unter Navarra von Sancho Mayors
Sohn Ferdinand mit den neuen Eroberungen im Süden als
Königreich Kastilien verbunden wurde; 2) das Baskenland,
welches mit benachbartem Gebiet von Sancho Garcias zum
Königreich Navarra erhoben wurde, unter Sancho Mayor (1031-35)
das ganze christliche Gebiet Spaniens beherrschte, 1076-1134 mit
Aragonien vereinigt, seitdem aber wieder selbständig war; 3)
das Gebiet am linken Ebro, Aragonien, seit 1035 selbständiges
Königreich; 4) die aus der Spanischen Mark entstandene
erbliche Markgrafschaft Barcelona oder Katalonien.

Trotz dieser Zersplitterung zeigten sich die christlichen Reiche
den Arabern gewachsen. Als nach dem Untergang der Dynastie der
Omejjaden (1031) das Araberreich in mehrere Teile unter besondere
Dynastien in Sevilla, Toledo, Valencia und Saragossa zerfallen war,
gerieten 1085 Toledo, das Haupt von S., dann Talavera, Madrid und
andre Städte in die Gewalt der Christen. Die vom Emir von
Sevilla zu Hilfe gerufenen Almorawiden aus Afrika befestigten zwar
den Islam durch ihre Siege bei Salaca (1086) und bei Ucles (1108)
und rissen die Herrschaft über das arabische S. an sich; aber
der Glaubenseifer und Kampfesmut der Christen erhielt durch die
gleichzeitige Bewegung der Kreuzzüge ebenfalls einen neuen
Aufschwung. Alfons I. von Aragonien, der durch seine
Vermählung mit Urraca, der Erbtochter von Kastilien,
zeitweilig (bis 1127) dies Reich mit Aragonien vereinigte und sich
Kaiser von Hispanien nannte, eroberte 1118 Saragossa und machte es
zu seiner Hauptstadt. Auch nach der Trennung von Kastilien und
Aragonien blieben beide Reiche zum Kampf gegen die Ungläubigen
verbunden, und letzteres Reich ward durch die Vereinigung mit
Katalonien infolge der Heirat der aragonischen

78

Spanien (Geschichte bis 1479).

Erbtochter Petronella mit Raimund Berengar II. von Barcelona
1137 bedeutend vergrößert und gekräftigt. Nun
erlangten die Christen bald völlig die Oberhand über die
Araber. Als die Herrschaft der Almorawiden in Afrika 1147 von den
Almohaden gestürzt wurde, riefen jene, um sich in S. zu
behaupten, die Christen zu Hilfe, welche sich Almerias und Tortosas
bemächtigten. Gegen die Almohaden, welche auch das
südliche S. unter ihre Gewalt brachten, bewährten
besonders die spanischen Ritterorden ihre glaubensmutige Tapferkeit
und machten die Niederlage bei Alarcos (1195) durch den
glänzenden Sieg bei Naves de Tolosa (16. Juli 1212) wieder
gut, welcher den Sturz der Almohadenherrschaft zur Folge hatte. In
Andalusien gründete Aben Hud (Motawakkel) eine Dynastie,
welche sich unter den Schutz der Abbassiden von Bagdad stellte; in
Valencia regierte eine andre arabische Dynastie. Durch die Schlacht
bei Merida (1230) wurde Estremadura den Arabern entrissen; nach dem
Sieg bei Jeres de la Guadiana (1233) eroberte Ferdinand III. von
Kastilien 1236 Cordova, 1248 Sevilla und 1250 Cadiz. Die Moslemin
wanderten zu Tausenden nach Afrika oder nach Granada und Murcia
aus, aber auch diese Reiche mußten die Oberherrschaft
Kastiliens anerkennen. Die unter kastilischer Herrschaft
zurückgebliebenen Mohammedaner nahmen mehr und mehr die
Religion und die Lebensformen der Sieger an, und zahlreiche
vornehme Araber traten nach empfangener Taufe in den spanischen
Adel ein.

Kastilien und Aragonien.

Wie sehr durch die Siege Ferdinands III. die Macht Kastiliens
(s. d.) gestiegen war, so blieb es doch auch nicht von innern
Wirren verschont, welche namentlich unter dem Beschützer der
Künste und Wissenschaften, König Alfons X., dem Weisen
(1252-84), das Reich zerrütteten und die Macht des Adels
vermehrten. Auch unter Sancho IV. (1284-95), Ferdinand IV.
(1295-1312) und Alfons XI. (1312-50) dauerten die Zwistigkeiten in
der Königsfamilie fort. Ordnung und Zucht lösten sich
auf, das königliche Ansehen schwand, die Krongüter wurden
entfremdet, Gemeinden, Korporationen und mächtige Edelleute
griffen zur Selbsthilfe und befreiten sich von jeder Obrigkeit.
Dennoch errangen die Kastilier über die Araber große
Erfolge; sie erfochten 1340 den glänzenden Sieg bei Salado und
schnitten durch Eroberung von Algeziras Granada von der Verbindung
mit Afrika ab, so daß dessen Fall nur eine Frage der Zeit
war. Auch das Reich Aragonien (s. d.) nahm einen mächtigen
Aufschwung. Jakob I. (Jaime), der von 1213 bis 1276 regierte,
unterwarf 1229-33 die Balearen, 1238 Valencia und drang erobernd in
Murcia ein; sein Sohn Pedro III. (1276-85) entriß 1282 den
Anjous die Insel Sizilien; Jakob II. (1291-1327) eroberte Sardinien
und setzte 1319 auf dem Reichstag zu Tarragona die Unteilbarkeit
seines Reichs fest. Freilich mußten die aragonischen
Könige diese Eroberungen mit großen Zugeständnissen
an die Stände (Cortes) erkaufen, besonders durch das
Generalprivilegium von Saragossa (1283), welches Aragonien fast in
eine Republik verwandelte. In beiden Reichen war unter den
Ständen der Klerus der mächtigste: jeder Sieg über
die Ungläubigen vermehrte seine Rechte und seinen Reichtum,
durch prunkvollen Kultus und phantastische Mystik bemächtigte
er sich des Volksgeistes und pflanzte ihm einen
verfolgungssüchtigen Religionsfanatismus ein. Der hohe Adel
maßte sich das Recht an, dem König die Treue aufzusagen;
nicht bloß er, auch die niedern Adligen waren steuerfrei.
Aber auch Städte und Landgemeinden erhielten ihre verbrieften
Sonderrechte (Fueros). In Aragonien waren die Rechte der
Unterthanen dem König gegenüber durch den Gerichtshof der
Justicia geschützt. Die Stände traten in beiden Reichen
zu Reichstagen (Cortes) zusammen, welche über Wohlfahrt und
Sicherheit des Reichs, Gesetzgebung und Besteuerung berieten.
Handel und Gewerbe standen in den volkreichen Städten unter
dem Schutz weiser Gesetze; an den Höfen wurde die Dichtkunst
der Troubadoure gepflegt.

Am besten wurden die Dinge in Aragonien geordnet, von Pedro IV.
(1336-87) nach dem Sieg über die Union von Epila (1348) auch
das Waffenrecht des Adels beseitigt, und daher kam es, daß in
diesem Reich nach dem Erlöschen der alten Dynastie mit Martin
(1395-1410) die kastilische Dynastie, welche mit Ferdinand I.
(1412-16) den Thron bestieg, die Herrschaft auch über die
Nebenlande: Balearen, Sardinien und Sizilien, behauptete und auf
kurze Zeit auch Navarra wieder erwarb. In Kastilien dagegen waren
der hohe Adel und die Ritterorden von Santiago, Calatrava und
Alcantara übermächtig. Mit Hilfe der Städte, welche
eine Verkaufs- und Verbrauchssteuer, die Alcavala, bewilligten,
suchte sich das Königtum eine freiere, unabhängigere
Stellung gegenüber der Feudalaristokratie zu verschaffen. Aber
Peter der Grausame (1350-69) machte den Erfolg dieser
Bemühungen durch seine wilde Leidenschaft und grausame
Tyrannei wieder zu nichte. Er wurde 1366 von seinem Halbbruder
Heinrich von Trastamara mit Hilfe französischer
Söldnerscharen vertrieben und, nachdem ihn der schwarze Prinz
durch einen Zug über die Pyrenäen wieder auf den Thron
erhoben, durch die Niederlage bei Montiel (14. März 1369) von
neuem gestürzt und kurz darauf ermordet. Heinrich II.
(1369-79), welcher Viscaya erwarb, und Johann I. (1379-90)
schwächten das Königtum durch unglückliche Versuche,
Portugal zu erobern, welches 1385 in der Schlacht bei Aljubarrota
seine Unabhängigkeit siegreich verteidigte. Heinrich III.
(1390-1406) stellte die Ordnung wieder her und nahm die Kanarischen
Inseln in Besitz. Von neuem wurde jedoch Kastilien zerrüttet
unter der langen, aber schwachen Regierung Johanns II. (1406-54);
das Unternehmen seines Günstlings de Luna, ein absolutes
Königtum zu errichten, endete mit dessen Sturz (1453). Der
steigenden Verwirrung unter Heinrich IV. (1454-74) wurde endlich
durch die Thronbesteigung seiner Schwester Isabella ein Ende
gemacht. Dieselbe besiegte den König Alfons von Portugal, der
als Gemahl der unechten Tochter Heinrichs IV., Johanna Beltraneja,
auf Kastilien Anspruch machte, 1476 bei Toro und zwang ihn zum
Frieden von Alcantara; darauf unterjochte sie die ihr feindliche
Partei der Großen mit Waffengewalt. Und als König
Ferdinand von Sizilien, mit dem sie sich 1469 vermählt hatte,
durch den Tod seines Vaters Johann II. von Aragonien 1479
König dieses Reichs geworden war, wurde durch Vereinigung der
kastilischen und der aragonischen Krone das Königreich S.
geschaffen.

Spanien als Weltmacht.

Die Thronbesteigung des Königspaars Ferdinand und Isabella
bewirkte aber nicht nur die Vereinigung der zwei Hauptreiche der
Halbinsel, sondern auch ihre staatliche Reorganisation und die
Begründung einer machtvollen Königsgewalt in derselben.
Vor allem in Kastilien war der unbotmäßige Adel ein
Haupthindernis für Aufrechterhaltung von

79

Spanien (Geschichte bis 1570).

Recht und Frieden. Um diese zu sichern, wurde die "heilige
Hermandad", alte Verbrüderungen einzelner Städte zu
gegenseitigem Schutz gegen Gewaltthaten, wieder belebt und zu einem
Verein (Junta) der Städte und Landschaften zur
Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit
umgeschaffen, welcher 2000 berittene Gendarmen und zahlreiches
Fußvolk zur Verfügung hatte, um die 1485 erlassene
Gerichtsordnung durchzuführen. Die Großen wurden
gezwungen, die geraubten Güter herauszugeben und den Fehden zu
entsagen. Der Adel mußte sich den königlichen
Gerichtshöfen beugen und auf alle königlichen Vorrechte,
auch auf die hohen Staatsämter, welche jetzt nur nach
Verdienst verliehen wurden, verzichten. Indem Ferdinand sich zum
Großmeister der drei Ritterorden erwählen ließ,
machte er sie zu Werkzeugen der Krone; die hohe Geistlichkeit wurde
der königlichen Jurisdiktion unterworfen. Die Verwaltung wurde
vorzüglich organisiert, die königlichen Einkünfte
vermehrt, Künste und Wissenschaften gepflegt. Die Inquisition,
welche in dem fanatischen Glaubenseifer des Volkes eine
Hauptstütze fand, wütete nicht nur gegen Juden, Morisken
und ketzerische Christen, sondern war auch ein Schreckmittel in der
Hand der Krone, um Adel und Volk in Furcht und Unterwürfigkeit
zu halten und jede freiheitliche Bewegung zu unterdrücken. Die
zahlreichen Juden (160,000) wurden 1492 aus dem Reich vertrieben
und die alleinige Herrschaft des Kreuzes auf der Iberischen
Halbinsel durch die Eroberung von Granada (2. Jan. 1492) vollendet.
Die gleichzeitige Entdeckung Amerikas eröffnete der spanischen
Nation ein unermeßliches Feld ruhmvoller zivilisatorischer
Thätigkeit und die Aussicht auf einen glänzenden
Aufschwung des Handels und Gewerbes. Die militärische
Tüchtigkeit der spanischen Heere bewährte sich zuerst in
den Kämpfen um Italien, wo 1504 Neapel unter spanische
Herrschaft gebracht wurde.

Erbin Ferdinands und Isabellas wurde die älteste Tochter,
Johanna, welche mit ihrem Gemahl Philipp I., dem Sohn des deutschen
Kaisers Maximilian I., nach Isabellas Tod (1504) zunächst in
Kastilien zur Regierung kam; mit Philipp bestieg das Haus Habsburg
den spanischen Thron. Als Philipp 1506 jung starb und Johanna
wahnsinnig wurde, ward zum Vormund ihres Sohns Karl von den
kastilischen Ständen Ferdinand erklärt, welcher 1509 Oran
eroberte und 1512 Navarra mit seinem Reich vereinigte. Nach
Ferdinands Tod (1516) übernahm Kardinal Jimenez die
Regentschaft bis zur Ankunft des jungen Königs Karl I.,
welcher 1517 selbst die Regierung antrat und den verdienten
Staatsmann sofort entließ. Da Karl 1519 auch zum deutschen
Kaiser (Karl V.) gewählt wurde und deshalb schon 1520 Spanien
wieder verließ, brach der Aufstand der Comuneros aus, welcher
sich die Verteidigung der volkstümlichen Institutionen
Spaniens gegen die absolutistischen Gelüste Karls und seiner
niederländischen Räte zum Ziel setzte. Als die Comuneros
aber einen durchaus demokratischen Charakter annahmen und, seitdem
sie siegreich um sich griffen, eine völlige Umwälzung der
Dinge anstrebten, wurden sie durch den Sieg des Adelsheers bei
Villalar (21. April 1521) und durch die Hinrichtung ihres
Führers Padilla unterdrückt. Karl V. erließ zwar
nach seiner Rückkehr (Juli 1522) eine allgemeine Amnestie,
benutzte aber den durch die Bewegung erregten Schrecken des Adels
und der Städte, um, ohne die Formen und Institute der alten
Volksfreiheit geradezu zu beseitigen, doch sie so eng zu begrenzen,
daß die Cortes zu einem Widerstand gegen den Willen der Krone
unfähig wurden, der Adel in einer übertriebenen
Loyalität seine erste Pflicht sah und auch das Volk dem
Königtum und seinen Weltherrschaftsplänen bereitwillig
folgte. Ohne Zögern bewilligten fortan die Cortes die Gelder
für die Kriege Karls V. gegen Frankreich, für die
Unternehmungen gegen die seeräuberischen Mauren in Afrika,
für die Unterdrückung des Schmalkaldischen Bundes in
Deutschland. Für die Begründung einer habsburgischen
Weltmacht und die Ausbreitung des römisch-katholischen
Glaubens kämpften die spanischen Heere am Po, an der Elbe, in
Mexiko und Peru. Dem Stolz der Spanier schmeichelte es, die
gebietende Macht in Europa zu sein, ihrem Glaubenseifer, für
die Ausrottung der Ketzerei, wie früher des Islam, zu
streiten. Erfüllt von dem Ideal eines Siegs des wahren
Glaubens durch Spaniens Macht, ließ das Volk die Wurzeln
seiner Kraft verdorren. Mit Beifall sah es zu, wie die
unglücklichen Morisken bedrückt und außer Landes
getrieben, Tausende von Landsleuten von der Inquisition auf den
Scheiterhaufen geschleppt, jede freie geistige Regung
unterdrückt, jeder Widerstand gegen die unbeschränkte
Königsgewalt niedergeschlagen ward, wie Gewerbe, Handel und
Ackerbau durch ein willkürliches Steuersystem zu Grunde
gerichtet wurden, um die Kriegskosten aufzubringen. Nicht
bloß der Adel, auch Bürger und Bauern drängten sich
zum Kriegsdienst; wer nicht in den Krieg zog, suchte in einem
Staatsamt, wie gering es auch war, ein bequemes Brot; der
bürgerliche und bäuerliche Erwerb wurde verachtet. Die
Kirche bestärkte das Volk in dieser Sinnesrichtung und beutete
sie zu ihrer Bereicherung aus; immer mehr Grund und Boden fiel an
die Tote Hand und ward Weideland oder blieb öde und unbebaut,
wogegen die Kirchen und Klöster den Bettelstolz durch ihre
Almosen nährten. Der Handel ging an die Fremden über,
welche S. und seine Kolonien für sich ausbeuteten.

Als Karl V. 1556 die Regierung niederlegte, wurden die
österreichischen Besitzungen des Hauses Habsburg und die
Kaiserkrone von S. wieder getrennt, das in Europa nur die
Niederlande, die Franche-Comté, Mailand, Neapel, Sizilien
und Sardinien behielt. Indes das Ziel der spanischen Politik blieb
dasselbe und wurde mit noch mehr Fanatismus und mit noch
rücksichtsloserer Vergeudung der Volkskraft verfolgt. S. wurde
der Mittelpunkt einer mit großartigen Machtmitteln ins Werk
gesetzten katholischen Reaktionspolitik, welche den Sieg des
römischen Papismus zugleich über Türken und Ketzer
erstreiten wollte. Zu diesem Zweck unterdrückte Philipp II.
(1556-98) den Rest der politischen Freiheiten und unterwarf alle
Stände einem unumschränkten Despotismus. Durch das
furchtbare Werkzeug der Inquisition wurde jeder
Unabhängigkeitssinn erstickt. Die drückenden
Maßregeln gegen die Morisken reizten diese 1568 zu einem
gefährlichen Aufstand, der erst 1570 nach den blutigsten
Kämpfen erstickt wurde. 400,000 Morisken wurden aus Granada
nach andern Teilen des Reichs verpflanzt, wo sie zu Grunde gingen.
Die unaufhörlichen Kriege zehrten nicht nur die reichen
Einkünfte der Kolonien auf, sondern zwangen den König,
auf immer neue Mittel zu sinnen, seine Einnahmen zu vermehren;
jedes Eigentum (außer dem der Kirche) und jedes Gewerbe wurde
mit den drückendsten Steuern belegt, Schulden aller Art
aufgenommen, aber nicht bezahlt, die Münze verschlechtert,
Ehren und Ämter verkäuflich gemacht, schließlich
sogen. Donativen, Zwangsanleihen, den

80

Spanien (Geschichte bis 1746).

Einwohnern abgefordert. Dabei hatte die spanische
Reaktionspolitik nicht einmal Erfolge aufzuweisen. Wohl bedeckten
sich die spanischen Regimenter auf allen Schlachtfeldern mit Ruhm
durch ihre Kriegskunst und Tapferkeit, aber sie verfielen auch in
eine schreckliche moralische Verwilderung. Zwar siegte Juan
d'Austria 1571 bei Lepanto über die türkische Seemacht;
aber der Sieg wurde nicht benutzt, sogar Tunis ging wieder
verloren. Albas Schreckensregiment in den Niederlanden rief deren
Verzweiflungskampf hervor, welcher ungeheure Summen verschlang und
Spaniens See- und Kolonialmacht einen tödlichen Schlag
versetzte. Der Versuch, England der katholischen Kirche wieder zu
unterwerfen, scheiterte 1588 mit dem Untergang der großen
Armada. Die Einmischung in die Religionswirren Frankreichs hatte
nur die Einigung und Kräftigung dieses Staats zur Folge. Die
widerrechtliche Besetzung Portugals 1580 schädigte dies Land
außerordentlich, brachte aber S. keinen Nutzen. Als Philipp
II. 1598 starb, war die Bevölkerung auf 8¼ Mill.
zurückgegangen, die eine Steuerlast von 280 Mill. Realen
aufzubringen hatten. Dagegen hatte das Land 750 Bistümer,
gegen 12,000 Klöster und 400,000 Geistliche, ferner 450,000
Beamte; außer diesen und dem verarmten Adel gab es fast nur
noch Bettler, welche sich von den Almosen der Kirche nährten.
Gleichwohl täuschte die glänzende Machtstellung, welche
S. in Europa an der Spitze der katholischen Gegenreformation
einnahm, die Regierung wie das Volk gänzlich über die
wirkliche Lage. Von dem unerschütterten Selbstgefühl und
der Begeisterung der Nation für ein ideales Ziel, die Macht
und Einheit der Kirche, zeugt der außerordentliche
Aufschwung, welchen am Anfang des 17. Jahrh. Dichtkunst, Malerei
und Baukunst in S. nahmen.

Verfall des Reichs unter den letzten Habsburgern.

Unter der Regierung des schwachen Königs Philipp III.
(1598-1621), welcher sich ganz von seinem Günstling Lerma
beherrschen ließ, wurden zwar die auswärtigen Kriege
ohne Thatkraft geführt, 1609 sogar mit den Niederlanden ein
Waffenstillstand geschlossen; aber durch das Gnadenedikt vom 22.
Sept. 1609 wurden 800,000 Morisken vertrieben, und das fruchtbare
Valencia verödete völlig. Philipp IV. (1621-65), welcher
einen prächtigen Hof hielt und die Kunst pflegte und
unterstützte, nahm die kriegerische Politik Philipps II.
wieder auf. Im Bund mit Österreich wollte er die
Alleinherrschaft des Papsttums wiederherstellen und ein
habsburgisches Weltreich errichten. Der Krieg mit den freien
Niederlanden begann von neuem. Im Dreißigjährigen Krieg
kämpften wieder spanische Truppen in Deutschland und Italien,
und der spanische Gesandte in Wien hatte in deutschen
Angelegenheiten die entscheidende Stimme. Aber auf einmal brach das
glänzende Gebäude schmählich zusammen, und es ergab
sich, daß die Weltmacht Spaniens nur trügerischer Schein
gewesen. Die offene Verletzung der provinzialen Sonderrechte durch
den allmächtigen Minister Olivarez rief 1640 einen Aufstand in
Katalonien hervor, dem der Abfall Portugals und Empörungen in
andern Provinzen folgten. Portugal konnte gar nicht, Katalonien
erst nach 13jährigem Kampf bezwungen werden. Das hierdurch
tief getroffene S. war nun dem mächtig emporstrebenden
Frankreich nicht mehr gewachsen. Nach 80jährigem Kampf
mußte es 1648 im Frieden zu Münster die
Unabhängigkeit der Vereinigten Niederlande und in Deutschland
die Gleichberechtigung der Ketzer anerkennen. Im Pyrenäischen
Frieden 1659 verlor es Roussillon und Perpignan sowie einen Teil
der Niederlande an Frankreich, Dünkirchen und Jamaica an
England. Als nach dem Tod Philipps IV. der schwächliche Karl
II. (1665-1700) den Thron bestieg, erhob der französische
König Ludwig XIV. als Gemahl von Philipps Tochter Maria
Theresia Erbansprüche auf die spanischen Niederlande und wurde
im sogen. Devolutionskrieg nur durch das Eingreifen der
Tripelallianz daran verhindert, sich derselben ganz zu
bemächtigen; im Frieden von Aachen 1668 erhielt er zwölf
niederländische Festungen, im Frieden von Nimwegen wiederum
eine Anzahl fester Plätze und die Franche-Comté; mitten
im Frieden bemächtigte er sich 1684 Luxemburgs. S., welches
einst ganz Europa mit seinen Heeren beherrscht hatte, über die
Schätze beider Indien gebot, konnte jetzt seine Grenzen nicht
mehr verteidigen und war auf den Beistand der früher so
erbittert bekämpften Ketzer angewiesen. Die Seemacht war
völlig zu Grunde gegangen, so daß S. seinen eignen
Handel nicht zu beschützen vermochte, die Häfen
verödeten, die Bevölkerung sich von den schutzlosen
Küsten ins Innere zurückzog, Westindien ungestraft von
den Flibustiern geplündert und gebrandschatzt wurde. Am Ende
der Regierung Karls II. war die Bevölkerung auf 5,700,000
Seelen herabgesunken, von zahllosen Ortschaften war die
Bevölkerung verschwunden, ganze Landstriche glichen
Wüsten. Die Staatseinkünfte verminderten sich trotz des
härtesten Steuerdrucks und fast räuberischer
Finanzmaßregeln so, daß der König seine
Dienerschaft nicht mehr bezahlen konnte, oft nicht einmal seine
Tafel. Weder Beamte noch Soldaten wurden besoldet. Aus Geldmangel
kehrte man in vielen Provinzen zum Tauschhandel zurück. Dies
war die Lage Spaniens, als die spanischen Habsburger nach
200jähriger Herrschaft 3. Nov. 1700 mit Karl II. erloschen,
dies das Resultat ihrer selbstmörderischen
katholisch-absolutistischen Politik.

Spanien unter den Bourbonen bis zur französischen
Revolution.

Durch den Streit, der zwischen Österreich und Frankreich
über die Thronfolge in S. entstand, ward S. in einen
verderblichen Krieg verwickelt (s. Spanischer Erbfolgekrieg). Es
verlor in demselben zwar seine europäischen Nebenlande und
Gibraltar, jedoch der Sieg des bourbonischen Prätendenten
über den habsburgischen in S. selbst war für das Land ein
Gewinn, weil er die Möglichkeit einer Regeneration versprach.
Der neue König, Philipp V. (1700-1746), obwohl selbst von
keiner großen Bedeutung, brachte doch aus seiner Heimat ein
ganz andres Regierungssystem und neue Kräfte in das
zerrüttete Staatswesen. Die Fremden, Franzosen und Italiener,
welche Philipp an die Spitze der Behörden und des Heers
stellte, und unter denen Alberoni hervorragte, führten nun,
wenn auch in etwas gewaltsamer Weise und in nur beschränktem
Umfang, die Grundsätze der französischen Staatsverwaltung
durch: alle die einheitliche Staatsgewalt hemmenden
Mißbräuche wurden beseitigt, Handel und Gewerbe,
Wissenschaft und Kunst gefördert, die Privilegien der
Provinzen aufgehoben, eine einheitliche Besteuerung und
Steuererhebung eingerichtet. Die wohlthätigen Folgen einer
zwar unumschränkten, aber thätigen und verständigen
Königsmacht zeigten sich auch überraschend schnell. Aber
als sie auch die Herrschaft der Kirche anfocht und deren
Mißbräuche abschaffen wollte, stieß die Regierung
beim Volk auf allgemeinen energischen Widerstand, dem Philipp V.
unter dem Einfluß seiner zweiten Gemahlin, Elisabeth Farnese,
nachgab; die Hierarchie feierte einen glänzenden Triumph, und
die Kurie und die Inquisition

81

Spanien (Geschichte bis 1808).

herrschten nach wie vor in S. Ebenso verderblich wurde für
das wieder erstarkende Land der Rückfall in die alte
Eroberungspolitik, welche sich besonders auf Erwerbung spanischer
Besitzungen für spanische Infanten richtete. In der That
wurden im polnischen und österreichischen Erbfolgekrieg (1738
und 1748) Neapel und Parma als bourbonische Sekundogenituren
gewonnen. Aber sie waren mit der Zerrüttung der Finanzen und
dem Stocken aller Reformen teuer erkauft. Gleichwohl war die einmal
gegebene Anregung nicht fruchtlos: das Volk war wenigstens aus
seiner Apathie aufgerüttelt und wendete sich wieder der Arbeit
und wirtschaftlichen Unternehmungen zu.

Die Regierung des schwächlichen, hypochondrischen Ferdinand
VI. (1746-59) war segensreich, weil sie sparsam und friedliebend
war. In materieller Beziehung nahm das Land einen bedeutenden
Aufschwung. Die Staatseinnahmen stiegen von 211 auf 352 Mill.,
trotz der erheblichen Steuererleichterungen, und obwohl die
Verwaltung verbessert und reichlicher ausgestattet, eine stattliche
Flotte geschaffen und die Zinsen der Staatsschuld bezahlt wurden,
hatte man fast 100 Mill. jährlichen Überschuß. Wenn
auch die Geistlichkeit noch 180,000 Personen zählte und ein
Einkommen von 359 Mill. besaß, so ward ihre Macht durch das
Konkordat von 1753 doch nicht unerheblich beschränkt,
namentlich aber der finanziellen Ausbeutung des Landes durch die
Kurie ein Ende gemacht. Einen bedeutenden Fortschritt aber in der
Entwickelung zum modernen Staat bezeichnete die Regierung Karls
III. (1759-88), des Stiefbruders Ferdinands VI., der, obwohl
strenggläubig, doch vom damals herrschenden
Staatsbewußtsein erfüllt und S. den andern Staaten
ebenbürtig zu machen bestrebt war. Ihm standen bei seinen
Reformen drei bedeutende Staatsmänner, Aranda, Floridablanca
und Campomanes, zur Seite. Die unglückliche Beteiligung
Spaniens am Krieg Frankreichs gegen England 1761-62 infolge des
nachteiligen bourbonischen Familienvertrags störte anfangs die
Reformthätigkeit. Diese erhielt indessen eine wesentliche
Förderung 1767 durch die Ausweisung der Jesuiten. Nun konnten
eine Menge Mißbräuche und Übergriffe der
Geistlichkeit beseitigt oder beschränkt und ein erfreuliches
Zusammenwirken des Staats und der Kirche hergestellt werden,
welches auf Bildung und Gesittung des Volkes einen höchst
heilsamen Einfluß ausübte. Viele Reformen blieben
freilich auf dem Papier stehen, da es bei der beispiellosen
Versunkenheit Spaniens in Ackerbau, Gewerbe und Unterricht an allen
Voraussetzungen ihrer Durchführbarkeit fehlte. Die
30jährige angestrengteste Thätigkeit der Regierung, die
Verwendung ungeheurer Summen auf Ansiedelungen, Bergwerke,
Fabriken, Straßen etc., die Freigebung des Handels mit
Amerika brachten daher nur zum Teil Früchte. Die
Bevölkerung war 1788 erst auf 10,270,000 Seelen gestiegen, die
Einnahmen auf 400 Mill. Realen. Der zweite unglückliche Krieg
gegen England (1780-83), in den S. durch den Familienvertrag
verwickelt wurde, verschlang solche Summen, daß ein
verzinsliches Papiergeld ausgegeben werden mußte. Die
unleugbaren Fortschritte in Volksbildung und Volkswohlfahrt
hätten aber doch bei dem frischen Geist, bei der zugleich
patriotischen und freiheitlichen Bewegung, von denen die Nation
durchweht war, wohl günstige und dauernde Ergebnisse zur Folge
gehabt, wenn S. eine längere Reformperiode vergönnt
gewesen wäre. Die vielversprechenden Anfänge gingen aber
unter Karls III. Nachfolger Karl IV. (1788-1808) völlig zu
Grunde, und S. wurde durch eine heillose, verbrecherische Politik
dem Untergang nahegebracht.

Spanien während der Revolutionszeit.

Karl IV., ein gutmütiger, aber unfähiger Fürst,
wurde ganz beherrscht von seiner klugen und entschlossenen, jedoch
sittenlosen Gemahlin Marie Luise von Parma, welche durch
Günstlingswirtschaft und Verschwendung die Staatsverwaltung
und die Finanzen in Verwirrung brachte und ihrem Geliebten Godoy,
dem Friedensfürsten, den herrschenden Einfluß, endlich
nach Beseitigung Floridablancas und Arandas im November 1792 auch
die oberste Leitung der Staatsgeschäfte verschaffte. Nachdem
S. dem Sturz der Bourbonen in Frankreich unthätig zugesehen,
ward es 1793 doch durch die Hinrichtung Ludwigs XVI. und die
Insulten des Konvents veranlaßt, Frankreich den Krieg zu
erklären, welcher mit einer so beispiellosen Unfähigkeit
geführt wurde, daß er trotz der Schwäche der
Franzosen und trotz der Opferwilligkeit der Nation mit einer
feindlichen Invasion in Navarra, die baskischen Provinzen und
Aragonien endete. Die Gunst der Umstände verschaffte S. noch
den vorteilhaften Frieden von Basel (22. Juli 1795), der ihm nur
die Abtretung von San Domingo auferlegte. Aber es geriet durch
denselben in völlige Abhängigkeit von Frankreich, welche
der leichtfertige Godoy durch den Vertrag von San Ildefonso (27.
Juni 1796) besiegelte. Derselbe zwang S., das kaum die Kosten des
letzten Kriegs hatte aufbringen können, zum Krieg mit England,
und gleich die erste Schlacht beim Kap St. Vincent (14. Febr. 1797)
zeigte die Unbrauchbarkeit der spanischen Flotte. Dazu unternahm
Godoy 1801 in französischem Interesse noch einen ruhmlosen
Krieg gegen Portugal. Im Frieden von Amiens (23. März 1802)
mußte S. zwar an England bloß Trinidad abtreten; aber
seine Herrschaft in den amerikanischen Kolonien war
erschüttert, seine Finanzen zerrüttet; das Defizit belief
sich trotz Papiergelds und andrer verderblicher Maßregeln
1797 auf 800 Mill., 1799 sogar auf 1200 Mill. Das Kriegsministerium
verbrauchte für ein Heer von 50,000 Mann 935 Mill., da die
Zahl der Oberoffiziere übermäßig war; 1802 wurden
auf einmal 83 Generale ernannt. Der Hof nahm allein 105 Mill. in
Anspruch, während das Volk infolge von Pest und
Mißernten darbte. Die Korruption am Hofe verbreitete sich
bald über das ganze Land; die edelsten Patrioten wurden mit
brutaler Gewaltthätigkeit verfolgt, dagegen war man gegen rohe
Pöbelexzesse schwach und nachgiebig.

Trotz dieser Zustände stürzte Godoy durch einen neuen
ungünstigen Vertrag mit Frankreich (9. Okt. 1803) das
finanziell erschöpfte S. in einen Krieg mit England, in
welchem bei Finisterre (22. Juli) und bei Trafalgar (20. Okt. 1805)
Spaniens letzte Flotte zu Grunde ging. Das Volk ließ dies
alles geduldig über sich ergehen und wankte nicht in seiner
unbedingten Loyalität; die Entrüstung richtete sich nur
gegen den schamlosen Günstling Godoy, der in seiner
Verblendung sich sogar mit der Hoffnung schmeichelte, Regent von S.
zu werden oder sich die Königskrone von Südportugal aufs
Haupt zu setzen. Als er, um dies letztere zu erreichen, sich mit
Frankreich im Vertrag von Fontainebleau (27. Okt. 1807) zu einem
Kriege gegen Portugal verband und Napoleon französische
Truppen über die Pyrenäen in S. einrücken
ließ, kam es 18. März 1808 in Aranjuez zu einer Erhebung
des Volkes gegen Godoy. Derselbe wurde gestürzt, und unter dem
Eindruck der Wut des erbitterten Volkes ließ sich der
König bewegen, 19. März zu gunsten seines Sohns, des
Infanten Ferdinand, abzu-

82

Spanien (Geschichte bis 1812).

danken; derselbe hielt 24. März als Ferdinand VII. seinen
Einzug in Madrid. Karl IV. nahm aber kurz darauf in einem Schreiben
an Napoleon seine Thronentsagung als erzwungen zurück, und der
französische Kaiser entbot nun die spanische
Königsfamilie nach Bayonne, wo Ferdinand nach längerm
Sträuben 5. Mai auf die Krone zu gunsten seines Vaters
verzichtete, dieser aber sofort seine Rechte an Napoleon abtrat.
Nun wurde dessen Bruder Joseph, König von Neapel, 6. Juli im
Beisein einer Junta von spanischen und amerikanischen Abgeordneten
in Bayonne zum König von S. ernannt und hielt, nachdem er und
die Junta 7. Juli die neu entworfene Verfassung beschworen hatten,
20. Juli seinen Einzug in Madrid. Karl IV. ließ sich in
Compiègne, Ferdinand VII. in Valençay nieder.

Wenn Napoleon auch die königliche Familie leicht beseitigt
hatte, so sah er sich doch bald in seiner Erwartung, auch S. rasch
nach französischem Vorbild umgestalten und seinen Interessen
dienstbar machen zu können, getäuscht. Das spanische Volk
war nicht im stande, die wohlthätigen Wirkungen der
französischen Staatsumwälzung zu würdigen; es
füllte dagegen tief die ihm zugefügte Schmach der
Fremdherrschaft. Edle und unedle Gefühle, Nationalstolz und
wilder Fremdenhaß, patriotische Begeisterung und
religiöser Fanatismus, stachelten es zum Widerstand auf; die
beispiellose Erregtheit der Nation ließ die Schwäche der
eignen Mittel und die ungeheure Übermacht des Gegners ganz
vergessen, so daß niemand am Sieg zweifelte. Der geringe
Kulturstand des Landes, der Mangel an Ordnung und Sicherheit im
Staatswesen, welcher bisher geherrscht hatte, machten die
völlige Auflösung aller Verhältnisse weniger
fühlbar und ermöglichten so die mehrjährige Dauer
eines verzweifelten Widerstandes, den ein höher kultiviertes
Land nur wenige Monate hätte aushalten können. Bereits 2.
Mai 1808, bei der Kunde von Ferdinands Entführung nach
Bayonne, war in Madrid ein Volksaufstand ausgebrochen, den die
Franzosen erst nach vielem Blutvergießen zu unterdrücken
vermochten. Nun erhoben sich auch die Provinzen, zuerst Asturien;
Provinzialjunten bildeten sich, die Guerillas bewaffneten sich in
den Gebirgen, und alle Anhänger der Franzosen (Josefinos oder
Afrancesados) wurden für Feinde des Vaterlandes erklärt.
Zwar hatten die Franzosen beim ersten Zusammentreffen mit einer
spanischen Feldarmee 14. Juli bei Rioseco glänzend gesiegt;
aber Monceys Angriff auf Valencia wurde zurückgeschlagen, und
eine Expedition des Generals Dupont endete mit seiner Umzingelung
und der Kapitulation von Baylen (20. Juli 1808). Die tapfere
Verteidigung Saragossas, die Räumung Madrids durch Joseph und
der allgemeine Rückzug der Franzosen vermehrten die
Begeisterung. Zugleich war Wellington mit einem englischen Korps in
Portugal gelandet und hatte die Franzosen zum Abzug gezwungen. Zwar
behaupteten diese, namentlich so oft Napoleon selbst sich an ihre
Spitze stellte, in S. in offenem Felde die Oberhand; sie siegten
bei Burgos (10. Nov.), Espinosa (10. u. 11. Nov.) und Tudela (23.
Nov.) und zogen 4. Dez. wieder in Madrid ein, wo 22. Jan. 1809
Joseph von neuem seine Residenz aufschlug. Die Expedition des
englischen Generals Moore in Galicien scheiterte. Allein nun nahm
der Krieg immer mehr den Charakter des furchtbarsten Volkskampfes
an und wurde durch die im Sept. 1808 in Aranjuez errichtete
Zentraljunta einheitlich geleitet. Diese beging zwar manche Fehler,
griff oft in höchst verkehrter Weise in die Kriegsoperationen
ein und setzte tüchtige Generale ab, gab aber durch den Aufruf
zum Guerillakrieg (28. Dez. 1808) dem Kampf den für die
Franzosen so verderblichen Charakter des kleinen Kriegs. In diesem
kamen die Vorzüge der Spanier, verwegener Mut, unbändige
Leidenschaftlichkeit und große Ausdauer in Strapazen und
Entbehrungen, recht zur Geltung; die fortwährenden kühnen
Unternehmungen der Guerillas rieben die Kräfte der Franzosen
auf und entrissen ihnen die Früchte ihrer Siege im offenen
Felde. Die Franzosen siegten 27. März 1809 bei Ciudad Real,
28. März bei Medellin, und die Zentraljunta mußte nach
Sevilla flüchten. Zwar wurde Soult im Mai 1809 von Wellington
aus Portugal vertrieben und mußte Galicien und Asturien
räumen, worauf Wellington in S. eindrang und die Franzosen 27.
und 28. Juli bei Talavera schlug; doch mußte er sich vor
einem neuen französischen Heer nach Portugal
zurückziehen, und der spanische General Vanegas wurde 11. Aug.
bei Almonacid, der englische General Wilson in den Engpässen
bei Baros geschlagen. Im Januar 1810 waren die Franzosen Herren von
Andalusien, und nach der Einnahme von Ciudad Rodrigo und Almeida
drang Masséna im August mit 80,000 Mann in Portugal ein, um
die Engländer wieder ins Meer zu werfen. Die Sache der Spanier
schien hoffnungslos verloren. Namentlich die höhern,
wohlhabendern Volksklassen schlossen sich immer zahlreicher dem
bonapartistischen König an. Die Zentraljunta, deren
Unfähigkeit das Mißgeschick der spanischen Heere
hauptsächlich verschuldet hatte, wurde 2. Febr. 1810 in Cadiz,
wohin sie von Sevilla geflüchtet war, zur Abdankung und
Einsetzung einer Regentschaft gezwungen, in welcher der
Radikalismus die Oberhand bekam.

Schon 28. Okt. 1809 hatte die Zentraljunta die Cortes
zusammenberufen. Diese, unter den größten
Schwierigkeiten und nur zum Teil gewählt, zum Teil kooptiert,
traten 24. Sept. 1810 in Cadiz zusammen und nahmen unter den
Kanonen der französischen Batterien, welche die Isla de Leon
umringten, bedroht von der in der überfüllten Stadt
wütenden Pest, das große Werk der Reform des verrotteten
Staatswesens in die Hand. Unerfahren, teilweise von den radikalen
Ideen der französischen Revolution beherrscht, zum Teil in den
altspanischen Vorurteilen befangen, schwankten die Cortes unter
leidenschaftlichen, erbitterten Debatten zwischen den
entgegengesetztesten Beschlüssen: man proklamierte die
Volkssouveränität und das allgemeine Stimmrecht und hob
die Grundherrlichkeit auf, wagte aber nicht, die Inquisition oder
die Rechte des Adels und der Kirche anzutasten. Im ganzen aber war
die Verfassung vom 18. März 1812 eine sehr liberale. Trotz des
hitzigen Parteikampfes bewährten die Cortes in der Hauptsache,
im Kampf gegen den verhaßten Feind, eine große
Einmütigkeit und aufopfernde Thätigkeit. Die Illusionen
der verblendeten Nationaleitelkeit wurden zerstört, die
Schäden der Verwaltung aufgedeckt, das korrumpierte Beamtentum
in heilsamen Schrecken versetzt. Die Truppen wurden verstärkt,
geschult und gut verpflegt und ihre nützliche Verwendung
dadurch gesichert, daß die Cortes Wellington, der 1811 in den
Linien von Torres Vedras bei Lissabon sich so lange behauptet
hatte, bis Masséna abziehen mußte, zum
Oberbefehlshaber sämtlicher Streitkräfte in S. ernannten.
Im Jan. 1812 eroberte Wellington Ciudad Rodrigo und 7. April
Badajoz, schlug 22. Juli die Franzosen unter Marmont bei Salamanca
und zog 12. Aug. in Madrid ein. Zwar mußte er sich vor der
Übermacht der bedeutend verstärkten Franzosen aufs

83

Spanien (Geschichte bis 1823).

neue nach der portugiesischen Grenze zurückziehen, und
Madrid wurde zum letztenmal von den Franzosen besetzt; aber die
Katastrophe in Rußland veränderte auch die Lage der
Dinge in S. Soult wurde zu Anfang 1813 abberufen, Suchet
räumte Valencia im Juli; schon 27. Mai hatte König Joseph
Madrid für immer verlassen und sich mit der französischen
Armee auf Vittoria zurückgezogen. Hier wurde dieselbe von
Wellington 21. Juni 1813 gänzlich geschlagen. Die Franzosen
zogen sich über die Pyrenäen zurück, und Wellington
rückte 9. Juli in Frankreich ein. Spaniens Unabhängigkeit
war hiermit hergestellt.

Die Reaktion unter König Ferdinand VII.

Die ordentlichen Cortes, welche im Oktober 1813 in Cadiz
zusammengetreten waren, aber im Januar 1814 ihren Sitz nach Madrid
verlegten, erließen, obwohl die Servilen (Konservativen) die
Mehrheit hatten, 3. Febr. 1814 eine Einladung an Ferdinand VII.,
sich nach Madrid zu begeben und die Verfassung von 1812 zu
beschwören; den Vertrag des Königs mit Napoleon I. (13.
Dez. 1813 in Valençay abgeschlossen), der seine Herrschaft
in S. herstellte, aber den französischen Einfluß
sicherte, erkannten sie nicht an. Ferdinand betrat 24. März
1814 in Gerona den spanischen Boden und nahm 4. Mai von Valencia
aus vom Thron Besitz, weigerte sich aber, die Verfassung
anzuerkennen, nachdem General Elio mit 40,000 Mann sich ihm
angeschlossen, und ließ 11. Mai die Cortes durch Truppen
auseinander jagen. Dennoch begrüßte ihn das Volk mit
Jubel, als er 14. Mai in Madrid einzog; denn er war als Gegner des
verhaßten Godoy noch immer populär. Zwar versprach er in
einem Manifest vom 24. Mai Amnestie und die Verleihung einer
Verfassung; doch wurden diese Versprechungen nicht gehalten. Alle
Offiziere bis zum Kapitän und alle Beamten bis zum
Kriegskommissar herab, welche Joseph gedient hatten, wurden mit
Weib und Kind auf Lebenszeit verbannt. Die Liberalen, wenn sie auch
durch aufopfernde Vaterlandsliebe im Befreiungskampf sich
ausgezeichnet hatten, wurden geächtet oder in den Kerker
geworfen, zwei Generale, Porlier und Lacy, die für die
Verfassung ihre Stimmen erhoben, hingerichtet. Jesuiten,
Klöster und geheime Polizei wurden wiederhergestellt. Dabei
fehlte es der Regierung doch an Stärke und Beständigkeit.
Von 1814 bis 1819 lösten 24 Ministerien einander ab. Der
König, unwissend, charakterlos, von launischer, feiger
Despotenart, ließ sich ganz von einer gewissenlosen Kamarilla
beherrschen, welche jeden durch die Zerrüttung des
Staatswesens gebotenen und von den Großmächten dringend
angeratenen Reformversuch vereitelte. S. war daher nicht im stande,
die abgefallenen Kolonien in Amerika wieder zu unterwerfen, und
verlor seinen ganzen Besitz auf dem Festland von Süd- und
Mittelamerika; Florida in Nordamerika trat es 1819 für 5 Mill.
Dollar freiwillig an die Union ab.

Die Gewaltthätigkeit und der Hochmut der unfähigen
Regierung erstickten die frühere Anhänglichkeit an das
Königtum, und erbitterte Feindschaft gegen dasselbe oder
gleichgültiger Pessimismus traten an ihre Stelle. Besonders in
dem durchaus vernachlässigten Heer wuchs die Unzufriedenheit
und kam unter den für die Überfahrt nach Amerika
bestimmten Truppen zum Ausbruch: 4 Bataillone unter dem
Oberstleutnant Riego proklamierten 1. Jan. 1820 zu San Juan die
Verfassung von 1812 und setzten aus der Isla de Leon eine
Regierungsjunta ein, die einen Aufruf an das spanische Volk
erließ. Mehrere Provinzen schlossen sich der Empörung
an, angesehene Generale, wie O'Donnell und Freire, vereinigten sich
mit Riego, als derselbe auf Madrid marschierte. Als auch in Madrid
das Volk sich erhob, beschwor der König 9. März die
Verfassung von 1812, hob die Inquisition aus und berief die Cortes
zum 9. Juli 1820. Die Liberalen hatten in denselben die Mehrheit,
und einer ihrer Führer, Arguelles, ward Präsident des
Ministeriums. Doch traten sie gemäßigt auf, suchten die
zügellose Freiheit der Zeitungen und Klubs durch ein
Preß- und Vereinsgesetz zu beschränken und
begnügten sich, die Majorate, Fideikommisse und Klöster
(bis auf 14) aufzuheben und die Besteuerung der Geistlichkeit
(148,290 Personen, ohne die Nonnen, darunter bloß 16,481
eigentliche Pfarrer) durchzuführen. Der erbittertste Feind der
neuen Regierung war der König selbst, der im geheimen
Einverständnis mit mehreren reaktionären Schilderhebungen
in der Provinz, so der "apostolischen Junta", war und alle
positiven Maßregeln der Minister und der Liberalen in den
Cortes nach Möglichkeit vereitelte, wodurch der Einfluß
der Exaltados (Radikalen) wuchs; die extremste Partei derselben,
die Descamizados, forderte durch ihre Zügellosigkeit eine
Reaktion heraus. Die Anarchie wurde noch durch die Finanznot
vermehrt, der auch die Einführung einer direkten Steuer und
der Verkauf der Nationalgüter nicht abzuhelfen vermochten; die
Schuldenlast stieg auf 14 Milliarden. Als die Exaltados bei den
Wahlen für die neuen Cortes, die 1. März 1822
eröffnet wurden, die Mehrheit erlangten, wählten sie
Riego zum Präsidenten und überschwemmten das Land mit
einer Masse von Reformgesetzen, die bei der Stimmung der Masse nie
verwirklicht werden konnten.

Nachdem ein vom Hof angestifteter Versuch der Garden, 7. Juli
1822 vom Prado aus Madrid zu überrumpeln, vom Volk vereitelt
worden war, wandte sich der König im geheimen an die Heilige
Allianz um Hilfe gegen die Revolution. Auf dem Kongreß zu
Verona (Herbst 1822) wurde eine bewaffnete Intervention in S.
beschlossen, welche Frankreich auszuführen übernahm. Die
Gesandten von Frankreich, Österreich, Rußland und
Preußen forderten von der spanischen Regierung und den Cortes
die Herstellung der königlichen Souveränität und
verließen, als dies 9. Jan. 1823 abgelehnt wurde, den
spanischen Hof. Im April rückte die französische
Interventionsarmee, 95,000 Mann unter dem Herzog von
Angoulême, über die Grenze. Die schlecht organisierten
Streitkräfte der Spanier leisteten geringen Widerstand. Von
einer Erhebung des Volkes gegen die Franzosen war nichts zu
spüren, da diesmal die Geistlichkeit für sie war und
ihren Vormarsch unterstützte. Schon 11. April flüchteten
die Cortes mit dem König aus Madrid, wo der Herzog von
Angoulême 24. Mai unter dem Jubel des Volkes einzog und eine
Regentschaft unter dem Herzog von Infantado einsetzte, die sofort
das Werk der Restauration mit Verfolgung der Liberalen begann.
Überall erhob sich das Volk, vom Klerus aufgehetzt, für
den absoluten König; die meisten spanischen Generale
kapitulierten mit den Franzosen. Diese schlossen Cadiz, wohin sich
im Juni die Cortes mit dem König zurückgezogen hatten, zu
Wasser und zu Land ein, eroberten das Außenfort Trocadero
(31. Aug.), bombardierten die Stadt (23. Sept.) und bereiteten
alles zum Sturm vor, als die Cortes 28. Sept. dem König die
absolute Gewalt zurückgaben und sich auflösten; die
meisten Mitglieder und Beamten der liberalen Regierung, über
600 Personen, flüchteten ins Ausland, bevor die Franzosen 3.
Okt. Cadiz besetzten. Auch die letzten von den Libe-

6*

84

Spanien (Geschichte bis 1841).

ralen noch behaupteten Städte, Barcelona, Cartagena und
Alicante, ergaben sich im November, und Angoulême kehrte nach
Frankreich zurück; doch blieben 45,000 Mann Franzosen unter
Bourmont bis 1828 im Land zum Schutz der neuen Regierung.

Ferdinands VII. erste Regierungshandlung nach seiner Befreiung
aus der Gewalt der Cortes war eine Proklamation vom 10. Okt. 1823,
welche alle Akte der konstitutionellen Regierung vom 7. März
1820 bis 1. Okt. 1823, "indem er während dieses Zeitraums der
Gewalt beraubt gewesen sei", für null und nichtig
erklärte, dagegen alle Beschlüsse der Madrider
Regentschaft genehmigte. Alle Anhänger der Liberalen wurden
als "Feinde des Königs" der Rache der Glaubensbanden
preisgegeben, welche die abscheulichsten Gewaltthaten
verübten. Die apostolische Junta, an deren Spitze des
Königs Bruder Don Karlos stand, und welche die Hierarchie, vor
allem die Inquisition, herstellen wollte, erlangte eine solche
Macht, daß sie eine Art Nebenregierung bildete und alle
Minister, die sich ihrem Willen nicht fügten, wie Zea-Bermudez
(1824-25), auch den absolutistisch gesinnten Infantado (1825-26)
stürzte. Die apostolische Partei war um so siegesgewisser, als
bei dem Alter des kinderlosen Königs ihr Haupt, Don Karlos,
der mutmaßliche Thronfolger war. Als ihre Anhänger im
August 1827 in Katalonien indes eine bewaffnete Schilderhebung
versuchten, schritt der König mit Strenge gegen sie ein und
vermählte sich nach dem Tod seiner dritten Gemahlin 10. Dez.
1829 mit der Prinzessin Christine von Neapel, die 10. Okt. 1830
eine Tochter, Isabella, gebar. Schon 29. März l830 hatte
Ferdinand VII. eine Pragmatische Sanktion erlassen, welche das 1713
in S. von den Bourbonen eingeführte Salische Gesetz aufhob und
im Einklang mit den altkastilischen Rechten die weibliche
Thronfolge einführte. Eine Verschwörung der bitter
enttäuschen Anhänger des Don Karlos gegen das Leben des
Königspaars wurde entdeckt und vereitelt, ein dem schwer
erkrankten König im September 1832 abgepreßter Widerruf
der Pragmatischen Sanktion von demselben nach seiner Genesung
für ungültig erklärt. Im Oktober 1832 ward Christine
zur Regentin ernannt, berief Zea-Bermudez an die Spitze des
Ministeriums, erließ eine Amnestie und versammelte die
Cortes, welche 20. Juni 1833 Isabella als Thronerbin den Eid der
Treue leisteten. Somit gelangten, als nach dem Tod Ferdinands VII.
(29. Sept. 1833) Isabella II. unter der Vormundschaft ihrer Mutter
Christine den Thron bestieg, die Liberalen wieder zur
Herrschaft.

Der Karlistenkrieg und die Regentschaft.

Don Karlos hatte von Portugal aus, wo er bei Dom Miguel Zuflucht
und Beistand gefunden hatte, schon 29. April 1833 Protest gegen die
neue Thronfolgeordnung erhoben und nach Ferdinands Tod sich als
Karl V. zum König proklamiert. Ihm schlossen sich außer
der apostolischen Partei besonders die baskischen Provinzen und
Navarra an, deren aus uralten Zeiten bestehende Freiheiten
(Fueros), zu denen freilich auch Mißbräuche, wie der
Schmuggel, gehörten, von den Liberalen angefochten worden
waren. Die Erhebung der Karlisten begann im Oktober 1833 mit der
Einsetzung einer Junta und der allgemeinen Volksbewaffnung, welche
Zumala-Carreguy leitete. Derselbe treffliche Feldherr verschaffte
den Karlisten im Gebirgskrieg immer mehr Erfolge und
bemächtigte sich eines Teils von Katalonien. Auch Don Karlos,
nach dem Sturz Dom Miguels aus Portugal vertrieben, erschien in den
aufständischen Provinzen. Der Bürgerkrieg nahm bald einen
grausamen Charakter an, und seitdem Mina die Mutter des
Karlistengenerals Cabrera hatte erschießen lassen, wurden die
Gefangenen auf beiden Seiten nicht mehr geschont. Die Christinos
(Anhänger der Regentin) welche an Machtmitteln den Karlisten
bei weitem überlegen waren, da ihrer Regierung der
größte Teil des Landes, der Armee und der Beamten,
namentlich die Bevölkerung der Städte und die zahlreichen
amnestierten Spanier (50,000 Personen) anhingen, würden den
Karlistenaufstand ohne große Schwierigkeiten haben
unterdrücken können, wenn sie sich nichts durch
Zwistigkeiten geschwächt hätten. Die Progressisten, wie
sich jetzt die vorgeschrittenen Liberalen nannten, waren mit der
nenen Verfassung, welche nach der Entlassung von Zea-Bermudez (15.
Jan. 1834) der neue Minister Martinez de la Rosa gegeben hatte, dem
Estatuto real (mit zwei Kammern, den Proceres und den
Procuradores), nicht zufrieden und verlangten die Herstellung der
Verfassung von 1812. Alle weitern Zugeständnisse der Regentin,
welche auf den Beistand der Liberalen angewiesen war, genügten
nicht; die Progressisten veranstalteten 1836 in zahlreichen
Städten Aufstände, bei denen die Verfassung von 1812
ausgerufen wurde. Schließlich, 12. Aug. 1836, empörte
sich auch eins der in San Ildefonso liegenden Milizregimenter, zog
nach dem Palast La Granja, wo die Königin Christine sich
aufhielt, und zwang sie, die Konstitution von 1812 anzunehmen. Der
Minister Isturiz, ein Moderado, floh, Quesada wurde vom Pöbel
ermordet. Der neue Ministerpräsident Calatrava berief zum 24.
Okt. 1836 die Cortes, welche 1837 die Verfassung von 1812 im
gemäßigten Sinn revidierten.

Der Zwiespalt im liberalen Lager ermutigte die Karlisten zu
kühnen Unternehmungen: nach seinem Sieg bei Huesca (24. Mai
1837) überschritt Don Karlos den Ebro und bedrohte Madrid,
während gleichzeitig in Andalusien ein karlistischer General
Gomez, bedenkliche Fortschritte machte. Dieser wurde von Narvaez
besiegt; im Norden errang Espartero den entscheidenden Sieg von
Huerta del Rey (14. Okt.); und brachte nach und nach die
nördlichen Provinzen in seine Gewalt. Denn auch bei den
Karlisten war Zwietracht zwischen einer Hofkamarilla unter der
Prinzessin von Beira, Don Karlos' zweiter Gemahlin, und dem
Oberbefehlshaber Maroto, der sogar 20. Febr. 1839 mehrere
Häupter der Kamarilla erschießen ließ. Um sich vor
der Rache seiner Gegner zu schützen, schloß Maroto 31.
Aug. 1839 mit Espartero den Vertrag von Vergara, nach welchem er
mit 50 Karlistenchefs die Waffen streckte. Don Karlos trat 15.
Sept. auf französisches Gebiet über; ihm folgte 6. Juli
1840 Cabrera, welcher in Niederaragonien und Katalonien den
Widerstand noch fortgesetzt hatte. Den baskischen Provinzen wurden
die Fueros von den Cortes bestätigt. Im Spätsommer 1840
war ganz S. der Königin Isabella unterworfen und der
Karlistenkrieg beendet.

Durch seine Erfolge im Karlistenkrieg hatte Espartero so
großes Ansehen erlangt, daß die Regentin, welche durch
Bestätigung des von den konservativen Cortes beschlossenen
Ayuntamiento- (Gemeinde-) Gesetzes eine Erhebung der Progressisten
in Madrid hervorgerufen hatte, ihn im September 1840 zum
Ministerpräsidenten ernennen mußte und 12. Okt. abdankte
und sich nach Frankreich einschiffte, als Espartero ihr ein
unannehmbares Regierungsprogramm vorlegte. Dieser war nun 8. Mai
1841 zum Regenten gewählt. Aber trotz seiner Popularität,
und

85

Spanien (Geschichte bis 1868)

obwohl er eifrig und mit Erfolg bemüht war, das materielle
Wohl des Landes zu fördern, hatte er doch unaufhörlich
mit den Ränken seiner Gegner, der Regentin und der Moderados
(Konservativen), der Unbotmäßigkeit seiner eignen
Anhänger, der Progressisten, und Aufständen
(Pronunciamentos) ehrgeiziger Offiziere zu kämpfen. Im Juni
1843 brach eine allgemeine Empörung aus, der sich sogar die
Radikalen anschlossen, und vor der Espartero nach England
flüchten mußte. Nachdem die den Moderados
angehörige Mehrheit der Cortes 8. Nov. 1843 die noch nicht
14jährige Königin Isabella für volljährig
erklärt hatte, übernahm Bravo Murillo, dann (1844)
Esparteros Nebenbuhler Narvaez die Leitung des Ministeriums; die
Königin Christine wurde zurückgerufen und die Verfassung
im Mai 1845 in reaktionärem Sinn geändert; für die
Cortes ward ein hoher Zensus eingeführt, der Senat von der
Krone auf Lebenszeit ernannt, die katholische Religion als
Staatsreligion proklamiert.

Die Regierung der Königin Isabella.

Narvaez veruneinigte sich schon 1846 mit den Cortes und trat
zurück, worauf die Königin Isturiz in das Kabinett
berief. Die Errichtung einer festen, zielbewußten Regierung
wurde durch die Vermählung Isabellas II. erschwert. Der Plan,
dieselbe mit dem Grafen von Montemolin, Don Karlos' Sohn, zu
verheiraten und dadurch die Legitimität der Dynastie
außer Frage zu stellen, wurde durch Ludwig Philipp von
Frankreich vereitelt, der einem seiner Söhne zur Herrschaft in
S. verhelfen wollte. Das Ränkespiel der "spanischen Heiraten"
endete damit, daß Ludwig Philipp, durch ein England gegebenes
Versprechen gebunden, seinen Sohn, den Herzog von Montpensier,
nicht mit Isabella, sondern mit deren Schwester, der Infantin
Luise, vermählte, aber, um indirekt seinen Zweck doch zu
erreichen, durchsetzte, daß Isabella mit ihrem Vetter Franz
d'Assisi, einem körperlich und geistig schwachen Prinzen, eine
Ehe schließen mußte, die jede Hoffnung auf Leibeserben
ausschloß. Indes Isabella, den ihr aufgedrungenen Gemahl
verachtend und über die Schranken der Sitte sich
hinwegsetzend, erwählte sich Günstlinge, von denen sie
zahlreiche Kinder gebar, welche die eigennützigen Berechnungen
der Familie Orléans zu Schanden machten. Diese
Günstlinge, in deren Wahl Isabella allmählich von Serrano
auf Marfori herabsank, beuteten ihre Stellung aufs schamloseste
für Befriedigung ihres Ehrgeizes und ihrer Habsucht aus, und
so wurde in dem sonst so loyalen Volk das moralische Ansehen des
Königtums durch die lasterhafte, heuchlerische Aufführung
des Hofs vernichtet. Die Regierung des unglücklichen Landes
ward zu einem unwürdigen Intrigenspiel in der vertrauten
Umgebung der Monarchin, durch welches trotz mehrjähriger
Aufrechterhaltung der äußern Ruhe die wenigen
Fortschritte in der geistigen und materiellen Entwickelung des
Landes gefährdet und die sittlichen Grundlagen des
Staatswesens untergraben wurden. Die Minister wechselten so oft,
daß S. 1833-58 nicht weniger als 47 Ministerpräsidenten,
61 Auswärtige, 78 Finanz- und 96 Kriegsminister hatte.

Nach der kurzen Regierung der Progressisten unter Serrano stand
1847-51 Narvaez an der Spitze des Ministeriums, der, obwohl
Moderado, doch mit Mäßigung vorging und nicht nur die
Ruhe aufrecht hielt, sondern auch den nationalen Wohlstand
förderte. Sein Nachfolger Bravo Murillo (1851-52) erzeugte
jedoch durch den Plan, die Verfassung in absolutistisch-klerikalem
Sinn umzugestalten, eine Aufregung, welche sich 1854 in
Pronunciamentos zahlreicher Generale äußerte.
Schließlich kam es in Madrid zu einem Aufstand, welchen die
Königin nur durch die Berufung Esparteros zum
Ministerpräsidenten (Juli 1854) beschwichtigen konnte. Nachdem
er das Gesetz über den Verkauf der National- und
Kirchengüter der Königin 1855 abgerungen hatte, wurde
Espartero 14. Juli durch O’Donnell gestürzt, der nach
Unterdrückung eines Aufstandes in Madrid (16. Juli) die
Nationalgarde entwaffnete, die Verfassung vom Mai 1845 herstellte
und den Verkauf der Kirchengüter sistierte. Zwischen
O’Donnell und Narvaez wechselte nun eine Reihe von Jahren die
Herrschaft: ersterer, 1855-56, 1858-63 und 1865-1866 oberster
Minister, früher selbst Progressist, wollte sich auf eine
Mittelpartei, die "liberale Union", stützen, stieß
jedoch bei allen seinen Vorschlägen und Maßregeln auf
das unüberwindliche Mißtrauen seiner ehemaligen
Parteigenossen und suchte sich daher durch Erfolge auf dem Gebiet
der auswärtigen Politik zu befestigen. Diesem Zweck sollte der
Krieg mit Marokko (s. d., S. 277) 1859-60 dienen, in welchem
O’Donnell indes nur kriegerische Lorbeeren, keine
wesentlichen Vorteile gewann. 1861 wurde San Domingo auf Haïti
wieder mit S. vereinigt, und im Bund mit England und Frankreich
schritt S. Ende 1861 gegen Mexiko ein, das für die Verletzung
spanischer Interessen die Genugthuung verweigerte; doch zog sich
der spanische Befehlshaber Prim 1862 vom Unternehmen zurück,
als er die eigennützigen Absichten der Franzosen erkannte (s.
Mexiko, S.566). Ein Konflikt mit Peru und Chile (s. d., S. 1022),
der 1866 zu einer förmlichen Kriegserklärung Perus,
Chiles, Bolivias und Ecuadors an S. (14. Jan.) führte, endete
nach der erfolglosen Beschießung Valparaisos (31. März)
und Callaos (2. Mai) ohne Ergebnis. San Domingo wurde 1865 wieder
aufgegeben. Unter diesen Umständen konnte sich
O’Donnell, obwohl er mehrere Militärrevolten
niederschlug und auch einen Landungsversuch des karlistischen
Prätendenten, des Grafen von Montemolin (1. April 1860),
vereitelte, auf die Dauer nicht behaupten. Wenn O’Donnell
nicht im stande war, die Ruhe aufrecht zu erhalten, so zog die
Königin Isabella Narvaez vor, dessen moderadistische Gesinnung
der ihrigen mehr entsprach. Narvaez, 1856-57, 1864-65 und 1866-68
Ministerpräsident, begünstigte den Klerus,
unterdrückte die Preß- und Vereinsfreiheit und schritt,
besonders in seinem letzten Ministerium, mit rücksichtsloser
Strenge gegen die Häupter der Progressisten und der liberalen
Union ein. Rios Rosas, Serrano u. a. wurden verhaftet, andre, wie
O’Donnell, Prim, flüchteten in das Ausland. Die Cortes,
deren Wahlen in S. die Regierung allerdings stets beherrscht, gaben
zur Aufhebung der konstitutionellen Freiheiten und zur
Verhängung des Belagerungszustandes bereitwilligst ihre
Zustimmung, und Isabella war des Siegs der klerikalen Richtung so
sicher, daß sie sogar ihre Absicht, für die weltliche
Herrschaft des Papstes mit der Macht Spaniens einzutreten, offen
äußerte.

Narvaez starb plötzlich 23. April 1868. Sein Nachfolger
Gonzalez Bravo mußte den Günstling Isabellas, Marfori,
in das Ministerium aufnehmen. Nachdem im Juli eine unionistische
Verschwörung, deren Ziel die Erhebung Montpensiers auf den
Thron war, entdeckt und ihre Häupter, die angesehensten
Generale, wie Serrano, Dulce u. a., nach den Kanarischen Inseln
deportiert worden waren, begab sich die Königin nach San
Sebastian, um von hier aus mit Napoleon die Besetzung Roms durch
spanische Trup-

86

Spanien (Geschichte bis 1874).

pen zu verabreden. Inzwischen aber vereinigten sich die liberale
Union, die Progressisten und die Republikaner zu einer gemeinsamen
Erhebung gegen die Mißregierung Isabellas. Die unionistischen
Generale wurden von den Kanarischen Inseln durch einen Dampfer
abgeholt und nach Cadiz gebracht, wo auch Prim erschien und die
Flotte unter Admiral Topete 18. Sept. 1868 die Absetzung Isabellas
verkündete. Der Aufruhr verbreitete sich rasch über ganz
S. General Pavia sammelte die treu gebliebenen Truppen und
rückte den Aufständischen nach Andalusien entgegen, ward
aber 28. Sept. bei Alcolea in der Nähe von Cordova geschlagen.
Serrano hielt 3. Okt. seinen Einzug in Madrid, während
Isabella 30. Sept. nach Frankreich floh.

Anarchie und Bürgerkrieg.

Die Unionisten und die Progressisten unter Prim bildeten nun
eine provisorische Regierung unter Serranos Vorsitz, welche sofort
den Jesuitenorden aufhob, die Klöster beschränkte und
volle Preß- und Unterrichtsfreiheit einführte; das Volk
schwelgte im Genuß der Freiheit und ergoß sich in
Lobreden auf die Helden der glorreichen Revolution. Die
konstituierenden Cortes, welche nach einem neuen Gesetz
gewählt wurden, traten 11. Febr. 1869 zusammen: die Unionisten
zählten nur 40 Mitglieder, womit ihr Thronkandidat Montpensier
beseitigt war, die Republikaner 70; die Progressisten hatten die
Mehrheit. Auch diese wünschten die Errichtung einer
konstitutionellen Monarchie und brachten 1. Juni 1869 eine
monarchisch-konstitutionelle Monarchie in den Cortes zur Annahme.
Doch lehnte König Ferdinand von Portugal 6. April die ihm
angebotene spanische Krone ab, ebenso der junge Herzog von Genua,
so daß die Cortes die Einsetzung einer Regentschaft
beschlossen und Serrano 18. Juni zum Regenten ernannten. Die
Ungewißheit über die politische Gestaltung des Landes
ermutigte Don Karlos, den Enkel des ältern Don Karlos, im Juli
den spanischen Boden zu betreten und mit Hilfe der Geistlichkeit in
den Nordprovinzen karlistische Aufstände zu erregen,
während in mehreren Städten, namentlich in Barcelona, die
Republikaner sich erhoben. Endlich gelang es dem
Ministerpräsidenten Prim, den Erbprinzen Leopold von
Hohenzollern zur Annahme der Krone zu bewegen, und 4. Juli 1870
beschlossen Regent und Ministerium, dessen Kandidatur den Cortes
vorzuschlagen. Der unerwartete Einspruch Frankreichs vereitelte
dieselbe, da der Erbprinz 12. Juli auf seine Kandidatur
verzichtete, um nicht Ursache eines großen Kriegs zu werden.
Als der deutsch-französische Krieg dennoch ausbrach, verhielt
sich die spanische Regierung, welche sich sofort mit dem Verzicht
des Prinzen einverstanden erklärt hatte, streng neutral. An
Stelle des Hohenzollern gewann Prim in dem Herzog Amadeus von
Aosta, zweitem Sohn des Königs Viktor Emanuel von Italien,
einen neuen Thronkandidaten, der 16. Nov. von den Cortes mit 191
gegen 98 Stimmen zum König gewählt wurde.

An demselben Tag, an welchem König Amadeus in Cartagena
landete, 30. Dez. 1870, starb Marschall Prim, der 27. Dez. in
Madrid von Meuchelmördern tödlich verwundet worden war.
Damit verlor der junge Herrscher seine festeste Stütze.
Dennoch trat er 2. Jan. 1871 die Regierung an und beauftragte
Serrano mit der Bildung eines Kabinetts. Die Granden gaben Amadeus
ihre Geringschätzung in schroffster Weise zu erkennen; eine
Anzahl Offiziere verweigerte den Eid. Die Wahlen für die
Cortes im März ergaben eine knappe Mehrheit für die
Regierung; unter der Opposition befanden sich 60 Republikaner und
65 Karlisten, welche den König aufs heftigste angriffen. Dabei
war unter den Anhängern des Königs keine Einigkeit:
Serrano wurde von dem ränkevollen Zorrilla, einem radikalen
Progressisten, schon im Juli aus dem Ministerium gedrängt, der
sich aber auch nur bis zum Oktober an der Spitze der Regierung
behauptete. Der konservative Progressist Sagasta, seit Ende 1871
Ministerpräsident, erlangte nach der Auflösung der Cortes
bei den Neuwahlen im April 1872 eine Mehrheit und machte im Juni
wieder Serrano Platz, der gegen die Karlisten mit Erfolg
gekämpft, ihnen aber in der Konvention von Amorevieta (24. Mai
1872) Amnestie gewährt hatte, um die Ruhe in S. herzustellen.
Hierfür verlangte er vom König außerordentliche
Vollmachten, die derselbe jedoch auf Anstiften Zorrillas
verweigerte. Dieser trat 16. Juni wieder an die Spitze des
Kabinetts, vermochte aber weder den Parteikämpfen in den neuen
Cortes, in denen die ministerielle Mehrheit immer deutlicher ihre
republikanischen Grundsätze kundgab, noch den Aufständen
im Land ein Ende zu machen. Überzeugt, daß er keine
feste Autorität in dem unterwühlten Land gewinnen
könne, dankte Amadeus 10. Febr. 1873 ab und begab sich
über Lissabon nach Italien zurück.

Die Cortes erklärten sofort mit 256 gegen 32 Stimmen S.
für eine Republik und erwählten Figueras zum
Präsidenten, einen föderalistischen Republikaner, der die
Befugnisse der Zentralregierung und der Cortes auf das Notwendigste
beschränken, den Provinzen, Städten und Gemeinden aber
möglichst ausgedehnte Autonomie gewähren wollte. Der Eid
und die Konskription für die Armee wurden abgeschafft. Nachdem
die Anhänger des Einheitsstaats verjagt worden waren, errangen
die Föderalisten bei den Corteswahlen 10. Mai eine
erdrückende Mehrheit. Figueras erschien dieser nicht extrem
genug, und Pi y Margall trat an seine Stelle, unter dem
völlige Anarchie eintrat. Im Norden breiteten sich die
Karlisten wieder aus; der Prätendent Don Karlos nahm in
Estella sein Hauptquartier. In den großen Städten des
Südens, wie Malaga, Cadiz, Sevilla und Cartagena, suchten die
roten Kommunisten (Intransigenten) durch sofortige Verwirklichung
der Föderativrepublik ihre Herrschaft zu begründen,
proklamiertem die Autonomie Andalusiens, errichteten
Wohlfahrtsausschüsse und bemächtigten sich mehrerer
Kriegsschiffe. Die Cortes sahen nun die Notwendigkeit ein,
Karlisten und Intransigenten energisch zu bekämpfen. Zu diesem
Zweck trat der bisherige Föderalist Castelar 9. Sept. an die
Spitze der Regierung, vertagte die Cortes, nachdem er sich zu
Ausnahmemaßregeln hatte ermächtigen lassen, suspendierte
21. Sept. die konstitutionellen Garantien und verkündete die
Kriegsgesetze in voller Strenge. Sevilla, Malaga und Cadiz wurden
sofort unterworfen, Cartagena mußte aber regelrecht belagert
werden und ergab sich erst 12. Jan. 1874. Im Norden machten die
Karlisten immer größere Fortschritte, und das Gebaren
der Cortes, die nach ihrem Zusammentritt (2. Jan. 1874) Castelar
jeden Dank für seine energische Thätigkeit verweigerten
und ihn zum Rücktritt zwangen, ließ das Schlimmste
befürchten: da ließ Serrano 3. Jan. durch den General
Pavia die Versammlung auseinander sprengen und trat als
Präsident der Exekutivgewalt an die Spitze einer neuen
Regierung, die sich vor allem die Beendigung des Karlistenkriegs
zum Ziel setzte. Der Kampf drehte sich um Bilbao, das die Karlisten
seit dem Dezember 1873 belagerten. Zwar zwang Ser-

87

Spanien (Geschichte bis 1885).

rano sie im Mai, die Belagerung aufzugeben; doch schlugen sie
die Regierungstruppen unter Concha 25. bis 27. Juni bei Estella,
und Don Karlos' Bruder drang wiederholt über den Ebro, im Juli
sogar bis Cuenca vor. Endlich bereitete Serrano für Anfang
1875 einen energischen konzentrischen Angriff auf die Karlisten vor
und verstärkte die Armee auf 80,000 Mann, als auch er
plötzlich gestürzt wurde.

Die Regierung Alfons' XII. Neueste Zeit.

Nachdem die Versuche, einen fremden Fürsten auf den
spanischen Thron zu erheben, gescheitert waren, das Experiment mit
der Republik S. völliger Anarchie überliefert, Don Karlos
aber durch seine enge Verbindung mit dem Ultramontanismus und seine
barbarische Kriegführung sich unmöglich gemacht hatte,
blieb nur der älteste Sohn Isabellas, Alfons, der durch den
Verzicht seiner Mutter vom 25. Juni 1870 Erbe der
Thronansprüche der jüngern bourbonischen Linie geworden
war, als Kandidat der gemäßigt Liberalen für den
Thron übrig. Seine Erhebung erschien besonders den Offizieren
als die einzige Rettung aus dem Chaos, und im Einverständnis
mit den einflußreichsten Generalen proklamierte Martinez
Campos 29. Dez. 1874 in Sagunto Alfons XII. als König von S.
Die Nordarmee und die Garnison von Madrid erklärten sich
für ihn, und Serrano legte sein Amt ohne Widerstandsversuch
nieder. Das Haupt der alfonsistischen Partei, Canovas del Castillo,
wurde an die Spitze eines liberal-konservativen Ministeriums
berufen, welches der König nach seinem Einzug in Madrid (14.
Jan. 1875) bestätigte. Die neue mit Notabeln vereinbarte
Verfassung hob zwar die Geschwornengerichte, die Zivilehe und die
Lehrfreiheit auf und machte dem Klerus noch einige andre
Zugeständnisse, um dem Karlismus den Boden zu entziehen; doch
versprach sie, ehrlich und mit Mäßigung gehandhabt, eine
friedliche und freiheitliche Entwickelung. Der Karlistenkrieg wurde
nun von den Generalen Quesada und Moriones nach einem
systematischen Plan und mit ausreichenden Streitkräften
geführt und durch die Eroberung von Vittoria (8. Juli 1875),
von Seo de Urgel (26. Aug.) und Estella (19. Febr. 1876)
glücklich beendet; Don Karlos trat 28. Febr. im Thal von
Roncesvalles auf französisches Gebiet über. Die Fueros
der baskischen Provinzen wurden aufgehoben. Die 20. Jan. 1876
gewählten neuen Cortes, in denen die Regierung eine starke
Mehrheit hatte, wurden 15. Febr. vom König eröffnet und
genehmigten 24. Mai die neue Verfassung. Der finanziellen
Zerrüttung beschloß der Finanzminister durch Suspension
der Zinszahlung für die Staatsschulden bis 1. Jan. 1877, von
da ab durch nur partielle Zahlung abzuhelfen. Der Aufstand in Cuba
(s. d., S. 358) wurde Anfang 1878 endlich auch beschwichtigt,
allerdings nur durch den Vertrag von Tanjon (10. Febr. 1878), in
welchem General Martinez Campos den Insurgenten Amnestie, Aufhebung
der Sklaverei und wirtschaftliche Unabhängigkeit der Insel
zugestehen mußte. Da Canovas sich weigerte, dies letztere
Zugeständnis vor den Cortes zu vertreten, trat er im März
1879 zurück und überließ die Leitung des
Ministeriums Martinez Campos, der jedoch die Genehmigung der von
ihm vorgeschlagenen Reformen für Cuba nicht erreichte und
daher schon 7. Dez. 1879 seine Entlassung nahm. Canovas, wieder
Ministerpräsident, brachte 1880 ein Gesetz über die
Aufhebung der Sklaverei in Cuba in den Cortes durch; aus
Rücksicht auf die spanischen Finanzen blieben aber die
Ausfuhrzölle daselbst sowie die Monopole zu gunsten des
spanischen Handels und Gewerbes bestehen.

Da Martinez Campos nach seinem erfolglosen Ministerium zu den
Gegnern Canovas übertrat, so bildete sich in den Cortes aus
den Parteien der Konstitutionellen und Zentralisten eine
einflußreiche liberal-dynastische Opposition unter
Führung Sagastas, der König Alfons XII., um sich die
Liberalen nicht zu entfremden, im Februar 1881 die Führung der
Geschäfte übertrug; Sagasta wurde Ministerpräsident,
Martinez Campos Kriegsminister. Das neue Ministerium löste die
Cortes auf und erlangte bei der Macht der Regierung über die
Wahlen eine bedeutende Majorität in der Kammer wie im Senat.
Der Finanzminister Camacho nahm sofort eine Umwandlung der
teilweise hohe Zinsen tragenden Staatsschulden in eine einheitliche
vierprozentige Staatsschuld vor und sicherte eine Reform des Tarifs
durch einen Handelsvertrag mit Frankreich (1882). Gleichwohl konnte
sich Sagasta nicht lange behaupten, auch nachdem er im Januar 1883
sein Kabinett in liberalem Sinn umgestaltet hatte. Aus der Mitte
der Konstitutionellen selbst wurde, besonders durch Serrano, das
Verlangen nach durchgreifenden Reformen, namentlich aber nach
Wiederherstellung der Verfassung von 1869, laut, das zu
erfüllen Sagasta sich entschieden weigerte; im August 1883
brachen in Badajoz, Barcelona, Seo de Urgel und andern Garnisonen
des Nordens Soldatenaufstände aus, bei welchen die Republik
mit der Verfassung von 1869 ausgerufen wurde. Der König
beschloß, nachdem die Aufstände unterdrückt waren,
die dynastische Linke in die Regierung zu ziehen, und berief im
Oktober 1883 Posada Herrera an die Spitze eines neuen Ministeriums,
das eine Verfassungsrevision mit Einführung der Zivilehe, der
Geschwornengerichte und des allgemeinen Stimmrechts versprach.
Dasselbe scheiterte aber an der Opposition Sagastas, dessen
Adreßentwurf, welcher die Politik der dynastischen Linken
entschieden tadelte, im Januar 1884 von den Cortes angenommen
wurde. Der König übertrug daher wieder den
Liberal-Konservativen unter Canovas das Ministerium.

Alfons XII. erstrebte neben dem Ziel, im Innern die monarchisch
gesinnten Parteien zu versöhnen und auf dem Boden der
konstitutionellen Monarchie zu vereinigen, in der auswärtigen
Politik die Wiederherstellung von Spaniens Ansehen und
Einfluß in Europa. Zu diesem Zweck widmete er sich mit Eifer
der Wiederherstellung und Verbesserung seiner Streitmacht zu Land
und zur See; ferner suchte er eine Anlehnung an die
mitteleuropäischen Mächte und unternahm im Sommer 1883
eine Reise nach Österreich und Deutschland, wo er bei den
Kaisermanövern in Homburg von Kaiser Wilhelm mit besondern
Ehren aufgenommen und zum Chef eines Ulanenregiments ernannt wurde.
Er wurde deswegen auf seiner Rückreise durch Frankreich in
Paris 29. Sept. aufs gröblichste beschimpft, aber durch einen
begeisterten Empfang in Madrid (2. Okt.) dafür
entschädigt. Ein Besuch des deutschen Kronprinzen in S. im
November bekundete die Achtung, die der König in Deutschland
genoß. Mitten in eine Gärung, welche ein schreckliches
Erdbeben in Andalusien, der Ausbruch der Cholera und die
Einführung der drückenden Verbrauchssteuern 1885 im
spanischen Volk erzeugt hatten, fiel wie ein zündender Funke
im September die Nachricht, daß ein deutsches Kriegsschiff
auf den Karolinen (s. d.) die deutsche Flagge geheißt habe:
nicht bloß der Madrider Pöbel ließ sich zu
Wutausbrüchen gegen Deutschland und seine Gesandtschaft in
Madrid hinreißen, sondern auch die Führer der Parteien,
namentlich der von je zu Frankreich hinneigenden Ra-

88

Spanierfeige - Spanische Litteratur.

dikalen, ja selbst die Minister ergingen sich, um ihre
Popularität zu vermehren, in kriegerischen Prahlereien und
Drohungen. Nur der König blieb fest in seinem Widerstand gegen
eine verhängnisvolle Überstürzung und
ermöglichte hierdurch eine ehrenvolle Verständigung mit
Deutschland. Leider starb er schon 25. Nov. 1885.

Alfons XII. hinterließ als Witwe seine zweite Gemahlin,
Maria Christine, eine österreichische Erzherzogin, welche
sofort als Regentin proklamiert wurde und 17.Mai 1886 einen Sohn,
Alfons XIII., gebar. Die Veränderungen auf dem Thron vollzogen
sich, abgesehen von einigen durch Zorrilla angestifteten
republikanischen Militärrevolten in Cartagena und Madrid und
von Ränken Montpensiers, die aber wirkungslos blieben, ohne
Störung. Canovas hielt es für nützlich, die
liberalen Parteien für die Erhaltung der Dynastie zu
interessieren, und empfahl daher der Regentin, an seiner Stelle
Sagasta zum Ministerpräsidenten zu ernennen (27. Nov.).
Derselbe verschaffte sich durch Neuwahlen die Mehrheit in den
Cortes, welche 10. Mai 1886 eröffnet wurden, die
Einführung von Geschwornengerichten genehmigten (7. Mai 1887)
und die Beratung der vom Kriegsminister Cassola vorgelegten
Heeresreform mit allgemeiner Wehrpflicht in Angriff nahmen. Die
Einnahmen wurden durch Verpachtung der Postdampferlinien und des
Tabaksmonopols vermehrt. Die Regentin verstand es, durch ihr
würdiges und kluges Benehmen die Achtung und Liebe des Volkes
in demselben Grad zu gewinnen wie ihr verstorbener Gemahl. Spaniens
Zustände sind indes noch durchaus unfertig. Der alte klerikale
Absolutismus ist zwar durch die Unfähigkeit seiner Vertreter
und das Eindringen liberaler Ideen äußerlich
gestürzt und lebensunfähig, aber im Geiste des Volkes so
wenig überwunden und vertilgt, daß sich auch keine
liberale Regierung auf die Masse des Volkes selbst stützen
kann, sondern die Hilfe der Parteiführer und ehrgeizigen
Generale in Anspruch nehmen muß, die wieder ihren
Schützling ausnutzen, diskreditieren und schließlich ins
Verderben fortreißen. Im Bund mit andern Parteien ist jede
Partei im stande, nach einigen Jahren das herrschende Regiment zu
stürzen.

[Litteratur.] Lembke, Geschichte von S. (Bd. 1, Hamb. 1831; Bd.
2 u. 3 von Schäfer, Gotha 1844-1861; fortgesetzt von
Schirrmacher, das. 1881 ff.); Lafuénte, Historia general de
España (Madr. 1850-66, 30 Bde.; neue Ausg., Barcelona 1888,
22 Bde.); Cavanilles, Historia de España (Madr. 1861-65, 5
Bde.); Rico y Amat, Historia politica e parlamentaria de
España (das. 1860-62, 3 Bde.); Alfaro, Compendio de la
historia d’España (5. Aufl., das. 1869); Rosseeuw
Saint-Hilaire, Histoire d’Espagne (Par. 1836-79, 14 Bde.);
Gebhardt, Historia general de España (Madr. 1864, 7 Bde.);
Havemann, Darstellungen aus der innern Geschichte Spaniens, 15.-17.
Jahrh. (Götting. 1850); Fapia, Historia de la civilisazion
d'España (Madr. 1840, 4 Bde.); Montesa u. Manrique, Historia
de la legislazion etc. de España (das. 1861-64, 7 Bde.);
Aschbach, Geschichte der Omaijiden in S. (2. Aufl., Wien 1860, 2
Bde.); Derselbe, Geschichte Spaniens und Portugals zur Zeit der
Herrschaft der Almorawiden und Almohaden (Frankf.1833-37, 2 Bde.);
Dozy, Histoire des Musulmans de l'Espagne (Leid. 1861, 4 Bde.;
deutsch, Leipz. 1873); Derselbe, Recherches sur l’histoire et
la littérature de l’Espagne pendant le moyen-âge
(3. Aufl., Leid. 1881, 2 Bde.); Prescott, History of Ferdinand and
Isabella (deutsch, Leipz. 1842); Derselbe, History of the reign of
Philipp II. of Spain (deutsch, das. 1856-59, 5 Bde.); Häbler,
Die wirtschaftliche Blüte Spaniens im 16. Jahrhundert (Berl.
1888); "Actas de las cortes de Castilla 1563-1713" (Madr. 1861-85);
Morel-Fatio, L’Espagne au XVI. et au XVII. siècle
(Heilbr. 1878); Baumgarten, Geschichte Spaniens zur Zeit der
französischen Revolution (Berl. 1861); Derselbe, Geschichte
Spaniens vom Ausbruch der französischen Revolution bis auf
unsre Tage (Leipz. 1865-71, 3 Bde.); Arteche y Moro, Guerra de la
independencia 1808-14 (Madr. 1868-83, Bd. 1-5); Hubbard, Histoire
contemporaine de l’Espagne (Par. 1869 bis 1883, 6 Bde.);
Lauser, Geschichte Spaniens vom Sturz Isabellas bis zur
Thronbesteigung Alfonsos (Leipz. 1877, 2 Bde.); Borrego, Historia
de las cortes de España durante el siglo XIX (Madr. 1885);
Cherbuliez, L'Espagne politique 1868-73 (Par. 1874); Leopold,
Spaniens Bürgerkrieg (Hannov. 1875); de Castro, Geschichte der
spanischen Protestanten (deutsch, Frankf. 1866); Wilkens,
Geschichte des spanischen Protestantismus im 16. Jahrhundert
(Gütersl. 1887); Kayserling, Geschichte der Juden in S. (Berl.
1861-67, 2 Bde.); Solvay, L’art espagnol (Par. 1886).

Spanierfeige (indische Feige), s. Opuntia.

Spaniol, feiner span. Schnupftabak, wird aus
Havanablättern bereitet und mit einer roten Erde gefärbt;
auch die Raupe des Frostschmetterlings.

Spaniolgeschmack (Spagnialgeschmack), s. Firnewein.

Spanische Artischocke, s. Cynara.

Spanische Fliege, s. Kantharide.

Spanische Kreide, s. Speckstein.

Spanische Kresse, s. v. w. Tropaeolum.

Spanische Litteratur. Die spanische Nationallitteratur,
hervorgegangen aus dem durch heldenhafte Anstrengung erstarkten
eigentümlichen Selbstgefühl eines Volkes, dessen
Phantasie in den Erinnerungen einer thatenreichen Vergangenheit
schwelgte, und durch Reichtum und Originalität der Produktion
auf allen Gebieten der Dichtkunst gleich ausgezeichnet, reicht in
ihren Anfängen bis in die Zeit zurück, wo sich nach der
Eroberung des Landes durch die Araber die ersten christlichen
Staaten im Norden der Halbinsel gebildet hatten. Von der alten
echten Volksdichtung haben sich jedoch nur wenige Denkmäler
und auch diese nicht in ihrer ursprünglichen Gestalt erhalten
können, da sie Jahrhunderte hindurch nur im Munde des Volkes
und in diesem stets sich verjüngend und verändernd
fortlebte und erst aufgezeichnet wurde, als auch die Kunstpoesie
diese Lieder ihrer Beachtung wert fand, d. h. zu Anfang des 16.
Jahrh. Diese ältesten spanischen Volkslieder, bekannt unter
dem Namen Romanzen, waren epischen oder episch-lyrischen Charakters
und hatten hauptsächlich die Thaten der Helden in dem
großen National- und Glaubenskampf gegen die Araber zum
Inhalt. Unter diesen Romanzen sind diejenigen, welche die Thaten
und Schicksale des Cid el Campeador (gest. 1099) feierten,
vorzugsweise berühmt. Die frühsten auf uns gekommenen
Schriftdenkmäler rühren aus dem 13. Jahrh. her, und mit
dieser Zeit beginnt die erste Periode der spanischen
Litteratur.

Erste Periode.

Die s. L. erscheint in dieser Periode, welche bis zu der
Regierung Johanns II. von Kastilien (1406) reicht, als
volkstümlich-nationale mit vorherrschend epischer und
didaktischer Richtung. Das älteste auf uns

89

Spanische Litteratur (bis zum 15. Jahrhundert).

gekommene Werk derselben ist das "Poema del Cid", ein
größtenteils auf alten Volksdichtungen beruhendes Epos
in Form und Geist der französischen Chansons de geste, welches
in oft sehr malerischer Darstellung und kräftigen Zügen,
wenn auch in noch ziemlich roher Form die Thaten und Abenteuer des
Nationalhelden schildert. Verschieden von ihm ist die
"Crónica rimada del Cid" (s. Cid Campeador). Außerdem
gehören hierher als frühste Erzeugnisse spanischer
Kunstpoesie unter dem Einfluß der kirchlich-ritterlichen
Zeitideen: das "Poema de los Reyes Magos" und die Legende von der
Maria Egipciaca aus dem 13. Jahrh.), die Heiligen- und
Marienlegenden des Geistlichen Gonzalo de Berceo (gestorben um
1270), die Bearbeitung der ritterlichen Irrfahrten Alexanders d.
Gr. ("Poema de Alexandro Magno") von Juan Lorenzo Segura, die
spanische Bearbeitung des Romans "Apollonius von Tyrus" sowie die
"Votos de pavon" (ebenfalls noch aus dem 13. Jahrh.) und ein
chronikenartiges Gedicht, das die Thaten des Grafen Fernan
Gonzalez, des Stifters von Kastiliens Größe, besingt
(aus dem 14. Jahrh.). Diese Gedichte sind teils in einreimigen
Alexandrinerstrophen, teils in den nationalen Grundrhythmen der
Redondilien (s. d.) abgefaßt. Noch in das 14. Jahrh. ist wohl
auch die Abfassung der längern, epenartigen Romanzen von Karl
d. Gr. und seinen Paladinen zu setzen. Neben diesen vorwiegend
epischen Dichtungen begann sich während der Regierung Alfons
des Weisen von Kastilien (1252-84) eine didaktische Richtung der
Litteratur zu entwickeln, deren Hauptrepräsentant König
Alfons selber war. Er ließ die Landesgesetze aus der
lateinischen Sprache in die Landessprache bertragen, und auf seine
Veranlassung geschah die Abfassung einer Weltchronik und der
Geschichte der Kreuzzüge ("La gran conquista de Ultramar"),
abgedruckt in der "Biblioteca de autores españoles", Bd. 44)
sowie einer spanischen Chronik, der berühmten "Crónica
general" (Vallad. 1604), ebenfalls in kastilischer Sprache. So
wurde Alfons der eigentliche Schöpfer der spanischen Prosa.
Von poetischen Werken schreibt man ihm außer dem sogen.
"Libro de las querellas", von dem sich nur einige Bruchstücke
erhalten haben, ein didaktisches Gedicht alchimistischen Inhalts,
das "Libro del tesoro o del candado", zu, das jedoch nach einigen
spätern Ursprungs ist. Am wichtigsten sind seine in
galicischer Sprache verfaßten und provençalischen
Mustern nachgebildeten "Cantigas", Loblieder auf die Jungfrau
Maria, welche zum großen Teil in sechs- bis
zwölfzeiligen Versen bestehen und durch ihre Form die
spätere Kunstlyrik der Spanier vorbereiten. Alfons' Beispiel
wirkte ermunternd auf seine Nachfolger. Sein Sohn Sancho IV.,
genannt der Tapfere (gest. 1295), schrieb ein
moralisierend-philosophisches Werk: "Los castigos e documentos",
das Lebensregeln für seinen Sohn Ferdinand IV. enthielt, und
des letztern Sohn Alfons XI., genannt der Gute (gest. 1350), gilt
für den Verfasser einer Reimchronik in Redondilienstrophen,
wie er auch mehrere Werke in kastilischer Prosa abfassen
ließ, namentlich ein Adelsregister ("Becerro") und ein
Jagdbuch ("Libro de monterias", hrsg. von Navarro 1878) sowie
mehrere Chroniken (Ferdinands des Heiligen, Alfons' des Weisen,
Sanchos des Tapfern etc., abgedruckt in dem Werk "Cronicas de los
Reyes de Castilla etc.", Bd. 1, Madr.1876). Der hervorragendste
unter den fürstlichen Autoren jener Zeit ist der Infant Don
Juan Manuel (gest. 1347), am bekanntesten durch sein Werk "El conde
Lucanor" oder "Libro de Patronio", eine zum Teil aus orientalischen
Quellen geschöpfte Rahmenerzählung, in welcher dem Grafen
Lucanor sein Ratgeber Patronio moralische und politische
Ratschläge in Form von Novellen erteilt (s. Manuel 3). Bei
weitem der genialste Dichter jener Periode war aber der Erzpriester
von Hita, Juan Ruiz (gest. 1351), Verfasser eines
merkwürdigen, allegorisch-satirischen Werkes in
Alexandrinerversen ("Libro de cantares"), worin in der Weise Juan
Manuels Fabeln, Schwänke und Geschichten, fromme und
Liebeslieder etc. aneinander gereiht sind, denen eine gemeinsame
Erzählung zu Grunde liegt, nur daß hier der Schwerpunkt
weniger in der moralischen Tendenz als in der naiv anmutigen und
kunstvollen Darstellung liegt. Ein didaktisches Gedicht mit
eingewebten lyrischen Partien ist auch das wieder zumeist in
Alexandrinern abgefaßte Buch über das Hofleben ("Rimado
de palacio") des alten Chronisten und als Übersetzer des
Livius berühmten Pedro Lopez de Ayala (gest. 1407). Ebenso
macht sich in den Gedichten des Rabbi Don Santo, genannt "der Jude
von Carrion", welcher für den König Peter den Grausamen
von Kastilien Ratschläge und Lebensregeln in Versen
abfaßte, in dem Gedicht vom Totentanz: "Danza general de la
muerte", der ältesten Dichtung dieser Art, in der spanischen
Nachahmung der lateinischen "Rixa animae et corporis" u. a. die
didaktische Richtung geltend. Sämtliche bisher genannte
Gedichte sind in Bd. 57 ("Poetas castellanos, anteriores al siglo
XV") sowie die hauptsächlichsten Prosawerke in Bd. 51
("Escritores en prosa, anteriores al siglo XV") der erwähnten
"Biblioteca de autores españoles enthalten. Die Ausbildung
der damaligen historischen Prosa bekunden die Chroniken Ayalas,
Juan Nuñez de Villaizans, die Prosachronik vom Cid, die
Reisebeschreibung Ruy Gonzalez de Clavijos u.a. Auch die Abfassung
des "Amadis von Gallien" (s. Amadisromane), des Ahnherrn der
zahllosen spanischen Ritterromane, gehört dem Schluß
dieser Periode an.

Zweite Periode.

Mit der Regierung Johanns II. von Kastilien (1406-54) begann die
zweite Periode der spanischen Nationallitteratur, welche bis zur
Regierung Karls V., somit bis zum Schluß des Mittelalters,
reicht. Der Sinn für die alten Volkspoesien war
allmählich erloschen, und es kam eine reflektierte Dichtkunst,
eine höfische Kunstlyrik nach dem Muster der Troubadourpoesie
zur Entwickelung, welch letztere in limousinischer Mundart an den
Höfen der Grafen von Barcelona und der Könige von
Aragonien schon längst blühte. Zu der bereits
vorherrschenden didaktischen Richtung gesellten sich gelehrte,
mythologische und allegorische Elemente, die schlichten Reime der
Vorzeit wurden mit verschlungenen Versmaßen vertauscht, und
spitzfindige Geistesspiele und überflüssiger Schmuck
traten an die Stelle der edlen Einfalt, welche die alten Poesien
auszeichnete. Die Dichter dieser neuen Richtung gehörten fast
alle den Hofkreisen an, und ihre Werke tragen einen gemeinsamen
konventionellen Charakter. Der Horizont ihrer immer wiederkehrenden
poetischen Ideen war ein enger, auf den Kreis höfischer
Galanterie beschränkter und eine gewisse Monotonie daher die
unausbleibliche Folge dieser Armut an Ideen und Anschauungen. Zu
den hervorragendsten und einflußreichsten unter diesen
Hofdichtern gehörten: Don Enrique de Aragon, Marques de
Villena (gest. 1434), Verfasser didaktisch-allegorischer Dichtungen
und einer Abhandlung über die Dichtkunst: "La gaya
cienzia"

90

Spanische Litteratur (15. und 16. Jahrhundert).

und sein Schüler Marques de Santillana (gest. 1458), der
die ersten spanischen Sonette dichtete. Neben diesen sind
hervorzuheben: Juan de Mena (gest. 1456; "El laberinto"), Jorge
Manrique (gest. 1479), Macias, genannt "der Verliebte", der in
galicischer Sprache dichtete, und sein Freund Juan Rodriguez del
Padron, der auch eine Novelle: "El siervo", hinterließ;
ferner: Garci-Sanchez de Badajoz, Alonzo de Cartagena (eigentlich
Alfonso de Santa Maria), Diego de San-Pedro (um 1500), besonders
durch seinen halb metrischen, halb prosaischen Roman "El carcel de
Amor" berühmt, Fernan Perez de Guzman (gest. 1470), Verfasser
geistlicher Lieder, doch mehr noch als Geschichtschreiber
hervorragend, Alvarez Alfonso de Villasandino, Francisco Imperial
u. a. Die Werke dieser und vieler andrer Dichter sind gesammelt in
den sogen. "Cancioneros" (Liederbüchern), namentlich im
"Cancionero general" (zuerst Valenc. 1511), während die Werke
eines andern Dichterkreises, der sich um König Alfons V. von
Aragonien scharte, in dem "Cancionero de Lope de Stuniga" enthalten
sind (s. Cancionero). Sehr bemerkenswert ist die Ausbildung der
spanischen Prosa in diesem Zeitraum. Eine Anzahl wichtiger
Chroniken behandelt die Geschichte nicht nur der verschiedenen
Regenten, sondern auch bedeutender Privatpersonen. Unter diesen
sind das Leben des Feldherrn Pero Niño, Grafen von Buelna,
von Gutierre Diez de Game, die Geschichte des Connétable
Alvaro de Luna, von unbekanntem Verfasser (1546), die spanische
Chronik des Diego de Valera besonders bemerkenswert. Beachtung
verdienen namentlich auch die biographischen Werke des genannten F.
P. de Guzman ("Generaciones y semblanyas", Biographien
berühmter Zeitgenossen) und des Hernando del Pulgar ("Los
claros varones de Castilia", 1500), in denen sich bereits ein
nennenswerter Fortschritt vom Chronikenstil zu pragmatischer
Darstellung zeigt. Von Pulgar, dem hervorragendsten Prosaisten der
Periode, hat sich auch eine Anzahl Briefe erhalten, die, wie der
gleichfalls erhaltene und anziehende, aber wegen seiner Echtheit
angefochtene Briefwechsel des Leibarztes Johanns II., F. Gomez de
Cibdareal, einen nicht geringen Begriff vom Briefstil der damaligen
Zeit geben. Einen schätzenswerten Beitrag zur Sittengeschichte
gab Alfonso Martinez de Toledo, Erzpriester von Talavera, in seinem
"Corbacko" (zuerst 1499), einem Werk über die Sitten der
Weiber von schlechtem Lebenswandel. Endlich fallen in diese Periode
auch die ersten Anfänge des spanischen Dramas, das sich aus
ländlichen Festspielen und den in Kirchen aufgeführten
Mysterien (s. Auto) entwickelte. Hierher gehören die zum Teil
geistlichen Schäferspiele (Eklogen) des Juan del Encina (gest.
1534), die Komödien Gil Vicentes (gest. um 1540), eines
Portugiesen, der aber zum Teil in kastilischer Sprache schrieb,
ferner der so berühmt gewordene dramatische Roman "Celestina"
(in 21 Akten) von Fernando de Rojas (1500), der vielfache
Nachahmungen hervorrief, und die von der Inquisition nachher
verbotenen Schauspiele von Bartolome de Torres Naharro (in
"Propaladia", 1517), die sich durch phantasievolle Erfindung und
gewandten Versbau auszeichnen und in der Entwickelung des
spanischen Theaters einen merklichen Fortschritt bekunden.

Dritte Periode.

Die dritte Periode reicht von der Begründung der spanischen
Universalmonarchie durch Karl V. im Anfang des 16. Jahrh. bis zum
Schluß des 17. Jahrh. und begreift die allseitige
Entwickelung und höchste Blüte der spanischen Litteratur
sowie deren allmählichen Verfall, so gleichen Schritt haltend
mit der Entwickelung der politischen und sozialen Zustände des
Reichs. Alles, was in der vorigen Periode sich vorbereitet hatte,
kam in dieser zur Entwickelung, besonders infolge der politischen
Verbindung Spaniens mit Italien, das seit der Eroberung Neapels
durch Ferdinand de Cordova (1504) fast ein Jahrhundert hindurch
einen sehr bemerkbaren Einfluß äußerte.
Altklassische und italienische Muster, die italienischen
Versmaße, die Formen des Sonetts, der Stanze (ottave rime),
Terzinen, Kanzonen etc. fanden in Spanien Nachahmung, ohne
daß dabei die spanische Poesie, welche nach wie vor eine
durchaus volkstümliche Grundlage hatte, ihres nationalen
Charakters verlustig ging. Überdies stand der italienischen
Schule eine streng an den Nationalformen haltende Partei
gegenüber, bis sich die schroffen Einseitigkeiten beider
Parteien allmählich abgeschliffen hatten und aus der
Verschmelzung beider nun in ihrer Art vollendete Kunstwerke
hervorgingen. Der erste Dichter, welcher sich nach italienischen
und altklassischen Mustern bildete, war Juan Boscan Almogaver aus
Barcelona (gest. 1543); ihm ebenbürtig zur Seite standen sein
Freund Garcilaso de la Vega aus Toledo (gest. 1536), der Petrarca
der kastilischen Poesie genannt, und Diego Hurtado de Mendoza
(gest. 1575), Dichter vortrefflicher Episteln, auch Verfasser des
Schelmenromans "Lazarillo de Tormes" und sonst als Gelehrter und
Staatsmann gleich ausgezeichnet. Von großem Einfluß
wurde der in kastilischer Mundart schreibende Portugiese Jorge de
Montemayor (gest. 1561), der mit seiner "Diana" den (halb aus
Prosa, halb aus Versen bestehenden) Schäferroman
einführte, und mit dem sein Landsmann Sa de Miranda (gest.
1588) sowie Pedro de Padilla in der pastoralen Poesie wetteiferten.
Als Dichter schwungvoller, rhythmisch vollendeter Oden
glänzten daneben Hernando de Herrera (gest. 1597) und Luis
Ponce de Leon (gest. 1591), dem die Verbindung altklassischer
Korrektheit mit tief religiösem Gefühl am
vorzüglichsten gelang. Außerdem sind Hernando de
Acuña (gest. 1580), welcher zwischen dem italienischen und
dem Nationalstil die rechte Mitte zu treffen wußte, und der
Lieder- und Madrigalendichter Gutierre de Cetina (gest. 1560) als
begabte Anhänger der neuen Schule zu erwähnen. An der
Spitze der Gegner des italienischen Stils und der Verteidiger der
altspanischen Naturpoesie stand Cristoval de Castillejo (gest.
1556), dessen Romanzen und erotische Volkslieder echte
Heimatlichkeit atmen, während seine Satiren oft zu sehr
übertreiben. Unter seinen Parteigängern sind Antonio de
Villegas und Gregorio Silvestre namhaft zu machen, die sich durch
zierlichen Versbau auszeichneten, aber Castillejo nicht entfernt
gleichkamen. Endlich sei noch Francisco de Aldana (1578 in der
Schlacht bei Alcazarquivir gefallen) erwähnt, dem die
Zeitgenossen wegen der Hoheit seiner Gesinnung und seiner
bilderreichen und glühenden Sprache den Beinamen des
Göttlichen gaben. Nicht gleichen Schritt mit den lyrischen
Produktionen hielt die epische Poesie der Spanier, deren
Gestaltungskraft auf diesem Gebiet sich in dem Heldengedicht vom
Cid erschöpft zu haben schien. Von den vielen neuern epischen
Versuchen im 16. Jahrh., zu denen der Kriegsruhm Karls V. und die
Entdeckung von Amerika Anlaß gaben, den "Caroleen" und
"Mexikaneen", ist nur eine zu nennen, welche sich durch echt
epischen Geist und epische Unmittelbarkeit auszeichnet: die
"Arau-

91

Spanische Litteratur (16. Jahrhundert).

cana" des Alonso de Ercilla (gest. 1595), in welche der
Verfasser einen Teil seiner eignen Lebensgeschichte verflochten
hat. Mit dem neubelebten Nationalbewußtsein war dabei auch
bei den Kunstdichtern ein historisches oder ästhetisches
Interesse an den alten Volksromanzen erwacht, die neu aufgezeichnet
und gesammelt wurden. Auf diese Weise entstanden von der Mitte des
16. bis zur Mitte des 17. Jahrh. eine Reihe von Romanzensammlungen
("Romanceros"), die allerdings neben den echten alten epischen
Volksromanzen eine Unzahl gemachter chronikenartiger oder rein
lyrischer Produkte, Werke von Gelehrten und Kunstdichtern,
enthalten. Die reichhaltigste dieser Sammlungen ist der 1604
erschienene Romancero general" (s. Romanze).

Befruchtend wirkten die epischen Elemente der alten
Volksromanzen in Verbindung mit der kunstmäßig
ausgebildeten Lyrik auf die Entwickelung der Comedia, des
nationalen Dramas, des eigentlichen sprechenden Ausdrucks des
poetischen Lebens der Nation. Dieses hatte gleich beim Beginn
seiner Entwickelung in den bereits früher erwähnten
Dichtern Naharro und Gil Vicente die Repräsentanten der
Hauptrichtungen gefunden, die später eingeschlagen wurden,
indem der erstgenannte mehr idealisierend zu den phantasiereichen
Schöpfungen der heroischen Verwickelungs- und
Intrigenstücke (comedias de ruido, comedias de capa y espada)
anregte, der letztere aber der Vorläufer jener Dramatiker
wurde, welche in der Darstellung des Volkslebens in seiner
Wirklichkeit ihre Aufgabe suchten. Letztern schlossen sich
zunächst Lope de Rueda (um 1560), Verfasser der Stücke:
"Comedia de las engañas" und "Eufemia", und Alonso de la
Vega sowie die zahlreichen Verfasser der sogen. Vor- und
Zwischenstücke (loas, pasos, farsas, entremeses, sainetes und
comedias de figuron) an. Neben diesen Gattungen bestanden die
geistlichen Schauspiele, aus denen zunächst das spanische
Drama hervorgegangen ist, fort und bildeten sich in der Folge nach
verschiedenen Richtungen, als Autos sacramentales
(Fronleichnamsspiele) und Autos al nacimiento (zur Feier der Geburt
Christi), selbständig aus (s. Auto). Die gelehrten
Klassizisten versuchten zwar um die Mitte des 16. Jahrh. durch
Übersetzung und Nachbildung antiker Stücke auch das
spanische Drama nach den Mustern des klassischen Altertums
umzugestalten, und mehrere Dramatiker, z. B. Geronimo Bermudez, der
unter dem Namen Antonio de Silva Tragödien mit Chören
schrieb, schlossen sich dieser antikisierenden Richtung an; allein
sie vermochten die volle originale Entwickelung des spanischen
Dramas nicht zu hemmen, und die begabtesten Dichter folgten bald
ausschließlich der nationalen Fahne. Zu diesen gehörten
namentlich: Juan de la Cueva (um 1580), Verfasser der Komödie
"El infamador", der in seinem Buch "Exemplar poetico" auch eine
spanische Poetik aufstellte, Rey de Artieda, Dichter der "Amantes
de Teruel", eines Stücks von hoher Schönheit, und
Cristoval de Virues (gest. 1610), dessen Tragödien (besonders
"Semiramis" und "Cassandra") wahres tragisches Pathos und ein
kräftiger, ungezwungener Dialog nachzurühmen sind.

Die Entwickelung der spanischen Prosa blieb im 16. Jahrh. hinter
den poetischen Fortschritten nicht zurück; durch das immer
allgemeiner werdende Studium des Altertums gewann dieselbe an
Klarheit, Kraft und Eleganz. Der erste, welcher sie auch für
didaktische Werke, für die Darstellung philosophischer
Gedanken und Betrachtungen mit Erfolg anwandte, war Fernan Perez de
Oliva (gest. 1534), der Verfasser des gediegenen Werkes "Dialogo de
la dignidad del hombre", zu welchem Francisco Cervantes de Salazar
eine nicht minder treffliche Fortsetzung lieferte, und seinem
Beispiel folgte eine große Anzahl von Schriftstellern, von
denen nur Antonio de Guevara (gest. 1545) mit seinem Hauptwerk:
"Relox de principes, o Marco Aurelio". einer Art didaktischen
Romans, und seinen (zum größern Teil erdichteten)
"Epistolas familiares" erwähnt sei. Auf dem Gebiet der
Geschichtschreibung gab man den alten Chronikenstil jetzt
gänzlich auf und suchte die historische Kunst in pragmatischer
Darstellung und schöner Form den Griechen und Römern
abzulernen. Dieses Bestreben zeigt sich bereits bei den
Historiographen Karls V., Pero Mexia und Juan Ginez de Sepulveda
(gest. 1574), entschiedener aber noch bei den eigentlichen
Vätern der spanischen Geschichtschreibung: Geronimo Zurita aus
Saragossa (gest. 1580), Verfasser der wichtigen "Anales de la
corona de Aragon", welche später in dem Dichter Bartol.
Leonardo Argensola einen Fortsetzer fanden, und Ambrosio de Morales
(gest. 1591), der die von Florian de Ocampo begonnene Geschichte
Kastiliens mit Umsicht und Kritik weiterführte. Als das erste
spanische Geschichtswerk aber von klassischem Wert muß die
Geschichte des Rebellionskriegs von Granada ("Historia de la guerra
de Granada") des oben als Dichter erwähnten Diego de Mendoza
(gest. 1575) genannt werden. Weiter sind zu erwähnen die
Berichterstatter über die Neue Welt: Fernandez de Oviedo, der
eine "Historia general y natural de las Indias" (1535) schrieb, und
der edle Las Casas (gest. 1566), dessen "Historia de las Indias"
1876 zum erstenmal veröffentlicht wurde, namentlich aber der
Jesuit Juan de Mariana (gest. 1623), Verfasser einer "Historia de
España", die bis zur Thronbesteigung Karls V. (1516) reicht
und rhetorische Kraft mit Anschaulichkeit der Charakteristik und
freimütiger Gesinnung verbindet. Eine Stelle in der spanischen
Literaturgeschichte beanspruchen auch die nach seiner Flucht aus
Spanien geschriebenen, in klassischem Stil abgefaßten Briefe
des berühmten Geheimschreibers Philipps II., Antonio Perez
(gest. 1611), denen man die der heil. Teresa de Jesus (gest. 1582),
obschon ihrer Art nach ganz verschieden von jenen, an die Seite
stellen kann; ebenso die asketischen und religiösen
Erbauungsbücher von Fray Luis de Leon (Klostername des
Dichters Ponce de Leon) und dem Kanzelredner Fray Luis de Granada
(gest. 1588), die Schriften ähnlicher Art von San Juan de la
Cruz und Malonde Chaide ("La conversion de Madalena") u. a. Auch
der erste spanische Versuch eines historischen Romans, die
vortreffliche "Historia de las guerras civiles de Granada" von G.
Perez de Hita (um 1600), fällt in diese Zeit. In ihrer
höchsten Vollendung zeigte sich aber die kastilische Sprache
erst in dem größten und tiefsinnigsten Schriftsteller
Spaniens, Miguel de Cervantes Saavedra (1547-1616), der alle
Richtungen der Zeit in sich vereinigte, aber über denselben
stand und nicht nur in seinem unübertroffenen satirisch -
komischen Roman "Don Quijote", der dem herrschenden Unwesen der
Ritterromane den Todesstoß versetzte, und in seinen "Novelas"
Meisterleistungen aufstellte, sondern auch den Schäfer- und
den Liebesroman kultivierte und sogar auf dramatischem Gebiet mit
seiner "Numancia" und den "Entremeses" Werke von nationaler
Bedeutung schuf.

Mit dem 17. Jahrh., in das Cervantes' "Don Qui-

92

Spanische Litteratur (17. Jahrhundert).

jote" (1604) überleitet, tritt das spanische Drama in die
Periode seiner höchsten und glänzendsten Entwickelung,
die bis fast zum Ausgang des Jahrhunderts dauert, und die
übergroße Zahl von Bühnendichtern, welche diese
Zeit aufzuweisen hat, teilt sich in zwei große Gruppen, als
deren Mittelpunkt zwei der größten und fruchtbarsten
dramatischen Genien aller Zeiten: Lope de Vega Carpio (1562-1635)
und Calderon de la Barca (1600-1681) glänzen. Von den
Anhängern des ältern Lope nennen wir als die
bedeutendsten: Perez de Montalvan (gest. 1638), Verfasser des lange
Zeit beliebten Schauspiels "Los amantes de Teruel" (ein Stoff, den
früher bereits Artieda behandelt hatte) sowie geschichtlicher
Dramen, mit trefflicher Charakterschilderung (z. B. "Juan
d'Austria") und höchst eigentümlicher Autos ("Polifema");
Tarrega ("La enemiga favorable"); Guillen de Castro (gest. 1638),
dessen Hauptwerk: "Las mocedades del Cid", das Vorbild von
Corneilles "Cid" war; Gabriel Tellez, als Dichter den Namen Tirso
de Molina führend (gest. 1648), nach Lope, der fruchtbarste
spanische Schriftsteller, Verfasser von "El burlador de Sevilla",
der ersten Dramatisierung der Don Juan Sage; Juan Ruiz de Alarcon
(gest. 1639), ein origineller Dichter voll glühender Phantasie
und plastischer Kraft, dessen "Tejedor de Segovia" und "Ganar
amigos" unter die Meisterstücke der heroisch-romantischen
Gattung gehören (sein Lustspiel "La verdad sospechosa" wurde
das Vorbild von Corneilles "Menteur"); ferner: Luis Velez de
Guevara (gest. 1646), der die Erscheinungen des äußern
Lebens in wirkungsvoller Weise darzustellen weiß und
besonders durch sein Drama "Mas pesa el rey que la sangre", eine
Verherrlichung der Lehnstreue, berühmt ist; Antonio Mira de
Mescua (um 1630), dessen "Esclavo del demonio" Calderon in seiner
"Andacht zum Kreuz" benutzt hat, u. a. Viele vortreffliche
Stücke stammen auch aus der Zeit des Lope, deren Verfasser
unbekannt geblieben sind, und die gewöhnlich unter dem Titel:
"Comedias famosas par un ingenio de esta corte" angezeigt wurden;
am meisten Aufsehen unter denselben erregte "El diablo prediador".
Die genannten Dichter, ausgezeichnet durch reiche Erfindungsgabe
und geniale Konzeption, sind denn die eigentlichen Schöpfer
des spanischen Dramas, und sie schufen dasselbe aus rein nationalen
Elementen, aus volkstümlicher Begeisterung und frischer,
glühender Phantasie. Da bei Calderon zu dieser
Originalität und sprudelnden Fülle noch die
künstlerische Reflexion und die sorgsamere Ausführung im
einzelnen hinzukamen, so erreichte in ihm das spanische Drama den
Gipfel der Vollendung. Die namhaftesten unter seinen Zeitgenossen
und Nachfolgern sind: Agostin Moreto (gest. 1668), der weniger
durch die Originalität und Kühnheit der Erfindung als
durch sorgfältige Entwickelung fein ausgearbeiteter
Entwürfe glänzt (Hauptwerk: "El valiente justiciero");
Francisco de Rojas (um 1650), der sowohl im Intrigenstück als
in der Tragödie Ausgezeichnetes leistete (am populärsten:
"Del rey abajo niguno", eine Schilderung des Konflikts zwischen
Königstreue, Ehre und Liebe); Matos Fragoso, durch
liebenswürdige Wärme der Darstellung und Eleganz des
Stils ausgezeichnet (bestes Drama: "El villana en su rincon", eine
gelungene Bearbeitung des gleichnamigen Stückes von Lope), und
Juan Bautista Diamant e (blühte um 1674), dessen
geschichtliche Dramen (z. B. "El hijo, honrador de su padre", das
die Geschichte des Cid zum Vorwurf hat, und "Judia de Toledo")
historischer Geist und feines Verständnis beleben; Juan de la
Hoz Mota, dessen Lustspiel "El castigo de la miseria" allezeit ein
Stolz der Spanier war; der oben genannte, auch als Dramendichter
ausgezeichnete Historiker Antonio de Solis (gest. 1686), von dessen
heroischen Schauspielen besonders "El alcasar del secreto" und die
"Gitanella de Madrid" zu den Lieblingsstücken damaliger Zeit
gehörten; Antonio Enriquez Gomez (um 1650), Verfasser
zahlreicher Komödien sowie lyrischer Gedichte und satirischer
Charakterbilder in Prosa (s. unten); Agustin de Salazar (gest.
1675), der sich wenigstens in einigen seiner Dramen, wie "Elegir al
enemigo", und in dem feinen Sittengemälde "Segunda Celestina"
als echter Dichter bewährte; Antonio de Leyba, Fernando de
Zarate, Cristoval de Monroy, Geronimo de Cuellar u. v. a. Der
Reichtum der spanischen Bühne jener Zeit ist in der That
unübersehbar, und die ungeheure Wirkung, welche dieselbe
dauernd ausübte, lag darin, daß es der Geist und die
Seele des ganzen Volkes waren, welche in ihren Schöpfungen
pulsierten und sie zum Gemeingut dieses Volkes machten. Gegen den
Ausgang des Jahrhunderts beginnt die dramatische Poesie endlich zu
ermatten, aber selbst die bereits der Verfallzeit angehörenden
Schauspiele von Franc. Bances Cándamo (gest. 1709; "Por su
rey y por su dama", "Esclavo en grillos de oro "), Cañizares
(gest. 1750), der mit sogen. Comedias de figuron (worin irgend eine
lächerliche Figur den Mittelpunkt bildet) seine Haupterfolge
erzielte, und Antonio Zamora (gest. 1730) atmen immer noch echt
spanischen Geist. Mit dem durchaus volkstümlichen Drama konnte
sich die gelehrte Kunstpoesie im 17. Jahrh. weder an vielseitiger
Ausbildung noch an Beliebtheit messen.

Die phantasievolle Weise Lope de Vegas hatte in der Lyrik
Eingang gefunden, wurde jedoch bald von einzelnen Dichtern durch
gezierte und schwülstige Wendungen und Ausdrücke bis zur
Karikatur verzerrt, und an die Stelle der Gedanken und Empfindungen
traten leeres Gepränge hochtönender Worte, abenteuerliche
und gesuchte Bilder und Gleichnisse und geschraubte, in erhabene
Dunkelheit gehüllte Phrasen. Der Hauptträger dieser
geschmacklosen Richtung war Don Luis de Gongora (gest. 1627), der
Erfinder des sogen. Estilo culto und Begründer einer besondern
Dichterschule, der Gongoristen oder Kulturisten, die mit der Zeit
einen verderblichen Einfluß auf den Geschmack der Zeit
ausübte, und als deren ausgezeichnetstes Mitglied der durch
sein tragisches Geschick bekannte Graf von Villamediana (ermordet
1621) zu nennen ist. Von den Gongoristen unterschieden sich die
sogen. Konzeptisten insofern, als sie das Hauptgewicht auf den
gedanklichen Inhalt der Dichtung legten, der sich nicht selten ins
Mystische verlor; an ihrer Spitze standen Felix de Arteaga (gest.
1633) und Alonso de Ledesma (gest. 1623; "El monstruo imaginado").
Die talentvollern Dichter gehörten gleichwohl zu den Gegnern
Gongoras, obschon auch sie der herrschenden Mode
Zugeständnisse machen mußten, so die beiden Brüder
Lupercio Leonardo und Bartolome de Argensola (gest. 1613 und 1631),
zwei Lyriker, die, Horaz und den Italienern nacheifernd, klassische
Korrektheit des Stils mit poetischem Gefühl und
glücklichem Darstellungstalent verbinden; Estevan Manuel de
Villegas (gest. 1669), als der erste unter den erotischen Dichtern
anerkannt; Francisco de Rioja (gest. 1659), Verfasser
vortrefflicher Lieder und Oden; Juan de Arguijo (um 1620), ein
zartsinniger Sonettensän-

93

Spanische Litteratur (17. und 18. Jahrhundert).

ger, besonders bekannt durch sein Gedicht auf seine Leier;
ferner Juan de Jauregui (gest. 1641), der Übersetzer von
Tassos "Aminta" und Verfasser einer Dichtung: "Orfeo", in fünf
Gesängen; Francisco de Borja, Principe de Esquilache (gest.
1658), mehr durch seine Romanzen und kleinern lyrischen Gedichte
als durch seine größern Werke ("Napoles recuperada")
hervorragend; Vicente Espinel (gest. 1634), der teils in
italienischen Silbenmaßen, teils im altspanischen Stil
dichtete, auch eine neue Art eigentümlich gereimter Dezimen
(die sogen. Espinelen) einführte. Vorzugsweise in der
pastoralen und der epischen Dichtung glänzte Bernardo de
Balbuena (gest. 1627), Verfasser des romantischen Heldengedichts
"Bernardo" und des Schäferromans "El seglo de oro",
während die "Selvas danicas" des Grafen Bernardino de
Rebolledo (gest. 1676), eine Art Epos, worin die ganze Geschichte
und Geographie Dänemarks versifiziert vorgetragen wird, und
andre ähnliche Werke desselben Verfassers das Herabsinken der
spanischen Poesie zu nüchternem Formenwesen kennzeichnen. Als
trefflicher Lyriker, namentlich durch burleske Lieder und Romanzen
("Jacaras") glänzte ferner Francisco Gomez de Quevedo (gest.
1645), der auch auf andern Gebieten zu den ersten und geistvollsten
Autoren gehört (s. unten). Von den übrigen Dichtern seien
noch flüchtig erwähnt: der humoristische und schalkhafte
Balthasar de Alcazar (gest. 1606), Martin de la Plaza, der
heldenhafte Gonzalo de Argote y Molina, Sänger patriotischer
Lieder, auch Geschichtschreiber; Francisco de Figueroa, genannt der
"spanische Pindar"; Luis Barahona de Soto, Verfasser der "Lagrimas
de Angelica", einer eleganten und langweiligen Fortsetzung des
"Rasenden Roland", die ungewöhnlichen Beifall fand; Francisco
de Medrano, Luis de Ulloa, der schon als Dramatiker erwähnte
Agustin de Salazar (gest. 1675), der sich durch seine "Cythara de
Apolo" als blinder Anhänger des "Estilo culto" bewies; Agustin
de Tejada, Pedro Soto de Rojas, Lopez de Zarate (gest. 1658),
Verfasser des Epos "La invencion de la cruz"), die Nonne Ines de la
Cruz aus Mexiko u. a. Eine Sammlung lyrischer Gedichte des 16. und
17. Jahrh., deren wesentliche Vorzüge in der hohen metrischen
Ausbildung der Formen und der durchdachten, fein zugespitzten
Konzeption bestehen, enthält Bd. 42 der "Biblioteca de autores
españoles".

Auf dem Gebiete der Prosa traten nach den glänzenden Werken
des Cervantes nur Leistungen von geringerm Belang hervor. Der
Ritterroman war, besonders in den zahllosen Nachahmungen des
"Amadis", zur Karikatur herabgesunken; auch der Schäferroman,
obwohl noch von zahlreichen Schriftstellern, darunter von Lope de
Vega ("Arcadia"), Luis Galvez de Montalvo ("Filida") u. a.,
kultiviert, verlor mehr und mehr in der Meinung des Publikums. Bei
weitem größern Beifall fanden die Schilderungen der
Sitten und gesellschaftlichen Verhältnisse der Gegenwart,
denen sich die vorzüglichsten Autoren jetzt mit Vorliebe
zuwandten und zwar teils in Form kleinerer Novellen, in welcher
Gattung Cervantes den Ton angegeben hatte, dem Geronimo Salas
Barbadillo (gest. 1630), die Dramatiker Tirso de Molina
("Cigarrales de Toledo") und Perez de Montalvan ("Para todos")
nebst einer ganzen Reihe anderer, wie Francisco Santos Vargas,
Ribera, Prado etc., darunter auch zwei Frauen: Mariana de Carbajal
(um 1633) und Maria de Zayas (um 1650), mit mehr oder minder
Glück nacheiferten; teils in jenen berühmten
Schelmenromanen nach dem Muster des "Lazarillo de Tormes" von
Mendoza (s. oben), so in der witzigen "Historia del gran
Tacaño" von Quevedo, in "Marcos de Obregon" von Vicente
Espinel, in "Vida y hechos del picaro Gusman del Alfarache" von
Mateo Aleman, in der "Picara Justina" von Franc. Lopez de Ubeda
(Andres Perez), in der "Vida de Don Gregorio Guadaña" von
Ant. Enriquez Gomez; in der berüchtigten Selbstbiographie von
Estevanillo Gonzalez (1646) u. a. Eine dritte Reihe von
Darstellungen des spanischen Lebens bilden die Erzählungen in
jenem burlesk-phantastischen Stil, der zuerst von Quevedo in seinen
fein, aber bitter satirischen "Sueños" und den witzigen
"Cartas del caballero de la tentenaza" aufgebracht, dann von Velez
de Guevaraz in seinem "Diablo cojuelo" u. a. weiter ausgebildet
wurde. Mit der Zeit litt indessen auch die Prosa durch den
Einfluß der Gongoristen und sank zu den Bizarrerien des
Estilo culto herab; unter den Schriftstellern dieser Schule ist der
bekannteste der Jesuit Baltazar Gracian (gest. 1658), von dessen
Schriften besonders der "Criticon", eine Allegorie auf das
menschliche Leben in Novellenform, und der einst vielbewunderte
"Oraculo manual", eine Zusammenstellung von Regeln der
Weltklugheit, zu erwähnen sind. Die Geschichtschreibung, deren
Ausbildung durch religiösen und politischen Druck in jeder
Weise behindert war, hat nach Mariana nur noch zwei Schriftsteller
von Bedeutung aufzuweisen: Francisco Manuel de Melo (gest. 1665),
der die Geschichte des Kriegs in Katalonien schrieb, und den schon
als Dramatiker erwähnten Antonio de Solis, Verfasser einer
Geschichte der Eroberung von Mexiko, die wie ein Heldengedicht in
Prosa gemahnt, aber an Befangenheit des Urteils und Mangel an
Objektivität leidet.

Vierte Periode.

Die vierte Periode, welche von der Thronbesteigung der Bourbonen
(1701) bis auf unsre Zeit reicht, ist charakterisiert durch die
Herrschaft des französischen Kunstgeschmacks und die
schließliche Wiedergeburt der spanischen Litteratur, die sich
durch Verschmelzung der nationalen Elemente mit der
modern-europäischen Bildung allmählich vollzog. Nachdem
die Litteratur lange Zeit in derselben Art von Marasmus gelegen, in
welchen die ganze Nation seit dem Tode des letzten und
unfähigsten Habsburgers, Karls II., unter dessen Regierung der
letzte Schimmer von Spaniens ehemaliger Größe
verschwand, versunken war, kam gegen die Mitte des 18. Jahrh. durch
die bourbonische Dynastie ein neuer Geist, der französische,
über die Pyrenäen, der bei der Verwilderung und
Erschöpfung des alten Nationalgeschmacks als ein
Regenerationsmittel bald Einfluß gewinnen mußte.
Eingang verschaffte ihm namentlich Ignacio de Luzan (gest. 1754),
der in seiner Schrift "La Poetica" (1737) die
französisch-klassische Kunstlehre erörterte und damit
sofort begeisterte Anhänger fand. Unter ihnen haben namentlich
die Gelehrten L. J. Velasquez (gest. 1772) in seinen "Origenes de
la poesia castellana" (1754) und Gregorio de Mayans (gest. 1782) in
"Retorica" (1757) die Theorie Luzans weiter entwickelt.
Gleichzeitig wirkte der Benediktinermönch Benito Geronimo
Feyjoo (gest. 1764) durch seine "Cartas eruditas y curiosas"
für Aufklärung des verdummten Volkes und Reform der
Wissenschaften, während etwas später unter der
aufgeklärten Regierung Karls III. José Franc. de Isla
(gest. 1781) in dem satirischen Roman "Fra Gerundio de Campazas"
sogar gegen die Mißbräuche der Kirche zu Felde zog.
Inzwischen war auch eine Reaktion des alten Nationalgeistes
gegen

94

Spanische Litteratur (18. und 19. Jahrhundert).

die Bestrebungen der Neuerer, der Gallizisten, eingetreten, und
als Hauptverfechter desselben trat jetzt, wenn auch mehr
theoretisch als durch eigne Schöpfungen, der patriotische,
aber blind eifernde Garcia de la Huerta (gest. 1787) auf.
Gleichzeitig wußten Lopez de Sedano durch seinen "Parnas
español", eine Sammlung der bemerkenswertesten Dichtungen
des 16. und 17. Jahrh., und Tomas Antonio Sanchez durch eine
Auswahl der ältesten spanischen Dichtungen sowie Sarmiento
durch seine "Historia de la poesia español" die absolute
Herrschaft der Gallizisten zu verhindern und das Interesse für
heimische Poesie wieder anzuregen. Als der erste bedeutendere
Schriftsteller der französischen Richtung ist Nicolas Fernando
Moratin (gest. 1780) zu nennen, der als Epiker wie namentlich als
dramatischer Dichter thätig war; aus der großen Menge
von Dramatikern der nationalen Richtung ragt indessen nur der
fruchtbare Ramon de la Cruz (gest. 1795), besonders durch seine von
genialem Humor erfüllten Sainetes (Zwischenspiele),
glänzend hervor. Bald bildete sich wieder eine Dichterschule,
nach ihrem Hauptsitz die "Schule von Salamanca" genannt, die eine
vermittelnde Stellung einnahm, insofern ihre Mitglieder gegen die
Anforderungen des Zeitgeistes nicht blind, aber doch patriotisch
genug waren, um neben den modernen fremden auch die einheimischen
Muster der guten Zeit zu berücksichtigen. Das eigentliche
Haupt dieser Schule war Juan Melendez Valdes (gest. 1817), der die
Nation wieder zu enthusiasmieren wußte und auch das
philosophische Element in die spanische Dichtung aufnahm; zu ihren
Anhängern gehörten: Nicasio Alvarez Cienfuegos (gest.
1809), ein Dichter zarter und anmutiger Liebeslieder; José
Iglesias de la Casa (gest. 1791), besonders im Epigramm und in
kleinen satirischen Gedichten ausgezeichnet; Tomas de Iriarte
(gest. 1791), der die Fabel in die spanische Dichtkunst
einführte und darin in Felix Maria de Samaniego (gest. 1801)
einen glücklichen Nachfolger fand; ferner die schon
ältern José de Cadalso (gest. 1782), Verfasser der
Satire "Los eruditos á la violeta" und der "Cartas
Marruecas", und der Staatsmann und Patriot Gaspar Melchior de
Jodellanos (gest. 1811), ein hochbegabter Schriftsteller und reiner
Charakter, der auf die Wiedergeburt der spanischen Litteratur von
großem Einfluß war. Auch Pablo Forner (gest. 1797), der
Pater Diego de Gonzales (gest. 1794), Leon de Arroyal, Graf
Noroña u. a., die zum Teil auch die Italiener nachahmten,
dürfen der Dichterschule von Salamanca beigezählt werden.
Strenger am französischen System hielt der talentvolle Leandro
Fernandez de Moratin (der jüngere, 1760-1828), besonders in
seinen Lustspielen ("El si de las niñas"), die sich, wie
auch seine übrigen Werke (Oden, Sonette, Epigramme, das Idyll
"La ausencia" etc.) durch Anmut der Schreibart und Feinheit des
Geschmacks auszeichen und mit verdientem Beifall aufgenommen
wurden.

Die verhängnisvollen Ereignisse des 19. Jahrh., der
Unabhängigkeitskrieg gegen die Besitzergreifung Spaniens durch
Napoleon und die diesem folgenden Aufstände, übten
einerseits einen nachteiligen Einfluß auf die Litteratur, da
sie die Muße zu litterarischen Arbeiten nahmen und die
politischen Kämpfe und Debatten einen großen Teil der
vorhandenen Talente verzehrten; anderseits wirkte aber der durch
den Unabhängigkeitskrieg errungene Sieg über die
französische Usurpation wie in politischer, so auch in
litterarischer Hinsicht belebend, und der politische Anteil an der
Regierung, den die Nation durch die innern Umwälzungen errang,
trug zu ihrer allseitigern Geistesentwickelung bei und gab der
Litteratur wieder eine mehr patriotische und selbständige
Haltung. Von den Schriftstellern und Gelehrten, welche sich an den
politischen Kämpfen beteiligten, sei hier nur an Antonio de
Capmany (gest. 1813), der staatsrechtliche Schriften sowie eine
"Filosofia de elocuencia" und den "Tesoro de prosadores
españoles" herausgab, den Nationalökonomen Florez
Estrada und die Publizisten Donoso Cortes, Conde de Toreno und
José de Lara (gest. 1837), erinnert, welch letzterer, einer
der vorzüglichsten Schriftsteller Spaniens (auch unter dem
Namen Figaro bekannt), seine Zeit mit all ihren Erscheinungen auf
dem Gebiet des politischen wie des sozialen Lebens einer strengen
Kritik im Gewand originellen Humors und treffender Satire unterzog,
aber auch als Dichter sich auf dem Felde des Romans und des Dramas
("Macias", "No mas mostrador") berühmt machte. In der
poetischen Litteratur traten jetzt hauptsächlich zwei Parteien
einander gegenüber: die Klassiker, d. h. diejenigen, welche
sich noch immer der französisch-klassischen Regel unterwarfen,
andernteils aber auch solche, welche von dem Zurückgehen zur
alten spanischen Nationalpoesie das Heil der Dichtkunst erwarteten,
und die Romantiker, welche entweder fessellos den Antrieben ihres
Genius folgten, oder sich der neu französischen Richtung
anschlossen. Als Dichter der klassischen Richtung sind zu nennen:
Manuel José Quintana (gest. 1857), Verfasser des
Trauerspiels "Pelayo" (1805) und trefflicher Oden (aber auch als
Historiker geschätzt); die Lyriker Juan Bautista de Arriaza
(gest. 1837) und José Somoza; Juan Maria Maury, Verfasser
anmutig-einfacher Romanzen wie auch größerer epischer
Gedichte; Felix José Reinoso (gest. 1842), der sich durch
das Epos "La inocencia perdida" und kleinere Poesien einen Namen
erwarb; José Joaquin Mora, durch seine satirischen Fabeln
und Romanzen ausgezeichnet; Serafin Calderon (gest. 1867), ein
leidenschaftlicher Anhänger der alten Nationalpoesie ("Poesias
di un solitario"); Lopez Pelegrin; Tom. José Gonzalez
Carvajal (gest. 1834; "Libros poeticos de Santa Biblia") u. a.
Viele der neuern Dichter schwankten auch zwischen der klassischen
und romantischen Richtung, so: Alberto Lista (gest. 1848), gleich
ausgezeichnet als Dichter und Mathematiker ("Poesias sagradas",
"Poesias filosoficas", Romanzen etc.); der gefeierte Staatsmann
Angelo de Saavedra, Herzog von Rivas (gest. 1865), der von der
klassischen Schule zu den Romantikern überging, Verfasser der
Ode "El desterrado", der Dichtung "Florinda" sowie des
Romanzencyklus "El moro exposito", und Francisco Martinez de la
Rosa (gest. 1862), in der lyrischen und didaktischen Dichtung wie
im beschreibenden Epos ("Saragosa") und gleich Saavedra auch im
Drama (s. unten) hervorragend; ferner Nicasio Gallego (gest. 1853),
berühmt durch seine ergreifenden Oden und Elegien; der
Fabeldichter Pablo de Jerica, der Lyriker José Maria Roldan
(gest. 1828), Manuel de Arjona, Verfasser trefflicher Fabeln,
Epigramme und scherzhafter Erzählungen, Francisco de Castro u.
a. An der Spitze der Romantiker steht José Zorrilla (geb.
1818), der populärste Dichter des modernen Spanien, der sich
von der Poesie der Zerrissenheit und des Schmerzes zu einer heitern
Auffassung des Lebens durchgearbeitet und auf fast allen Gebieten
der Dichtkunst (wir erinnern nur an seine "Cantos del trovador" und
sein Drama "Don Juan Tenorio") Vortreffliches geleistet

95

Spanische Litteratur (19. Jahrhundert).

hat. Neben ihm sind zu nennen: der exzentrische José de
Espronceda (gest. 1842), ein Dichter der Verzweiflung ("El
condenado á la muerte", "El mendiande", "El estudiante" u.
a.); der schwermütige Nicomedes Pastor Diaz, dem die
süßesten und erhebensten Töne zu Gebote stehen;
José Bermudez de Castro, in dessen Dichtungen ("El dia de
difuntos") sich wieder alle Schauer der Romantik finden; der
phantastisch-fromme Jacinto Salas y Quiroja; der Staatsmann
Patricio de la Escosura (gest. 1878), ein schwungvoller Lyriker des
Weltschmerzes ("El bulto vestido de negro capuz"), dessen Talent
sich aber noch glänzender in seinen historischen Romanen zeigt
(s. unten); der sinnige Lieder- und Romanzendichter Francisco
Pacheco u. a. Von den Dichtern der neuesten Zeit errangen vor
andern Ramon de Campoamor (geb. 1817), der Verfasser der tief
poetischen Gedichtsammlung "Doloras". aber auch dramatischer
Arbeiten, eines Epos: "Colon", und reizender "Novellen in Versen",
und der "Poeta del pueblo", Antonio de Trueba (gest. 1889), mit
seinem "Libro de los cantares" verdienten Beifall. Neben ihnen
teilen sich Villergas, Campo-Arano, Enrique Gil, Gaspar Bueno
Serrano und besonders Ventura Ruiz Aguilera (gest. 1881), Dichter
berühmter "Elegias" und der "Legenda de Noche-Buena", sowie
Gaspar Nuñez de Arce (geb. 1834), Verfasser des Gedichts "El
vertigo" und der "Vision de Fray Martin", in die Gunst des
Publikums. Auch José Selgas, Manuel del Palacio, Adolfo
Becquer und Curros Enriquez ("Aires da minha terra") müssen
als Lyriker genannt werden. Als Satiriker fand José Gonzalez
de Tejada, als Fabeldichter Miguel Augustin Principe und F.
Baëza Anerkennung. Auch ein moderner "Romancero
español" von verschiedenen Verfassern ist erschienen (1873).
Eine gediegene Blütenlese aus den Werken der Dichter des 19.
Jahrh. bietet der "Tesoro de la poesia castellana", Bd. 3 (Madr.
1876).

Was das Drama betrifft, so war seit den 30er Jahren die
Herrschaft des klassischen Geschmacks, der durch Moratin den
jüngern für einige Zeit zur allgemeinen Geltung gelangt
war, im Sinken begriffen, und das spanische Theater trat in ein
Stadium, welches ein Gemisch der extremsten Gegensätze bot.
Namentlich ließ man sich von dem Taumel der sogen.
romantischen Schule in Frankreich mit fortreißen, deren
Mißgebilde man in Übersetzungen oder in noch krassern
Nachbildungen mit Vorliebe auf die heimische Bühne brachte.
Erst allmählich klärte sich das Chaos, die Besonnenern
kehrten zu den altklassischen Formen zurück, die sie mit den
Anforderungen der modernen Zeit zu vereinen suchten, und wenn sich
auch die spanische Bühne bis auf den heutigen Tag noch nicht
völlig zur Selbständigkeit in einer bestimmten Richtung
hervorgearbeitet hat, so gewinnen doch würdige, aus edlem
Streben hervorgegangene Originalproduktionen immer mehr die
Oberhand. Unter den Klassikern ragt vor allen Manuel Breton de los
Herreros (1800-1873) hervor, der fruchtbarste Bühnendichter
des modernen Spanien, unter dessen den verschiedensten dramatischen
Gattungen angehörenden Arbeiten die Charakterkomödien, in
welchen er das Leben der Mittelklassen Spaniens schildert, den
obersten Rang einnehmen. Unter seinen zahlreichen Nachahmern ist
Tomas Rodriguez Rubi (geb. 1817) der begabteste. Zu den
Anhängern der klassischen Schule gehörten auch die
Lustspieldichter Francisco de Burgos (gest. 1845) und Manuel
Eduardo Gorostiza (geb. 1790); ferner Juan Eugenio Hartzenbusch
(1806-80), einer der bedeutendsten Tragiker der Neuzeit, Verfasser
des Dramas "Los amantes de Teruel", dem sich seine spätern
Arbeiten würdig anreihen. Von großer
Bühnengewandtheit zeugen die Stücke von Antonio Garcia
Gutierrez (gest. 1884), den besonders die Tragödie "El
Trovador" berühmt machte. Eine zwischen der klassischen und
romantischen Richtung hin- und herschwankende Stellung nimmt der
oben als Lyriker genannte Martinez de la Rosa ein, der Verfasser
reizender und belieber Lustspiele ("La niña en casa y la
madre en la máscara" und "Los zelos infundados"), dessen
dramatische Begabung sich aber noch glänzender in seinen
historischen Tragödien ("La conjurazion de Venecia") zeigt.
Unter den vorzugsweise tragischen Dichtern ist der bedeutendste
Antonio Gil y Zarate (1793-1861), der, seinen Prinzipien nach
Anhänger des Klassizismus, in der Praxis später zu den
Romantikern überging, und unter dessen Stücken besonders
"Carlos II el hechizado", "Rosmunda" und "Guzman el bueno"
hervorzuheben sind. Entschieden romantische Richtung verfolgen in
ihren dramatischen Arbeiten der schon genannte A. de Saavedra,
Herzog von Rivas, Verfasser des Lustspiels "Solaces de un
prisionero" und des Dramas "Don Alvaro", und José Zorrilla,
der Lieblingsdramatiker der Nation, von welchem wir hier nur "El
zapatero y el rey" und die Bearbeitung der Don Juan-Sage: "Don Juan
Tenorio", erwähnen wollen. Von den übrigen Dramatikern,
besonders der neuesten Zeit, seien hier noch angeführt:
Ventura de la Vega (gest. 1865), Gertrudis de Avellaneda (gest.
1873; "Leoncia", "El principe de Viana"), der schon als Lyriker
erwähnte Campoamor ("Dies irae", "Cuerdos y locos", "El
honor"), Adelardo Lopez de Ayala (gest. 1879; "El hombre de
estado", "El tanto por ciento", "Consuelo"), Luis Martinez de
Eguilaz (geb. 1833; "La cruz del matrimonio"), José
Echegaray (geb. 1832; "La esposa del vengador", "En el seno de la
muerte", "El gran galeoto"), Nuñez de Arce ("Dendras de
honra", "El haz de leña"), Francisco Camprodon (gest. 1870;
"Flor de un dia") und Tamayo y Baus ("La rica hembra"),
vorzugsweise Dichter, welche das moderne Leben bald in
realistischer, bald in idealistischer Auffassung zur Darstellung
brachten. Sehr beliebt sind in der Neuzeit die echt spanischen, dem
Volksleben abgesehenen Possen (Sainetes), wie "La banda del rey"
von Emilio Alvarez u. a. Eine gediegene Auswahl moderner Dramen
erschien unter dem Titel: Joyas del teatro español del siglo
XIX" (Madr. 1880-82).

Im Vergleich mit der dramatischen Litteratur blieb das Gebiet
des Romans lange Zeit vernachlässigt; erst in der letzten Zeit
begann man dasselbe wieder eifriger anzubauen. Zunächst
folgten Übersetzungen und Nachahmungen französischer und
englischer Werke, dann aber auch spanische Originalromane und zwar
in solcher Fülle, daß gegenwärtig auch bei den
Spaniern der Roman, als das "Epos unsrer Zeit", nebst der Novelle
zur Lieblingsform litterarischer Produktion geworden und in
verschiedenen Formen ausgebildet ist. Besondere Pflege erfuhr der
historische und Sittenroman, als deren Hauptrepräsentanten
unter den bereits angeführten Autoren genannt werden
müssen: Larra ("El doncel de Don Enrique el Doliente"),
Escosura ("El conde de Candespina" und "Ni rey, ni roque"),
José de Espronceda ("Don Sancho Salaña"), Serafin
Calderon ("Christianos y Moriscos"), Martinez de la Rosa ("Isa-

96

Spanische Litteratur (Philosophie, Theologie, Rechts- u.
Staatswissenschaft).

bel de Solis") und Gertrudis de Avellaneda ("Dos mugeres").
Ungemeinen Erfolg hatten auf diesem Gebiet außerdem Fernan
Caballero (Cäcilia de Arrom, gest. 1877), die Begründerin
des realistischen Romans in Spanien, und Antonio de Trueba (gest.
1889) mit seinen zahlreichen Erzählungen ("Cuentos
campesinos", "Cuentos populares" etc.); ebenso Vicente Perez
Escrich ("Cura de la Aldea", "La muger adultera", "Los angeles de
la tierra" etc.), Manuel Fernandez y Gonzales (gest. 1888; "Los
Mondes de las Alpujarras", "La virgen de la Palma" etc.) und Pedro
Antonio de Alarcon (geb. 1833; "Sombrero de tres picos" und "El
escandalo"), denen wir aus neuester Zeit noch als die namhastesten
Erzähler anreihen: Juan Valera ("Pepita Jimenez", "Doña
Luz"), José Selgas ("La manzana de oro", "Dos rivales"),
Cespedes, Perez Galdos, der den historischen Roman kultiviert,
Castro y Serrano, Escamilla, die Schriftstellerinnen: Maria del
Pilar Sinués, Angela Grassi und Faustina Saez de Melgar
("Inés"). Als interessanter Sittenschilderer bewährte
sich Ramon de Mesonero (gest. 1882) in den Werken: "Manual de
Madrid", "Escenas matritenses" u. a. Im übrigen wurde die
spanische Prosa durch eine Reihe ausgezeichneter Historiker (s.
unten) und berühmter Redner und Publizisten (wie Jovellanos,
Augustin Arguelles, Alcalá-Galiano, Donoso Cortes, Martinez
de la Rosa, Emilio Castelar u. a.) wie durch die kritischen
Arbeiten eines Gallardo, Salva, Lista, Hermosilla, Marchena etc. in
ihrer Ausbildung wesentlich gefördert. Groß ist auch die
Zahl der Zeitschriften und Revuen, die, teils
politisch-belletristischen, teils wissenschaftlichen Inhalts, in
den letzten Jahrzehnten in Spanien aufgetaucht sind, und von denen
hier als die reichhaltigsten und gediegensten nur die "Revista de
España", "Revista Contemporanea" und "Revista Europea"
genannt seien.

Wissenschaftliche Litteratur.

Die wissenschaftlichen Leistungen vermochten sich in Spanien
nicht so glänzend zu gestalten wie die Nationallitteratur.
Insbesondere konnte sich in den philosophischen Wissenschaften ein
freier, selbständiger Geist nie entwickeln, weil geistiger und
weltlicher Despotismus höchstens ein scholastisches Wissen im
Dienste der positiven Theologie und Jurisprudenz duldete. Die
Philosophie ist fast bis auf die neuesten Zeiten auf der
niedrigsten Stufe, der scholastisch-empirischen, stehen geblieben;
nur Dialektik, Logik und mittelalterlicher Aristotelismus wurden
etwas kultiviert, da diese Disziplinen den Theologen als Waffe zur
Verteidigung ihrer dogmatischen Subtilitäten dienen
mußten. Erst im 19. Jahrh. hat auch Spanien einen wirklichen
Philosophen hervorgebracht, Jayme Balmes (gest. 1848), der
schöne Darstellungsgabe mit metaphysischem Tiefsinn verband,
im wesentlichen aber ebenfalls noch auf scholastischem Boden stand.
Eine rege Thätigkeit entfaltete Spanien in den letzten
Jahrzehnten in der Aneignung philosophischer Meisterwerke des
Auslandes durch Übertragung und Bearbeitung; so
übersetzte M. de la Ravilla den Cartesius und Kant, Patricio
de Azcarate den Leibniz, und Sans del Rio verpflanzte die
Krausesche Philosophie nach Spanien, die daselbst zahlreiche
Anhänger fand. Auch Hegel ist viel bearbeitet worden, seitdem
Castelar für ihn in Spanien Boden geschaffen. Von
philosophischen Schriftstellern der Neuzeit sind sonst zu nennen:
Lopez Muños, der Lehrbücher über Psychologie,
Moralphilosophie und Logik schrieb; Mariano Perez Olmedo, Eduardo
A. de Bessón ("La lógica en cuadros sinopticos"),
Giner de los Rios u. a. - Die wissenschaftliche Theologie blieb
infolge der Unbekanntschaft mit philosophischer Spekulation starrer
Dogmatismus im theoretischen, Kasuistik und Askese im praktischen
Teil. Das ganze Mittelalter hindurch galt in der Theologie die
scholastische Weisheit des Isidorus Hispalensis als erste
einheimische Autorität. Im 15. und 16. Jahrh. machten zwar die
Kardinäle Torquemada, der Großinquisitor, und Jimenez,
der Regent, Miene, das Bibelstudium zu fördern, und sogar
Philipp II. unterstützte die von einem Spanier, Arias
Montanus, in Angriff genommene Antwerpener Polyglotte. Aber im
grellen Kontrast zu dieser wenn auch vornehmlich des litterarischen
Ruhms wegen entwickelten, doch immerhin verdienstlichen
Thätigkeit steht es, wenn der Versuch, die Bibel dem Volk
selbst zugänglich zu machen, sogar an einem so
strenggläubigen Priester wie Luis de Leon durch die
Inquisition mit Kerker bestraft ward. Nur in der mystischen Askese
und in der Homiletik hat die gläubige Begeisterung der Spanier
Ausgezeichnetes geleistet. Hierher gehören unter andern die
homiletischen Schriften des Antonio Guevara (gest. 1545) und Luis
de Granada (gest. 1588) sowie die mystisch-asketischen des
Karmelitermönchs Juan de la Cruz (gest. 1591) und der heil.
Teresa de Jesus (gest. 1582). Erst in den neuern Zeiten durften die
trefflichen Bibelübersetzungen von Torres Amat, von Felipe
Scio de San Miguel und Gonzalez Carvajal an die Öffentlichkeit
treten und in einzelnen kirchenhistorischen und kirchenrechtlichen
Abhandlungen tolerantere Ansichten verbreitet werden, wie in den
Schriften von I. L. Villenueva, Blanco White (Leucado Doblado), I.
Romo u. a. Sogar eine "Historia de los protestantes etc." (Cad.
1851; deutsch, Frankf. 1866), von Adolfo de Castro verfaßt,
wagte sich ans Licht, der sich neuerdings eine "Historia de los
heterodoxos españoles" von Menendez Pelayo (1880 ff.)
anschloß. Dagegen veröffentlichte Orti y Lara eine
Verherrlichung der Inquisition ("La inquisicion"). Auf
theologisch-philosophischem Gebiet erlangten neuerdings der Bischof
von Cordova, Ceferino Gonzalez, und der Erzbischof von Valencia, A.
Monescillo, bedeutenden Ruf.

Auch im Fach der Rechts- und Staatswissenschaften ermangelte es
an einer philosophischen Grundlage und an Freiheit der Diskussion.
An Gesetzsammlungen und gesetzgeberischer Thätigkeit war in
Spanien nie Mangel. Die ältesten Rechtsbücher, wie das
"Fuero Juzgo" (Madr. 1815), reichen bis in die Zeit der
Gotenherrschaft zurück; dann sind besonders des Königs
Alfons X., des Weisen, legislatorische Arbeiten zu nennen: die
"Leyes de las siete partidas" und das "Fuero real" (hrsg. Von der
Akademie der Geschichte, das. 1847; neuerdings kommentiert von
Jimenez Torres, das. 1877). Eine Sammlung aller spanischen
Gesetzbücher mit den Kommentaren der berühmtesten
Rechtsgelehrten erschien unter dem Titel: "Los codigos
españoles concordados y anotados" (Madr. 1847, 12 Bde.); die
"Fueros" (Munizipalgesetze) begann Munoz zu sammeln (das. 1847).
Wertvolle Arbeiten über die spanische Rechtsgeschichte
lieferten Montesa und Manrique, auch Benvenido Oliver, der speziell
das katalonische Recht behandelte, während Soler und Rico y
Amat ihre Aufmerksamkeit der Geschichte des öffentlichen
Lebens zuwendeten. Selbst die Rechtsphilosophie fand Bearbeiter in
Donoso Cortes und Alcalá-Galiano sowie neuerdings in
Clemente Fernandez

97

Spanische Litteratur (Geschichte, Geographie).

Elias und F. Giner, die freiern Ansichten Bahn brachen. Eine
Philosophie des Familienrechts und Geschichte der Familie schrieb
Manuel Alonso Martinez. In ironischem Gegensatz zu dem von jeher in
Spanien herrschenden schlechten Staatshaushalt steht die seit der
Mitte des 18. Jahrh. mit Vorliebe betriebene theoretische
Bearbeitung der Nationalökonomie; bereits zu Anfang des 19.
Jahrh. konnte Semper die Herausgabe einer "Biblioteca
española economico-politica" unternehmen. Außer den im
18. und zu Anfang des 19. Jahrh. berühmt gewordenen
Schriftstellern Campomanes, Jovellanos, Cabarrus, wovon die beiden
letztern klassisches Ansehen erhalten haben, haben sich später
aus diesem Gebiet besonders Canga-Arguelles (gest. 1843) und Florez
Estrada (gest. 1853; "Curso de economia politica") ausgezeichnet.
Als hervorragende Arbeiten über Fragen des öffentlichen
Wohls werden die einer Frau, Arenal de Garcia Carrasco (in den
"Publicaciones" der königlichen Akademie), gerühmt.

Besonders fleißig ist von den Spaniern das Gebiet der
Geschichte bearbeitet worden. Von den alten Chroniken, zu denen man
sich seit Alfons X. der Landessprache bediente, und den
übrigen Geschichtswerken der frühern Zeit, in welchen
sich mit der stilistischen Vervollkommnung allmählich auch der
Sinn für pragmatische Auffassung entwickelte, wurden die
wichtigsten schon oben bei der Nationallitteratur erwähnt. Im
18. Jahrh. zeichneten sich der Marques de San Felipe (gest. 1726),
der eine Geschichte des spanischen Erbfolgekriegs schrieb, Henrique
Florez (gest. 1773; "España sagrada"), Juan Bautista
Muñoz (gest. 1799) durch seine Geschichte der Entdeckung und
Eroberung Amerikas ("Historia de nuovo mundo") und Juan Franc.
Masdeu (gest. 1817; "Historia critica de España") aus. Im
19. Jahrh. glänzten zunächst Juan Antonio Conde (gest.
1820), Verfasser der berühmten "Historia de la dominacion de
los Arabes en España", und Manuel José Quintana
(gest. 1857) durch seine "Vidas de Españoles celebres",
während der vielverfolgte Verfasser der Geschichte der
spanischen Inquisition, Llorente (gest. 1823), sein Werk im Ausland
und in französischer Sprache schreiben mußte. Besonderes
Lob verdient die Thätigkeit der königlichen Akademie der
Geschichte, die außer ihren "Memorias" zahlreiche
Quellenschriften herausgab, an die sich dann andre
Urkundensammlungen, namentlich die von Navarrete, Salva und
Barranda begonnene, von Fuensanta del Valle, J. Sancho Rayon und
Fr. de Zabalburu fortgeführte "Coleccion de documentos
ineditos para la historia de España" (bis 1888: 91 Bde.),
reihten. Am meisten wurde auch später die vaterländische
Geschichte bearbeitet, so namentlich von Modesto Lafuente (gest.
1866), dessen "Historia general de España" alle frühern
derartigen Werke übertrifft, von Zamorro y Caballero, Alf.
Espinosa, Alfaro, Rico y Amat, Antonio Cavanilles (gest. 1864),
dessen vortreffliche "Historia de España" leider unvollendet
blieb, u.a. An diese Werke schließen sich die Arbeiten
über die spanische Kulturgeschichte von Tapia ("Historia de la
civilisacion de España"), Fernan Gonzalo Moron, Ramon de
Mesonero Romanos, Ad. de Castro (über die Kultur Spaniens im
17. Jahrh.) u. a. sowie zahlreiche, zum Teil vorzügliche
Provinzial- und Lokalgeschichten, z. B. die "Historia de
Cataluña" von Balaguer, die "Historia de la villa de Madrid"
von Sanguineti etc. Auch die Geschichte der ehemals spanischen
Kolonien hat neuerdings Bearbeiter gefunden, z. B. an Torrente ("La
revolucion moderna hispano-americana"), Mora ("Mexico y sus
revoluciones"), Pedro de Angelis u. a., wie denn auch eine
Urkundensammlung über die Entdeckung und Eroberung derselben
veröffentlicht wird. Von den zahlreichen sonstigen
Spezialwerken seien nur erwähnt: Maldonados klassische
"Historia de la guerra de independencia de España" (1833),
des Grafen von Toreno "Historia del levantamiento etc. de
España" (1835), Carvajals "La España de los Borbones"
(1843), San Miguels "Historia de Felipe II" (1844), Gomez Arteches
"Historia de la guerra civil" (1868 ff.), Barrantes "Guerras
piraticas de Filipinas", Amador de los Rios' "Historia de los
Judios de España", Castelars "La civilisacion en los cinco
primeros siglos del cristianismo" und "Historia del movimiento
republicano en Europa" u. a. Auf dem Gebiet der Literaturgeschichte
behauptet Amador de los Rios (gest. 1878) mit seiner
(unvollendeten) "Historia critica de la literatura española"
(1860 ff.) die erste Stelle, wenn sie auch den wissenschaftlichen
Anforderungen der Neuzeit nicht voll gerecht wird. Andre
Übersichtswerke sowie Einzelstudien, zum Teil sehr
verdienstlicher Art, liegen aus neuerer Zeit vor von J. Moratin
("Origenes de teatro español"), Lista y Aragon ("Ensayos
literarios criticos"), Gil y Zarate ("Manual de literatura"),
Martinez de la Rosa ("La poesia didactica, la tragedia y la comedia
española"), Fernandez Guerra y Orbe ("Juan Ruiz de
Alarcon"); von Abelino de Orihuela ("Poetas españoles y
americanos del siglo XIX"), Mila y Fontanals ("De la poesia heroico
popular castellana"), Balaguer ("Historia de los trovadores"),
Valera ("Historia de la literatura española"), Canalejas,
Revilla ("Principios de la literatura española"), Perojo,
Espino ("Ensayo critico-historico del teatro español"),
Villaamil y Castro, Valdes y Alas, Menendez Pelayo ("Historia de
las ideas esteticas en España") u. a. In Bezug auf
Kunstgeschichte und Archäologie sind in erster Linie die
Arbeiten von Cean-Bermudez und P. Madrazo hervorzuheben; daneben
verdienen Contreras, Manjarres, Hurtado Villaamil etc., nicht
minder die Veröffentlichungen der königlichen Akademie
der schönen Künste, das von Rada y Delgado herausgegebene
"Museo español de antiguedades", welches die
interessantesten Kunst- und archäologischen Gegenstände
der Halbinsel reproduziert, und die "Monumentos arquitectonicos de
España" ehrende Erwähnung. - Neben der Geschichte fand
auch die Geographie bei den Spaniern sorgfältige Pflege, wozu
sie beizeiten durch ihre Eroberungen in fremden Weltteilen und ihre
Entdeckungsreisen veranlaßt wurden. Aus früherer Zeit
ist vor allem die vortrefflich geschriebene "Historia de los
descubrimientos y viajes de los Españoles" von Navarrete
anzuführen; aus der neuern seien die Schriften von
Miñano, Fuster und die lexikalischen Arbeiten von Pascal
Madoz und Mariana y Sanz sowie die "Geografia de España" von
Mingote y Tarazona erwähnt. Anthropologische Schriften gab
neuerdings Fr. Maria Tubino heraus.

Eine umfassende Sammlung spanischer Schriftsteller von den
ältesten Zeiten bis auf unsre Tage ist die von Rivadeneyra
herausgegebene "Biblioteca de autores españoles" (Madr.
1846-80, 70 Bde.); eine Sammlung meist neuerer belletristischer
Werke enthält die "Coleccion de autores españoles" (bis
jetzt 48 Bde., Leipz. 1860-86). Für die Herausgabe alter und
seltener Werke sorgten vorzugsweise die "Coleccion de bibliofilos
españoles" (bis 1879: 19 Bde.) und die "Coleccion de libros
españoles

Meyers Konv.-Lexikon, 4. Aufl., XV. Bd.

7

98

Spanische Mark - Spanischer Erbfolgekrieg.

raros y curiosos" (bis jetzt 16 Bde., Madr. 1871-1884). Auf dem
Gebiet der Bibliographie sind, von ältern Werken abgesehen,
besonders Ferrer del Rios' "Galeria de la literatura
española" (Madr. 1845), Ovilo y Oteros' "Manual de biografia
y de bibliografia de los escritores del siglo XIX" (Par. 1859, 2
Bde.) und Gallardos (von Zarco del Valle und Rayon vermehrter)
"Ensavo de una biblioteca española de lihros raros" (Madr.
1863-66, 2 Bde.) sowie das "Diccionario bibliografico historico"
von Muñoz y Romero (das. 1865), das "Diccionario general de
bibliografia española" von D. Hidalgo (1864-79, 6 Bde.) und
das "Boletin de la libreria" (Madr., seit 1874) namhaft zu
machen.

Vgl. Bouterwek, Geschichte der spanischen Poesie und
Beredsamkeit (Götting. 1804; span. Ausgabe, Madr. 1828, 3
Bde.), fortgesetzt von Brinckmeier: "Die Nationallitteratur der
Spanier seit Anfang des 19. Jahrhunderts" (Götting. 1850);
Brinckmeier, Abriß einer dokumentierten Geschichte der
spanischen Nationallitteratur bis zu Anfang des 17. Jahrhunderts
(Leipz. 1844); Clarus, Darstellung der spanischen Litteratur im
Mittelalter (Mainz 1846, 2 Bde ); Ticknor, Geschichte der
schönen Litteratur in Spanien (3. Aufl., New York 1872, 3
Bde.; deutsch von Julius, Leipz. 1852, 2 Bde.; Supplementband von
Wolf, das. 1867); v. Schack, Geschichte der dramatischen Litteratur
und Kunst in Spanien (2. Ausg., Frankf. 1854, 3 Bde.;
Nachträge, das. 1855); Lemcke, Handbuch der spanischen
Litteratur (das. 1855-56, 3 Bde.); Wolf, Studien zur Geschichte der
spanischen und portugiesischen Nationallitteratur (Berl. 1859);
Dohm, Die spanische Nationallitteratur (das. 1867); Hubbard,
Histoire de la littérature contemporaine en Espagne (Par.
1875).

Spanische Mark, Land zwischen Frankreich und Spanien, das
jetzige Katalonien, Navarra und einen Teil von Aragonien, etwa bis
zum Ebro, umfassend, ward 778 von Karl d. Gr. erobert, 781 von den
Arabern wieder besetzt, 801-811 von Ludwig dem Frommen von neuem
erobert und dann durch Grafen verwaltet. Die Hauptstadt war
Barcelona.

Spanische Ohren, s. Hörmaschinen.

Spanische Leiter (friesische Reiter), etwa 4 m lange, 25
cm starke Balken (Leib), durch welche kreuzweise an beiden Seiten
zugespitzte Latten (Federn) gesteckt sind, die so nahe aneinander
stehen, daß niemand zwischen ihnen durchkriechen kann. Sie
wurden früher zum Sperren von Eingängen und Brücken
in Festungen verwendet.

Spanischer Erbfolgekrieg 1701-1714. Da mit dem Tode des
kinderlosen Königs Karl II. von Spanien das Erlöschen
des habsburgischen Stammes in diesem Land in Aussicht stand, so war
die spanische Thronfolge ein Gegenstand allgemeiner Aufmerksamkeit
für die europäische Diplomatie bereits seit der Mitte des
17. Jahrh. Von drei Seiten wurden Ansprüche auf die Nachfolge
erhoben. Ludwig XIV. von Frankreich, welcher bereits 1667 die
spanischen Niederlande als Erbe seiner Gemahlin in seinen Besitz zu
bringen versucht hatte, verlangte den Thron für seinen Enkel
Philipp von Anjou, den zweiten Sohn des Dauphin, weil er (Ludwig
XIV.) ein Sohn der spanischen Infantin Anna von Österreich,
Tochter Philipps III. von Spanien, und seine Gemahlin die
älteste Tochter des spanischen Königs Philipp IV. war;
Kaiser Leopold I., ebenfalls Enkel Philipps III. und Gemahl der
jüngern Tochter Philipps IV. Margareta-Theresia stützte
seine Ansprüche für seinen zweiten Sohn, Karl, teils auf
diese verwandtschaftlichen Beziehungen, welche denen Ludwigs XIV.
vorangingen, weil dessen Gemahlin ihren Erbansprüchen bei
ihrer Vermählung entsagt hatte, teils auf die
Erbansprüche des Hauses Habsburg auf die spanische Monarchie.
Außerdem wurden auch für den Kurprinzen Joseph Ferdinand
von Bayern, dessen Mutter Maria Antonia eine Tochter Leopolds I.
und seiner spanischen Gemahlin war, Ansprüche auf den
spanischen Thron erhoben, welche namentlich von den
Seemächten, an deren Spitze Wilhelm III. von Oranien stand,
begünstigt wurden, da diese die spanische Monarchie weder an
Frankreich noch an Österreich fallen, höchstens die
italienischen Nebenlande an sie verteilen wollten, wie auch ein
Teilungsvertrag vom 11. Okt. 1698 festsetzte. König Karl II.
ernannte den bayrischen Prinzen testamentarisch zu seinem
Nachfolger in allen damals spanischen Landen. Als letzterer 6.
Febr. 1699 plötzlich starb, schlossen Wilhelm III. und Ludwig
XIV. (2. März 1700) einen neuen Teilungsvertrag, wonach der
Erzherzog Karl die spanische Krone, Philipp von Anjou Neapel,
Sizilien, Guipuzcoa und Mailand erhalten sollte. Da aber Leopold I.
diesem Vertrag seine Zustimmung verweigerte, so hielt sich auch
Ludwig XIV. nicht an ihn gebunden. Am Hof zu Madrid wirkte der
kaiserliche Gesandte Graf Harrach für den Erzherzog Karl, der
französische Gesandte Marquis v. Harcourt für Philipp von
Anjou. Letzterer trug endlich den Sieg davon, denn Karl II. setzte
durch Testament vom 2. Okt. 1700 Philipp von Anjou zum Erben der
gesamten spanischen Monarchie ein. Nach Karls II. Tod (1. Nov.
1700) ergriff Philipp V. sofort Besitz von dem spanischen Thron und
zog schon 18. Febr. 1701 in Madrid ein. Anfangs erhob nur Kaiser
Leopold Protest hiergegen und traf Anstalt zum Beginn des Kriegs in
Italien. Erst als Ludwig XIV. deutlich seine Absicht kundgab, die
Erwerbung der spanischen Monarchie zur Erhöhung von
Frankreichs Machtstellung zu verwerten und den Schiffen der
Seemächte die Häfen Südamerikas und Westindiens zu
verschließen, als französische Truppen die
holländischen Besatzungstruppen aus den Festungen der
spanischen Niederlande vertrieben und der französische
König nach Jakobs II. Tode dessen Sohn als König Jakob
III. von Großbritannien anerkannte, kam 7. Sept. 1701
zwischen dem Kaiser und den Seemächten eine Tripelallianz zu
stande, welcher dann auch das Deutsche Reich und Portugal
beitraten. Zwar starb König Wilhelm III. 19. März 1702,
indes blieben sowohl England unter Königin Anna, welche von
Marlborough und seiner Gemahlin beeinflußt wurde, als die von
dem Ratspensionär Heinsius geleiteten Niederlande seiner
Politik getreu. Frankreich hatte nur die Kurfürsten von Bayern
und Köln sowie den Herzog Viktor Amadeus II. von Savoyen zu
Verbündeten.

Der Krieg wurde 1701 durch den kaiserlichen Feldherrn Prinz
Eugen von Savoyen in Italien eröffnet. Eugen schlug Catinat 9.
Juli bei Carpi, den an Catinats Stelle getretenen unfähigen
Villeroi 1. Sept. bei Chiari und nahm 1. Febr. 1702 den letztern
durch einen Überfall in Cremona gefangen. Dem neuen
französischen Feldherrn Vendôme gelang es indes, die
Fortschritte der Kaiserlichen in Italien zu hemmen, auch nachdem
1703 der Herzog von Savoyen auf die Seite des Kaisers
übergetreten war. Am Niederrhein behauptete inzwischen der
große englische Feldherr Marlborough die Oberhand gegen die
Franzosen: er eroberte die Festungen an der Maas und das ganze
Kurfürstentum Köln. Am obern Rhein hatte der Prinz Ludwig
von Baden, dem der Marschall Villars gegenüberstand, 9. Sept.
1702 Landau er-

99

Spanischer Erbfolgekrieg.

obert und Villars, der bei Hüningen über den Rhein
ging, zum Rückzug genötigt; aber 1703 eroberten die
Franzosen Breisach (7. Sept.) und Landau (17.Nov.); ferner
vereinigte sich 12. Mai 1703 der Kurfürst von Bayern bei
Tuttlingen mit Villars, und beide drangen in Tirol ein. Zwar wurden
sie durch die Erhebung der Tiroler unter großem Verlust
wieder zurückgetrieben; aber da der ungeschickte
österreichische General Styrum sich 20. Sept. bei
Höchstädt schlagen ließ und 13. Dez. Augsburg sich
ergeben mußte, so endete der Feldzug für die
Verbündeten im ganzen nicht günstig. Landau und Breisach
gingen wieder an die Franzosen verloren. Auch fiel Anfang 1704
Nassau in die Hände des Kurfürsten, und der Kaiser, der
gleichzeitig einen Aufstand in Ungarn zu bekämpfen hatte, sah
sich schon in seinen Erblanden bedroht.

Da trat 1704 die entscheidende Wendung ein. Prinz Eugen, den der
Kaiser an die Spitze des Hofkriegsrats gestellt hatte, faßte
den Plan, durch einen kombinierten Angriff der beiden
verbündeten Heere die bayrisch-französische Macht zu
vernichten. Marlborough ging bereitwilligst auf diesen Plan ein und
zog in Eilmärschen vom Niederrhein nach Schwaben. Markgraf
Ludwig und er vereinigten ihre Truppen bei Ulm, nötigten durch
Wegnahme der Verschanzungen auf dem Schellenberg bei
Donauwörth (2. Juli) den Kurfürsten und den
französischen General Marsin zum Rückzug nach Augsburg,
und nachdem einerseits Tallard sich mit letzterm, anderseits Eugen
sich mit Marlborough vereinigt hatte (während der Markgraf von
Baden Ingolstadt belagerte), erlitt 13. Aug. 1704 das
französisch-bayrische Heer bei Höchstädt (Blenheim)
eine entscheidende Niederlage und verlor gegen 30,000 Mann an Toten
und Verwundeten; Tallard selbst und 15,000 Mann wurden gefangen.
Der Kurfürst mußte flüchten. Als Leopold I. 5. Mai
1705 starb, setzte sein Sohn Joseph I. den Kampf mit Energie fort.
Er beschwichtigte den ungarischen Aufstand, erwirkte die
Achtserklärung gegen die beiden wittelsbachischen
Kurfürsten und bemächtigte sich nach blutiger
Unterdrückung einer Volkserhebung der bayrischen Lande. Am 23.
Mai 1706 erfocht Marlborough bei Ramillies einen glänzenden
Sieg über die Franzosen unter Villeroi, besetzte Löwen,
Mecheln, Brüssel, Gent und Brügge und ließ
überall Karl III. als König ausrufen. Als infolge dieser
Niederlage Vendôme aus Italien nach den Niederlanden berufen
wurde, erhielt dadurch Eugen die Möglichkeit, von Verona aus
dem von den Franzosen belagerten Turin zu Hilfe zu eilen und nach
seiner Vereinigung mit dem Herzog von Savoyen den vereinigten
französischen Generalen Marsin, Herzog von Orléans und
La Feuillade 7. Sept. vor Turin eine gänzliche Niederlage
beizubringen, infolge deren die Franzosen gemäß der
sogen. Generalkapitulation vom 13. März 1707 ganz Italien
räumen mußten. Nur am Oberrhein gelang es Villars, nach
dem Tode des Markgrafen Ludwig (Januar 1707) die von den
Reichstruppen besetzten Stollhofener Linien zu durchbrechen und das
südwestliche Deutschland brandschatzend zu durchziehen. Selbst
in Spanien, wo die überwiegende Mehrheit der Nation dem
bourbonischen König Philipp V. anhing, gelang es dem
habsburgischen Prätendenten, vorübergehende Erfolge zu
erringen. Gleich im Anfang des Kriegs wurde von den Engländern
und Holländern eine im Hafen von Vigo liegende spanische
Flotte zerstört; 1703 trat König Dom Pedro II. von
Portugal dem großen Bündnis bei, und 1704 erschien
Erzherzog Karl in Spanien, während die Engländer (3. Aug.
1704) Gibraltar eroberten. Wirklich gelang es Karl, 1705 sich zum
Herrn von Valencia, Katalonien und Aragonien zu machen; 2. Juli
1706 wurde sogar Madrid von einem vereinigten
englisch-portugiesischen Heer unter Galloway und Las Minas besetzt;
allein da den Operationen der Verbündeten der Zusammenhang
fehlte, so waren diese Erfolge nicht von Dauer, Madrid ging bald
wieder verloren, und nach dem Sieg des Marschalls Berwick über
das englisch-portugiesische Heer bei Almanza (25. April 1707)
fielen auch die südlichen Provinzen in die Hände Philipps
V.

Obwohl die Verbündeten auch auf den übrigen
Kriegsschauplätzen 1707 keine großen Erfolge errangen,
machte sich in Frankreich die Erschöpfung der Hilssmittel
schon so sehr geltend, daß Ludwig XIV. den Seemächten
den Verzicht auf Spanien anbot und nur die italienischen Lande
für seinen Enkel beanspruchte. Indes noch war Marlboroughs
Einfluß in England maßgebend, überdies hofften die
Engländer, Spanien unter Karl III. zu ihrem
ausschließlichen Nutzen merkantil ausbeuten zu können.
Die Seemächte waren mit Österreich darüber
einverstanden, daß man nicht bloß aus dem Erwerb der
ganzen spanischen Monarchie für Österreich bestehen,
sondern auch die Lage benutzen müsse, um Frankreichs
Vorherrschaft für immer zu brechen. Der Erfolg schien dies
Vorhaben zu begünstigen. Ein Versuch, den ein starkes
französisches Heer unter dem Herzog von Burgund und
Vendôme 1708 unternahm, um die spanischen Niederlande
wiederzuerobern, wurde durch den Sieg Eugens und Marlboroughs bei
Oudenaarde (11. Juli) vereitelt und ganz Flandern und Brabant von
neuem unterworfen. Ludwig XIV. war jetzt sogar bereit, aus
Grundlage des völligen Verzichts auf Spanien über einen
Frieden zu verhandeln. Auch als die Verbündeten die
Rückgabe des Elsaß mit Straßburg, der
Freigrafschaft, der lothringischen Bistümer forderten, war der
französische Gesandte im Haag, Torcy, noch zu Unterhandlungen
bereit. Erst die Zumutung, seinen Enkel selbst durch
französische Truppen aus Spanien vertreiben zu helfen, wies
Ludwig XIV. mit Entschiedenheit zurück. Der Krieg in den
Niederlanden wurde wieder aufgenommen; die blutige Schlacht bei
Malplaquet (11. Sept. 1709) blieb zwar unentschieden, die
furchtbaren Verluste der Franzosen in derselben erschöpften
aber ihre Kräfte. Gleichzeitig siegte in Spanien der
österreichische General Starhemberg bei Almenara 27. Juli und
Saragossa 20. Aug., und Karl zog 28. Sept. in Madrid ein.

Da, als Frankreichs Niederlage unabwendbar schien, als der
Übermut der Verbündeten keine Grenzen mehr kannte, traten
unerwartete Ereignisse ein, welche einen Umschwung zu gunsten
Ludwigs XIV. zur Folge hatten. Am 10. Dez. 1710 errang
Vendôme einen glänzenden Sieg über Starhemberg bei
Villa Viciosa. Wichtiger war noch, daß in England das
Whigministerium durch ein Toryministerium verdrängt wurde,
welches den Frieden möglichst rasch herzustellen
wünschte, und daß 17. April 1711 Kaiser Joseph I. starb.
Da nun dessen Bruder, der Prätendent für Spanien, als
Karl VI. Kaiser wurde, so fürchteten die andern Mächte,
das Haus Habsburg möchte durch die Vereinigung
Österreichs mit Spanien zu mächtig werden. Zunächst
knüpften die Engländer mit Ludwig XIV. geheime
Unterhandlungen an. Am 8. Okt. 1711 wurden die Präliminarien
zu London unterzeichnet und trotz aller Gegenbemühungen des
Kaisers 29. Jan. 1712 der Friedenskongreß zu Utrecht
eröffnet. Marlborough wurde durch den Grafen Ormond, einen
eifrigen Jakobiten, ersetzt, und dieser gewährte dem
Prinzen

100

Spanischer Hopfen - Spanische Sprache.

Eugen nicht die nötige Unterstützung, so daß der
Marschall Villars bei Denain 27. Juli 1712 wieder einige Erfolge
über Eugen und die Holländer davontrug. Als Philipp V. 5.
Nov. 1712 auf die Erbfolge in Frankreich für sich und seine
Nachkommen feierlichst verzichtete und diese Urkunde von Ludwig
XIV. bestätigt, also eine Union Spaniens mit Frankreich
für die Zukunft verhindert wurde, schlossen England und bald
auch die Niederlande mit Frankreich Waffenstillstand, dem am 11.
April 1713 der förmliche Abschluß des Friedens zu
Utrecht folgte, dem auch Portugal, Savoyen und Preußen
beitraten; Kaiser und Reich weigerten sich, ihn anzuerkennen. Die
Bedingungen dieses Friedens waren folgende: Philipp V. erhält
Spanien mit den außereuropäischen Besitzungen, welches
aber nie mit Frankreich vereinigt werden darf; Frankreich erkennt
die Thronfolge in England an und tritt an dieses die
Hudsonbailänder, Neufundland und Neuschottland ab; von Spanien
erhält England Gibraltar und Menorca sowie beträchtliche
Handelsvorteile im spanischen Amerika, Preußen bekommt das
Oberquartier von Geldern und Neuchâtel mit Valengin, Savoyen
eine Anzahl Grenzfestungen und die Insel Sizilien, Holland die
sogen. Barrierefestungen (s. Barrieretraktat) und einen
günstigen Handelsvertrag. So von den Verbündeten
verlassen, konnten der Kaiser und Prinz Eugen nichts mehr
ausrichten, zumal die Reichsfürsten sich sehr saumselig und
unzuverlässig zeigten. Der Marschall Villars nahm 20. Aug.
1713 Landau, brandschatzte die Pfalz und Baden und eroberte 16.
Nov. Freiburg i. Br., worauf er Eugen Friedensunterhandlungen
anbot, welche auch 26. Nov. 1713 zu Rastatt eröffnet wurden.
Am 7. März 1714 wurde der Friede zwischen Frankreich und dem
Kaiser zu Rastatt abgeschlossen. Um auch das Deutsche Reich in den
Frieden aufzunehmen, fand ein Kongreß zu Baden im Aargau
statt, wo der Rastatter Friede mit wenigen Änderungen 7. Sept.
d. J. angenommen wurde. Hiernach bekam der Kaiser die spanischen
Niederlande, Neapel, Mailand, Mantua und Sardinien; Frankreich
behielt von seinen Eroberungen nur Landau; die Kurfürsten von
Bayern und Köln wurden in ihre Länder und Würden
wieder eingesetzt. Vergeblich verwendete sich der Kaiser für
die treuen Katalonier, welche sich Philipp V. nicht unterwerfen
wollten; seine Bemühungen waren fruchtlos, Barcelona wurde 11.
Sept. 1714 von dem Marschall von Berwick erobert, und die
Katalonier verloren ihre alten Vorrechte und ständischen
Freiheiten. Vgl. v. Noorden, Europäische Geschichte im 18.
Jahrhundert, 1. Teil: Der spanische Erbfolgekrieg (Düsseld.
1870-82, 3 Bde.); Lord Mahon, History of the war of the succession
in Spain (Lond. 1832); de Reynald, Louis XIV et Guillaume III.
Histoire des deux traités de partage et du testament de
Charles II. (das. 1883, 2 Bde.); Courcy, La coalition de 1701
contre la France (Par. 1886, 2 Bde.); Parnell. The war of
succession in Spain 1702-1711 (Lond. 1888); Arneth, Prinz Eugen von
Savoyen (Wien 1858, 3 Bde.); die Memoiren des Herzogs von
Marlborough (s. d. 1).

Spanischer Hopfen, s. Origanum.

Spanischer Kragen, s. Paraphimose.

Spanischer Pfeffer, s. Capsicum.

Spanischer Tritt, Reitkunst, s. Passage.

Spanische Spitzen, Spitzen aus Gold- und Silberdraht, mit
Perlen und bunter Seide untermischt.

Spanische Sprache. Die s. S. gehört zu den romanischen
Sprachen und ist demnach eine Tochtersprache des Lateinischen,
die aber von den verschiedenen Völkern, die im Lauf der
Jahrhunderte die Pyrenäische Halbinsel beherrschten, viele
Elemente in sich aufgenommen hat. Die Ureinwohner Spaniens, im
Norden die Kantabrer, im Süden die Iberer, vermischten sich
frühzeitig mit keltischen Stämmen, daher der Name
Keltiberer. Ihre nationale Eigentümlichkeit und Sprache gingen
in den römisch-germanischen Eroberungen und Einwanderungen
fast gänzlich unter, und nur an den Pyrenäen bewahrten
einige kantabrische Stämme ihre Sitte und Sprache vor
Vermischung mit fremden Elementen. Diese in den baskischen
Provinzen fortlebenden Überreste der alten spanischen
Volkssprache sind unter dem Namen der baskischen Sprache, von den
Einheimischen Escuara genannt, bekannt (s. Basken). In den
übrigen Teilen Spaniens bildete sich, wie in den andern
romanisierten Ländern, aus der Lingua latina rustica, der
römischen Volkssprache, die zugleich mit der römischen
Herrschaft in die Pyrenäische Halbinsel eindrang, eine
nationale Umgangs- und Volkssprache mit eigentümlichen
Provinzialismen, welche, als mit dem Verfall des römischen
Reichs und nach dem Einfall der germanischen Völker auch die
politische und litterarische Verbindung mit Rom sich lockerte, nach
und nach die allein übliche und allgemein verstandene wurde.
Die den Römern in der Herrschaft folgenden Westgoten nahmen
mit der römischen Sitte auch diese Sprache an und machten sie
so sehr zu ihrer eignen, daß sie nur die zur Bezeichnung der
ihnen eigentümlichen Staats- und Kriegsinstitutionen, Waffen
etc. nötigen Wörter aus ihrer Muttersprache beibehielten.
Diese also ganz aus römischen Elementen hervorgegangene und
nur mit einem germanischen Wörtervorrat bereicherte spanische
Volkssprache erhielt einen neuen Zusatz durch die Araber, mit denen
die spanischen Goten fast 800 Jahre um den Besitz des Landes
kämpften. Aber auch die Araber trugen nur zur Bereicherung des
Sprachstoffs, besonders in Bezug auf Industrie, Wissenschaften,
Handel etc., bei und modifizierten höchstens
einigermaßen die Aussprache, ohne den
organisch-etymologischen Bau der Sprache wesentlich zu
verändern. Die ältesten Spuren des Spanischen finden sich
in Isidorus' "Origines"; die ältesten Denkmäler aber
gehören der zweiten Hälfte des 12. Jahrh. an. Unter den
spanischen Dialekten ward der kastilische am frühsten zur
Schriftsprache ausgebildet, und wie die Kastilier den Kern der
Nation ausmachten, ihre Litteratur die volkstümlichste
Entwickelung nahm, so wurde auch ihre Mundart die herrschende und
endlich die fast ausschließliche Schriftsprache in Spanien,
so daß sie die eigentliche s. S. geworden ist. Dieselbe wird
gegenwärtig, außer in Spanien und den zugehörigen
Inseln, noch in den ehemals spanischen Ländern
Südamerikas, in Zentralamerika und Mexiko sowie zum Teil in
den spanischen Kolonien (Cuba, Manila etc.) gesprochen. Ihr
Alphabet ist das lateinische. Die Vokale lauten ganz wie im
Deutschen. Von den Konsonanten werden folgende eigentümlich
ausgesprochen: c (ß gelispelt), ch (tsch), g vor e und i (ch
rauh wie in Sprache), j (immer wie ch rauh), ll (lj), ñ
(nj), z (immer wie ß gelispelt). Wie die Italiener die zu
starke Aussprache der Römer milderten, so machten sie die
Spanier noch rauher. Sie vervielfältigten noch die
Aspirationen auf x, j, g, h und f. Der schon ziemlich stark
aspirierte Laut im Lateinischen verwandelt sich im Spanischen in
den noch stärker aspirierten Laut h (lat. facere, span. hacer,
machen); an die Stelle des mouillierten l tritt das

101

Spanisches Rohr - Spanishtown.

stark aspirierte j (lat. Filius, span. hijo, Sohn), pl ward
durch das mouillierte ll ersetzt (lat. planus, span. llano, eben),
und für ct wird immer ch genommen (lat. factus, dictus, span.
hecho, dicho, gemacht, gesagt). J ist, seitdem x nach der neuern
Orthographie (von 1815) seinen Kehllaut verloren hat, der
Hauptkehlkonsonant der spanischen Sprache geworden; man schreibt
jetzt allgemein Don Quijote, Mejico statt Don Quixote, Mexico.
Gesetzgeber für die s. S. ward die Grammatik der spanischen
Akademie (zuerst 1771). Neuere Hilfsmittel zur Erlernung derselben
sind für Deutsche die Grammatiken von Franceson (4. Aufl.,
Berl. 1855), Fuchs (das. 1837), Kotzenberg (2. Aufl., Brem. 1862),
Brasch (Hamb. 1860), Pajeken (2. Aufl., Brem. 1868), Lespada (2.
Aufl., Halle 1873), Montana (2. Aufl., Stuttg. 1875), Funck (8.
Aufl., Frankf. 1885), Schilling (2. Aufl., Leipz. 1884), Wiggers
(2. Aufl., das. 1884). Die vorzüglichsten
Wörterbücher lieferten: die spanische Akademie (Madr.
1726-39, 6 Bde.; hrsg. von V. Salvá, 12. Aufl., Par. 1885)
und Dominguez (6. Ausg., Madr. 1856, 2 Bde.); ein neues begann R.
Cuervo (das. 1887 ff., 6 Bde.). Für Deutsche sind zu
empfehlen: Franceson (12. Aufl., Leipz. 1885), Kotzenberg (Brem.
1875), Booch-Arkossy (6. Aufl., Leipz. 1887, 2 Bde.), Tollhausen
(das. 1886). Den Versuch eines etymologischen Wörterbuchs
machten Covarrubias (Madr. 1674), Cabrera (das. 1837), Monlau (2.
Aufl., das. 1882), R. Barcia (das. 1883, 5 Bde.) und L. Eguilaz
(Granada 1880). Wichtige Beiträge zur Etymologie enthält
Diez' "Etymologisches Wörterbuch der romanischen Sprachen" (4.
Aufl., Bonn 1878). Die historische Grammatik der spanischen Sprache
behandelt Diez' "Grammatik der romanischen Sprachen" (5. Aufl.,
Bonn 1882) und P. Försters "Spanische Sprachlehre" (Berl.
1880). Die Orthographie wurde von der Akademie in einem besondern
"Tratado" (zuletzt Madr. 1876) festgestellt.

Spanisches Rohr (Stuhlrohr, Rotang, Rattans), die
schlanken Stämme und Triebe mehrerer Arten der Palmengattung
Calamus (s. d.), werden in allen Wäldern des Indischen
Archipels, besonders auf Borneo, Sumatra und der Malaiischen
Halbinsel, gewonnen und, nachdem sie durch eine Kerbe in einem Baum
gezogen und dadurch von Oberhaut, Blättern und Stacheln
befreit worden, in Bündeln von 100 Stück in den Handel
gebracht. Die größte Verwendung findet das Spanische
Rohr in China und Japan, wo man es zu unzähligen
Gebrauchsgegenständen verarbeitet, auch als Tauwerk auf
Schiffen benutzt. Man unterscheidet wohl helleres, dünnes Rohr
als weibliches (Bindrotting) von dem stärkern, dunklern mit
enger stehenden Knoten als männlichem (Handrotting); letzteres
wird auch zu Spazierstöcken benutzt. Das sogen. gereinigte
Spanische Rohr ist durch Schaben oder durch Schleifen auf besondern
Maschinen von den Knoten befreit. In den europäischen
Hafenstädten verarbeitet man es durch Zerschneiden, Spalten,
Hobeln und Ziehen zu Stuhl- und Korsettrohr, Rieten für
Webstühle etc. Die dünnsten, schnurenförmigen
Streifen heißen Schnur- oder Putzrohr und werden in der
Putzmacherei benutzt. Stuhlrohr wird oft durch Schwefeln gebleicht.
Sehr viel Rohr wird für die Korbmacherei gefärbt,
lackiert und vergoldet. Abfälle dienen als Polster- und
Scheuermaterial. Durch besondere Bearbeitung gewinnt man aus
Spanischem Rohr ein Fischbeinsurrogat, das Wallosin, zu
Schirmstäben.

Spanische Wand, eine bewegliche Schutzwand, welche aus
einem hölzernen oder metallenen Gestell besteht, über
welches Zeug, Tapeten, Leder u. dgl. gespannt ist; findet als
Bettschirm, zur Scheidung von Räumen, als Schutzwand gegen
Wind u. dgl. Verwendung. Das Holz wird bisweilen mit Lack
überzogen und bunt bemalt oder vergoldet.

Spanische Weide, s. v. w. Ligustrum.

Spanische Weine, zum Teil vorzügliche Weine, welche
dem Burgunder, Roussillon und Languedoc vergleichbar sind und diese
selbst in mancher Hinsicht übertreffen; seit dem Altertum
berühmt, behaupteten sie im ganzen Mittelalter ihr
Übergewicht und besitzen es heute noch in verschiedenen
Ländern, wie in England und Nordamerika. Alle spanischen
Provinzen treiben Weinbau, doch sind die Produkte der
nördlichen kaum über ihre Grenzen hinaus bekannt. Im
allgemeinen leidet der spanische Weinbau durch die Indolenz und
Nachlässigkeit der Produzenten, und die gewöhnlichen
spanischen Weine stehen sehr tief unter der Erwartung, zu welcher
Klima und Lage berechtigen. Die südspanischen Weine
müssen für den Export, namentlich über See, mit
Spiritus versetzt werden, den man vielfach ebenfalls aus Most
bereitet. Die vorzüglichsten spanischen Weine sind
Likörweine, und unter diesen ist der berühmteste der
weiße Jereswein (Sherry), demselben schließen sich an:
die ebenbürtigen, sehr süßen Pajareteweine (von
denen der beste auch Malvasier heißt); der Malagawein (s.
d.), der berühmte Likörwein Tinto di Rota (Tintillo),
stark, mit vieler Wärme, sehr dunkel, süß und
tonisch wirkend; die Manzanillaweine mit starkem Geruch und
Geschmack nach Kamillen, von den Barros und Arenas zwischen Jeres
und San Lucar, der Montilla (der dem Amontillado-Sherry den Namen
gegeben hat), der Rancio von Peralta in Navarra, der Alicante (vino
generoso) aus Valencia, ein renommierter Magenwein, mit sehr
ausgesprochenem aromatischen Boukett, der bei uns als "echter
Malaga" meist arzneilich benutzt wird, der Pedro Ximenez von
Vittoria in Viscaya, der dunkel granatfarbige Grenacho vom Campo di
Carinena in Aragonien, der Muskat von San Lucar in Andalusien, der
Moscatel von Fuencaral in Neukastilien, der Malvasia von Pollentia
auf Mallorca, die Muskatweine von Borja in Aragonien und von Sitges
in Katalonien. Gewöhnliche markige Rotweine nach Art der
französischen liefert Spanien nur wenige von hervorragendem
Werte. Der beste ist der von Olivanza in Estremadura, der
Valdepeñas in Kastilien, der Manzanores aus der Mancha,
einer der leichtesten und angenehmsten spanischen Weine etc. Aus
dem nordöstlichen Spanien wird Ebro-Port vielfach für
echten Portwein verkauft; er ist aber rauher, minder
körperreich und geistig.

Spanische Wicke, Pflanze, s. Lathyrus.

Spanischfliegenpflaster, s. Kantharidenpflaster.

Spanischfliegensalbe, s. Kantharidensalbe.

Spanischgelb, s. v. w. Auripigment.

Spanischweiß, s. v. w. Wismutweiß.

Spanish stripes (spr. spännisch streips),
hellfarbige leichte Tuche aus Zephyrwolle, die in Deutschland
für den Export nach Asien fabriziert werden.

Spanishtown (spr. spännischtaun, Santiago de la
Vega), Hauptstadt der britisch-westind. Insel Jamaica in
fruchtbarer Alluvialebene, am Cobre und 8 km vom Hafen von Kingston
gelegen, mit (1880) 8000 Einw. Um den King's Square, in dessen
Mitte eine Statue Lord Rodneys steht, liegen das Ständehaus,
der Palast des Gouverneurs und die Regierungsgebäude, alle in
altkastilischem Stil. S. wurde 1534 von Diego Kolumbus
gegründet.

102

Spanner - Sparbutter.

Spanner (Geometridae, Phalaenidae), Familie aus der
Ordnung der Schmetterlinge, Insekten von mittlerer oder geringerer
Größe, mit schmächtigem, zartem Körper,
großen, breiten, meist matt und trübe gefärbten, in
der Ruhe flach ausgebreiteten Flügeln, borstenförmigen,
häufig gekämmten Fühlern, schwach entwickelter
Rollzunge und meist wenig hervortretenden Tastern, ruhen am Tag an
versteckten Orten und fliegen des Nachts. Die Raupen zeichnen sich
durch den eigentümlichen spannenmessenden Gang aus, wie ihn
der Mangel der vordern Bauchfußpaare bedingt. Sie bilden beim
Gehen eine Schleife nach oben und ruhen auch oft in dieser
Stellung, oder indem sie sich nur mit den Afterfüßen an
einem Zweig festhalten und ihren dünnen, glatten Körper
frei in die Luft erheben. Sie verpuppen sich in einem lockern
Gespinst über oder in der Erde, auch wie die Tagfalter oder
ohne Gespinst in der Erde. Man kennt gegen 1800 Arten aus allen
Weltteilen, von denen viele bei massenhaftem Auftreten
schädlich werden. Der große Frostspanner
(Blatträuber, Waldlindenspanner, Hibernia defoliaria L., s.
Tafel "Schmetterlinge II"), 4-4,5 cm breit, auf den
weißgelben Vorderflügeln mit zwei sattbraunen Binden und
rotgelben Flecken, zuweilen ganz rotgelb, auf den
Hinterflügeln weißlich, schwärzlich bestäubt,
fliegt im Oktober und November, vorherrschend im mittlern und
südöstlichen Deutschland. Das ungeflügelte,
ockergelbe, schwarz gefleckte Weibchen steigt am Stamm empor, wird
hier befruchtet und legt 400 Eier einzeln oder in kleinen Gruppen
an Knospen von Obstbäumen, Buchen, Eichen, Birken, welche die
lichtgelbe Raupe mit rotbraunem Rückenstreif und Kopf
während ihrer Entfaltung ausfrißt. Sie verpuppt sich im
Juli in einer mit wenigen Seidenfäden ausgekleideten
Erdhöhle. Eine zweite gelbe Art (H. aurantiaria L., s. Tafel
"Schmetterlinge II") fliegt gleichzeitig. Der kleine Frostspanner
(Blütenwickler, Obst-, Winterspanner, Reifmotte, Larentia
[Cheimatobia, Acidalia] brumata L., s. Tafel "Schmetterlinge II"),
2-2,4 cm breit, auf den Vorderflügeln licht graugelb, fein
gewässert und mit dunklern Wellenlinien gezeichnet, auf den
Hinterflügeln weißlichgelb mit schwarzen
Randpünktchen, fliegt im November und Dezember. Das graue
Weibchen, das zum Fliegen untaugliche Stümpfe mit dunkler
Querbinde besitzt, legt seine Eier an die Knospen von
Obstbäumen, Eichen, Buchen und andern Laubbäumen, auch an
Rosen; die gelblichgrüne Raupe, mit zwei weißen
Rückenlinien und hellbraunem Kopf, erscheint im ersten
Frühjahr, bespinnt die Knospen, welche sie ausfrißt, und
ist der gefährlichste Feind für unsre Obstbäume. Sie
verpuppt sich im Juni in einem losen Kokon flach unter der
Erdoberfläche. Als Gegenmittel benutzt man fußtiefes
Umgraben des Bodens um die Baumstämme, Anlegen von
Papierringen um den Stamm, welche mit Teer oder besser mit dem
sogen. Brumataleim bestrichen sind, gut anschließen und von
Oktober bis Dezember klebrig erhalten werden müssen, um das am
Stamm aufsteigende Weibchen zu fangen. Der Kiefernspanner
(Föhrenspanner, Spanner, Fidonia piniaria L., s. Tafel
"Schmetterlinge II"), 3,5 cm breit, mit schwarzbraunen
Flügeln, die beim Männchen ein hellgelbes oder
weißliches, beim Weibchen ein hoch rotgelbes Mittelfeld
besitzen, fliegt im Mai und Juni im Kiefernwald und legt seine Eier
besonders im Stangenholz an die Nadeln. Die gelblichgrüne
Raupe, mit weißem Mittelstrich, dunkeln Seitenstreifen und
gelben Streifen über den Füßen, erscheint im Juli,
frißt den Stumpf der zur Hälfte abgebissennen Nadeln und
verpuppt sich im Oktober unter Moos und Streu am Fuß des
Baums. Als Gegenmittel ist nur das Aufsuchen der Puppen
erfolgreich. Der Stachelbeerspanner (Harlekin, Zerene grossulariata
L.), 4 cm breit, mit goldgelbem, schwarzfleckigem Leib,
weißen, schwarz gefleckten Flügeln, von denen die
vordern an der Wurzel gelb sind und zwischen zwei Punktreihen eine
goldgelbe Mittelbinde besitzen; er fliegt im Juli und August, das
Weibchen legt die Eier in kleinen Gruppen an die Blätter von
Stachel- und Johannisbeersträuchern, Pflaumen,
Aprikosenbäumen, Weiden, Kreuzdorn. Die oberseits weiße,
schwarz gefleckte, unterseits dottergelbe Raupe erscheint im
September, überwintert unter Laub, frißt im
nächsten Jahr bis Juni und verpuppt sich unter einigen
Fäden an einem Blatt oder Zweig. Der Birkenspanner (Amphidasys
betularia L., s. Tafel "Schmetterlinge II"), 5 cm breit,
milchweiß, schwarz gesprenkelt, findet sich überall in
Europa, seine einem dürren Zweig ähnliche Raupe lebt auf
Birken, Ebereschen und andern Laubhölzern, zieht aber die
Eiche vor und verpuppt sich im September oder Oktober in der Erde.
Der Schmetterling fliegt im Mai und Juni. Vgl. Guenée,
Species général des Lépidoptères, Bd. 9
u. 10 (Par. 1857).

Spannkraft, s. Dampf und Gase.

Spanntag, die Leistung eines Gespanns Zugtiere in einem
Arbeitstag; z. B. 1 Hektar wurde gepflügt in zwei Spanntagen
und zwei Knechtstagen heißt: die Fertigung der Arbeit
erforderte die Thätigkeit zweier Gespanne und zweier
Knechte.

Spannung, der Zustand eines elastischen Körpers, in
welchem seine Teilchen durch eine von außen wirkende Kraft
aus ihrer ursprünglichen Lage gebracht sind und in dieselbe
zurückkehren, sobald die Kraft aufhört zu wirken (s.
Elastizität), daher das Kraftmaß, mit welchem eiserne
Konstruktionsteile auf Druck oder Zug in Anspruch genommen werden.
Elektrische S., s. Elektrizität; S. der Gase und Dämpfe
ist das Streben derselben nach Ausdehnung, wodurch sie auf die sie
umgebenden Körper einen Druck ausüben (s. Gase und
Dampf).

Spannnngsenergie, s. Kraft, S. 133.

Spannungsgesetz, Voltasches, s. Galvanismus, S. 877.

Spannungsirresein, s. Katatonie.

Spannungskoeffizient, s. Ausdehnung, S. 111.

Spannungsreihe, s. Elektrische S.

Spannweite (Spannung, Sprengung), die Entfernung der
Widerlager eines Gewölbes von einander, auch die Tragweite der
Balkendecken oder die lichte Tiefe eines Raums (Zimmertiefe).

Spanten, die Rippen eines Schiffs (s. d., S. 455).

Sparadrap (franz., spr. -drá), s.
Bleipflaster.

Sparagmit, s. Grauwacke.

Sparassis Fr. (Strunkschwamm), Pilzgattung aus der
Unterordnung der Hymenomyceten, mit fleischigem, vertikal
aufrechtem, strauchartig ästigem Fruchtkörper, dessen
Äste blattförmig zusammengedrückt und auf ihrer
ganzen glatten Oberfläche mit dem Hymenium überzogen
sind. S. crispa Fr. (echter Ziegenbart) besitzt einen in der Erde
verborgenen, dicken, fleischigen Stamm, welcher oben in zahlreiche
gelappte, gekräuselte Äste übergeht und daher einen
rundlich kopfförmigen Rasen bildet, wächst auf Sandboden
in Nadelwäldern im mittlern und nördlichen Europa und ist
sehr wohlschmeckend.

Sparbanken, s. Sparkassen.

Sparbutter, s. v. w. Kunstbutter, s. Butter, S. 697.

103

Spargel - Sparkassen

Spargel (Asparagus L.), Gattung aus der Familie der
Asparageen (Smilaceen), ausdauernde Kräuter od.
Halbsträucher mit sehr verzweigten, oft windenden Stengeln,
sehr kleinen, schuppenförmigen, fleischigen bis häutigen
Blättern u. in den Achseln derselben mit Büscheln
kleiner, meist nadelartiger, steriler, blattartiger Zweige,
kleinen, zwitterigen oder diözischen Blüten auf
gegliedertem Stiel und kugeliger, häufig nur einsamiger Beere.
Etwa 100 Arten in den warmen und gemäßigten Regionen,
die meisten am Kap. Der gemeine S. (A. officinalis L.) treibt aus
dem Rhizom fleischige, saftige, mit fleischigen Niederblättern
spiralig besetzte, weißliche oder blaßrötliche
Sprosse, die sich über der Erde in dem verzweigten,
grünen, 0,6-1,5 m hohen, glatten Stengel verlängern. Die
blattartigen Zweige sind nadelförmig, glatt, die Beeren
scharlachrot. Der S. wächst in Süd- und Mitteleuropa,
Algerien und Nordwestasien, besonders an Flußufern, und wird
in mehreren Varietäten als Gemüsepflanze kultiviert. Er
verlangt eine warme Lage und einen lockern, sandigen Boden, der
nötigen Falls drainiert werden muß, da auch nur im
Winter bleibende Nässe verderblich wirkt. Zur Anlage der
Spargelbeete hebt man vor Eintritt des Winters die Erde 1,9 m breit
und einen Spatenstich tief aus, gräbt dann Rinder- oder
Hofmist und zwar doppelt soviel wie zu einer gewöhnlichen
starken Düngung unter und steckt in Entfernungen von 0,6-0,9 m
Pfähle, an welchen man von der ausgegrabenen oder von andrer
guter Erde Hügel macht, deren Spitze den obern Rand des Beets
erreichen kann. Auf diesen Hügeln breitet man die ein- bis
zweijährigen Spargelpflanzen (Klauen) sorgfältig aus und
bedeckt sie mit Erde. Vorteilhaft ist eine weitere Mistbedeckung
des ganzen Beets, welche nur die Köpfe der Hügel
freiläßt, worauf man dann das Ganze so weit mit Erde
bedeckt, daß die Köpfe der Pflanzen etwa 3 cm tief zu
liegen kommen. Im Herbst schneidet man die Stengel 16 cm hoch ab,
lockert das Beet und bedeckt es 8-10 cm hoch mit altem Mist. Im
Frühjahr wird das Gröbere fortgenommen und der Rest mit
Erde mehrere Zentimeter hoch bedeckt. Im dritten Jahr erhöht
man die Beete mit fetter, sandiger Erde so stark, daß die
Pflanzen 16 cm tief liegen. Man kann jetzt anfangen, S. zu stechen;
doch ist es besser, nur einzelne Stengel und nur bis Anfang Juni
fortzunehmen. Die Beete geben dann 25 Jahre lang guten Ertrag; man
braucht sie nur im Frühjahr zu lockern und im Herbst stark mit
Mist, im Sommer mit Jauche, im Frühjahr mit Asche und Kali zu
düngen. Der S. enthält 2,26 Proz. eiweißartige
Körper, 0,31 Fett, 0,47 Zucker, 2,80 sonstige stickstofffreie
Substanzen, 1,54 Cellulose, 0,57 Asche, 92,04 Proz. Wasser; er
wirkt harntreibend, in größern Mengen genossen als
Aphrodisiakum und erzeugt wohl auch Blutharnen. Früher war die
Wurzel offizinell; die Samen hat man als Kaffeesurrogat verwertet.
Columella gedenkt in seinem Buch "De re rustica" auch des Spargels.
Andre Spargelarten hat man als Zierpflanzen benutzt; interessant
ist der blätterlose, dornige Asparagus horridus, in Spanien
und Griechenland. Vgl. Göschke, Die rationelle Spargelzucht
(3. Aufl., Berl. 1889); Burmester u. Bültemann, Spargelbau
(Braunschw. 1880); auch die Schriften von Brinckmeier (Ilmenau
1884) und Kremer (Stuttg. 1887).

Spargelerbse, s. Tetragonolobus.

Spargelfliege, s. Bohrfliege.

Spargelklee, s. v. w. Luzerne, s. Medicago; auch s. v. w.
Tetragonolobus.

Spargelkohl (Broccoli), s. Kohl.

Spargelstein, spargelgrüner Apatit (s. d.).

Spargilium (lat.), Spreng-, Weihwedel.

Spargiment (ital.), ausgestreutes Gerücht;
Umständlichkeit, sich sperrendes Zieren.

Sparherd, s. Kochherde, S. 906.

Spark, s. Spergula.

Sparkalk, s. Gips, S. 355.

Sparkarten, s. Sparkassen, S. 104.

Sparkassen (Sparbanken, engl. Saving banks, spr. ssehwing
bänks) sind Kreditanstalten, welche den Zweck haben, weniger
bemittelten Leuten die sichere Ansammlung und zinstragende Anlegung
kleiner erübrigter Geldsummen zu ermöglichen und
hierdurch den Spartrieb in weitern Kreisen des Volkes zu pflegen
und zu fördern. Dadurch, daß diese Kassen ihren Inhabern
grundsätzlich oder gesetzlich keinen Gewinn abwerfen sollen,
unterscheiden sich dieselben von andern ähnlich eingerichteten
Kreditanstalten. Solche Kassen sind (und zwar vorzugsweise von
Gemeinden als Gemeindeanstalten oder in der Art, daß die
Gemeinde die Bürgschaft für die Kasse übernahm und
die Verwaltung derselben unter die Aufsicht der
Gemeindebehörden stellte, später auch von
Privatgesellschaften und Fabrikanten) seit dem vorigen Jahrhundert
in großer Zahl ins Leben gerufen worden. Die erste wurde 1765
zu Leipzig als "Herzogliche Leihkasse" errichtet. Hierauf folgte
1778 eine von einer Privatgesellschaft in Hamburg gegründete
Anstalt, welcher zuerst der Name Sparkasse beigelegt wurde; ferner
die in Oldenburg 1786, Kiel 1796 sowie in Bern und Basel. Die erste
englische Sparkasse wurde 1798 in London von einer
Privatgesellschaft als Wohlthätigkeitsanstalt errichtet; in
Frankreich folgte Paris 1818, in Preußen Berlin in demselben
Jahr, in Österreich Wien 1819, in Schweden Stockholm 1821, in
Italien Venetien und die Lombardei 1822 und 1823, von welcher Zeit
ab die S. sich rasch in den europäischen Kulturländern
verbreiteten. Damit diese Anstalten ihren Zweck möglichst
vollständig erfüllen, und um zu verhüten, daß
dieselben nicht zu sehr von bemittelten Klassen benutzt werden, ist
eine obere Grenze für die jeweilig erfolgende einzelne
Einlage, dann auch eine solche für das Gesamtguthaben
festgesetzt, welche nicht überschritten werden darf. Der
geringste Betrag der Einlagen ist in Deutschland meist auf 1 Mk.
bemessen. Jeweilig nach Ablauf eines Jahrs werden die inzwischen
aufgewachsenen und nicht erhobenen Zinsen dem Kapital zugeschlagen.
Jeder Einleger erhält ein Sparkassenbuch, in welchem die
Einlagen fortlaufend vermerkt und erfolgende Rückzahlungen
abgeschrieben werden. Kleinere Summen werden sofort
zurückgezahlt, für größere dagegen ist eine
verschieden bemessene Kündigungsfrist angesetzt. Das
Gesamtguthaben wird gegen Rückgabe des Sparkassenbuchs
zurückgezahlt. Da S. viel dazu benutzt werden, um für
bestimmte Zwecke Summen anzusparen, so hat man auch Vorsorge
getroffen, daß Rückzahlungen nur zu bestimmten Zeiten
erfolgen, so bei den Mietsparbüchern am ortsüblichen
Mietzahlungstag. Kuntze (Plauen) empfiehlt zu dem Zweck die
Einführung von "gesperrten Sparkassenbüchern" mit festen
Rückzahlungsfristen. Um die Benutzung der S. auch für
solche zu erleichtern, welche nach andern Orten verziehen, wurde
die Bildung von Kommunalverbänden derart befürwortet,
daß jede Kasse die Einlagebücher andrer übernehmen
und weiterführen soll, indem die Einlagen Abziehender an die
Sparkasse des neuen Aufenthaltsortes überwiesen werden. Da
nach den meisten Statuten Aus-

104

Sparkassen.

zahlungen ohne Prüfung der Berechtigung des Inhabers
stattfinden, so ist zum Schutz gegen Verluste durch Diebstahl eine
sorgfältige Aufbewahrung der Sparkassenbücher geboten.
Als S. pflegt man auch solche Kassen zu bezeichnen, welche in
Wirklichkeit nur Einzahlungs- oder Markenverkaufsstellen sind.
Letztere dienen dem Zwecke, ganz kleine Summen anzusammeln, um
dieselben, wenn sie eine gewisse Höhe erreicht haben, an andre
Kreditanstalten oder sogen. Hauptsparkassen abzuführen, welche
werbende Anlegung und Verwaltung besorgen. Diese Verwaltung ist in
verschiedenen Ländern gesetzlich geregelt, so in Frankreich
l822 und 1835; in Preußen durch ein Regulativ von 1838,
welches dem Gedanken der Selbstverwaltung in weitem Maß
Rechnung trägt, jedoch mit der Maßgabe, daß ebenso
wie in Bayern, Baden, Sachsen etc. die Statuten der
öffentlichen, unter Staatsaufsicht zu stellenden S. der
staatlichen Genehmigung bedürfen; in England seit 1817, wo man
den Charakter der S. gesetzlich dadurch gewahrt hat, daß den
Leitern derselben (trustees) der Bezug einer Entschädigung
oder eines Gewinns untersagt wurde. Die deutschen S. legen die
ihnen anvertrauten Summen teils gegen Hypotheken auf
Grundstücke und Gebäude an, die Gemeindesparkassen
insbesondere gegen im Gemeindebezirk oder in dessen näherer
Umgebung bestellte Hypotheken, teils kaufen sie sichere
Wertpapiere, dann geben sie auch Darlehen gegen Wechsel und
Faustpfand, endlich auch bis zu einer bestimmten Summe gegen
Handschein und höhern Zins unter Gestellung eines Bürgen.
Die englischen S. kaufen meist Staatspapiere an. Die
französischen S. sind gesetzlich gehalten, die Einlagen bei
der staatlichen Caisse des dépôts et consignations im
Kontokorrentverhältnis zu hinterlegen; ihre Forderungen bilden
daher, soweit sie nicht in Bezugsrechte auf ewige Renten
umgewandelt werden, einen Teil der schwebenden Schuld des Staats.
Durch diese Zentralisierung des Sparkassenwesens ist zwar letzteres
außerordentlich vereinfacht; die einzelnen S. tragen mehr den
Charakter einfacher Zahlungs- und Rechnungsstellen. Dagegen
können durch die enge Beziehung zu den schwebenden Schulden,
den S., wie dies schon in Frankreich der Fall gewesen,
Verlegenheiten erwachsen. Überhaupt bedürfen die S.,
sobald sie nur gut verwaltet werden, weniger einen Rückhalt
durch wechselseitige Verbindung oder durch Gründung einer Art
Zentralsparkasse, weil bei denselben nicht wie bei Banken in
schlechten Zeiten die Rückforderungen anzuschwellen pflegen.
Die in einzelnen Ländern vorkommende Verbindung von S. mit
Pfandhäusern ist nicht zweckmäßig, weil in guten
Zeiten mehr Geld den S. zuströmt und die Pfandhäuser
keine Gelegenheit haben, dasselbe unterzubringen, während in
schlechten Zeiten der Geldbedarf der Pfandhäuser durch die S.
nicht gedeckt werden kann. Ihre Verwaltungskosten decken die S.
dadurch, daß sie einen niedrigern Zins geben, als sie
erhalten. Überschüsse werden zunächst zur Bildung
eines Reservefonds, dann für gemeinnützige Zwecke
(Altersprämien für treue Dienstboten etc.) verwandt. Bei
Gemeindesparkassen ist vielfach (so in Preußen, Baden) zu
derartigen Verwendungen staatliche Genehmigung erforderlich.

Schon 1798 tauchte in England der Gedanke auf, S. mit Schulen zu
verbinden; derselbe wurde 1834 an der Stadtschule zu Le Mans
verwirklicht. Dann bestanden schon Anfang dieses Jahrhunderts
eigentliche Schulsparkassen in Thüringen (Apolda) und am Harz
(Goslar). Seit 1866 wirkte Professor F. Laurent (s. d.) zu Gent in
unermüdlicher Weise für Einführung solcher Schul-
oder Jugendsparkassen. Den Erfolgen, welche er erzielte, ist es zu
verdanken, daß diese Kassen in Belgien, Frankreich, England
u. Italien, wo ihnen durch das Gesetz vom 27. Mai 1875 große
Vergünstigungen zugestanden wurden, dann in Österreich
und in einigen Teilen von Deutschland (besonders im Königreich
Sachsen, dann in Schleswig-Holstein) große Verbreitung
gefunden haben. Bei diesen Kassen sammelt der Lehrer die
Beiträge der Kinder, bis dieselben einen Betrag von der
Höhe erreicht haben, daß die Einlage in eine
öffentliche Sparkasse erfolgen kann. Nun kann, während
die Ersparnisse der einzelnen Kinder hierfür noch nicht
genügen, doch die Gesamtsumme zureichen und einstweilen
verzinslich angelegt werden. Der auf diesem Weg erzielte Gewinn
kann zur Deckung kleiner Verwaltungskosten, für
Prämiierung von Schülern oder auch zur Verteilung nach
Maßgabe der Einlagen verwandt werden. Durch die
Schulsparkassen soll der Trieb zum Sparen und zur
Selbstbeherrschung schon in der frühen Jugend gerade in den
Kreisen geweckt und genährt werden, für deren Lage diese
Tugenden von der höchsten Bedeutung sind. Dagegen sind die
Schulsparkassen besonders in deutschen Lehrerkreisen einem
großen Widerstand begegnet. Man machte gegen dieselben
geltend, daß gerade bei den untern Klassen den Kindern gar
keine Möglichkeit zum Sparen geboten sei, und daß diese
Anstalten die schlimmern Leidenschaften der Habsucht und des Neides
bereits bei den Kindern entflammten und großzögen.

Nach einer Mitteilung des Vereins für Jugendsparkassen gab
es in Deutschland 1881: 842 Kassen in 157 Städten und 548
Dörfern. Es waren an denselben beteiligt: 1250 Lehrer und
61,940 Schüler mit 640,000 Mk. Einlagen. Man zählte
in

Frankreich Kassen Bücher Einlagen

1877 8033 176040 2,98 Mill. Frank

1881 14372 302841 6,40 " "

1885 23222 488624 11,29 " "

Italien Lehrer Schüler Bücher Einlagen

1876 522 11935 7289 32049 Lire

1880 3240 40956 19056 174597 "

1885 3451 65062 376345 "

Ungarn Schulen Lehrer Schüler Einlagen

1880 141 222 7333 54647 Guld.

1882 354 565 19273 114734 "

1886 581 926 28256 113264 "

Vgl. Laurent, Conférence sur l'épargne (1866);
Wilhelmi, Die Schulsparkassen (Leipz. 1877); A. de Malarce, Die
Schulsparkasse (Berl. 1879); Elwenspöck, Die Jugendsparkasse
(Memel 1879); Senckel, Jugend- und Schulsparkassen (Frankf. a. O.
1882); Derselbe, Zur Sparkassenreform (1884).

Um in weitern Kreisen der Bevölkerung die Ansammlung von
ganz kleinen Beträgen zu ermöglichen, werden in
Deutschland seit 1880, damals angeregt durch Kaufmann Schwab in
Darmstadt, Pfennigsparkassen nach dem Vorbild der englischen Penny
saving banks gegründet. Es sind dies einfache Sammelstellen
für Beträge von 10 Pfennig und weniger, für welche,
wenn eine Summe von 1 Mk. erreicht ist, ein Sparkassenbuch von der
Hauptsparkasse ausgestellt wird. Die Ansammlung erfolgt unter
Verwendung von Sparmarken und Sparkarten oder Sparbüchern. Die
Marken, meist in gleicher Höhe, oft auch in verschiedenen
Wertstufen, werden gewöhnlich durch Vermittelung von
Ladengeschäften verkauft und auf den vorbezeichneten Stellen
der Sparkarten aufgeklebt. Sobald letztere ausgefüllt sind,
werden dieselben an bestimmten Stellen oder

105

Sparkassenversicherung - Sparrenkopf.

auch nur bei der Hauptsparkasse gegen Quittung eingeliefert. Den
Zwecken besonderer Kreise dienen die Fabriksparkassen (s. d.);
dagegen sind für die allgemeinste Verbreitung bestimmt die
seit 1861 in mehreren Ländern eingeführten Postsparkassen
(s. d.). Es wurden gezählt an S. (ohne Postsparkassen):

Einleger Einlagen Auf ein Buch

Mill. Mk. Mark

Großbritannien und Irland (1885) .... - 927 -

Italien (1885) .... 1189167 764 642

Österreich (1886) ... 2018695 1792 887

Frankreich (1885) ... 4926391 1770 359

Schweiz (1886) .... 745335 411 495

Es war in

die Zahl das Guthaben durchschnittlich

der Einleger der Einleger auf ein Buch

(Konten) Mark Mark

Preußen 1874 2061199 987237180 478

" 1885 4209453 2260933912 537

Bayern 1874 299277 70253440 235

" 1885 464545 130859355 282

Sachsen 1874 686733 232203831 338

" 1884 1199556 4076210 0 340

Baden 1874 141781 83297384 588

" 1884 215646 175727111 815

Hessen 1874 84491 40225356 476

" 1884 160745 90588725 564

Meiningen 1885 33525 18200000 543

Ein Einleger (Sparkassenbuch) kam in

Bayern (1885) auf 11,6 Einw. = auf 100 Einw. 8,6 Sparer

Baden (1884) " 7,1 " = " 100 " 13,5 "

Preußen (1886) " 6,4 " = " 100 " 14,8 "

Hessen (1884) " 5,9 " = " 100 " 16,8 "

Sachsen (1884) " 2,7 " = " 100 " 37,7 "

Auf den Kopf der Bevölkerung entfiel ein Einlagebetrag:
1885 in Bayern von 24,7 Mk., in Preußen von 79,8 Mk.,
1884 in Hessen von 94,7 Mk., in Baden von 109,7 Mk., in Sachsen von
128,0 Mk. Während im Königreich Sachsen auf 84 qkm eine
Sparkasse entfällt, gehören in Preußen 289, in
Bayern 273, in England 493, in Österreich 914 und in Italien
951 qkm dazu. Vgl. Hermann, Über S. (Münch. 1835); Vidal,
Des caisses d'épargne (Par. 1844); Konst. Schmidt und
Brämer, Das Sparkassenwesen in Deutschland (Berl. 1864);
Lewins, History of banks for savings in Great Britain and Ireland
(Lond.1866); "Verhandlungen des 14. volkswirtschaftlichen
Kongresses in Wien 1873"; Engel, Ein Reformprinzip für S. (in
der "Zeitschrift des Preußischen Statistischen Büreaus"
1868); "Statistique internationale des caisses d'épargne"
(bearbeitet von Bodio, Rom 1876); die Verhandlungen des Pariser
Kongresses für Wohlfahrtseinrichtungen (1878); "Beiträge
zur Statistik der S. im preußischen Staat" (Berl. 1876);
Selle, Die preußischen S. (Lüdenscheid 1879); Spittel,
Die deutschen S. (Gotha 1880); Kuntze, S. und Gemeindefinanzen
(Berl. 1882); Bahrt, Die Kontrolle und Hilfseinrichtungen bei S.
(2. Aufl., Leipz. 1882); Seedorff, Die Sparkassenbuchführung
(Hannov. 1887); Thiele, Die städtische Sparkasse zu Berlin in
ihrer Einrichtung (Berl. 1887). Seit 1876 erscheint in Wien als
Organ für internationales Sparkassenwesen die von C. Menzel
geleitete "Österreichisch-Ungarische Sparkassenzeitung".

Sparkassenversicherung, Bezeichnung der Geschäfte
einer als Nebenbranche von einigen
Lebensversicherungsgesellschaften eingeführten Art Sparkasse
(s. d.), welche gegen Leistung einer bestimmten Reihe von
Jahreseinzahlungen nach Ablauf festgesetzter Zeit ein bestimmtes
Kapital zu gewähren hat, und welcher alle Merkmale der
Versicherung fehlen, wenn nicht, wie das ausnahmsweise bei der
Einrichtung der Lebensversicherungsgesellschaft Friedrich Wilhelm
der Fall ist, ausbedungen wird, daß zwar das Kapital erst
nach Ablauf bestimmter Jahre ausgezahlt werde, die
Jahreseinzahlungen aber aufhören sollen, wenn der Versicherte
etwa vorher sterben würde. In diesem Falle liegt eine
Verbindung von Sparkasse mit der Versicherung vor (vgl.
Versicherung).

Sparks, Jared, nordamerikan. Geschichtschreiber, geb. 10.
Mai 1789 zu Willington im Staat Connecticut, war eine Zeitlang
Prediger einer Unitariergemeinde zu Boston, redigierte von 1823 bis
1830 die Vierteljahrsschrift "North American Review", ward 1839
Professor der Geschichte an der Harvard-Universität zu
Cambridge im Staat Massachusetts und war 1849-52 deren
Präsident; starb 14. März 1866 daselbst. Unter seinen
zahlreichen Schriften sind hervorzuheben: "Life of John Ledyard"
(Cambr. 1828; deutsch, Leipz. 1829); "Diplomatic correspondence of
the American revolution" (Boston 1829-31, 12 Bde.); "Life of
Governeur Morris" (das. 1832, 3 Bde.); "Life of Washington, with
diaries" (1839, 2 Bde.; deutsch von Raumer, Leipz. 1839); "Library
of American biography" (New York 1834-47, 25 Bde.) und
"Correspondence on the American revolution" (das. 1853, 4 Bde.).
Auch gab er die Werke G. Washingtons (New York 1834-38, 12 Bde.,
mit Biographie) und Benj. Franklins (1836-40, 10 Bde.) heraus und
führte dessen Selbstbiographie bis zu dessen Tod fort
(Sonderausg. 1844). Vgl. Mayer, Memoir of Jared S. (Baltimore
1867); Ellis, Memoir of J. S. (Cambr. 1869).

Sparmarken, s. Sparkassen, S.104, und Postsparkassen.

Sparmotor, s. Feuerluftmaschinen.

Sparnacum, früherer Name von Epernay (s. d.).

Sparprämie, s. Arbeitslohn, S. 759.

Sparr, altes märk. Adelsgeschlecht, das noch jetzt
in einem gräflichen Zweig in Pommern blüht; besonders im
17. Jahrh. war es zahlreich, und viele Offiziere in den Heeren
verschiedener Monarchen gingen aus ihm hervor. Bemerkenswert: Otto
Christoph, Freiherr von S., brandenburg. Generalfeldmarschall, geb.
1605 zu Prenden bei Bernau, trat 1626 in das kaiserliche Heer unter
Wallenstein, kämpfte von 1638 bis 1648 als Oberst eines
Regiments meist am Rhein, ward 1648 kurkölnischer
Generalfeldwachtmeister und nahm Lüttich ein. Er trat 1649 in
die Dienste des Kurfürsten Friedrich Wilhelm von Brandenburg,
dessen Heer, namentlich die Artillerie, er organisierte, entschied
30. Juli 1656 durch seinen Angriff auf die polnische Reiterei den
Sieg bei Warschau, ward 1657 Generalfeldmarschall, befehligte die
brandenburgischen Hilfstruppen in der Schlacht bei St. Gotthardt;
starb 9. Mai 1668. Er errichtete in der Marienkirche zu Berlin das
schöne Denkmal am Erbbegräbnis seiner Familie mit seinem
eignen knieenden Standbild. Im J. 1889 ward das 16.
preußische Infanterieregiment nach ihm benannt. Vgl. v.
Mörner, Märkische Kriegsobersten des 17. Jahrh. (Berl.
1861).

Sparren, s. Dachstuhl; in der Heraldik s.
Heroldsfiguren.

Sparrenkopf, das freie, meist profilierte Ende eines
Sparrens, s. Dachstuhl; in der antiken Baukunst die unter der
Hängeplatte des Gebälks befindlichen Kragsteine oder
Konsölchen.

106

Sparrm. - Sparta.

Sparrm., bei naturwissenschaftl. Namen Abkürzung
für A. Sparrmann, geb. 1747, Begleiter Cooks, gest. 1787 als
Professor in Upsala (Zoolog).

Sparta, im Altertum Hauptstadt der peloponnes. Landschaft
Lakonien, lag auf den letzten Ausläufern des Taygetos und
dicht am rechten Ufer des Eurotas, mit dem sich hier die
Flüßchen Önos und an der Südseite der Stadt
Knakion und Tiasa vereinigten, und bestand aus verschiedenen
weitläufigen, gartenreichen Quartieren, welche zusammen einen
Umfang von etwa 9 km hatten. Die Einwohnerzahl mag sich zur Zeit
der Blüte auf 40-50,000 belaufen haben. Früher hatte die
Stadt gar keine Mauern, da die Bürger ihr als solche dienen
sollten; erst der Tyrann Nabis legte eine Mauer an, die zwar bald
darauf von den Achäern zerstört, aber auf Befehl der
Römer wiederhergestellt und noch in byzantinischer Zeit
erneuert wurde. S. hatte auch keine eigentliche Akropolis, sondern
diesen Namen führte nur einer der Hügel der Stadt, auf
dessen Spitze neben andern der Tempel der Athene Chalkioikos stand.
Von den einzelnen Quartieren (Komen) wird Pitana im NO. als das
schönste genannt. Hier war die Agora mit den
Versammlungsgebäuden der Gerusia und der Ephoren, der von der
persischen Beute erbauten persischen Halle und dem großen,
mit weißem Marmor überkleideten Theater, von welchem
sich noch einige Überreste erhalten haben. Andre Plätze
im W. der Stadt, an der Straße nach Messene, waren der Dromos
mit 2 Gymnasien und der mit Platanen bepflanzte Platanistas, wo die
Jünglinge zu ringen pflegten. Die Stadt hatte außer den
angeführten noch zahlreiche andre Tempel und Monumente, welche
Pausanias nennt, deren Lage sich aber heute nicht mehr nachweisen
läßt. Überreste alter Bäder finden sich
nordwestlich und südöstlich vom Theater, Reste einer
alten Brücke über den Eurotas an der heutigen
Straße nach Argos und Tegea. Erst die Anlage der Stadt
Misthra (s. d.), westlich von S., veranlaßte ihre
Verödung. Die jetzige Stadt S. (s. Sparti), erst 1836
gegründet, nimmt den südlichen Teil des alten S. ein.

[Geschichte.] Als älteste Einwohner werden die Pelasger
genannt; frühzeitig gründeten die Phöniker
Niederlassungen an der Küste Lakoniens, um die dort
häufigen Purpurschnecken zu sammeln. Diesen folgten
kleinasiatische Griechen, Leleger genannt, und Einwanderer von
Norden her. Die durch die Einwanderungen vermehrte und
veränderte Bevölkerung wird in der ältesten
Überlieferung unter dem Namen "Achäer"
zusammengefaßt. Ihr sagenhaftes Herrschergeschlecht waren die
Tyndariden, dann die Atriden (der Atride Menelaos). Infolge der
Dorischen Wanderung (1104 v. Chr.) kam S. an die Dorier (s. d.).
Nach der gewöhnlichen Sage fiel Lakonien den beiden
Söhnen des Aristodemos, Eurysthenes und Prokles, zu. In
Wirklichkeit war die erste dorische Eroberung eine
unvollständige. Die Achäer behaupteten sich in einem
großen Teil Lakoniens; die Dorier setzten sich zunächst
bloß am rechten Ufer des Eurotas fest, wo sie als feste
Niederlassung S. gründeten. Von hier aus breiteten sie sich
allmählich über die übrigen Gemeinden aus und
vermischten sich mit den Achäern, deren ursprüngliche
Ebenbürtigkeit auch daraus sich ergibt, daß eins der
spartanischen Königsgeschlechter, die Agiaden, achäisch
war. Diese unfertigen Zustände stürzten den Staat in eine
Verwirrung, aus der ihn erst die Gesetzgebung des Lykurgos (s. d.),
welche freilich so, wie sie bestand, nicht auf einmal angeordnet,
sondern allmählich entstanden ist, herausriß. Dieser
stellte den innern Frieden her und begründete danach eine neue
Staatsordnung auf der Vorherrschaft und strengen Organisation der
dorischen Bevölkerung, der Spartiaten. Diese wurden in der
Mitte des Landes vereinigt und 4500 (später 9000) gleiche
Ackerlose unter sie verteilt, über welche sie weder durch Kauf
oder Verkauf, noch durch Schenkung oder Testament frei
verfügen durften. Sie waren in die drei Phylen der Hylleer,
Pamphyler und Dymanen, diese wieder in zehn Oben geteilt und an
Rang und Rechten einander gleich. Außer den Spartiaten gab es
noch zwei untergeordnete Klassen der Bevölkerung,
Periöken und Heloten. Die Periöken (Lakedämonier)
waren persönlich frei, aber ohne Anteil am Stimmrecht in der
Volksversammlung und an den Ehrenrechten, leisteten Zins an den
Staat und wurden mit den Spartiaten zur Verteidigung des
Vaterlandes aufgeboten. Die Heloten waren Leibeigne des Staats und
wurden hauptsächlich dazu verwandt, die Ländereien der
Spartiaten zu bebauen und letztere im Krieg als Leichtbewaffnete zu
begleiten. Zur Zeit der Blüte Spartas zählte man an
Einwohnern ungefähr 40,000 Spartiaten, 120,000 Periöken
und 200,000 Heloten. Die Verfassung war eine aristokratische. An
der Spitze des Staats standen die zwei Könige. Ihnen zur Seite
stand der Rat der Alten, die Gerusia, mit Einschluß der
beiden Könige, die aber nur je eine Stimme hatten, aus 30
Mitgliedern, den Ältesten der Oben, bestehend. Die
Volksversammlung (Agora) hatte nur die Anträge des Rats der
Alten (später auch der Ephoren) entweder anzunehmen oder zu
verwerfen, nicht aber selbst Anträge zu stellen. Die
Könige gelangten nach Erbrecht und Erstgeburt zur Regierung.
Durch Wohnung, Ländereien, ihnen zukommende Lieferungen von
Opfervieh und Beute etc. vor allen andern Bürgern
ausgezeichnet, waren sie Oberpriester, Feldherren und Richter. Aber
ihre Macht, in älterer Zeit nicht genau begrenzt, war
späterhin, namentlich nach dem Aufkommen der Ephoren (s. d.)
seit den Messenischen Kriegen, sehr beschränkt.
Möglichste Gleichheit der Bürger, kriegerische
Tüchtigkeit und ausschließliches Interesse derselben
für des Staats Macht und Ruhm hervorzubringen, war der Zweck
der Lykurgischen Gesetzgebung. Der Spartiate gehörte nicht
sich, sondern dem Staat an; daher war das Leben ein fast durchaus
öffentliches: Jagden, Leibesübungen, Teilnahme an den
Volksversammlungen, an Opfern und feierlichen Chören,
Zuschauen bei den gymnastischen Spielen der Jugend u. dgl.
füllten, wenn nicht Krieg war, die Zeit des Tags aus. Gewerbe
und Künste, Schiffahrt und Handel zu treiben, galt eines
Spartiaten für unwürdig. Bereicherung durch Handel war
durch das Gesetz, bloß eiserner Münzen sich zu bedienen,
ausgeschlossen. Auch die Erziehung war durchaus Sache des Staats,
öffentlich und gemeinschaftlich und bildete ein künstlich
gegliedertes System; ihr vorherrschender Zweck war körperliche
Kräftigung und Abhärtung, selbst bei der weiblichen
Jugend, und Gewöhnung an streng militärischen Gehorsam.
Durch Übung in der Kürze des Ausdrucks (Lakonismus)
gewann der junge Spartiate jene Intensität und Sammlung des
Geistes, jene gedrungene und kernige Persönlichkeit, die ihn
auszeichnete; durch Erlernung dorischer Nationallieder wurde
Begeisterung für das Vaterland geweckt. Damit nicht von
außen Gefährliches sich einschleiche, durfte kein
Spartaner ohne ausdrückliche Erlaubnis ins Ausland reisen;
Fremde wurden nur eingelassen, wenn sie mit den Behörden zu
verhandeln hatten, und durften nicht länger als nötig
verweilen. Der

107

Sparta (Geschichte).

Staat wachte über Einfachheit in dem Bau und der
Einrichtung der Häuser, über die Kleidung, über die
Zucht der Frauen, selbst über die Musik. Die Männer
(immer je 15) mußten sich, um jeden Luxus im Essen zu
verhindern, zu gemeinsamen einfachen Mahlzeiten (Pheiditien oder
Syssitien) vereinigen. Die Ehe war geboten, und es fand
öffentliche Anklage statt gegen die, welche gar nicht,
spät oder unpassend sich verehelichten. Eine kinderlose Ehe
wurde gar nicht als solche angesehen, sondern ihre Auflösung
vom Staat verlangt. Mißgestaltete und schwächliche
Kinder wurden, nachdem sie den Ältesten des Geschlechts
vorgezeigt worden waren, in den Schluchten des Taygetos ausgesetzt,
d. h. als Periökenkinder erzogen, während Kinder von
Periöken und Heloten, wenn sie spartiatische Erziehung
genossen und von einem Spartiaten adoptiert waren, mit Erlaubnis
der Könige in die Doriergemeinde aufgenommen werden konnten;
dieselben hießen Mothaken. Durch das Übergewicht der
dorischen Spartiaten wurde Lakonien erst zu einem dorischen Staat
gemacht. Das gesteigerte Stammesgefühl traf zusammen mit der
nur auf kriegerische Tüchtigkeit und Thatkraft gerichteten
Lebensordnung, um den Eroberungsgeist in den Spartanern zu erwecken
und zu nähren.

Der erneuerte Kampf mit den alten Einwohnern hatte die
völlige Unterwerfung derselben zur Folge. Durch
Grenzstreitigkeiten entstanden die Kriege mit Messenien (s. d.),
die mit der Unterjochung dieses Landes endigten. Langwierige Kriege
hatte S. mit Arkadien zu führen. Erst um 600 v. Chr. gewannen
die Spartaner die Oberhand und zwangen Tegea zur Anerkennung ihrer
Hegemonie, die sich damals bereits über den größten
Teil des Peloponnesos erstreckte. Die Olympischen Spiele waren das
gemeinschaftliche Fest der unter Spartas Oberhoheit vereinigten
Staaten. Mit Klugheit und Umsicht waren die Spartaner darauf
bedacht, durch Erhaltung der alten staatlichen Ordnungen in den
Nachbarländern, namentlich durch Bekämpfung der Tyrannis,
ihren politischen Einfluß zu befestigen, und wurden hierbei
von der delphischen Priesterschaft unterstützt. Beim Beginn
der Perserkriege scharte sich ganz Griechenland um die Spartaner,
welche den Oberbefehl führten, aber sich in denselben wenig
Ruhm erwarben; aus Eifersucht auf Athen nahm S. am Kampf bei
Marathon nicht teil, und nur gezwungen schlug es die Schlacht bei
Salamis; sein Glanzpunkt war die Aufopferung des Leonidas und
seiner Dreihundert bei den Thermopylen. Die Fortführung des
Kampfes in größerm Maßstab und die Gründung
eines großen hellenischen Gemeinwesens unter spartanischer
Hegemonie vertrug sich nicht mit der auf strenge Abgeschlossenheit
berechneten Verfassung Spartas. So überließ es, wenn
auch von Neid erfüllt, die Führung der Griechen im
Seekrieg den kühnern thatkräftigern Athenern, zumal es
von innern Erschütterungen heimgesucht wurde. Einen Aufstand
der Arkadier und der mit diesen verbündeten Argiver
dämpfte S. zwar glücklich; aber ein Aufstand der
Messenier (464-455) lähmte des Staats Kraft im Innern und
zwang ihn sogar, bei Athen Hilfe zu suchen. Als S. ein Hilfskorps,
welches Kimon von Athen 461 zuführte, schimpflich
zurückschickte, entstand offener Bruch zwischen beiden
Staaten. Um den Athenern im Norden ein Gegengewicht zu beschaffen,
stellte S. durch den Sieg bei Tanagra 457 Thebens Hegemonie in
Böotien her. Die Schlacht bei Önophyta vernichtete aber
diese wieder, und 450 ward unter dem Einfluß friedfertig
gesinnter Staatsmänner ein fünfjähriger
Waffenstillstand und 445 ein 30jähriger Friede zwischen Athen
und S. geschlossen, in welchem beide Staaten sich den Besitz ihrer
Hegemonie garantierten. Der tiefer liegende Gegensatz jedoch
zwischen dem ionischen und dem dorischen, dem demokratischen und
aristokratischen Element sowie der Neid der auf Athens Macht und
Blüte eifersüchtigen Verbündeten Spartas, namentlich
Korinths und Thebens, ließen es zu keiner dauernden
Versöhnung kommen, und im Peloponnesischen Krieg (431-404)
fand der schroffe Gegensatz seinen Ausdruck. S. ging aus demselben
als Sieger und scheinbar mächtiger hervor, als es je zuvor
gewesen war. Alle frühern Bundesgenossen Athens waren ihm
zugefallen; aber im Innern geschwächt und durch Beseitigung
weiser Gesetze der Grundlagen seiner Verfassung beraubt, verstand
es nicht, den gewonnenen Besitz mit Mäßigung und
Klugheit zu behaupten. Gewalt und Treulosigkeit waren die
Grundsätze der Politik eines Lysandros und Agesilaos.
Überall wurden unter Spartas bewaffnetem Schutz oligarchische
Verfassungen eingerichtet, die feindlichen Parteien mit blutiger
Gewalt unterdrückt. Ein Hauptziel der spartanischen Politik
war die Wiedergewinnung der kleinasiatischen Küste, welche im
Peloponnesischen Krieg den Persern preisgegeben worden war. Deshalb
unterstützten die Spartaner den jüngern Kyros gegen
Artaxerxes und sandten 399 Thimbron, dann Derkyllidas und zuletzt
Agesilaos mit Heeresmacht nach Kleinasien. Aber die glänzenden
Erfolge des letztern vermochten nicht, die Stellung Spartas im
Mutterland zu sichern. Auf Anstiften der Perser verbündeten
sich Athen, Theben, Korinth, Argos u. a. gegen S., und es entstand
395 der sogen. Korinthische Krieg (s. d.), den S. durch den mit
Persien vereinbarten Antalkidischen Frieden (387) beendete. Es gab
die kleinasiatischen Griechen den Barbaren preis und hoffte, durch
das Verbot aller Bünde zwischen griechischen Staaten seine
Herrschaft dauernd zu begründen. Es zwang Theben, seine
Städte freizugeben, Argos, seine Besatzung aus Korinth
zurückzuziehen, und schaltete im Peloponnes als
unumschränkter Herr. Die Besetzung der Kadmeia in Theben (382)
führte jedoch den Sturz von Spartas unwürdiger
Gewaltherrschaft herbei. Theben erkämpfte sich 379 seine
Freiheit und die Hegemonie über Böotien wieder. In dem
Kampf, den S. nunmehr gegen Athen und Theben unternahm, verlor es
an ersteres seine Herrschaft zur See, und die Schlacht bei Leuktra
(371) erschütterte auch seine Macht zu Lande für immer.
Epameinondas verwüstete 369 Lakonien, vernichtete seine
Hegemonie über den Peloponnes, machte Messenien
selbständig und brachte so S. an den Rand des Verderbens, aus
dem es auch der Tod des Epameinondas nicht erretten konnte.

Die von Lykurg gegebene Verfassung war im Lauf der Zeit
untergraben worden, und der Verkehr mit dem üppigen Persien
und dem asiatischen Griechenland hatte verderbend auf die
einheimische Sitte eingewirkt. S. wurde eine der reichsten
Städte Griechenlands. Infolge der immerwährenden Kriege
sank aber die Zahl der männlichen Bevölkerung, und zur
Zeit des Aristoteles stellte es nicht viel über 1000 Hopliten.
Wenn dieser Stand der Bevölkerung von selbst die
Vermögensgleichheit aufheben mußte, so wurde diese
Störung noch mehr gefördert durch das Gesetz des Ephoren
Epitadeus, welches durch Schenkung oder Testament frei über
das Ackerlos zu verfügen gestattete. Die Verfassung ging
allmählich in eine engherzige, selbstsüchtige Oligarchie
über. Im Innern krank und seiner Bundesgenossen beraubt,

108

Sparta, Herzog von - Spartieren.

konnte sich S. seit der Schlacht bei Leuktra nie wieder zu
seinem frühern Einfluß erheben. Alexander d. Gr.
versagten sie zwar die Heeresfolge, aber König Agis II. machte
330 einen fruchtlosen Versuch, die makedonische Herrschaft zu
stürzen. Die Spartaner mußten sogar, um sich gegen neue
Angriffe des Demetrios (296) und des Pyrrhos (272) zu
schützen, ihre Stadt stark befestigen. Die Spartiaten
würdigten sich zu Mietlingen des Auslandes herab. Zur Zeit des
Königs Agis III. war ihre Zahl auf 700 geschmolzen. Die
schwindende Volkszahl und die überhandnehmende Sitte der
Mitgiften machten das Mißverhältnis im Besitz immer
größer. Agis' III. (244-240) Versuch, die Lykurgische
Verfassung wiederherzustellen, scheiterte. Kleomenes III. begann
nach seinem ruhmreichen Kriege gegen die Achäer 226 seine
Reformen mit dem Sturz der Ephoren und der Verbannung der
oligarchischen Gegner. Ohne weiteres Hindernis wurden die Schulden
getilgt, die Bürgerschaft durch Aufnahme von Periöken auf
4000 gebracht, die Ländereien unter sie neu verteilt und die
Lykurgische Zucht wieder eingeführt. Auch die Hegemonie im
Peloponnes und in Griechenland wollte Kleomenes seinem Vaterland
wieder erkämpfen, und schon war er nach der Eroberung von
Argos nahe daran, an die Spitze des Achäischen Bundes zu
treten, als Antigonos Doson, von Aratos herbeigerufen, 221 in der
Schlacht bei Sellasia die Macht des kaum verjüngten Staats
brach. S. mußte sich an Antigonos ergeben, der sofort die
Reformen wieder aufhob und das Ephorat wiederherstellte. Der Staat
trat dem Achäischen Bund bei, behielt aber im übrigen
seine Unabhängigkeit. In dem Usurpator Machanidas (211-207)
erhielt S. seinen ersten Tyrannen; er hob das Ephorat auf, trat als
unumschränkter Herr auf und machte sich an der Spitze seiner
Söldnerscharen im Peloponnes furchtbar, doch fiel er schon 207
gegen Philopömen bei Mantineia. Die Regierung seines
Nachfolgers Nabis (206-192) war eine fast ununterbrochene Reihe von
Kriegen und ein Gewebe von verräterischer Politik. Nach der
Ermordung des Nabis durch die Ätolier (192) gewann
Philopömen S. wieder für den Achäischen Bund, aber
der alte Haß der Spartaner gegen die Achäer blieb. Als
S. 188 vom Bund abfiel und sich unter römischen Schutz
stellte, rückte Philopömen vor S., ließ die
Häupter der Empörung hinrichten, die Mauern
niederreißen und die fremden Söldner sowie die von den
Tyrannen unter die Bürger aufgenommenen Heloten entfernen. S.
mußte nun achäische Einrichtungen annehmen. Rom sah zu,
wie sich die Achäer und Spartaner gegenseitig durch ihre
Streitigkeiten entkräfteten, bis der geeignete Zeitpunkt zum
Eingreifen gekommen war. Nach der Vernichtung des Achäischen
Bundes und der Unterwerfung von ganz Griechenland (146) teilte S.
das ziemlich leidliche Los der übrigen griechischen Staaten;
ja, es soll den Spartanern von den Römern besondere Ehre zu
teil geworden sein: sie blieben frei und leisteten keine andern als
Freundschaftsdienste. Unter den Kaisern nach Augustus blieb den
Lakedämoniern kaum noch ein Schatten von Freiheit. Die
Lykurgischen Einrichtungen bestanden noch bis ins 5. Jahrh. fort;
erst das Christentum verdrängte die letzten Reste derselben.
Vgl. Manso, Sparta (Leipz. 1800-1805, 3 Tle.); O. Müller, Die
Dorier (2. Aufl., Bresl. 1844, 2 Bde.); Lachmann, Die spartanische
Staatsverfassung in ihrer Entwickelung und ihrem Verfall (das.
1836); Trieber, Forschungen zur spartanischen Verfassungsgeschichte
(Berl. 1871); Gilbert, Studien zur altspartanischen Geschichte
(Götting. 1872); Busolt, Die Lakedämonier und ihre
Bundesgenossen (Leipz. 1878, Bd. 1); E. v. Stern, Geschichte der
spartanischen und thebanischen Hegemonie (Dorp. 1884);
Fleischanderl, Die spartanische Verfassung bei Xenophon (Leipz.
1888).

Sparta, Herzog von, Titel des griech. Kronprinzen
Konstantin (geb. 2. Aug. 1868), des ältesten Sohns des
Königs Georg von Hellas.

Spartacus, Anstifter des Sklavenkriegs und Führer in
demselben, 73-71 v. Chr., Thraker von Geburt, früher ein
freier Mann, ward römischer Sklave und kam in die
Gladiatorenschule zu Capua. Er entfloh 73 aus dieser mit etwa 70
Genossen, brachte am Vesuv einem Legaten des Prätors P.
Varinius eine völlige Niederlage bei, schlug noch zwei andre
Legaten und dann auch den Prätor selbst, worauf durch den
allgemeinen Zulauf von Sklaven sich bald ein Heer von mehr als
100,000 Mann um ihn sammelte. Mit diesen trat er 72 den Marsch nach
Norden an, um sie über die Alpen nach ihrer Heimat, Gallien
und Thrakien, zurückzuführen. Ein Teil des Heers, der
sich unter Führung des Crixus von ihm trennte, wurde am Berge
Garganus in Apulien geschlagen; er selbst aber brachte den beiden
Konsuln des Jahrs, Gnäus Lentulus und L. Gellius, die ihm den
Weg verlegen wollten, schwere Niederlagen bei und schlug auch den
Prokonsul Gajus Cassius bei Mutina. Nun wurde er aber von seinem
Heer, in dem die Beutelust von neuem erwachte, genötigt,
wieder nach Süden umzuwenden. In Rom aber beauftragte man 71
den Prätor M. Licinius Crassus mit Führung des Kriegs.
Diesem gelang es, S. in der Südwestspitze von Italien
einzuschließen; er bahnte sich zwar durch seine Tapferkeit
den Weg durch die feindlichen Linien, aber nun wurde ein Teil des
Heers, der sich wiederum von ihm getrennt hatte, geschlagen und
völlig aufgerieben, und er selbst ward von seinen Leuten wider
seinen Willen zur Schlacht gezwungen, in der er unterlag und tapfer
kämpfend fiel; 60,000 Sklaven sollen darin getötet und
6000 Gefangene auf der Straße zwischen Capua und Rom
gekreuzigt worden sein. Pompejus, von Spanien zurückkehrend,
vertilgte den letzten Rest der Sklaven.

Spartel, Kap (Cabo Espartel, Râs Ischberdil),
Vorgebirge an der Küste Marokkos, am Westeingang der
Straße von Gibraltar, 314 m hoch, bildet die Nordwestspitze
von Afrika. Es ist das Cotes promontorium der Alten.

Sparten ("die Gesäeten"), im griech. Mythus die aus
den von Kadmos gesäeten Drachenzähnen entsprossenen
geharnischten Männer und ihre Nachkommen (s. Kadmos); auch
dichterischer Name für die gesamten Thebaner.

Sparterie (franz.), Flechtwerk, s. Geflechte.

Sparti (Neu-Sparta), Hauptstadt des griech. Nomos
Lakonia, 1836 auf der Stelle von Alt-Sparta durch
Übersiedelung der Bewohner von Misthra (s. d.) gegründet,
Sitz eines Erzbischofs, mit einem Gymnasium, kleinem
Altertümermuseum, regelmäßigen Straßen und
gleichförmigen, dem Klima wenig angemessenen, meist
zerstreuten Häusern, schön, aber ungesund gelegen. S.
hatte 1879 mit dem Nachbardorf Psychiko zusammen 3595 Einw.

Spartianus, Älius, einer der Scriptores historiae
Augustae (s. d.), lebte gegen Ende des 3. Jahrh. n. Chr. unter
Diokletian, Verfasser der Biographien der Kaiser Hadrian, Verus,
Julian, Septimius Severus, Pescennius Niger, Caracalla und
Geta.

Spartiaten, die dorischen Vollbürger in Sparta.

Spartieren (ital.), das Umschreiben der in Stim-

109

Spartium - Spateisenstein.

men gedruckten oder geschriebenen ältern Kompositionen in
moderne Partitur (spartito).

Spartium L. (Besenginster, Pfriemen), Gattung aus der
Familie der Papilionaceen, Sträucher mit langen,
rutenförmigen, eckig gefurchten Ästen, wenig zahlreichen
gedreiten, am obern Teil auch einfachen Blättern und
gestielten Blüten in Trauben oder Ähren. S. scoparium L.
(Sarothamnus vulgaris Wimm., Besenpfriemen, Besenkraut), ein 3 m
hoher Strauch, bisweilen mit echtem Stamm, ziemlich gerade
aufsteigenden, grünen Ästen, kleinen, rundlichen,
behaarten Blättchen, goldgelben Blüten in Trauben und
schwärzlichen Hülsen, in Mitteleuropa, liefert in den
Ästen Material zu Besen; auch hat man die Blüten zum
Färben und die Knospen als Kapernsurrogat benutzt. Er gedeiht
vortrefflich auf sandigem, schlechtem Boden und wird auf solchem
bisweilen als Futterpflanze, zu forstlichen Zwecken und als Hecke
angepflanzt; anderseits wird er im Forstbetrieb auch ein
lästiges Unkraut. Mehrere Varietäten kultiviert man als
Ziersträucher. Ein in der Pflanze enthaltenes Alkaloid,
Spartein, wird bei Herzschwäche und organischen Herzfehlern
wie Digitalis benutzt. S. junceum L. (Sparthiantus junceus Lk.,
wohlriechende Pfriemen, Binsenpfriemen, spanischer Ginster), ein
hoher Strauch mit wenigen einfachen, sehr schmalen Blättern,
gelben, wohlriechenden Blüten in schlaffer Ähre und
langen, schmalen Hülsen, in den Mittelmeerländern,
liefert in den zähen, biegsamen Ästen Material zu
Flechtwerk, außerdem Bastfasern zu Geweben. Als Zierstrauch
hält er bei uns nur schwierig aus. Schon im Altertum wurde
diese Pflanze zu Schiffsseilen, Decken, Schuhen benutzt, auch die
Faser zu Geweben verarbeitet.

Spartivénto, Kap (im Altertum Herculis
promontorium), die Südspitze des italienischen Festlandes im
Ionischen Meer; zwischen hier und Melito landete Garibaldi 25. Aug.
1862.

Sparto, s. Esparto.

Spasimo di Sicilia (ital.), die nach dem Kloster Santa
Maria dello Spasimo in Palermo benannte, jetzt im Museum zu Madrid
befindliche Kreuztragung Christi von Raffael (s. d., S. 551).

Spask, 1) Kreisstadt im russ. Gouvernement Rjäsan,
am Spaskischen See im Thal der Oka, ein armer Ort mit (1885) 4383
Einw. -

2) Kreisstadt im russ. Gouvernement Kasan, an der Besdna
(Nebenfluß der Wolga), mit Getreidehandel und (1885) 3227
Einw. -

3) Kreisstadt im russ. Gouvernement Tambow, am Stadenez, hat
einige Fabrikthätigkeit, Handel mit Getreide, Hanf, Flachs,
Leinsaat, Pottasche, Borsten, Wolle und Leder (nach Moskau, Rybinsk
und Rostow) und (1885) 5484 Einw.

Spasmus (griech.), Krampf; daher spasmodisch, spastisch,
s. v. w. krampfhaft.

Spasowicz (spr. -witsch), Wladimir, poln.
Litterarhistoriker, geb. 16. Jan. 1829 zu Rzeczyca (Gouvernement
Minsk), studierte in Petersburg die Rechte, war bis 1862 Professor
des Strafrechts an der dortigen Universität, dann Dozent an
der Rechtsschule daselbst. Infolge seines "Lehrbuchs des
Kriminalrechts" (Petersb. 1863, russ.) verlor er jedoch diese
Stelle und wirkt seit 1866 als namhafter Advokat in Petersburg,
besonders bekannt durch sein Auftreten als Verteidiger in den
Hochverrats- und Nihilistenprozessen. S. ist seit 1876 Herausgeber
der in Warschau erscheinenden Monatsschrift "Ateneum",
verfaßte in der "Geschichte der slawischen Litteraturen" von
Pipin den die polnische Litteratur betreffenden Teil (deutsch,
Leipz. 1883) und schrieb zahlreiche Monographien über dieses
Fach. S. gilt als das Haupt einer Partei, welche eine
polnisch-russische Verständigung auf liberaler Grundlage
anstrebt; dafür wirbt er namentlich, allerdings mit geringem
Erfolg, in der 1883 von ihm begründeten polnischen
Wochenschrift "Kraj", die in Petersburg erscheint.

Spat, alte bergmännische Bezeichnung für
Mineralien mit deutlicher Spaltbarkeit.

Spat (Spath), chronische Gelenkentzündung mit
Knochenauflagerung (Exostose, Spaterhöhung) an der innern
Seite des Sprunggelenks und zwar an den beiden untern
Artikulationen desselben. Bei vielen Pferden entsteht der S. als
eine unbedeutende Abnormität, welche den Gebrauch nicht
beeinträchtigt. Oft aber bedingt derselbe eine Lahmheit, wobei
der leidende Schenkel schneller und etwas zuckend gehoben, weniger
weit nach vorn und nicht so fest aufgesetzt wird. Dieser abnorme
Gang wird bei fortgesetzter Bewegung weniger merklich, tritt aber,
nachdem das Pferd einige Zeit ruhig gestanden, sofort wieder
hervor. Nach und nach steigert sich das Lahmgehen, das Tier tritt
bei beginnender Bewegung nur mit der Spitze des Hufs auf und hinkt
oft die ersten Schritte auf drei Beinen. Manchmal läßt
dieses Lahmgehen nach Jahresfrist von selbst nach und hört
wohl auch ganz auf, doch nicht, ohne eine gewisse Steifigkeit im
Sprunggelenk zu hinterlassen. Der Knochenauswuchs entwickelt sich
zuweilen erst einige Wochen nach Beginn des Lahmgehens. An der
innern Sprunggelenkfläche, nahe dem Schienbein, als kleine,
kaum bemerkbare Erhöhung sitzend, nimmt er nach und nach an
Umfang und Höhe zu, und zwar fühlt er sich, als mit dem
Knochen in Verbindung stehend, hart an. Bei einigen Pferden beginnt
der S. mit einer intensiven Entzündung der Gelenkkapsel, so
daß die Tiere eine Zeitlang noch keine Spaterhöhung,
wohl aber die Symptome der Spatlahmheit bekunden (unsichtbarer S.).
Bei längerer Dauer des Lahmgehens tritt oben am Schenkel in
der Regel Schwund ein. Der S. entwickelt sich vorzugsweise bei
jungen Tieren zwischen dem 3. und 6. Jahr, selten später, und
zwar besonders infolge von übermäßigen
Anstrengungen. Schwäche der Sprunggelenke disponiert dazu.
Vollständige Heilung ist insofern nicht möglich, als sich
die zerstörte Gelenkfläche nicht wiederherstellen und die
vorhandene Knochenauflagerung nicht beseitigen läßt. Nur
dem Lahmgehen kann abgeholfen werden und zwar durch Anwendung eines
scharfen Pflasters oder des Brenneisens, vorzugsweise aber durch
die Operation des Spatschnitts; nach jeder Behandlung muß dem
Tier ununterbrochene mehrwöchentliche Ruhe gegönnt
werden. Vgl. Dieckerhoff, Pathologie und Therapie des S. (Berl.
1875).

Spataugenkalk, s. Kreideformation, S. 183.

Spateisenstein (Eisenspat, Siderit, vulgär:
Stahlstein, Flinz), Mineral aus der Ordnung der Carbonate,
kristallisiert rhomboedrisch, oft mit sattelförmig oder
linsenartig gekrümmten Flächen (s. Tafel "Mineralien und
Gesteine", Fig. 3), findet sich häufig derb in klein- und
großkörnigen Aggregaten, selten in kleintraubigen und
nierenförmigen Gestalten (Sphärosiderit), häufig in
dichten und feinkörnigen, thonhaltigen Varietäten, welche
teils in runden oder ellipsoidischen Nieren, teils in stetig
fortsetzenden Lagen und zuweilen rogensteinähnlich ausgebildet
sind (thoniger Sphärosiderit). Er ist durchscheinend,
gelblichgrau bis erbsengelb, mit Glas- bis Perlmutterglanz,
während die Zersetzung, namentlich die sehr gewöhnliche
Umwandlung in Brauneisenstein, dunklere Farbennüancen und
Undurchsichtigkeit erzeugt

110

Spatel - Specht.

(Blau-, Braunerz). Härte 3,5-4,5, spez. Gew. 3,7-3,9. S.
ist wesentlich kohlensaures Eisenoxydul FeCO3 mit 48,3 Proz. Eisen,
enthält aber ganz gewöhnlich Mangan, Magnesium, Calcium
und Zink nicht sowohl als Verunreinigungen wie als isomorphe
Beimischungen, durch welche Übergänge zu den mit S.
isomorphen Mineralspezies Manganspat, Magnesit, Kalkspat und
Zinkspat gebildet werden. Solche Mittelspezies sind: Oligonspat
(mit bis 20 Proz. Mangan), Sideroplesit (mit 6-7 Proz. Magnesium),
Pistomesit (mit 12 Proz. Magnesium), Zinkeisenspat (mit 14-20 Proz.
Zink). Kommt im thonigen Sphärosiderit außer Thon noch
Kohle hinzu (Kohleneisenstein, Blackband der Engländer), so
entstehen schwarze, glanzlose, gewöhnlich dickschieferige
Massen mit 35-78 Proz. Eisencarbonat. Der Verwitterung zu
Eisenhydroxyd ist der S. so leicht ausgesetzt, daß
gewiß viele Brauneisensteine auf diesem Weg entstanden sind,
wie denn sehr häufig das Ausgehende von
Spateisensteingängen als den Atmosphärilien
zugänglich in Brauneisenstein umgewandelt ist. S. bildet
Gänge, Nester und Lager in verschiedenen Formationen; der
(echte) Sphärosiderit tritt als Zersetzungsprodukt in
Hohlräumen basaltischer Gesteine, der thonige S. in
Flözen, meist der Steinkohlenformation, dem Rotliegenden oder
der Braunkohlenformation angehörig, auf. Hauptfundorte
für kristallisierten und derben S. sind: Lobenstein im
Reußischen, Freiberg in Sachsen, Klausthal am Harz,
Müsen bei Siegen, Eisenerz in Steiermark, Hüttenberg in
Kärnten; des Sphärosiderits: Steinheim bei Hanau und
Dransberg bei Göttingen; des thonigen Spateisensteins und des
Kohleneisensteins: Westfalen, Banat, England und Schottland. Alle
Varietäten des Spateisensteins (mit Ausnahme des nur in
kleinen Mengen vorkommenden echten Sphärosiderits) sind
höchst wichtige Eisenerze; sie sind das Haupterz in
Steiermark, bei Müsen etc.; thonige Sphärosiderite und
namentlich Kohleneisensteine, für welche die enge
Verknüpfung mit dem zur metallurgischen Verwendung notwendigen
Brennmaterial besonders günstig ins Gewicht fällt, werden
in Westfalen, Belgien, England, Schottland verhüttet.

Spatel (Spachtel, franz. Amassette), ein kleiner Spaten;
ein messerklingenartiges, vorn abgestumpftes Werkzeug zum
Umrühren von Flüssigkeiten, zum Streichen von Pflastern,
zum Verkitten von Fugen etc.; auch Malerinstrument, womit die
Farben auf dem Mahlstein oder auf der Palette zusammengescharrt und
gemischt, auch bisweilen zur Erzielung einer pastosen Wirkung
direkt auf die Leinwand aufgetragen werden.

Spatenkultur, die Bearbeitung des Bodens mit dem Spaten,
der Grabgabel oder Haue, besonders gebräuchlich im Garten,
aber auch auf dem Acker (Feldgärtnerei), wo sie höhern
Ertrag gewährt als die Bearbeitung mit dem Pflug, aber auch
mehr Zeit und Kraft in Anspruch nimmt und daher nur da vorteilhaft
ist, wo der Bauer mit seiner Familie die Feldarbeit allein zu
bewältigen vermag, bei großer Ertragsfähigkeit des
Bodens oder bei hohem Preis der Bodenprodukte. In
größern Wirtschaften wird S. nur ausnahmsweise, z. B.
beim Möhrenbau, angewandt.

Spatenrecht (Spaderecht, Spatelandsrecht, Jus
ligonarium), s. Deich, S. 622.

Spätgang, der Gang des Wildes gegen Morgen über
den gefallenen Tau.

Spätgeburt, eine Geburt, resp. ein Kind, welches
nach dem Ablauf der gewöhnlichen Schwangerschaftsdauer, d. h.
nach 280 Tagen, vom Tag der Befruchtung an gerechnet, geboren wird.
Nach den vorliegenden Beobachtungen kann die S. bis vier Wochen
nach dem normalen Termin erfolgen, ist jedoch ziemlich selten. Die
S. gilt im Todesfall des Erzeugers unter Umständen nach
römischem Recht nicht als ehelich; doch ist diese Regel nur
eine Praesumtio juris und läßt Gegenbeweis zu, der durch
ärztliches Gutachten zu begründen sein wird.

Spatha (griech.), s. v. w. Blütenscheide, s.
Blütenstand, S. 79.

Spatha (lat.), eine Art Schwert (s. d.).

Spatium (lat.), Raum, Zwischenraum; auch s. v. w. Frist,
z. B. S. deliberandi, Bedenkzeit. In der Buchdruckerei heißen
Spatien die feinsten Ausschließungen (s. Buchdruckerkunst, S.
558); in der Musik der Raum zwischen den einzelnen Linien des
Notenliniensystems.

Spatula, s. Enten, S.671.

Spatz, s. Sperling.

Spavénta, Bertrando, ital. Philosoph, geb. 1817 in
einem Dorf der Provinz Chieti, widmete sich mit Eifer dem Studium
der deutschen Sprache und Philosophie, wurde 1859 zum Professor der
Philosophie an der Universität zu Modena, 1860 an der zu
Bologna ernannt und trat zuerst hervor mit der Schrift "La
filosofia di Kant e la sua relazione colla filosofia italiana"
(Turin 1860), in welcher er den Nachweis zu führen suchte,
daß Rosmini trotz seiner polemischen Stellung zu Kant doch im
Wesen seiner Spekulation und in deren Ergebnissen mit dem
Kritizismus des deutschen Philosophen zusammenhänge. Nachdem
er noch "Carattere e sviluppo della filosofia italiana" (Mod. 1860)
veröffentlicht, erhielt er 1861 eine Professur der Philosophie
zu Neapel, die er noch heute bekleidet. Sein energisches Eintreten
für die deutsche Philosophie und die Kritik, die er an den
philosophischen Systemen seiner eignen Nation übte, hatten ihm
namentlich in orthodoxen Kreisen zahlreiche Gegner erweckt. Er
antwortete diesen in einer Einleitung, die er seinen
öffentlichen Vorträgen in Neapel vorausschickte und die
er dann auch 1862 im Druck veröffentlichte. Bald danach
erschien sein Hauptwerk: "La filosofia di Gioberti" (Neap. 1863).
Hierauf folgten die kleinern Abhandlungen: "Le prime categorie
della logica di Hegel" (Neap. 1864); "Spazio e tempo nella prima
forma del sistema di Gioberti" (das. 1865); "Il concetto dell'
opposizione e lo Spinozismo" (das. 1867); "La scolastica e
Cartesio" (das. 1867); "Saggi di critica filosofia, politica e
religiosa" (Studien über Giordano Bruno, Campanella, Mamiani
etc., das. 1867). Spaventas eignes System ("Principj di filosofia",
Neap. 1867) steht im wesentlichen auf dem Standpunkt Hegels, dessen
entschiedenster Vorkämpfer in Italien er mit Augusto Vera bis
heute geblieben ist. Er veröffentlichte noch: "Paolottismo,
positivismo, razionalismo" (Bolog. 1868); "Studî sull' etica
di Hegel" (Neap. 1869); "Idealismo o realismo" (das. 1874); "La
legge del più forte" (das. 1874). Viermal wurde S. ins
italienische Parlament gewählt. Vgl. Siciliani, Gli Hegeliani
in Italia (Bolog. 1868). -

Sein Bruder Silvio, eine Zeitlang Minister der öffentlichen
Arbeiten des Königreichs Italien, beschäftigte sich
ebenfalls mit deutscher Philosophie.

Speaker (engl., spr. spih-), Sprecher, im englischen
Parlament Vorsitzender des Unterhauses.

Specht, Friedrich August Karl von,
Militärschriftsteller, geb. 23. Sept. 1802 zu Brandenburg,
trat nach sehr ungenügender Erziehung mit 14 Jahren in den
kurhessischen Militärdienst, wurde 1822 Leutnant, kam 1847 als
Hauptmann in den General-

111

Spechte - Spechter.

stab, machte 1849 den Feldzug gegen Dänemark mit und wurde
nach Beendigung desselben zum Oberstleutnant, 1854 zum Generalmajor
befördert. Infolge einer Duellaffaire mit dem General v.
Haynau 1863 wurde S. als Kommandant nach Fulda versetzt. 1866 zur
Disposition gestellt, lebte er bis 1872 in Marburg und Eisenach, wo
er 12. Juli 1879 starb. Er galt als Hauptvertreter der liberalen
Partei in Hessen, gehörte auch 1850 zu den verfassungstreuen
Offizieren und forderte damals seinen Abschied. Er schrieb: "Das
Königreich Westfalen und seine Armee im Jahr 1813 sowie die
Auflösung desselben durch den russischen General Czernicheff"
(Kass. 1848); "Geschichte der Waffen" (Berl. 1868-77, 3 Bde.; Bd. 4
u. 5 noch unvollendet); "Das Festland Asien-Europa und seine
Völkerstämme, deren Verbreitung, der Gang ihrer
Kulturentwickelung mit besonderer Berücksichtigung der
religiösen Ideen" (das. 1879).

Spechte (Picidae), Familie aus der Ordnung der
Klettervögel, gestreckt gebaute Vögel mit starkem,
geradem, meißelförmig zugeschärftem, auf dem
Rücken scharfkantigem Schnabel, welcher meist so lang oder
länger als der Kopf ist, dünner, langer, platter,
horniger, weit vorstreckbarer Zunge mit kurzen Widerhaken am Ende,
mittellangen, etwas abgerundeten Flügeln, unter deren
Schwingen die dritte und vierte am längsten sind,
keilförmigem Schwanz, dessen Steuerfedern steife, spitze
Schaftenden besitzen, kurzen, starken Füßen mit langen,
paarig gestellten Zehen und großen, starken, scharfen,
halbmondförmigen Nägeln. S. sind mit Ausnahme Neuhollands
über alle Erdteile verbreitet. Sie leben ungesellig in
Wäldern, Baumpflanzungen und Gärten, scharen sich nur
ausnahmsweise, besonders in der Strich- und Wanderzeit, zu starken
Gesellschaften, vereinigen sich aber bisweilen mit kleinen
Strichvögeln, denen sie zu Führern werden. Sie bewegen
sich fast nur kletternd, hüpfen auf dem Boden ungeschickt und
fliegen ungern weit. Sie suchen ihre Nahrung, die
hauptsächlich aus Kerbtieren besteht, hinter Baumrinde, welche
sie, an den Bäumen aufwärts kletternd, mit dem Schnabel
abmeißeln. Einige fressen auch Beeren und Sämereien und
legen selbst Vorratskammern an. Die Stimme ist ein kurzer,
wohllautender Ruf; mit dem Schnabel bringen sie außerdem ein
im Wald weithin schallendes Knarren hervor, vielleicht um Kerbtiere
aufzuscheuchen und hervorzulocken, vielleicht als Herausforderung
zu Kampf und Streit. Sie nisten stets in selbstgezimmerten, nur mit
einigen Spänen ausgekleideten Baumhöhlen und legen 3-8
weiße Eier, welche von beiden Geschlechtern ausgebrütet
werden. Die S. gehören durch Vertilgung schädlicher
Insekten, und indem sie in morschen Bäumen Höhlungen als
Niststätten für Höhlenbrüter erzeugen, zu den
nützlichsten Waldvögeln. Sie wählen zur Herstellung
des Brutraums regelmäßig nur Bäume mit morschem
Kern, fressen freilich Waldsämereien, Ameisen, auch wohl
Bienen und berauben bisweilen junge Stämmchen ringsum der
Rinde; doch kommt dies gegenüber dem großen Nutzen,
welchen sie gewähren, kaum oder nur unter besondern
Verhältnissen in Betracht.

Der Schwarzspecht (Luderspecht, Holz-, Hohlkrähe,
Tannenroller, Dryocopus martius Boie), 50 cm lang, 75 cm breit,
mattschwarz, am Oberkopf (Männchen) oder Hinterkopf (Weibchen)
rot, mit gelben Augen, hellgrauem Schnabel und grauen
Füßen, findet sich in Mittel- und Nordeuropa und in ganz
Asien südlich bis zum Himalaja in großen Waldungen,
weniger in gut geordneten Forsten, als Standvogel, ist bei uns
selten geworden und meidet die Nähe menschlicher Wohnungen. Er
ist sehr munter und gewandt, fliegt besser als die andern Arten,
nährt sich besonders von Roßameisen und ihren Puppen
sowie von allen Larven, die im Nadelholz leben, und meißelt,
um diese zu erlangen, oft große Stücke aus den
Bäumen und Stöcken heraus. Die Bruthöhle wird meist
in Buchen und Kiefern angelegt und ist etwa 40 cm tief bei 15 cm
Durchmesser; im April legt das Weibchen 3-5 porzellanweiße
Eier, s. Tafel "Eier I".

Der Buntspecht (Rot-, Schildspecht, Dendrocopus major Koch, s.
Tafel "Klettervögel"), 25 cm lang, 48 cm breit, ist oberseits
schwarz, unterseits gelbgrau, mit gelblichem Stirnband,
weißen Wangen, Halsstreifen, Schulterflecken und
Flügelbändern, schwarzen Streifen an der Halsseite, am
Hinterkopf und Unterbauch rot; die Augen sind braunrot, Schnabel
und Füße grau. Er findet sich in Europa und Nordasien,
besonders in Kiefernwäldern, erscheint im Herbst und Winter in
den Gärten und streift dann auch mit Meisen und andern
Vögeln umher; er nährt sich von allerlei Kerbtieren,
besonders von den unter der Rinde der Nadelhölzer lebenden
Käfern, von Nüssen und Beeren, namentlich auch von
Fichten- und Kiefernsamen, zu dessen Gewinnung er oft in einen Ast
ein Loch hackt, um den Zapfen darin festzuklemmen. Zur Anlegung
seiner Bruthöhle bevorzugt er weiche Holzarten, doch beginnt
er viele Höhlungen auszuarbeiten, bevor er eine einzige
vollendet. Er legt 4-6 weiße Eier. In der Gefangenschaft ist
er sehr unterhaltend und gewöhnt sich bald an ein
Ersatzfutter.

In den Laubwaldungen der Ebene gesellt sich zu ihm der etwas
kleinere Mittelspecht (Dendrocopus medius Koch), welcher fast
ausschließlich von Kerbtieren lebt, und ebendaselbst findet
sich auch der Kleinspecht (Grasspecht, Sperlingsspecht, Piculus
minor Koch) von nur 16 cm Länge, welcher wohl
ausschließlich Kerbtiere frißt und am liebsten in
Weiden brütet. In der Gefangenschaft ist auch er sehr
unterhaltend.

Der Grünspecht (Grasspecht, Picus viridis L.), 31 cm lang,
52 cm breit, ist auf der Oberseite hochgrün, auf der
Unterseite hell graugrün, im Gesicht schwarz mit rotem
(Männchen) Wangenfleck, am Oberkopf und Nacken rot, am
Bürzel gelb, Ohrgegend, Kinn und Kehle weißlich, die
Schwingen sind braunschwarz, gelblich oder bräunlichweiß
gefleckt, die Steuerfedern grüngrau, schwärzlich
gebändert; die Augen sind bläulichweiß, Schnabel
und Füße bleigrau. Er bewohnt Europa und Vorderasien,
bevorzugt Gegenden, in denen Baumpflanzungen mit freien Strecken
wechseln, schweift im Winter weit umher, erscheint auch oft in
Gärten, bewegt sich mehr und geschickter als die andern S. am
Boden, hämmert weniger an Bäumen als die andern S., sucht
viele Würmer und Larven auf dem Boden, bevorzugt die rote
Ameise, plündert Bienenstöcke, frißt auch zuweilen
Vogelbeeren. Er legt 6-8 weiße Eier (s. Abbildung auf Tafel
"Eier I", Fig. 3 u. 4). In der Gefangenschaft ist er
stürmisch, unbändig und schwer zu erhalten. Vgl.
Malherbe, Monographie des Picides (Par. 1859, 4 Bde.); Sundevall,
Conspectus avium Picinarum (Stockh. 1866); Altum, Unsre S. und ihre
forstliche Bedeutung (Berl. 1878); Homeyer, Die S. und ihr Wert in
forstlicher Beziehung (2. Aufl., Frankf. 1879).

Spechter, altdeutsches Trinkgefäß von hoher,
cylindrischer Form aus grünem Glas, mit und ohne Fuß.
Ursprünglich glatt und mit farbiger Emailmalerei verziert,
wurden die S. auch in eiserne Modelle geblasen, wodurch sie mit
parallelen oder spiralförmigen Streifen gerieft wurden oder
auch vier-

112

Spechthausen - Speckstein.

eckige, in Reihen angeordnete Erhöhungen erhielten (s.
Abbildung). Erst später wurden Buckel und Knöpfe
angeschmelzt.

[Spechter.]

Spechthausen, Fabrikort im preuß. Regierungsbezirk
Potsdam, Kreis Oberbarnim, südwestlich von Eberswalde, hat
eine Papierfabrik, in welcher der größte Teil der
deutschen Staatspapiere angefertigt wird, u. (1885) 275 Einw.

Spechtmeise, s. Kleiber.

Spechtwurzel, s. Dictamnus.

Special, Species (lat.), s. Spezial, Spezies.

Species facti (lat., Thatbericht), Erzählung des
Thatbestandes bei einem Rechtsfall, namentlich der bei einer
militärgerichtlichen Untersuchung von dem mit Strafgewalt
ausgestatteten Vorgesetzten des Angeschuldigten an den
Gerichtsherrn erstattete Bericht, welcher die dabei in Betracht
kommenden Thatumstände darlegt.

Specifica (lat.), s. Spezifische Arzneimittel.

Specimen (lat.), Probe, Probearbeit.

Speck (Lardum), das feste und derbe Fett, welches sich
zwischen der Haut und dem Fleisch mancher Tiere, namentlich der
Schweine (im geräucherten Zustand wichtiger Handelsartikel),
dann auch der Robben und Walfische (dient zur Darstellung von
Thran) ansetzt.

Speckbacher, einer der Anführer des Tiroler
Aufstandes von 1809, geb. 13. Juli 1767 auf dem Hof Gnadenwald,
zwischen Innsbruck und Hall, verbrachte seine Jugend teils als
Wildschütz, teils als Landwirt und kämpfte schon 1797,
1800 und 1805 gegen die Franzosen; vom Gut seiner Frau hieß
er der "Mann vom Rinn". Einer der Vertrauten des Sandwirts Hofer,
überfiel er 12. April 1809, am Tag des Ausbruchs der
Insurrektion, die bayrische Garnison zu Hall, nahm mit dem dortigen
Kronenwirt Joseph Straub die von Innsbruck entkommene bayrische
Kavallerie gefangen, focht hierauf in den Treffen vom 25. und 29.
Mai, welche Tirol zum zweitenmal befreiten, bei der Blockade von
Kufstein in den Treffen vom 4., 6. und 7. Aug., einen
zehnjährigen Sohn an der Seite, und in der Schlacht am Isel
13. Aug., nach welcher der Marschall Lefebvre Tirol räumen
mußte. Nachdem sich auch das Salzburger Gebirgsland erhoben,
errang S. im September bei Lofer und Luftenstein bedeutende
Vorteile, ward aber l6. Okt. bei Melleck geschlagen, wobei sein
Sohn in Gefangenschaft fiel. S. floh darauf von Alp zu Alp, verbarg
sich eine Zeitlang unter Schnee und Eis in einer Höhle und war
dann sieben Wochen lang in seinem eignen Stall verborgen, bis er
endlich im Mai 1810 über die Gebirge nach Wien gelangte. Hier
erhielt er die Pension eines Obersten und den Auftrag, die für
die Tiroler im Temesvárer Banat neugestiftete Kolonie
Königsgnad einzurichten, die aber bald bei der Ungunst der
Verhältnisse ein klägliches Ende nahm. Nach dem Ausbruch
des Kriegs von 1813 wagte er sich wieder nach Tirol und leistete
hier, obwohl es zu keiner entscheidenden Waffenthat kam, treffliche
Dienste. Dafür zum Major ernannt, starb er 28. März 1820
in Hall und ward 1858 in der Innsbrucker Hofkirche neben Hofer und
Haspinger beigesetzt. Vgl. Mayr, Der Mann vom Rinn und die
Kriegsereignisse in Tirol (Innsbr. 1851); Knauth, Jos. S., der
Jugend erzählt (Langensalza 1868).

Speckentartung, s. Amyloidentartung.

Speckkäfer (Dermestini Latr.), Käferfamilie aus
der Gruppe der Pentameren, kleine Käfer von länglich oder
kurz ovalem Körper mit kurzen, zurückziehbaren, gekeulten
Fühlern, gesenktem, mehr oder weniger einziehbarem Kopf, meist
einem einzelnen Stirnauge und kurzen, einziehbaren Beinen, leben
auf Blüten oder in morschen Bäumen, die meisten aber an
toten Tierstoffen, welche von den Larven benagt werden. Man trifft
sie daher besonders in naturhistorischen Sammlungen und Pelzlagern,
wo sie oft großen Schaden anrichten. Beim Angreifen stellen
sie sich durch Anziehen der Beine und Fühler tot. Die Larven
sind langgestreckt, cylindrisch oder breit gedrückt, an der
Oberfläche mit langen, aufgerichteten, nach hinten
gewöhnlich zu dichten Büscheln vereinigten Haaren
besetzt, mit kurzen Fühlern, meist sechs Nebenaugen und kurzen
Beinen, nähren sich von abgestorbenen tierischen Stoffen; bei
der Verpuppung platzt ihre Haut nur auf dem Rücken und bleibt
als Puppenhülse bestehen. Der S. (Dermestes lardarius L.), 7,6
mm lang, schwarz, auf den Flügeldecken mit breiter,
hellbrauner, schwarz gepunkteter Querbinde, überall in
Häusern, auf Taubenschlägen, in Sammlungen und im Freien
an Aas. Ebendaselbst findet sich seine unterseits weiße,
oberseits braune Larve. Der Pelzkäfer (Attagenus pellio L.),
4-5 mm lang, schwarz oder pechbraun, oberhalb schwarz behaart, mit
je einem weißhaarigen Punkt auf den Flügeldecken, findet
sich in Blüten des Weißdorns, der Doldenpflanzen etc.,
auch in Häusern, wo die Larve besonders Pelz- und
Polsterwaren, wollene Teppiche etc. zerstört. In Sammlungen
hausen am schlimmsten die Larven des Kabinettkäfers (Anthrenus
museorum L), 2,5 mm lang, dunkelbraun, mit drei undeutlichen,
graugelben Flügelbinden, und des A. varius Fab., gelb, mit
drei weißlichen Wellenbinden. Der Himbeerkäfer (Byturus
tomentosus L.), 4 mm lang, durch dicht anliegende Behaarung
gelbgrau, an Fühlern und Beinen rotgelb, legt seine Eier an
unreife Himbeeren, in welchen sich die dunkelgelbe, auf dem
Rücken braungelbe, am Hinterleibsende in zwei nach oben
gekrümmte, braunrote Dornspitzchen auslaufende Larve
(Himbeermade) entwickelt. Sie verpuppt sich in Holzritzen in einer
elliptischen Hülle, und die Puppe überwintert.

Speckkrankheit, s. v. w. Amyloidentartung.

Speckleber, s. Leberkrankheiten, S. 599.

Speckmaus, s. v. w. gemeine Ohrenfledermaus.

Speckmelde, s. Mercurialis.

Speckmilz, s. Milzkrankheiten.

Specköl, s. v. w. Schmalzöl, s. Schmalz.

Speckstein (Steatit, Schmeerstein), Mineral aus der
Ordnung der Silikate (Talkgruppe), bildet die
kryptokristallinischen Varietäten des Talks (s. d.). Was als
sogen. Specksteinkristalle beschrieben worden ist, sind
Afterkristalle nach Quarz, Dolomit, Spinell etc. Der S. findet sich
derb, eingesprengt, die nierenförmigen oder knolligen Massen
sind weiß mit rötlichen, grünlichen und gelblichen
Nüancen, matt, nur im Striche glänzend, an den Kanten
durchscheinend. Er fühlt sich fettig an, hängt aber nicht
an der Zunge. Die geringe Härte (1,5) des ungeglühten
Materials steigert sich nach dem Glühen bis zu der
Fähigkeit, Glas zu ritzen. Spez. Gew. 2,6-2,8. S. ist ein
Magnesiumsilikat H2Mg3Si4O12. Er bildet bei Göpfersgrün
unweit Wunsiedel im Fichtelgebirge ein Lager zwischen
Glimmerschiefer und Granit, welche Gesteine sich an der Grenze
gegen den S. in einer eigentümlichen halben Umwandlung zu S.
befinden, die theoretisch ebenso schwierig zu erklären ist wie
die

113

Speckter - Spee.

Entstehung der meisten der oben erwähnten Pseudomorphosen.
Außerdem findet sich S. bei Lowell in Massachusetts und bei
Briançon. S. ist schneidbar und wird auf der Drehbank zu
Pfeifenköpfen, säurefesten Stöpseln etc.
verarbeitet. Er dient auch zum Zeichnen auf Tuch, Seide und Glas
(spanische, Briançoner, venezianische, Schneiderkreide), zum
Entfetten von Zeugen, zur Darstellung von Schminke, als
Poliermaterial für Spiegel, als Einstreupulver in Stiefel und
Handschuhe, als Schmiermittel von Maschinenteilen, als Zusatz zur
Porzellanmasse und Seife, gebrannter S. zu Lavagasbrennern und zu
Wasserleitungsröhren. Abfall von der Verarbeitung wird zu
Gabbromasse benutzt. Chinesischer S., s. Agalmatolith.

Speckter, 1) Erwin, Maler, geb. 18. Juli 1806 zu Hamburg,
bildete sich in München unter Cornelius und widmete sich seit
1824 in Italien vorzugsweise der religiösen Malerei. Doch
malte er auch Landschaften mit Staffage und Architekturen und
hinterließ eine bedeutende Anzahl von Zeichnungen. Er starb
23. Nov. 1835. Aus seinem Nachlaß erschienen die "Briefe
eines deutschen Künstlers aus Italien" (Leipz. 1846, 2
Bde.).

2) Otto, Zeichner und Radierer, Bruder des vorigen, geb. 9. Nov.
1807 zu Hamburg, machte sich zuerst durch Lithographien (unter
andern den Einzug Christi von Overbeck) bekannt und widmete sich
dann der Illustration von Büchern durch Arabesken, Vignetten
und Figurenbilder. So illustrierte er: Luthers "Kleinen
Katechismus"; Böttigers "Pilgerfahrt der Blumengeister"; Kl.
Groths "Quickborn"; Eberhards "Hannchen und die Küchlein";
Reuters "Hanne Nüte"; den "Gestiefelten Kater" u. a. Die
größte Verbreitung fanden seine Bilder zu Heys "50
Fabeln für Kinder". Er starb 29. April 1871 in Hamburg.

Spectator (lat., auch engl., spr. specktéhter,
"Zuschauer"), Titel einer berühmten von Addison (s. d.)
herausgegebenen Wochenschrift.

Speculum (lat.), Spiegel; in der Chirurgie meist
röhrenförmiges, vorn oder seitlich offenes Instrument,
welches in Körperhöhlen eingeführt wird, um tiefere
Teile der Besichtigung und Behandlung zugänglich zu machen, z.
B. der Mutterspiegel, Ohren-, Kehlkopfspiegel etc.

Spedition (ital. Spedizione. franz. Expedition),
Beförderung von Waren, die nicht direkt an ihren
Bestimmungsort verladen werden; dann überhaupt die
Übernahme und Ausführung von Aufträgen zur Besorgung
der Versendung von Gütern; Speditionshandel, der
gewerbsmäßige Betrieb solcher Geschäfte. Ein
derartiger Gewerbebetrieb heißt Speditionsgeschäft; doch
wird der letztere Ausdruck auch für den einzelnen Vertrag
gebraucht, welchen jemand gewerbsmäßig abschließt,
um im eignen Namen für fremde Rechnung Güterversendung
durch Frachtführer (Eisenbahnen, Fuhrleute, Lastboten,
Flußschiffer, Fährenbesitzer etc.) oder Schiffer, d. h.
Seeschiffsführer, ausführen zu lassen. Wer
Speditionsgeschäfte gewerbsmäßig ausführt,
heißt Spediteur (franz. expéditeur, entrepreneur,
commissionnaire pour le transport). Derselbe haftet für jeden
Schaden, welcher aus der Vernachlässigung der Sorgfalt eines
ordentlichen Kaufmanns bei der Empfangnahme und Aufbewahrung des
Gutes, bei der Wahl der Frachtführer, Schiffer oder
Zwischenspediteure und überhaupt bei der Ausführung der
von ihm übernommenen Versendung der Güter entsteht. Er
hat nötigen Falls die Anwendung dieser Sorgfalt zu beweisen.
Das französische Recht läßt ihn sogar unbedingt bis
an die Grenze der "höhern Gewalt" (s. d.) haften. Dagegen hat
er eine Provision (Speditionsprovision, Speditionsgebühren,
Spesen) sowie die Erstattung dessen zu fordern, was er an Auslagen
und Kosten oder überhaupt zum Zweck der Versendung als
notwendig oder nützlich aufgewendet hat. Wegen dieser
Forderungen sowie wegen der dem Versender auf das Gut geleisteten
Vorschusse hat er ein Pfandrecht an dem Gut, sofern er dasselbe
noch in seinem Gewahrsam hat oder in der Lage ist, darüber zu
verfügen. Geht das Speditionsgut durch die Hände mehrerer
Spediteure (Zwischenspediteure), um an den
auftragsmäßigen Bestimmungsort zu gelangen, so hat der
nachfolgende Spediteur das Pfandrecht nicht bloß für die
bei ihm erwachsenen, sondern auch für die bei dem
vorausgehenden Spediteur bereits entstandenen Kosten geltend zu
machen. Dem letzten Spediteur (Abrollspediteur) liegt daher die
Geltendmachung des Pfandrechts im Interesse aller Kosten ob, die
bei sämtlichen Spediteuren entstanden, welche mit dem
Speditionsgut befaßt worden sind. Der Spediteur kann
übrigens den Transport des Gutes auch selbst übernehmen,
selbst ausführen oder durch seine Angestellten ausführen
lassen, wofern ihm dies vertragsmäßig nicht
ausdrücklich untersagt ist. Das Speditionsgeschäft,
welches sonst mit dem Kommissionsgeschäft (s. d.) verwandt
ist, geht alsdann in das Frachtgeschäft über, und der
Spediteur kann neben den Speditionskosten auch die Fracht in Ansatz
bringen. Vgl. Deutsches Handelsgesetzbuch, Art. 379 bis 389; Code
de commerce, Art. 96-102.

Spee, Friedrich von, Dichter, aus dem adligen Geschlecht
der S. von Langenfeld, geb. 22. Febr. 1591 zu Kaiserswerth am
Rhein, wurde im Jesuitengymnasium zu Köln erzogen, trat 1610
selbst in den Jesuitenorden und lehrte dann mehrere Jahre hindurch
in Köln schöne Wissenschaften, Philosophie und
Moraltheologie. Im Auftrag seines Ordens ging er 1627 nach Franken,
wo er die Obliegenheit hatte, die zum Tod verurteilten
vermeintlichen Hexen und Zauberer auf dem letzten Gang zu
begleiten. Aus den tief erschütternden Erkenntnissen dieses
Berufs, die sein Haar ergrauen machten, erwuchs seine Schrift
"Cautio criminalis s. Liber de processu contra sagas" (Rinteln 1631
u. öfter, auch ins Holländische und Französische
übersetzt), worin er zuerst den Hexenwahn im katholischen
Deutschland mutvoll und nachdrücklich bekämpfte.
Später wurde S. nach Westfalen gesendet, um hier die
Gegenreformation durchzuführen. Sein Wirken war erfolgreich,
aber für ihn selbst unheilvoll: es wurde ein Mordanfall auf
ihn gemacht, der ihn elf Wochen in Hildesheim ans Krankenbett
fesselte. 1631 nach Köln zurückberufen, war er wieder als
Professor der Moraltheologie thätig und kam zuletzt nach
Trier, wo er an einem Fieber, das er sich im Lazarett bei der
Pflege der Kranken zugezogen, 7. Aug. 1635 starb. Seine erst nach
seinem Tod erschienene Sammlung geistlicher Lieder:
"Trutz-Nachtigall" (Köln 1649; neue Ausgabe von Brentano,
Berl. 1817; von Balke, Leipz. 1879; von Simrock, Heilbr. 1875)
gehört trotz mannigfaltiger Nachahmung der manieristischen
Italiener, die der Zeit eigentümlich war, nach Inhalt und Form
zu den besten Leistungen der deutschen Litteratur des 17. Jahrh.
und atmet die milde, schlichte Frömmigkeit und Innigkeit des
Dichters. Weniger bedeutend ist sein in Prosa geschriebenes, aber
mit schönen Liedern durchwebtes "Güldenes Tugendbuch"
(Köln 1647; neue Ausg., Freiburg 1887). Vgl. Diel, F. v. S.
(Freiburg 1872).

114

Speech - Speichern.

Speech (engl., spr. spihtsch), Sprache, Rede.

Speed (engl., spr. spihd'), Geschwindigkeit, z. B. eines
Eisenbahnzugs, eines Pferdes etc.

Speer, Urwaffe der Germanen, symbolisch das Zeichen der
Macht, aus welchem das Zepter hervorging. Der S. diente zum
Stoß, vorzugsweise zum Wurf (Wurfspeer) und bestand aus einer
Holzstange mit 30-40 cm langer, breiter, zweischneidiger
Eisenspitze. Um 600 n. Chr. wurde der S. Ger genannt und war auch
Waffe der Reiter. Die langobardischen Reiter waren berühmte
Gerwerfer; das 841 bei Fontenay veranstaltete Speerrennen war der
Ursprung der Hastiludien. Später entstanden aus dem S. der
Spieß und die Pike (s. d.).

Speer, Berg, s. Appenzeller Alpen.

Speerfeier (Speerfreitag), s. Lanzenfest.

Speerkies, s. Markasit.

Speerreiter, s. Lanciers.

Speetonclay (spr. spiht'n-kleh). s. Kreideformation, S.
183.

Speiche, Teil eines Rades, s. Rad; in der Anatomie einer
der Unterarmknochen, s. Arm.

Speichel (Saliva), das Sekret der Speicheldrüsen (s.
d.). Der S. reagiert alkalisch und enthält durchschnittlich
0,5 Proz. feste Bestandteile. Unter den letztern sind
hervorzuheben: Mucin, Eiweißstoffe und ein diastatisches
Ferment, das Ptyalin (Speichelstoff), welches Stärkemehl in
Zucker überführt. Er ist in den Speicheldrüsen oder
deren Ausführungsgängen nicht frei enthalten, sondern
entsteht erst aus einer von den Speicheldrüsen gelieferten
Muttersubstanz bei Zutritt der Luft. Die Speichelabsonderung
erfolgt nur, wenn die an die Speicheldrüsen tretenden Fasern
des sympathischen Nervs und des Angesichtsnervs direkt oder
reflektorisch gereizt werden. Je nach den Drüsen, welche den
S. liefern, unterscheidet man Parotidenspeichel,
Submaxillarspeichel und Sublingualspeichel. In der Mundhöhle
findet sich ein Gemisch dieser verschiedenen Speichelarten mit
Mundschleim vor; es wird als gemischter S. bezeichnet. Mit der
Speichelbildung gehen morphologische Veränderungen der
Drüsenzellen Hand in Hand; weiter ist mit ihr eine so
bedeutende Wärmebildung verknüpft, daß das mit
großer Heftigkeit der Drüse entströmende
venöse Blut nicht selten um 1-1,5°C. wärmer ist als
das Karotidenblut. Die in 24 Stunden abgesonderte Menge des
Speichels bei erwachsenen Menschen wird auf 1,5 kg geschätzt.
Eine zeitweise verstärkte Sekretion wird meist auf
reflektorischem Weg durch besondere Einflüsse hervorgerufen,
zunächst als Folge von Reizungen der Geschmacksnerven durch in
die Mundhöhle eingeführte Geschmacksstoffe, ferner als
Folge von Reizungen der Tastnerven der Mundhöhle, der
Geruchsnerven und Magennerven. Auch beim Kauen und Sprechen sowie
durch die dem Brechakt vorausgehenden heftigen Bewegungen der Mund-
und Schlundmuskeln wird die Speichelabsonderung vermehrt. Endlich
geschieht dies auch durch die Vorstellung von Speisen, besonders
bei Hungernden, sowie krankhafterweise durch gewisse Arzneimittel
etc. (s. Speichelfluß). Der S. löst die löslichen
Substanzen der Nahrungsmittel auf, mischt sich mit den trocknen
Speisen zu einem feuchten Brei und macht diese zum Abschlucken wie
für die Magenverdauung geeignet; endlich wirkt er durch seinen
Gehalt an Ptyalin verdauend auf die Kohlehydrate (s.
Verdauung).

Speichelbefördernde Mittel (Ptyalagoga, Salivantia),
Arzneimittel, welche eine vermehrte Speichelabsonderung bewirken.
Hierher gehören die Quecksilberpräparate, Gold, Jod,
Blei, Spießglanz, Kupfer, Arsenik, Chlormittel,
Königswasser und vor allem das Pilokarpin (s. Pilocarpus).

Speicheldrüsen (Glandulae salivales), die
drüsigen Organe zur Absonderung des Speichels (s. d.), also
sowohl Bauch- als Mundspeicheldrüsen, im engern Sinn
gewöhnlich nur die letztern. Diese liegen durchaus nicht immer
im oder am Mund, sondern bei niedern Tieren zuweilen weit nach
hinten in der Brust, ergießen jedoch ihre Absonderung stets
in den Mund oder wenigstens in den Anfang der Speiseröhre.
Manchmal sind sie zu mehreren Paaren vorhanden und haben dann auch
wohl zum Teil die Bestimmung als Giftdrüsen. Bei den
Vögeln und Säugetieren kann man, abgesehen von der
Bauchspeicheldrüse (s. d.), fast allgemein drei Gruppen von S.
unterscheiden: die Unterzungen-, Unterkiefer- und
Ohrspeicheldrüsen (s. d.). Doch fehlen sie den Walen
gänzlich, den Robben nahezu, sind dagegen bei Pflanzenfressern
am stärksten entwickelt. S. auch Tafel "Mundhöhle etc.",
Fig. 1.

Speicheldrüsenentzündung, s.
Ohrspeicheldrüsenentzündung.

Speichelfluß (Salivatio, Ptyalismus), krankhaft
vermehrte Absonderung des Speichels, kommt bei allen
Entzündungszuständen der Mundschleimhaut in mehr oder
minder hohem Grad vor, ferner bei Vorhandensein von
Geschwüren, namentlich Krebsen der Zunge und Wange, ganz
besonders aber nach übermäßiger Einführung von
Quecksilber in den Organismus. Am häufigsten werden solche
Menschen vom S. ergriffen, welche viel mit
Quecksilberpräparaten umzugehen haben und in einer mit
Quecksilberdämpfen geschwängerten Atmosphäre atmen
(z. B. die Bergleute in Quecksilberminen, die Arbeiter in
Spiegelfabriken). Auch die unvorsichtige und
übermäßige Anwendung von Quecksilberpräparaten
zu medizinischen Zwecken kann S. hervorrufen. S. wird ferner
erzeugt durch den Genuß einer Abkochung von
Jaborandiblättern oder des in denselben enthaltenen Alkaloids
Pilokarpin. S. wird herabgesetzt bei Entzündungs- und
Verschwärungszuständen durch fleißige
Ausspülung des Mundes mit desinfizierenden Wässern:
Lösung von chlorsaurem und übermangansaurem Kali u.
dgl.

Speichelstoff, s. Speichel.

Speichern (Spicheren), Pfarrdorf im deutschen Bezirk
Lothringen, Kreis Forbach, hat 880 Einw. Hier fand 6. Aug. 1870
eine Schlacht zwischen Deutschen und Franzosen statt. Nach dem
unbedeutenden Gefecht bei Saarbrücken 2. Aug. hatte das 2.
französische Korps (Frossard) auf den Höhen von S.,
südlich von Saarbrücken, ein Lager aufgeschlagen und die
natürliche Verteidigungsfähigkeit seiner Stellung noch
durch Schützengräben und Batterieeinschnitte
künstlich erhöht; namentlich der festungsartige Rote Berg
und das massive Dorf Stieringen-Wendel waren vortreffliche, kaum
angreifbare Stützpunkte der Stellung. Dennoch griffen die
Vortruppen der ersten und zweiten deutschen Armee, als sie 6. Aug.
die Saar überschritten, diese Stellung an, zuerst die Brigade
François von der 14. Division (Kameke), dann die 5., 13. und
16. Division; General v. François erstürmte den Roten
Berg mit dem 39. und 74. Regiment, fand dabei aber selbst den Tod.
Die brandenburgischen Regimenter der 5. Division eroberten die
waldigen Hänge rechts und links am Roten Berg, während
gleichzeitig Stieringen-Wendel den Franzosen entrissen wurde.
Hierauf trat Frossard, der vergeblich auf Hilfe, namentlich vom 3.
Korps (Bazaine), gewartet, den Rückzug nach Saargemünd
an.

115

Speidel - Speier.

Sein Verlust belief sich auf 320 Tote, 1660 Verwundete und 2100
Gefangene, zahlreiches Lagergerät und Armeevorräte. Die
Preußen verloren 850 Tote und 4000 Verwundete.

Speidel, Wilhelm, Klavierspieler und Komponist, geb. 3.
Sept. 1826 zu Ulm, erhielt seine Ausbildung am Münchener
Konservatorium, bereiste darauf als Virtuose alle
größern Städte Deutschlands, ward 1854
Musikdirektor in seiner Vaterstadt und drei Jahre später
Lehrer an dem von ihm mitbegründeten Konservatorium in
Stuttgart, in welcher Stellung er bis 1874 thätig war. Im
genannten Jahr begründete er ein eignes Musikinstitut, nahm
aber 1884 seine Thätigkeit am Konservatorium wieder auf.
Zugleich ist er seit 1857 Dirigent des Stuttgarter Liederkranzes.
Als Komponist hat sich S. durch zahlreiche Klavierwerke (Trios,
Sonaten, Charakterstücke), Lieder, Männer- und gemischte
Chöre sowie Orchestersachen vorteilhaft bekannt gemacht. -

Sein Bruder Ludwig, geb. 11. April 1830 zu Ulm, ist namhafter
Feuilletonist und Theaterkritiker an der "Neuen Freien Presse" in
Wien.

Speier (Speyer), ehemals reichsunmittelbares Bistum im
oberrheinischen Kreis, umfaßte 1542 qkm (28 QM.) mit 55,000
Einw. Der Bischof hatte ein Einkommen von 300,000 Gulden und im
Reichsfürstenrat auf der geistlichen Bank zwischen den
Bischöfen von Eichstätt und Straßburg seinen Sitz,
auf den oberrheinischen Kreistagen die zweite Stelle. Er war
Suffragan des Erzbistums Mainz. Der fränkische König
Dagobert I. soll zu Anfang des 7. Jahrh. das Bistum S. neu
errichtet haben, doch ist erst Bischof Principius zwischen 650 und
659 urkundlich beglaubigt. Durch den Revolutionskrieg kamen 661 qkm
(12 QM.) am linken Rheinufer an Frankreich, später an Bayern,
der Rest am rechten Ufer, mit der ehemaligen bischöflichen
Residenz Bruchsal, 1803 an Baden. Durch das Konkordat von 1817
wurde das Bistum wiederhergestellt und der Erzdiözese Bamberg
überwiesen; sein Sprengel erstreckt sich über die
bayrische Rheinpfalz. Vgl. Remling, Geschichte der Bischöfe zu
S. (Mainz 1852-54, 2 Bde. und 2 Bände "Urkundenbuch");
Derselbe, Neuere Geschichte der Bischöfe zu S. (Speier
1867).

Speier (Speyer), Hauptstadt des bayr. Regierungsbezirks
Pfalz und ehemalige freie Reichsstadt, an der Mündung des
Speierbachs in den Rhein, Knotenpunkt der Linien
Schifferstadt-Germersheim und S.-Heidelberg der Bayrischen
Staatsbahn, 105 m ü. M., hat breite, aber
unregelmäßige Hauptstraßen und trotz ihres hohen
Alters doch im allgemeinen nur wenige altertümliche
Gebäude. Das merkwürdigste unter denselben ist der Dom,
dessen Bau von Konrad II., dem Salier, 1030 begonnen und 1061 unter
Heinrich IV., der 1064 noch die Afrakapelle hinzufügte,
vollendet ward. Er ist im Rundbogenstil von roten Sandsteinquadern
aufgeführt, hat eine Länge von 147 m, eine Breite im
Querschiff von 60 m und 4 Türme. Das 12 Stufen über das
Schiff sich erhebende Königschor enthält die
Grabmäler von acht deutschen Kaisern (Konrad II., Heinrich
III., Heinrich IV. u. Heinrich V., Philipp von Schwaben, Rudolf von
Habsburg, Adolf von Nassau und Albrecht I.) und das der Bertha, der
Gemahlin Heinrichs IV., das der Beatrix, der zweiten Gemahlin
Friedrichs I., sowie ihrer Tochter Agnes. Das Innere schmücken
prachtvolle Fresken (32 große Kompositionen, 1845-54 von
Schraudolph ausgeführt). In der Vorhalle (Kaiserhalle) sind
seit 1858 die acht großen Standbilder der hier begrabenen
Kaiser aufgestellt (größtenteils von Fernkorn
ausgeführt). Die untere Kirche (Krypte) stützen massive
niedrige Säulen. In den Anlagen um den Dom sind der Domnapf,
welcher früher vor dem Dom stand und den bischöflichen
Immunitätsbezirk begrenzte, die Antikenhalle, ehemals eine
Sammlung römischer Altertümer bergend, der Ölberg
(eine mit eingemeißelten bildlichen Darstellungen der Leiden
Christi, Blätterwerk und anderm Zierat geschmückte
Steinmasse), das Heidentürmchen, dessen Unterbau
wahrscheinlich aus der Römerzeit stammt, die
Kolossalbüste des Professors Schwerd und die des frühern
Regierungspräsidenten v. Stengel hervorzuheben. Nachdem der
Dom schon 1159 und 1289 durch Feuersbrünste gelitten, wurde er
6. Mai 1540 von einem bedeutenden Brand heimgesucht, aber binnen 18
Monaten wiederhergestellt. Die ärgste Zerstörung
richteten indessen die Franzosen 31. Mai 1689 an: eine Feuersbrunst
zerstörte die drei westlichen Türme und das Gebäude
selbst bis auf die Umfassungsmauern, sogar die alten
Kaisergräber wurden aufgerissen und die Gebeine umhergestreut.
Erst in den Jahren 1772-84 ward der Dom wieder aufgebaut, aber
schon 1794 von den Franzosen abermals demoliert und in ein
Heumagazin verwandelt. Nachdem durch den König Maximilian I.
seine Herstellung erfolgt war, konnte er 19. Mai 1822 wieder
eingeweiht werden. Später wurden auch die westlichen
Türme mit dem Umbau und Neubau der Fassade wieder ersetzt und
der alte Kaiserdom wieder eingeweiht. Außer dem katholischen
Dom hat S. noch 2 evangelische und 2 kathol. Kirchen. Aus alter
Zeit stammen noch: das Altpörtel (Alta porta), bereits 1246
erwähnt, jetzt Stadtturm mit Uhr, und die Überreste eines
alten Judenbades sowie des Retschers, eines alten, wohl
bischöflichen Palastes, der 1689 mit der sogen. Neuen Kirche,
dem Gymnasium etc. zerstört wurde. Gegenwärtig wird der
Bau einer neuen Kirche (Retscher- oder Protestationskirche)
vorbereitet. Das alte Kaufhaus, ein prächtiger Bau und
früher das Haus der Münzer, ist im alten Stil
wiederhergestellt und um ein Stockwerk erhöht und enthält
jetzt das Oberpostamt. Die Einwohnerzahl betrug 1885 mit der
Garnison (3 Pionierkompanien Nr. 2) 16,064 (darunter ca. 8100
Katholiken, 7400 Evangelische und 532 Juden). Die Industrie
beschränkt sich auf Buntpapier-, Tabaks-, Zigarren-, Leim-,
Zucker-, Bleizucker- und Essigfabrikation, Bierbrauerei, Gerberei,
Ziegelsteinbrennerei, Wein- und Tabaksbau, Schiffahrt etc. Der
lebhafte Handel wird unterstützt durch eine
Reichsbanknebenstelle, eine Filiale der Bayrischen Notenbank und
andre Geldinstitute. S. ist Sitz einer Kreisregierung, eines
Bezirksamtes, Amtsgerichts, Oberpostamtes, Forstamtes, eines
Bischofs, eines evangelischen Konsistoriums etc., hat ein
Gymnasium, eine Realschule, ein Lehrerseminar, eine
Präparandenschule, ein bischöfliches Klerikal- und ein
Knabenseminar, ein Waisenhaus, eine Erziehungsanstalt für
verwahrloste Kinder, eine Diakonissenanstalt etc. Ferner befinden
sich dort ein städtisches Museum, eine Bildergalerie, eine
Bibliothek und ein botanischer Garten mit Baumschule. - S. ist das
römische Noviomagus, die Stadt der Nemeter, und hieß
seit dem 7. Jahrh. Spira. Um 30 v. Chr. wurde die Stadt

[Abb.: Wappen von Speier.]

116

Speierbach - Speiseröhre.

von den Römern erobert und befestigt. Von den Alemannen zu
Ende des 3. und Anfang des 4. Jahrh. mehrmals zerstört, wurde
sie von den Kaisern Konstantin und Julian wiederhergestellt, hatte
aber im 5. Jahrh. von den Einfällen der Vandalen und Hunnen
wieder viel zu leiden. Im 6. Jahrh. ging die Stadt an die Franken,
843 an das ostfränkische Reich über. Neben dem
bischöflichen Schultheißen, dem die niedere
Gerichtsbarkeit zustand, hatte hier bis 1146 ein königlicher
Burggraf seinen Sitz. Damals ging auch dies Amt auf den Bischof
über, bis es zu Anfang des 13. Jahrh. wieder von der Stadt
erworben wurde, was dann zu langwierigen Streitigkeiten mit dem
Bischof führte. Nachdem schon Heinrich V. eine Ratsverfassung
gegeben hatte, welche Philipp von Schwaben 1198 bestätigte,
schwang sich S. im 13. Jahrh. zur freien Reichsstadt empor, erwarb
jedoch kein Gebiet und zählte im 14. Jahrh. kaum 30,000 Einw.
Als Sitz des Reichskammergerichts, das 1513 nach S. kam und, nur
zeitweilig verlegt, bis 1689 hier seinen Sitz hatte, erhielt die
Stadt großen Ruf. Als Reichsstadt hatte sie unter den
Reichsstädten der rheinischen Bank den fünften Platz,
auch Sitz und Stimme auf den oberrheinischen Kreistagen. Unter den
Reichstagen, welche zu S. (meist in einem Gebäude des
Ratshofs) gehalten wurden, sind besonders die von 1526 (vgl.
Friedensburg, Der Reichstag zu S. 1526, Berl. 1887) und von 1529
wichtig, von denen der erste die Ausführung des Wormser Edikts
vertagte, der zweite die Einigung der Evangelischen zu einer
Protestationsschrift (daher "Protestanten") veranlaßte.
Städtetage haben 1346 und 1381 stattgefunden. Der Friede zu S.
1544 enthielt den Verzicht des Hauses Habsburg auf die Krone von
Dänemark-Norwegen. Im Dreißigjährigen Krieg wurde
die Stadt 1632-35 abwechselnd von den Schweden, den Kaiserlichen
und den Franzosen erobert. Durch Kapitulation wurde sie 1688
wiederum an die Franzosen übergeben, die sie aber 1689 (im
Mai) beim Anrücken der Alliierten wieder räumten, nachdem
sie die Festungswerke geschleift und die Stadt zum Teil
niedergebrannt hatten. Anfang Oktober 1792 wurde die Stadt von den
Franzosen unter Custine eingenommen und gebrandschatzt. Von 1801
bis 1814 war S. die Hauptstadt des franz. Depart. Donnersberg,
wurde aber 1815 bayrisch. Vgl. Geissel, Der Kaiserdom zu S. (Mainz
1826-28, 3 Bde.); Zeuß, Die freie Reichsstadt S. vor ihrer
Zerstörung (Speier 1843); Remling, Der Speierer Dom (Mainz
1861); Derselbe, Der Retscher in S. (das. 1858); Weiß,
Geschichte der Stadt S. (Speier 1877); Hilgard, Urkunden zur
Geschichte der Stadt S. (Straßb. 1885).

Speierbach, Flüßchen im bayr. Regierungsbezirk
Pfalz, entspringt auf dem Oselkopf unweit Kaiserslautern und
fällt bei Speier in den Rhein. Hier im spanischen
Erbfolgekrieg Sieg der Franzosen unter Tallard über das zum
Entsatz von Landau ausgesandte niederländische Hilfskorps
unter dem Grafen von Nassau-Weilburg und dem Erbprinzen von Hessen
(15. Nov. 1703). Die Redensart: "Revanche für S." wird auf
letztern zurückgeführt, der damit Tallard
begrüßt haben soll, als dieser später nach der
Schlacht bei Höchstädt gefangen vor ihn geführt
wurde.

Speierling, s. Sorbus.

Speigatten, Löcher in der Schiffswand, durch welche
das Wasser vom Deck nach der See abfließen kann; auch die
Öffnungen in den Verbandteilen eines Schiffs, durch welche das
Leckwasser nach den Pumpen geleitet wird.

Speik, blauer, s. Primula.

Speischlange, s. Brillenschlange.

Speise, ein auf Hüttenwerken bei Schmelzprozessen
entstehendes, aus Arsen- und Antimonmetallen bestehendes Produkt
von weißer Farbe und größerer Dichtigkeit als
diejenige der Leche (s. Lech), unter welchen sich die S. bei
gleichzeitiger Entstehung beider Produkte absetzt. Zur
Speisebildung, d.h. zur Verbindung mit Arsen und Antimon, sind
besonders Nickel, Kobalt und Eisen geneigt; doch finden sich in den
Speisen auch Gold, Silber und Kupfer. Dieselben werden entweder
absichtlich erzeugt (Nickel- und Kobaltspeisen), oder sie fallen
als Nebenprodukte (Kupfer- und Bleispeise), die man ungern sieht,
weil sich aus denselben die nutzbaren Metalle meist nur mit
größeren Verlusten darstellen lassen. Glockenspeise
nennt man die zur Glockengießerei angewendete Legierung (s.
Glocken). S. auch s. v. w. Mauerspeise, s. Mörtel.

Speiseapparate, s. Dampfkesselspeiseapparate.

Speisebrei, s. Chymus.

Speisegesetze, die vom mosaischen und talmudischen Gesetz
gegebenen, die Reinheit und durch diese die Heiligkeit der
Israeliten bezweckenden religiösen Vorschriften hinsichtlich
der Nahrungsmittel. Der Pentateuch gibt 3. Mos. 11 und 5. Mos. 14
als reine, zum Genuß erlaubte Tiere an: 1) von den
Vierfüßern die, welche gespaltene Klauen haben und
wiederkäuen, 2) von den Wassertieren nur die Fische, welche
Schuppen und Floßfedern haben, verbietet dagegen die
Raubvögel und Kriechtiere. Von Insekten ward die Heuschrecke
gegessen. Verboten war und ist ferner der Blutgenuß, der
Gebrauch des für den Altar bestimmten Opferfettes, die
Vermischung von Fleisch mit Milch oder Butter (gegründet auf
die Bibelstelle: "Du sollst das Lämmlein nicht in der Mutter
Milch kochen"), das Genießen eines Gliedes eines noch
lebenden Tiers. Die Schenkel der Vierfüßer dürfen
erst gebraucht werden, nachdem die Spannader daraus entfernt ist
(1. Mos. 32, 32). Säugetiere und Vögel müssen nach
besonderm Ritus (s. Schächten) geschlachtet, ihr Fleisch
muß vor dem Gebrauch zur Entfernung des Bluts entadert
(geporscht, getriebert), in Wasser gelegt und gesalzen (koscher
gemacht) werden. Von neugeerntetem Getreide durfte vor Ablauf des
Tags, an welchem ein Omer (Mäßchen) Gerste von derselben
Ernte im Tempel geweiht worden, nichts genossen werden. Verboten
war auch der Genuß von Trauben und andern Fruchtgattungen,
welche vermischt gepflanzt worden waren, von allen Früchten,
welche ein Baum in den ersten drei Jahren trug, von Wein, der den
Götzenbildern als Opfer dargebracht worden war, und vom
gesäuerten Brot während des Passahfestes. Alle diese S.
waren bei den Talmudisten Gegenstand einer sehr komplizierten
Kasuistik.

Speisepumpe, s. Dampfkesselspeiseapparate.

Speiseröhre (Schlund, Oesophagus), derjenige Teil
des Vorderdarms, welcher die Verbindung zwischen Mund und Magen
herstellt und die Speisen in letztern zu befördern hat. Bei
den Fischen ist sie sehr weit und geht allmählich in den Magen
über; ähnliches gilt von manchen Amphibien und Reptilien;
bei den Vögeln ist gewöhnlich ein Teil von ihr zur
Bildung eines Kropfes (s. d.) erweitert; dagegen findet bei
Säugetieren eine scharfe Trennung derselben vom Magen statt.
Beim Menschen (s. Tafel "Eingeweide II", Fig. 1 und 3, und
"Mundhöhle", Fig. 2) speziell ist sie ein häutiger, etwa
fingerdicker, aber stark ausdehnbarer Kanal, dessen Wände
platt aufeinander liegen, wenn nicht gerade ein Bissen durch ihn
hindurchgeht. Zwischen der Luftröhre und der

117

Speisesaft - Spektralanalyse.

Wirbelsäule tritt die S. in den Brustraum ein, läuft
neben der rechten Seite der absteigenden Brustaorta bis zum
Zwerchfell und gelangt durch einen Spalt des letztern in der
Höhe des neunten Brustwirbels in die Bauchhöhle, wos ie
sich zum Magen erweitert. Die S. besteht aus einer Schleimhaut und
einer umgebenden Muskelhaut. Krankheiten der S. sind selten, meist
mit Schlingbeschwerden und Schmerzen im Rücken verbunden.
Leichtere Entzündungen kommen vor als Fortsetzungen eines
Rachenkatarrhs oder entzündlicher Mundkrankheiten, z. B. der
Schwämmchen. Schwere Entzündungen der Schleimhaut treten
ein bei Vergiftungen mit ätzenden und scharfen Substanzen
(Ätzkali, Schwefelsäure etc.) und beim Genuß sehr
heißer Speisen. Die wichtigste Krankheit der S. ist der
Krebs, welcher in der S. stets primär unter der Form des
sogen. Kankroids auftritt und zwar am häufigsten am Eingang
vom Schlund zur S., am Eingang der S. zum Magen und zwischen diesen
beiden Orten an der Engigkeit im mittlern Dritteil, wo der linke
Bronchus die S. kreuzt (s. Tafel "Halskrankheiten", Fig. 4). Der
Krebs ist selten eine umfängliche Geschwulst, welche die S.
bis zum Verschluß verengert, meist ist er als fressendes
Geschwür vorhanden, welches zwar gleichfalls Verengerungen
bedingt, außerdem aber noch dadurch gefährlich wird,
daß die Wand der immerhin nicht sehr dicken Röhre
durchbrochen werden kann. Hierbei kommt es leicht vor, daß
eine freie Verbindung mit einem Brustfellsack hergestellt wird, so
daß die verschluckten Speisen in diesen gelangen und
tödliche Brustfellentzündung veranlassen; ferner sind
Fälle beobachtet worden, in denen die Luftröhre oder ein
Bronchus geschwürig zerstört und die Speisen direkt in
die Lungen geschluckt wurden, in noch andern bewirkte eine krebsige
Durchwachsung der Aorta plötzlichen Tod durch Blutsturz. Eine
Heilung des Krebses der S. kommt nicht vor. In den Fällen,
deren Hauptsymptom die Striktur (Verengerung) ist, muß, wie
bei Narbenschrumpfung nach Ätzung, die Behandlung in
vorsichtiger Erweiterung der Striktur durch Bougies und in
Ernährung durch die Schlundsonde bestehen. Fremde Körper
in der S. bilden nicht selten Gelegenheit zu operativem
Einschreiten. Man muß versuchen, diese mit geeigneten
Instrumenten, "Münzenfänger" etc., herauszuholen, oder
sie in den Magen hinabstoßen. Nur in verzweifelten
Fällen schreitet man zur Eröffnung der S. durch den
Speiseröhrenschnitt (griech. Ösophagotomie), indem man
von außen durch die Haut und Muskeln des Halses die
Speiseröhre eröffnet. Diese Operation ist schwierig und
nicht gefahrlos; sie wird auch ausgeführt, wenn nach
Schwefelsäure- oder Laugevergiftungen oder im Gefolge
krebsiger Zerstörungen solche Verengerungen der
Speiseröhre entstanden sind, daß nicht einmal
flüssige Nahrung in den Magen gelangt und der Tod durch
Verhungern droht.

Speisesaft, s. Chylus.

Speiseventil etc., s. Dampfkesselspeiseapparate.

Speisewalzen, an Maschinen die das Material
zuführenden Walzenpaare.

Speisewasser, das zur Versorgung eines Dampfkessels
dienende Wasser.

Speiskobalt (Smaltin, Smaltit), Mineral aus der Ordnung
der einfachen Sulfuride, kristallisiert regulär, findet sich
auch derb, eingesprengt und in mannigfaltig gruppierten Aggregaten,
ist zinnweiß bis grau, mitunter bunt angelaufen oder durch
beginnende Zersetzung zu Kobaltblüte an der Oberfläche
rot gefärbt. Härte 5,5, spez. Gew. 6,4-7,3, besteht aus
Kobaltarsen CoAs2 mit 28,2 Proz. Kobalt, enthält aber meist
auch Eisen, Nickel und Schwefel. In bestimmten Varietäten wird
der Gehalt an Nickel so bedeutend, daß dieselben eher dem
Chloanthit (s. d.) zuzuzählen sein würden, während
man die eisenreichen als graue Speiskobalte (Eisenkobaltkiese) von
den weißen als den wesentlich nur Kobalt führenden
trennt. Ein bis zu 4 Proz. Wismut enthaltendes Mineral wird als
Wismutkobaltkies unterschieden. S. kommt meist auf Gängen,
seltener auf Lagern der kristallinischen Schiefer und der
Kupferschieferformation vor und ist das wichtigste Erz zur
Blaufarbenbereitung, wobei Nickel und weißer Arsenik als
Nebenprodukte gewonnen werden. Hauptfundorte sind: Schneeberg,
Annaberg und andre Orte im sächsisch-böhmischen
Erzgebirge, Richelsdorf und Bieber in Hessen, Dobschau in Ungarn,
Allemont in Frankreich, Cornwall und Missouri.

Speiteufel, Pilz, s. Agaricus III.

Speke (spr. spihk), John Hanning, engl. Reisender, geb.
14. Mai 1827 zu Jordans bei Ilchester in Somerset, stellte sich die
Aufgabe, die Nilquellen aufzufinden, und unternahm 1854 mit Burton
die Bereisung des Somallandes, wobei er von den Eingebornen schwer
verwundet wurde. Im folgenden Jahr beteiligte er sich an dem
Krimkrieg; später (1857-59) treffen wir ihn mit Burton wieder
in Afrika, wo er Ende Juli 1858 den Ukerewe oder Victoria Nyanza
entdeckte. Mit J. A. Grant unternahm er 1860 von Sansibar aus eine
neue Reise, von der er 1863 wieder zu Gondokoro am obern Nil
eintraf, und die ihm die Überzeugung brachte, daß der
Weiße Nil den Ausfluß jenes Sees bilde. S. ist somit
als der Entdecker der Nilquellen anzusehen. Er starb 15. Sept. 1864
durch einen unglücklichen Schuß auf der Jagd bei Bath in
England. Die Resultate seiner Reisen sind niedergelegt im "Journal
of the discovery of the source of the Nile" (Lond. 1863, 2 Bde.;
deutsch, Leipz. 1864, 2 Bde.).

Spektabilität (v. lat. spectabilis, "ansehnlich"),
auf einigen Universitäten Titel der Dekane der philosophischen
Fakultät.

Spektakelstück (Ausstattungs- oder
Sonntagsstück), jedes mit Zügen, Tänzen, Gefechten
etc. ausgestattete Schauspiel, dessen Wirkung vorzüglich auf
die große Masse des Publikums berechnet ist.

Spektral (lat.), auf das Spektrum (s. d.)
bezüglich.

Spektralanalyse (hierzu Tafel "Spektralanalyse"),
Untersuchung des Spektrums des von einem Körper ausgesendeten
oder von ihm durchgelassenen Lichts in der Absicht, die stoffliche
Beschaffenheit des Körpers zu ergründen. Zur Beobachtung
des Spektrums dienen die verschiedenen Arten der Spektroskope. Im
Bunsenschen Spektroskop (Fig. 1, S. 118) steht ein Flintglasprisma
P, dessen brechender Winkel 60° beträgt, mit vertikaler
brechender Kante und in der Stellung der kleinsten Ablenkung auf
einem gußeisernen Stativ. Gegen das Prisma sind drei
horizontale Röhren A, B und C gerichtet. Die erste (A), das
Spaltrohr oder der Kollimator, trägt an ihrem dem Prisma
zugekehrten Ende eine Linse a (Fig. 2), in deren Brennpunkt sich
ein vertikaler Spalt l befindet, der vermittelst einer in Fig. 1
sichtbaren Schraube enger oder weiter gestellt werden kann; die von
einem Punkte des erleuchteten Spalts ausgehenden Lichtstrahlen
werden durch die Linse a, weil sie aus deren Brennpunkt kommen, mit
der Achse des Rohrs A parallel gemacht, treffen, nachdem sie durch
das Prisma abgelenkt worden, ebenfalls unter sich parallel auf die
Objektivlinse b des Fernrohrs B und werden durch diese in ihrer
Brennebene rv in dem Punkt r ver-

117a

Spektralanalyse

Spektren der Fixsterne und Nebelflecke, verglichen mit dem
Sonnenspektrum und den Spektren einiger Nichtmetalle.

Spektren der Alkali- und Erdalkali-Metalle. Nach Bunsen und
Kirchhoff.

118

Spektralanalyse (Apparatbeschreibung).

einigt. Sind die durch den Spalt einfallenden Strahlen homogen
rot, so entsteht bei r ein schmales rotes Bild des vertikalen
Spalts; gehen aber auch violette Strahlen von dem Spalt aus, so
werden diese durch das Prisma stärker abgelenkt und erzeugen
ein violettes Spaltbild bei v. Dringt weißes Licht, das sich
bekanntlich (s. Farbenzerstreuung) aus unzählig vielen
verschiedenfarbigen und verschieden brechbaren Strahlenarten
zusammensetzt, durch den Spalt ein, so legen sich die unzählig
vielen entsprechenden Spaltbilder in ununterbrochener Reihenfolge
nebeneinander und bilden in der Brennebene des Objektivs ein
vollständiges Spektrum r v, welches nun durch das Okular o wie
mit einer Lupe betrachtet wird. Im Spektrum des Sonnenlichts oder
Tageslichts (s. die Tafel) gewahrt man mit großer
Schärfe die Fraunhoferschen Linien (s. Farbenzerstreuung). Um
das Spektrum mit einer Skala vergleichen zu können, trägt
ein drittes Rohr C (das Skalenrohr) an seinem äußern
Ende bei s eine kleine photographierte Skala mit durchsichtigen
Teilstrichen, an seinem innern Ende dagegen eine Linse c, welche um
ihre Brennweite von der Skala entfernt ist. Durch eine Lampenflamme
wird die Skala erleuchtet. Die von einem Punkte der Skala
ausgehenden Strahlen, durch die Linse c parallel gemacht, werden an
der Oberfläche des Prismas auf die Objektivlinse o des
Fernrohrs reflektiert und von dieser in dem entsprechenden Punkt
ihrer Brennebene vereinigt. Durch das Okular schauend, erblickt man
daher gleichzeitig mit dem Spektrum ein scharfes Bild der Skala,
das sich an jenes wie ein Maßstab anlegt. Die Skala ist
willkürlich festgestellt. Eine von Willkür freie Skala
müßte nach den Wellenlängen der verschiedenfarbigen
Strahlen eingeteilt sein. Da aber die Wellenlängen für
die Fraunhoferschen Linien bekannt sind, so kann man für jedes
Spektroskop mit willkürlicher Skala leicht eine Tabelle oder
eine Zeichnung entwerfen, aus welcher für jeden Teilstrich die
zugehörige Wellenlänge abgelesen werden kann.

Die unmittelbare Vergleichung zweier Spektren verschiedener
Lichtquellen wird durch das Vergleichsprisma (Fig. 3)
ermöglicht, ein kleines gleichseitiges Prisma a b, welches,
indem es die untere Hälfte des Spalts m n verdeckt, in diese
kein Licht der vor dem Spalt aufgestellten Lichtquelle F (Fig. 1),
wohl aber durch totale Reflexion auf dem Weg L r t (Fig. 4) das
Licht der seitlich aufgestellten Lichtquelle L (f, Fig. 1)
eindringen läßt. Man erblickt alsdann im Gesichtsfeld
unmittelbar übereinander die Spektren beider Lichtquellen.
Läßt man Tageslicht auf das Vergleichsprisma fallen, so
können die Fraunhoferschen Linien seines Spektrums gleichsam
als Teilstriche einer Skala dienen. Wegen der Ablenkung, die das
Prisma hervorbringt, bilden Spaltrohr u. Fernrohr des Bunsenschen
Spektroskops einen dieser Ablenkung entsprechenden Winkel
miteinander, u. die Visierlinie des Instruments ist geknickt. Durch
passende Zusammensetzung von Flint- und Crownglasprismen kann man
aber sogen. geradsichtige Prismenkombinationen (à vision
directe) herstellen, durch welche die Ablenkung der Strahlen, nicht
aber die Farbenzerstreuung aufgehoben wird, und mit ihrer Hilfe
geradsichtige Spektroskope konstruieren, welche die Lichtquelle
direkt anzuvisieren erlauben. Ein solches ist das in Fig. 5 in
natürlicher Größe dargestellte Browningsche
Taschenspektroskop; s ist der Spalt, C die Kollimatorlinse, p der
aus 3 Flint- und 4 Crownglasprismen, die mittels Ka-

[Fig. 1.]

Fig. 1 u. 2. Bunsens Spektroskop.

119

Spektralanalyse (Ergebnisse und praktische Verwendung).

nadabalsams aneinander gekittet sind, zusammengesetzte
Prismenkörper und O die Öffnung fürs Auge.

Eine vollständigere Ausbreitung des Farbenbildes, als durch
ein solches einfaches Spektroskop möglich ist, wird erzielt
durch eine Reihe hintereinander gestellter Prismen. Schon Kirchhoff
bediente sich eines zusammengesetzten Spektroskops mit vier
Flintglasprismen. Littrow zeigte, daß man die Wirkung eines
jeden Prismas verdoppeln kann, indem man die Strahlen mittels
Spiegelung durch dieselbe Prismenreihe wieder zurücksendet;
dabei werden die Prismen unter sich u. mit dem Beobachtungsfernrohr
durch einen Mechanismus derart verbunden, daß sie sich, wenn
das Fernrohr auf irgend eine Stelle des Spektrums gerichtet wird,
von selbst (automatisch) auf die kleinste Ablenkung für die
betreffende Farbe einstellen. Vorteilhaft wendet man statt
einfacher Prismen Prismensätze an, welche bei
größerer Dispersion kleinere Ablenkung und geringern
Lichtverlust geben. Zur Beobachtung der Protuberanzen, der Flecke,
der Chromosphäre, der Korona etc. der Sonne hat man besondere
Spektroskope, welche statt des Okulars an das astronomische
Fernrohr angeschraubt werden, so daß das von dem Objektiv
desselben entworfene Sonnenbild auf die Spaltfläche des
Spektroskops fällt und der Spalt auf beliebige Teile dieses
Sonnenbildes eingestellt werden kann. Da das Bild eines Fixsterns
im Fernrohr nur als ein Lichtpunkt erscheint, so würde sein
Spektrum einen sehr schmalen Streifen bilden, in welchem, weil die
Ausdehnung in die Breite fehlt, dunkle Linien nicht wahrgenommen
werden könnten; dieselben werden jedoch wahrnehmbar bei
Anwendung einer geeigneten Cylinderlinse, welche das schmale
Spektrum in die Breite dehnt. Das Prisma der Spektroskope kann auch
durch ein Gitter (s. Beugung) ersetzt werden (Gitterspektroskope).
Das Taschenspektroskop von Ladd unterscheidet sich von dem
Browningschen bloß dadurch, daß es statt des
Prismensatzes ein photographiertes Gitter enthält.

Weißglühende feste Körper sowie die hell
leuchtenden Flammen der Kerzen, Lampen und des Leuchtgases, in
welchen feste Kohlenteilchen in weißglühendem Zustand
schweben, geben kontinuierliche Spektren, in welchen alle Farben
vom Rot bis zum Violett vertreten sind. Die Spektren glühender
Gase und Dämpfe dagegen bestehen aus einzelnen hellen Linien
auf dunklem oder schwach leuchtendem Grunde, deren Lage und
Gruppierung für die chemische Beschaffenheit des
gasförmigen Körpers charakteristisch ist. Bringt man z.
B. in die schwach leuchtende Flamme eines Bunsenschen Brenners eine
in das Öhr eines Platindrahts (Fig. 1) eingeschmolzene Probe
eines Natriumsalzes (etwa Soda oder Kochsalz), so färbt sich
die Flamme gelb, und im Spektroskop erblickt man eine schmale gelbe
Linie am Teilstrich 50 der Skala. Diese Linie ist für das
Natrium charakteristisch und verrät die geringsten Spuren
dieses Elements; noch der dreimillionste Teil eines Milligramms
Natriumsalz kann auf diesem Weg nachgewiesen werden. Von
ähnlicher Empfindlichkeit ist die Reaktion des Lithiums,
dessen Spektrum durch eine schwache orangegelbe und eine intensiv
rote Linie sich kennzeichnet. Kalisalze geben ein schwaches
kontinuierliches Spektrum mit einer Linie im äußersten
Rot und einer andern im Violett. Bunsen, welchem mit Kirchhoff das
Verdienst gebührt, die S. zu einer chemischen
Untersuchungsmethode ausgebildet zu haben, fand auf
spekralanalytischem Weg die bis dahin unbekannten Metalle Rubidium
und Cäsium auf, und andre Forscher entdeckten mittels
derselben Methode das Thallium, Indium und Gallium. Die Temperatur
der Bunsenschen Flamme, in welcher die Salze der Alkali- und
Erdalkalimetalle leicht verdampfen, reicht zur Verflüchtigung
andrer Körper, namentlich der meisten schweren Metalle, nicht
aus. In diesem Fall bedient man sich des Ruhmkorffschen
Funkeninduktors, dessen Funken man zwischen Elektroden, welche aus
dem zu untersuchenden Metall verfertigt oder mit einer Verbindung
desselben überzogen sind, überschlagen läßt.
Auch die Spektren der schweren Metalle sind durch
charakteristische, oft sehr zahlreiche helle Linien ausgezeichnet;
im Spektrum des Eisens z. B. zählt man deren mehr als 450. Um
Salze, die in Flüssigkeiten gelöst sind, im
Induktionsfunken zu glühendem Dampf zu verflüchtigen,
bringt man ein wenig von der Flüssigkeit auf den Boden eines
Glasröhrchens, in welchen ein von einer Glashülle
umgebener Platindraht eingeschmolzen ist, der mit seiner Spitze nur
wenig über die Oberfläche der Flüssigkeit
hervorragt; der Induktionsfunke, welcher zwischen diesem und einem
zweiten von oben in das Röhrchen eingeführten Platindraht
überschlägt, reißt alsdann geringe Mengen der
Lösung mit sich und bringt sie zum Verdampfen. Um ein Gas
glühend zu machen, läßt man die Entladung des
Induktionsapparats mittels der eingeschmolzenen Drähte a und b
durch eine sogen. Geißlersche Spektralröhre (Fig. 6)
gehen, welche das Gas in verdünntem Zustand enthält.
Befindet sich z. B. Wasserstoffgas in der Röhre, so leuchtet
ihr mittlerer enger Teil mit schön purpurrotem Lichte, dessen
Spektrum aus drei hellen Linien besteht, einer roten, welche mit
der Fraunhoferschen Linie C, einer grünblauen, die mit F, und
einer violetten, die nahezu mit G zusammenfällt. Viel
komplizierter ist das Spektrum des Stickstoffs, welches aus sehr
zahlreichen hellen Linien und Bändern besteht.

Eine wichtige technische Anwendung hat die S. bei der
Gußstahlbereitung durch den Bessemer-Prozeß gefunden.
Die aus der Mündung des birnförmigen Gefäßes,
in welchem dem geschmolzenen Gußeisen durch einen
hindurchgetriebenen Luftstrom ein Teil seines Kohlenstoffs entzogen
wird, hervorbrechende glänzende Flamme zeigt im Spektroskop
ein aus hellen farbigen Linien bestehendes Spektrum, welches im
Lauf des Prozesses sich ändert, und an dem gesteigerten Glanz
gewisser grüner Linien den Augenblick erkennen
läßt, in welchem die Oxydation des Kohlenstoffs den
gewünschten Grad erreicht hat und der Gebläsewind
abgestellt werden muß. Auch die dunkeln Absorptionsstreifen
auf hellem Grund,

120

Spektralanalyse (Bedeutung für die Astronomie etc.).

welche farbige Körper im Spektrum des durchgelassenen
Tages- oder Lampenlichts hervorbringen, sind für die chemische
Beschaffenheit dieser Körper charakteristisch und gestatten,
dieselben spektralanalytisch zu erkennen. Das Spektroskop kann
daher in vielen Fällen dazu dienen, die Echtheit oder
Verfälschung von Nahrungsmitteln, Droguen etc. nachzuweisen.
Das Mikrospektroskop, ein mit einem Prismensatz ausgerüstetes
Mikroskop, gestattet, diese Untersuchungsmethode auf die kleinsten
Mengen anzuwenden. Auch in die gerichtliche Medizin hat die S.
Eingang gefunden, weil sie die geringsten Mengen Blut nachzuweisen
vermag.

Die spektroskopische Untersuchung der Absorptionsspektren kann
sogar dazu dienen, die Menge der in einer Lösung enthaltenen
färbenden Substanz zu ermitteln (quantitative S.). Zu diesem
Zweck besteht der Spalt (nach Vierordt) aus einer obern und untern
Hälfte, deren jede unabhängig von der andern enger und
weiter gemacht werden kann. Tritt nun z. B. durch die obere
Hälfte des Spalts das ungeschwächte Licht, durch die
untere das durch die absorbierende Substanz gegangene Licht ein, so
erblickt man im Gesichtsfeld unmittelbar übereinander zwei
Spektren und bewirkt nun durch Verengerung der obern
Spalthälfte, daß irgend eine Farbe in beiden Spektren
die gleiche Helligkeit zeigt. Die Lichtstärken dieser Farben
in den beiden Strahlenbündeln verhalten sich dann umgekehrt
wie die durch Mikrometerschrauben zu messenden Spaltbreiten. Die
absorbierende Wirkung einer und derselben gelösten Substanz
steigt aber mit der Konzentration; man kann daher aus der durch ein
solches Spektrophotometer bewirkten Messung der Lichtstärken
unter Berücksichtigung des bekannten Absorptionsgesetzes auf
die Menge der Substanz schließen. Bei andern
Spektrophotometern (Glan) wird die Schwächung des einen
Strahlenbündels durch Polarisation bewirkt.

Schon Fraunhofer hatte beobachtet, daß die helle gelbe
Linie des Natriumlichts dieselbe Stelle im Spektrum einnimmt wie
die dunkle Linie D des Sonnenlichts. Kirchhoff zeigte nun,
daß ein gas- oder dampfförmiger Körper genau
diejenigen Strahlengattungen absorbiert, welche er im
glühenden Zustand selbst aussendet, während er alle
andern Strahlenarten ungeschwächt durchläßt. Bringt
man z. B. eine Spiritusflamme, deren Docht mit Kochsalz eingerieben
ist, zwischen das Auge und ein Taschenspektroskop und blickt durch
letzteres nach einer Lampenflamme, so sieht man das umgekehrte
Spektrum des Natriums, d. h. die Natriumlinie erscheint dunkel auf
hellem Grund, weil die Natriumflamme für Strahlen von der
Brechbarkeit derer, welche sie selbst aussendet, undurchsichtig,
für alle andern Strahlen aber durchsichtig ist. Bei genauer
Vergleichung der Fraunhoferschen dunkeln Linien mit den hellen
Linien irdischer Stoffe stellte sich nun heraus, daß eine
sehr große Anzahl jener mit diesen genau übereinstimmt;
so hat z. B. jede der mehr als 450 hellen Linien des Eisens ihr
dunkles Ebenbild im Sonnenspektrum. Es erscheint demnach Kirchhoffs
Schluß berechtigt, daß die Sonne ein glühender
Körper ist, dessen Oberfläche, die Photosphäre,
weißes Licht ausstrahlt, welches an und für sich ein
kontinuierliches Spektrum geben würde, und daß die
Photosphäre rings von einer aus glühenden Gasen und
Dämpfen bestehenden Hülle von niedrigerer Temperatur (der
Chromosphäre) umgeben ist, durch deren absorbierende Wirkung
die Fraunhoferschen Linien hervorgebracht werden. Die S. des
Sonnenlichts gibt uns demnach Aufschluß über die
chemische Zusammensetzung der Sonnenatmosphäre. Die
vergleichenden Untersuchungen über die Spektren der Sonne und
irdischer Stoffe sind in ausgedehnten sorgfältigen Zeichnungen
niedergelegt; diejenige Kirchhoffs stellt das prismatische Spektrum
dar und ist auf eine willkürliche Skala bezogen. Später
hat Angström unter Mitwirkung von Thalen ein 3,5 m langes Bild
des Gitterspektrums entworfen, in welches die Linien nach ihren
Wellenlängen eingetragen sind. Für die brechbaren Teile
des Spektrums vom Grün an und insbesondere auch für die
ultravioletten Strahlen erhält man das Spektralbild statt
durch mühsame Zeichnung leicht auf dem Weg der Photographie.
Besonders schön und ausgedehnt ist die von Rowland mit Hilfe
eines Reflexionsgitters hergestellte Photographie des Spektrums.
Den ultraroten Teil des Spektrums hat Becquerel unter Zuhilfenahme
von Phosphoreszenz gezeichnet, und Abney ist es gelungen, auch die
roten und ultraroten Strahlen zu photographieren. - Außer den
unzweifelhaft der Sonne angehörigen Spektrallinien gewahrt man
im Sonnenspektrum noch andre dunkle Linien, welche erst durch die
absorbierende Wirkung der Erdatmosphäre entstanden sind und
deshalb atmosphärische Linien heißen. Die
Fraunhoferschen Linien A und B erscheinen um so dunkler, je tiefer
die Sonne steht, und verraten dadurch ihren irdischen Ursprung;
nach Angström rühren sie wahrscheinlich von der
Kohlensäure unsrer Atmosphäre her. Andre dunkle Linien
und Bänder zwischen A und D, namentlich ein Band unmittelbar
vor D, sind dem Wasserdampf der Atmosphäre zuzuschreiben. Man
nennt sie Regenbänder, weil sie durch ihr Dunklerwerden
bevorstehende Niederschläge ankündigen. - Der Mond und
die Planeten, welche mit erborgtem Sonnenlicht leuchten,
müssen natürlich ebenfalls die Fraunhoferschen Linien
zeigen. Das Spektrum des Mondes stimmt mit demjenigen der Sonne
vollkommen überein, ein neuer Beweis dafür, daß der
Mond keine Atmosphäre hat. Venus, Mars, Jupiter und Saturn
dagegen lassen in ihren Spektren deutlich den Einfluß ihrer
Atmosphären erkennen, welche unzweifelhaft Wasserdampf
enthalten. Die Spektren der Fixsterne zeigen, ähnlich
demjenigen unsrer Sonne, dunkle Linien, welche jedoch unter sich
und von denen im Sonnenspektrum zum Teil verschieden sind. Im
Aldebaran z. B. vermochte Huggins Natrium, Magnesium, Calcium,
Eisen, Wismut, Tellur, Antimon, Quecksilber und Wasserstoff
nachzuweisen, wovon weder Wismut noch Tellur auf unsrer Sonne
vorkommen; Beteigeuze enthält dieselben Elemente wie
Aldebaran, mit Ausnahme von Quecksilber und Wasserstoff. Auch die
Farben der Sterne erklären sich aus der Beschaffenheit ihres
Spektrums. Von den beiden Sternen z. B., welche den Doppelstern
ß [beta] im Schwan bilden, erscheint der eine gelbrot, weil
dunkle Linien hauptsächlich im Blau und Rot seines Spektrums
auftreten, der andre blau, weil das Rot und Orange seines Spektrums
mit dicht gedrängten dunkeln Linien erfüllt ist.
Über die Einteilung der Fixsterne nach ihrem spektralen
Verhalten s. Fixsterne, S. 325. Als im Mai 1866 der bisher nur
teleskopisch sichtbare Stern T im Sternbild der Nördlichen
Krone fast plötzlich bis zur zweiten Größe
aufleuchtete, zeigte sein Spektrum auf kontinuierlichem, mit
dunkeln Linien durchzogenem Grund mehrere helle Linien, von denen
zwei (C und F) dem Wasserstoff angehörten, und welche nach
zwölf Tagen, nachdem der Stern von der zweiten bis zur achten
Größe herabgesunken war, wieder verschwunden waren. Das
Aufleuchten des Sterns erklärt sich demnach

121

Spektralapparate - Spekulation.

durch einen vorübergehenden Ausbruch glühenden
Wasserstoffs. Über die Spektren der Kometen und Nebelflecke s.
d.

Wenn eine Lichtquelle mit großer Geschwindigkeit, welche
mit derjenigen des Lichts vergleichbar ist, sich uns nähert
oder von uns entfernt, so müssen von jeder homogenen
Lichtsorte, welche sie aussendet, im ersten Fall mehr, im letzten
Fall weniger Schwingungen pro Sekunde auf das Auge oder das Prisma
treffen, als wenn die Lichtquelle stillstände. Da aber die
Farbe und die Brechbarkeit eines homogenen Lichtstrahls durch die
Anzahl seiner Schwingungen bedingt sind, so muß jene im
erstern Fall etwas erhöht, im letztern Fall etwas erniedrigt
sein, d. h. die Spektrallinie, welche dieser Strahlenart
entspricht, wird nach dem violetten Ende des Spektrums verschoben
erscheinen, wenn die Lichtquelle sich nähert, dagegen nachdem
roten Ende, wenn die Lichtquelle sich entfernt. Man nennt diesen
Satz, welcher für jede Wellenbewegung gilt und für
Schallschwingungen direkt nachgewiesen ist, das Dopplersche
Prinzip. Als Huggins die Linie F des Siriusspektrums mit der
gleichnamigen Wasserstofflinie einer Geißlerschen Röhre
verglich, konstatierte er eine meßbare Verschiebung der
erstern gegen die letztere nach dem roten Ende hin und berechnete
daraus, daß sich der Sirius mit einer Geschwindigkeit von 48
km pro Sekunde von der Erde entfernt. In dieser Weise können
mittels des Spektroskops Bewegungen wahrgenommen und gemessen
werden, welche in der Gesichtslinie selbst auf uns zu oder von uns
weg gerichtet sind, während ein Fernrohr nur solche Bewegungen
wahrzunehmen gestattet, welche senkrecht zur Gesichtslinie
erfolgen. So hat Lockyer aus den eigentümlichen Verschiebungen
und Verzerrungen, welche die dunkle Linie F des Sonnenspektrums und
die helle Linie F der Chromosphäre bisweilen zeigen, den
Schluß ziehen können, daß in der
Sonnenatmosphäre Wirbelstürme wüten, deren
Geschwindigkeit gewöhnlich 50-60, ja manchmal 190 km
beträgt, während die heftigsten Orkane unsrer
Erdatmosphäre höchstens eine Geschwindigkeit von 45 m in
der Sekunde erreichen. Vgl. Schellen, Die S. (3. Aufl., Braunschw.
1883); Roscoe, Die S. (deutsch von Schorlemmer, 2. Aufl., das.
1873); Zech, das Spektrum und die S. (Münch. l875); Vogel,
Praktische S. irdischer Stoffe (2.Aufl., Nördling. 1888);
Lockyer, Das Spektroskop (deutsch, Braunschw. 1874); Derselbe,
Studien zur S. (deutsch, Leipz. 1878); Vierordt, Quantitative S.
(Tübing. 1875); Klinkerfues, Die Prinzipien der S. und ihre
Anwendung in der Astronomie (Berl. 1878); Kayser, Lehrbuch der S.
(das. 1883).

Spektralapparate (lat.), optische Apparate zur Erzeugung
und Beobachtung des Spektrums: Spektrometer und Spektroskop.

Spektralfarben, die Farben des Spektrums (s. d.).

Spektrometer (lat.-griech.), Apparat zur genauen Messung
der Ablenkung der verschiedenen homogenen farbigen Strahlen eines
durch ein Prisma oder Gitter entworfenen Spektrums. Das
Meyersteinsche S. (s. Figur) ist ähnlich eingerichtet wie das
Bunsensche Spektroskop (s. Spektralanalyse), und die Wirkungsweise
der entsprechenden Teile ist die nämliche. Das Spaltrohr und
das Fernrohr sind nach der Mitte des Tischchens gerichtet, auf
welchem das Prisma (oder das Gitter etc.) aufgestellt wird. Zwei
geteilte Kreise, ein kleinerer und ein größerer, sind
unabhängig voneinander um ihre vertikalen Achsen drehbar; der
letztere dreht sich mit dem Fernrohr und gestattet, an den
feststehenden Nonien die jeweilige Ablenkung der am Fadenkreuz des
Fernrohrs erscheinenden Spektrallinie abzulesen, während der
erstere. das Prisma tragende durch eine Klemme festgehalten wird.
Läßt man dagegen den größern Kreis
feststehen, während man durch das ebenfalls feststehende
Fernrohr das an einer Prismenfläche gespiegelte Spaltbild
anvisiert, und dreht nun den kleinern Kreis samt dem von ihm
getragenen Prisma, bis das an der zweiten Prismenfläche
gespiegelte Spaltbild am Fadenkreuz erscheint, so erfährt man
aus der Drehung, welche man am Nonius des kleinern Kreises abliest,
den brechenden Winkel des Prismas; das S. spielt in diesem letztern
Fall die Rolle eines Reflexionsgoniometers (s. Goniometer). Das
Instrument liefert demnach bequem und sicher die beiden Daten, den
brechenden Winkel und die kleinste Ablenkung, welche zur Berechnung
der Brechungsverhältnisse (s. Brechung des Lichts)
erforderlich sind. Vgl. Meyerstein, Das S. (2. Aufl., Götting.
1870).

[Abb: Meyersteins Spektrometer.]

Spektrophon (lat.-griech.), s. Radiophonie.

Spektroskop (lat.-griech.), s. Spektralanalyse.

Spektrum (lat., "Gespenst"), das Farbenbild, in welches
zusammengesetztes Licht durch Dispersion mittels eines Prismas oder
durch Beugung ausgebreitet wird; s. Farbenzerstreuung,
Spektralanalyse.

Spekulation (lat.) hat in den verschiedenen
philosophischen Schulen eine verschiedene Bedeutung, indem man
darunter bald ein streng begriffmäßiges
(wissenschaftliches) Denken und Erkennen, bald ein von
vernünftigem Reflektieren absehendes visionäres Schauen
versteht. In letzterer Bedeutung nahmen die S. zuerst die
Neuplatoniker und neuerlich die Schulen des transcendentalen und
absoluten Idealismus auf. Die Hegelsche Schule versteht unter S.
dasjenige Denken, welches streng methodisch alle Gegensätze
und Widersprüche in den Begriffen in höhere Einheiten
aufzulösen sucht. Herbart stellt der spekulativen Philosophie
die Aufgabe, die in der Erfahrung enthaltenen Widersprüche
darzulegen und mittels logischer Bearbeitung der Begriffe zu
beseitigen. - Im gewöhnlichen Leben, insbesondere im Handel,
nennt man S. jede auf die Durchführung sol-

122

Spekulationsverein - Spencer.

cher Unternehmungen gerichtete Erwägung, bei welchen der
erwartete Gewinn durch Eintritt oder Ausbleiben von Ereignissen
bedingt ist, die von dem Willen des Unternehmers (Spekulanten)
selber unabhängig sind. Eine jede Unternehmung beruht mehr
oder weniger auf spekulativer Grundlage, und die S. ist als eine
Berücksichtigung zukünftiger Möglichkeiten an und
für sich eine unerläßliche Bedingung geordneter
Bedarfsdeckung und eines geregelten Wirtschaftslebens. Zu
unterscheiden von der soliden S. ist das Spekulationsmanöver,
welches unter Benutzung monopolistischer Stellung durch Aufkauf und
"Erwürgen" (Vorschreibung harter Bedingungen für
bedrängte Schuldner) oder auch durch betrügerische
Anpreisung, unzulässige Verteilung zu hoher Dividenden etc.
die Preise künstlich zu verändern sucht.
Spekulationspapiere sind solche Wertpapiere, welche starken
Kursschwankungen unterworfen und daher zur Gewinnerzielung aus Kauf
und Verkauf sehr geeignet sind. Über Spekulationskauf vgl.
Börse, S. 235.

Spekulationsverein (franz. Association en participation),
s. Gelegenheitsgesellschaft.

Spekulativ (lat.), auf Spekulation gerichtet,
bezüglich, begründet; spekulieren, sich mit Spekulationen
beschäftigen.

Spello, Stadt in der ital. Provinz Perugia, Kreis
Foligno, an der Eisenbahn Florenz-Foligno-Rom, mit 2 alten Kirchen
(mit Gemälden von Pinturicchio und Perugino), einem
Konviktkollegium und (1881) 2419 Einw.; das alte Hispellum, wovon
noch ansehnliche Reste vorhanden sind.

Spelt, s. Spelz.

Spelter, s. v. w. Zink.

Spelunke (lat.), Höhle; höhlenartige, dunkle,
versteckte Räumlichkeit.

Spelz (Spelt, Dinkel, Dinkelweizen, Triticum Spelta L.),
Pflanzenart aus der Gattung Weizen, mit vierseitiger, wenig
zusammengedrückter, lockerer Ähre, meist
vierblütigen Ährchen und breit eiförmigen,
abgeschnittenen, zweizähnigen Deckspelzen, gibt beim Dreschen
nicht Körner, sondern nur die von der Spindel abgesprungenen
Ährchen (Vesen). Der Dinkel, aus Mesopotamien und Persien
stammend, wurde schon von den alten Griechen kultiviert und ist die
Zea der Römer, wird auch seit alter Zeit in Schwaben und der
Schweiz als Brotfrucht gebaut (der Lech scheidet ziemlich scharf
das Roggen- vom Spelzland). Er ist dem Weizen in mancher Hinsicht
vorzuziehen, hat aber trotzdem wenig Verbreitung gefunden, weil die
Vesen besondere Mahleinrichtungen fordern und das Dinkelbrot schon
am dritten Tag Risse bekommt. Der S. enthält im Mittel 11,02
Proz. eiweißartige Körper, 2,77 Fett, 66,44
Stärkemehl und Dextrin, 5,47 Holzfaser, 2,21 Asche und 12,09
Proz. Wasser. Das Amelkorn (Gerstendinkel, Reisdinkel, Zweikorn,
Emmer, Ammer, Sommerspelz, T. amyleum Ser., T. dicoccum Schrk.),
mit zusammengedrückter, dichter Ähre, zweizeilig
stehenden, meist vierblütigen Ährchen mit zwei
Körnern und zwei Grannen und schief abgeschnittenen, an der
Spitze mit einem eingebogenen Zahn, auf dem Rücken mit
hervortretendem Kiel versehenen Deckspelzen, wird im Dinkelgebiet
und in Südeuropa seit alters her hauptsächlich als
Sommerfrucht gebaut und liefert vortreffliche Graupen und
vorzügliches Pferdefutter, aber rissiges Gebäck. Das
Einkorn (Peterskorn, Blicken, Pferdedinkel, in Thüringen
Dinkel, T. monococcum L.), mit zusammengedrückter Ähre,
meist dreiblütigen, reif nur einkörnigen, eingrannigen
Ährchen und an der Spitze mit einem geraden, zahnförmigen
Ende des Kiels und zwei seitlichen geraden Zähnen versehenen
Deckspelzen, wird im Gebirge auf magerm Boden gebaut, gibt dort nur
das dritte Korn und wird als treffliches Pferdefutter verwertet.
Einkorn ist das in der Bibel vorkommende Kussemeth, aus welchem
Syrer und Araber ihr Brot machten. Es hat wenig Verbreitung
gefunden.

Spelzblütige, s. Glumifloren.

Spelzen, die Deckblätter der Ährchen (s. d.),
besonders bei den Gräsern.

Spencemetall (Eisenthiat), ein von Spence angegebenes
zusammengeschmolzenes Gemisch von Schwefeleisen, Schwefelzink,
Schwefelblei mit Schwefel, ist metallähnlich, dunkelgrau, fast
schwarz, vom spez. Gew. 3,5-3,7; es ist sehr zäh, etwas
elastisch, die Zugfestigkeit beträgt 45 kg pro 1 qcm, es
leitet die Wärme schlecht und schmilzt bei 156-170°. Auf
der Bruchfläche ist es dem Gußeisen ähnlich, und
der Ausdehnungskoeffizient scheint sehr klein zu sein. Beim
Erstarren dehnt es sich wie Wismut und Letternmetall aus, liefert
sehr scharfe Abgüsse und eignet sich zur Verbindung von Gas-
und Wasserröhren. Im Vergleich mit andern metallischen
Substanzen widersteht das S. den Säuren und Alkalien sehr gut,
auch nimmt es hohe Politur an und verliert diese nicht unter dem
Einfluß der Witterung. Es läßt sich auch sehr gut
bearbeiten, und bei seinem niedrigen Preis und dem geringen
spezifischen Gewicht stellt sich die Benutzung ungemein billig. Da
es von Wasser nicht angegriffen wird, eignet es sich
vorzüglich zur Herstellung von Wasserzisternen, wegen des
schlechten Wärmeleitungsvermögens zur Bekleidung von
Wasserröhren, die es auch vor Rost schützt. In chemischen
Fabriken dürfte das S. vielfach als Surrogat des Bleies
verwendbar sein; auch eignet es sich als Verbindungsmittel für
Eisen mit Stein oder Holz, zum hermetischen Verschluß von
Flaschen und Büchsen, zum Einhüllen von Früchten und
Lebensmitteln, zu Zeugdruckwalzen, Zapfenlagern, Gußformen,
als Unterlage von Klischees etc. S. bildet auch ein gutes Material
für Kunstguß und Klischees, es gibt die feinsten Details
außerordentlich scharf wieder, und durch geeignete Behandlung
kann man den Gegenständen eine dunkelblaue Farbe oder eine
Gold- oder Silber- oder eine der grünen Bronzepatina
ähnliche Farbe geben. Die Gußformen können aus
Metall, Gips, selbst aus Gelatine bestehen, da das S. schnell genug
erstarrt, um einen scharfen Abguß zu liefern, bevor noch die
Form zerstört wird.

Spencer, 1) Georg John, Graf, engl. Bibliophile, geb. 1.
Sept. 1758 als Sohn des Lords S., der 1761 zum Viscount Althorp und
1765 zum Grafen S. erhoben wurde, machte seine Studien auf der
Universität zu Cambridge, bereiste dann Europa und wurde nach
seiner Rückkehr in das Parlament gewählt. Nach dem Tod
seines Vaters trat er 1783 in das Oberhaus ein, wurde 1794 zum
ersten Lord der Admiralität ernannt, zog sich dann 1801 mit
Pitt zurück, übernahm aber in Fox' und Grenvilles
Ministerium auf kurze Zeit von neuem das Staatssekretariat des
Innern und lebte seitdem in Zurückgezogenheit, bis er 10. Nov.
1834 starb. Durch Ankauf der Büchersammlung des Grafen von
Rewiczki 1789 hatte er den Grund zu einer Bibliothek gelegt, die er
in der Folge durch umfassende und kostspielige Neuerwerbungen zur
größten und glänzendsten Privatbüchersammlung
von ganz Europa erhob. Sie zählt über 45,000 Bände
und befindet sich zum größ-

123

Spencer-Churchill - Spener.

ten Teil auf dem Stammsitz der Familie zu Althorp in
Northamptonshire, der Rest in London. Über den Reichtum
derselben an ältesten Buchdruckereierzeugnissen und ersten
Klassikerausgaben vgl. Dibdin, Bibliotheca Spenceriana (Lond. 1814,
4 Bde.). Auch eine reichhaltige Gemäldesammlung hatte S.
angelegt, welche Dibdin in Bd. 1 seines Werkes "Aedes Althorpianae"
(Lond. 1822) beschreibt, während er in Bd. 2 als Nachtrag zu
der "Bibliotheca Spenceriana" eine Beschreibung der kostbarsten,
1815-1822 noch angeschafften alten Drucke gibt.

2) John Charles, Graf von, brit. Staatsmann, bekannter unter dem
Namen Lord Althorp, geb. 30. Mai 1782, trat nach Vollendung seiner
Studien zu Cambridge 1803 ins Unterhaus und war unter Fox und
Grenville Lord des Schatzes. Er stand auf seiten der Whigs. Im
Ministerium Grey (1830) wurde er Kanzler der Schatzkammer und galt
in allen finanziellen und staatswirtschaftlichen Fragen als
Autorität. Er legte auch 2. Febr. 1833 dem Unterhaus die
irische Kirchenreformbill vor, welche der Appropriationsklausel
wegen im Kabinett selbst eine Spaltung hervorrief. Als er 1834
durch den Tod seines Vaters Mitglied des Oberhauses ward,
mußte er sein Schatzkanzleramt niederlegen und widmete sich
fortan landwirtschaftlicher Beschäftigung. Später trat er
zu der Anticornlawleague. Er starb 1. Okt. 1845. Vgl. Le Marchant,
Memoirs of John Charles Viscount Althorp, third Earl of S. (Lond.
1876).

3) Frederick, vierter Graf von, Bruder des vorigen, geb. 14.
April 1798, trat in den Marinedienst, zeichnete sich in der
Schlacht von Navarino aus, erbte 1845 Titel und Güter seines
Bruders, war vom Juli 1846 bis September 1848 Lord-Oberkammerherr,
avancierte 1852 zum Konteradmiral und übernahm Anfang 1854 als
Nachfolger des Herzogs von Norfolk das Amt eines Lord-Steward; er
starb 27. Dez. 1857.

4) John Poynty, fünfter Graf von, brit. Staatsmann, Sohn
des vorigen, geb. 27. Okt. 1835, erzogen zu Harrow und Cambridge,
war bis zum Tod seines Vaters (27. Dez. 1857) für Northampton
Mitglied des Unterhauses, wo er sich der liberalen Partei
anschloß, und trat dann in das Oberhaus ein. Von 1859 bis
1861 war er Oberkammerherr (groom of the stole) des Prinzen Albert
und bekleidete dann von 1862 bis 1867 das gleiche Amt in der
Hofhaltung des Prinzen von Wales. Als im Dezember 1868 Gladstone
ein neues Ministerium bildete, wurde S. zum Vizekönig von
Irland ernannt, nahm aber im Februar 1874 beim Sturz der liberalen
Partei seine Entlassung. Im neuen Gladstoneschen Kabinett (1880-85)
erhielt er erst das Amt eines Präsidenten des Geheimen Rats,
dann 1882 das des Vizekönigs von Irland und übernahm 1886
auf kurze Zeit wieder das Präsidium des Geheimen Rats.

5) Herbert, engl. Philosoph, geb. 1820 zu Derby, wurde von
seinem Vater, einem Lehrer der Mathematik, und seinem Oheim Thomas
S., einem liberalen Geistlichen, erzogen, zuerst Zivilingenieur,
sodann Journalist und (von 1848 bis 1859) Mitarbeiter an dem von J.
Wilson herausgegebenen "Economist", an der "Westminster" und
"Edinburgh Review" und andern Zeitschriften, endlich
philosophischer Schriftsteller und Begründer eines eignen
Systems, das er als Evolutions- oder Entwickelungsphilosophie
bezeichnete. Seine erste bedeutende Schrift war eine Statistik der
Gesellschaft unter dem Titel: "Social statics" (1851, 1868) nebst
einem Auszug daraus: "State education self defeating" (1851),
welcher die "Principles of psychology" (1855) folgten; 1860 begann
er nach dem Vorbild von Comtes "Cours de philosophie positive" eine
zusammenhängende Folge von philosophischen Werken ("System of
synthetic philosophy"), in welchen "nach ihrer natürlichen
Ordnung" die Prinzipien der Biologie, Psychologie, Sociologie und
Moral entwickelt werden sollen. Die bisher erschienenen Bände
derselben umfassen: "First principles" (1862, 5. Aufl. 1884;
deutsch von Vetter, Stuttg. 1876-77), "Principles of biology"
(1865, 2 Bde.), eine Umarbeitung der "Principles of psychology"
(1870; 3. Aufl. 1881, 2 Bde.), "Principles of sociology" (1876-79,
2 Bde.; deutsch von Vetter, Stuttg. 1877 ff.), "Ceremonial
institutions" (1879), "Political institutions" (1882),
"Ecclesiastical institutions" (1885) und "The data of ethics"
(1879). Außerdem veröffentlichte S.: "Education:
intellectual, moral and physical" (1861, 16. Aufl.1885; deutsch von
Schultze, 3. Aufl., Jena 1889); "Essays, scientific, political and
speculative" (1858 bis 1863, 2 Bde.; 4. Aufl. 1885, 3 Bde.);
"Classification of the sciences" (1864, 3. Aufl. 1871); "Recent
discussions in science, philosophy and morals" (1871); "Study of
sociology" (1873, 14. Aufl. 1889; deutsch von Marquardsen, Leipz.
1875, 2 Bde.); "Descriptive sociology" (mit Callier, Scheppig und
Duncan, 1873 ff, 6 Bde.); "The rights of children and the true
principles of family government" (1879) u. a. Vgl. Fischer,
Über das Gesetz der Entwickelung auf physisch-ethischem Gebiet
mit Rücksicht auf Herbert S. (Würzb. l875); Guthrie, On
Spencer's unification of knowledge (Lond. 1882); Michelet, Spencers
System der Philosophie (Halle 1882).

Spencer-Churchill, s. Marlborough 3-6).

Spencer-Gewehr, s. Handfeuerwaffen, S. 107.

Spencergolf, großer, tief in das Land eindringender
Golf der Kolonie Südaustralien, zwischen der Eyria- und der
Yorkehalbinsel. Seine Küsten enthalten eine Reihe
mittelmäßiger Häfen, der bedeutendste an seiner
Nordspitze ist Port Augusta, nächstdem Port Pirie, Port
Broughton und Wallaroo. An seinem Südwestende bildet Port
Lincoln einen der vortrefflichsten Häfen der Welt, leider
bietet aber das Land in seiner Umgebung dem Ansiedler sehr
wenig.

Spendieren (ital.), freigebig sein, zum besten geben,
schenken; spendabel, freigebig.

Spener, Philipp Jakob, der Stifter des Pietismus, geb.
13. Jan. 1635 zu Rappoltsweiler im Oberelsaß, widmete sich zu
Straßburg theologischen Studien, war 1654-56 Informator
zweier Prinzen aus dem Haus Pfalz-Birkenfeld und besuchte seit 1659
noch die Universitäten Basel, Genf und Tübingen. Der
Aufenthalt in Genf war insofern für seine spätere
Entwickelung von Bedeutung, als er hier zu Labadie (s. d.) und
damit zum reformierten Pietismus in Beziehung trat. Aber sein
Interesse galt damals mehr der Heraldik; Früchte seiner darauf
bezüglichen Studien waren: "Historia insignium" (1680) und
"Insignium theoria" (1690), welche Werke in Deutschland die
wissenschaftliche Behandlung der Heraldik begründeten. 1663
ward S. Freiprediger zu Straßburg, 1664 daselbst Doktor der
Theologie, 1666 Senior der Geistlichkeit in Frankfurt a. M. In
dieser Stellung begann er, durchdrungen von dem Gefühl,
daß man in Gefahr stehe, das christliche Leben über dem
Buchstabenglauben zu verlieren, seit 1670 in seinem Haus mit
einzelnen aus der Gemeinde Versammlungen zum Zweck der Erbauung
(collegia pietatis) zu halten, welche 1682 in die Kirche verlegt
wurden. Seine reformatorischen Ansichten vom Kirchentum sprach er
aus in seinen "Pia desideria, oder herz-

124

Spengel - Spenser.

liches Verlangen nach gottgefälliger Besserung der wahren
evangelischen Kirche" (Frankf. 1675; neue Ausg., Leipz. 1846) und
in seiner "Allgemeinen Gottesgelahrtheit" (Frankf. 1680), wozu
später noch seine "Theologischen Bedenken" (Halle 1700-1702, 4
Bde.; in Auswahl das. 1838) kamen. Der große Streit über
den Pietismus (s. d.) war schon entbrannt, als S. 1686
Oberhofprediger in Dresden wurde. Bald ward er in denselben
persönlich verwickelt, als er gegenüber dem Hamburger
Prediger Mayer und dessen Genossen seine Freunde in Schutz nahm.
1695 entbrannte der Kampf zwischen S. und dem Pastor Schelwig in
Danzig, der jenem nicht weniger als 150 Häresien vorwarf.
Unterdessen aber war S. mit der theologischen Fakultät in
Leipzig und später auch mit dem Kurfürsten Johann Georg
III., dem er als Beichtvater in einem Briefe Vorstellungen wegen
seines Lebenswandels gemacht, zerfallen und hatte 1691 einen Ruf
als Propst und Inspektor der Kirche zu St. Nikolai und Assessor des
Konsistoriums nach Berlin angenommen, wo er seine Wirksamkeit unter
fortdauernden Angriffen seitens der orthodoxen Lutheraner
fortsetzte. Leider fehlte es ihm an Energie, um sich scharf gegen
die Ausschreitungen seiner Gesinnungsgenossen, insbesondere gegen
die Visionen und Offenbarungen des pietistischen Frauenkreises in
Halberstadt, auszusprechen. Während die 1694 gestiftete
Universität Halle ganz unter seinem Einfluß stand,
ließ die theologische Fakultät zu Wittenberg 1695 durch
den Professor Deutschmann 264 Abweichungen Speners von der
Kirchenlehre zusammenstellen, und letzterm gelang es nicht, durch
seine "Aufrichtige Übereinstimmung mit der Augsburger
Konfession" die Gegner zu beschwichtigen. Selbst nach seinem Tod
(5. Febr. 1705) wurde der Streit bis gegen die Mitte des
Jahrhunderts fortgeführt. Behauptete doch der Rostocker
Professor der Theologie, Fecht, daß man S. wegen seiner
"unmäßigen und unersättlichen Neuerungslust" nicht
als einen "Seligen" bezeichnen dürfe. Vgl. Hoßbach,
Phil. Jak. S. und seine Zeit (3. Aufl., Berl. 1861); Thilo, S. als
Katechet (das. 1840); Ritschl, Geschichte des Pietismus, Bd. 2
(Bonn 1881).

Spengel, Leonhard, Philolog, geb. 24. Sept. 1803 zu
München, gebildet daselbst, studierte, nachdem er die
Prüfung für das Lehramt am Gymnasium glänzend
bestanden, seit 1823 in Leipzig und Berlin, wurde 1826 Lektor, 1830
Professor an dem alten Gymnasium seiner Vaterstadt und war daneben
seit 1827 Privatdozent an der Universität und zweiter Vorstand
des philologischen Seminars. 1842 ging er als ordentlicher
Professor nach Heidelberg, kehrte 1847 als solcher nach
München zurück und starb dort hochgeehrt 9. Nov. 1880. Er
war seit 1835 Mitglied der bayrischen, seit 1842 auch der
preußischen Akademie der Wissenschaften. Seine litterarische
Thätigkeit erstreckte sich besonders auf die griechische
Rhetorik und Aristoteles. Von den Arbeiten der erstern Art nennen
wir: "Συναγωγη
τεχνων s. artium scriptores ab initiis
usque ad editos Aristotelis de rhetorica libros" (Stuttg. 1828),
"Anaximenis ars rhetorica" (Zürich u. Winterthur 1844),
"Rhetores graeci" (Leipz. 1853-56, 3 Bde.); von denen der letztern:
"Aristotelische Studien" (Münch. 1864-68, 4 Tle.),
"Aristotelis Ars rhetorica" (Leipz. 1867, 2 Bde.) sowie "Alexandri
Aphrodisiensis quaestionum naturalium et moralium ad Aristotelis
philosophiam illustrandam libri IV" (Münch. 1842), "Incerti
auctoris paraphrasis Aristotelis elenchorum sophisticorum" (das.
1842), "Δεξιππου
φιλοσοφου
Πλατωνικου
εις τας
'Αριστοτελους
κατηγοριας
αποριαι τε
και
λυσεις" (das. 1859),
"Themistii Paraphrases Aristotelis librorum" (Leipz. 1866, 2 Bde.),
"Eudemi Rhodii Peripatetici fragmenta quae supersunt" (Berl. 1866,
2. Ausg. 1870). In seinen vielseitigen Aufsätzen, die meist in
den "Abhandlungen der bayrischen Akademie" erschienen sind, hat er
sich auch um die herculaneischen Rollen sowie um die richtige
Beurteilung einzelner Autoren gegenüber einer
übertriebenen Lobpreisung große Verdienste erworben. Von
anderweitigen Ausgaben sind hervorzuheben: "M. Terentii Varronis de
lingua latina libri" (Berl. 1826; neu hrsg. von seinem Sohn Andreas
S., das. 1885); "C. Caecilii Statii deperditarum fabularum
fragmenta" (Münch. 1829). Vgl. Christ, Gedächtnisrede auf
Leonh. v. S. (Münch. 1881).

Spengler (Spängler), s. v. w. Klempner.

Spengler, Lazarus, geistlicher Liederdichter, geb. 1479
zu Nürnberg, ward nach beendeten Rechtsstudien 1507
Ratsschreiber daselbst, that viel für Durchführung des
Reformationswerks in seiner Vaterstadt und ward von derselben zum
Reichstag nach Worms sowie zu dem nach Augsburg gesandt; starb 7.
Sept. 1534. Von ihm sind die Lieder: "Durch Adams Fall ist ganz
verderbt" und "Vergebens ist all Müh' und Kost". Sein Leben
beschrieben Engelhardt (Bielef. 1855) und Pressel (Elbers.
1862).

Spennymoor (spr. -muhr), Stadt in der engl. Grafschaft
Durham, südlich von Durham, mit Kohlengruben, Eisenhütten
und (1881) 5917 Einw.

Spenser, Edmund, engl. Dichter, geb. 1553 zu London,
vielleicht aus vornehmer, sicher unbemittelter Familie, studierte
bis 1576 im Pembroke College zu Cambridge, lebte dann in einer der
herrlichen Grafschaften des Nordens und kam 1578 nach London, wo er
mit Sir Philip Sidney und durch diesen mit dem Grafen von Leicester
bekannt wurde. Er scheint sich um ein Hofamt beworben, auch, wie
eine Stelle in seinem "Mother Hubbard's tale" zeigt, die
Enttäuschungen des Hoflebens gekostet zu haben. 1580
begleitete er den Statthalter von Irland, Lord Grey, als
Sekretär nach Dublin. Sie blieben nur zwei Jahre, doch erhielt
S. 1586 in der Grafschaft Cork Landgebiet und lebte fortan, wenige
Besuche in London abgerechnet, ausschließlich dort auf
Kilcolman Castle, meist als Beamter der Regierung, zuletzt als
Clerk des Rats von Munster thätig. Mit den Verhältnissen
der Insel vertraut, schrieb er 1596 für die Regierung das
dialogische "A view of the present state of Ireland". Dem bald
darauf ausbrechenden Aufstand fiel er zum Opfer: sein Haus wurde
verbrannt, er selbst gezwungen, mit seiner Familie nach London zu
fliehen. Hier starb er 13. Jan. 1599 und ward in der
Westminsterabtei begraben, wo ihm die Gräfin Dorset 1620 ein
Denkmal setzte. Seinen Ruhm dankt S. zwei größern
Dichtungen. "The shepherd's calendar", Ph. Sidney gewidmet,
umfaßt zwölf Hirtengedichte, jedes einem Monat
entsprechend; die Schäfer klagen ihren Liebesschmerz,
erörtern religiöse Fragen, preisen die Königin. "The
Faery Queen" ist ein romantisch-allegorisches Epos nach dem Muster
Ariosts und Tassos. Die 3 ersten Bücher erschienen 1590 und
wurden der Königin gewidmet, welche die vielen Schmeicheleien
des Dichters mit einer jährlichen Pension von 50 Pfd. Sterl.
erwiderte. Die nächsten 3 Bücher wurden 1596
veröffentlicht. Es sollten noch 6 andre folgen, doch blieb zu
ihrer Abfassung dem Dichter weder Ruhe noch Zeit; nur Fragmente
sind erhalten. Jedes Buch beschreibt ein Abenteuer, das ein Ritter
am Hof der Feenkönigin besteht, und feiert gleichzeitig die
Thaten irrender Ritterschaft

125

Spenzer - Spergula.

und den Triumph einer Tugend. Aber die Allegorie geht noch
weiter: unter der Maske der Feen und Ritter verbirgt der Dichter
Personen seiner Zeit. Das Metrum ist die sogen. Spenserstanze (s.
Stanze), die Sprache schwungvoll, doch nicht frei von Archaismen.
Außer diesen Werken schrieb S. Elegien, Sonette und Hymnen.
Die beste Ausgabe seiner Werke lieferte Collier (Lond. 1861, 5
Bde.). Vgl. Craik, S. and his poetry (Lond. 1871, 3 Bde.); Dean
Church, E. S. (2. Aufl., das. 1887).

Spenzer (Spencer, Spenser), nach seinem Erfinder, Lord
Spencer (unter Georg III.), benanntes eng anschließendes
Ärmeljäckchen.

Speranskij, Michael, Graf, russ. Staatsmann und
Publizist, geb. 1. Jan. 1772 zu Tscherkutino im Gouvernement
Wladimir, besuchte die geistliche Akademie zu Petersburg, war
1792-97 an derselben Professor der Mathematik und Physik und ward
1801 vom Kaiser Alexander I. zum Staatssekretär beim Reichsrat
ernannt. In dieser Stellung verfaßte er die wichtigsten
Staatsschriften jener Periode, organisierte 1802 das Ministerium
des Innern, sodann auch den Reichsrat neu und trat 1808 an die
Spitze der Gesetzkommission, welche ihm einen festern
Geschäftsgang verdankt. 1808 ward er Kollege des
Justizministers und Staatsrat und 1809 zum Wirklichen Geheimen Rat
ernannt, 1812 aber auf Verdächtigungen hin zuerst nach Nishnij
Nowgorod, dann nach Perm in die Verbannung geschickt. Schon 1814
ward er aber in den Staatsdienst zurückberufen und erhielt das
Gouvernement der Provinz Pensa und 1819 das Generalgouvernement von
Sibirien. Hier wirkte er besonders segensreich für das
Schicksal der Verbannten und Angesiedelten, bis er im März
1821 zum Mitglied des Reichsrats ernannt wurde. Kaiser Nikolaus
beauftragte ihn mit der Sammlung des russischen Gesetzbuchs. Dies
veranlaßte ihn zu dem gediegenen "Précis de notions
historiques sur la réformation du corps de lois russes,
etc." (Petersb. 1833). Zuletzt in den Grafenstand erhoben, starb er
23. Febr. 1839 in Petersburg. Vgl. M. Korff, Leben des Grafen S.
(St. Petersb. 1861, 2 Bde.; russisch).

Seine Tochter Elisabeth von Bagrejew-S., geb. 17. Dez. 1799 zu
Petersburg, hat sich als Schriftstellerin bekannt gemacht. Sie
folgte 1812 ihrem Vater in die Verbannung nach Nishnij Nowgorod
sowie 1819 nach Sibirien und verheiratete sich dort mit Herrn v.
Bagrejew, mit dem sie nach Petersburg zurückkehrte. Zur
Ehrendame der Kaiserin Elisabeth ernannt, wurde sie der Mittelpunkt
eines auserlesenen Kreises von Gelehrten, Künstlern und
Staatsmännern, zog sich aber nach dem Tod ihres Vaters (1839)
auf ihre Güter in der Ukraine zurück. Der Tod ihres
einzigen Sohns veranlaßte sie zu einer Pilgerfahrt nach
Jerusalem, die sie in dem Werk "Les pelerins russes" (Brüssel
1854, 2 Bde.) beschrieb. Sie starb 4. April 1857 in Wien. Sie
schrieb noch: "Méditations chrétiennes"; "La vie de
château en Ukraine"; Briefe über Kiew, kleine
Erzählungen u. a. Vgl. Duret, Un portrait russe (Leipz.
1867).

Speránza (ital.), Hoffnung (als Zuruf
üblich).

Speratus, Paul, Beförderer der Reformation und
geistlicher Liederdichter, geb. 13. Dez. 1484, aus dem
schwäbischen Geschlecht der von Spretten, studierte zu Paris
und in Italien Theologie und wirkte für Verbreitung der
Reformation in Augsburg, Würzburg, Salzburg und seit 1521 in
Wien, von wo er sich, infolge einer Predigt über die
Mönchsgelübde nicht mehr vor dem Ketzergericht sicher,
zuerst nach Ofen, dann nach Iglau begab. Hier wie dort vertrieben,
kam er 1524 nach Wittenberg, wo er Luther in seiner Sammlung
deutscher geistlicher Lieder unterstützte. 1525 ward er
Hofprediger beim Herzog Albrecht von Preußen in
Königsberg und 1529 Bischof von Pomesanien, als welcher er
sich um die Organisation des evangelischen Kirchenwesens in
Preußen verdient machte. Er starb 17. Dez. 1551 in
Marienwerder. Von ihm stammt unter andern das Lied "Es ist das Heil
uns kommen her etc." Sein Leben beschrieben Cosack (Braunschw.
1861), Pressel (Elberf. 1862), Trautenberger ("S. und die
evangelische Kirche in Iglau", Brünn 1868).

Sperber (Nisus Cuv.), Gattung aus der Ordnung der
Raubvögel, der Familie der Falken (Falconidae) und der
Unterfamilie der Habichte (Accipitrinae), Vögel mit
gestrecktem Leib, kleinem Kopf, zierlichem, scharfhakigem,
undeutlich gezahntem Schnabel, bis zur Schwanzmitte reichenden
Flügeln, in denen die vierte und fünfte Schwinge die
längsten sind, langem, stumpf gerundetem Schwanz und hohen,
schwachen Läufen mit äußerst scharf bekrallten
Zehen. Beide Geschlechter sind gleich gefärbt. Der S.
(Finkenhabicht, Schwalben-, Sperlings-, Stockstößer,
Sprinz, Schmirn, N. communis Cuv., s. Tafel "Raubvögel"),
(Weibchen) 41 cm lang, 79 cm breit, oberseits schwärzlich
aschgrau, unterseits weiß mit rostroten Wellenlinien und
Strichen, fünf- bis sechsmal schwarz gebändertem und an
der Spitze weiß gesäumtem Schwanz, blauem Schnabel mit
gelber Wachshaut, goldgelbem Auge und blaßgelben
Füßen, findet sich in Europa und Mittelasien, streicht
im Winter umher und geht bis Nordafrika und Indien. Er bewohnt
besonders Feldgehölze, oft in der Nähe von Ortschaften,
kommt auch in die Städte, hält sich meist verborgen, geht
hüpfend und ungeschickt, fliegt aber schnell und gewandt; er
ist ungemein mutig und dreist und verfolgt alle kleinen Vögel,
welche ihn als ihren furchtbarsten Feind fliehen, wagt sich aber
auch an Tauben und Rebhühner. Er nistet in Dickichten nicht
sehr hoch über dem Boden, am liebsten auf Nadelhölzern
und legt im Mai oder Juni 3-5 weiße, graue oder
grünliche, rot und blau gefleckte Eier (s. Tafel "Eier I"),
welche das Weibchen allein ausbrütet. Der S. ist ein sehr
schädlicher Raubvogel und verdient keine Schonung. In der
Gefangenschaft wird er durch seine Scheu, Wildheit und
Gefräßigkeit abstoßend; im südlichen Ural, in
Persien und Indien aber ist er ein hochgeachteter Beizvogel.

Sperberfalke, s. v. w. Habicht.

Sperberkraut, s. Sanguisorba.

Sperbervogelbeere, s. Sorbus.

Spercheios, Fluß, s. Hellada.

Sperenberg, Dorf im preuß. Regierungsbezirk
Potsdam, Kreis Teltow, am Ursprung der Notte, 42 km südlich
von Berlin, durch eine Militäreisenbahn mit der Bahnlinie
Berlin-Dresden verbunden, hat eine evang. Kirche, bedeutende
Gipssteinbrüche, Gipsmühlen und (1885) 971 Einw. 1867
ward hier unter dem Gips ein Steinsalzlager in einer Tiefe von 89 m
erbohrt; die Bohrungen setzte man bis zu einer Tiefe von 1334 m
fort, ohne das untere Ende des Lagers zu erreichen.
Wärmemessungen, welche man im Bohrloch anstellte, ergaben bei
fast stetiger Zunahme in der Tiefe 51° C. Eine Ausbeutung des
Steinsalzlagers ist für die nächste Zeit nicht in
Aussicht gestellt. 4 km südlich von S., durch Eisenbahn
verbunden, ein großer Artillerieschießplatz.

Spergula L. (Spergel, Spörgel, Spark,
Knöterich), Gattung aus der Familie der Karyo-

26

Sperling - Sperlingsvögel.

phyllaceen, ein- oder zweijährige, zweigabelig oder
wirtelig ästige Kräuter mit scheinbar
quirlständigen, fädigen Blättern, endständigen,
ausgespreizten Doldentrauben und fünfklappiger Kapsel mit
runden, geflügelten Samen. Der gemeine Spergel (Ackerspergel,
Mariengras, S. arvensis L.), bisweilen 60-90 cm hoch, mit
unterseits längsfurchigen Blättern, weißen
Blüten und schwarzen, warzigen, schmal berandeten Samen,
wächst bei uns auf sandigen Feldern im Getreide, erreicht
zumal auf Leinfeldern eine bedeutende Größe und wird
besonders in dieser Varietät (S. maxima) am Niederrhein und im
Münsterland seit mehreren Jahrhunderten gebaut. Er gedeiht in
gutem Sandboden bei hinreichender Feuchtigkeit vortrefflich und
eignet sich auch auf geringem Boden noch zur Weide. Er nimmt den
Boden nicht in Anspruch, verbessert ihn vielmehr, bleibt als
Brachfrucht für Futter nicht über zwei Monate im Acker,
gibt vorzügliches Futter für Kühe, als Heu auch
für Schafe und wird von Pferden in jeder Beschaffenheit gern
gefressen. Das Spergelheu ist dem besten Wiesenheu gleich zu
achten, auch die Spergelsamen haben nicht unbedeutenden
Nährwert. Die Aussaat pro Hektar beträgt 19-20 kg, der
Ertrag 8-12 hl Samen oder 1500-2000 kg Kraut; ein Hektoliter wiegt
58-62 kg; die Keimfähigkeit der Samen dauert drei Jahre.

Sperling (Spatz, Passer L.. Pyrgita C.), Gattung aus der
Ordnung der Sperlingsvögel, der Familie der Finken
(Fringillidae) und der Unterfamilie der eigentlichen Finken
(Fringillinae), meist gedrungen gebaute, sehr einfach gefärbte
Vögel mit starkem, dickem, kolbigem Schnabel, welcher an
beiden Kinnladen etwas gewölbt ist, kurzen, stämmigen
Füßen mit schwachen Nägeln und mittellangen Zehen,
kurzen, stumpfen Flügeln, unter deren Schwingen die zweite bis
vierte die Spitze bilden, und kurzem oder mittellangem, am Ende
wenig oder nicht ausgeschnittenem Schwanz. Der Haussperling (P.
domesticus L.), 15-16 cm lang, 24-26 cm breit, ist auf dem Scheitel
graublau, auf dem Mantel braun mit schwarzen Längsstrichen,
auf den Flügeln mit gelblichweißer Querbinde, an den
Wangen grauweiß, an der Kehle schwarz, am Unterkörper
hellgrau. Das Auge ist braun, der Schnabel schwarz, im Winter
hellgrau, der Fuß gelbbräunlich. Beim Weibchen ist Kopf
und Kehle grau, und über dem Auge verläuft ein blaß
graugelber Streifen. Der S. bewohnt den ganzen Norden der Alten
Welt südlich bis Nordafrika und Südasien, ist in
Nordamerika, Australien, Neuseeland und auf Java akklimatisiert,
hält sich überall zu den Menschen und nistet auch stets
in unmittelbarer Nähe der Ortschaften, bez. in den
Häusern selbst, soweit ihm dadurch Gelegenheit zu sorgenloser
Ernährung geboten wird, und entfernt sich kaum jemals weit von
der Ortschaft, in welcher er geboren wurde. Er ist einer der
klügsten Vögel und durch den Verkehr in der Nähe des
Menschen nur noch listiger, verschlagener geworden. Seine
Bewegungen sind ziemlich plump, auch sein Flug weder geschickt noch
ausdauernd. Höchst gesellig, trennt er sich nur in der
Brutzeit in Paare, und oft steht ein Nest dicht neben dem andern.
Er brütet mindestens dreimal im Jahr, das erste Mal schon im
März, baut ein kunstloses Nest in Höhlungen in
Gebäuden, Baumlöchern, Starkasten, Schwalbennestern, im
Unterbau der Storchnester, im Gebüsch und auf Bäumen und
legt 5-8 bläulich- oder rötlichweiße, braun und
aschgrau gezeichnete Eier, welche Männchen und Weibchen 13 bis
14 Tage bebrüten. Die Jungen schlagen sich sofort nach dem
Ausfliegen mit andern in Trupps zusammen, welche bald zu
Flügen anwachsen, denen sich nach der Brütezeit auch die
Alten zugesellen. Der S. nährt sich vorzugsweise von
Sämereien, besonders Getreide, beißt die Knospen der
Obstbäume ab, benascht auch das Obst und kann bei massenhaftem
Auftreten in Kornfeldern, Getreidespeichern und Gärten und
auch dadurch recht schädlich werden, daß er Stare,
Meisen und andre nützliche Vögel verdrängt. Hier und
da, besonders in Italien, wird er gern gegessen. Der Feldsperling
(Holz-, Wald-, Rohr-, Bergsperling, P. montanus L.), etwas kleiner
als der vorige, am Oberkopf rotbraun, an der Kehle schwarz, auch
mit schwarzem Zügel und Wangenfleck, sonst am Kopf weiß,
auf der Unterseite hellgrau, auf den Flügeln mit zwei
weißen Querbinden, bewohnt Mittel- und Nordeuropa,
Mittelasien und Nordafrika, dringt bis über den Polarkreis
vor, ersetzt in Indien, China, Japan den Haussperling und ist in
Australien und auf Neuseeland akklimatisiert worden. Er bevorzugt
das freie Feld und den Wald und kommt nur im Winter auf die
Gehöfte. Er nistet zwei- bis dreimal im Jahr in
Baumlöchern, legt 5-7 Eier, welche denen des Haussperlings
ähnlich sind, und erzeugt mit dem letztern angeblich
fruchtbare Junge.

Sperlingskauz, s. Eulen, S. 906.

Sperlingsstößer, s. Sperber.

Sperlingsvögel (Passeres, hierzu Tafeln
"Sperlingsvögel I u. II"), die artenreichste Ordnung der
Vögel, Nesthocker von gewöhnlich kleinem Körper, mit
Schnabel ohne Wachshaut und mit Wandel-, Schreit- oder
Klammerfüßen. Sie leben meist in Gesträuch und auf
Bäumen, fliegen vortrefflich und bewegen sich auf dem Boden
hüpfend, seltener schreitend. Ihre Nester sind meist kunstvoll
gebaut; gebrütet wird ein- bis dreimal im Jahr und zwar von
beiden Geschlechtern. Viele S. sind an dem untern Kehlkopf der
Luftröhre (s. Vögel) mit einem besondern Singapparat
versehen, welcher aus zwei Paar Stimmbändern und einer Anzahl
zu ihrer Regulierung dienender Muskeln besteht und in verschiedenem
Maß ausgebildet ist. Man teilt nach diesem Charakter die S.
wohl in Singvögel (Oscines) und Schreivögel (Clamatores)
ein. Sehr verschieden ist der Schnabel geformt, bald breit, flach
und tief gespalten, bald kegelförmig, bald dünn und
pfriemenförmig etc. - Die Anzahl der lebenden Arten
beträgt gegen 5700, die in 870 Gattungen und 51 Familien
gestellt werden; fossile S. sind nur aus den jüngsten
Schichten (Diluvium) bekannt. Ganz oder nahezu kosmopolitisch sind
nur wenige Familien (Schwalben, Raben, Bachstelzen, Drosseln); in
Südamerika findet sich fast ein Drittel aller Arten vor. Die
Gruppierung der Familien ist bei den Autoren mehr oder weniger
willkürlich, da die natürlichen
Verwandtschaftsbeziehungen noch nicht bekannt sind; es genügt
daher hier eine Aufzählung der wichtigsten.

1) Drosseln (Turdidae), Körper kräftig, Kopf
groß, Hals kurz, Schnabel gerade, mit seichter Kerbe vor der
Spitze, Flügel mittellang. Etwa 25 Gattungen mit 230 Arten;
fehlen in Neuseeland. Man zerfällt sie in mehrere
Unterabteilungen: Wasserstare, Drosseln und Spottdrosseln.

2) Sänger (Sylviidae), Schnabel dünn,
pfriemenförmig, Flügel mittellang, Gefieder weich,
Außenzehe meist lang. Über 70 Gattungen mit etwa 650
Arten; fehlen in Amerika südlich von Brasilien. Von den 7
Unterfamilien sind bemerkenswert die Flüevögel,
Sänger (Laubsänger, Gartensänger, Goldhähnchen
und Grasmücke), Schilfsänger, Nachtigallen (Nachtigall,
Rotkehlchen, Blaukehlchen und Rotschwanz) und Steinschmätzer
(Steinschmätzer, Steindrossel und Wiesenschmätzer).
Letztere beiden Gruppen werden vielfach zu den Drosseln
gerechnet.

126a

Sperlingsvögel I.

126b

Sperlingsvögel II.

127

Sperma - Sperrgetriebe.

3) Zaunkönige oder Schlüpfer (Troglodytidae), Schnabel
schlank, pfriemenförmig, Flügel kurz, gerundet, Lauf
lang. Etwa 20 Gattungen mit über 90 Arten; hauptsächlich
in Amerika verbreitet.

4) Baumläufer (Certhiidae), Schnabel schlank und lang,
Hinterzehe lang und scharf bekrallt, Schwanz zuweilen mit
Stemmfedern, die beim Klettern an den Bäumen Verwendung
finden. 5 Gattungen mit 17 Arten; hauptsächlich in Europa und
Asien.

5) Spechtmeisen (Sittidae), ähnlich den vorigen, doch
Schwanz stets weich. 6 Gattungen mit über 30 Arten; fehlen in
Mittel- und Südamerika sowie im tropischen Afrika
(Kleiber).

6) Meisen (Paridae), Schnabel kurz, fast kegelförmig,
Flügel und Schwanz mittellang. 14 Gattungen mit über 90
Arten; zahlreich in der Alten Welt und in Nordamerika.

7) Pirole (Oriolidae), Schnabel lang, kegelförmig,
Flügel lang, Schwanz mittellang. 5 Gattungen mit 40 Arten; in
der Alten Welt.

8) Fliegenfänger (Muscicapidae), Schnabel kurz, hakig,
Flügel lang. Über 40 Gattungen mit gegen 280 Arten;
fehlen in Amerika gänzlich.

9) Würger (Laniidae), Körper kräftig, Schnabel
hakig, stark gezahnt, Schwanz meist lang. Räuberische
Vögel; etwa 20 Gattungen mit 150 Arten, fehlen nur in
Süd- und Mittelamerika sowie auf Neuseeland; am zahlreichsten
in Afrika.

10) Raben oder Krähen (Corvidae), Körper sehr
kräftig, Schnabel stark und groß, am Grund mit
Bartborsten, Flügel mittellang, Füße groß. 30
Gattungen mit etwa 200 Arten; fast kosmopolitisch (fehlen nur auf
Neuseeland). Von den 5 Unterfamilien sind bemerkenswert die
Häher und Raben (Tannenhäher, Elster und Rabe).

11) Paradiesvögel (Paradiseidae), Schnabel lang, schlank,
Flügel und Schwanz mittellang, jedoch einzelne Flügel-
oder Schwanzfedern oft enorm verlängert, Füße
kräftig, Zehen groß. Etwa 20 Gattungen mit über 30
Arten; nur in Australien und auf den benachbarten Inseln
(Paradiesvögel und Kragenvogel).

12) Honigsauger (Meliphagidae), Schnabel meist lang und spitz,
Flügel mittellang, Schwanz lang und breit, Füße
kurz, Zunge vorstreckbar, an der Spitze pinselförmig. Holen
aus den Blumen Insekten und Nektar hervor. Über 20 Gattungen
mit 140 Arten; nur in Australien und den benachbarten Inseln sowie
Polynesien.

13) Sonnenvögel (Nectariniidae), Schnabel lang, spitz,
Flügel kurz, Füße ziemlich lang, Zunge
vorstreckbar, röhrenförmig. Lebensweise wie bei der
vorigen Familie. 11 Gattungen mit über 120 Arten; in den
heißen Gegenden der Alten Welt.

14) Seidenschwänze (Ampelidae), Schnabel kurz, Flügel
ziemlich lang. 4 Gattungen mit 8 Arten; Europa, Nordasien, Nord-
und Mittelamerika.

15) Schwalben (Hirundinidae), Schnabel ziemlich kurz, mit sehr
weiter Spalte, Flügel lang, Schwanz gabelig, Zehen meist lang.
9 Gattungen mit über 90 Arten; kosmopolitisch, sogar im hohen
Norden.

16) Stärlinge oder Trupiale (Icteridae), Schnabel lang,
kegelförmig, Flügel spitz, Schwanz lang, abgerundet,
Füße stark, mit langer Hinterzehe, Gefieder meist
schwarz mit gelb oder orange. 24 Gattungen mit 110 Arten; nur in
Amerika (Trupial, Kuhvogel).

17) Tanagriden oder Tangaren (Tanagridae), Schnabel mit Zahn,
Flügel mittellang, Beine kurz, Hinterzehe lang. Fruchtfresser.
Über 40 Gattungen mit gegen 300 Arten; in ganz Süd- sowie
dem östlichen Teil von Nordamerika.

18) Finken (Fringillidae), Schnabel meist kegelförmig,
stets am Grund mit einem Wulst, Flügel und Schwanz mittellang,
Beine meist kurz. Über 80 Gattungen mit gegen 500 Arten, die
in eine Anzahl Unterfamilien verteilt werden; fehlen nur in
Australien, den benachbarten Inseln und Polynesien. Bemerkenswert
sind die Ammern, Kreuzschnäbel, Gimpel (Girlitz und
Kanarienvogel), Finken (Kernbeißer, Sperling, Fink, Leinfink,
Hänfling, Stieglitz, Zeisig und Grünfink) und
Papageifinken (Kardinal).

19) Webervögel oder Weberfinken (Ploceidae), Schnabel
stark, kegelförmig, Flügel meist mittellang, Schwanz
meist kurz, bauen vielfach beutelförmige Nester. Etwa 30
Gattungen mit 250 Arten; in den Tropen Asiens und Afrikas sowie in
Australien und Polynesien, aber nicht auf Neuseeland.

20) Stare (Sturnidae), Schnabel ziemlich, lang, stark,
Flügel lang, spitz, Schwanz meist lang, Beine kräftig,
Hinterzehe lang. Etwa 30 Gattungen mit 130 Arten; in der Alten
Welt, mit Ausnahme jedoch des australischen Festlandes (Star,
Madenhacker und Hirtenstar).

21) Lerchen (Alaudidae), Schnabel mittellang, gerade,
Flügel lang und breit, Schwanz kurz, Hinterzehe mit langer,
gerader Kralle. 15 Gattungen mit 110 Arten; fast nur in der Alten
Welt mit Ausnahme Australiens, besonders in Südafrika.

22) Bachstelzen (Motacillidae), Schnabel schlank, ziemlich lang,
Flügel und Schwanz lang. 9 Gattungen mit 80 Arten; mit
Ausnahme Polynesiens überall verbreitet.

23) Königswürger (Tyrannidae), Schnabel stark, lang
und breit, Flügel lang, spitz, Beine stark. Über 70
Gattungen mit gegen 330 Arten; nur in Amerika.

23) Schwätzer oder Schmuckvögel (Cotingidae), Schnabel
ziemlich groß, Spitze hakig, Flügel lang, spitz, Beine
kurz. Etwa 30 Gattungen mit über 90 Arten; in den Tropen
Amerikas, hauptsächlich in den Wäldern des
Amazonenstroms.

24) Leierschwänze (Menuridae), Schnabel mittellang,
Flügel kurz, Beine lang, Schwanz mit sehr langen Federn, von
denen die äußern leierartig geschwungen sind. Nur die
Gattung Menura mit 2 Arten; im südlichen und östlichen
Australien.

Sperma (griech.), Same; S. ceti, Walrat.

Spermatien, bei Rostpilzen, Kernpilzen und Flechten in
besondern Behältern, den Spermagonien, entstehende sehr
kleine, häufig stabförmige oder ovale Zellen, welche in
der Regel nicht keimfähig sind und bisweilen, z. B. bei den
Flechten, die Rolle männlicher Befruchtungselemente spielen.
Auch bei den Florideen unter den Algen kommen S. vor, sie entstehen
hier als kugelige oder birnförmige, unbewegliche Körper
in den Antheridien und haften bei der Befruchtung dem weiblichen
Organ an (vgl. Algen und Pilze).

Spermatitis (griech.), Samenstrangsentzündung.

Spermatophoren (griech., Samenpatronen), Portionen von
Samenfäden, in besonderer, oft sehr komplizierter
Umhüllung, welche bei manchen Tieren, wie
Kopffüßern, Grillen etc., vom Männchen gebildet
werden und bei der Begattung in die Weibchen gelangen, in deren
Geschlechtsorganen die Umhüllung platzt oder sich
auflöst, so daß die Samenfäden frei werden.

Spermatorrhöe (griech.), s. v. w.
Samenfluß.

Spermatozoiden (Spermatozoen, Antherozoiden, griech.,
Samentierchen, Samenfäden), die geformten Elemente des
männlichen Befruchtungsstoffs bei den Tieren; s. Same. - In
der Botanik bewegliche, in den männlichen Geschlechtsorganen
bei vielen Thallophyten, allen Muscineen und den
Gesäßkryptogamen entstehende Formelemente von
verschiedener Gestalt, welche aus besondern Mutterzellen austreten,
sich mittels Wimpern im Wasser frei bewegen und zuletzt in die
Eizelle der weiblichen Geschlechtsorgane eindringen, um dieselbe zu
befruchten (s. Algen, Moose und Gefäßkryptogamen).

Spermestes, Amadine; Spermestinae, s. v. w.
Prachtfinken.

Spermogonium (lat.), bei Rostpilzen, Kernpilzen und
Flechten Behälter, die in ihrer Höhlung an besondern
Fäden kleine, häufig stabförmige oder ovale Zellen,
die Spermatien (s. d.), abschnüren.

Spermöl, s. v. w. Walratöl.

Spermophilus, Zieselmaus.

Sperrfort, s. Festung, S. 186.

Sperrgesetz, Zollgesetz, welches dann erlassen wird, wenn
eine Zollerhöhung in Aussicht steht, zur Verhütung einer
größern Einfuhr von Waren, welche durch das
bevorstehende Gesetz mit einem Zoll oder mit einem höhern Zoll
belegt werden sollen; auch Bezeichnung für das sogen.
Brotkorbgesetz (s. d.).

Sperrgetriebe (Schaltwerk), ein Mechanismus zur
Hervorbringung einer ruck- oder absatzweise erfolgenden Bewegung
derart, daß zwischen zwei Bewegungsperioden eine
unbeabsichtigte Bewegung entweder nur nach einer bestimmten
Richtung oder

128

Sperrgut - Spessart.

[Fig. 1. Laufendes Sperrgetriebe.]

nach jeder Richtung hin ausgeschlossen ist (einseitige,
bez. vollständige Sperrung). S., bei welchen nur eine
einseitige Sperrung stattfindet, heißen laufende S., solche
mit vollständiger Sperrung dagegen ruhende S. Ein laufendes S.
in seiner einfachsten Form zeigt Fig. 1. Dasselbe besteht aus einem
Sperrrad S, in dessen Zähne die um einen festen Punkt drehbare
Sperrklinke K (Sperrhebel, Sperrkegel, Sperrzahn) unter der
Einwirkung einer Feder so eingreift, daß das Rad zwar in der
Pfeilrichtung herumgedreht werden kann (wobei die Sperrklinke
über die schrägen Flächen der Zähne
hinweggleitet), an einer Drehung nach der andern Seite jedoch durch
die einfallende und sich gegen die geraden Zahnflächen
stemmende Sperrklinke gehindert wird. Um die Achse des Rades S ist
noch ein Hebel drehbar, der mit einer Sperrklinke K1 versehen ist.
Wird der Hebel an seinem Griff H hin u. her bewegt, so gleitet bei
der dem Pfeil entgegengesetzten Bewegung die Klinke K1 über
die Zähne des nach derselben Richtung hin durch die Klinke K
gesperrten Rades S hinweg. Bei einer darauf folgenden Drehung des
Hebels H in der Richtung des Pfeils fällt jedoch seine Klinke
K1 in das Sperrrad ein u. nimmt dasselbe mit herum. Derartige
laufende S. haben eine außerordentlich große
Verbreitung, ganz besonders als Vorrichtungen zum Vorrücken
des Werkzeugs gegen das Arbeitsstück oder umgekehrt, ferner
bei Zählwerken, Hubzählern, Rechenstiften, als
Aufziehvorrichtung, bei Musikwerken, als Hebewerkzeug bei
Wagenwinden etc.

Als ein ruhendes S. zeigt sich das sogen. Einzahnrad (Fig. 2).
Hierbei ist S ein Sperrrad, welches zur Sperrung mit
kreisförmigen Ausschnitten k versehen ist, während
zwischen je zwei derselben eine Zahnlücke l zur Fortbewegung
angebracht ist. In die Ausschnitte k legt sich eine genau
hineinpassende Scheibe E, die im allgemeinen am Rand glatt
bearbeitet ist und nur an einer Stelle einen Zahn mit zwei
benachbarten Lücken hat (daher der Name Einzahnrad). Das
Sperrrad wird so lange an jeder Bewegung nach rechts oder links
verhindert werden, als sich der kreisförmige Teil von E in
einem der Ausschnitte k befindet. Sobald man jedoch die Scheibe E
so dreht, daß der Zahn z mit der benachbarten (linken oder
rechten) Lücke des Rades S in Eingriff kommt, so bewegt sich S
nach rechts oder links um einen Ausschnitt herum, wird jedoch im
nächsten Augenblick durch die in den Ausschnitt eintretende
Peripherie von E wieder festgehalten. Dieses Einzahnrad findet
unter anderm Verwendung an den Federgehäusen der Federuhren
als Schutzvorrichtung gegen das übermäßige
Aufziehen, wobei zwischen zwei der Lücken l die Radperipherie
voll kreisförmig stehen gelassen ist, so daß das Rad
nach rechts und links immer nur bis zu dieser Stelle gedreht werden
kann. In etwas abgeänderter Form erscheint das Einzahnrad als
sogen. Johanniterkreuz. Hierbei wird der Zahn z durch einen zur
Ebene des Rades E senkrecht stehenden Stift ersetzt, welcher in
entsprechende Schlitze des Rades S greift.

[Fig. 2. Ruhendes Sperrgetriebe.]

Sind vier solche Schlitze vorhanden, so erhält Rad S das
Aussehen eines Johanniterkreuzes. Statt des einen Zahns z
können auch mehrere nebeneinander liegende Zähne
angebracht sein, für welche dann im Rad S eine entsprechende
Anzahl nebeneinander liegender Lücken l vorhanden sein
muß. Auf dem Prinzip des Einzahnrades beruhen die sogen.
französischen Schlösser, nur wird hier zur Sperrung nicht
die ungezahnte Peripherie von E, sondern ein besonderer Sperrzahn
(die sogen. Zuhaltung) benutzt, welcher jedesmal von dem den Zahn z
ersetzenden Schlüssel erst ausgehoben sein muß, bevor
die Bewegung von S (welches bei Schlössern in der Regel durch
einen geradlinig geführten Riegel ersetzt ist) erfolgen
kann.

Sperrgut, s. Maßgüter und Gut, S. 946.

Sperrsystem, das staatswirtschaftliche System, welches
durch Verbote, hohe Zölle etc. das Inland gegen fremde
Länder absperrt.

Sperrventil, in der Orgel eine Klappe im Hauptkanal,
welche den Zugang des Windes zum Windkasten völlig absperrt
und durch einen besondern Registergriff regiert wird.

Sperrvögel (Hiantes Brehm), Ordnung der Vögel:
Schwalben, Segler, Nachtschwalben, Schwalme.

Sperrzeug, s. Jagdzeug.

Spervogel, Dichter des 12. Jahrh., wahrscheinlich
bürgerlichen Standes und aus Oberdeutschland gebürtig.
Die Handschriften unterscheiden einen ältern und einen
jüngern S., ohne jedoch ihre Gedichte zu trennen. Letztere
bestehen in Liedern (Weihnachts- und Osterlieder), lehrhaften
Sprüchen, Fabeln etc. (hrsg. von Gradl, Prag 1869). Vgl.
Henrici, Zur Geschichte der mittelhochdeutschen Lyrik (Berl.
1876).

Spes, bei den Römern Personifikation der "Hoffnung",
besonders auf Ernte- und Kindersegen; ward dargestellt als ein
schlankes Mädchen, auf den Zehen leicht hinschwebend, in der
Rechten eine Blume, im Typus den altertümlichen Bildern der
voll gekleideten Aphrodite gleichend, zur Seite die Krähe, das
Symbol der langen Dauer. Eine inschriftlich gesicherte Statue der
S. besitzt die Villa Ludovisi in Rom.

Spesen (ital.), Auslagen, Unkosten; im engern Sinn
allerlei Nebenkosten, wie diejenigen an Abgaben, Sensarie,
Provision, Verpackung etc. Im weitern Sinn überhaupt alle
Ausgaben, welche einem Handelsgeschäft erwachsen, wie
Handlungsspesen (Ausgaben an Lohn, Miete etc.), Reisespesen; so
insbesondere auch die Auslagen und Gebühren, welche für
die Besorgung fremder Geschäfte berechnet werden, wie
namentlich die S. des Spediteurs (s. Spedition), dessen
darüber ausgestellte spezifizierte Rechnung Spesennota genannt
wird, und die sogen. Inkassospesen, welche für das
Einkassieren einer fremden Forderung in Ansatz kommen. Von
Spesennachnahme spricht man, wenn Spesen des Spediteurs nach
Herkommen oder Verabredung vom Frachtführer, der den
Weitertransport besorgt, erhoben und von diesem dann bei
Ablieferung des Gutes eingezogen werden.

Spessart (Speßhart, im Nibelungenlied Spechteshart,
"Spechtswald"), Waldgebirge im westlichen Deutschland, liegt
innerhalb des Bogens, welchen der Main von der Mündung der
Fränkischen Saale und der Sinn bei Gemünden bis zur
Mündung der Kinzig bei Hanau macht, und wird im N. durch die
Kinzig vom Vogelsberg und im NO. durch die Sinn von der Rhön
geschieden. Seine äußersten Verzweigungen erstrecken
sich bis gegen Salmünster, Schlüchtern und Brückenau
hin. Er gehört größtenteils zum bayrischen
Regierungsbezirk Unterfranken, zum Teil auch

129

Spessartin - Spezia.

zum preußischen Regierungsbezirk Kassel und erscheint als
waldiges Massengebirge mit abgerundeten, wenig über die
Gesamthöhe sich erhebenden Kuppen. Der Hauptrücken zieht
sich von Süden, Miltenberg gegenüber, 75 km lang nach N.
bis zur Quelle der Aschaff in der Gegend von Schlüchtern und
steigt zu einer Höhe von 450-600 m an. Hier sind der
Engelsberg bei Großheubach (mit Kapuzinerkloster) und der 615
m hohe Geiersberg, die höchste Erhebung des ganzen Gebirges,
nördlich vom Rohrbrunner Paß, durch welchen die
Straße von Aschaffenburg nach Würzburg führt,
während die Eisenbahn das Gebirge weiter nördlich von
Aschaffenburg ostwärts nach Gemünden durchschneidet. Die
Hauptmasse des Spessarts besteht aus Granit, Gneis und
Glimmerschiefer mit aufgelagertem roten und gefleckten Sandstein.
An den untern Abhängen bebaut, ist der S. auf den Höhen
mit prachtvollem Eichen- und Buchenwald bedeckt. Der
äußere Saum längs des Mains, namentlich im W., wird
als Vorspessart, das innere, aus dicht zusammenschließenden
Bergen bestehende Waldgebirge, welches keine breite Bergebene
aufweist, als Hochspessart, die plateauartige Absenkung gegen die
Kinzig und Kahl hin, welche auch das sogen. Orber Reisig (s. d.),
mehrere mit Eichengebüsch bedeckte Anhöhen, bis zur Stadt
Orb umfaßt, als Hinterspessart bezeichnet. Die Bewohner
beschäftigen sich viel mit Verarbeitung des Holzes, namentlich
zu Faßdauben. Der Bergbau ist nicht bedeutend. Eine Saline
ist zu Orb in Betrieb; auch gibt es mehrere Glashütten. Auf
der Scheide der nach W. und O. dem S. entfließenden
Gewässer zieht sich vom Engelsberg über den Geiersberg
bis zum Orber Reisig der uralte Eselspfad (ähnlich dem
Rennstieg im Thüringer Wald). Unter den zahlreichen
Bächen des Spessarts sind die Sinn, Lohr, Hafenlohr, Elsawa,
Aschaff, Bieber und Kahl die ansehnlichsten. Erst neuerdings ist es
dem Spessartklub gelungen, die Aufmerksamkeit der Reisenden auf die
Schönheiten dieses bisher wenig besuchten Gebirges
hinzulenken. Vgl. Behlen, Der S. (Leipz. 1823-27, 3 Bde.); Schober,
Führer durch den S. etc. (Aschaffenb. 1888); Herrlein, Sagen
des S. (2. Aufl., das. 1885): Welzbacher, Spezialkarte vom S.,
1:100,000 (5. Aufl., Frankf. 1885).

Spessartin, s. Granat.

Spetsä (Spezzia, Petsa, im Altertum Pityussa), eine
zum griech. Nomos Argolis und Korinth gehörige Insel,
östlich am Eingang des Golfs von Nauplia, 17 qkm (0,30 QM.)
groß, mit steinigem, wenig fruchtbarem Boden und (1879) 6899
Einw. Auf der Nordostküste liegt der gleichnamige Hauptort,
mit guter Reede, einer Marineschule und (1879) 6495 Einw.
Südlich von S. die unbewohnte Insel Spetsopulon (2 qkm), wo
die Venezianer 1263 über die Griechen siegten.

Speusippos, griech. Philosoph, Schwestersohn des Platon,
geboren zwischen 395 und 393 v. Chr., trat nach Platens Tod (347)
an dessen Stelle in der Akademie, zog sich aber nach acht Jahren
wieder zurück und machte seinem Leben freiwillig ein Ende
(jedenfalls vor 334). In seiner Lehre sich im ganzen eng an Platon
anschließend, soll er nur darin von ihm abgewichen sein,
daß er zwei Kriterien der Wahrheit, eins für das
Denkbare und eins für das sinnlich Wahrnehmbare, aufstellte.
Seine zahlreichen Schriften sind sämtlich verloren gegangen.
Vgl. Fischer, De Speusippi Atheniensis vita (Rastatt 1845);
Ravaisson, Speusippi placita (Par. 1838).

Spey (spr. speh), Fluß in Schottland, entspringt
auf dem Grampiangebirge in der Landschaft Badenoch, fließt
durch ein wildromantisches Thal und mündet bei Garmouth in die
Nordsee. Er ist 154 km lang, wird aber erst kurz vor seiner
Mündung schiffbar.

Speyer, Stadt, s. Speier.

Spezereien (ital. spezierie, franz. épiceries),
Gewürzwaren, würzige, wohlriechende Pflanzenstoffe.

Spezia, Kreishauptstadt in der ital. Provinz Genua, im
Hintergrund des tiefen Golfs von S., Station der Eisenbahn
Genua-Pisa, ist der seit 1861 im Bau begriffene große
Kriegshafen Italiens an herrlicher Bucht, welche die ganze
italienische Flotte aufnehmen kann, und deren Höhen nebst der
am Eingang liegenden Insel Palmaria mit starken Forts besetzt sind.
Der Hafen umfaßt 4 große Docks, 2 innere Hafenbassins,
Schiffswerften und ein Arsenal. Auch befinden sich hier eine
große Eisengießerei, Kabelfabrik,
Maschinenbauwerkstätte, Bleiweiß-, Leder- und
Segeltuchfabriken u. a. Der Handelshafen ist gleichfalls
vortrefflich (1887 liefen 2585 Schiffe von 362,627 Ton. ein) und
bedarf zu seiner Belebung nur der Vollendung der in Angriff
genommenen Eisenbahn über die Apenninen nach Parma. Die Stadt
hat (1881) 19,864 Einw. Sie ist Sitz eines
Marinedepartementkommandos, eines Hafenkapitanats, mehrerer
Konsulate (darunter auch eines deutschen) und hat eine Schule
für Nautik und Schiffbau, ein Lyceum und Gymnasium und eine
technische Schule. Wegen seines milden Klimas, seiner Seebäder
und seiner herrlichen Umgebung ist S. von Fremden (auch im Winter)
viel besucht. Am Hafen befinden sich schöne Promenaden. Hier
(im Fort Varignano) wurde Garibaldi 1862 nach seiner Verwundung am
Aspromonte und 1867 nach der verunglückten Unternehmung wider
Rom eine Zeitlang gefangen gehalten. Die Umgegend liefert
treffliches Olivenöl; westlich von S., bei Vernazzo,
wächst der berühmte Wein Cinque-Terre. Östlich von
S. liegen die Ruinen der alten Stadt Luna, nach welcher der Golf im
Altertum Portus Lunae hieß.

[Situationsplan von Spezia.]

Meyers Konv.-Lexikon, 4. Aufl., XV. Bd.

130

Spezial - Spezifisches Gewicht.

Spezial (lat.), das Einzelne, Besondere betreffend, meist
in Zusammensetzungen gebraucht, z. B. Spezialkarte (im Gegensatz zu
General-); als Hauptwort s. v. w. Vertrauter, Busenfreund, auch
Spezereihändler. Spezialien, Einzelheiten, besondere
Umstände.

Spezialakten, s. Generalien.

Spezialetat, s. Etat.

Spezialhandel, s. Handelsstatistik, S. 99.

Spezialinquisition, s. Strafprozeß.

Spezialisation (lat.), in der Morphologie die Ausbildung
der Organe für einen besondern, beschränktern
Wirkungskreis, um die dafür passende Arbeit in höherer
Vollkommenheit zu liefern. Im Gegensatz hierzu steht eine
allgemeinere, noch den verschiedensten Zwecken dienstbare,
ursprüngliche Organisation. Die S. prägt sich am meisten
in den Sinnesorganen, dem Gebiß und in der Bildung der
Endgliedmaßen aus. So sind die fünfgliederigen
Füße der Vierfüßer, solange Finger und Zehen
frei sind, in der Regel zu den verschiedensten Thätigkeiten
als Greif-, Schreit-, Kletterfüße etc. brauchbar; sind
dagegen die Zehen durch Flug- oder Schwimmhaut (z. B. bei
Fledermäusen und Robben) verbunden oder vermindert sich die
Zehenzahl (bei den Huftieren) auf zwei oder ein Glied, so haben wir
spezialisierte Organe, die nur noch als Flug-, Schwimm- und
Lauffüße brauchbar sind, aber diese Arbeit dafür in
höchster Vollkommenheit leisten. Vgl. Arbeitsteilung.

Spezialisieren (franz.), im einzelnen und besondern
anführen, bestimmen.

Spezialist (franz.), einer, der einem besondern Fach der
Wissenschaft sich ausschließlich widmet, z. B. ein
Spezialarzt für Halsleiden etc.

Spezialität (lat.), Einzelheit, Besonderheit;
Spezialfach eines Wissens oder einer Thätigkeit. Im Pfandrecht
versteht man unter dem Prinzip der S. den Grundsatz, wonach nur an
bestimmten einzelnen Vermögensgegenständen und nicht an
dem ganzen Vermögen einer Person ein Pfandrecht bestellt
werden kann (s. Hypothek).

Spezialmandat (Spezialvollmacht), s. Mandat.

Spezialtarife, s. Eisenbahntarife.

Spezialwaffen (Spezialtruppen), ein nicht feststehender
Begriff, durch den meist die Waffen außer Infanterie und
Kavallerie bezeichnet werden.

Speziell (lat.), s. v. w. spezial (s. d.), besonders,
einzeln, im Gegensatz zu generell und universell.

Spezies (lat. species), Erscheinungsform, Gestalt, Bild,
Schein (z. B. sub specie, unter dem Schein; sub utraque specie,
unter beiderlei Gestalt); in der Naturwissenschaft s. v. w. Art; in
der Technik und Pharmazie Bezeichnung für Waren, Gewürze,
Spezereien, besonders Mischungen aus zerschnittenen vegetabilischen
Substanzen, wie Species aromaticae, aromatische Kräuter (s.
d.), S. ad decoctum lignorum, Holztrank (s. d.), S. laxantes
St.-Germain, St.-Germainthee (s. Sennesblätter), S.
pectorales, Brustthee (s. d.); in der Arithmetik (vier S.)
Bezeichnung der vier Grundrechnungsarten: Addition, Subtraktion,
Multiplikation u. Division; auch s. v. w. Speziesthaler.

Spezieskauf, Kauf genau bestimmter einzelner
Gegenstände; s. Gattungskauf.

Speziesthaler (Spezies, harter Thaler), in mehreren
Staaten, zuletzt noch in Österreich, ausgeprägte
Silbermünze. Der österreichische S. war bis zur
Münzkonvention von 1857 die Einheit der österreichischen
Münze, = 2 Konventionsgulden = 4,20 Mark; 10
österreichische S. = 1 kölnische Mark fein Silber. Der
dänische S. = 4,551 Mark. In Norwegen ist der S. derselbe wie
in Dänemark, er wird seit 1. Jan. 1874 zu 4 Kronen à 30
Skillinge oder à 100 Öre = 400 Öre gerechnet.

Spezifikation (lat.), Aufzählung von Einzelheiten,
die ein Ganzes bilden; in der Rechtssprache die Verfertigung einer
neuen Sache aus einem vorhandenen Stoff und zwar so, daß sich
der letztere nicht wiederherstellen läßt.

Spezifisch (lat.), in der Physik Bezeichnung einer
Eigenschaft, welche einem bestimmten Stoff seiner Natur nach
zukommt, eigen ist, z. B. spezifisches Gewicht, spezifische
Wärme, spezifisches Volumen.

Spezifische Arzneimittel (Specifica), besonders wirksame
Mittel, von denen man früher annahm, daß sie die als
Einheit gedachte Krankheit bekämpften und nur auf die
erkrankten Organe wirkten, während man jetzt weiß,
daß auch diese Arzneien auf alle Gewebe Einfluß
üben und nur einzelne derselben besonders stark betreffen. Als
s. A. gelten Quecksilber gegen Syphilis, Chinin gegen Wechselfieber
etc.

Spezifische Energie, s. Sinne, S. 993.

Spezifisches Gewicht (Dichte, Dichtigkeit) eines
Körpers ist die Zahl, welche angibt, wie vielmal der
Körper schwerer ist als ein gleiches Volumen Wasser von 4°
C. Man findet demnach das spezifische Gewicht eines Körpers,
wenn man sein absolutes Gewicht durch das Gewicht eines gleichen
Volumens Wasser dividiert. Bezeichnet man mit s das spezifische
Gewicht des Körpers, mit p sein absolutes Gewicht und mit v
das absolute Gewicht eines gleich großen Raumteils Wasser, so
ist s = p/v, folglich auch v = p/s und p = v s. Wenn, wie bei dem
metrischen Maßsystem, das Gewicht der Volumeinheit Wasser zur
Gewichtseinheit gewählt ist (1 g = dem Gewicht von 1 ccm
Wasser bei 4° C.), so drückt die Zahl v, welche das
Gewicht des gleichen Wasservolumens (in Grammen) angibt, zugleich
das Volumen des Körpers (in Kubikzentimetern) aus. Wir
können daher obige Beziehungen auch wie folgt aussprechen: man
findet das spezifische Gewicht eines Körpers, wenn man sein
absolutes Gewicht durch sein Volumen dividiert; man findet sein
Volumen, indem man das absolute durch das spezifische Gewicht
dividiert; das absolute Gewicht eines Körpers ergibt sich,
wenn man sein Volumen mit seinem spezifischen Gewicht
multipliziert. Das spezifische Gewicht eines Körpers kann
demnach auch bezeichnet werden als das Gewicht der Volumeneinheit.
Um das spezifische Gewicht eines Körpers zu bestimmen, braucht
man nur nebst seinem absoluten Gewicht noch sein Volumen oder, was
dasselbe ist, das Gewicht eines gleich großen Volumens Wasser
zu ermitteln. Bei Flüssigkeiten geschieht dies mit Hilfe des
Pyknometers (Tausendgranfläschchens, Dichtigkeitsmessers),
eines 8-20 ccm fassenden Glasfläschchens (Fig.1), dessen
eingeriebener Stöpsel aus einem Stück
Thermometerröhre verfertigt ist, damit bei etwaniger
Erwärmung ein Teil der Flüssigkeit durch die feine
Öffnung austreten könne, ohne den Stöpsel zu heben
oder das Gefäß zu gefährden. Wägt man das
tarierte Fläschchen zuerst mit der Flüssigkeit, deren s.
G. bestimmt werden soll, sodann mit Wasser gefüllt, so
erfährt man das spezifische Gewicht durch Division des ersten
Gewichts durch das zweite. Auch zur Bestimmung des spezifischen
Gewichts fester Körper kann das Pyknometer gebraucht werden.
Man wägt zuerst das Fläschchen mit Wasser gefüllt,
legt den in

131

Spezifisches Gewicht.

Stückchen von Schrotgröße zerkleinerten
Körper auf die nämliche Wagschale und bestimmt sein
absolutes Gewicht. Wirft man nun die Stückchen in das
Fläschchen, so muß notwendig so viel Wasser
ausfließen, als von den hineingeworfenen Stückchen
verdrängt wird, und man erfährt nun durch eine abermalige
Wägung, wieviel ein dem Volumen der Körperstückchen
gleiches Volumen Wasser wiegt. Eine andre gleichfalls
vorzügliche Methode der Bestimmung des spezifischen Gewichts
gründet sich auf das sogen. Archimedische Prinzip, wonach
jeder in eine Flüssigkeit getauchte Körper so viel von
seinem Gewicht verliert, wie die verdrängte
Flüssigkeitsmenge wiegt. Man bedient sich hierzu der sogen.
hydrostatischen Wage (s. Hydrostatik, S.842), deren eine Wagschale
kürzer aufgehängt und unten mit einem Häkchen
versehen ist, woran man mittels eines möglichst dünnen
Drahts den zu untersuchenden Körper aufhängt, um ihn
zuerst wie gewöhnlich in der Luft und dann, nachdem er in ein
untergestelltes Gefäß mit Wasser eingetaucht ist,
nochmals im Wasser zu wägen. Die Gewichte, welche man im
letztern Fall von der ersten Wagschale wegnehmen oder auf die
kürzer aufgehängte Wagschale zulegen muß, um das
gestörte Gleichgewicht wiederherzustellen, geben das Gewicht
der verdrängten Wassermenge an, mit welchem man nur in das
absolute Gewicht des Körpers zu dividieren braucht, um sein s.
G. zu erfahren. Ist der Körper in Wasser löslich, so
taucht man ihn in eine andre Flüssigkeit, in welcher er sich
nicht löst, und bestimmt seinen Gewichtsverlust; ist das
spezifische Gewicht derselben bekannt, so findet man durch eine
einfache Rechnung den Gewichtsverlust, welchen er im Wasser
erlitten haben würde. Einen Körper, welcher spezifisch
leichter ist als Wasser und daher in demselben nicht untertaucht,
verbindet man mit einem schwerern Körper, dessen
Gewichtsverlust bereits bestimmt ist. Auch das spezifische Gewicht
von Flüssigkeiten läßt sich mittels der
hydrostatischen Wage leicht finden. Man bringt nämlich einen
unter der kürzern Wagschale aufgehängten beliebigen
Körper, z. B. ein Glasstück, in der Luft durch eine auf
die andre Wagschale gelegte Tara ins Gleichgewicht und bestimmt nun
seinen Gewichtsverlust zuerst in der zu untersuchenden
Flüssigkeit und dann in Wasser; jener Verlust, durch diesen
dividiert, gibt das gesuchte spezifische Gewicht. Der
Gewichtsverlust, welchen ein und derselbe Körper in
verschiedenen Flüssigkeiten erleidet, ist dem spezifischen
Gewicht offenbar proportional. Auf diesen Satz gründet sich
die Mohrsche Wage (Fig. 2), welche das spezifische Gewicht von
Flüssigkeiten sehr rasch und bequem zu bestimmen erlaubt. An
dem einen Arm des Wagebalkens hängt mittels eines feinen
Platindrahts das Senkgläschen A, ein zugeschmolzenes, zum Teil
mit Quecksilber gefülltes oder ein kleines Thermometer
enthaltendes Glasröhrchen, welches durch die Wagschale B
gerade im Gleichgewicht gehalten wird. Die Gewichte bestehen aus
hakenförmig gebogenen Messingdrähten P, von denen zwei
jedes genau so viel wiegen, wie der Gewichtsverlust des
Senkgläschens im Wasser ausmacht, während ein drittes
1/10 P, ein viertes 1/100 P wiegt. Der Wagebalken, an welchem das
Senkgläschen hängt, ist in 10 gleiche Teile geteilt. Will
man nun das spezifische Gewicht einer Flüssigkeit bestimmen,
so bringt man dieselbe in das Standgefäß CC und taucht
das Senkgläschen in sie ein. Ist die Flüssigkeit z. B.
konzentrierte Schwefelsäure, so muß man, um das
Gleichgewicht herzustellen, das eine Gewicht P an das Ende h des
Wagebalkens, das andre Gewicht P bei 8, das Gewicht 1/10 P bei 4
und das Gewicht 1/100 P wieder bei 8 anhängen und hat hiermit
das spezifische Gewicht der Schwefelsäure = 1,848 gefunden.
Über die Bestimmung des spezifischen Gewichts durch
Aräometer, welche sich ebenfalls auf das Archimedische Prinzip
gründen, s. d. In einer zweischenkeligen Röhre
(kommunizierende Röhren) b e d (Fig.3) halten sich zwei
Flüssigkeiten das Gleichgewicht, wenn ihre von der
Trennungsschicht a c aus gerechneten Höhen a b und c d sich
umgekehrt verhalten wie ihre spezifischen Gewichte; alsdann
üben sie nämlich auf die im gleichen Niveau gelegenen
Querschnitte a und c, unterhalb welcher die Flüssigkeitsmenge
a e c für sich schon im Gleichgewicht ist, gleichen Druck aus.
Befindet sich z. B. in dem einen Schenkel und in der Biegung
Quecksilber, im andern Schenkel Wasser, so ist im Fall des
Gleichgewichts die Höhe c d der Quecksilbersäule 13,6mal
geringer als diejenige der Wassersäule a b, woraus sich die
Zahl 13,6 als s. G. des Quecksilbers ergibt. Darauf gründet
sich Musschenbroeks Aräometer (Hygroklimax), welches in der
Form, die Ham ihm gegeben hat, in Fig. 4 dargestellt ist. Zwei
Glasröhren sind oben durch eine Metallröhre, an die ein
mit einem Hahn verschließbares, nach oben gerichtetes
Röhrchen angesetzt ist, verbunden und tauchen mit ihren
offenen Enden in zwei Gläser, deren eins Wasser, das andre die
zu untersuchende Flüssigkeit enthält. Verdünnt man
durch Saugen an dem Röhrchen die innere Luft und
schließt den Hahn, so werden die Flüssigkeiten durch den
äußern Luftdruck in die Röhren gehoben, und man
kann ihre Höhen, nachdem mittels Schrauben die
Flüssigkeitsoberflächen in den Gläsern auf das
gleiche Niveau gebracht sind, an der Skala ablesen; die Höhe
der Wassersäule, durch die Höhe der andern
Flüssigkeit-

[Fig. 2. Mohrsche Wage.]

[Fig. 3. Kommunizierende Röhren.]

[Fig. 4. Musschenbroeks Aräometer.]

132

Spezifisches Gewicht - Spezifische Wärme.

säule dividiert, gibt das spezifische Gewicht der letztern.
Über die Bestimmung des spezifischen Gewichts
pulverförmiger Körper s. Stereometer.

Um das spezifische Gewicht eines Gases zu bestimmen, wird ein
Glasballon von 8-10 Lit. Inhalt, dessen Hals mittels einer
Messingfassung, die durch einen Hahn verschließbar ist, auf
die Luftpumpe geschraubt werden kann, möglichst luftleer
gepumpt und nun gewogen. Alsdann füllt man ihn bei 0° mit
dem trocknen Gas und wägt ihn nochmals. Der Unterschied der
beiden Gewichte ist das Gewicht des Gases bei 0° und dem gerade
herrschenden Barometerstand und braucht nur durch das zuvor genau
ermittelte Volumen des Ballons dividiert zu werden, um das
spezifische Gewicht des Gases für diesen Druck zu liefern. Mit
Hilfe des Mariotteschen Gesetzes kann daraus leicht das spezifische
Gewicht bei dem Normalbarometerstand von 760 mm gefunden werden.
Überhaupt müssen bei der Bestimmung des spezifischen
Gewichts der Gase Temperatur, Druck und andre Umstände
sorgfältige Berücksichtigung finden. Um die Korrektion
wegen des Gewichtsverlustes, welchen der Ballon durch die umgebende
atmosphärische Luft erleidet, zu umgehen, hing Regnault an den
andern Wagebalken einen ganz gleichen Glasballon, dessen
äußeres Volumen dem des ersten vollkommen gleich gemacht
war. Da die spezifischen Gewichte der Gase, auf Wasser bezogen,
durch sehr kleine Zahlen ausgedrückt sind, so nimmt man
für sie gewöhnlich die Luft als Einheit. Ein sehr
sinnreiches Verfahren zur Bestimmung der spezifischen Gewichte der
Gase wurde von Bunsen auf den Satz gegründet, daß die
Ausströmungsgeschwindigkeit der Gase den Quadratwurzeln aus
ihren spezifischen Gewichten umgekehrt proportional sind, oder, was
dasselbe ist, daß ihre spezifischen Gewichte sich verhalten
wie die Quadrate der Ausströmungszeiten gleicher Volumina. Das
Gas befindet sich in der Glasröhre A A (Fig. 5), die sich oben
in ein Röhrchen B verengert, in welches bei v ein dünnes
Platinplättchen mit einer feinen Öffnung eingeschmolzen
ist, aus der nach Wegnahme des Stöpsels s das Gas
ausströmt. Die Röhre A A wird, während der
Stöpsel aufgesetzt ist, so tief in das Quecksilber des
Standgefäßes C C hinabgedrückt, daß die
Spitze r des gläsernen Schwimmers D D genau im Niveau des
Quecksilbers erscheint. Wird nun der Stöpsel weggenommen, so
beginnt das Gas auszuströmen, und man braucht nun nur die Zeit
zu beobachten, welche von der Wegnahme des Stöpsels an
vergeht, bis die am Schwimmer angebrachte Marke t das
Quecksilberniveau erreicht hat. Hat man z. B. auf diese Weise
gefunden, daß gleiche Raumteile von atmosphärischer Luft
und von Knallgas bez. 117,6 und 75,6 Sekunden zum Ausströmen
gebrauchen, so ist das spezifische Gewicht des Knallgases, auf Luft
bezogen, = 75,6² : 117,6² = 0,413.

Über die Bestimmung des spezifischen Gewichts der
Dämpfe s. Dampfdichte.

[Fig. 5. Bunsens Apparat zur Bestimmung des spezifischen
Gewichts der Gase.]

Spezifische Wärme (Wärmekapazität), die
Wärmemenge, welche 1 kg eines Körpers bedarf, um sich um
1° C. zu erwärmen. Gleiche Massen verschiedener Stoffe
erfordern für die gleiche Temperaturerhöhung einen sehr
ungleichen Aufwand von Wärme. Will man z. B. 1 kg Wasser und 1
kg Quecksilber von 0° auf 100° erwärmen, so bemerkt
man leicht, daß bei gleicher Wärmezufuhr das Quecksilber
viel rascher die gewünschte Temperatur erreicht als das
Wasser. Ja sogar, wenn man von beiden Flüssigkeiten je 1 Lit.
nimmt, also dem Gewicht nach 13,6mal soviel Quecksilber als Wasser,
wird man bei jenem mit einer Heizflamme das Ziel schneller
erreichen als bei diesem mit zwei ebensolchen Flammen. Erkaltet ein
warmer Körper wieder auf seine ursprüngliche Temperatur,
so gibt er die Wärmemenge, welche er vorher zu seiner
Erwärmung verbraucht hatte, an seine Umgebung wieder ab; man
wird daher, indem man diese Wärmeabgabe beobachtet, zugleich
den zur Erwärmung nötigen Wärmebedarf kennen lernen;
alle Verfahrungsarten zur Ermittelung der "spezifischen Wärme"
der Körper beruhen in der That aus der Bestimmung der beim
Erkalten abgegebenen Wärmemenge. Erwärmen wir drei gleich
schwere Kugeln von Kupfer, Zinn und Blei in siedendem Wasser auf
100° u. bringen sie rasch auf eine Wachsscheibe, so fällt
die Kupferkugel sehr bald durch das Loch, das sie aufgeschmolzen
hat, die Zinnkugel dringt tief in die Scheibe ein, während die
Bleikugel nur ganz wenig einsinkt. Es ist hierdurch
augenfällig, daß das Kupfer die größte
Wärmemenge abgegeben hat und demnach unter diesen Metallen die
größte s. W. besitzt, das Zinn eine mittlere, das Blei
die kleinste. Genaueres über das Verhältnis der
spezifischen Wärmen dieser Körper erfahren wir jedoch
durch diesen Versuch nicht; hierzu wäre es notwendig, die
abgegebenen Wärmemengen wirklich zu messen, d. h. in
"Wärmeeinheiten "auszudrücken. Als Einheit der
Wärmemenge oder Wärmeeinheit hat man diejenige
Wärmemenge festgesetzt, welche erforderlich ist, um 1 kg
Wasser um 1° C. zu erwärmen, oder, was dasselbe ist, man
hat die s. W. des Wasser = 1 angenommen. Vorrichtungen zur Messung
von Wärmemengen nennt man Kalorimeter. Um die s. W. eines
Körpers nach dem Schmelzverfahren zu bestimmen, kann das
Eiskalorimeter von Lavoisier und Laplace (Fig. 1) dienen. Dasselbe
besteht aus drei sich der Reihe nach umhüllenden
Blechgefäßen, von denen das innerste c siebartig
durchlöchert ist oder auch nur aus einem Drahtkorb besteht.
Der Zwischenraum a a zwischen dem äußersten und mittlern
Gefäß sowie der hohle Deckel des letztern

[Fig. 1 Eiskalorimeter von Lavoisier und Laplace.]

133

Spezifische Wärme.

werden mit Eisstücken gefüllt, die dazu dienen, die
Wärme der äußern Umgebung von dem Raum b b zwischen
dem mittlern und innersten Gefäß, der ebenfalls mit
Eisstücken gefüllt ist, abzuhalten; das in dem Raum a a
durch die äußere Wärme erzeugte Schmelzwasser
fließt durch den Hahn d ab. Bringt man nun einen Körper
von bekanntem Gewicht und bekannter Temperatur (z. B. eine in den
Dämpfen siedenden Wassers auf 100° erhitzte eiserne Kugel)
in das innerste Gefäß, so wird derselbe, indem er von
dieser Temperatur auf 0° erkaltet, eine gewisse Menge Eis
schmelzen, welche man durch Wägung des durch den Hahn e
abgelaufenen Schmelzwassers ermittelt. Da man nun weiß,
daß zur Schmelzung von 1 kg Eis 80 Wärmeeinheiten
erfordert werden (s. Schmelzen), so kann man leicht die
Wärmemenge berechnen, welche jener Körper bei seinem
Erkalten abgegeben hat, und erfährt sonach auch die
Wärmemenge, welche derselbe für 1 kg und für 1°
C. enthielt, d. h. seine s. W. Das weit genauere Eiskalorimeter von
Bunsen gründet sich auf die Thatsache, daß beim
Schmelzen des Eises eine Zusammenziehung stattfindet, indem das
entstandene Schmelzwasser einen kleinern Raum einnimmt als das Eis
(s. Ausdehnung). In das weitere Glasgefäß W (Fig. 2),
welches sich unten in das umgebogene und wieder aufsteigende
Glasrohr Q Q fortsetzt, ist das Probierröhrchen w
eingeschmolzen; das Gefäß W wird mit luftfreiem Wasser
gefüllt, welches durch das im untern Teil von W und in der
Röhre befindliche Quecksilber Q Q abgesperrt ist. Indem man
tief erkalteten Weingeist durch das Proberöhrchen strömen
läßt, umkleidet sich dasselbe mit einer Eishülle E.
Wirft man nun einen auf bekannte Temperatur erwärmten
Körper in das Proberöhrchen, welches etwas Wasser von
0° enthält, so wird etwas Eis geschmolzen, infolge der
eintretenden Raumverminderung tritt mehr Quecksilber in das
Gefäß W, und in dem engen Glasröhrchen q, welches
mittels eines Korks in das Rohr Q eingesetzt ist, zieht sich der
Quecksilberfaden zurück; aus der Größe seiner
Verschiebung ergibt sich die Menge des entstandenen Schmelzwassers
und demnach auch die von dem Körper an das Eis abgegebene
Wärmemenge.

Vermischt man 1 kg Wasser von 10° mit 1 kg Wasser von
50°, so zeigt die Mischung, wenn alle Wärmeverluste
vermieden wurden, die mittlere Temperatur von 30°. Das eine
Kilogramm Wasser gab nämlich, indem es von 50° auf 30°
erkaltete, die 20 Wärmeeinheiten ab, welche notwendig waren,
um das andre Kilogramm Wasser von 10° auf 30° zu
erwärmen. Mischt man dagegen 1 kg Wasser von 10° mit 1 kg
Terpentinöl von 60°, so zeigt das Gemisch nur etwa
24°. Um die 14 Wärmeeinheiten zu liefern, welche zur
Erwärmung des einen Kilogramms Wasser von 10° auf 24°
erforderlich waren, mußte also das Kilogramm Terpentinöl
um 36° erkalten; umgekehrt werden diese 14 Wärmeeinheiten
auch wieder hinreichen, um 1 kg Terpentinöl um 36° zu
erwärmen. Zur Erwärmung von 1 kg Terpentinöl um
1° sind daher 14/36 oder 0,4 Wärmeeinheiten erforderlich,
oder 0,4 ist die s. W. des Terpentinöls. Um dieses
Mischungsverfahren mit der erforderlichen Genauigkeit
auszuführen, bediente sich Regnault der in Fig. 3 gebildeten
Vorrichtung. Der obere Teil wird von drei einander umhüllenden
Blechcylindern gebildet, deren innerster A oben durch einen Kork,
in welchem ein Thermometer steckt, unten durch einen leicht
abnehmbaren Blechdeckel verschlossen ist. In der Mitte von A
hängt an einem durch den Kork gehenden Faden ein
ringförmiges Drahtkörbchen, welches den zu untersuchenden
Körper, entweder in Stücken oder in dünnwandige
Glasröhrchen eingeschmolzen, aufnimmt und in seiner innern
Höhlung das Gefäß des Thermometers
einschließt. In den Raum B wird aus einem seitlich
aufgestellten Dampfkessel durch die Röhre a Wasserdampf
eingeleitet, welcher den Körper auf 100° erwärmt und
durch die Röhre c wieder abströmt. Ist diese Temperatur
erreicht, so wird nach Wegnahme des untern Deckels das
Drahtkörbchen in das mit einer gewogenen Wassermenge
gefüllte Wasserkalorimeter D herabgelassen und die
Mischungstemperatur beobachtet, woraus sich die von dem Körper
an das Wasser abgegebene Wärmemenge und sonach auch seine s.
W. leicht ableiten läßt. Durch einen mit kaltem Wasser d
d angefüllten Blechmantel ist das Kalorimeter D vor
Erwärmung von dem Dampfkessel oder dem Dampfraum B B her
geschützt.

Ein drittes Verfahren zur Bestimmung der spezifischen
Wärme, das besonders von Dulong und Petit angewendete
Abkühlungsverfahren, gründet sich auf den Satz, daß
ein erwärmter Körper im luftleeren Raum, wo er nur durch
Wärmestrahlung sich abkühlen kann, unter sonst gleichen
äußern Umständen um so langsamer erkaltet, eine je
größere Wärmemenge er enthält; bei gleicher
Temperaturerniedrigung verhalten sich hiernach die von
verschie-

[Fig 2. Eiskalorimeter von Bunsen.]

[Fig. 3. Wasserkalorimeter von Regnault.]

134

Spezifizieren - Sphaerococcus.

denen Körpern abgegebenen Wärmemengen wie die
Abkühlungszeiten.

Die spezifischen Wärmen der Körper nehmen mit
höherer Temperatur zu, indem sie sich einem festen Endwert
nähern; zwischen 0° und 100° ist indessen die
Änderung so gering, daß man die s. W. innerhalb dieser
Grenzen als unveränderlich betrachten kann.

Die spezifischen Wärmen einiger Grundstoffe sind:

Aluminium 0,214

Schwefel 0,203

Eisen 0,114

Kupfer 0,095

Zink 0,095

Silber 0,057

Zinn 0,056

Jod 0,054

Antimon 0,051

Quecksilber 0,033

Platin 0,032

Blei 0,031

und diejenigen einiger Flüssigkeiten:

Alkohol 0,566

Glycerin 0,555

Benzin 0,392

Chloroform 0,233

Die s. W. des Eises ist 0,505.

Dulong und Petit entdeckten das wichtige Gesetz, daß die
spezifischen Wärmen der festen chemischen Elemente
(Grundstoffe) sich umgekehrt verhalten wie ihre Atomgewichte, so
daß das Produkt aus Atomgewicht und spezifischer Wärme
für alle diese Körper unveränderlich das
nämliche und zwar nahezu gleich 6 ist. Das Dulong-Petitsche
Gesetz läßt sich sonach auch folgendermaßen
aussprechen: die durch die Atomgewichte ausgedrückten Mengen
der festen Elemente bedürfen zu gleicher
Temperaturerhöhung gleich großer Wärmemengen, oder:
die Atomwärmen der Grundstoffe sind gleich. Neumann wies
ferner nach, daß auch die spezifischen Wärmen chemischer
Verbindungen von ähnlicher Zusammensetzung im umgekehrten
Verhältnis der Atomgewichte stehen, und Kopp stellte den Satz
auf, daß die Molekularwärme einer chemischen Verbindung
gleich der Summe der Atomwärmen ihrer Elemente sei (vgl.
Wärme).

Die luftförmigen Körper bedürfen zur
Erwärmung gleicher Raumteile auch gleicher Wärmemengen;
und da nach dem Gesetz von Avogadro alle Gase bei gleichem Druck
und gleicher Temperatur in gleichen Raumteilen gleich viele
Moleküle enthalten, so folgt, daß alle Gase gleiche
Molekularwärme haben. Eine gegebene Gewichtsmenge eines Gases
verbraucht bei gleicher Temperaturerhöhung eine
größere Wärmemenge, wenn sie bei gleichbleibendem
Druck sich ausdehnt, als wenn sie unter Steigerung des Drucks ihren
Rauminhalt unverändert beibehält, d. h. die s. W. bei
konstantem (unverändertem) Druck ist größer als
diejenige bei konstantem Volumen; für atmosphärische Luft
beträgt jene 0,2377, diese 0,1686. Für alle Gase ist das
Verhältnis der spezifischen Wärme bei konstantem Druck zu
derjenigen bei konstantem Volumen das gleiche, nämlich = 1,41
(vgl. Wärme).

Spezifizieren (lat.), im einzelnen angeben.

Speziös (lat.), in die Augen fallend, von
schöner Erscheinung; auch s. v. w. durch den Schein
täuschend, scheinbar.

Spezzia, Insel, s. Spetsä.

Sphacelarieen, Familie der Algen aus der Ordnung der
Fukoideen; s. Algen (11), S. 345.

Sphacelia, s. Mutterkorn.

Sphacelus, feuchter Brand, s. Brand, S. 313.

Sphagnaceen, Ordnung der Moose (s. d., S. 791).

Sphagnum Ehrh. (Torfmoos), Moosgattung aus der Ordnung
der Sphagnaceen, charakterisiert durch aufrechte, cylindrische,
beblätterte Stengel mit zweierlei Zweigen: gerade abwärts
gerichteten, dem Stengel dicht anliegenden und schief abstehenden
oder aufrechten, an der Spitze des Stengels schopfartig
gehäuften. Die weiblichen Blüten stehen endständig
auf aufrechten Zweigen, die männlichen
kätzchenförmig an den Spitzen schiefer Zweige. Mit den
auch sonst ähnlichen Laubmoosen stimmt die Gattung in der mit
einem Deckel aufgehenden Büchse überein, unterscheidet
sich aber durch den Mangel der Borste und durch die an der Spitze
zerreißende, daher die Büchse anfangs scheidenartig
umgebende Haube. Die Blätter bestehen aus großen,
leeren, lufthaltigen, mit Verdickungsfasern versehenen, durch weite
Poren nach außen geöffneten Zellen, zwischen denen sehr
enge, chlorophyllhaltige Zellen liegen, daher diese Moose von
bleicher Farbe sind und vermittelst der porösen Zellen, wie
ein Schwamm, Wasser einsaugen. Es sind ansehnliche,
weißliche, bräunliche oder rötliche, in hohen,
elastisch schwammigen Polstern wachsende Moose, welche in einigen
20 Arten über die Erde verbreitet sind und zu den wichtigsten
Torfpflanzen gehören, indem sie von der Ebene bis in die
alpinen Gebirgshöhen, auf Torfsümpfen, in morastigen
Wäldern und auf feuchten Felsen gesellig in ausgedehnten
Beständen wachsen und wesentliche Erzeuger des Torfs sind. Sie
erhalten in Wäldern und Gebirgen die Feuchtigkeit des Bodens.
Die häufigsten der zwölf deutschen Arten sind das
kahnblätterige Torfmoos (S. cymbifolium Ehrh.), mit
kahnförmigen, an der Spitze kappenförmigen
Zweigblättern, und das spitzblätterige Torfmoos (S.
acutifolium Ehrh.), mit lang zugespitzten, an der Spitze gestutzten
und gezahnten, länglich-eiförmigen Blättern. Vgl.
Warnstorff, Die europäischen Torfmoose (Berl. 1881).

Sphakioten, Volksstamm, s. Kreta.

Sphakteria (jetzt Sphagia), griech. Insel im Ionischen
Meer, an der Westküste von Messenien (Bai von Pylos), 5 km
lang, schmal und felsig. Während des Peloponnesischen Kriegs
wurde S. 425 v. Chr. von 420 Spartanern besetzt, aber nach
72tägiger Verteidigung den Athenern unter Kleon
übergeben, wobei 292 Spartaner in deren Gewalt fielen.

Sphalerit, s. Zinkblende.

Sphäre (griech.), Kugel; in der Geometrie die
Kugeloberfläche (daher Sphärik, die Lehre von den Figuren
auf der Kugel); in der Astronomie s. v. w. Himmelskugel,
Weltkörper, dann Kreis, Kreisbahn (der Planeten); bildlich s.
v. w. Bereich, Geschäfts-, Wirkungskreis, Erkenntniskreis;
Lebensstellung.

Sphärenmusik, s. Harmonie der Sphären.

Sphärisch, auf der Kugel, eine Figur auf der
Oberfläche einer Kugel gelegen.

Sphärischer Exzeß, s. Kugel.

Sphärístik (griech.), Kunst des Ballspiels
(s. d.).

Sphaerococcus Grev. (Knopftang), Algengattung aus der
Familie der Florideen, mit meist dichotom verzweigtem, rundem oder
zusammengedrückt linealischem, knorpeligem oder heutigem
Thallus und eingesenkten, aber knopf- oder warzenförmig
hervorragenden Früchten (Cystokarpien), ist gegenwärtig
nach dem innern Bau der letztern in eine Anzahl Gattungen zerteilt
worden. Chondrus crispus Lyngb. (S. crispus Ag., gemeiner
Knorpeltang, Gallertmoos, Carragaheenmoos, irländisches
Perlmoos), 7-32 cm lang, 0,2-2,7 cm breit, zusammengedrückt
linealisch oder keilförmig, an den Spitzen wiederholt dichotom
geteilt und kraus, knorpelig, rot oder violett, wächst an
Steinen in den europäischen Meeren, wird vorzüglich an
den Küsten der nördlichen Länder gesammelt und
getrocknet als Carragaheen (s. d.) in den Handel gebracht. Aus
Gracilaria lichenoides Ag. (S. lichenoides Ag., Ceylonmoos), mit
7-11 cm langem, zwirnfadendickem, dichotom ästigem,
gallertigem Thallus, im Indischen Meer, auf Ceylon und Java,
bereiten die Japaner eins ihrer gewöhnlichsten
Nahrungsmittel

135

Sphäroid - Sphinx.

(Dschin-Dschen). Dasselbe gilt von den ähnlichen Arten:
Euchema spinosum Ag. (S. spinosus Ag.), E. gelatinae Ag. (S.
gelatinus Ag.) und E. speciosum Ag., in den Meeren Indiens und
Australiens, welche auch nach Europa (s. Agar-Agar) in den Handel
kommen. Auch Gracilaria lichenoides, im Indischen Meer und im
Stillen Ozean, wird gegessen.

Sphäroid (griech., "kugelähnlich"), bei den
alten Geometern der Körper, welcher durch Umdrehung einer
Ellipsenfläche um eine der beiden Achsen erzeugt wird. Ist a
die halbe Rotationsachse, b die andre Halbachse (vgl. Ellipse), so
ist das Volumen des Körpers = 3/4 a² b ^π (^π =
3,1416, vgl. Kreis), gleichgültig, ob a größer oder
kleiner als b ist. Schon Archimedes hat dies bewiesen.
Gegenwärtig nennt man den Körper (und ebenso die ihn
begrenzende Fläche) ein Rotationsellipsoid (vgl.
Ellipsoid).

Sphäroidaler Zustand, s. Leidenfrostscher
Tropfen.

Sphärolithe, die kugeligen Aggregate, welche in
vielen Gesteinen eine besondere kugelige oder sphärolithische
Struktur hervorrufen, und die man, je nachdem sie selbst
strukturlos sind oder eine radialfaserige Zusammensetzung erkennen
lassen, und je nach der Natur der gruppierten Elemente mit
verschiedenen Namen (Kumulite, Globosphärite,
Belonosphärite, Felsosphärite, Granosphärite)
belegt. Tafel "Mineralien und Gesteine" zeigt in Fig. 16 und 17
sphärolithische Struktur in körnigem und in glasigem
Gestein. Speziell nennt man S. die kugeligen, aber schon deutlich
kristallinischen Ausscheidungen in gewissen Perlsteinen (s. d.),
von den aus bloßer Glasmasse bestehenden kugeligen
Körnern der meisten Perlsteine zu unterscheiden. Gesteine,
welche fast nur aus solchen Sphärolithen zusammengesetzt sind
und beinahe gar keine glasige Zwischenmasse erkennen lassen,
heißen Sphärolithfels. Lokal und genetisch sind
dieselben mit den Pechsteinen oder den Perlsteinen eng
verknüpft.

Sphärolithischer Aphanit, s. Blatterstein.

Sphärologie (griech.), Kugellehre, Lehre von der
Kugelgestalt der Weltkörper.

Sphärometer (griech., "Kugelmesser"), Instrument zur
Bestimmung der Gestalt der Linsengläser und zur Messung der
Dicke dünner Blättchen, welche die bekannten farbigen
Erscheinungen im polarisierten Licht zeigen, besteht nach der ihm
von Cauchoix gegebenen Einrichtung im wesentlichen aus einer mit
einem Dreifuß verbundenen Mikrometerschraube, deren
kreisförmiger Kopf eine Teilung besitzt.

Sphärometrie (griech.), Kugelmessung.

Sphäropleen, Ordnung der Algen (s. d., S. 343).

Sphärosiderit, s. Spateisenstein.

Sphen, s. Titanit.

Sphendone (griech.), Schleuder; auch eine in der Mitte
breite Haarbinde der griechischen Frauen, die dergestalt um den
Kopf gebunden wurde, daß das Haar ringsum in Ringeln
herabfiel.

Sphenoide, vierflächige Kristallgestalten, Hemieder
der quadratischen oder rhombischen Pyramide; vgl. Kristall, S.
232.

Sphenophyllum, s. Lykopodiaceen, S. 6.

Sphingidae (Schwärmer), Familie aus der Ordnung der
Schmetterlinge (s. d.).

Sphinkter (griech.), Schließmuskel (s. d.).

Sphinx, Schmetterlingsgattung aus der Familie der
Schwärmer (Sphingidae oder Crepuscularia), zu welcher der
Windig, Liguster-, Kiefernschwärmer u. a. gehören.

Sphinx, Name oft kolossaler Steinbilder, gewöhnlich
aus Granit oder Porphyr, auch Kalkstein, von Löwengestalt mit
Menschenkopf, liegend auf Postament, die Vorderbeine vorwärts
gestreckt, die Hinterbeine untergeschlagen. Diese phantastischen
Gebilde stammen aus dem Orient: aus Assyrien (Palast zu Nimrud und
Portal von Chorsabad) und insbesondere aus Ägypten. Hier
standen sie meist am Eingang des Tempels, doch auch einzeln. Die
ägyptischen Sphinxbilder sind immer männlichen
Geschlechts und dienen meist zur Darstellung eines Königs,
weshalb sie die Uräusschlange vor der Stirn tragen. Die
kolossalste ist die S. bei den Pyramiden von Gizeh, aus dem Felsen
gehauen, 55 m lang, an 20 m hoch, aus der ältesten Zeit der
ägyptischen Geschichte vor Cheops stammend (s. Tafel "Baukunst
III", Fig. 1). Diese merkwürdige Bildung entsprach demselben
Hang zum Mystizismus, der auch die Götterbilder mit
Tierköpfen versah. Auch bei den Sphinxen beschränkte man
sich nicht auf Mischung der Löwengestalt mit der menschlichen,
sondern setzte auch wohl Widder- (Kriosphinxe, s. Tafel
"Bildhauerkunst I", Fig. 2) und Sperberköpfe auf. Im
allgemeinen betrachtete man die Sphinxe als die mystischen
Hüter und Schutzgeister der Tempel und Totenwohnungen. Ganze
Alleen von riesigen Sphinxen führten oft zum Eingang des
Tempels. Mannigfaltiger nach Gestalt und Bedeutung erscheinen die
Sphinxe in Griechenland, wo sie immer als weibliche Gestalten
aufgefaßt werden. Ursprünglich ein geflügelter
Löwenkörper mit Kopf und Brust einer Jungfrau (s.
Abbildung), wurden sie später von Dichtern und Künstlern
in den abenteuerlichsten Gestalten dargestellt, z. B. als Jungfrau
mit Brust, Füßen und Krallen eines Löwen, mit
Schlangenschweif, Vogelflügeln, oder vorn Löwe, hinten
Mensch, mit Geierkrallen und Adlerflügeln, und zwar nicht
immer liegend, sondern auch in andern Stellungen. Berühmt ist
die thebaische S. im böotischen Mythus, Tochter des Typhon und
der Schlange Echidna, welche jedem, der ihr nahte, das Rätsel
aufgab: Welches Geschöpf geht am Morgen auf vier
Füßen, am Mittag auf zweien, am Abend auf dreien? Wer es
nicht lösen konnte, mußte sich vom Felsen in den Abgrund
stürzen. Ödipus deutete es richtig auf den Menschen,
worauf sich die S. vom Berg herabstürzte. Von der griechischen
Kunst aus der ägyptischen und orientalischen frühzeitig
übernommen und eigentümlich (immer weiblich) umgebildet,
galt hier die S. als Sinnbild des unerbittlichen Todesgeschicks und
ward daher auf Gräbern oft dargestellt (vgl. Bachofen,
Gräbersymbolik der Alten, Bas. 1859). Auch an altchristlichen
Kirchen kommen die Sphinxe manchmal vor. Wieder angewendet wurden
sie von der Spätrenaissance, insbesondere häufig aber von
der Barockkunst, die mit denselben Eingänge zu Palästen,
Gärten u. dgl. verzierte.

[Sphinx (Berliner Museum).]

136

Sphragid - Spiegel.

Sphragid, s. Bolus.

Sphragistik (griech.), Siegelkunde, s. Siegel.

Sphragmit, s. Grauwacke.

Sphygmograph (griech., "Pulsschreiber"), Instrument, mit
Hilfe dessen sich die Pulsbewegung bleibend in Gestalt einer Kurve
darstellen läßt, an welcher man alle
Eigentümlichkeiten der Pulsbewegung genau studieren kann. Bei
allen Sphygmographen setzt die abwechselnd sich ausdehnende und
kontrahierende Arterie ein kleines Plättchen in Bewegung,
welches wiederum aus einen langen Hebelarm wirkt. Dieser Hebelarm
schreibt die Bewegung der Arterienwand in vergrößertem
Maßstab auf einen Streifen Papier, welcher durch ein Uhrwerk
in gleichmäßige Bewegung versetzt und vor der Spitze des
Hebelarms vorbeigeführt wird. Auf dem Papier bilden sich die
Pulsbewegungen in Gestalt einer je nach der Art des untersuchten
Pulses mannigfach modifizierten Wellenlinie ab. Kennt man die
Geschwindigkeit, mit welcher das Papier an der Hebelspitze
vorübergeht, so kann man die Dauer einer Pulswelle berechnen;
außerdem kann man an der Kurve das allmähliche An- und
Absteigen der Pulswellen, ihre Aufeinanderfolge etc. genau
verfolgen. Für physiologische Forschungen ist der S. ein ganz
unentbehrliches Hilfsmittel. Vgl. Dudgeon, The s., its history and
use (Lond. 1882).

Sphygmophon (griech.), ein mit galvanischer Batterie und
Telephon verbundener federnder Stromunterbrecher welcher, auf die
Arterie gesetzt, den Pulsschlag u. seine Modifikationen laut
hörbar macht.

Sphyrna, Hammerfisch.

Spiauter (Spialter, holländ.), s. v. w. Zink.

Spica (lat.), Ähre, eine Form des Blütenstandes
(s. d.); spicatus, in eine Ähre zusammengestellt.

Spiccato (ital.), deutlich gesondert (musikal.
Vortragsbezeichnung).

Spicheren, s. Speichern.

Spicilegium (lat.), Ährenlese.

Spicknadel, eine Nadel mit zweimal gespaltenem Kopf,
dient zum Einziehen von Speckstreifen in Braten (Spicken).

Spicknarden, s. Valeriana.

Spicula (lat.), s. Ährchen.

Spiegel, Körper mit glatter Oberfläche, welche
zur Erzeugung von Spiegelbildern benutzt werden. Man unterscheidet
Planspiegel mit vollkommen ebener und Konvex- und Konkavspiegel mit
gekrümmter Spiegelfläche, wendet aber im
gewöhnlichen Leben meist Planspiegel an. Als solche benutzte
man im Altertum, zum Teil schon in vorgeschichtlicher Zeit, runde,
polierte, gestielte Metallscheiben aus Kupfer (Ägypter,
Juden), Bronze (Römer, besonders brundusische S.), Silber,
Gold (seit Pompejus, Gold auch schon bei Homer). Manche Legierungen
geben eine besonders stark spiegelnde Oberfläche und werden
deshalb als Spiegelmetall (s. d.) zusammengefaßt. Auch
Glasspiegel kamen früh in Gebrauch; man benutzte dazu
obsidianartige, dunkle, undurchsichtige Massen mit glatter,
polierter Oberfläche, welche in die Wand eingelassen wurden.
Vielleicht aber kannte man schon zur Zeit des Aristoteles
Glasspiegel, deren Rückseite mit Blei und Zinn belegt war.
Sichere Nachrichten über diese S. hat man indes erst aus dem
13. Jahrh. Man schnitt sie in Deutschland aus Glaskugeln, die
inwendig mit geschmolzener Bleiantimonlegierung überzogen
worden waren. Im 14. Jahrh. kamen die mit Blei-, dann mit
Zinnamalgam belegten ebenen S., wie wir sie jetzt benutzen, in
Gebrauch. Zur Darstellung derselben breitet man auf einer
horizontalen, ebenen Steinplatte ein Blatt kupferhaltige Zinnfolie
(Stanniol) aus, dessen Größe die des Spiegels etwas
übertrifft, übergießt es 2-3 mm hoch mit
Quecksilber, welches mit dem Zinn ein Amalgam bildet, schiebt die
polierte und sorgfältig gereinigte Glasplatte so über die
Zinnfolie, daß ihr Rand stets in das Quecksilber taucht,
beschwert sie dann mit Gewichten, gibt der Steinplatte eine ganz
geringe Neigung, damit das überschüssige Quecksilber
abfließt, und legt den S. nach 24 Stunden mit der
Amalgamseite nach oben auf ein Gerüst, welches man
allmählich mehr und mehr neigt, bis der S. schließlich
senkrecht steht. Nach 8-20 Tagen ist er verwendbar. 50 qdcm
erfordern 2-2,5 g Amalgam, welches aus etwa 78 Zinn und 22
Quecksilber besteht. In neuerer Zeit benutzt man vielfach
Silberspiegel, d. h. auf der Rückseite versilbertes
Spiegelglas, wie es zuerst von Drayton 1843 vorgeschlagen wurde.
Zur Versilberung sind viele Vorschriften gegeben worden; doch
beruhen alle darauf, daß man eine Silberlösung mit einem
reduzierend wirkenden Körper vermischt und mit der zu
versilbernden Glasfläche in Berührung bringt. Das Silber
schlägt sich dann auf das Glas nieder und wird zum Schutz mit
einem Anstrich aus Leinölfirnis und Mennige überzogen,
auch wohl zunächst galvanisch verkupfert. Bei Herstellung
größerer S. gießt man die
Versilberungsflüssigkeit auf die Glasplatte, welche auf einem
gußeisernen Kasten liegt, der mit Wasser gefüllt ist und
eine Dampfschlange enthält, um die Platte erwärmen zu
können. Kleinere Platten stellt man je zwei mit dem
Rücken aneinander reihenweise in die
Versilberungsflüssigkeit. Auf 1 qm Glas kann man 29-30 g
Silber ablagern. Diese Silberspiegel, deren Fabrikation erst seit
1855 durch Petitjean und Liebig, welche zweckmäßige
Versilberungsflüssigkeiten angaben, praktische Bedeutung
gewann, sind billiger als die belegten; größere aber
sind schwer herzustellen, und über die längere
Haltbarkeit fehlen noch Erfahrungen. Man hat auch Platinspiegel
hergestellt, für welche man nur auf einer Seite geschliffenen
Glases bedarf. Man trägt die Mischung von Platinchlorid mit
Lavendelöl, Bleiglätte und borsaurem Bleioxyd auf das
Glas auf und brennt das ausgeschiedene Metall ein. Da das Platin an
der Luft nicht anläuft, so halten sich diese S. sehr gut, und
der Metallüberzug ist so dünn, daß das Glas
durchsichtig bleibt. Über Herstellung etc. des Spiegelglases
s. Glas, S.322. Vgl. Benrath, Glasfabrikation (Braunschw. 1875);
Cremer, Fabrikation der Silber- und Quecksilberspiegel (Wien 1887).
- Die für die Toilette der Frauen bestimmten Handspiegel des
Altertums wurden am Griff und auf der Rückseite der Scheibe
künstlerisch verziert, auf letzterer bei den Griechen,
Römern etc. meist mit eingravierten mythologischen u.
genrehaften Darstellungen geschmückt (Fig. 1-3). Antike S.
sind

[Fig. 1-3. Römische Handspiegel.]

137

Spiegel - Spiegelinstrumente.

zahlreich in den verschütteten Vesuvstädten und in den
Gräbern gefunden worden. Eine Spezialität bilden die
etruskischen S., welche ebenfalls mit Darstellungen aus dem
etruskischen Götterkreis und mit Inschriften versehen sind
(Fig. 4). Sie wurden von E. Gerhard ("Die etruskischen S.", Berl.
1843-68, 4 Bde.; fortgesetzt von Klügmann und Körte 1884
ff.)beschrieben. Die antike Grundform des Handspiegels erhielt sich
das ganze Mittelalter und die Folgezeit hindurch bis jetzt. Nur
wurde die Spiegelfläche nicht bloß oval, sondern auch
rund, viereckig und vielseitig gestaltet, von einem mehr oder
minder reichverzierten Rahmen eingefaßt und in der
Rückseite mit Schnitzwerk, Reliefarbeit etc. geschmückt.
Die Einfassung des Handspiegels, dessen Spiegelfläche anfangs
noch meist aus Metall, dann aus Glas bestand, wurde in Holz,
Elfenbein, Metall und andern Materialien ausgeführt. Zur
Renaissancezeit trugen die Damen Handspiegel am Gürtel. Im
Mittelalter kamen auch Taschenspiegel und S. zum Aufhängen an
Wänden auf, die seit dem 16. Jahrh. immer größer
wurden und sich nach der Erfindung des Spiegelglases (1688) zu den
von der Decke bis zum Fußboden reichenden Trümeaus
entwickelten. Im Mittelalter waren Venedig und Murano die
Hauptsitze der Spiegelfabrikation, welche die ganze kultivierte
Welt mit venezianischen Spiegeln versorgten. Die Einrahmung der
Wandspiegel, welche anfangs durch gekehlte Leisten, später
durch reich ornamentiertes Schnitzwerk erfolgte, wurde ein
besonderer Zweig der Möbeltischlerei. Doch wurden früher
und werden gegenwärtig noch in Venedig und Murano Wandspiegel
mit Rahmen aus geschliffenem und geblasenem Glas angefertigt.
Solche Rahmen werden häufig aus naturalistischen farbigen
Blumen (Rosen u. dgl.) und Rankenwerk gebildet.

In übertragenem Sinn bezeichnet S. überhaupt jede
glatte, glänzende Fläche (z. B. Eis-, Wasserspiegel);
sodann in der Weidmannssprache den hellen Fleck um das Weidloch der
Hirsche und Rehe, auch den weißen oder metallglänzenden
Fleck auf den Flügeln der Enten sowie den weißen
Schulterfleck des Auer- und Birkwildes; ferner einen Teil der
Hinterseite des Schiffs (s. Heck); in der Struktur des Holzes die
Markstrahlen (s. Holz, S. 669) etc. Da endlich der S. als Symbol
der Selbstprüfung und des Gewissens, als Emblem der Wahrheit
dient, so ist das Wort auch häufig als Titel für
belehrende Schriften, besonders moralischen, pädagogischen und
politischen Inhalts, worin Musterbilder zur Nacheiferung
aufgestellt werden, verwendet worden, z. B. Fürstenspiegel,
Jugendspiegel, Ritterspiegel, Laienspiegel, die Gesetzsammlungen
Sachsenspiegel und Schwabenspiegel etc.

[Fig.4. Etruskischer (sogen. Semele-) Spiegel]

Spiegel, medizinisches Instrument, s. Speculum.

Spiegel, Friedrich (von), namhafter Orientalist, der
bedeutendste Kenner des Zendavesta, geb. 11. Juli 1820 zu
Kitzingen, widmete sich in Erlangen, Leipzig und Bonn
orientalischen Sprachstudien, durchforschte 1842-47 die
Bibliotheken zu Kopenhagen, London und Oxford und ist seit 1849
Professor der orientalischen Sprachen an der Universität
Erlangen. Nachdem er durch seine Ausgaben des "Kammavâkya"
(Bonn 1841) und der "Anecdota palica" (Leipz. 1845) dem Studium der
damals noch wenig bekannten Pâlisprache und des
südlichen Buddhismus einen wesentlichen Dienst geleistet
hatte, konzentrierte er seine Forschungen auf die iranischen
Sprachen und die Zoroastrische Religion und lieferte namentlich
eine kritische Ausgabe der wichtigsten Teile des Zendavesta samt
der alten Pehlewiübersetzung derselben und eine
vollständige Verdeutschung, die erste wissenschaftliche
Übertragung dieses wichtigen Religionsbuchs (Leipz. 1852-63, 3
Bde.), der er einen "Kommentar über das Avesta" (das. 1865-69,
2 Bde.) und eine "Grammatik der altbaltrischen Sprache" (das. 1867)
folgen ließ. Außerdem veröffentlichte er eine
"Chrestomathia persica" (Leipz. 1845), die erste "Grammatik der
Pârsisprache" (das. 1851), eine "Einleitung in die
traditionellen Schriften der Parsen" (das. 1856-60, 2 Bde.), "Die
altpersischen Keilinschriften im Grundtext, mit Übersetzung,
Grammatik und Glossar" (das. 1862, 2. Aufl. 1881), "Erân, das
Land zwischen dem Indus und Tigris" (Berl. 1863), "Arische Studien"
(Leipz. 1873). Gewissermaßen das Fazit all seiner Forschungen
zieht er in seiner "Erânischen Altertumskunde" (Leipz.
1871-78, 3 Bde.), welcher die "Vergleichende Grammatik der
alterânischen Sprachen" (das. 1882) und das Werk "Die arische
Periode und ihre Zustände" (das. 1887) folgten. Zahlreiche
kleinere Arbeiten, z. B. über die iranische Stammverfassung,
über das Leben Zoroasters u. a., veröffentlichte er in
den Abhandlungen der königl. bayrischen Akademie, in den
"Beiträgen zur vergleichenden Sprachforschung", in der
"Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft" und
andern Zeitschriften.

Spiegelberg, Otto, Mediziner, geb. 9. Jan. 1830 zu Peine
in Hannover, studierte am Collegium Carolinum zu Braunschweig, dann
in Göttingen, habilitierte sich 1853 daselbst als Privatdozent
und ging dann auf eine längere Studienreise nach England. 1861
folgte er einem Ruf als Professor der Geburtshilfe und
Gynäkologie nach Freiburg, 1864 nach Königsberg und 1865
nach Breslau, wo er 10. Aug. 1881 starb. Er begründete mit
Credé das "Archiv für Gynäkologie" und schrieb ein
großes "Lehrbuch der Geburtshilfe" (2. Aufl., Lahr 1880).
Spiegelbergs Verdienste bestehen in der Einführung der
Errungenschaften der neuern Gynäkologie in die Praxis, in der
sichern Diagnostik, in der präzisen Indikationenstellung und
der Anbahnung radikaler operativer Heilung von bis dahin für
schwer oder nicht heilbar erachteten Krankheiten, wodurch er die
Gynäkologie zur erfolgreichen Nebenbuhlerin der Chirurgie
erhob.

Spiegelfasern, s.v.w. Markstrahlen, s. Holz, S. 669.

Spiegelgranaten, kleinere Granaten, welche in
größerer Zahl mit Einem Wurf aus großen
Mörsern geworfen wurden.

Spiegelinstrumente, Vorrichtungen zum Messen von Winkeln
mit gewöhnlich zwei Spiegeln, von denen der eine nur halbhoch
(zum Durchsehen, Okularspiegel), der andre in ganzer Fläche
(Objektivspiegel) mit Amalgam belegt ist. Entweder stehen beide
fest einander schräg gegenüber auf der hohen Kante, oder
der eine ist drehbar. Der vom Beobach-

138

Spiegelkreis - Spiegelung.

tungsobjekt B ausgehende Strahl trifft den Objektivspiegel, wird
von ihm in den Okularspiegel und von diesem in das dem
Okularspiegel gegenübergestellte Beobachterauge O gelenkt. Bei
parallelen Spiegelflächen sind Eingangsstrahl (in den
Objektivspiegel) und Ausgangsstrahl (aus dem Okularspiegel ins
Auge) ebenfalls parallel, der Winkel beider Strahlen gleich Null,
d. h. man sieht durch den Glasteil des Okularspiegels das Objekt B
im Original und darunter im Spiegelteil desselben Spiegels dasselbe
Objekt im Bild. Sind die Spiegelflächen divergierend gestellt,
so bilden Ein- und Ausgangsstrahl einen doppelt so großen
Winkel als die beiden Spiegel. Man kann, auf diesem Satz
fußend, also den Winkel AOB messen, welchen die Sehstrahlen
des Auges O direkt über den Okularspiegel nach einem Objekt A
mit dem eingespiegelten Objekt B bilden (wobei das Instrument
selbst im Vergleich zu der Länge der Absehlinien im Feld als
unendlich klein, gleich einem Punkt O gedacht werden kann, d. h.
die Parallaxe des Instruments fällt weg). Es kommt also darauf
an, den Divergenzwinkel beider Spiegel oder, wenn einer davon
feststeht, den Achsendrehungswinkel des andern zu kennen; dies
geschieht mittels eines an der Achse befestigten Radius (Alhidade),
der an einem Gradbogen der Grundfläche des Instruments entlang
geführt wird.

1) Unvollkommene S. Beide Spiegel stehen in Kapsel fest, so
daß ∠ AOB nur = 1 Rechten ist, so haben wir den a)
einfachen Winkelspiegel oder Spiegelwinkel; zum Absehen und
Abstecken rechter Winkel (z. B. Ordinatenabsteckung von einer
Grundlinie aus); b) Spiegelrichtmaß (équerre à
miroir): Mehrere Spiegel sind so vereinigt, daß man 15°,
30, 45, 60, 90° absehen kann. Das Instrument muß dicht
ans Auge gehalten werden, ohne es zu drehen, und ist zu beobachten,
ob die Objektpunkte A und B genau im Okularspiegel senkrecht
untereinander erscheinen A (Original)/B (im Spiegelbild). [A
über B]

2) Vollkommene S. a) Ist der auf dem "Körper" angebrachte
Gradbogen ein Sechstelkreis, so haben wir den Spiegelsextanten (s.
d.), analog den Spiegelquadranten, -Oktanten, und bei Vollkreisen
den Spiegelkreis. b) Ist mit der die Objektivspiegeldrehung
anzeigenden Alhidade mittels mechanischer Konstruktion ein Lineal
so verbunden, daß man im stande ist, unmittelbar nach der
Messung mit dem so geöffneten Instrument den gemessenen Winkel
auch graphisch aufzutragen, so haben wir den Reflektor;
verschiedene Konstruktionen sind: der Douglassche, besser der
Hornersche Reflektor, doch beide nur zum Krokieren geeignet. c) Ist
nur für graphische Auftragung gesorgt, während der
Gradbogen zum Ablesen wegfällt, so erscheint der graphische
Spiegelwinkel. Sollen mit diesen Instrumenten nicht nur
Horizontalwinkel, sondern auch Vertikalwinkel gemessen werden, so
muß die eine Absehlinie entweder in eine natürliche
Horizontfläche (Wasserspiegel) gelegt, oder ein
künstlicher Horizont (Quecksilber) zur Kontrolle des
wagerechten Winkelschenkels geschafft werden (z. B. bei den
Polhöhemessungen, zur Ermittelung der geographischen Breite,
oder bei Höhenmessungen). Vielfache Mängel der Spiegel
haben dazu geführt, auch gut geschliffene Glasprismen, welche
eine totale Reflexion hervorbringen, statt der Spiegel zu verwenden
(Prismeninstrumente). Dazu gehören: der Prismenkreis von
Pistor, der jetzt viel statt des Sextanten verwendet wird, das
Winkelprisma von Ertel, das Prismenkreuz von Bauernfeind.

Spiegelkreis, s. Prismenkreis und Spiegelinstrumente.

Spiegelmetall, Kupferzinnlegierungen (Bronze), welche
sich durch weiße Farbe, Härte und höchste
Politurfähigkeit auszeichnen. Ein altrömisches S.
enthielt 71-72 Kupfer, 18-19 Zinn, 4-4,5 Antimon und Blei, ein
chinesischer Metallspiegel 80,8 Kupfer, 9,1 Blei, 8,4 Antimon. Ein
S. von unübertrefflich weißer Farbe erhält man aus
gleichen Teilen Platin und Stahl, ein andres platinhaltiges S.
besteht aus 350 Kupfer, 165 Zinn, 20 Zink, 10 Arsen, 60 Platin.
Vgl. Bronze, S. 460.

Spiegelrichtmaß, s. Spiegelinstrumente.

Spiegelrinde, Eichenrinde, die noch nicht mit Borke
bedeckt ist.

Spiegelsextant, Instrument zu Höhen- und
Distanzmessungen, besteht aus einem Kreissektor von etwas über
60°, um dessen Mittelpunkt sich eine Alhidade dreht. Diese
trägt an dem einen Ende über dem Mittelpunkt des
Kreissektors einen Spiegel, welcher senkrecht auf der Ebene des
Sektors steht. Ein andrer, kleinerer Spiegel steht gleichfalls
senkrecht auf der Ebene des Sektors und ist zugleich so an dem
Sextanten befestigt, daß er mit dem großen Spiegel
parallel steht, wenn die Alhidade auf den Nullpunkt der Teilung
weist. Die obere Hälfte des letztern Spiegels ist nicht mit
Amalgam belegt, so daß ein Lichtstrahl von einem entfernten
Objekt durch den Spiegel unmittelbar in das Auge des Beobachters
oder in das gewöhnlich dabei angebrachte kleine Fernrohr,
statt dessen für nahe Gegenstände eine bloße
Röhre ohne Gläser gebraucht wird, gelangt. Will man den
Winkelabstand zweier Objekte messen, so visiert man mit dem
Fernrohr durch den zweiten Spiegel nach dem einen Objekt und bringt
durch Drehung der Alhidade das Spiegelbild des andern Objekts in
dem ersten Spiegel auf den zweiten, bis beide Objekte in derselben
Richtung stehen. Sobald sie sich im Fernrohr decken, ist der
Winkel, welchen beide Spiegel miteinander machen, oder der Bogen,
welchen die Alhidade durchlaufen hat, gleich der Hälfte des
gesuchten Winkels, den beide Gegenstände im Auge des
Beobachters machen. Der Bequemlichkeit halber ist aber der Umfang
des Spiegelsextanten in halbe Grade geteilt, welche für ganze
Grade gerechnet werden. Die erste Idee zu diesem dem Seefahrer
unentbehrlichen Instrument verdankt man Newton; Hadley aber brachte
den ersten Spiegelsextanten wirklich zu stande, daher er auch als
dessen Erfinder gilt. Praktisch ist der durch Breithaupt
verbesserte englische Dosensextant. Eine Verbesserung des
Spiegelsextanten ist der Reflexionskreis, welcher statt des
Kreissektors einen ganzen Kreis von 15-25 cm Durchmesser und statt
des zweiten Spiegels ein Prisma enthält. Bei Steinheils
Prismenkreis sind beide Spiegel durch Prismen ersetzt. Auf
demselben Prinzip beruhen der veraltende katoptrische Zirkel und
die Reflektoren (s. Spiegelinstrumente).

Spiegelteleskop, s. v. w. katoptrisches Fernrohr. s.
Fernrohr, S. 151.

Spiegelung, regelmäßige Zurückwerfung
(Reflexion) des Lichts. Fällt ein Lichtstrahl fn (Fig. 1) auf
einen Spiegel s s' (so nennt man jede glatte Fläche), so wird
ein Teil desselben in ganz bestimmter Richtung n d von der
Fläche in den vor ihr befindlichen Raum zurückgeworfen.
Um die Richtungen des einfallenden (fn) und des
zurückgeworfenen Strahls (nd) bequem zu bezeichnen, denkt man
sich auf der spiegelnden Fläche in dem Punkt n, wo der
einfallende Strahl dieselbe trifft, eine Senkrechte, das
Einfallslot, errichtet. Die durch den einfallenden Strahl und das
Einfallslot gelegte Ebene (die Ebene der

139

Spiegelung.

Zeichnung), welche senkrecht steht auf der spiegelnden
Fläche, heißt die Einfallsebene; sie wird, weil sie
stets auch den zurückgeworfenen Strahl enthält, auch
Zurückwerfungs- oder Reflexionsebene genannt. Die Richtungen
des einfallenden und des zurückgeworfenen Strahles werden
bestimmt durch den Einfallswinkel (Inzidenzwinkel) i und den
Zurückwerfungswinkel (Reflexionswinkel) r, welche jeder dieser
Strahlen mit dem Einfallslot bildet. Der Zurückwerfungswinkel
ist stets dem Einfallswinkel gleich. Ein auf einen Spiegel
senkrecht auffallender Strahl (p n) wird in sich selbst (nach n p)
zurückgeworfen.

Aus diesem Gesetz folgt unmittelbar, daß alle Strahlen
(lr, lr'... Fig. 2), welche, von einem hellen Punkt l ausgehend,
auf einen ebenen Spiegel (Planspiegel) treffen, von demselben so
zurückgeworfen werden (rs, r's'...), als kämen sie von
einem Punkt l', welcher auf der von dem Lichtpunkt aus auf den
Spiegel gezogenen Senkrechten lpl' ebenso weit hinter der
spiegelnden Ebene liegt, wie der Lichtpunkt l vor derselben. Ein
Auge, das sich vor dem Spiegel (z. B. in s'') befindet,
empfängt daher die zurückgeworfenen Strahlen gerade so,
als ob der Punkt l', von dem sie auszugehen scheinen, selbst ein
heller Punkt wäre; es sieht in (d. h. hinter) dem Spiegel in
der Richtung s''l' den Punkt l' als Bild des vor dem Spiegel
befindlichen Punktes l. Jedem Punkt eines leuchtenden oder
beleuchteten Gegenstandes entspricht in derselben Weise ein
Bildpunkt hinter dem Spiegel, und aus der Gesamtheit aller
Bildpunkte entsteht das Spiegelbild des Gegenstandes, welches
diesen mit einer Treue nachahmt, die sprichwörtlich geworden
ist. Um dieses Bild im Geist (oder in einer Zeichnung) zu
entwerfen, denke man sich von jedem Punkte des Gegenstandes eine
Senkrechte auf die Spiegelebene gezogen und hinter derselben um
ebensoviel verlängert, als jener Punkt vor ihr liegt. Wir
sehen daher, wenn wir in einen Spiegel blicken, unser eignes Bild,
getreu in Größe, Gestalt und Farbe, ebenso weit hinter
dem Spiegel, als wir selbst vor demselben stehen; aber völlig
gleich ist das Spiegelbild seinem Original doch nicht; denn
könnten wir die Person, welche aus dem Spiegel herausschaut,
hinter demselben hervortreten lassen, so würden wir bemerken,
daß sie unsre rechte Hand an ihrer linken Seite hat, und
daß überhaupt unsre rechte Seite ihre linke Seite ist,
und umgekehrt. Ebenso werden die Buchstaben in dem Spiegelbild
eines Buches von rechts nach links gehen und nicht von links nach
rechts wie in dem Buch selbst.

Da die zurückgeworfenen Strahlen von dem Bild hinter einem
Spiegel gerade so ausgehen wie von einem wirklich dort befindlichen
Gegenstand, so kann jedes Spiegelbild einem zweiten Spiegel
gegenüber wieder die Rolle eines Gegenstandes spielen; bei
Anwendung zweier Spiegel, deren spiegelnde Flächen einander
zugewendet sind, entstehen daher außer den beiden
unmittelbaren Spiegelbildern (erster Ordnung) noch solche zweiter,
dritter und höherer Ordnung, welche aber wegen der
Lichtverluste bei den wiederholten Zurückwerfungen immer
lichtschwächer werden. Bringt man z. B. eine brennende Kerze
zwischen zwei einander parallel gegenüberhängende
Spiegel, so erblickt man in jedem eine unabsehbare Reihe von
Kerzenflammen, welche sich in unendlicher Ferne zu verlieren
scheint. Die Zahl der Bilder wird eine begrenzte, wenn die beiden
Spiegel einen Winkel miteinander bilden (Winkelspiegel, Fig. 3).
Die Spiegel MO und RN liefern von dem zwischen ihnen befindlichen
Gegenstand A die Bilder erster Ordnung B und B1. Indem das Bild B
hinter dem ersten Spiegel seine Strahlen dem zweiten Spiegel
zusendet, entwirft dieser ein Bild zweiter Ordnung C1 und ebenso
der erste Spiegel ein Bild C des Bildes B1. Damit ist aber für
den in der Zeichnung angenommenen Winkel von 72° die Anzahl der
Bilder erschöpft. Ein zwischen die Spiegel blickendes Auge O
sieht die Bilder nebst dem Gegenstand auf einem um den
Kreuzungspunkt der beiden Spiegel beschriebenen Kreis
regelmäßig angeordnet, und zwar trifft auf jeden
Winkelraum, welcher dem Winkel der beiden Spiegel gleich ist, je
ein Bild. Das Auge O sieht daher den Gegenstand so vielmal, als
dieser Winkel in dem ganzen Umfang enthalten ist. Auf die
regelmäßige Anordnung der Bilder der Winkelspiegel
gründet sich die anmutige Wirkung des Kaleidoskops (s.
d.).

Eine kugelförmig gekrümmte Schale, welche auf ihrer
Innenseite glatt poliert ist, bildet einen Hohlspiegel
(Konkavspiegel). Der Mittelpunkt der Hohlkugel, von welcher die
Schale ein Abschnitt ist, heißt der Krümmungsmittelpunkt
oder geometrische Mittelpunkt und jede durch ihn gezogene gerade
Linie eine Achse desselben; unter ihnen wird diejenige, welche die
Schale in ihrem mittelsten tiefsten Punkte (dem optischen
Mittelpunkt des Spiegels) trifft, als Hauptachse bezeichnet. Jeder
längs einer Achse sich fortpflanzende Strahl (Achsenstrahl)
trifft senkrecht auf den Spiegel und wird daher in sich selbst
zurückgeworfen. Läßt man ein Bündel paralleler
Sonnenstrahlen (Fig. 4) auf einen Hohlspiegel fallen, so werden
dieselben in Form eines Lichtkegels zurück-

[Fig. 1. Zurückwerfung des Lichts.]

[Fig. 2. Entstehung des Bildpunktes bei einem ebenen
Spiegel.]

[Fig. 3. Winkelspiegel.]

140

Spiegelung.

geworfen, dessen Spitze F vor dem Spiegel auf der mit den
einfallenden Strahlen parallelen Achse liegt. Dieser Punkt F, durch
welchen sämtliche auf den Spiegel parallel mit der Achse
treffende Strahlen hindurchgehen, heißt der zu dieser Achse
gehörige Brennpunkt. Auf einem Papierblättchen, welches
man an seine Stelle bringt, erscheint er als weißer Fleck von
blendender Helligkeit, bis das Papier unter der kräftigen
Wärmewirknng der vereinigten Strahlen Feuer fängt und
dadurch zeigt, daß der Name "Brennpunkt" ein wohlverdienter
ist. Wegen dieser Wirkung nennt man den Hohlspiegel auch
Brennspiegel. Der Brennpunkt liegt auf jeder Achse gerade in der
Mitte zwischen dem Spiegel und dessen Krümmungsmittelpunkt,
oder die Brennweite ist die Hälfte des Kugelhalbmessers.

Jeder Strahl, welcher nicht durch den Kugelmittelpunkt (C, Fig.
4) geht, trifft schräg auf die Spiegelfläche und wird so
zurückgeworfen, daß er mit dem an seinem Einfallspunkt
auf der Spiegelfläche errichteten Einfallslot beiderseits
gleiche Winkel bildet. Das Einfallslot ist aber jedesmal der vom
Krümmungsmittelpunkt zum Einfallspunkt gezogene
Kugelhalbmesser. Man bemerkt nun leicht, daß die
Kugelhalbmesser, d. h. die Einfallslote, in demselben Maße
stärker zur Achse geneigt sind, als die Punkte des Spiegels,
zu denen sie gehören, weiter von der Achse abstehen. Deshalb
muß auch jeder mit der Achse parallele Strahl in dem
Maße stärker gegen die Achse zu aus seiner
ursprünglichen Richtung abgelenkt werden, als er weiter
entfernt von der Achse auf den Spiegel trifft. Aus diesem
Verhalten, welches die Fig. 4 deutlich wahrnehmen läßt,
erklärt es sich, warum sämtliche auf den Hohlspiegel
parallel zur Achse treffende Strahlen nach der Zurückwerfung
durch einen und denselben Punkt gehen müssen. Befindet sich im
Brennpunkt F eine Lichtquelle, so werden ihre auf den Spiegel
treffenden Strahlen, indem sie dieselben Wege in entgegengesetzter
Richtung einschlagen, parallel zu der Achse zurückgeworfen.
Fällt von einem Lichtpunkt a (Fig. 5), der zwischem dem
Brennpunkt F und dem Kugelmittelpunkt C liegt, ein
Strahlenbüschel auf den Spiegel, so treffen die einzelnen
Strahlen jetzt minder schräg auf den Spiegel, als wenn sie aus
dem Brennpunkt kämen, und werden daher auch weniger stark von
der Achse weggelenkt; sie laufen daher nach der Zurückwerfung
nicht mit der Achse parallel, sondern schneiden sie jenseit des
Mittelpunktes C und zwar, da ihre Ablenkung um so größer
ist, je weiter der getroffene Spiegelpunkt von der Achse absteht,
in einem einzigen Punkt A, welchen man das Bild des Punktes a
nennt. Bringt man nach A einen Lichtpunkt, so müssen seine
Strahlen, indem sie sich auf denselben Bahnen in entgegengesetzter
Richtung bewegen, im Punkt a zusammentreffen. Die Punkte a und A
gehören also in der Weise zusammen, daß jeder das Bild
des andern ist, und heißen deshalb zusammengehörige oder
konjugierte Punkte. Ist ein Lichtpunkt (A, Fig. 6) um weniger als
die Brennweite F vom Spiegel entfernt, so vermag dieser die zu
stark auseinander fahrenden Strahlen nicht mehr in einem vor dem
Spiegel gelegenen Punkt zu vereinigen, sondern die
zurückgeworfenen Strahlen gehen jetzt auseinander, jedoch so,
als ob sie von einem hinter dem Spiegel gelegenen Punkt a
ausgingen. Da umgekehrt Strahlen, welche nach dem hinter dem
Spiegel gelegenen Punkt a hinzielen, im Punkt A vor dem Spiegel
vereinigt werden, so sind auch in diesem Fall die Punkte A und a
als zusammengehörige (konjugierte) zu betrachten.

Da jedem Punkt eines leuchtenden oder beleuchteten Gegenstandes,
der sich vor einem Hohlspiegel befindet, ein auf der
zugehörigen Achse gelegener Bildpunkt entspricht, so entsteht
aus der Gruppierung sämtlicher Bildpunkte ein Bild des
Gegenstandes. Befindet sich z. B. ein Gegenstand A B (Fig. 7)
zwischen dem Brennpunkt F und dem Krümmungsmittelpunkt C, so
liegt das Bild des Punktes B auf der Achse B C in b, dasjenige des
Punktes A auf der Achse A C in a u.s.f. Es entsteht daher jenseit C
ein umgekehrtes vergrößertes Bild a b. Wäre a b ein
Gegenstand, welcher um mehr als die doppelte Brennweite vom Spiegel
entfernt ist, so würde derselbe ein umgekehrtes verkleinertes
Bild in A B zwischen dem Brennpunkt F u. dem Kugelmittelpunkt C
liefern. Man erkennt aus der Zeichnung, daß Bild u.
Gegenstand einander ähnlich sind, u. daß ihre
Größen sich zu einander verhalten wie ihre Abstände
vom Spiegel. Je weiter sich der Gegenstand vom Spiegel entfernt,
desto näher rückt sein Bild dem Brennpunkt. Das Bild
eines unermeßlich weit entfernten Gegenstandes, z. B. eines
Gestirns, entsteht im Brennpunkt selbst. Der helle Fleck im
Brennpunkt eines Hohlspiegels, auf den man die Sonnenstrahlen
fallen läßt (s. oben), ist eigentlich nichts andres als
ein kleines Bild der Sonne.

Diese Bilder unterscheiden sich nun sehr wesentlich von den
Bildern, welche die ebenen Spiegel liefern. Sie entstehen
nämlich dadurch, daß die von einem jeden Punkte des
Gegenstandes ausgehenden Strahlen in einem Punkt vor dem Spiegel
wirklich vereinigt oder gesammelt werden; ein solches Bild kann
daher auf einem Schirm aufgefangen werden und erscheint auf
demselben, nach allen Seiten hin sichtbar, wie ein in den zartesten
Farben ausgeführtes Gemälde. Bilder dieser Art nennt man
deswegen

[Fig. 4. Brennpunkt eines Hohlspiegels.]

[Fig. 5. Reeller Bildpunkt.]

[Fig. 6. Virtueller Bildpunkt.]

[Fig. 7. Entstehung eines reellen Bildes bei einem
Hohlspiegel.]

141

Spiegelversicherung - Spiel.

wirkliche (reelle) oder Sammelbilder. Die Bilder der ebenen
Spiegel dagegen entstehen durch Strahlen, welche vor dem Spiegel
auseinander gehen und sich zerstreuen, indem sie von hinter der
Spiegelfläche liegenden Punkten auszugehen scheinen, und
werden nur gesehen, wenn diese Strahlen unmittelbar in das Auge
dringen. Sie werden daher scheinbare (virtuelle) oder
Zerstreuungsbilder genannt. Auch die reellen Bilder der
Sammelspiegel (so nennt man häufig die Hohlspiegel)
können ohne Auffangsschirm unmittelbar wahrgenommen werden,
wenn man das Auge in den Weg der Strahlen bringt, welche nach der
Vereinigung von den Punkten des Bildes aus wieder auseinander
gehen. Das Bild scheint alsdann vor dem Spiegel in der Lust zu
schweben.

Sammelbilder liefert ein Hohlspiegel nur von Gegenständen,
welche um mehr als die Brennweite von ihm abstehen. Von einem dem
Spiegel nähern Gegenstand (A B, Fig. 8) kann derselbe, weil
die von jedem Punkt kommenden Lichtstrahlen nach der
Zurückwerfung auseinander gehen, nur noch ein scheinbares Bild
(a b) entwerfen, welches einem in den Spiegel blickenden Auge
aufrecht hinter der Spiegelfläche und größer als
der Gegenstand erscheint. Die Figur zeigt den Gang der
Lichtstrahlen im gegenwärtigen Fall. Wegen dieser
vergrößernden Wirkung werden die Hohlspiegel auch
Vergrößerungsspiegel genannt und zu Zwecken der Toilette
(als Rasierspiegel) verwendet.

Jede auf der äußern gewölbten Seite polierte
Kugelfläche bildet einen Konvexspiegel oder
Zerstreuungsspiegel. Da ein solcher die von einem Punkt (B, Fig. 9)
ausgehenden Strahlen stets so zurückwirft, daß sie von
einem hinter dem Spiegel liegenden Punkt b noch stärker als
vorher auseinander gehen, so kann derselbe von einem Gegenstand A B
nur ein scheinbares oder Zerstreuungsbild a b liefern, welches
hinter dem Spiegel in aufrechter Stellung gesehen wird. Da das Bild
stets kleiner ist als der Gegenstand, so nennt man die
Konvexspiegel auch Verkleinerungsspiegel und verwendet sie ihrer
niedlichen Bilder wegen als Taschentoilettenspiegel. - Bezeichnet a
die Entfernung des Lichtpunktes, b diejenige des Bildpunktes von
einem Konkav- oder Konvexspiegel und f seine Brennweite, so gilt
die Gleichung: 1/a + 1/b = 1/f. Hieraus ergibt sich, wenn der
Bildpunkt virtuell ist, die Größe b negativ; für
Konvexspiegel ist die Brennweite f negativ zu nehmen, für
Hohlspiegel positiv. Alles von den kugelförmig gekrümmten
oder sphärischen Spiegeln bisher Gesagte gilt jedoch nur, wenn
ihre Öffnung klein ist. Bei Hohlspiegeln von
größerer Öffnung werden z. B. die parallel zur
Achse in der Nähe des Randes auffallenden Strahlen nach einem
Punkte der Achse gelenkt, welcher dem Spiegel näher liegt als
der für die näher der Mitte auffallenden Strahlen
gültige Brennpunkt, ein Fehler, der dadurch vermieden werden
kann, daß man dem Spiegel eine parabolische Gestalt gibt. Man
nennt daher diesen Fehler die "Abweichung wegen der Kugelgestalt"
oder die sphärische Aberration. Die Lehre von der S.
(Reflexion oder regelmäßigen Zurückwerfung) des
Lichts wird Katoptrik genannt. Über Brennlinie s. d. Über
die Erklärung der S. aus der Wellenbewegung s. d.

[Fig. 8. Entstehung eines virtuellen Bildes bei einem
Hohlspiegel.]

[Fig. 9. Konvexspiegel.]

Spiegelversicheruug, s. Glasversicherung.

Spiegelversuch, s. Fresnels Spiegelversuch.

Spiegelwinkel, s. Spiegelinstrumente.

Spiek, Pflanze, s. Spik.

Spiekeroog, Insel in der Nordsee, an der Küste von
Ostfriesland, zum preuß. Regierungsbezirk Aurich, Kreis
Wittmund gehörig, 14 qkm groß, hat hohe Dünen,
Viehzucht, Seehundsfang, Fischerei, ein aufblühendes Seebad
und (1885) 243 evang. Einwohner. Vgl. Nellner, Die Nordseeinsel S.
(Emden 1884).

Spiel, eine Beschäftigung, die um der in ihr selbst
liegenden Zerstreuung, Erheiterung oder Anregung willen, meist mit
andern in Gemeinschaft, vorgenommen wird. Man teilt die Spiele am
besten ein in Bewegungsspiele, zu denen unter andern die Ball-,
Kugel-, Kegel- und Fangspiele gehören, und in Ruhespiele, die
solche zur Schärfung der Beobachtung und der Aufmerksamkeit,
zur Betätigung von Witz und Geistesgegenwart, also die meisten
unsrer sogen. Gesellschaftsspiele, dazu Karten-, Brettspiele, das
Schach u. a., umfassen. Glücksspiele (s. d.), um Gewinn
betrieben, fallen nicht unter diesen Begriff des Spiels. Wenngleich
manche Spiele über viele Völker der Erde verbreitet sind,
so ist doch im ganzen die Art der Spiele eines Volkes bezeichnend
für seinen Charakter wie für seine Bildungsstufe. Das S.
beruht daher meist auf volkstümlicher oder örtlicher
Sitte; es kann aber auch pädagogisch und planmäßig
zur Förderung leiblicher oder geistiger Kräfte benutzt
werden. Der Wert des Spiels in letzterer Hinsicht, den schon
Gesetzgeber und Philosophen des Altertums erkannt hatten, ist
besonders durch die von Rousseau, den Philanthropisten, Pestalozzi
und Fröbel (s. Kindergärten) ausgehenden erzieherischen
Bestrebungen zur Geltung gekommen. Die Bewegungsspiele hat auch die
Turnkunst, insbesondere das Schulturnen, in ihren Bereich gezogen.
Großer Wert wird diesen Spielen in England beigelegt, wo an
allen Unterrichts- und Erziehungsanstalten bis zu den
Universitäten hinauf Wettspiele im Schwange sind. In
Deutschland hat der preußische Kultusminister von
Goßler der Sache der Jugendspiele durch seinen Erlaß
vom 27. Okt. 1882 erfreulichen Aufschwung gegeben. Vgl. Schaller,
Das S. und die Spiele (Weim. 1851); Lazarus, Über die Reize
des Spiels (Berl. 1883); insbesondere die Spielsammlung von Guts
Muths (7. Aufl., hrsg. von Schettler, Hof 1885); Jakob,
Deutschlands spielende Jugend (3. Aufl., Leipz. 1883); Kohlrausch
und Marten, Turnspiele, Wettkämpfe, Turnfahrten (3. Aufl.,
Hannov. 1884); Kupfermann, Turnunterricht und Jugendspiele (Bresl.
1884); Georgens, Das S. und die Spiele der Jugend (Leipz. 1884);
Köhler, Die Bewegungsspiele des

142

Spiel - Spielhagen.

Kindergartens (8. Aufl., Weim. 1888); Wagner,
Illustriertes Spielbuch für Knaben (10. Aufl., Leipz. 1888);
Gayette-Georgens, Neues Spielbuch für Mädchen (Berl.
1887); Wolter, Das S. im Hause (Leipz. 1888). Über
Gesellschafts- u. Unterhaltungspiele im allgemeinen vgl.
Alvensleben, Handbuch der Gesellschaftsspiele (8. Aufl., Weim.
1889); "Encyklopädie der Spiele" (3. Aufl., Leipz.1878);
Georgens, Illustriertes Familien-Spielbuch (das. 1882). - Bei den
Alten nahmen die großen öffentlichen Kampfspiele (s. d.)
die oberste Stelle ein, aber auch gesellige Spiele hatten sie in
nicht geringer Zahl, namentlich die Griechen, so bei Gelagen den
Weinklatsch (s. Kottabos), das bei Griechen und Römern sehr
beliebte Ballspiel (s. d.) und Würfelspiel (s. Würfel),
das Richterspiel der Kinder etc. Ein Brettspiel (petteia), nach der
Sage eine Erfindung des Palamedes, erscheint bereits bei Homer als
Unterhaltung der Freier in Ithaka ("Odyssee", I, 107); doch fehlt
uns nähere Kunde über die Art der griechischen
Brettspiele. Unserm Schach- oder Damenspiel scheint das sogen.
Städtespiel ähnlich gewesen zu sein. Von den
verschiedenen Gattungen der römischen Brettspiele sind
einigermaßen bekannt der ludus latrunculorum
(Räuberspiel), eine Art Belagerungsspiel, wobei die Steine in
Bauern und Offiziere geteilt waren und es galt, die feindlichen
Steine zu schlagen oder festzusetzen, und der ludus duodecim
scriptorum, das S. der 12 Linien, bei welchem auf einem in zweimal
12 Felder geteilten Wurfbrett das Vorrücken der 15 je
weißen und schwarzen Steine durch die Höhe des jedem Zug
vorangehenden Würfelwurfs bestimmt wurde. Sehr beliebt war im
Altertum das Fingerraten, noch heute in Italien verbreitet als
Moraspiel (s. Mora). Vgl. Grasberger, Erziehung und Unterricht im
klassischen Altertum (Würzb. 1864-81, 3 Tle.); Becq de
Fouqiers, Les jeux des anciens (2. Aufl., Par. 1873); Ohlert,
Rätsel und Gesellschaftsspiele der alten Griechen (Berl.
1886); Richter, Die Spiele der Griechen und Römer (Leipz.
1887). - Aus der deutschen Vorzeit wird als vornehmstes Volksspiel
der Schwerttanz erwähnt, neben welchem Steinstoßen,
Speerwerfen, Wettlaufen beliebt waren. Auch das Kegeln und das
stets mit Leidenschaft betriebene Würfelspiel sind uralt.
Während das Landvolk an diesen Spielen festhielt, wandten sich
die höfischen Kreise der Ritterzeit vorwiegend den
Kampfspielen zu, aus denen sich unter fremdem Einfluß die
eigentlichen Ritterspiele (Tjost, Buhurt, Turnier) entwickelten.
Daneben wurde das Ballspiel (von der weiblichen Jugend) und als
beliebteste Verstandesspiele das Brettspiel und das Schachspiel
(seit dem 11. Jahrh.) eifrig betrieben. In der spätern Zeit
des Mittelalters trat, namentlich in den Städten, das Spielen
um Geld in den Vordergrund. Vgl. Schultz, Das höfische Leben
im Mittelalter, Bd. 1 (2. Aufl., Leipz. 1889); Kriegk, Deutsches
Bürgertum im Mittelalter (Frankf. 1868 u. 1871); Weinhold, Die
deutschen Frauen im Mittelalter (2. Aufl., Wien 1882).

Spiel (Stoß), in der Jägersprache der Schwanz
des Fasans sowie des Auer- und Birkwildes.

Spielart, s. Art.

Spielbanken, s. Glücksspiele.

Spielbein, s. Standbein.

Spielberg, 1) ehemalige Festung, s. Brünn. -

2) Berg im Frankenjura, s. Hahnenkamm.

Spielhagen, Friedrich, hervorragender
Romanschriftsteller, geb. 24. Febr. 1829 zu Magdeburg als Sohn
eines preußischen Regierungsrats, verbrachte seine Jugend in
Stralsund und ward an diesem Teil der Ostseeküste und auf der
Insel Rügen im eigentlichsten Wortsinn heimisch, so daß
diese Landschaften den Hintergrund für beinahe alle seine
spätern poetischen Schöpfungen abgeben. Nachdem er das
Gymnasium zu Stralsund absolviert, studierte er von 1847 an, die
ursprünglich geplanten medizinischen Studien bald aufgebend,
Philologie und Philosophie zu Bonn, Berlin und Greifswald, war
einige Zeit Hauslehrer in einer aristokratischen Familie und ging
1854 nach Leipzig, um sich als Dozent an der Universität zu
habilitieren. Seine litterarischen Studien und Beschäftigungen
führten ihn inzwischen um so ausschließlicher auch dem
litterarischen Beruf zu, als er die Unvereinbarkeit einer
philologischen Dozentenkarriere und poetischer Bestrebungen
erkannte. Neben kritischen Essays trat er mit vorzüglichen
Übertragungen, z. B. von Emersons "Englischen
Charakterzügen" (Hannov. 1858), Roscoes "Lorenzo von Medici"
(Leipz. 1859), Michelets Werken: "Die Liebe" (das. 1859), "Die
Frau" (das. 1860) und "Das Meer" (das. 1861) sowie mit der Sammlung
"Amerikanische Gedichte" (das. 1859, 3. Aufl. 1871), hervor. Die
Hauptsache aber blieb die eigne Produktion. Die Novelle "Klara
Vere" (Hannov. 1857) und das graziöse Idyll "Auf der
Düne" (Hannov. 1858) wurden nur von kleinen Kreisen als Proben
eines ungewöhnlichen Talents beachtet. Eine um so
glänzendere Aufnahme fand der erste größere Roman
des Autors: "Problematische Naturen" (Berl. 1860, 4 Bde.; 12.
Aufl., Leipz. 1887), mit seiner abschließenden Fortsetzung:
"Durch Nacht zum Licht" (Berl. 1861, 4 Bde.; 10. Aufl. 1885).
Dieser Roman gehörte durch Originalität der Erfindung,
durch psychologische Feinheit der Charakteristik, höchste
Lebendigkeit des Kolorits und eine in den meisten Partien
künstlerisch vollendete Darstellung zu den besten deutschen
Romanproduktionen der Neuzeit und lenkte die Aufmerksamkeit der
gebildeten Lesewelt dauernd auf den Autor. S. war inzwischen 1859
von Leipzig nach Hannover übergesiedelt, hatte dort die
Redaktion des Feuilletons der "Zeitung für Norddeutschland"
übernommen und sich verheiratet. Ende 1862 nahm er seinen
dauernden Wohnsitz in Berlin, von wo aus er größere
Reisen (nach der Schweiz, Italien, England, Paris etc.) unternahm,
redigierte hier kurze Zeit die "Deutsche Wochenschrift" und das
Dunckersche "Sonntagsblatt", trat mehrfach mit öffentlichen
Vorträgen auf, konzentrierte sich aber zuletzt immer
ausschließlicher auf die Produktion. Auch von der Herausgabe
von Westermanns "Illustrierten deutschen Monatsheften", die er 1878
übernommen, trat er 1884 wieder zurück. Sein zweiter
großer Roman: "Die von Hohenstein" (Berl. 1863, 4 Bde.; 6.
Aufl. 1885), der die revolutionäre Bewegung des Jahrs 1848 zum
Hintergrund hatte, eröffnete eine Reihe von Romanen, welche
die Bewegungen der Zeit und zwar ebensowohl die zufälligen und
äußerlichen wie die wirklich tief eingreifenden und
echte Menschennaturen wahrhaft bewegenden zu spiegeln unternahmen.
War hierdurch ein gewisses Übergewicht des tendenziösen
Elements gegenüber dem poetischen unvermeidlich, und standen
die Romane: "In Reih und Glied" (Berl. 1866, 5 Bde.; 5. Aufl. 1880,
2 Bde.) und "Allzeit voran!" (das. 1872, 3 Bde.; 6. Aufl. 1880) wie
die Novelle "Ultimo" (Leipz. 1873) allzu stark unter der Herrschaft
momentan in der preußischen Hauptstadt herrschender
Interessen, Erscheinungen und Stimmungen, welche der Dichter mit
all seiner Kunst nicht zur Poesie zu erheben vermochte, so erwiesen
andre freiere Schöpfungen den Gehalt, die

143

Spielhonorar - Spielkarten.

Lebensfülle und die künstlerische Reife des
Spielhagenschen Talents. Neben der Novelle "In der zwölften
Stunde" (Berl. 1862), den unbedeutendern: "Röschen vom Hof"
(Leipz. 1864), "Unter den Tannen" (Berl. 1867), "Die Dorfkokette"
(Schwer. 1868), "Deutsche Pioniere" (Berl. 1870), "Das Skelett im
Hause" (Leipz. 1878) u. den Reiseskizzen: "Von Neapel bis Syrakus"
(das. 1878) schuf S., unabhängig von den momentanen
Tagesereignissen oder sie nur in ihren großen, allgemein
empfundenen Wirkungen auf das deutsche Leben darstellend, die
Romane: "Hammer und Amboß" (Schwerin 1868, 5 Bde.; 8. Aufl.
1881), "Was die Schwalbe sang" (Leipz. 1872, 2 Bde.; 6. Aufl. 1885)
und "Sturmflut" (das. 1876, 3 Bde.; 5. Aufl. 1883), ein Werk, worin
der Dichter, besonders im ersten und letzten Teil, auf der vollen
Höhe seiner Darstellungskraft und Darstellungskunst steht; den
Roman "Platt Land" (das. 1878); die feine, in Motiven und
Detaillierung etwas allzusehr zugespitzte Novelle "Quisisana" (das.
1879) sowie die neuesten Romane: "Angela" (das. 1881, 2 Bde.),
"Uhlenhans" (das. 1884, 2 Bde.), "Was will das werden" (das. 1886,
3 Bde.), "Noblesse oblige" (das. 1888), "Ein neuer Pharao" (1889)
u. a. Nur in den kleinern Werken: "Deutsche Pioniere" und "Noblesse
oblige", streifte S. vorübergehend das Gebiet des historischen
Romans, sonst schöpfte er Handlungen und Gestalten aus der
jüngsten Vergangenheit und unmittelbaren Gegenwart. Mit dem
nach einer eignen Novelle (7. Aufl., Leipz. 1881) bearbeiteten und
an mehreren Theatern erfolgreich aufgeführten Schauspiel "Hans
und Grete" (Berl. 1876) wendete sich der Dichter auch der
Bühne zu. Größern Erfolg hatte das Schauspiel
"Liebe für Liebe" (Leipz. 1875), in dem die Kritik neben
novellistischen Episoden einen wahrhaft dramatischen Kern
anerkannte. Neuerdings brachte er die Schauspiele: "Gerettet"
(Leipz. 1884) und "Die Philosophin" (das. 1887). Von S. erschienen
außerdem: "Vermischte Schriften" (Berl. 1863-l868, 2 Bde.),
"Aus meinem Skizzenbuch" (Leipz. 1874), "Skizzen, Geschichten und
Gedichte" (das. 1881), und "Beiträge zur Theorie und Technik
des Romans" (das. 1883). Von seinen "Sämtlichen Werken", die
auch die bis dahin zerstreuten innigen und formschönen
Gedichte des Autors enthalten, erschienen bisher 18 Bände
(Leipz. 1875-87). Vgl. Karpeles, Friedr. S. (Leipz. 1889).

Spielhonorar, am Theater die dem Darsteller für sein
jedesmaliges Auftreten festgesetzte, in der Gage nicht mit
inbegriffene Summe. Der Brauch stammt aus Frankreich und war
bereits im 18. Jahrh. in Deutschland eingeführt.

Spielhuhn, s. v. w. Birkhuhn.

Spielkarten, länglich-viereckige Blätter von
steifem Papier, welche auf einer Seite mit Figuren und Zeichen von
besonderer Bedeutung bemalt sind, und die in bestimmt
zusammengesetzter Anzahl "ein Spiel Karten" bilden, mittels dessen
man eine große Menge von Hasard- und Unterhaltungsspielen
ausführt. Absehend von der früh und selbständig
entstandenen chinesischen Karte (bemalte Holz- oder
Elfenbeintäfelchen), unterscheidet man zwei Hauptgattungen:
die Tarock- und die Vierfarbenkarte. Alle Formen der Tarockkarte,
ältere wie neuere, bieten 21 besondere Bilder (Tarocks), deren
Rang durch aufsteigende Ziffern bezeichnet ist, ferner einen
Harlekin von der Größe des ganzen Blattes (den
Sküs) und 4 Reiterbilder (Kavalls). Von Vierfarbenkarten gibt
es drei Arten, als deren gemeinschaftliches Merkmal gilt, daß
dieselben Wertzeichen viermal in einem Spiel unter verschiedener
Auszeichnung (Farben) vorhanden sind. Die Trappola- oder
Trappelierkarte, die älteste der in Deutschland
eingeführten Karten, kam wahrscheinlich aus Italien. Sie
besteht aus viermal 13 Blättern: Re, Cavallo, Fante, Zehn,
Neun, Acht, Sieben, Sechs, Fünf, Vier, Drei, Zwei und Asso mit
den Emblemen Spade (Schwerter), Coppe (Kelche), Denari (Pfennige)
und Bastoni (Stöcke). Meist braucht man von diesen Karten 40
(Zehn, Neun, Acht werden abgelegt). In der schlesischen
Trappelierkarte fehlen Sechs, Fünf, Vier, Drei; sie hat also
36 Blätter. Die deutsche Karte zählt 32 Blätter, von
denen je acht Daus (As), König, Ober, Unter, Zehn, Neun, Acht
und Sieben darstellen und durch die Farben Eicheln (Eckern),
Grün, Rot (Herzen) und Schellen unterschieden sind. Die
früher noch vorhandenen Sechsen sind jetzt fast in allen
Gegenden aus der deutschen Karte geschwunden. Die jetzt wohl am
meisten verbreitete französische Karte (Whistkarte) von 52
Blättern hat Treff (schwarze Kleeblätter), Pik (schwarze
Lanzenspitzen), Coeur (rote Herzen) und Karo (rote Vierecke) zu
Unterscheidungszeichen und besteht aus König, Dame, Bube und
der Zahlenfolge Eins bis Zehn (52). In Süddeutschland, wo man
vielfach französische Karten benutzt, heißen die vier
Farben Kreuz (Treff), Schippen (Pik), Herz (Coeur) und Eckstein
(Karo). Der Ursprung der S. bedarf noch sehr der Aufhellung. Zwar
nicht eigentliche S., aber doch ähnlichen Zwecken dienende
elfenbeinerne und hölzerne, mit Figuren bemalte Täfelchen
hatten die Chinesen und Japaner schon längst, ehe die Karten
bei uns bekannt waren. Wer sie in Europa eingeführt hat,
darüber wissen wir nichts Sicheres. Die erste sicher
beglaubigte Erwähnung der S. datiert aus dem Jahr 1392, wo der
Schatzmeister Karls VI. von Frankreich in seinem Ausgabebuch eine
Zahlung für drei Spiele Karten in Gold und Farben an den Maler
Jacquemin Gringonneur verzeichnet hat. Die S. können also
nicht erst, wie behauptet worden, zur Unterhaltung für den
geisteskranken König Karl erfunden worden sein. Wahrscheinlich
ist es, daß die Sarazenen die S. in Europa eingeführt
haben. Die ältesten S. wurden gemalt, oft mit Aufwand
großer Kunstfertigkeit. Besonders waren die deutschen
Kartenmacher, welche um 1300 bereits Innungen gebildet zu haben
scheinen, berühmt. Nachdem die Erfindung der Holzschneidekunst
und des Kupferstichs schrankenlose Vervielfältigung
ermöglicht hatte, stieg der Export billiger Karten aus
Deutschland außerordentlich, besonders entwickelten Ulm,
Augsburg und Nürnberg eine gewinnreiche Kartenindustrie. Wegen
ihrer Bedeutung für die Entstehungsgeschichte der Typographie,
wegen der Trachtenbilder, welche auf ihnen erhalten sind, nach
welcher Richtung hin spätere Abarten der französischen
Karte besonders interessantes Material liefern, sind die S.
früherer Zeiten von besonderm kulturgeschichtlichen Interesse
und werden darum gesammelt (Sammlung von Weigel in Leipzig, hrsg.
das. 1865; "Die ältesten deutschen S. des königlichen
Kupferstichkabinetts zu Dresden", hrsg. von Lehrs, Dresd. 1885, u.
a.). Bei der großen Beliebtheit, deren sich das Kartenspiel
bei den gebildeten Nationen erfreut, ist auch heute die
Kartenfabrikation ein wichtiger Industriezweig, besonders in
Frankreich und Deutschland (Stralsund, Hamburg, Kassel, Naumburg a.
S., Frankfurt a. M, München, Stuttgart, Ravensburg, Ulm, Mainz
etc.). In den meisten Ländern unterliegen die S. einer
Stempelsteuer (s. unten). Die Kartenspiele, deren Zahl sich ins
Unübersehbare vermehrt

144

Spielkartenstempel - Spiera.

hat, sind teils Glücksspiele (s. d.), teils sogen. Kammer-
oder Kommerzspiele, bei welch letztern nicht bloß das
Glück, sondern auch die Geschicklichkeit und die
Verstandeskräfte der Spielenden ausschlaggebend sind. Die
beliebtesten Kartenspiele sind das englische Whist, ferner Skat,
Solo, Boston, Mariage etc. Die S. dienen ferner zu
Kartenkunststücken, wovon die interessantesten auf gewissen
Kunstgriffen (Volteschlagen), einige auf Berechnung arithmetischer
Verhältnisse, alle auf Geschwindigkeit und Geschicklichkeit in
der Handhabung beruhen. Endlich ist das Kartenschlagen oder
Kartenlegen, die Kunst der Kartomantie, welche arabischen Ursprungs
sein soll, noch gegenwärtig eins der beliebtesten Mittel,
vorzüglich bei den Frauen aus den niedern Volksschichten, um
den Schleier der Zukunft zu lüften, und ist besonders bei den
Zigeunern zu einem Haupterwerbsmittel ausgebildet worden. Die
berühmteste Kartenschlägerin der Neuzeit war die
Lenormand (s. d.). Theoretisch behandelten die Kunst Francesco
Marcolini in seinen "Sorti" (Vened. 1540) und der Pariser
Kupferstichhändler Aliette unter dem Anagramm Etteila im
"Cours théorétique et pratique du livre de Thott"
(Par. 1790). Die wichtigsten Werke über die Geschichte der S.
sind: J. B. Thiers, Traité des jeux (Par. 1686); Breitkopf,
Versuch, den Ursprung der S. etc. zu erforschen (Leipz. 1784);
Leber, Jeux des tarots et des cartes numérales (Par. 1844,
mit 100 Kupfern); Singer, Researches into the history of playing
cards (Lond. 1848); Chatto, Origin and history of playing cards
(das. 1848); Taylor, History of playing cards (das. 1865); Merlin,
Origine des cartes à jouer (Par. 1869). Anweisung zur
Erlernung sämtlicher Kartenspiele geben die "Encyklopädie
der Spiele" (3. Aufl., Leipz. 1879) und Opel (Erf. 1880). Vgl. auch
Schröter, Spielkarte und Kartenspiel (Jena 1885); Signor
Domino, Das Spiel, die Spielerwelt und die Geheimnisse der
Falschspieler (Bresl. 1886).

Spielkartenstempel, eine unter Anwendung der Abstempelung
von Spielkarten erhobene Aufwandsteuer. Ein solcher wurde mit der
für Sicherung des Eingangs erforderlichen Beaufsichtigung und
Kontrollierung der Fabrikation und des Handels 1838 in
Preußen eingeführt, nachdem bis dahin der Staat den
Alleinhandel mit Spielkarten sich vorbehalten hatte. Eine solche
Steuer bestand auch in den meisten andern deutschen Ländern,
seit 1878 ist an deren Stelle der S. als Reichsabgabe getreten (30
u. 50 Pf. vom Spiel). Ertrag 1888/89: 1,066 Mill. Mk. Ein solcher
Stempel besteht auch in Österreich (30 und 15 Kr. vom Spiel)
und in England (seit 1828: 1 Schilling, seit 1862: 3 Pence vom
Spiel). Frankreich sichert sich die richtige Erhebung der
Spielkartensteuer (50 u. 57 Cent.) dadurch, daß der Staat den
nur am Sitz von Steuerdirektionen gestatteten Fabriken das für
die Hauptseiten der Karten erforderliche Papier liefert. Die
Einfuhr ausländischer Karten ist verboten; wo sie auf Grund
von Verträgen zugelassen ist, wird von solchen Karten neben
dem Stempel noch ein Zoll erhoben. England erhebt eine
jährliche Lizenzgebühr vom Verkäufer von
Spielkarten, daneben besteht ein S. In Griechenland hat der Staat
seit 1884 das Monopol der Erzeugung und des Verkaufs.

Spielleute (Spilman), im Mittelalter Bezeichnung für
die fahrenden Sänger, Musikanten, Gaukler etc., welche um Geld
ihre Künste vorführten (s. Fahrende Leute). Jetzt
heißen S. (Signalisten) die Tamboure und Hornisten der
Infanterie im deutschen Heer, deren je zwei bei der Kompanie sind,
und die für ihre Ausbildung unter dem Bataillonstambour (beim
ersten Bataillon jedes Regiments Regimentstambour genannt) stehen.
Reservespielleute sind je zwei Mann pro Kompanie, welche im
Gebrauch der Instrumente ausgebildet werden, aber sonst Dienst mit
der Waffe thun.

Spielmarke, s. Jeton.

Spieloper, eine Oper mit lustspielartiger Handlung und
leichter, gefälliger Musik, im Gegensatz zur ernsten
dramatischen Musik der großen Oper.

Spielpapiere, s. v. w. Spekulationspapiere (s.
Spekulation).

Spieluhr, ein Uhrwerk, welches zu bestimmten Zeiten, etwa
nach Ablauf einer Stunde, ein oder mehrere musikalische Stücke
spielt. Bei den Glockenspieluhren, welche früher nicht selten
mit Turmuhren verbunden wurden, schlagen kleine, durch eine Stift-
oder Daumenwalze gehobene Hämmer in bestimmter Abwechselung
taktmäßig an abgestimmte Glocken. In ähnlicher
Weise wurden auch Flötenwerke und Harfensaiten mit Uhrwerken
in Verbindung gebracht. Gegenwärtig sind die sogen.
Stahlspielwerke (Carillons) am gebräuchlichsten, welche sich
in einem kleinen Raum (in Taschenuhren, Dosen, Albums etc.)
unterbringen lassen. Sie bestehen aus abgestimmten Stahlfedern,
welche durch die Stifte einer mittels des Uhrwerks in Umdrehung
versetzten Walze geschnellt werden. Befindet sich ein solches
Spielwerk in einer Uhr, so ist dasselbe von dem Gang- und
Schlagwerk derselben ganz unabhängig, indem es
selbständig durch ein Gewicht oder eine Feder getrieben wird,
und es findet eine Verbindung zwischen beiden nur in der Weise
statt, daß das Uhrwerk in bestimmten Zeiten das Spielwerk
auslöst, d. h. seine Triebkraft frei macht, worauf letzteres
sofort zu spielen beginnt und damit fortfährt, bis es durch
die Arretierung wieder zum Stillstehen gebracht wird. Die
Stahlspielwerke werden hauptsächlich in der Schweiz
angefertigt.

Spielwaren, Arbeiten aus verschiedenen Stoffen (Metall,
Elfenbein, Knochen, Holz, Pappe, Papiermaché, Leder, Wachs,
Kautschuk etc.) zur Unterhaltung und Beschäftigung der Kinder,
gegenwärtig Gegenstand eines bedeutenden Industriezweigs, der
für die ganz ordinären bis mittelfeinen Artikel seinen
Hauptsitz im sächsischen Erzgebirge (Seiffen,
Grünhainichen etc.), in Oberammergau und in der Rauhen Alb in
Württemberg, für mittelfeine bis feinere Waren in
Sonneberg und Umgegend in Thüringen, für noch bessere und
beste Qualität in Nürnberg, Stuttgart und Berlin hat.
Nürnberg und Stuttgart konkurrieren in hochfeiner Ware
erfolgreich mit Paris. Die Gesamtproduktion Deutschlands
schätzt man auf 400,000 Ztr. im Wert von 30-36 Mill. Mk. Die
Herstellung von S. reicht zurück bis in die
prähistorische Zeit. In den bronzezeitlichen Pfahlbauten der
Westschweiz wurden bronzene und irdene Gegenstände
ausgegraben, die den heutigen Kinderrappeln ähneln und
offenbar demselben Zweck wie diese gedient haben. Ähnliche
Objekte wurden auch in Schlesien, der Mark Brandenburg etc.,
Spielwürfel aus Knochen oder Bronze zu La Tène (s.
Metallzeit, S. 528), unweit Este und zu Sackrau (bei Breslau)
ausgegraben. Die in alten Gräbern aufgefundenen Sprungbeine
(astragali) von Schafen, Ziegen und Kälbern haben nach Bolle
zum Knöchelspiel gedient.

Spiera, Francesco, "der Apostat", geboren um 1498, war
als Rechtsgelehrter zu Citadella bei Padua 1542 evangelisch
geworden, schwor aber, von der Inquisition bedroht, 1547 die
gewonnene Überzeugung

145

Spieren - Spill.

ab, um sofort ein Opfer rasender Verzweiflung zu werden. Sein
1548 erfolgtes trauriges Ende war entscheidend für den
Übertritt des P. P. Vergerio (s. d.). Sein Leben beschrieben
Comba (ital., Flor. 1872) und Rönneke (Hamb. 1874).

Spieren, die Rundhölzer des Schiffs, besonders
diejenigen zum Ausspannen der Leesegel an ihrem untern Liek;
unbearbeitete Hölzer, welche Schiffe zum Ersatz zerbrechender
Raaen und Stengen mitnehmen.

Spierlingsvogelbeere, s. Sorbus.

Spierstaude (Spierstrauch), s. Spiraea.

Spieß, Stoßwaffe mit langem Schaft und
dünner Eisenspitze, s. v. w. Pike (s. d.).

Spieß, 1) Christian Heinrich, Schriftsteller auf
dem Gebiet des niedern Romans, geb. 1755 zu Freiberg i. S., war
längere Zeit Mitglied einer wandernden
Schauspielergesellschaft und wurde darauf als Wirtschaftsbeamter
auf dem Schloß Betzdiekau in Böhmen angestellt, wo er
17. Aug. 1799 starb. Anfangs schrieb er Schauspiele; später
lieferte er besonders Romane, jede Messe einige Bände (z. B.
"Der alte Überall und Nirgends", Geistergeschichte, 1792; "Das
Petermännchen", 1793; "Der Löwenritter", 1794; "Die
zwölf schlafenden Jungfrauen", 1795, etc.), die wohl noch
jetzt in den untern Schichten der Gesellschaft Leser finden und
sich insgemein durch wüste Erfindung und platte
Ausführung charakterisieren. Vgl. Appell, Die Ritter-,
Räuber- und Schauerromantik (Leipz. 1859).

2) Adolf, Begründer einer neuen Richtung des Schulturnens,
geb. 3. Febr. 1810 zu Lauterbach am Vogelsberg, wuchs in Offenbach
auf und widmete sich mehr und mehr der Pflege und Förderung
der Leibesübungen, nachdem er das anfänglich ergriffene
Studium der Theologie aufgegeben hatte. 1833-44 an den Schulen von
Burgdorf im Kanton Bern, dann 1844-48 in Basel angestellt,
entfaltete er hier eine erfolgreiche, eigenartige Thätigkeit
als Turnlehrer und Schriftsteller. 1848 zur Leitung des hessischen
Schulturnens nach Darmstadt berufen, wirkte er in dieser Stellung
mit weit über die Grenzen dieses Landes hinausgehendem Erfolg,
bis ihn 1855 ein von früh an in ihm keimendes Lungenleiden,
dem er 9. Mai 1858 erlag, von seiner Thätigkeit
zurückzutreten zwang. S.' Verdienst ist es, die Gebiete der
Freiübungen (s. d.) und Ordnungsübungen (s. d.) für
die Turnkunst erschlossen und systematisch erschöpft sowie die
Betriebsform der Gemeinübungen auch für andre Turngebiete
eingeführt zu haben. Auch hat er dem Mädchenturnen zuerst
entscheidend Bahn gebrochen und überhaupt ein eigentliches
Schulturnen erst ins Leben gerufen. Sein Hauptwerk ist die
systematische "Lehre der Turnkunst" (Basel 1840-46, 4 Tle.; 2.
Aufl. 1867-85). Zur Anleitung für den Schulturnunterricht ist
bestimmt sein "Turnbuch für Schulen" (Basel 1847-51, 2 Tle.;
2. Aufl. von Lion, 1880-89). S.' "Gedanken über die Einordnung
des Turnwesens in das Ganze der Volkserziehung" (Basel 1842) sind
mit anderm zusammengefaßt nebst Beiträgen zu seiner
Lebensgeschichte in seinen "Kleinen Schriften über Turnen"
(hrsg. von Lion, Hof 1872). Vgl. Waßmannsdorff, Zur
Würdigung der Spießschen Turnlehre (Basel 1845).

Spießbock, s. Antilopen, S. 640.

Spießbock, Käfer, s. Bockkäfer.

Spießbürger, ursprünglich arme, nur mit
Spießen bewaffnete Bürger als Fußsoldaten; jetzt
verächtliche Bezeichnung für engherzige, beschränkte
Kleinbürger.

Spieße, s. Geweih.

Spießer, in der Jägersprache der
einjährige Hirsch; Spießbock, das einjährige
männliche Reh, solange es Spieße trägt, was auch
bisweilen noch bei ältern Stücken der Fall ist (s.
Geweih).

Spießglanz, s. v. w. Antimon;
Spießglanzbleierz, s. v. w. Bournonit;
Spießglanzbutter, s. v. w. Antimonchlorid;
Spießglanzkönig, s. v. w. Antimon.

Spießglas, s. v. w. Antimon.

Spießglassilber, s. Antimonsilber.

Spießlein (Wurf), in Nürnberg s. v. w.
fünf Stück.

Spießlerche, s. Pieper.

Spießrecht (Recht der langen Spieße), das
Recht der Landsknechtsregimenter, schwere Verbrechen selbst
abzuurteilen, sowie der Rechtsgang dabei.

Spießrutenlaufen (Gassenlaufen), militär.
Leibesstrafe, welche früher wegen schwerer Vergehen durch
Kriegs- oder Standgericht über gemeine Soldaten verhängt
wurde, und bei deren Ausführung, unter Aufsicht von
Offizieren, ein oder mehrere hundert Mann mit vorgestelltem Gewehr
eine etwa 2 m breite Gasse bildeten, welche der bis zum Gürtel
entblößte Verurteilte mit auf der Brust
zusammengebundenen Händen und eine Bleikugel zwischen den
Zähnen haltend, um "sich den Schmerz zu verbeißen",
mehrmals langsam bei Trommelschlag durchschreiten mußte.
Hierbei erhielt er von jedem Soldaten mit einer Hasel- oder
Weidenrute (Spieß- oder Spitzrute) einen Schlag auf den
Rücken. Bei der Kavallerie wurden, in Preußen bis 1752,
statt der Ruten Steigbügelriemen (daher Steigriemenlaufen)
verwendet. Um den Verurteilten am schnellen Gehen zu hindern,
schritt ein Unteroffizier mit ihm vor die Brust gehaltener
Säbelspitze voran. Ein sechsmaliges S. durch 300 Mann an 3
Tagen mit Überschlagen je eines Tags wurde der Todesstrafe
gleich geachtet, hatte aber auch gewöhnlich den Tod zur Folge.
Konnte der Verurteilte nicht mehr gehen, so wurde er auf Stroh
gelegt und erhielt dann die festgesetzte Anzahl von Streichen.
Diese barbarische Strafe wurde in Preußen 1806, in
Württemberg 1818, in Österreich 1855, in Rußland
erst 1863 abgeschafft. Ähnliche Strafen waren auch bei den
Römern im Gebrauch, s. Fustuarium. Bei den Landsknechten (s.
d.) war es das "Recht der langen Spieße", aus dem das S.
hervorging.

Spießtanne, s. Cunninghamia.

Spik, s. v. w. Lavandula Spica; s. auch Valeriana.

Spiköl (Spicköl), s. Lavendelöl.

Spilanthes Jacq. (Fleckblume), Gattung aus der Familie
der Kompositen, meist behaarte, einjährige Kräuter mit
einfachen, gegenständigen Blättern und einzeln stehenden,
gelben Blütenköpfen. Von den mehr als 40 Arten in den
Tropen der Alten und Neuen Welt wird S. oleracea Jacq., die
Parakresse, in den Tropen als Salat- und Gemüsepflanze, bei
uns als Zierpflanze kultiviert. In Südeuropa benutzt man sie
gegen Skorbut und bei uns eine aus dem Kraut bereitete Tinktur
(Paraguay-Roux) gegen Zahnschwerz.

Spilimbergo, Distriktshauptstadt in der ital. Provinz
Udine, am Tagliamento, hat ein altes Schloß, eine Kirche mit
Gemälden von Pordenone u. a., Seidenfilanden, Handel und
(1881) 1732 Einw.

Spill, Vorrichtung zum Einwinden der Ankerkette, zum
Einholen von Trossen, wenn ein Schiff verholt werden soll, oder zum
Heben schwerer Lasten. Ein S. besteht aus einer eisernen, bei
Gangspillen vertikal, bei Bratspillen horizontal gelagerten Welle
(mit einer Armatur aus Gußeisen zur Aufnahme der Ankerkette
und aus Holz zum Umlegen von Trossen) und dem Spillkopf, welcher
mit Öff-

Meyers Konv.-Lexikon, 4. Aufl., XV. Bd.

10

146

Spillage - Spindler.

nungen zum Einstecken der Spillspaken versehen ist, mit deren
Hilfe man den Apparat in Rotation versetzt. Palldaumen oder
Sperrklinken verhindern, daß das S. sich rückwärts
dreht. Auf Dampfschiffen wird das S. gewöhnlich durch eine
kleine Dampfmaschine in Bewegung gesetzt. In neuerer Zeit werden
die Spille vielfach ganz aus Eisen gebaut.

Spillage (spr. -ahsche), Verlust an auf Schiffen
beförderten Waren infolge mangelhafter Verpackung.

Spillbaum, s. Evonymus.

Spille, im Altdeutschen s. v. w. Spindel oder Kunkel,
daher die deutschrechtlichen Ausdrücke: Spillgelder,
Spilllehen, Spillmage, Spillseite u. dgl.

Spillgelder, s. Nadelgeld.

Spilling, s. Pflaumenbaum.

Spilllehen (Kunkellehen), ein Lehen, welches auch auf
Frauen vererblich war.

Spillseite (Spindelseite, Spillmagen), im altdeutschen
Recht die Verwandten mütterlicherseits im Gegensatz zu der
Schwertseite oder den Schwertmagen (s. d.), den Verwandten von der
Seite des Schwerts, dem Mannesstamm. Vgl. Mage.

Spilographa, s. Bohrfliege.

Spin., Abkürzung für Max von Spinola, Graf von
Tassarolo, geb. 1780 zu Toulouse, gest. 1857 auf Tassarolo bei
Genua (Entomolog).

Spina (lat.), Dorn, Stachel, Gräte; auch
Rückgrat (S. dorsi); in der altrömischen Rennbahn die
niedrige Mauer, an deren Enden die zu umkreisenden Ziele standen
(s. Circus). S. bifida, Rückgratsspalte (s.d.).

Spinacia Tourn. (Spinat), Gattung aus der Familie der
Chenopodiaceen, einjährige, aufrechte, kahle Kräuter mit
abwechselnden, gestielten, dreieckig ei- oder
spießförmigen, ganzrandigen oder buchtig gezahnten
Blättern, diözischen Blüten in geknäuelten
Wickeln, die der weiblichen Pflanze meist unmittelbar in den
Blattachseln, die der männlichen zu unverbrochenen, terminalen
und achselständigen Scheinähren geordnet. Vier
orientalische Arten. S. oleracea L. (gemeiner Spinat), 30-90 cm
hoch, soll durch die Araber zuerst nach Spanien gebracht und von
dort weiter verbreitet worden sein. Man kultiviert ihn jetzt als
Gemüsepflanze in zwei Varietäten, als Sommerspinat
(großer, holländischer Spinat, S. oleracea inermis
Mönch), mit länglich-eirunden oder stumpf dreieckigen
Blättern und glattem Fruchtperigon, und als Winterspinat (S.
oleracea spinosa Mönch), mit spießförmig
zweizähnigen Blättern und stachligem Fruchtperigon. Diese
Varietät säet man im Herbst und schneidet sie im
Frühjahr; den Sommerspinat bevorzugt man als
Sommergewächs, weil er weniger leicht in Samen schießt.
Die Blätter liefern ein zartes Gemüse, welches mild
abführend wirkt. Es enthält 2,189 eiweißartige
Körper, 0,292 Fett, 0,058 Zucker, 2,378 sonstige
stickstofffreie Substanzen, 0,551 Cellulose, 1,152 Asche, 93,380
Wasser. In Griechenland füllt man Gebäck mit Spinat und
einigen Gewürzkräutern als Fastenspeise; in Frankreich
verbäckt man den Samen zu Brot.

Spinalis (lat.), was auf das Rückgrat Bezug hat,
daher Medulla s., das Rückenmark; Spinalkrankheiten, die
Krankheiten des Rückenmarks.

Spinalmeningitis, Entzündung der
Rückenmarkshäute.

Spinalnerven, s. Rückenmark.

Spinalneuralgie (Spinalirritation), die im Verlauf der
Rückenmarksnerven auftretenden Schmerzen, sind entweder
bedingt durch anatomisch nachweisbare Erkrankungen 1) der
Wirbelkörper, z. B. bei Frakturen der Wirbelknochen, durch
Verrenkungen oder Quetschungen der Bandscheiben, durch
eingedrungene Geschosse oder knöcherne Auswüchse, welche
auf das Rückenmark oder die aus diesem entspringenden
Empfindungsnerven einen Druck ausüben; 2) durch
Entzündungen oder Geschwulstbildungen in den
Rückenmarkshäuten, welche sich z. B. bei den
häufigen syphilitischen Erkrankungen auch auf die Scheide der
Nerven fortsetzen; 3) durch Entzündungen, Geschwülste,
Entartungen des Rückenmarks selbst; S. ist daher ein
regelmäßiges Symptom der Rückenmarksschwindsucht.
Diese große Gruppe von Fällen bietet der ärztlichen
Diagnose gewöhnlich keine besondere Schwierigkeit, da die S.
als solche nur Teilerscheinung ist neben Lähmungen,
Krampfzuständen und andern schweren, oft tödlichen
Komplikationen, so daß demnach die S. bei der Behandlung nur
als Symptom berücksichtigt wird. Als reine Neurose kommt die
S. vor bei Personen, welche durch voraufgegangene schwere
Gemütsbewegungen, körperliche oder geistige
Überanstrengungen, Exzesse aller Art in ihrer Gesundheit tief
erschüttert sind. Neben dem Gefühl von Kriebeln, Taubsein
oder Kälte in der Haut des Rückens und der
Extremitäten klagen die Kranken über
Rückenschmerzen, welche besonders bei Druck auf die
Dornfortsätze lebhaft werden (Irritatio spinalis),
während Lähmungen meistens fehlen oder nur in
untergeordnetem Grad auftreten. In diesen Fällen ist die S.
eine bloße Funktionsstörung des spinalen Nervensystems,
welche gewöhnlich Teilerscheinung einer allgemeinen
Nervenschwäche ist, kein bedrohliches Symptom darstellt,
sondern bei geeigneter Behandlung verschwindet (s.
Nervenschwäche).

Spinalsystem (Vertebralsystem), das Rückenmark mit
den von ihm ausgehenden Nerven.

Spinat, Pflanzengattung, s. Spinacia; englischer oder
ewiger S., s. v. w. Rumex Patientia: neuseeländischer S., s.
v. w. Tetragonia expansa; wilder S., s. Atriplex.

Spina ventosa (lat.), s. Winddorn.

Spinazzola, Stadt in der ital. Provinz Bari, Kreis
Barletta, mit 6 Kirchen und (1881) 10,353 Einw.; Geburtsort des
Papstes Innocenz XII.

Spindel, in der Technik ein langer, dünner, an einem
oder an beiden Enden zugespitzter Körper, wie er seit alters
beim Spinnen benutzt wird; dann jede dünne stehende Welle
(Bohrspindel, Schraubenspindel etc.), auch die Welle der Unruhe in
den Spindeluhren. In der Botanik heißt S. (Rhachis) die
Hauptachse der Ähre (s. Blütenstand, S. 80).

Spindelbaum, Pflanzengattung, s. Evonymus.

Spindelsträucher, s. Celastrineen.

Spindeluhr, s. Uhr.

Spindler, Karl, Romanschriftsteller, geb. 16. Okt. 1796
zu Breslau, ward in Straßburg erzogen. Das juristische
Studium gab er auf, nachdem er sich dem französischen
Kriegsdienst durch Flucht entzogen, und wurde Schauspieler, bis er
in der Pflege seines außerordentlichen Erzählertalents
seinen eigentlichen Beruf erkannte. Er lebte nacheinander in Hanau,
Stuttgart, München, zuletzt in Baden-Baden und starb 12. Juli
1855 in Bad Freiersbach. Unter seinen zahlreichen Romanen (neue
Ausg., Stuttg. 1854 bis 1856, 95 Bde.; Auswahl 1875-77, 14 Bde.)
sind die bedeutendsten: "Der Bastard" (Zürich 1826, 3 Bde.;
aus der Zeit Kaiser Rudolfs II.), "Der Jude" (Stuttg. 1827, 4 Bde.;
eine Sittenschilderung aus der ersten Hälfte des 15. Jahrh.),
"Der Jesuit" (das. 1829, 3 Bde.), "Der Invalide" (das. 1831, 5
Bde.) und "Der König von Zion" (das. 1837, 3 Bde.),

147

Spinell - Spinnen.

deren Vorzüge ihm einen der ersten Plätze unter den
deutschen Erzählern anweisen. 1829 erschien unter seiner
Redaktion die "Damenzeitung", 1830-49 das Taschenbuch
"Vergißmeinnicht".

Spinell, Mineral aus der Ordnung der Anhydride, findet
sich in gewöhnlich kleinen, regulären Kristallen, einzeln
ein- oder aufgewachsen, sehr häufig, namentlich auf
sekundärer Lagerstätte, in Kristallfragmenten u.
Körnern. S. ist meist rot, auch braun, blau, grün und
schwarz. Der rote wird beim Erhitzen vorübergehend grün,
dann farblos, nach dem Erkalten aber wieder rot. Die licht
gefärbten Spinelle sind durchsichtig, die dunklern
durchscheinend bis undurchsichtig, alle glasglänzend.
Härte 8, spez. Gew. 3,5-4,1. Der rote, durchsichtige (edle) S.
ist ein Magnesiumaluminat MgAl2O4, wahrscheinlich durch etwas Chrom
gefärbt. Eine blaue Abart enthält bis 2,5 Proz. Eisen,
der grasgrüne Chlorospinell 6-10 Proz. Eisen und etwas
Kupferoxyd als färbendes Prinzip, während der schwarze S.
(Pleonast, Ceylanit) nach der Formel (Mg,Fe),(Al,Fe)2O4
zusammengesetzt ist. Edler S. (s. Tafel "Edelsteine", Fig. 14)
findet sich fast nur auf sekundärer Lagerstätte, in
Ceylon, Ostindien und Australien, der blaue zu Aker in
Södermanland. Chlorospinell entstammt einem Chloritschiefer
von Slatoust; Pleonast tritt in Silikatgesteinen und Kalken oder
auch lose auf, so besonders am Monzoniberg in Südtirol, am
Vesuv, auf Ceylon, zu Warwick und Amity in New York. S. ist ein
geschätzter Edelstein und besitzt in seinen gesättigt
ponceauroten Varietäten etwa den halben Wert eines
gleichgroßen Diamanten. Tiefroter S. kommt auch als
Rubinspinell, licht rosenroter als Rubinbalais (Balasrubin),
violetter als Almandinspinell und gelbroter als Rubicell (Rubicill)
in den Handel. Die zuletzt genannten drei Sorten stehen den edlen
Spinellen an Wert bedeutend nach. Kochenille- und blutroter S.
kursiert wohl auch als Goutte de Sang ("Blutstropfen"). Pleonaste
dienen als Trauerschmuck. Eine Anzahl von Mineralspezies, deren
einzelne Glieder als isomorphe Körper untereinander eng
verknüpft sind, faßt man als Spinellgruppe zusammen. Sie
kristallisieren sämtlich im regulären System, am
häufigsten in Oktaedern und oktaedrischen Zwillingen, nach dem
sogen. Spinalgesetz und sind übereinstimmend nach der
allgemeinen Formel RII(RIV2)O4 [s. Bildansicht] zusammengesetzt.
Die folgende Tabelle gibt die wichtigsten Spezies der Gruppe und
die Elemente, welche sich an der Zusammensetzung beteiligen, in der
Reihenfolge ihres Vorwaltens in der betreffenden Verbindung :

Arten | RII | (R2)VI

Edler Spinell . . . . | Mg, vielleicht Cr | Al

Blauer Spinell . . . . | Mg | Al, Fe

Chlorospinell . . . . . | Mg, etwas Cu | Al, Fe

Pleonast . . . . . . | Mg, Fe | Al, Fe

Pikotit . . . . . . . | Fe, Mg | Al, viel Cr

Chrompikotit . . . . . | Fe, Mg | Cr, zurücktret. Al

Hercynit . . . . . . | Fe, wenig Mg | Al

Automolit (Gahnit, Zinkspinell) | Zn | A1

Kreittonit . . . . . . | Zn, Fe, Mg | Al, Fe

Dysluit . . . . . . | Zn, Fe, Mn | Al, Fe

Franklinit. . . . . . | Zn, Fe, Mn | Fe, Mn

Chromit (Chromeisenerz) | Fe, Mg, Cr | Cr, Al, Fe

Magneteisen (Magnetit) . | Fe | Fe

Talkeisenstein. . . . . | Fe, Mg | Fe

Jacobsit . . . . . . | Mn, Mg | Fe, Mn

Magnoferrit (Magnesioferrit) | Mg | Fe

Uranpecherz . . . . . | U | U

Spinellan, s. Nosean.

Spinelltiegel, s. Schmelztiegel.

Spinett (franz. Epinette), veraltetes Tasteninstrument,
kleines Klavicimbal (s. Klavier, S. 816).

Spingole, s. Espingole.

Spinndrüsen, bei Insekten, Spinnen und einigen
andern Tiergruppen diejenigen Organe, welche einen zu feinen
Fäden ausziehbaren, rasch erhärtenden Saft absondern und
so den Stoff für die bekannten Spinnweben, Kokons und andre
derartige Gebilde liefern. Die Larven (Raupen) von Insekten haben
zwei sehr lange S., die im Hinterleib liegen und ihren Inhalt dicht
am Mund ergießen; bei den Spinnen hingegen münden die S.
am Hinterende des Körpers aus. Auch die Byssusdrüse der
Muscheln (s. d.) wird wohl als Spinndrüse bezeichnet.

Spinnen, s. Spinnentiere.

Spinnen (hierzu Doppeltafel "Spinnmaschinen"), aus kurzen
Fasern durch Zusammendrehen beliebig lange Fäden (Gespinst,
Garn, s. d.) erzeugen. Damit das Garn die größte
Gleichmäßigkeit und Festigkeit bekommt, müssen die
Fasern nicht nur vor allen etwanigen Verunreinigungen sowie kurzen
Härchen befreit, sondern auch gleichmäßig verteilt
und in eine parallele Lage gebracht, demnach also gewissen
Vorbereitungsarbeiten unterworfen werden, bevor das eigentliche S.
stattfinden kann. Je nachdem die verschiedenen Operationen von der
Hand mit einfachen Werkzeugen oder von mechanischen Vorrichtungen
ausgeführt werden, unterscheidet man Hand- und
Maschinenspinnerei.

1) Die Handspinnerei,

durch die Maschinen fast verdrängt, wird nur noch von den
Landbewohnern zum S. des Flachses und der Wolle benutzt, zeigt aber
bereits deutlich die der Spinnerei zu Grunde liegenden
Hauptoperationen. Der gehechelte Flachs oder die gewaschene und
gekratzte Wolle werden um einen hölzernen Stock (Rocken) a
(Textfig. 1) gewunden, den die Spinnerin neben sich aufstellt oder
in den Gürtel steckt. Das Ordnen der Fasern bewirkt sie durch
Ausziehen derselben mit der einen Hand, während sie mit der
andern die Spindel am obern Ende dreht, an welchem der Faden mit
einer Schlinge in einem Häkchen oder einem
schraubenförmigen Einschnitt so befestigt ist, daß die
Drehung auf ihn übertragen wird. Die Spindel b besteht aus
einem hölzernen (selten eisernen) Stäbchen von 20-30 cm
Länge, das etwa 8 cm vom untern Ende seine größte
Stärke, 0,8-1,5 cm, hat u. sich von da aus nach beiden Enden
zuspitzt. Etwas unter der stärksten Stelle befindet sich eine
kleine Schwungmasse c (Wirtel) aus Zinn oder Horn, in den
ältesten Zeiten aus einem durchbohrten Stein bestehend, durch
welche die Drehung der Spindel länger erhalten wird, nachdem
sie losgelassen und, an dem sich bildenden Faden hängend,
allmählich zur Erde sinkt. Ist dies geschehen, so wird der
Faden

148

Spinnen (Hand-, Maschinenspinnerei).

vom obern Ende der Spindel abgelöst, aufgewickelt und von
neuem festgehakt, die Spindel gedreht etc. Viel nutzbringender ist
das S. mit dem Spinnrad (Handrad oder Trittrad), durch welches die
beiden Operationen des Drehens und Aufwickelns der Hand abgenommen
werden, während nur das Ordnen der Fasern (Ausziehen)
derselben überlassen bleibt. Bei dem Handrad (Textfig. 2) wird
die frei schwebende Spindel a durch das von der rechten Hand an der
Kurbel b gedrehte Rad c mittels Schnur ohne Ende in Umdrehung
versetzt, während man in der linken das Spinnmaterial (meist
Wolle) hält und in geeigneter Menge durch die Finger gleiten
läßt. Zunächst wird der Faden gedreht, indem man
ihn in der Richtung 1, d. h. unter stumpfem Winkel, gegen die
Spindel hält und sich allmählich mit der linken Hand von
der Spindel entfernt; hierauf bringt man ihn in die Richtung 2,
wodurch er aufgewickelt wird. Bei dem Trittrad (Textfig. 3) ist
eine Spindel x y vorhanden, die an beiden Enden gelagert und bei y
mit einem sogen. Kopfe versehen ist, welcher der Länge nach
eine Durchbohrung mit einem Seitenloch sowie zwei Flügel a a
besitzt. Auf der Spindel befindet sich eine hölzerne Spule b
zum Aufwickeln des Garns i i. Die Spindel x y erhält nun durch
die Schnurrolle r (Wirtel) und die Schnur s, die Spule b durch die
Schnurrolle u und die Schnur t, beide von dem durch den
Fußtritt f, Schubstange e und Kurbel d in Umdrehung
versetzten Schwungrad c aus eine Drehbewegung. Der bei y durch den
Kopf gehende, von dem Spinnrocken kommende Faden i wird
zunächst durch diese Bewegung gedreht, dann aber über
kleine Häkchen des Flügels auf die Spule b geleitet. Da
nun letztere entweder einen kleinern oder größern Wirtel
u hat als die Spindel, also mehr oder weniger Umdrehungen als diese
macht, so muß dadurch das Garn aufgewickelt werden. Um
hierbei ein regelmäßiges Bewickeln der Spule zu
bewirken, wird der Faden der Reihe nach über andre
Häkchen geleitet.

2) Die Maschinenspinnerei, welche jetzt die Regel bildet,
erzeugt das Garn in der Weise, daß das Fasermaterial
zunächst zum Zweck der Reinigung und Anordnung eine Reihe von
Maschinen durchläuft, die dasselbe als ein
zusammenhängendes Band abliefern, welches Vorgarn genannt und
durch allmähliche Verfeinerung und Drehung in Garn (Feingarn)
verwandelt wird.

A. Baumwollspinnerei. Die zum Verspinnen bestimmte Baumwolle (s.
d.) kommt in sehr stark zusammengepreßten Ballen in die
Spinnereien und muß zur Abscheidung der Schmutzteile
geöffnet werden. Dies erfolgt in dem Wolf (Öffner,
Willow), der sehr verschieden konstruiert, aber in neuester Zeit
hauptsächlich in der durch Fig. 4 dargestellten Einrichtung
des vertikalen, konischen Willows angewendet wird. Auf der
vertikalen Achse a a befinden sich 6-8 runde Blechscheiben 1-6, mit
einer Anzahl von Stäben c versehen, welche mit der Achse a a
sich mit großer Geschwindigkeit (1000- 1200 Umdrehungen in
der Minute) drehen. Die durch den Kanal A zugeführte Baumwolle
wird von diesen Schlägern gefaßt und gewaltsam gegen den
konischen Korb o p geschleudert, welcher siebartig durchbrochen ist
und daher den groben Staub durchläßt, der sich in der
Kammer K K ansammelt und zeitweilig entfernt wird. Der feinere
Staub dahingegen wird durch eine Trommel E abgesondert, deren
Inneres mit dem Ventilator G in Verbindung steht, der dasselbe
aussaugt. Obige Trommel G ist nun mit einem Drahtgewebe
überspannt, gegen welches durch den Luftzug die aufgelockerte
Baumwolle fliegt, um sich von dem Staub zu trennen, der in das
Siebinnere und zum Staubturm H gejagt wird. Infolge einer langsamen
Drehung der Siebtrommel gelangt die Baumwolle durch D auf das Tuch
ohne Ende F, welches sie, im hohen Grad gelockert, aus der Maschine
auswirft. Unmittelbar auf dieses Öffnen folgt eine noch weiter
gehende Auflockerung und Reinigung in der gewöhnlich doppelten
Schlag- oder Flackmaschine (Batteur), deren Einrichtung Fig. 5 im
Längsschnitt zeigt. Das Wichtigste an dieser Maschine sind die
Schlagvorrichtungen, welche sich in den Kasten c und e befinden und
aus einer Welle bestehen, an der mittels Arme zwei Lineale
(Schläger) t t befestigt sind, die sich mit einer
Geschwindigkeit von etwa 1500 Umdrehungen in der Minute drehen. Die
Baumwolle wird nun auf das Tuch ohne Ende a gelegt und von diesem
einem Walzenpaar (Speisewalzen) b übergeben, an dem die
Schläger sehr nahe vorbeifliegen, und das sich so langsam
dreht, daß auf etwa 1 mm des vorgeschobenen Materials 1
Schlag kommt. Der bei diesem Schlagen frei werdende Staub fliegt
zum Teil durch die Roste r d, zum Teil durch die Siebtrommel d mit
Ventilator k, während die Baumwolle erst auf der Siebtrommel d
gesammelt und dann von dieser den Speisewalzen e1 zugeschoben wird,
um in e noch einmal geschlagen, durch Rost s, Siebtrommel f f mit
Ventilator m gereinigt zu werden. Aus f f gelangt sie zu den
Preßwalzen g und endlich auf eine durch i i gedrehte Walze h
zum Aufwickeln zu einem Wickel. Da die Baumwolle mindestens zwei-,
oft mehrere Male auf der Schlagmaschine bearbeitet werden
muß, so findet man gewöhnlich solche doppelte
Schlagmaschinen und benutzt zwei derselben hintereinander. Dabei
legt man mehrere Wickel (1, 2, 3) der ersten Schlagmaschine auf das
Speisetuch a der zweiten sogen. Wattenmaschine, wodurch eine
Mischung und die

148a

Spinnmaschinen.

Fig. 23 Wollkämme

Fig. 10. Häkchenstellung der Walzenkarde

Fig. 4 Konischer Wolf

Fig. 9. Deckelkratze

Fig. 11. Walzenkarde (Seitenansicht).

Fig. 5. Schlagmaschine.

Meyers Konv.-Lex., 4. Aufl.

Bibliogr. Institut in Leipzig.

Zum Artikel »Spinnen«.

148b

Spinnmaschinen.

Fig. 15. Mulemaschine

Fig. 13. Vorspinnmaschine (Flyer).

Fig. 19. Waterspinnmaschine für Flachs.

Fig. 16. Selbstspinner (Self-actor)

148c

Spinnmaschinen.

Fig. 21. Reißwolf.

Fig. 20. Schlagwolf.

Fig. 17. Ringspindel

Fig. 24. Igelstrecke.

Fig. 18. Anlegemaschine.

Fig. 22. Florteiler.

Fig. 12. Streckwerk.

Fig. 14. Waterspinnmaschine für Baumwolle.

149

Spinnen (Baumwollspinnerei).

Bildung einer regelmäßigen Watte erzielt wird
(Duplieren). Der Abschluß der Reinigung und Auflockerung
erfolgt sodann durch das Kratzen oder Krempeln auf der
Kratzmaschine (Krempel, Karde), deren wesentlichster Teil der
Auflockerungsapparat ist, welcher der ausgiebigen Wirkung wegen aus
zwei Systemen von hakenartigen Zähnchen besteht, die aus
hartem Draht, knieförmig gebogen, durch Lederstreifen gesteckt
sind, so daß sie in großer Zahl dicht nebeneinander
stehen und den Kratzenbeschlag (Textfig. 6) bilden. Zur
Verdeutlichung des Vorganges dienen die untenstehenden Fig. 7 u. 8,
welche Stücke eines Kratzenbeschlags in den zwei verschiedenen
Stellungen zeigen. Denkt man sich in b b (Textfig. 7) Fasern und a
a nach links bewegt, so erfolgt gar keine Wirkung oder ein
Aufrollen des Materials zwischen den Kratzflächen; bewegt sich
aber a a nach rechts, so findet ein Vorgang wie beim Kämmen,
d. h. ein Kratzen, statt, welches in seiner Wirkung noch vermehrt
wird wenn sich zugleich b b nach links bewegt. Geht in Textfig. 8 b
b nach links, so spießt es die Wolle von a a auf,
während bei der umgekehrten Bewegung, oder wenn a a sich nach
links begibt, die Fasern in a a hängen bleiben. Bei dieser
Häkchenstellung kann man also, je nach der Wahl der relativen
Bewegungsrichtung, die Fasern beliebig von einem Beschlag in den
andern überführen (Abnehmen, Wenden). Zur
Bethätigung dieser Werkzeuge ist nun ein System stets auf
einer großen cylindrischen Trommel (Tambour) von etwa 1 m
Durchmesser angebracht, während das zweite System entweder auf
Latten sitzt, welche die Trommel konzentrisch umgeben und die
Deckel (Deckelkarde) bilden, oder auf passend gelagerten kleinern
Walzen (Igel) angebracht ist (Walzenkarde). Die Einrichtung der
Deckelkratze zeigt Fig. 9. Die von der zweiten Schlagmaschine
kommende Watte wird bei a eingelegt, durch die drehende Walze b
allmählich wieder abgewickelt und über die Platte c den
Speisewalzen e übergeben, aus welchen sie von der sogen.
Vorwalze f herausgezogen und an die große Trommel T
abgeliefert wird. Diese dreht sich nun mit großer
Geschwindigkeit (100- bis 160mal in der Minute) und kratzt das
Material mit Hilfe der Deckel d d, dasselbe zugleich in ein
äußerst zartes Vlies verwandelnd, welches vermittelst
der mit Kratzenbeschlag garnierten Trommel K von der Trommel T
abgenommen wird (Abnehmer, Kammtrommel). Zur Entfernung des Vlieses
aus dieser Trommel K dient ein Kamm k (Hacker), welcher, durch eine
schnell umlaufende Kurbel m auf und ab bewegt, das Vlies aushackt.
Da letzteres sehr zart ist, so zieht man es bei n seitwärts
zusammen und leitet es durch einen Trichter t, in dem es die
Gestalt eines Bandes erhält, welches, zwischen den Walzen q
noch zusammengepreßt, durch den Kopf u in den Topf p geleitet
wird, in dem es sich in Spiralen ablagert, welche durch einen in u
angebrachten Drehapparat gebildet werden. Statt der Deckelkratzen
verwendet man ihrer größern Leistung wegen jetzt ebenso
vielfach die Walzenkarden (Igelkrempel), deren Häkchenstellung
neben der Haupttrommel a Fig. 10 zeigt, wo b Arbeiter und c Wender
heißen, und deren Konstruktion aus Fig. 11 hervorgeht. Um die
große Trommel T liegen die Arbeiter a und dazwischen die
kleinern Wendern, welche fortwährend die in a sitzen bleibende
Baumwolle von a auf T übertragen (wenden), um die Wirkung zu
erhöhen. Die Wickel werden wie bei der Deckelkarde durch die
Walze z abgewickelt, von dem Zufuhrapparat b c auf die Vorwalze d
und von dieser auf die Trommel T gebracht, sodann durch die Walzen
1, 2, 3 gleichmäßiger verteilt, zwischen T und a
gekratzt, um endlich auf die Kammwalze K mit Hacker k und auf die
Wickelwalze q zu gelangen, oder durch einen Trichter die Bandform
zu gewinnen. Die Drehung der Arbeiter erfolgt durch eine endlose,
durch das Gewicht g gespannte Kette s von der Scheibe 7, die
Drehung der Wender w, n sowie der Walzen d, 1, 2 und 3 durch Riemen
r, t, u und Riemenscheiben 5 auf der Achse 4 und 12 auf der Achse B
von der großen Trommelwelle A aus. Von 7 wird zugleich die
Bewegung durch Kegelräder 8, 9, 10 auf c und weiter auf z
übertragen. In der Regel wird die Baumwolle zweimal gekratzt:
auf der Vorkarde und nach Behandlung auf der Lappingmaschine auf
der Feinkarde, in welchem Fall mehrere Bänder der Vorkarde
zusammengewickelt und als Bandwickel auf die Feinkarde gebracht
werden. Um im Band eine vollständig gleiche, gestreckte,
parallele Lage und gleiche Verteilung der Fasern zu bekommen,
passieren sie eine Reihe von Walzen in der Weise, daß immer
so viel Bänder vereinigt werden (Duplieren), als jedes Band
verlängert (gestreckt) wird. Dazu dient ein Streckwerk
(Laminirstuhl, Strecke), dessen Einrichtung (Fig. 12) folgende ist.
In einem passenden Bock liegen vier Walzenpaare 1, 2, 3, 4, die die
Bänder A dadurch verlängern, daß sie der Reihe nach
von 4 nach 1 größere Umdrehgeschwindigkeiten, z. B. auf
das Sechsfache gesteigert, erhalten. Die Oberwalzen sind mit Leder
überzogen und durch Gewichte q q auf die geriffelten
Unterwalzen gepreßt. Die (z. B. 6) gestreckten und
vereinigten Bänder laufen als ein Band A durch eine Platte h,
Walzen c und den drehenden Kopf T in die Kanne D D, welche sich
durch eine Schnecke s mit Schneckenrad r um die Achse dreht, um dem
Bande die Spirallage zu geben (Drehkanne). Wegen der
Gleichmäßigkeit des Bandes muß die Strecke sofort
stillstehen, wenn ein Band reißt. Dazu dienen der Hebel z y x
und die Platte h (Bandwächter), die

150

Spinnen (Baumwollspinnerei).

von dem Band gehalten werden und sofort mit x oder p gegen die
Zähne des Rades a fallen, wenn das Band bei b oder h
reißt. Durch die Arretierung von a wird dann sofort die
Strecke abgestellt. In dem gestreckten und duplierten Band sind die
Fasern so verteilt und gelagert, daß dasselbe durch weitere
Streckung und Drehung in Garn überführt werden kann. Der
großen Lockerheit halber muß diese Operation aber in
gewissen Abstufungen so erfolgen, daß die Zusammendrehung
zunächst dem Band nur eine Festigkeit erteilt, welche das
Weiterstrecken nicht hindert; dadurch entsteht das Vorgarn
(Vorgespinst). Zur Erzeugung desselben dient der Flyer oder die
Spindelbank, welche die früher üblichen Vorspinnmaschinen
(Röhrchen-, Eklipsmaschine, Jackmaschine etc.) fast
vollständig verdrängt hat. Der Flyer, welcher in mehreren
Größenabstufungen (Grob-, Mittel-, Fein-, Feinfein- und
Doppelfeinflyer) nacheinander in Verwendung kommt, erhält
zuerst das Band aus den Kannen der Streckmaschinen, wickelt aber
das Vorgarn auf Spulen, so daß vom Grobflyer abwärts das
Garn auf Spulen gewickelt in die Maschine gelangt. Das Wesen eines
Flyers zeigt Fig. 13 der Tafel. Von den Spulen a a läuft das
Vorgarn in das Streckwerk b, von hier zu den Spindeln c c, mit den
Flügeln d, welche durch die am Fuß angebrachten
Kegelräder k in Umdrehung versetzt werden und dadurch dem Garn
Draht geben. Indem das Garn zugleich durch den hohlen
Flügelarm d und den Finger f auf die Spule e geleitet und
letztere um die Spindel vermittelst schiefer Kegelräder i
gedreht wird, wickelt es sich auf die Spule, welche aus einem
hölzernen Rohr besteht und behufs regelmäßiger
Bewickelung mit der sogen. Spulenbank (Wagen) g innerhalb der
Flügel auf und ab steigt, bis sie gefüllt ist, um nach
Abheben des Flügels von der Spindel abgezogen u. der
nächstfolgenden Maschine übergeben zu werden. Ein sehr
sinnreicher, aber komplizierter Mechanismus mit
Differenzialräderwerk (Differenzialflyer) regelt die
Aufwickelbewegung, welche sich nach jeder Garnschicht ändern
muß. - Nachdem das Vorgarn den letzten (Fein-) Flyer etwa in
der Dicke eines gewöhnlichen Bindfadens verlassen hat,
empfängt dasselbe die endgültige Streckung und Drehung
zur Verwandlung in Garn auf den Feinspinnmaschinen, die entweder
nach dem Prinzip des Spinnrades oder des Handrades (s. S. 148)
konstruiert sind und danach Watermaschinen oder Mule heißen.
Die Watermaschine (Fig. 14) wird immer doppelt gebaut, d. h. es ist
an derselben ein Träger (Aufsteckrahmen) für zwei Reihen
mit Vorgarn gefüllter Spulen a a, zwei Reihen Streckwerke b b
und Spindeln mit Flügeln und Spulen vorhanden. Das Garn geht
von a nach b, sodann gestreckt durch ein Führungsauge n nach
dem Flügel c und von diesem gedreht auf die Spule zwischen dem
Flügel zum Aufwickeln. Die 120 Spindeln n o werden von den mit
den Wellen g g sich drehenden Trommeln x x vermittelst Schnüre
s und Wirtel t 3600-4500mal in der Minute gedreht, während die
Spulenbank t mit den Stangen f f auf und nieder geht. Zu dem Zweck
werden die letztern in den Büchsen z und y geführt und
von den Schienen m m getragen, welche an Ketten k k hängen,
die über die Rollen r r laufen und an den Winkeln e e
befestigt sind, welche sich mit Rollen gegen eine Herzscheibe d
legen, die eine solche Form hat, daß sie bei ihrer
gleichmäßigen Drehung die Hebel und dadurch die Stangen
f f abwechselnd auf und ab bewegt. Die Aufwickelung des Garns
erfolgt durch ein Zurückbleiben der Spulen infolge einer
starken Reibung auf der Bank t. Sämtliche Bewegungen gehen von
einer der Wellen g aus, die direkt angetrieben wird, durch
Zahnräder die Bewegung dem Streckwerk und durch das Zahnrad 2,
Schnecke 3, Schneckenrad 4, Welle h und Schneckengetriebe 5 u. 6
der Herzscheibe d mitteilt. Während bei der Watermaschine
Streckung, Drehung und Aufwickelung gleichzeitig und ununterbrochen
vor sich gehen, sind bei der Mulemaschine diese Operationen
getrennt. Sie besteht nämlich (Fig. 15 der Tafel) aus einem
festen Gestell A mit Aufsteckrahmen für die mit Vorgarn
gefüllten Spulen a a sowie Streckwerk b und einem Wagen B mit
den Spindeln c, mit denen das Garn h verbunden ist. In der ersten
Periode fährt der Wagen etwa 2 m vom Gestell weg aus,
während sich sowohl die Streckwalzen b als die Spindeln c
drehen, um das Garn zu spinnen. In der nun folgenden zweiten
Periode fährt der Wagen dem Gestell zu ein, während das
Streckwerk stillsteht, um das gesponnene Garn aufzuwickeln, zu
welchem Zweck ein Draht gesenkt wird, der in Bügeln g
über sämtlichen Fäden der Maschine liegt und deshalb
auch durch Bewegung der Bügel g sämtliche (600-700)
Fäden in die zum Aufwickeln erforderliche Lage zu den Spindeln
bringt (Aufwindedraht). Bei den ersten Mulemaschinen führte
ein Arbeiter sämtliche beim Einfahren stattfindende Bewegungen
aus, weshalb die Zahl der gleichzeitig gesponnenen Fäden 300
nicht überschritt. Die jetzigen Mulemaschinen arbeiten
dahingegen mit wenig Ausnahmen selbstthätig (Selbstspinner,
Selfactor), indem nicht nur die Bewegungen, sondern namentlich die
so wichtige und äußerst schwierige Regulierung von einer
Stelle aus erfolgt; daher ist es möglich, sie mit 800-1100
Spindeln auszustatten. Einen Überblick über den
höchst komplizierten Mechanismus eines Selfaktors gewährt
Fig. 16 der Tafel. Die Transmissionsriemenscheibe I sitzt fest auf
der Welle A und dreht einerseits durch Kegelräder die Strecken
b, anderseits die große Schnurrolle R. Von b aus setzt sich
die Drehung fort durch die Räder 1, 2, 3, 4 auf die Scheibe M,
welche vermittelst der am Wagen B befestigten, durch M1 gespannten
Wagenschnur W den Wagen ausfährt. Gleichzeitig dreht die um R
und R1 gelegte, um Führungsrollen h und die Trommel f laufende
Schnur s s die Trommel f und somit durch Schnüre e e die
Spindeln c. Das Einfahren des Wagens erfolgt von der um A drehbaren
Riemenscheibe I I aus durch Stirn- und Kegelräder i k, Welle l
und Schnecke m vermittelst der zweiten um m1 gespannten Wagenschnur
w1, die sich auf die Schnecke aufwickelt, um abwechselnd die
Geschwindigkeit zu vergrößern und zu verkleinern, weil
der Wagen anfangs beschleunigt und dann verzögert wird. Zur
Bildung des Garnkörpers (Kötzer) senkt sich der Aufwinder
g, während ein zweiter, unten hinlaufender Draht g1
(Gegenwinder) die Fäden gespannt hält, damit sie keine
Knoten bekommen. Der Winder g wird dadurch bewegt, daß die
Stange o mit einer Nase unter die Zahnstange z schnappt und sich
dadurch hebt und senkt, daß ihre Rolle p auf einer an- und
absteigenden Schiene q q q (Formplatte) rollt; z
überträgt diese Vertikalbewegung durch ein Zahnrad auf
eine Welle, an welcher die Arme g befestigt sind. Beim Ausfahren
schnappt o wieder aus, wobei ein Gewicht in Wirkung tritt, das mit
der Kette r g hebt und z senkt. Zur Bewegung der Spindeln c zum
Zweck der Kötzerbildung dient der sogen. Quadrant Q, welcher
durch ein mit M1 verbundenes Zahnrad, das in den Zahnquadranten y1
eingreift, hin und her bewegt wird

l51

Spinnen (Flachsspinnerei etc.).

und diese Bewegung vermittelst der Kette t und
Zwischenräder auf die Trommel f überträgt. Durch die
Quadrantenschraube u u wird diese Aufwindebewegung aufs genaueste
geregelt, da durch sie der Angriffspunkt y der Kette beliebig
eingestellt werden kann. Neben den Water- und Mulemaschinen kommt
immer mehr die Ringspindelbank in Aufnahme, deren Wesen Fig. 17
erkennen läßt. Der Faden gelangt zu der Spule S von
einer Führungsöse a und einer kleinen Klammer b (Fliege),
welche den Kopf des Ringes r r umfaßt. Indem nun die Spindel
mit der Spule S durch den Wirtel w in Drehung versetzt wird,
erhält der Faden zwischen a und b Draht, während die
Fliege b zugleich auf dem Ring r r hinläuft und dadurch das
Aufwickeln des Fadens bewirkt. Die Verteilung des Fadens über
die ganze Spule erfolgt durch Auf- und Abbewegung der Ringbank R
wie bei der Watermaschine.

B. Flachspinnerei. Das Verspinnen des Flachses (s. d.) beginnt
damit, daß man Bündel des je nach der Feinheit des Garns
weniger oder mehr (bis fünfmal) gehechelten Flachses, sogen.
Risten, zu einem Band vereinigt, wozu die in Fig. 18 skizzierte
Anlegemaschine dient. Dieselbe besteht der Hauptsache nach aus zwei
Walzenpaaren bei C und A mit einem dazwischenliegenden
Hechelapparat E (Nadelstabstrecke). Das Einziehwalzenpaar C, dessen
Oberwalze o durch ein Gewicht q mit 150 kg auf die untere Walze
gepreßt wird, empfängt die auf einem Zuführtuch
regelmäßig ausgebreiteten Risten über die Platte b,
um sie den bei E sichtbaren, in der Pfeilrichtung bewegten
Hechelstäben zu übergeben, welche sie dem
Streckwalzenpaar A zutragen, dessen Oberwalze o mit 550 kg durch
das Gewicht q belastet ist. Da die Streckwalzen A sich schneller
drehen als C, so wird der Flachs nicht nur gestreckt, sondern auch
fortgesetzt gehechelt und zu einem Band vereinigt, das über
die sogen. Bandplatte B durch das Abzugswalzenpaar F in eine Kanne
geleitet wird. Zu bemerken ist noch, daß die Schaber n und m
die Oberwalzen, eine rauhe Walze mit rotierender Bürste die
untere Streckwalze von Fasern frei halten, daß ein Gewicht p
die untere Abzugswalze nachgiebig in der Schwebe hält, und
daß die Hechelstäbe ihre obere Vorwärts- und untere
Rückwärtsbewegung durch Schrauben erhalten
(Schraubenstrecke). Auf ganz ähnlichen Maschinen (Durchzug,
Flachsstreckmaschinen) mit immer feiner werdenden Hecheln erfolgt
dann ein weiteres Strecken und Duplieren der Bänder und
hierauf die Verwandlung in Vorgarn auf einer Vorspinnmaschine,
welche sich von dem Flyer (s. oben) nur durch das Streckwerk
unterscheidet, welches genau so eingerichtet ist wie bei der
Anlegemaschine. Zum Feinspinnen dienen ausschließlich
Watermaschinen, welche oft die Einrichtung haben, welche Fig. 19
zeigt. Bei a werden die Spulen mit Vorgarn aufgesteckt; b und d
sind die Streckwalzen mit Zwischenwalzen c c zum Leiten des Garnes;
die Flügelspindeln werden von der Schnurtrommel e durch die
Schnüre f und Wirtel g gedreht, die Spulen h stecken lose auf
den Spindeln und erhalten die zum Aufwickeln erforderliche Bremsung
durch eine mit dem Gewicht i belastete Schnur, welche in einer um
den untern Spulenrand laufenden Nute liegt. Das Heben und Senken
der Spulen erfolgt wie bei der oben beschriebenen Watermaschine. Um
den Flachsfasern im Augenblick des Zusammengehens die
eigentümliche Sturheit zu benehmen und dadurch ein sehr
glattes, schönes Garn spinnen zu können, führt man
jetzt ganz allgemein das Garn vor der Drehung durch einen Trog mit
etwa 80° warmem Wasser (Naßspinnen), der vor den Spindeln
liegt. Solche Garne müssen gehaspelt und dann noch getrocknet
werden.

C. Hanfspinnerei stimmt ganz mit der Flachsspinnerei
überein.

D. Hede- (Werg-) Spinnerei unterscheidet sich von der
Flachsspinnerei nur durch die Bildung des ersten Bandes, welche
nach Art der Baumwollspinnerei auf einer groben Walzenkarde
vorgenommen wird.

E. Jutespinnerei erfolgt nach zwei verschiedenen Methoden. Nach
der einen werden die 2-3 m langen Risten in kürzere, 760 mm
lange Teile zerschnitten und dann genau wie Flachs verarbeitet, d.
h. gehechelt, auf der Anlege in ein Band verwandelt, gestreckt,
dupliert, in Vorgarn übergeführt und auf Watermaschinen
trocken versponnen. Diese in England vorwiegend für feinere
Garne gebrauchte Methode liefert das sogen. gehechelte oder
Jute-Linen-Garn und verarbeitet nur ausgesuchte Fasern. Die zweite
Methode, welche in Deutschland und Österreich allgemein
eingeführt ist, liefert das sogen. kardierte oder Towgarn,
weil die Fasern auf Karden bearbeitet und in Hede (Tow) verwandelt
werden. In beiden Fällen geht dem Verspinnen eine
Vorbereitungsarbeit voran, welche ein Geschmeidigmachen der Fasern
bezweckt und darin besteht, daß man die aufgestapelten Risten
mit Wasser und Thran besprengt, um sie einzuweichen
(Einweichprozeß), und dann in einer Maschine quetscht, in der
20-40 Paar grob geriffelte Walzen auf einem horizontalen oder
cylindrischen Gestell nebeneinander liegen und infolge einer
drehenden Bewegung die Juteristen durchziehen, welche dabei derart
geknetet werden, daß sie diese Quetschmaschine weich und
geschmeidig verlassen. Nur die Wurzelenden bleiben mitunter hart
und müssen abgerissen werden, was auf der Schnippmaschine
geschieht, welche mit einer Hechelmaschine Ähnlichkeit hat.
Nach dem Quetschen gelangen die bandartig zusammenhängenden
Fasern auf eine Walzenkratze (Fig. 11) mit grobem Beschlag, um in
kurze Faser zertrennt zu werden, welche sich zu einem Band
vereinigen und in eine Kanne einlegen. Nach zweimaligem Kratzen
folgt das Duplieren und Strecken auf 3-5 Nadelstabstrecken (Fig.
18), darauf die Bildung des Vorgarns auf Flyern und das Feinspinnen
auf Watermaschinen (trocken), wie beim Flachsspinnen angegeben
ist.

F. Wollspinnerei umfaßt die Herstellung von Streichgarn,
Kammgarn und Halbkammgarn aus Wolle von verschiedener
Beschaffenheit (s. Wolle), welche zunächst gewaschen,
gespült und getrocknet wird. Die Streichwolle erfährt
sodann eine gründliche Auflockerung im Wolf, der als Schlag-
und Reißwolf angewendet wird. Ersterer hat in der Regel die
in Fig. 20 skizzierte Einrichtung. Auf zwei Wellen a a befinden
sich sechs Reihen von je sechs Stäben, welche mit den Wellen
in der Pfeilrichtung sich mit 500-600 Umdrehungen in der Minute
drehen, die durch das Tuch c zugeführte Wolle von dem
Walzenpaar d e empfangen, durcheinander schlagen und aus h
herauswerfen, während die Schmutzteile durch die Roste g f und
f e fliegen. Der Reißwolf (Fig. 21) besteht der Hauptsache
nach aus einer großen sich drehenden Trommel a, deren
Oberfläche mit 5 cm langen radialen Zähnen besetzt ist,
welche die auf das Zufuhrtuch z gelegte Wolle aus dem durch
Verteilungswalze u, Speisewalze m und Klaviatur o gebildeten
Speiseapparat herausreißen, zerteilen und bei q aus dem
Gehäuse werfen, während der Schmutz durch den Rost p in
den Raum k fällt. Nach dem Wolfen oder

152

Spinnen (Woll-, Seidenspinnerei; Geschichtliches).

während desselben wird die Streichwolle mit Olivenöl
oder Petroleumrückständen gefettet, damit sie geschmeidig
wird (Schmälzen). In diesem Zustand gelangt sie zum Krempeln,
Kardätschen oder Streichen auf die Kratzmaschine (Krempel), um
einen Pelz (Vlies, Fell) zu bilden, in dem die Fasern
regelmäßig angeordnet sind, und durch dessen Teilung
einzelne Bänder entstehen, die ohne weiteres Vorgarn liefern.
Zum Krempeln dienen ausschließlich Walzenkratzen, 2-4mal
hintereinander, welche mit einer Vorrichtung verbunden sind, die
das vom Hacker abgenommene Vlies in Bänder teilen.
Gewöhnlich besteht ein solcher Florteiler nach Fig. 22 aus
einer Anzahl (z. B. 120) Riemchen ohne Ende, welche abwechselnd um
die Walzen a und b sowie oqt und rpm laufen, das durch den Hacker K
von der Kammwalze T genommene Vlies c in 120 Bänder zerlegen
und diese durch A und B sowie Führer l auf Spulen leiten,
welche in vier Reihen C, D, E, F angeordnet sind. Die Apparate A
und B bestehen aus zwei kurzen Riemen ohne Ende, welche sich nicht
nur in der Richtung des Pfeils zum Transport der Bänder
drehen, sondern auch in der Richtung der Walzenachsen sehr schnell
hin und her bewegen und dadurch die Bänder kräftig rollen
(Würgeln, Nitscheln) und auf diese Weise sofort in Vorgarn
überführen, das ohne weiteres auf Mulemaschinen oder auf
der Ringbank zu Feingarn versponnen wird.

Die Kammwolle wird nach dem Entschweißen zuerst einem
Prozeß unterworfen, der die parallele Lage der Wollhaare, die
Ausscheidung kurzer Haare (Kämmlinge), die Bildung eines
Bandes (Kammzug) bezweckt und Kämmen genannt wird. Man benutzt
dazu entweder ein Paar heiß gemachter Handkämme
(Wollkämme, Fig. 23), indem man eine Portion wenig
geölter Wolle in einen der Kämme einschlägt, mit dem
zweiten kämmt und dann mit der Hand auszieht, dieselbe
zugleich in ein kurzes Band verwandelnd, das mit andern vereinigt
wird, oder die Kammmaschine, welche die Handarbeit in vollkommener
Weise nachmacht, aber sehr kompliziert ist. Das aus einzelnen
kurzen Zügen gebildete Band erhält eine weitere
Gleichförmigkeit durch Strecken und Duplieren auf sogen.
Igelstrecken, welche (Fig. 24) aus zwei Paar Streckwalzen A und B
besteht, zwischen welchen eine mit Stacheln besetzte Walze E
angebracht ist. Die Kammzüge treten aus Kannen D über die
Schiene a in die Strecke, werden von E zurückgehalten, um die
Fasern glatt zu streichen, im Trichter t vereinigt und durch das
Vorziehwalzenpaar C in die untergestellte Kanne D' geliefert. Zur
Entkräuselung und Entölung passieren sie dann in einer
Plättmaschine eine Seifenlösung und eine Reihe
heißer Walzen. Das Verspinnen der Streckbänder zu Garn
erfolgt stufenweise, indem erst Vorgarn auf dem Flyer oder einer
Strecke mit Würgelzeug (Fig. 13), darauf das Feingarn auf
Water- oder Mulemaschinen, neuerdings auch auf der Ringspindelbank
hergestellt wird. Die Halbkammgarnspinnerei, welche
hauptsächlich die Kämmlinge verarbeitet, benutzt zum
Anordnen der Fasern die Krempel und die Igelstrecken, zum
Vorspinnen die Strecke mit Würgelzeug und zum Feinspinnen die
Watermaschine.

G. Seidenspinnerei beschränkt sich auf die Verarbeitung von
Seidenabfall und heißt demgemäß auch
Florettspinnerei. Sie beginnt damit, daß man die Abfälle
(Strusi, Bourrette, Flockseide etc.) einem Macerationsprozeß
zur Zerstörung des Seidenleims unterwirft, wozu ein Verweilen
in warmem (60-70°) Wasser während 3-7 Tagen ausreicht,
dann folgt ein Waschen mit warmem Wasser in einem Stampfwerk, ein
Ausschleudern in einer Zentrifuge und ein Trocknen in luftigen,
warmen Räumen. Zur weitern Verarbeitung feuchtet man die Masse
mit Seifenwasser schwach an und öffnet sie in einer Art
Reißwolf. Von hier gelangen sie auf eine Kämmaschine zur
Abscheidung kurzer und zur Parallellegung der langen Fasern. Die
letztern werden auf einer Anlege (Fig. 18) gemischt und in Vliese
verwandelt, welche vermittelst einer sogen. Wattenmaschine (einer
Art Nadelstabstrecke) zu Bändern verzogen werden, die nunmehr
auf Nadelstabstrecken eine weitere Streckung und Duplierung
erhalten, um sodann auf einer Spindelbank mit Nadelstäben in
Vorgarn überzugehen, das auf Waterspinnmaschinen zu
Florettgarn fertig gesponnen wird. Der größte Teil der
Florettgarne kommt übrigens gezwirnt in den Handel.

Geschichtliches.

Das S. gehört zu den ältesten
Handbeschäftigungen, wie neben erhaltenen Resten von Geweben
aus gesponnenem Garn aus den Nachrichten der ältesten
Schriftsteller hervorgeht. Insbesondere nehmen Wollengewebe und
somit -Gespinste schon im Altertum einen hohen und unter allen
Gespinsten den ersten Rang an, denn unmittelbar auf die Bekleidung
mit Tierfellen folgt jene mit Geweben aus Wollgarn. Zum S. bediente
man sich derjenigen einfachen Geräte, die noch heutzutage bei
vielen Völkern angetroffen werden, nämlich des Wockens
oder Rockens und der Spindel in der oben beschriebenen Art, wie
besonders aus alten Vasenbildern (Textfig. 25) und
Wandgemälden zu entnehmen ist. Als Erfinderin der Wollarbeit
galt Athene und als Ort der Erfindung Athen. Auch die Zubereitung
des Flachses war im Altertum bekannt. 1530 erfand Joh. Jürgen
in Watenbüttel bei Braunschweig das Trittrad, welches langsam
Verbreitung fand. Im vorigen Jahrhundert tauchten die ersten
Bemühungen auf, den Spinnprozeß mittels Maschinen zu
vollziehen. Die wichtigste Erfindung, die der Streckwalzen, wurde
1738 Lewis Paul in England patentiert, der sie mit
Flügelspindeln des Spinnrades in Verbindung brachte und so die
erste Spinnmaschine 1741, die zweite mit 250 Spindeln 1743 durch
Esel in Bewegung setzte. Diese Maschine wurde von Arkwright in
vielen Teilen verbessert, sodann durch noch andre
Vorbereitungsmaschinen, Kratzmaschine mit Bandabgabe,
Streckmaschine mit Duplierung und eine Vorspinnmaschine,

152a

Spinnentiere.

Ufer-Spindelassel

(Pycnogonum littorale). 3/i

(Art. Ufer-Spindelassel.)

Bekränzte Webspinne (Theridium redimitum), nat. Gr a Eier,
b Augenstellung. (Art. Spinnentiere.)

Violettroter Holzbock

(Ixodes reduvius). 5/i.

(Art. Zecken.)

Krätzmilbe des Menschen

(Sarcoptes scabiei). 80/i.

(Art. Milben.)

Bücherskorpion (Chelifer cancroides), stark
vergrößert.

(Art. Bücherskorpion.)

Feldskorpion (Scorpio occitanus) uch mit den Kämmen u.
Luft

Nat. Gr. (Art. Skorpione.)

Haarbalgmilbe

(Demodex folliculorum)

600/i. (Art. Milben.)

Männchen der Apulischen Tarantel-

(Tarantula Apuliae). Nat. Gr. (Art. Tarantel.)

Männchen der Gestreckten Strickerspinne (Tetragnatha
extensa), nat. Gr. a Augenstellung.

(Art. Spinnentiere.)

Käsemilbe (Tyroglyphus siro). 80/i.

(Art. Milben.)

^A«,Jema), nat. Gr. b Augenstellung, inke
Kieferfühler der Kreuzspinne T. (Art. Kreuzspinne.)

a Weibliche Kreuzspinne

c Fußspitze der Hausspinne

Weibchen der Hausspinne (Tegenaria domestica), nat. Gr. a
Augenstellung.

(Art. Spinnentiere.)

Gemeine Wasserspinne (Argyroneta aquatica), etwas
vergrößert, a Nest, b Augenstellung. (Art.
Spinnentiere.)

Weibchen der Umherschweifenden Krabbenspinne (Thomisus
viaticus), im Hintergrund Fäden schießend. B/2. (Art.
Spinnentiere.)

Meyers Konv.-Lexikon, 4. Aufl.

Bibliographisches Institut in Leipzig.

Zum Artikel »Spinnentiere«..

153

Spinnendistel - Spinnentiere.

ergänzt und 1775 durch Wasserkraft betrieben, woher ihre
Bezeichnung Watermaschine rührt. Um dieselbe Zeit erfand
Hargreaves in Standhill die nach seiner Tochter genannte
Jennymaschine, die statt der Streckwalzen die sogen. Presse (zwei
zusammengepreßte horizontale Latten) besaß, welche das
Band festhielt, während die nach Art des Handrades
konstruierten Spindeln vertikal auf einem bewegten Wagen standen,
das Ausziehen und Drehen besorgten und beim
Rückwärtsfahren das gedrehte Produkt aufwickelten. Im J.
1779 endlich vereinigte Crompton in Firnwood das Streckwerk der
Watermaschine mit dem Spinnwerk der Jennymaschine zu jener
Maschine, welche unter dem Namen Mule (Maulesel, als Bastard
zwischen der Water- und Jennymaschine), später, namentlich von
Roberts zu Manchester 1825, als Selfaktor ausgebildet, als die
größte Erfindung auf dem Gebiet der Spinnerei zu gelten
hat, da sie das S. der feinsten Garne gestattet, wozu die
Watermaschine ungeeignet ist. Um das Jahr 1830 erfand Jenks in
Amerika die sogen. Ringspindel, welche die Grundlage der immer mehr
in Aufnahme kommenden Ringspindelbank bildet. Erst nachdem die
mechanische Baumwollspinnerei zu hoher Entwickelung gekommen war,
vollzog sich ein ähnlicher Prozeß auf den Gebieten der
Flachs- und Wollspinnerei, wenn auch viel langsamer, weil die
Beschaffenheit dieser Materialien bezüglich der mechanischen
Verarbeitung bedeutend größere Schwierigkeiten bietet,
die zum Teil noch jetzt nicht überwunden sind. Die wichtigste
Erfindung machte hier Girard in Paris durch Lösung der von
Napoleon I. 1810 gestellten Ausgabe, "den Flachs auf Maschinen zu
spinnen", indem er noch in demselben Jahr ein Patent auf eine
Flachsfeinspinnmaschine erhielt, welche in der Anwendung von
Hechelkämmen zum Ausziehen als auch in der Benutzung von
Wasser (Naßspinnen) die Lösung des Problems darbot und
in der Grundlage unverändert geblieben ist. In der
Kammwollspinnerei war die Erfindung der Kämmmaschine
epochemachend, welche nach unzähligen, zum Teil
beachtenswerten Versuchen erst 1829 von Opelt zu Hartau und Wieck
zu Schlema brauchbare Gestalt annahm, bis einerseits Lister und
Donisthorpe (1850), anderseits Heilmann und Schlumberger zu
Mühlhausen (1851) die schwierige Aufgabe des
Maschinenkämmens auf zwei verschiedenen Wegen glänzend
lösten. Vgl. B. Nieß, Baumwollspinnerei (2. Aufl., Weim.
1885); Leigh, Science of modern cotton spinning (3. Aufl., Lond.
1875, 2 Bde.); Grothe, Technologie der Gespinstfasern, Bd. 1 (Berl.
1877); Lohren, Kämmmaschinen (Stuttg. 1875); Kronauer, Atlas
der Spinnerei und Weberei (2. Aufl., Hannov. 1878); Marshall, Der
praktische Flachsspinner (deutsch, Weim. 1888); Pfuhl, Die Jute und
ihre Verarbeitung (Berl. 1888); Hoyer, Spinnerei und Weberei (2.
Aufl., Wiesb. 1888).

Spinnendistel, s. Cnicus.

Spinnentiere (Arachniden, Arachnida, hierzu Tafel
"Spinnentiere"), Klasse der Gliederfüßler (Arthropoden),
meist kleine Tiere von sehr mannigfacher Gestalt. Kopf und Brust
sind bei ihnen gewöhnlich zu Einem Stück, dem sogen.
Cephalothorax, verschmolzen. Die vordern, als Kiefer verwendeten
Gliedmaßen des Kopfes, die Kieferfühler, entsprechen
vielleicht den Fühlern der Insekten, dienen aber nicht als
solche, sondern als Kiefer und enden oft mit einer Schere
(Skorpione) oder Klaue (Spinnen); auch das zweite
Gliedmaßenpaar, die Kiefertaster, hat im allgemeinen
ähnlichen Bau und ähnliche Verwendung. Es folgen dann
vier Paar Beine, von denen nur selten das erste als Taster und
Kiefer zugleich fungiert, gewöhnlich jedoch gleich den
übrigen zum Laufen dient. Diese Beine bestehen aus sechs oder
sieben Gliedern. Der Hinterleib ist äußerst verschieden
und hat seine Zusammensetzung aus Ringen (Segmenten) nur noch bei
den Skorpionen und ihren nächsten Verwandten bewahrt, ist bei
den Spinnen einfach rundlich und durch einen dünnen Stiel mit
dem Cephalothorax verbunden, bei den Milben sogar mit diesem
verschmolzen. Er trägt keine Beine. Auch der innere Bau ist
bei den einzelnen Ordnungen der S. sehr verschieden. Das
Nervensystem ist meist in Gehirn und Bauchmark geschieden,
letzteres auch wohl in eine Reihe Nervenknoten (Ganglien) getrennt,
gewöhnlich jedoch zu einer einzigen Nervenmasse verschmolzen.
Die Augen sind unbeweglich und stehen, 2-12 an der Zahl, auf der
Oberseite des Cephalothorax; Gehörorgane sind nicht mit
Sicherheit bekannt; zum Tasten dienen die Kiefertaster und die
Enden der Beine. Der Darmkanal läuft meist geradlinig vom Mund
zum After und zerfällt in eine engere Speiseröhre und
einen weitern, meist mit seitlichen Blindsäcken versehenen
Darm; häufig läßt sich an letzterm der Anfang als
Magen unterscheiden. Speicheldrüsen, Leber und Harnorgane in
verschiedener Form sind fast immer vorhanden. Kreislaufsorgane
fehlen nur bei den niedersten Milben, bei den übrigen liegt
das Herz gewöhnlich als mehrkammeriges
Rückengefäß im Hinterleib; es besitzt seitliche
Spaltöffnungen zum Eintritt des Bluts und häufig
Arterienstämme am vordern und hintern Ende. Besondere
Atmungsorgane fehlen gleichfalls bei manchen Milben völlig und
sind im übrigen Tracheen (s. d.), in welche die Luft durch
Luftlöcher (Stigmen) eintritt. Mit Ausnahme der Tardigraden
(s. unten) sind die S. getrennten Geschlechts. Die Männchen,
oft durch äußere Merkmale unterschieden, besitzen
paarige Hodenschläuche, aber in der Regel keine eignen
Begattungsorgane, so daß mitunter so entfernt gelegene
Gliedmaßen wie die Kiefertaster der Spinnen die
Übertragung des Samens auf das Weibchen übernehmen.
Letzteres hat einen unpaaren oder paarige Eierstöcke, deren
Eileiter meist gemeinschaftlich am Anfang des Hinterleibs
ausmünden. Die meisten S. legen Eier, die sie zuweilen in
Säcken bis zum Ausschlüpfen der Jungen mit sich
herumtragen. Letztere haben meist schon die Form der ausgewachsenen
Tiere; wenige durchlaufen eine wahre Metamorphose. Die Lebensdauer
der S. ist nicht wie die der Insekten eine beschränkte; sie
häuten sich auch noch nach Eintritt der Zeugungsfähigkeit
in bestimmten Zeiträumen und sind zu wiederholten Malen
fortpflanzungsfähig. Sie besitzen ein zähes Leben, so
daß manche monatelang ohne Nahrung existieren können,
und eine bedeutende Reproduktionskraft, welche sich z. B. im
Wiederersatz verlorner Beine äußert. Sie nähren
sich meist vom Raub andrer Gliedertiere, besonders der Insekten,
die sie meist nur aussaugen; unter den niedrigsten Formen leben
einige parasitisch an Wirbeltieren; wenige nähren sich von
pflanzlichen Säften. Fast sämtlich sind sie Landtiere,
welche sich vielfach am Tag verborgen halten und nur nachts auf
Raub ausgehen. Sie sind über den ganzen Erdkreis verbreitet,
doch finden sich in den heißern Zonen die meisten und
größten Arten. Die nicht besonders zahlreichen fossilen
Arten gehen bis in das Steinkohlengebirge zurück (z. B. die
Skorpiongattung Cyclophthalmus, s. Tafel "Steinkohlenformation
I").

Man teilt die S. in sechs oder mehr Ordnungen ein (die
früher hierher gestellten Krebsspinnen, Pan-

154

Spinnentiere.

topoda oder Pycnogonidae, sind als selbständige Gruppe
nicht mit eingerechnet), nämlich: 1) Gliederspinnen
(Arthrogastra), welche durch ihren gegliederten Hinterleib und auch
den innern Bau noch am meisten der ursprünglichen Form der S.
zu entsprechen scheinen, während alle übrigen S. mehr
oder weniger abgeändert sind. Zu ihnen gehören unter
andern die Skorpione (s. Gliederspinnen). 2) Echte Spinnen oder
Spinnen im engern Sinn (s. unten). 3) Milben (Acarina), schon stark
rückgebildete Formen, die aber noch deutlich ihre
Zugehörigkeit zu den Spinnentieren verraten. 4) Tardigraden.
5) Zungenwürmer, beides, namentlich aber die letztern,
Ordnungen von eigentümlichstem Bau.

Die Tardigraden (Tardigrada) sind kleine, sich langsam bewegende
Tiere mit wurmartigem Körper, der nicht in Cephalothorax und
Abdomen geschieden ist, mit saugenden und stechenden Mundteilen und
vier Paar kurzen, stummelförmigen Beinen. Herz und Tracheen
fehlen ganz. Sie sind Zwitter und legen die Eier während der
Häutung in die abgeworfene Haut ab; sie leben zwischen Moos
und Algen, auf Ziegeln in Dachrinnen, zum Teil auch im Wasser,
nähren sich von kleinen Tieren und können nach langem
Eintrocknen durch Befeuchten wieder ins Leben gerufen werden.
Hierher gehören nur wenige Arten, unter andern das
Bärtierchen (Arctiscon tardigradum).

Die Zungenwürmer oder Pentastomiden (Linguatulidae),
früher allgemein zu den Eingeweidewürmern gerechnet, sind
durch Parasitismus außerordentlich rückgebildete,
milbenartige S. mit wurmförmigem, geringeltem Körper,
verkümmerten Mundwerkzeugen und Beinen, an deren Stellen zwei
Paar Klammerhaken getreten sind, ohne Augen und ohne besondere
Atmungs- und Kreislaufsorgane, mit einfachem Darm. Beide
Geschlechter (das Weibchen ist bedeutend größer als das
Männchen) hausen im erwachsenen Zustand in den Luftwegen von
Warmblütern und Reptilien. Das hierher gehörige
Pentastomum taenioides Rud. (Textfig. 1), dessen Männchen 8 cm
und dessen Weibchen nur 2 cm lang wird, lebt in den Nasen-, Stirn-
und Kieferhöhlen des Hundes und Wolfs; seine Embryonen
gelangen mit dem Nasenschleim auf Pflanzen und von da in den Magen
der Kaninchen, Hasen, Ziegen, Schafe, seltener Rinder und Katzen,
auch wohl des Menschen; sie schlüpfen aus, durchbohren die
Darmwandungen, gehen in die Leber, kapseln sich hier ein und
durchlaufen nach Art der Insektenlarven eine Reihe von
Verwandlungen, durchbohren später die Kapsel und gelangen in
die Leibeshöhle ihrer Wirte, kapseln sich aber, wenn sie
daraus nicht bald befreit werden, wieder ein und sterben ab (sie
sollen indes auch durch Lunge und Luftröhre auswandern).
Gelangen sie mit dem Fleisch ihres Wirtes in die Rachenhöhle
des Hundes, so dringen sie in die benachbarten Lufträume und
werden in 4-5 Monaten geschlechtsreif. Mit zahlreichen Pentastomen
behaftete Hunde zeigen oft starke Anfälle von Tob- und
Beißsucht, die leicht mit Tollwut verwechselt werden
können. Der junge Zungenwurm, früher als eigne Art (P.
denticulatum, Textfig. 2) beschrieben, kann in Lunge und Leber
seines Wirtes furchtbare Verheerungen anrichten, auch bei
zahlreichem Auftreten den Tod veranlassen.

Die Spinnen oder Webspinnen (Araneina) haben einen
ungegliederten, gestielten und stark hervortretenden Hinterleib.
Ihre großen Kieferfühler enden mit einer wie die Klinge
eines Taschenmessers einschlagbaren Klaue, an deren Spitze der
Ausführungsgang einer Giftdrüse mündet, deren Saft
in die durch die Klaue geschlagene Wunde fließt und kleinere
Tiere fast augenblicklich tötet. Die Unterkiefer tragen einen
mehrgliederigen Taster, beim Weibchen von der Form eines
verkürzten Beins, beim Männchen mit aufgetriebenem, als
Begattungsorgan dienendem Endglied. Die vier meist langen,
übrigens bei den einzelnen Gattungen sehr verschieden gebauten
Beinpaare enden mit zwei kammartig gezahnten Krallen, oft noch mit
kleiner unpaarer Afterkralle oder einem Büschel gefiederter
Haare. An der Bauchseite des Hinterleibs liegt die
Geschlechtsöffnung, und seitlich von ihr befinden sich die
beiden Spaltöffnungen der sogen. Lungensäckchen,
öfters auch noch ein zweites Stigmenpaar. Den After umgeben am
Ende des Hinterleibs vier oder sechs Spinnwarzen, aus denen die
Absonderung der Spinndrüsen hervortritt. Letztere sind
birnförmige, cylindrische oder gelappte Schläuche; ihr
Sekret gelangt durch Hunderte feiner Röhrchen nach
außen, erhärtet an der Luft schnell zu einem Faden und
wird unter Beihilfe der Fußklauen zu dem bekannten Gespinst
verwebt. Das Nervensystem besteht aus dem Gehirn und aus einer
gemeinsamen Brustganglienmasse. Hinter dem Stirnrand stehen acht,
seltener sechs kleine Punktaugen in einer nach den Gattungen und
Arten verschiedenen Anordnung. Der Darmkanal zerfällt in
Speiseröhre, Magen mit fünf Paar Blindschläuchen und
Darm, in welchen die Lebergänge und zwei verästelte
Harnkanäle münden. Der Lebersaft wirkt ähnlich dem
der Bauchspeicheldrüse der höhern Wirbeltiere. Die
Atmungsorgane sind meist eigentümliche sogen.
Fächertracheen oder Tracheenlungen (s. Tracheen), auch
Lungensäckchen genannt; doch finden sich außerdem auch
wohl noch gewöhnliche Tracheen. Das Blut fließt aus
einem pulsierenden, im Hinterleib gelegenen
Rückengefäß durch Arterien nach den
Gliedmaßen und dem Kopf, umspült zurückkehrend die
Lungensäckchen und tritt durch drei Paar seitliche
Spaltöffnungen in das Rückengefäß zurück.
Alle Spinnen legen Eier und tragen sie häufig in besondern
Gespinsten mit sich herum. Die Männchen haben einen Hinterleib
von geringerm Umfang als die Weibchen; das verdickte

154a

Spinnfaserpflanzen.

Cannabis sativa (Hanf), a Weibliche uud b männliche
Pflanze. (Art. Hanf.)

Meyers Konv.-Lexikon, 4. Aufl.

Bibliographisches Institut in Leipzig.

Zum Artikel »Spinnfaserpflanzen«.

155

Spinner - Spinnfasern,

Endglied der Kiefertaster ist löffelförmig
ausgehöhlt und enthält einen spiralig gebogenen Faden
nebst hervorstreckbaren Anhängen. Bei der Begattung füllt
das Männchen dies Glied mit Samen und führt es in die
weibliche Geschlechtsöffnung ein, wo sich ein besonderes
Behältnis zur Aufbewahrung des Samens (Samentasche) befindet.
Zuweilen leben beide Geschlechter friedlich nebeneinander in
benachbarten Gespinsten oder selbst eine Zeitlang in demselben
Gespinst; in andern Fällen stellt das stärkere Weibchen
dem schwächern Männchen wie jedem andern Tier nach, und
selbst bei der Begattung ist dieses gefährdet. Die
Entwickelung im Eie ist insofern interessant, als der Embryo eine
Zeitlang einen deutlich aus 10 bis 12 Segmenten bestehenden
Hinterleib besitzt, an dem sich auch die Anlagen von
Gliedmaßen zeigen, die aber im weitern Verlauf samt der
Gliederung wieder verschwinden. Die ausschlüpfenden Jungen
erleiden keine Metamorphose, bleiben aber bis nach der ersten
Häutung im Gespinst der Eihüllen. - Alle Spinnen
nähren sich vom Raub: die vagabundierenden überfallen die
Tiere im Lauf oder Sprung; andre bauen Gespinste, welche bei den
verschiedenen Gattungen sehr wesentlich voneinander abweichen und
zum Fang von Insekten dienen; oft finden sich in der Nähe
derselben röhren- oder trichterartige Verstecke zum Aufenthalt
der Spinnen. Die meisten Spinnen ruhen am Tag und jagen in der
Dämmerung. Junge Spinnen erzeugen im Herbst lange Fäden
(sogen. Alterweibersommer, s. d.), mittels welcher sie sich hoch in
die Luft erheben, vielleicht um sich zur Überwinterung an
geschützte Orte tragen zulassen.

Man kennt mehrere tausend Arten Spinnen; fossil finden sie sich
namentlich in Bernstein eingeschlossen vor. Man ordnet sie in zwei
größere Gruppen: 1) Vierlunger (Tetrapneumones), mit 4
Lungensäcken und 4 Stigmen, 4, selten 6 Spinnwarzen. Hierher
nur die Familie der Vogelspinnen (Theraphosidae), s. Vogelspinne.
2) Zweilunger (Dipneumones), mit 2 Lungensäcken und 2 oder 4
Stigmen (in diesem Fall führt das hintere Paar zu
Tracheenstämmen), stets 6 Spinnwarzen. Sie zerfallen in
mehrere kleinere Gruppen: a) Springspinnen (Saltigradae), b)
Wolfsspinnen (Citigradae), unter andern mit der Gattung Lycosa
(Tarantel, s. d.), c) Krabbenspinnen (Laterigradae), unter andern
mit der Gattung Thomisus (umherschweifende Krabbenspinne, T.
viaticus C. L. Koch), d) Röhrenspinnen (Tubitelariae), zu
denen Tegenaria (Hausspinne, T. domestica L.) und Argyroneta
(gemeine Wasserspinne, A. aquatica L.) gehören, e) Webspinnen
(Retitelariae) mit der Gattung Theridium (bekränzte Webspinne,
T. redimitum L.), f) Radspinnen (Orbitelariae) mit der Gattung
Tetragnatha (gestreckte Strickerspinne, T. extensa Walck.) und
Epeira (Kreuzspinne, s. d.).

Vgl. Walckenaer und Gervais, Histoire naturlle des Insectes
aptères (Par. 1836-47, 4 Bde.); Walckenaer, Histoire
naturelle des Aranéides (das. u. Straßb. 1806); Hahn
und Koch, Die Arachniden (Nürnb. 1831-49, 16 Bde.); Koch,
Übersicht des Arachnidensystems (das. 1837-50); Lebert, Bau
und Leben der Spinnen (Berl. 1878).

Spinner (Bombycidae), Familie aus der Ordnung der
Schmetterlinge (s. d.).

Spinnerin am Kreuz, eine von H. v. Puchsbaum 1451 erbaute
gotische Denksäule südlich vor Wien (s.
Betsäulen).

Spinnfasern (hierzu Tafel "Spinnfaserpflanzen"),
vegetabilische oder animalische Gebilde, die sich zur Verarbeitung
auf Gespinste und Gewebe eignen und daher fest, geschmeidig und
womöglich bleichbar sein müssen. Die Zahl der tierischen
S. ist verhältnismäßig gering. Von
größerer Bedeutung sind nur Wolle, Seide und die Haare
einiger Ziegen, des Alpako u. der Vicunna, das Kamelhaar und
Pferdehaar. Viel größer ist die Zahl der vegetabilischen
S., welche auch in ihrer Natur und Beschaffenheit viel mehr
voneinander abweichen. Wir finden darunter Haargebilde,
Gefäßbündel und
Gefäßbündelbestandteile. Die erstern sind fast
ausschließlich Samenhaare, wie die Baumwolle, die Wolle der
Wollbäume und die vegetabilische Seide; viele S. setzen sich
aus den Gefäßbündeln der Blätter, Stämme
oder Wurzeln monokotyler Pflanzen zusammen, wie der
neuseeländische Flachs, die Agavefaser, die Aloefaser und die
Ananasfaser, der Manilahanf und die Tillandsiafaser. Am
häufigsten werden aber Gefäßbündelbestandteile
dikotyler Pflanzen als S. benutzt. Hanf, Flachs, Jute, Sunn etc.
sind Bastbündel oder Fragmente von solchen aus den
Gefäßbündeln der Stengel der betreffenden
Stammpflanzen. Die Farbe der S. ist sehr verschieden: Schwarz,
Braun, bei den vegetabilischen ins Gelbe, Grüne, Graue
geneigt, auch Weiß; sie sind glanzlos bis
seidenglänzend, zum Teil sehr hygroskopisch, so daß
wenigstens bei den animalischen (Seide, Wolle) im Handel der
Wassergehalt der Ware in besondern Anstalten
(Konditionierungsanstalten) festgestellt zu werden pflegt. Aber
auch Baumwolle, welche lufttrocken 6,5 Proz. Feuchtigkeit
enthält, kann über 20 Proz., Manilahanf sogar über
40 Proz. Wasser aufnehmen. Die Hygroskopizität der S. wechselt
bei den Kulturvarietäten einer und derselben Pflanze und
steigt bisweilen bei derselben Faser, wenn diese beim Lagern an der
Luft dunkler wird. Über die Festigkeit der S. liegen
vergleichbare Angaben bis jetzt nicht vor; weitaus am festesten ist
Seide, die übrigen zeigen die mannigfachsten Abstufungen der
Zerreißbarkeit. Die chemische Zusammensetzung der
vegetabilischen S. ist eine sehr gleichartige; die Hauptsubstanz
bildet überall Cellulose, und die Fasern, welche nur aus
letzterer bestehen, sind biegsam, geschmeidig und fest,
während diejenigen, bei denen außer Cellulose noch
Holzsubstanz oder ähnliche Stoffe auftreten, spröde und
brüchig erscheinen und erst nach Entfernung derselben weicher
und biegsamer werden. Eine solche Vervollkommnung der Fasern wird
z. B. durch den Prozeß des Bleichens erreicht; doch ist die
weiße Farbe einer Faser keineswegs ein Beweis, daß sie
frei von Holzfaser sei. Selbst sehr geringe Mengen von letzterer
kann man durch Betupfen mit einer Lösung von schwefelsaurem
Anilin nachweisen, welche die Holzsubstanz bräunt. Alle S.,
die der Hauptmasse nach aus Cellulose bestehen, werden durch Jod
und Schwefelsäure blau gefärbt und durch
Kupferoxydammoniak aufgelöst; die übrigen, denen
größere Mengen von Holzsubstanz oder andern organischen
Stoffen anhaften, werden durch ersteres Reagens gelb oder braun
oder grün bis blaugrün gefärbt und durch
Kupferoxydammoniak entweder nicht verändert, oder nur unter
mehr oder minder deutlicher Quellung gebläut. Alle S.
enthalten mineralische Stoffe und lassen daher beim Verbrennen
Asche zurück. Die tierischen S. weichen in ihrer
Zusammensetzung vollständig von den vegetabilischen ab: sie
enthalten sämtlich Stickstoff und unterscheiden sich sehr
bestimmt von den vegetabilischen durch ihr Verhalten beim
Verbrennen, indem sie vor der Flamme gleichsam schmelzen und unter
Verbreitung eines übeln Geruchs eine schwammige Kohle
hinterlassen, während die Pflan-

156

Spinnmaschine - Spinola.

zenfasern bis auf die Asche vollständig und ohne Geruch
verbrennen. Eine Unterscheidung der einzelnen tierischen und
vegetabilischen S. ist nur durch methodische Prüfung mittels
des Mikroskops und chemischer Reagenzien möglich; letztere
aber leisten im allgemeinen für die rohen Fasern nicht viel
und für die gebleichten, welche sämtlich aus reiner
Cellulose bestehen, naturgemäß sehr wenig oder
nichts.

Pflanzen, welche zur Darstellung von Gespinsten taugliche Fasern
liefern, finden sich in zahlreichen Familien und bilden, soweit sie
größere Wichtigkeit besitzen, den Gegenstand
ausgedehnter Kulturen. Die wichtigsten Spinnfaserpflanzen (vgl.
beifolgende Tafel) gehören zu den Malvaceen (Gossypium-Arten
liefern die Baumwolle, Hibiscus-Arten den Gambohanf; auch sind
Abelmoschus tetraphyllus, Sida retusa, Thespesia lampas und Urena
sinuata zu erwähnen), den Kannabineen (Hanf von Cannabis
sativa), Lineen (Flachs, Linum usitatissimum), Tiliaceen (Jute von
Corchorus-Arten), den Urtikaceen (Chinagras und Ramé von
Boehmeria-Arten, Nesselfasern von Urtica-Arten), den Palmen
(Arenga, Caryota, Piassava von Attalea funifera, Kokosfaser von
Cocos nucifera etc.), den Musaceen (Manilahanf von Musa-Arten), den
Bromeliaceen (Agavefasern von Agave-Arten, Ananasfaser von Ananassa
sativa, Silkgras von Bromelia karatas, Tillandsiafaser von
Tillandsia usneoides), den Asphodeleen (neuseeländischer
Flachs von Phormium tenax), den Papilionaceen (Sunn von Crotalaria
juncea, auch Spartium-Arten). Erwähnung verdienen ferner: die
Bombaceen mit den Bombax-Arten Eriodendron anfractuosum und Ochroma
Lagopus, die Datisceen mit Datisca cannabina, die Kordiaceen mit
Cordia latifolia, die Asklepiadeen mit Beaumontia grandiflora,
Calotropis gigantea, Asclepias-Arten etc., welche sämtlich
vegetabilische Seide liefern, die Moreen mit Broussonetia-Arten,
die Pandaneen mit Pandanus odoratissimus und die Gramineen mit dem
Espartogras (Stipa tenacissima). Weitaus die größte
Bedeutung von allen haben aber Baumwolle, Flachs und Hanf, welchen
sich noch die Jute anschließt. Die übrigen
Spinnfaserpflanzen, zum Teil seit alter Zeit in Gebrauch, haben in
der neuern Industrie doch erst angefangen, einen Platz sich zu
erobern, was der Jute, in gewissem Grad auch dem Chinagras,
Ramé, der Piassava, der Agavefaser, dem Manilahanf, der
Kokosfaser und einigen andern bereits gelungen ist und
voraussichtlich noch weiter gelingen wird. Beherrscht Nordamerika
durch seine Baumwolle das ganze Gebiet, so wird es doch an
Mannigfaltigkeit der dargebotenen Fasern weit übertroffen von
Asien, speziell von Indien, woher wir wohl die wichtigsten
Bereicherungen auch ferner noch zu erwarten haben. Vgl. Royle, The
fibrous plants of India (Lond. 1855); Wiesner, Beiträge zur
Kenntnis der indischen Faserpflanzen (Sitzungsberichte der Wiener
Akademie, Bd. 62); Derselbe, Rohstoffe des Pflanzenreichs (Leipz.
1873); Richard, Die Gewinnung der Gespinstfasern (Braunschw.
1881).

Spinnmaschine s. Spinnen, S. 148 f.

Spinnrad s. Spinnen, S. 148 f.

Spinnstube (auch Lichtstube), der ehemals auf dem flachen
Land und namentlich in den Gebirgsgegenden weitverbreitete
Gebrauch, die langen Winterabende gemeinsam in geselliger
Handarbeit hinzubringen. Die S. wird abwechselnd auf dem einen oder
andern Hof abgehalten, die Frauen und Mädchen spinnen, die
Burschen machen Musik, oder es werden Volkslieder gesungen, Hexen-
und Gespenstergeschichten erzählt und allerlei Kurzweil dabei
getrieben. Wegen der dabei vorkommenden Ausschreitungen in
sittlicher Beziehung mußten in verschiedenen Ländern
"Spinnstubenordnungen", d. h. polizeiliche Regelungen
bezüglich der Zeit und Dauer des Beisammenseins, erlassen
werden, ja im Bereich des ehemaligen Kurhessen wurden sie bereits
1726 gänzlich verboten. In Nachahmung dieser alten Dorfsitte
wurden im Palast Emanuels d. Gr. zu Evora, wo die glänzendste
Periode des portugiesischen Hoflebens sich abspielte, die von
mehreren Dichtern geschilderten "portugiesischen Spinnstuben"
(Seroëns de Portugal) abgehalten.

Spinnwebenhaut (Arachnoïdea), die mittlere Hirnhaut
(s. Gehirn, S. 2).

Spinnwurm, s. Wickler.

Spinola, 1) Ambrosio, Marchese de los Balbazes, span.
General, geb. 1571 zu Genua aus altem ghibellinischen Geschlecht,
zeichnete sich seit 1599 mehrfach in den Diensten König
Philipps III. von Spanien aus und unterstützte mit einem Korps
von 9000 Mann alter italienischer und spanischer Truppen, nach Art
der frühern Condottieri, den Erzherzog Albrecht von
Österreich bei der Belagerung von Ostende (1602-1604). Hierauf
zum Generalleutnant und Kommandierenden aller in den Niederlanden
kämpfenden spanischen Truppen ernannt, stand er seit 1605 dem
Prinzen Moritz von Oranien in Flandern gegenüber; doch
vermochte keiner einen wesentlichen Vorteil zu erlangen. 1620 von
Spanien zur Unterstützung des Kaisers Ferdinand II. gegen die
protestantischen Reichsfürsten abgesandt, drang er im August
an der Spitze von 23,000 Mann in die Pfalz ein und eroberte viele
Städte, ward aber 1621 in die Niederlande berufen, wo er
wieder gegen Moritz kämpfte. Durch Entlassung der meuterischen
italienischen Truppen geschwächt, konnte er den Krieg trotz
der Eroberung Jülichs (1622) nur lau fortsetzen und erst im
Sommer 1624 die Belagerung von Breda unternehmen, welchen Platz er
2. Juni 1625 endlich zur Übergabe zwang. Seitdem
kränkelnd, mußte er den Oberbefehl niederlegen. Nur noch
einmal trat er 1629 in Italien auf, indem er in dem Streit um das
Erbe des Markgrafen von Mantua die Franzosen aus Montferrat
vertrieb und sie in Casale einschloß. Er starb 25. Sept. 1630
in Castelnuovo di Scrivia. Vgl. Siret, S., épisode du temps
d'Albert et d'Isabelle (Antwerp. 1851).

2) Christoph Rojas de, Vertreter des Gedankens der Union
zwischen Katholiken und Protestanten, aus Spanien gebürtig,
trat in den Franziskanerorden, ward 1685 Beichtvater der
österreichischen Kaiserin und 1686 Bischof von
Wiener-Neustadt. Seine Unionspläne, zu deren Durchführung
er die meisten deutschen Residenzen (1676 und 1682) aufsuchte,
fanden Anklang am hannöverschen Hof; der Philosoph Leibniz und
der Abt Molanus ließen sich in nähere Verhandlungen mit
ihm ein (1683). Seine Schrift "Regulae circa christianorum omnium
ecclesiasticam reunionem" bot als Zugeständnisse von
katholischer Seite an: deutschen Gottesdienst, Laienkelch,
Priesterehe, Aufhebung der Tridentiner Beschlüsse bis zum
Zusammentritt eines neuen Konzils etc., forderte dagegen von den
Protestanten Unterordnung unter die katholische Kirchenverfassung
nebst Anerkennung des päpstlichen Primats. Gegen diese Basis
der Verhandlungen erklärte sich Bossuet, während Innocenz
XI. dieselbe anzunehmen nicht abgeneigt war. Der Tod Spinolas
(1695) raubte diesem unionistischen Unternehmen seinen ebenso
tiefreligiösen wie geschäftsgewandten Leiter.

157

Spinös - Spinoza.

Spinös (lat.), dornig; schwer zu behandeln.

Spinoza (eigentlich d'Espinosa), Baruch (Benedikt),
berühmter Philosoph, geb. 24. Nov. 1632 zu Amsterdam als Sohn
jüdischer Eltern portugiesischen Ursprungs, ward zum Rabbiner
gebildet, aber seiner freien Religionsanschauungen wegen aus der
Gemeinde ausgestoßen, verließ seine Vaterstadt und
ließ sich nach wechselndem Aufenthalt im Haag nieder, wo er,
um seine Unabhängigkeit zu bewahren, sich seinen Unterhalt
durch Unterrichterteilung und durch Schleifen optischer Gläser
erwarb. Eine ihm vom Kurfürsten von der Pfalz angebotene
Professur zu Heidelberg sowie eine ihm von seinem Freund Simon de
Vries zugedachte Erbschaft schlug er aus gleichem Grund aus und
starb arm, unvermählt und unberühmt 21. Febr. 1677 in
Scheveningen an der Lungenschwindsucht. Über die innere
Entwicklung seines Gedankenkreises weiß man wenig. Einerseits
ist die talmudistische Vorschulung, anderseits das Studium der
Cartesianischen Schriften in Anschlag zu bringen. Die erste
Jugendarbeit Spinozas war eine verhältnismäßig
unselbständige Darstellung der Cartesianischen Prinzipien nach
seiner Lieblingsmethode, der geometrischen des Eukleides. Hierauf
folgte der "Theologisch-politische Traktat" ("Tractatus
theologico-politicus") und zwar anonym (1670). Das epochemachende
Hauptwerk, die "Ethik" ("Ethica"), obgleich seinen Hauptzügen
nach als ursprünglich in holländischer Sprache
abgefaßter, erst neuerlich (durch van Vloten) wieder
aufgefundener Traktat "Von Gott und dem Menschen" in früher
Zeit vollendet, wurde erst nach seinem Tod von seinem Freunde, dem
Arzt Ludwig Mayer, herausgegeben. Zwei unvollendete, ebenfalls
nachgelassene Schriften, der "Politische Traktat" u. die
"Abhandlungen über die Verbesserung des Verstandes" ("De
intellectus emendatione"), kamen hinzu. Spinozas epochemachende
"Ethik" ist der Form nach, im Gegensatz zu der analytischen
(regressiven, von den Folgen auf die Gründe
zurückgehenden) Denkweise des Descartes, in synthetischer
(progressiver, von dem ersten Grund zu den äußersten
Folgerungen fortschreitender) Darstellung und nach der Methode des
Eukleides in Grundbegriffen, Axiomen, Theoremen, Demonstrationen
und Korollarien abgefaßt, wodurch sie (gleich ihrem Vorbild)
den Anschein unumstößlicher Gewißheit
empfängt. Dem Inhalt nach stellt dieselbe gleichfalls einen
Gegensatz zum Cartesianismus dar, indem an die Stelle der
dualistischen eine monistische Metaphysik tritt. Spinozas
Philosophie knüpft daher zwar an die des Descartes (s. d.) an,
aber nur, um dessen System der Form und dem Inhalt nach aufzuheben.
Dieselbe ist mit ihrer Vorgängerin zwar darüber
einverstanden, daß Geist, dessen Wesen im Denken, und
Materie, deren Wesen in der Ausdehnung besteht, einen
(qualitativen) Gegensatz bilden, jener ohne das Merkmal der
Ausdehnung, diese ohne das des Denkens gedacht werden kann. Aber S.
leugnet, daß derselbe ein Gegensatz zwischen Substanzen
(Dualismus) sei, sondern setzt ihn zu einem solchen zwischen
bloßen "Attributen" einer und derselben Substanz (Monismus)
herunter. Da nämlich aus dem Begriff der Substanz, d. h. eines
Wesens, das seine eigne Ursache (causa sui) ist, folgt, daß
es nur eine einzige geben kann, so können Geist und Materie
(die zwei angeblichen Substanzen des Cartesianismus, zwischen
welchen ihres Gegensatzes halber keine Wechselwirkung möglich
sein soll) nicht selbst Substanzen, sondern sie müssen
Attribute einer solchen (der wahren und einzigen Substanz) sein,
welche an sich weder das eine noch das andre ist. Diese (einzige)
Substanz, welche als solche mit Notwendigkeit existiert, und zu
deren Natur die Unendlichkeit gehört, nennt S. Gott (deus),
dasjenige, was der Verstand (intellectus) von derselben als deren
Wesen (essentia) ausmachend erkennt, Attribut, die Substanz selbst
bestehend aus unendlichen Attributen, deren jedes (nach seinem
Wesen) deren ewige und unendliche Wesenheit ausdrückt. Zwei
derselben (die einzigen, deren S. Erwähnung thut) sind nun
Denken und Ausdehnung (dieselben, welche, nach Descartes, als Wesen
des Geistes und der Materie diese zu zweierlei entgegengesetzten
Substanzen machen sollten); unter dem erstern aufgefaßt,
erscheint die Substanz dem Intellekt als das unendliche Denkende
(als unendliche Geisteswelt), unter dem zweiten aufgefaßt,
als das unendlich Ausgedehnte (als unendliche Stoffwelt); beide
sind, da außer Gott keine andre Substanz existiert, der
Substanz nach identisch (keine qualitativ entgegengesetzten
Substanzen mehr, daher der Cartesianische Einwand gegen die
Möglichkeit der Wechselwirkung zwischen Geist und Materie,
Seele und Leib, beseitigt erscheint). Das unendliche (als solches
unbestimmte) Denken zerfällt durch (inhaltliche) Bestimmung in
unzählig viele Gedanken (Ideen); die unendliche (als solche
unbegrenzte) Ausdehnung zerfällt durch (räumliche)
Begrenzung in unzählig viele Stoffmassen (Körper), die
sich untereinander ebenso gegenseitig ausschließen, als sich
(in stetiger Reihenfolge) gegenseitig berühren. S. bezeichnet
dieselben als Modi, d. h. als Affektionen der Substanz, die Ideen
als solche, insofern die Substanz unter dem Attribut der denkenden,
die Körper als solche, insofern sie unter dem Attribut der
ausgedehnten Wesenheit vorgestellt wird. Da beide Attribute der
Substanz nach identisch sind, das unendliche Denken aber der Summe
aller einzelnen Denkbestimmungen (Ideen), die unendliche Materie
der Summe aller einzelnen begrenzten Stoffteile (Körper)
gleich ist, so müssen auch diese beiden in ihrer stetigen
Reihenfolge untereinander (der Substanz nach) identisch und kann
zwischen der (idealen) Gesetzmäßigkeit des Ideenreichs
und der (mechanischen) Gesetzmäßigkeit der
Körperwelt kein Gegensatz vorhanden sein. S. stellt daher
nicht nur den Satz auf, daß aus dem unendlichen Wesen Gottes
(als natura naturans) Unendliches auf unendlich verschiedene Weise
folge (als natura naturata), sondern auch den weitern, daß
die Folge und Verknüpfung der Ideen (die ideale) und jene der
Sachen (die reale Weltordnung) eine und dieselbe (ordo et connexio
idearum idem est ac ordo et connexio rerum) seien. Folge des
erstern ist, daß die Gesamtsumme der Wirkungen Gottes (die
Welt der Erscheinungen) ihrer Beschaffenheit sowohl als ihrer
Verknüpfung nach als eine unabänderliche, von Ewigkeit
her feststehende, weil in der ewigen und unwandelbaren Natur Gottes
(der alleinen Substanz) als Ursache begründete, angesehen
werden muß. Folge des zweiten ist, daß die im Reich des
Geistes waltende sittliche) von der das Reich der Materie regelnden
(mechanischen) Gesetzlichkeit nicht verschieden, das die
Erscheinungen der Natur ausnahmslos beherrschende Kausalgesetz
daher auch das die Erscheinungen des Geistes bestimmende sei. So
wenig in der Körperwelt eine Wirkung ohne (zwingende) Ursache,
so wenig ist in der Geisteswelt ein Willensentschluß ohne
(nötigendes) Motiv (und daher keine indeterministische
Willensfreiheit) möglich. Die (geistigen wie
körperlichen) Erscheinungen selbst als Entfaltung der
(all-einen) Substanz sind weder das Werk einer Vorsehung (da die
Substanz als solche

158

Spinster - Spirale.

weder Intelligenz noch Willen besitzt, von einem "Weltplan" oder
gar einer "Wahl" zwischen mehreren Weltplänen nicht die Rede
sein kann) noch eines blinden Verhängnisses (da die Substanz
Ursache ihrer selbst und von nichts außer ihr abhängig
ist). Die Beschaffenheit und Reihenfolge derselben sind nicht durch
Zweck-, sondern lediglich durch wirkende Ursachen bestimmt;
dieselben sind weder nützlich (gut) noch schädlich
(schlecht), sondern einfach notwendig. Als solche ist die Welt
weder die beste noch die schlechteste unter (mehreren)
möglichen, sondern die einzig mögliche. Die Erkenntnis
dieser unabänderlichen Weltordnung ist es, welche den Weisen
vom Thoren scheidet. Während der letztere vom Weltlauf die
Erfüllung seiner Wünsche hofft oder deren Gegenteil
fürchtet, erkennt der erstere, daß jener unabhängig
von diesen unabänderlich feststeht und daher weder Hoffnung
noch Furcht einzuflößen vermag. Die philosophische
Erkenntnis besteht darin, die Dinge zu schauen, wie Gott sie schaut
(unter dem Gesichtspunkt der Ewigkeit, sub specie aeternitatis,
gleichsam "aus der Vogelperspektive"), d. h. jedes Einzelne (Idee,
Körper, Ereignis) im Zusammenhang als Glied des (unendlichen)
Ganzen. Die philosophische Gemütsstimmung besteht einerseits
in der Resignation, d. h. in der Ergebung, welche aus der
Erkenntnis der Notwendigkeit, anderseits in der (intellektuellen)
Liebe zu Gott, welche aus der Erkenntnis der (ursprünglichen)
Göttlichkeit des Weltlaufs entspringt. Da die eine wie die
andre Wissen, d. h. Erkenntnis des (metaphysischen) Wesens der Welt
(als Entfaltung Gottes), voraussetzt, so bildet die
(pantheistische, richtiger akosmistische) Metaphysik die
unentbehrliche Vorbedingung zu der (affekt- und leidenschaftslosen)
Ethik Spinozas. Sowohl um dieses ihres echt philosophischen
Ergebnisses in praktischer wie um ihres auf den Zusammenhang des
Ganzen als Weltorganismus gerichteten Blicks (den übrigens
Leibniz zum mindesten im gleichen Grad besaß) in
theoretischer Hinsicht halber hat die Philosophie Spinozas, die
anfänglich nur in Holland einen kleinen Kreis von
Anhängern fand (de Vries, Mayer u. a.), ein Jahrhundert
später bei Größen ersten Ranges, wie Lessing,
Jacobi, Herder, Goethe u. a., Bewunderung, bei Fichte, Schelling,
Hegel mehr oder weniger eingestandene Nachahmung gefunden. Am 14.
Sept. 1880 ist ihm im Haag ein Denkmal (von Hexamer) errichtet
worden. Für die Erläuterung seiner (selbst von seinen
Freunden oft mißverstandenen) Lehre ist sein ziemlich
umfangreicher Briefwechsel wichtig. Eine vollständige Ausgabe
der Werke Spinozas wurde von Paulus veranstaltet (Jena 1802, 2
Bde.); eine andre von Gfrörer im "Corpus philosophorum optimae
notae", Bd. 3 (Stuttg. 1830), enthält sämtliche Werke
ohne die hebräische Grammatik. Korrekter als die erstgenannte,
aber ohne die Biographie des Colerus ist die Ausgabe von Bruder
(Leipz. 1843-46, 3 Bde.); die neueste ist die von J. van Vloten und
Land (Haag 1882, 2 Bde.). Deutsche Übersetzungen lieferten B.
Auerbach (2. Aufl., Stuttg. 1871, 2 Bde.), welcher die
französische von Saisset (2. Aufl., Par. 1861, 3 Bde.)
vorzuziehen ist, und neuerlich Kirchmann und Schaarschmidt in der
"Philosophischen Bibliothek". Den "Tractatus de deo et homine"
(hrsg. von van Vloten, Amsterd. 1862, und mit Einleitung von
Ginsberg, Leipz. 1877) hat Sigwart (Tübing. 1870) ins Deutsche
übersetzt und erläutert. Über die S. betreffende
Litteratur vgl. van der Linde, S. (Göttingen 1862); über
dessen Philosophie: Sigwart, Der Spinozismus, historisch und
philosophisch erläutert (Tübing. 1839); Thomas, S. als
Metaphysiker (Königsb. 1840); Saintes, Histoire de la vie et
des ouvrages de S. (Par. l842); Trendelenburg, Historische
Beiträge zur Philosophie, Bd. 2 und 3 (Berl. 1855-67); K.
Fischer, Geschichte der neuern Philosophie (Bd. 1, Abt. 2);
Camerer, Die Lehre Spinozas (Stuttg. 1877); Baltzer, Spinozas
Entwickelungsgang (Kiel 1888); Ginsberg, Briefwechsel des S.
(Leipz. 1876, mit der Biographie von Colerus). B. Auerbach
behandelte das Leben Spinozas in einem Roman.

Spinster (engl.), lediges Frauenzimmer.

Spintherismus (griech.), das Funkensprühen.

Spintisieren, grübeln, fein ausspinnen.

Spintrien (lat.), Gemmen oder Münzen mit
unzüchtigen Darstellungen.

Spion (ital.), s. Kundschafter.

Spira, Johannes de (Johann von Speier), wahrscheinlich
einer der deutschen Buchdrucker, die nach der Eroberung von Mainz
1462 auswanderten und die Buchdruckerkunst weiter verbreiteten. Er
war der erste Typograph zu Venedig und zugleich auch der erste
"privilegierte Buchdrucker". Seine ersten Werke sind: Ciceros
"Epistolae" und Plinius' "Historia naturalis" (Vened. 1469). Seine
Ausgabe des Tacitus, zugleich die erste dieses Schriftstellers, ist
das erste mit arabischen Blattziffern bezeichnete Buch (vgl.
Antiqua). Nach seinem 1470 zu Venedig erfolgten Tod führte
sein Bruder Wendelin de S. die Offizin bis 1477 fort; dieser
druckte die erste Ausgabe der Bibel in italienischer Sprache nach
der Übersetzung von Malermi.

Spiraea L. (Spierstrauch, Spierstaude), Gattung aus der
Familie der Rosaceen, Sträucher und Kräuter mit
gefiederten oder ganzen Blättern, ohne oder mit
Nebenblättern, in endständigen Ähren, Trauben,
Rispen oder Doldentrauben stehenden Blüten und mehrsamiger
Balgkapsel. S. ulmaria L. (Krampfkraut, Wurmkraut,
Mädelsüß, Geißbart, Wiesenkönigin),
60-120 cm hoch, mit unterbrochen fiederteiligen Blättern,
großen Nebenblättern, in Trugdolden stehenden,
weißen Blüten und spiralförmig gedrehten, kahlen
Früchtchen, wächst in Europa und Nordasien an feuchten
Stellen. Die Blüten liefern ein ätherisches Öl,
welches salicylige Säure enthält. Dasselbe gilt von S.
filipendula L. (Erdeichel, Haarstrang), deren Früchtchen nicht
spiralig gedreht und behaart sind, und an deren langen,
fadenförmigen Wurzeln erbsengroße Knollen hängen.
Diese Art wächst auf trocknen Wiesen und in Wäldern und
war, wie die vorige, früher offizinell. Gegen 40 andre Arten
aus Südeuropa, Asien und Nordamerika sind beliebte
Ziersträucher.

Spiräaceen, Unterfamilie der Rosaceen.

Spirabel (lat.), atembar, verdunstbar.

Spiraculum (lat.), Luftloch, Öffnung.

Spirale (lat., Spiral-, irrtümlich auch
Schneckenlinie), ebene krumme Linie, die um einen festen Punkt O
unendlich viele Umläufe macht. Die einfachste ist die von
Archimedes untersuchte, welche von einem Punkt P beschrieben wird,
der sich mit gleichförmiger Geschwindigkeit auf einer durch O
gehenden Geraden bewegt, während letztere sich
gleichförmig um O dreht. Es ist also der Abstand O P = r
proportional dem Drehungswinkel Phi (r=a *^Phi, wenn a konstant
ist). Man kann dieselbe zur Teilung der Winkel benutzen, welche auf
die Teilung einer Geraden zurückgeführt wird. Andre
Spiralen sind: die Fermatsche (r² = a²*^Phi), die
hyperbolische oder reciproke (r*^Phi = a), die logarithmische

159

Spiralgefäße - Spiritismus.

(r = ac*^Phi, c wie a konstant). Mit dem Namen S. bezeichnet man
auch bisweilen räumliche Kurven; es bedeutet z. B.
cylindrische oder konische S. den Durchschnitt einer
Schraubenfläche mit einer Cylinder- oder Kegelfläche
(richtiger cylindrische oder konische Schraubenlinie),
sphärische S. die Linie, welche ein Punkt auf der Kugel
beschreibt, wenn seine Länge und Breite proportional sind.

Spiralgefäße, s. Gefäße (der
Pflanzen).

Spiralklappe, s. Darm.

Spiralpumpe, Wasserfördermaschine, welche 1746 von
Wirz in Zürich erfunden wurde. Sie besteht (s. Fig.) aus einem
um eine horizontale Welle A spiralförmig gewundenen Rohr
DEFGHJKL, welches an dem Wasser schöpfenden Ende C
trichterförmig erweitert ist (zu dem sogen. Horn) und mit dem
andern Ende in das hohle Ende der Welle mündet. Eine zwischen
dem Wellenende und dem Steigrohr N eingeschaltete Stopfbüchse
M ermöglicht einen dichten Verschluß während der
Drehung der Welle. Ist nun der Apparat mit den zu unterst gelegenen
Teilen der Schraubenwindungen in ein Wasserbassin getaucht, so wird
von dem Horn bei der Drehung der Welle Wasser geschöpft,
solange seine Mündung sich unter Wasser befindet, bei weiterer
Umdrehung tritt so lange Luft ein, bis das Horn wieder ins Wasser
taucht. Während der dazu erforderlichen einmaligen Umdrehung
ist das zuerst geschöpfte Wasser, da es wegen seiner Schwere
bestrebt ist, immer den zu unterst gelegenen Teil der Schraube
einzunehmen, um einen Schraubengang in dem Rohr vorgerückt,
die ihm folgende Luft wird durch das bei einem zweiten Eintauchen
des Horns aufgenommene Wasser abgesperrt, und so geht es fort, bis
das ganze Schlangenrohr in den untern Teilen seiner Windungen mit
Wasserquantitäten gefüllt ist, die zwischen sich in den
obern Teilen der Windungen Luftsäulen einschließen, die
bis jetzt nur die Spannung der äußern Atmosphäre
besitzen. Sobald nun weiter gedreht wird, will Wasser in das
Steigrohr treten und übt deshalb auf die Flüssigkeit im
Rohr einen Druckwiderstand aus, durch welchen die einzelnen
Flüssigkeitssäulen in den Schraubengängen
entsprechend in die Höhe getrieben werden und nun mit
demselben Druck auf die Flüssigkeit im Steigrohr
zurückwirken können. Dabei wird zunächst von der
zuletzt aufgenommenen Wassersäule CD, ihrer barometrischen
Niveaudifferenz entsprechend, auf die ihr vorangegangene
Luftsäule DE gedrückt, welche den erhaltenen Druck mit
Hilfe der sich daran schließenden Wassersäule EF auf die
folgende Luftsäule FG überträgt; aber auch die
zweite Wassersäule EF übt auf letztere in derselben Weise
wie die erste einen Druck aus, so daß sich der Druck auf die
zweite Luftsäule aus dem Druck der beiden nachgeschöpften
Wassersäulen zusammensetzt. In gleicher Weise summieren sich
die Wasserdrucke bis zur letzten Windung, und der hier herrschende
Druck entspricht derjenigen Druckhöhe, bis zu welcher die
Maschine fördern kann. Diese S. ist nur in wenigen Exemplaren
ausgeführt, wohl aber hat man sie in geeigneter Umformung zur
Erzeugung von Gebläsewind benutzt, indem man am Ende der
Schraube eine Vorrichtung anbrachte, welche zwar die Luft aufnimmt
und in die Windleitung treibt, aber das Wasser unten entweichen
läßt (vgl. Gebläse).

[Spiralpumpe.]

Spiranten (lat.), s. Lautlehre, S. 571.

Spirato (ital., "zu Ende gegangen"), in der
Handelssprache s. v. w. im verflossenen Monat oder Jahr.

Spirdingsee, Landsee im preuß. Regierungsbezirk
Gumbinnen, im N. von Johannisburg, mit seinen Verzweigungen 118 qkm
(2,14 QM.) groß, liegt 117 m ü. M., fließt durch
den Pissek (Pysz) zum Narew ab, ist tief und fischreich,
enthält vier Inseln (auf einer derselben das eingegangene Fort
Lyck) und steht gegen N. mit dem Löwentin- und Mauersee durch
die Masurischen Kanäle in schiffbarer Verbindung.

Spirifer, s. Brachiopoden.

Spiriferensandstein, s. Devonische Formation.

Spirillum Ehrb. (Schraubenbakterie), früher Gattung
der Spaltpilze, nach neuern Untersuchungen als Entwickelungsform
von Bakterien (s. d. u. Tafel) erkannt. Man rechnet zu den
Spirillen diejenigen krummen Bacillen, bei welchen ein Auswachsen
zu schraubenartig gewundenen und sich in derselben Form
vermehrenden Fäden beobachtet wird. Dahin gehören der
Kommabacillus der Cholera, das S. von Finkler und Prior bei Cholera
nostras, das S. (Spirochaete) bei Rückfallfieber, das S.
(Spirochaete) des Zahnschleims etc.

Spiritismus (neulat., auch Spiritualismus, aber dann zu
unterscheiden von der gleichnamigen philosophischen Richtung), der
in der Neuzeit wieder stark entwickelte Glaube, daß nicht nur
die Geister der abgeschiedenen Menschen fortleben, sondern
daß auch ein beständiger und leichter Verkehr mit ihnen
möglich sei. Ein solcher Verkehr kann aber angeblich nur von
wenigen Auserwählten unmittelbar gepflogen werden, welche als
Mittelspersonen (Medien) den Geistern eine Art dünnen
Körpers zu leihen vermögen, damit sich dieselben
"materialisieren" und unsern gröbern Sinnen bemerklich machen
können. Der menschliche Geist, ein persönliches,
immaterielles Wesen, wäre nach dieser Theorie von einem
besondern, die niedern tierischen Funktionen leitenden, im
Körper verteilten ätherischen Fluidum, dem Perisprit,
gleichsam aufgelöst und durch dieses Vehikel erst dem
Körper zeitweise verbunden, könne aber auch schon im
Leben denselben gelegentlich verlassen (Verzückung,
Doppeltgehen etc.) und Fernwirkungen ausüben, namentlich bei
den Medien, deren Geist nur sehr lose "verzellt" ist. Von jener
seelischen Hülle des Geistes sollen nun die Medien einen
gewissen Überfluß besitzen, eine Aura desselben um sich
verbreiten und davon den überall im Raum verteilten Geistern
so viel abgeben können, daß diese sich für kurze
Zeit den Sterblichen offenbaren können. Ihre Manifestationen
und Materialisationen geschehen angeblich durch Erscheinen im
Dunkeln in ganzer Gestalt oder wenigstens als leuchtende Hände
oder Gesichter und sollen, wenn selbst das Auge nicht im stande
sein sollte, das zarte Lichtgebilde zu erkennen, wenigstens auf der
photographischen Platte ihre Spur zurücklassen. Die
Geisterphotographie bildet in Amerika ein schwunghaft betriebenes
Geschäft, welches kaum dadurch gelitten hat, daß einer
oder der andre dieser Künstler vor Gericht den groben Betrug
eingestand, wie der Photograph Buguet in Paris (1875). In neuerer
Zeit sind dazu noch die Abdrücke der Geisterhände in
Mehlschüsseln oder in Gips gekommen. Eine andre Art der
Offenbarung

160

Spirito - Spiritualismus.

ist diejenige durch Musik, die wichtigste von allen aber die
durch mechanische Wirkungen, weil man darauf eine Verkehrsmethode,
eine wirkliche Unterhaltung mit den Geistern basiert. Die Antworten
werden entweder durch eigentümliche Klopftöne im
Sitzungstisch oder in andern Möbeln etc. gegeben, um dadurch
die Folge der Buchstaben festzustellen, oder kürzer mit dem
Manulektor oder Psychographen (s. d.) direkt geschrieben. An dessen
Stelle ist in neuester Zeit namentlich durch das Medium Slade die
unsichtbare Niederschrift der Antwort auf eine unter den Tisch oder
hinter den Rücken gehaltene Schiefertafel getreten. Jedes
Medium hat in der Regel seine besondere Art, zu "arbeiten", und man
unterscheidet danach Klopfmedien, Schreibmedien etc. Die
Spiritisten geben allgemein zu, daß die Geisterantworten oft
ungemein albern, zuweilen auch neckisch sind; aber sie
erklären sich dies dadurch, daß es auch unwissende,
unorthographisch schreibende und boshafte Geister gebe. Weitere
mechanische Leistungen der Geister sind: die Entfesselungen
gebundener Medien, Knotenknüpfen in beiderseits festgehaltenen
Schnüren, Ineinanderbringen hölzerner Ringe, die aus
einem Stück bestehen, das Erheben der Möbel und andrer
schwerer Gegenstände (s. Tischrücken), Transportierungen
derselben, Schweben der Medien und ähnliche Manifestationen,
in denen besonders das Medium Home sehr geschickt gewesen sein
soll. Zum Gelingen dieser Versuche gehören in der Regel
besondere Vorbedingungen, so z. B., daß die Teilnehmer einer
Soiree durch Berühren der Hände eine Kette
schließen, um angeblich eine Ansammlung und Zirkulation jenes
Fluidums zu erzeugen und damit das Medium zu unterstützen,
welches durch Ausgabe seines Perisprits oft gänzlich
erschöpft werden soll. Manche Versuche gelingen auch
bloß im Dunkeln, weil das Licht angeblich die
Materialisationen hindert. Der in vielen Fällen selbst den
berühmtesten Medien (Home, Slade u. a.) nachgewiesene Betrug
hindert die große Gemeinde der Spiritisten nicht, der Sache
ferner ihr Zutrauen zu schenken. Was die Geschichte dieser
merkwürdigen Bewegung betrifft, so fanden sich ähnliche
Praktiken schon seit alten Zeiten in China, Indien, Griechenland
und Rom, woselbst man zum Teil in sehr ähnlicher Weise
Geisterschriften und Orakel zu erlangen wußte; aber der
neuere Anstoß ging von dem quäkerischen Sektenwesen mit
seinem Geister- und Erleuchtungsglauben aus, welches sich seit
Jahrhunderten in Amerika ausgebreitet hat. Die Geschwister Fox zu
Hydesville bei New York sind die Entdecker der Geisterklopferei
(1849). Fast gleichzeitig damit begann das Tischrücken (s. d.)
für die spiritistischen Anschauungen Propaganda zu machen.
Diese "Offenbarungen" gewannen in Amerika in der That sehr bald
zahlreiche Anhänger, die eine förmliche Kirche bildeten
und ihre Überzeugungen durch eine große Menge
Zeitschriften und Broschüren stärkten. Man erzählt
von vielen Millionen; doch lassen sich solche Angaben
begreiflicherweise nicht kontrollieren, wenn auch zugegeben werden
muß, daß die höhern Klassen infolge einer
natürlichen Reaktion gegen die herrschenden materialistischen
und sozialistischen Lehren der Gegenwart den S. überall mit
offenen Armen aufnehmen und in ihm zum Teil das einzige
Rettungsmittel der Gesellschaft sehen. In Amerika wirkten als
spiritistische Schriftsteller insbesondere Andreas Jackson Davis
durch eine Unzahl von Offenbarungen triefender Schriften (z. B.
"Der Reformator", "Der Zauberstab", "Die Prinzipien der Natur"
etc.), Richter Edmonds, Prof. Hare, Owen ("Das streitige Land") u.
a. In Philadelphia soll auf Grund eines größern Legats
sogar eine Professur für spiritistische Philosophie errichtet
werden. In Europa wollte der S. lange Zeit keinen Eingang gewinnen,
und bloß einzelne Medien, wie Home, zogen in den
europäischen Hauptstädten umher, um in hohen und
allerhöchsten Privatzirkeln "Sitzungen" abzuhalten. Durch
Allan Kardec in Paris nahm die Sache mehr den Charakter der reinen
Magie, durch den Baron Güldenstubbe, der in seiner "Positiven
Pneumatologie" 194 Totenbriefe aus allen Zeiten und in den
verschiedensten Sprachen veröffentlichte, denjenigen der
Nekromantie und durch den Rendanten Hornung in Berlin das Ansehen
einer Burleske an. In neuerer Zeit sind indessen in England
namhafte Naturforscher, wie Wallace, der Mitbegründer der
Darwinschen Theorie und Verfasser der spiritistischen Schriften:
"Die wissenschaftliche Ansicht des Übernatürlichen" und
"Eine Verteidigung des modernen S.", sowie der Chemiker Crookes
("Der Spiritualismus und die Wissenschaft") dafür eingetreten
und haben sehr viele Bekehrungen im Gefolge gehabt. In Deutschland
sind erst durch die Bemühungen des russischen Staatsrats
Aksakow und seines litterarischen Gehilfen Wittig diese Lehren
heimisch geworden, sofern dieselben, in ihrem Vaterland gesetzlich
an solchen Bestrebungen verhindert, bei uns eine spiritistische
Zeitschrift ("Psychische Studien", Leipz. 1874 ff.)
begründeten und Anregung zur Bildung von Vereinen gaben.
Schriftstellerisch haben außerdem M. Perty. Zöllner, K.
du Prel, Baron Hellenbach u. a. in dieser Richtung gewirkt, und
eine neue Monatsschrift: "Die Sphinx" (hrsg. von
Hübbe-Schleiden, Hamb. 1886 ff.), dient der weitern
Ausbreitung. Ob dieser von der streng kirchlichen wie von der
liberalen und fortschrittlichen Presse gleich lebhaft angefeindeten
Bewegung irgend welche nicht durch die bekannten Kräfte
erklärbare Thatsachen zu Grunde liegen, wie Hare, Wallace und
Crookes behaupten, oder ob eine noch ununtersuchte
Nerventhätigkeit, resp. das sogen. Od (s. d.), wie andre
wollen, dieselben erklären kann, oder ob alles auf
bewußter und unbewußter Täuschung beruht, mag der
Zukunft anheimgestellt bleiben. Vgl. A. Aksakow und K. Wittig,
Bibliothek für Spiritualismus (Leipz. 1867-77, bisher 14
Bde.); Dixon, Neuamerika (a. d. Engl., Jena 1868); Perty, Der
jetzige Spiritualismus (Leipz. 1877); J. H. Fichte, Der neue
Spiritualismus (das. 1878); Zöllner, Wissenschaftliche
Abhandlungen (das. 1877-81, 4 Bde.); K. du Prel, Philosophie der
Mystik (das. 1885); Hellenbach, Geburt und Tod (Wien 1885); A.
Bastian, In Sachen des S. (Berl. 1886); polemische Schriften von
Wundt, Vogel, Nagel, E. v. Hartmann u. a. Über die
gewöhnlichen Betrügereien und Entlarvungen der Medien
haben Home (1877), der später selbst wegen Betrug und
Erbschleicherei verurteilt wurde, und Erzherzog Johann von
Österreich (1884) geschrieben.

Spirito (ital.), Geist; con s., mit Feuer.

Spiritualen (neulat.), Sittenaufseher in den
Priesterseminaren; dann Partei der strengern Franziskaner (s.
d.).

Spiritualis (lat.), geistig, dem Materiellen
entgegengesetzt; daher Spiritualien, geistige oder geistliche
Angelegenheiten, Glaubenssachen.

Spiritualisieren (franz.), begeistern; vergeistigen,
spiritualistisch auffassen oder gestalten.

Spiritualismus (lat.), dasjenige metaphysisch-psycholog.
System, welches die menschliche Seele für ein rein geistiges
oder absolut immaterielles Wesen

161

Spiritualität - Spiritus.

erklärt (vgl. Pneumatismus). Dann auch s. v. w. Spiritismus
(s. d.).

Spiritualität (lat.), s. v. w. Geistigkeit im
Gegensatz zur Körperlichkeit (Materialität). Vgl.
Seele.

Spirituell (lat.), geistig, geistreich, geistlich.

Spirituosen (lat.), geistige, berauschende
Getränke.

Spiritus (lat.), das Wehen des Windes, die bewegte Luft;
der Atem, Hauch und, weil dieser als das Belebende (Geistige) des
Körpers oder als das erzeugende (Lebens-) Prinzip desselben
gedacht wurde, alles Feine, Dünnflüssige, Flüchtige,
das zugleich auf den Organismus anregend, belebend einwirkt; daher
auch der flüchtige Teil des Weins (Weingeist, vgl. den
folgenden Artikel). S., S. vini rectificatissimus, Alcohol vini,
Spiritus vom spez. Gew. 0,830-0,834 (91,2-90 Proz.); S. dilutus, S.
vini rectificatus, Mischung aus 7 Teilen Spiritus und 3 Teilen
Wasser vom spez. Gew. 0,892-0,896 (67,5-69,1 Proz.); S. aethereus,
s. Hoffmannsche Tropfen; S. aetheris chlorati, S. salis dulcis, S.
muriatico-aethereus, versüßter Salzgeist, s.
Salzäther; S. aetheris nitrosi, S. nitri dulcis, S. nitrico-
(nitroso-) dulcis, versüßter Salpetergeist, s.
Salpetrige Säure; S. ammoniaci caustici Dzondii, alkoholische
Ammoniaklösung; S. Angelicae compositus, zusammengesetzter
Engelwurzelspiritus, Destillat von 75 Spiritus und 125 Wasser
über 16 Angelikawurzel, 4 Baldrianwurzel, 4 Wacholderbeeren.
Man zieht 100 Teile ab und löst darin 2 Teile Kampfer; S.
camphoratus, Lösung von 1 Teil Kampfer in 7 Teilen Spiritus
und 2 Teilen Wasser; S. Cochleariae, Löffelkrautspiritus,
Destillat (4 Teile) von 3 Teilen Spiritus und 3 Teilen Wasser
über 8 Teile frisches blühendes Löffelkraut; S.
ferri chlorati aethereus, s. Bestushewsche Nerventinktur; S.
Formicarum, Ameisenspiritus; S. Frumenti, Kornbranntwein; S. fumans
Libavii, Zinnchlorid; S. Juniperi, Wacholderspiritus, Destillat (20
Teile) von 15 Teilen Spiritus und 15 Teilen Wasser über 5
Teilen Wacholderbeeren; S. Lavandulae, Lavendelspiritus, Destillat
(20 Teile) von 15 Spiritus und 15 Wasser über 5
Lavendelblüten; S. Melissae compositus, Karmelitergeist; S.
Menthae crispae, Krauseminzessenz, und S. Menthae piperitae,
Pfefferminzessenz, Lösung von 1 Teil Krauseminz-, resp.
Pfefferminzöl in 9 Teilen Spiritus; S. Mindereri, s.
Essigsäuresalze; S. nitri, Salpetersäure; S. nitri
dulcis, s. S. aetheris nitrosi; S. nitri fumans, rauchende
Salpetersäure; S. Rosmarini, S. anthos, Rosmarinspiritus, aus
Rosmarin wie Wacholderspiritus bereitet; S. saponatus,
Seifenspiritus; S. salis, Salzsäure; S. salis ammoniaci
causticus, Ammoniakflüssigkeit; S. salis dulcis, s. S.
aetheris chlorati; S. Serpylli, Quendelspiritus, aus Quendel wie
Wacholderspiritus bereitet; S. Sinapis, Senfspiritus; S. vini
Cognac, Kognak; S. sulfuratus Beguini, Lösung von
Schwefelammonium; S. terebinthinae, Terpentinöl; S. vini,
Alkohol; S. vitrioli, verdünnte Schwefelsäure. -

In der Grammatik der griech. Sprache bezeichnet S. den starken
oder scharfen und den gelinden oder schwachen Hauch (s. asper und
s. lenis), der über jeden Vokal oder Diphthong zu Anfang eines
Wortes gesetzt und im ersten Fall durch das Zeichen ^?, im zweiten
durch ^? [s. Bildansicht] ausgedrückt wird. Vgl. den Artikel
"H".

Spiritus (hierzu Tafel "Spiritusfabrikation"), mehr oder
weniger reiner Alkohol, aus zuckerhaltigen Flüssigkeiten durch
Destillation gewonnen. Früher, als noch der S.
größtenteils zum Genuß in der Form von Branntwein
(s. d.) bereitet wurde, war die Spiritusfabrikation
hauptsächlich Branntweinbrennerei. Der neuere Betrieb
unterscheidet sich von letzterer durch das Arbeiten in
größerm Maßstab und auf alkoholreichere
Destillate. Im allgemeinen nennt man solche durch Destillation
erhaltene Flüssigkeiten Branntweine, welche zum Getränk
bestimmt sind und 30-50 Volumprozent Alkohol enthalten; die zu
andern Zwecken dienenden, bis über 90 Volumprozent Alkohol
enthaltenden, ebenso gewonnenen Flüssigkeiten heißen S.
Bei dem Branntwein hat der je nach dem Ursprung (und zum Teil der
Bereitungsweise) verschiedene Geruch und Geschmack Einfluß
auf den Handelswert, der wesentliche Bestandteil ist aber stets der
berauschend wirkende Alkohol, und beim S. kommt letzterer allein in
Betracht, die fremden, riechenden Stoffe, welche als Nebenprodukte
bei der Alkoholbildung auftreten, werden möglichst
vollständig entfernt. Das Produkt heißt dann gereinigter
S. (Sprit). Die Darstellung aller dieser Produkte begreift im
allgemeinen zwei wesentlich verschiedenartige Arbeiten: die
Herstellung einer alkoholhaltigen Flüssigkeit und die
Abscheidung des Branntweins oder S. aus dieser mittels
Destillation. Die alkoholhaltige Flüssigkeit wird stets durch
Gärung einer zuckerhaltigen gewonnen. Die Darstellung der
letztern aber ist je nach dem zu verarbeitenden Rohmaterial eine
sehr verschiedene. Als solches kommen nämlich in Betracht: a)
feste oder flüssige Stoffe, welche Zucker fertig gebildet
enthalten; hierher gehören namentlich Zuckerrüben,
Maisstengel, Sorghum, alle Arten Obst und Beeren, Melasse und
Sirupe sowie andre Rückstände oder Abfälle der
Zuckerfabrikation, Trester, Honig u. a.; b) Stoffe, welche zwar
keinen Zucker, wohl aber Stärkemehl enthalten, welches durch
Einwirkung von Malz (Diastase) in Zucker (Maltose)
übergeführt werden kann; dazu gehören: Wurzeln und
Knollen, namentlich Kartoffeln (Topinambur), Getreide aller Art,
Mais, manche Leguminosen und andre Samen.

Verarbeitung zuckerhaltiger Rohstoffe.

Die zuckerhaltigen Rohstoffe brauchen nur in eine für die
Vergärung brauchbare Form (Lösung von bestimmter
Konzentration) versetzt zu werden, um durch den Einfluß der
Hefe in Alkohol und Kohlensäure zu zerfallen. Die
stärkemehlhaltigen Stoffe hingegen können erst die
gärungsfähigen Zuckerlösungen ergeben, wenn sie der
Verzuckerung durch Malz unterlegen haben. Obwohl es viel einfacher
erscheint, die bereits zuckerhaltigen Rohstoffe zu verwenden,
richtet sich doch die Wahl derselben weniger hiernach als nach der
Besteuerungsart des betreffenden Landes. Aus diesem Grund wird in
dem größten Teil Deutschlands, dort, wo der Raum,
welchen die gärende Flüssigkeit einnimmt, als Maß
für die zu bezahlende Steuer gilt, derjenige Rohstoff am
meisten benutzt, welcher die am meisten zuckerhaltigen Maischen
liefert, d. h. also diejenigen, bei welchen aus einem bestimmten
Maß gärender Maischen am meisten S. gewonnen werden
kann. Dies sind die stärkemehlhaltigen Rohstoffe Getreide,
Mais und die Kartoffeln, von zuckerhaltigen nur die Melasse.
Ausnahme bilden nur diejenigen Teile Deutschlands, in denen eine
andre Besteuerung noch herkömmlich ist, welche die
Verarbeitung von allerhand Obstarten im Kleinbetrieb gestattet.
Sollte hier die Steuer nach dem Gärraum bezahlt werden, so
würde der Verbrauch der bezeichneten Rohstoffe unmöglich,
weil der Betrieb zu teuer werden würde. Die Benutzung des in
größten Mengen (im Klima des mittlern Europa, namentlich
in Deutschland) zu habenden zuckerhaltigen Rohstoffs, der
Zuckerrübe, hat in Deutschland selbst in

162

Spiritus (aus zuckerhaltigen und stärkehaltigen
Stoffen).

den Teilen, wo nicht der Gärraum besteuert wird, keine
Verbreitung finden können. In Frankreich, wo ein andres
Steuersystem herrscht, unter welchem es vorteilhaft ist, weniger
gehaltreiche Flüssigkeiten zur Vergärung und
Spiritusgewinnung zu benutzen, ist die Verwendung der
Zuckerrüben zur Spiritusgewinnung in manchen Gegenden sehr
verbreitet, vielfach in der Weise, daß man, je nach Handels-
und Preisverhältnissen der Jahrgänge, die
Rübenernten zur Zuckerfabrikation oder zur Spiritusbereitung
benutzt. Als zuckerhaltiger Rohstoff kommt für Deutschland nur
die Melasse in Betracht, aber auch diese wird jetzt vielfach
vorteilhafter auf Zucker als auf S. verarbeitet. Aus Traubenwein
werden namentlich im südlichen Frankreich die gesuchtesten
Traubenbranntweine (Franzbranntweine) gewonnen, obwohl immer nur
dann, wenn die Verwertung dieses alkoholreichern Produkts eine
höhere als die des Weins ist (Rückstände von der
Weinbereitung werden stets in ähnlicher Weise verarbeitet).
Die Darstellung des zum Branntweinbrennen bestimmten Weins verlangt
nicht dieselbe Sorgfalt wie die des Trinkweins, sie zielt auf
möglichste Ausbeutung an Alkohol von reinem Geschmack; die Art
des Abbrennens (s. unten) und der Aufbewahrung ist auf den
Geschmack des Produkts von wesentlichem Einfluß. Die
Rückstände der Weinbereitung liefern den
Tresterbranntwein, die bei der Gärung abgeschiedene Hefe den
Drusenbranntwein.

Aus zuckerhaltigen Stoffen werden in möglichst einfacher
Weise Flüssigkeiten hergestellt, welche den gesamten Zucker
des Rohmaterials in Lösung enthalten, worauf durch Zusatz von
Hefe die Gärung eingeleitet wird, bei welcher der Zucker in
Alkohol und Kohlensäure zerfällt. Melasse wird unter
Zusatz von etwas Schwefel- oder Salzsäure und unter
Erwärmung zu einer Flüssigkeit von 12-25 Proz. Gehalt
verdünnt und bei geeigneter Temperatur mit der Hefe
(Hefenmaische, Kunsthefe) versetzt. Zur Darstellung von Rum werden
Rückstände von der Darstellung des Zuckers aus Zuckerrohr
mit Wasser und Schwefelsäure oder Schlempe zu
Flüssigkeiten von 14-16 Proz. Gehalt verdünnt und mit
Hefe zur Gärung gestellt; bisweilen wird Zuckerrohrsaft
zugesetzt. Von Obst oder süßen Früchten werden
Äpfel und Birnen, Kirschen, Zwetschen, Brombeeren,
Heidelbeeren, Holunderbeeren u. a. benutzt. Aus Äpfeln und
Birnen wird durch Zermalmen oder Reiben, aus den andern
Früchten durch teilweises Zerstampfen ein Brei hergestellt und
dieser entweder ausgepreßt, oder, und zwar meistenteils,
unmittelbar in Tonnen gefüllt, in denen die Masse bald in
Gärung kommt. In manchen Gegenden, z. B. im Schwarzwald,
bildet die Obstbrennerei eine eigentümliche ländliche
Industrie, die von vielen Tausenden in kleinerm und
größerm Maßstab betrieben wird; es werden aus den
einzelnen Obstarten ebenso viele verschiedene und zum Teil sehr
geschätzte Trinkbranntweine dargestellt, die durch ganz
bestimmten Geschmack gekennzeichnet sind. Nachdem die Gärung
begonnen, werden die Tonnen nach der erfahrungsmäßig
besten Zeit dicht verschlossen und so lange an einem kühlen
Ort aufbewahrt, bis die Reihe des Abbrennens an sie kommt; das
Abbrennen dauert das ganze Jahr hindurch, so daß manches Obst
ein Jahr, Zwetschen auch wohl zwei Jahre und mehr in der Tonne
verbleiben; die Dauer dieser überaus langsamen Gärung ist
von bestimmtem Einfluß auf die Eigenschaften, namentlich auf
die Klarheit, des Erzeugnisses. Zuckerrüben liefern neben
einem hohen Spiritusertrag von der Bodenfläche ein
geschätztes Viehfutter als Rückstand. Nach Champonnois
werden die Rüben auf einer Schneidemaschine in Stücke
geschnitten, aus diesen wird der Saft durch Auslaugen mit
säurehaltigem Wasser oder mit Schlempe gewonnen und mit Hefe
oder mit Hefe enthaltendem, gärendem Rübensaft in rasch
verlaufende Gärung versetzt. Nach Leplay wird der Saft nicht
abgeschieden, sondern innerhalb der gleichfalls in Stücke
geschnittenen Rüben dadurch in Gärung versetzt, daß
man sie unter einem Zusatz von etwas Schwefelsäure in
gärenden Rübensaft bringt. Im erstern Fall wird der
Rübensaft, im letztern werden die Rübenschnitte als
solche nach Vollendung der Gärung (also nach 1-2 Tagen) der
Destillation behufs Abscheidung des Alkohols unterworfen.

Verarbeitung stärkehaltiger Rohstoffe.

Die Verarbeitung der stärkemehlhaltigen Rohstoffe ist in
Deutschland von größter volkswirtschaftlicher Bedeutung.
Hauptmaterial ist die Kartoffel, welche für große
Länderstrecken mit sandigem Boden das hauptsächlichste
Landesprodukt bildet, aber bei ihrem niedrigen Preis hohe
Transportkosten nicht erträgt. Die Umwandlung in ein teureres,
verhältnismäßig weniger Gewicht besitzendes und
daher Frachtkosten leicht ertragendes Produkt erscheint um so
vorteilhafter, als dabei ein Nebenprodukt, die Schlempe,
entfällt, welche ein höchst wertvolles Futtermittel
für Milchtiere ist. Hierin liegt begründet, daß die
Spiritusfabrikation selten als selbständige
Großindustrie auftritt, sondern ein landwirtschaftliches
Gewerbe bildet, welches eine große Viehhaltung
ermöglicht, so daß der ärmere Boden stark
gedüngt werden kann und bei der intensiven Bearbeitung, welche
die Kartoffel erfordert, so wesentlich verbessert wird, daß
auch der Getreidebau sich lohnend erweist. Hierbei ist nun aber zu
beachten, daß die Kartoffeln zur Verzuckerung des
Stärkemehls des Malzes und ebenso zur Erzeugung des
nötigen Gärmittels der Gerste in solchem Verhältnis
bedürfen, daß man auf die Kartoffelernte von je zwei
oder drei die Gerstenernte von einem Morgen Landes nötig hat.
Es muß also die erforderliche, zum Gerstenbau geeignete
Landoberfläche zur Verfügung stehen, oder es muß
Gerste von außen eingeführt (gekauft) werden. Dazu kommt
in neuerer Zeit die Aufnahme des Maiskorns in den Brennereibetrieb
und eine solche Hebung der Verkehrsmittel, daß
gegenwärtig große Mengen Kartoffeln nach entfernten
Ländern transportiert werden. Die Beurteilung der
Spiritusindustrie muß also gegenwärtig wesentlich anders
lauten als ehemals. Von Getreide werden vorzugsweise Roggen und
Mais (bei uns hauptsächlich als Zusatz zu Kartoffeln),
außerdem auch Gerste und zuweilen Weizen und Reis auf S.
verarbeitet. Wie in der Bierbrauerei werden diese Rohstoffe in der
Weise mit Malz behandelt, daß durch die in letzterm
enthaltene Diastase das Stärkemehl in Dextrin und Zucker
verwandelt wird. Abweichungen ergeben sich aber insofern, als bei
der Bierbrauerei Dextrin erhalten bleiben soll, während die
Spiritusfabrikation eine möglichst vollständige
Vergärung bezweckt. Das bei der Verzuckerung des
Stärkemehls durch Malz neben Zucker (Maltose) gebildete
Dextrin ist in der Zeitspanne, welche in der Praxis der Brennerei
für die Alkoholgärung eingehalten wird, als direkt
unvergärbar zu betrachten, und doch vergärt es, indem
nach der Zersetzung der Maltose durch die Hefe die aus dem
Verzuckerungsprozeß noch aktiv zurückgebliebene Diastase
nunmehr auch das Dextrin in gärungsfähigen Zucker
verwandelt. Es ist mithin sehr wesentlich, in der Maische noch
Diastase für die

162a

Spiritusfabrikation.

Fig. 1. Lacambres Maischapparat (Querschnitt).

Fig. 3. Hollefreunds Apparat (Querschnitt)

Fig. 4. Hollefreunds Apparat (Grundriß).

Fig. 2. Kartoffelmaischapparat (Durchschnitt).

Fig. 7. Hentschels Apparat (Durchschnitt).

Fig. 6. Pauckscher Apparat (Durchschnitt).

Meyers Konv.- Lexikon, 4. Aufl.

Zum Artikel : Spiritus K.

163

Spiritus (Maischverfahren).

Alkoholgärung zu erhalten. Die nachwirkende Kraft der
Diastase wird zerstört durch zu hohe Temperatur und durch in
der gärenden Maische vorhandene Milchsäure.

Bei der Verarbeitung von Getreide auf Kornbranntwein wird ein
Gemenge von Roggen mit Weizen- oder Gerstenmalz oder Weizen mit
Gerstenmalz, und zwar 1 Teil Malz auf 2-3 Teile ungemalztes
Getreide, möglichst fein geschroten, um eine vollständige
Einwirkung der Stoffe aufeinander zu erreichen, und eingemaischt.
In England zieht man wie bei der Bierbrauerei eine wirkliche
Würze, in Deutschland dagegen läßt man die ganze
Maische mit den Trebern gären. Bei der Maischraumsteuer liegt
es im Interesse des Brenners, den Maischraum möglichst
auszunutzen und eine möglichst konzentrierte Maische
herzustellen, anderseits ist eine vollständige Verzuckerung
und Vergärung nur bei einer gewissen Verdünnung der
Maische möglich. Man hat früher mit 8 Teilen Wasser
gearbeitet und ist bis auf 3,75 herabgegangen, hält jetzt aber
das Verhältnis von 1 : 4,5 für das vorteilhafteste.
Kartoffeln werden gewaschen, mit Dampf gekocht, zerkleinert und mit
Gerstenmalz (bisweilen unter Zusatz von Roggenmalz) gemaischt. Auf
100 Teile Kartoffeln rechnet man 3-5 Teile Gerste (als Malz). Die
Konzentration der Maische wird etwas stärker genommen als beim
Getreide, indem man auf 1 Teil Trockensubstanz 4,5, 4 und selbst
nur 3 Teile Wasser nimmt. Es ist klar, daß der große
Wassergehalt der Kartoffeln bei diesem Verhältnis in Abzug
gebracht wurde. Als Regel für die anzuwendenden Temperaturen
hat sich ergeben, daß beim Maischen mit dem Malz 61°
nicht überschritten werden soll, u. daß 20 Minuten zur
Verzuckerung ausreichen.

Maischverfahren.

Das Maischen wird in kleinern Brennereien durch Handarbeit, in
größern mittels Maischmaschinen bewirkt, die
erforderliche Temperatur teils durch Erhitzen des zum Maischen
verwendeten Wassers, teils durch Einleiten von Dampf erzielt. Bei
der Handarbeit wendet man zum gründlichen Durcharbeiten
Maischhölzer, bei der Maschinenarbeit ähnliche
Vorrichtungen an, wie sie bei der Kartoffelbrennerei üblich
sind (s. unten). In Belgien und Frankreich wird vielfach der
Lacambresche Maischapparat (s. Tafel, Fig. 1) benutzt, welcher die
beste Durchmaischung und die Herstellung jeder Temperatur in
vorteilhafter Weise gestattet. Es ist ein liegender, oben
abgeschnittener und offener, an beiden Enden durch Seitenwände
geschlossener, etwa 2 m langer Cylinder von Eisenblech mit
Rührwerk und Mantel. a ist der innere, zur Maischarbeit
dienende Raum, b der Raum zwischen Cylinder und Mantel, e eine
Öffnung zum Einlassen, d ein Ablaßrohr für Dampf
oder Wasser, e' das Ablaßrohr für die fertige Maische.
Ein Rührwerk, dessen Achse die Mitte des Cylinders einnimmt,
hat eine Anzahl eine Schraubenlinie darstellender, mit eisernen
Rechen, Rahmen und Querstäben oder Gittern versehener Arme und
macht etwa 25 Umdrehungen in der Minute, so daß eine
vollkommene, beliebig lange fortzusetzende Durcharbeitung der Masse
geschieht, während der den Zwischenraum b durchströmende
Dampf die Erhitzung bewirkt. Die gewaschenen Kartoffeln werden nach
dem ältern Verfahren mittels frei einströmenden Dampfes
in (meist hölzernen) Bottichen (Dampffässern) gekocht,
noch heiß mittels Quetschwalzen oder mittels andrer
Vorrichtungen zerdrückt und dann unter Zusatz der
verhältnismäßigen Quantität Wasser mit dem
(meistens Grün-) Malz vermischt; dieses Einmaischen geschieht
auf verschiedene Weise, je nachdem man die ganze Menge Malz und
Kartoffeln zugleich maischt oder die Kartoffeln in kleinern
Anteilen zu dem vorher eingemaischten Malz bringt oder endlich die
Kartoffeln in kleinern Mengen ebenfalls mit Anteilen des Malzes
mischt, bis die Masse jedesmal durch die Zuckerbildung
dünnflüssig geworden ist. Die Einrichtung der zum
Einmaischen der Kartoffeln angewandten Maischbottiche ist eine sehr
mannigfaltige; ein Beispiel zeigt Fig. 2 der Tafel. a ist das
Kartoffeldampffaß, b der hölzerne Trichter, mittels
dessen die entleerten Kartoffeln zwischen die Quetschwalzen d d
geleitet werden; diese sind durch die Schraube e gegeneinander
verstellbar und erhalten ihre Bewegung durch c; die
zerdrückten Kartoffeln fallen in den Bottich g, in dem sich
ein durch p q, r n bewegtes, um die auf dem Lager m ruhende Achse o
sich drehendes Rührwerk befindet, welches aus dem Arm t und
aus Rahmen mit Querstäben u s besteht, die sich während
des Umlaufs der Mittelachse um ihre eigne horizontale Achse s s
drehen. f h sind Röhren für Wasser und Dampf, k i der
Ablaß für die fertige Maische, l ein Ventil zum Reinigen
des Bottichs.

Nach den neuern Maischverfahren werden die Kartoffeln sowie auch
Getreide und besonders in neuerer Zeit auch Mais, letzterer in
eingequelltem Zustand, in geschlossenen Gefäßen unter
einem Druck von 2-3 Atmosphären und bei der demselben
entsprechenden höhern Temperatur gedämpft, hierauf,
vollends zerkleinert, in geeigneten Kühlapparaten auf die
Zuckerbildungstemperatur gebracht, bei welcher das Zusetzen des
Malzes und hierauf die Umwandlung des Stärkemehls in Zucker
erfolgt, dann einige Zeit, wie bei dem ältern Verfahren,
dieser Einwirkung überlassen und schließlich durch eine
zweite Abkühlung auf die Gärungstemperatur gebracht.
Zweck dieser Art zu arbeiten ist ein vollständigeres
Aufschließen und Löslichmachen der Stärke in Form
von Zucker und folgerichtig eine höhere Ausbeute an S., und
dieser Zweck wird in so sicherer Weise erreicht, daß man das
ältere Verfahren durch eine ganze Reihe auf demselben Grund
beruhender, in der Ausführung jedoch verschiedener Verfahren
allmählich ersetzt. Das erste dieser Verfahren war das
Hollefreundsche, bei welchem nach dem Erhitzen der Kartoffeln auf
die angegebene Höhe eine plötzliche Verminderung des
Luftdrucks durch Kondensation des Dampfes und eine Luftpumpe
angewandt und die Masse zugleich energisch umgerührt wird.

Fig. 3 und 4 der Tafel stellen einen in dieser Weise wirkenden
Apparat dar. A ist der auf dem Gestell L ruhende eiserne
Maischcylinder mit dem auf der Achse o sitzenden Rührwerk C,
dem Mannloch b und dem Dom B, D der Kondensator mit der Luftpumpe.
Das Rührwerk wird durch die Teile K M f betrieben. Die
Kartoffeln werden nebst etwas Wasser durch das Füllloch a
eingeschüttet, worauf alles fest verschlossen und durch das
Rohr o s i mit den Ventilen k l Dampf zugelassen wird, welcher
durch die kleinern Rohre mit Ventilen k k k in den Cylinder
gelangt. Nachdem in diesem die gewünschte Spannung und
Temperatur eingetreten, wird das Rührwerk eine Zeitlang in
Thätigkeit gesetzt, sodann der Dampf abgesperrt und durch
Öffnung von m der im Cylinder vorhandene durch das Rohr p ins
Freie entlassen, worauf die Temperatur auf 100° und die
Spannung auf 0 herabgehen. Hierauf wird die Luftpumpe in Betrieb
gesetzt und durch p und Q Wasser bei D in den Kondensator
eingelassen. Hierdurch finden eine rasche Verminderung des Druckes
im In-

164

Spiritus (Maischmaschinen).

nern des Apparats unter den der Atmosphäre und ein
Herabgehen der Temperatur statt. Sobald die zur Zuckerbildung
geeignetste erreicht ist, wird durch Öffnen des
Verbindungshahns H das mit Wasser zu einem feinen Brei angemachte,
im Bottich E befindliche Grünmalz in den Cylinder A (infolge
der hierin hervorgebrachten Luftverdünnung) eingesaugt und mit
dem Kartoffelbrei durch das Rührwerk wohl vermischt. Nun wird
die Luftpumpe stillgestellt, der Cylinder geöffnet und die
Masse unter jeweiligem Umrühren der Zuckerbildung
überlassen; ist diese vollendet, so wird die Maische auf den
Kühlschiffen oder in einem mit dem Apparat verbundenen
Kühler auf die Gärungstemperatur abgekühlt.

Ähnlich ist der Apparat von Bohm, der aber ohne Luftpumpe
arbeitet und das Kühlen der heißen Maische durch eine
Verbindung von Rühr- und Kühlvorrichtung bewirkt. Das
Rührwerk besteht aus flachen cylindrischen Gefäßen
aus Eisenblech, die an ihren Flächen messerartige
Vorsprünge tragen und auf einer hohlen Achse derartig
angebracht sind, daß das Kühlwasser durch die Cylinder
gehen und durch die ein Doppelrohr vorstellende hohle Achse wieder
austreten kann. Von außen wird die Kühlung des Apparats
durch Aufspritzen von kaltem Wasser bewirkt. Dasselbe Ziel wie die
vorigen Apparate, aber mit den einfachsten Mitteln, verfolgt der
Henzesche Dämpfer, der, wie Textfigur 1 zeigt, nur ein
verbessertes Dampffaß ist, in welchem die Einwirkung
höher gespannter und entsprechend heißerer Dämpfe
möglich ist, eine Einwirkung, welche bis zum Austritt der
Masse aus dem Dämpfer dauert, wobei diese durch den gespannten
Dampf in außerordentlich feiner Verteilung in das eigentliche
Maischgefäß geblasen wird. Der eiserne Cylinder A ist
mit dem konischen Bodenansatz B versehen, welcher in das Ablauf-
oder vielmehr Ausblaserohr C übergeht. D D' sind die
Einlaßröhren für den Dampf, d ein Verschluß
zum Reinigen des Ausblaserohrs, e das durch das Handrad f
verstellbare Ventil zum Regulieren des Ausblasens. Das Mannloch a
dient zum Einfüllen der Kartoffeln und wird dann dicht
verschlossen; b ist ein Sicherheitsventil. Wenn die Einwirkung des
hoch gespannten Dampfes auf die im Dämpfer befindlichen
Kartoffeln beendet ist, werden diese durch Öffnen des Ventils
in einem passenden, mit Rührwerk versehenen Maischbottich
ausgeblasen, in welchem bereits ein Teil des zur Verzuckerung
erforderlichen Malzes, mit Wasser zu einem Brei angerührt,
sich befindet. Bei langsamem Ausblasen reicht die Verdunstung der
zerstäubenden Masse aus, diese auf die
Zuckerbildungstemperatur abzukühlen. Indessen sind die
Maischbottiche meist mit Vorrichtungen versehen, welche die
erforderliche Abkühlung durch Wasserströmungen bewirken.
Wenn das Ausblasen beendet ist, wird das noch fehlende Malz
zugesetzt, die Zuckerbildung abgewartet und dann die verzuckerte
Maische vollends zur Gärtemperatur gebracht, und zwar entweder
unter Anwendung der oben bezeichneten Wasserkühlung oder in
derselben Art wie bei der ältern Arbeitsweise, nämlich
auf Kühlschiffen mit Hand- oder Maschinenbetrieb. Der
Henzesche Dämpfer ist mehrfach verbessert worden. Durch
Modifizierung der Dampfeinströmung hat man eine wirbelnde
Bewegung des zu dämpfenden Materials erreicht, und diese hat
sich namentlich bei Verarbeitung von Mais und Roggen in dem
ursprünglich nur für Kartoffeln konstruierten
Dämpfer bewährt. Um beim Ausblasen eine vollkommnere
Zerkleinerung des Materials zu erreichen, wurden verschiedene
Vorrichtungen angebracht; man ging aber in derselben Richtung noch
weiter und konstruierte Nachzerkleinerungsapparate, welche eine bis
dahin nicht gekannte feine Zerteilung des Materials
herbeiführen. Der Apparat von Ellenberger ist dem sogen.
Holländer der Papierfabriken nachgebildet und dem
Brennereibetrieb angepaßt. Die gar gedämpfte Kartoffel-
oder Getreidemasse wird ausgeblasen und fällt auf die 200mal
in der Minute sich drehende Trommel des Holländers, deren
Zähne, wie die der Grundplatte, eine besondere Form haben. Der
Apparat arbeitet anerkanntermaßen vorzüglich und ist
sehr verbreitet. Beim Dämpfen von Mais und Getreide wird
außerdem der Dämpfer selbst mit einem sehr wirksamen
Rührwerk an horizontaler Achse versehen. Eine hervorragende
Stellung nimmt der Apparat von Paucksch (Fig. 5 u. 6 der Tafel)
ein. Außer dem eigentümlich gestalteten Dämpfer
besitzt derselbe einen Vormaischbottich, der aus einem
schalenförmigen Unterteil mit cylindrischem Aufsatz besteht.
Auf dem Boden ist der Zentrifugal-Maisch- und Zerkleinerungsapparat
angebracht; er besteht aus einer festliegenden Grundplatte und
einem Flügelrad als Läufer, welches 300-400 Umdrehungen
macht. Vermöge seiner Einrichtung saugt er die Maische durch
vier Öffnungen ein und wirft sie nach dem Mahlen
seitwärts aus. Ein Rührwerk ist nicht vorhanden, der
Maischraum daher frei und so für die Beobachtung der
Temperatur zugänglich. Die Bewegung der Maische ist eine
äußerst heftige und doch zugleich eine höchst
regelmäßige, die Wirkung gründlich. Die kleinen
Apparate werden mit Mantel für Wasserkühlung
eingerichtet. Der Maischapparat von Hentschel (Fig. 7 der Tafel)
hat ebenfalls eine ausgezeichnete Maischwirkung. Er besteht aus
einem doppelwandigen Vormaischbottich mit trichterförmigem
doppelten Boden und einem eigentümlichen Zerkleinerungs- u.
Maischapparat. Durch das unter diesem befestigte
Schneckengehäuse mit aufgeschraubtem Mahlring und die aufrecht
stehende rotierende Welle, auf welcher der gerippte
Zerkleinerungskonus gemeinschaftlich mit den ansaugenden Schnecken
festsitzt, wird die Maische in Bewegung gesetzt. Das aus dem
Dämpfer ausgeblasene Maischgut fällt in die
schüsselförmige Vertiefung des Zerkleinerungsapparats,
wird von diesem in parabolischer Richtung ausgeworfen, gleitet an
der innern Wandung des Bodens herab und wird durch den-

165

Spiritus (Verarbeitung der Maische).

trichterförmigen Boden der anhängenden Schnecke
zugeführt und im Zerkleinerungsapparat vermahlen. Die Bewegung
ist eine so lebhafte, daß die im Bottich befindliche Maische
in eine starke Rotation versetzt wird. Die innere Wandfläche
ist mit Rippen versehen, und wenn die Maischekühlung
beabsichtigt wird, werden außer der Wandkühlung noch
Kühlröhren angewendet.

Kein Zweig der Spiritusfabrikation hat in der neuern Zeit so
bedeutende Fortschritte gemacht wie die Verarbeitung des Maises in
den Hochdruckapparaten. Man bringt die ganzen Körner in den
Henzedämpfer, welcher auf 100 kg Mais 130-200 kg Wasser
enthält, kocht bei offenem Mannloch unter lebhafter Bewegung
des Maises eine Stunde lang, schließt dann das Mannloch,
dämpft wieder eine Stunde unter steigendem Druck, zuletzt eine
Viertelstunde bei wenigstens drei Atmosphären und bläst
endlich unter diesem Druck aus. Soll der Mais mit Kartoffeln
verarbeitet werden, so maischt man ihn, nachdem er abgekühlt
ist, für sich ein, verteilt ihn mit der erforderlichen Hefe
auf zwei oder drei Gärbottiche und setzt die Kartoffelmaische
zu. Auch Roggen wird jetzt in ganzen Körnern im
Henzedämpfer verarbeitet. Während bei dem alten Verfahren
durchschnittlich 18,7 Proz. Stärke unvergoren blieben, betrug
der Verlust bei Hollefreund 6,9, bei Bohm 7,2, bei Henze, bei
Ellenberger 4,6-6,6 Proz. 1 kg Stärkemehl gibt theoretisch
71,7 Literprozent (s. unten) Alkohol; da jedoch thatsächlich
nur 94 Proz. dieser Menge in Rechnung gezogen werden können,
so ergeben sich als erreichbarer Maximalbetrag nur 67,4 Literproz.
In der Praxis erhielt man nach dem alten Verfahren 45,3 Proz., nach
Henze 48,4, nach Hollefreund 50,5 und nach Bohm 53,8 Proz.

Verarbeitung der Maische.

Die verzuckerte Maische muß so schnell wie möglich
auf die zum Hefengeben und zum Einleiten der Gärung
erforderliche Temperatur (12-17°) abgekühlt werden. Dies
geschah früher auf Kühlschiffen, flachen
Gefäßen von solcher Größe, daß die
Maische darin nur eine dünne Schicht bildet, deren
Abkühlung noch durch Umrühren und starken Luftwechsel
befördert wird. In neuerer Zeit wendet man häufiger
kaltes Wasser und Eis in Oberflächen- oder
Röhrenkühlern oder in Rührwerken mit hohlen
Schaufeln an. In dem oben erwähnten Lacambreschen
Maischcylinder wird kaltes Wasser durch den Zwischenraum b
geleitet, während das Rührwerk in Thätigkeit ist. In
dem Kühlapparat von Hentschel (Textfigur 2) wird die durch den
Fülltrichter a in den Kühltrog c c einfallende Maische
von der sich drehenden kupfernen Spirale e erfaßt und der
Ausgangsöffnung k zugeführt. Das Kühlwasser tritt
durch das Rohr m in die Hohlwelle d, aus dieser in die Spirale e
und fließt bei k wieder ab. Um auch die Wandungen des Trogs
für eine möglichst vollkommene Kühlung nutzbar zu
machen, ist der Trog doppelwandig und wird durch das Rohr l in den
Hohlraum Wasser geleitet. Ein kleinerer Teil des austretenden
Kühlwassers bewirkt schließlich auch noch eine innere
Kühlung der Hohlwelle d. Die wasserführende Spirale ist
aus einzelnen Scheiben hergestellt, die nur teilweise eintauchen
und daher auch eine Kühlung durch Verdunstung bewirken.

Die auf die eine oder die andre Weise erhaltenen
gärungsfähigen Flüssigkeiten, d.h. im wesentlichen
Traubenzuckerlösungen von passender Verdünnung und
Temperatur, sollen nunmehr unter dem Einfluß der Hefe so
zersetzt werden, daß der Zucker möglichst
vollständig in entweichende gasförmige Kohlensäure
und zurückbleibenden, in der Flüssigkeit als Lösung
zu erhaltenden Alkohol zerfällt. Am einfachsten setzt man den
Maischen die als Nebenprodukt andrer Gewerbe (Bierbrauerei)
erhaltene Oberhefe oder in besondern Gewerben bereitete Hefe
(Bierhefe, Branntweinhefe, Preßhefe) zu. Nicht immer aber ist
dieselbe in der erforderlichen Menge und Beschaffenheit zu
erhalten, und es ist daher in denjenigen Ländern, in welchen
die Steuergesetze kein Hindernis bilden, allgemein an Stelle
derselben die Kunst- oder Maischhefe (s. Kunsthefe) getreten.
Dieses Verfahren ist in Deutschland und Österreich allgemein
sowohl in Melasse- als in Getreide- und Kartoffelbrennereien
üblich, obwohl in der Art der Herstellung und Fortführung
dieser Nebenmaische sehr vielfach verschiedene Methoden befolgt
werden. Dagegen wird in Frankreich und Belgien fast nur Bier- oder
Preßhefe benutzt. Man rechnet auf 100 kg 1 bis 2 Lit. breiige
Hefe oder 0,75-1 kg Preßhefe. In allen Fällen wird die
Gärung der Hauptmaische in großen hölzernen, meist
offenen Gefäßen, Bottichen, bewirkt, und man sucht es so
einzurichten, daß sie möglichst energisch und
vollständig und in derjenigen Zeitdauer (in 1-3 Tagen)
verläuft, welche unter den bestehenden Steuergesetzen als die
vorteilhafteste erscheint. Die Temperatur steigt dabei bedeutend
und dient ebenso wie die Abnahme der Dichtigkeit (infolge der
stattfindenden Zersetzung des Zuckers) als ein Erkennungsmittel
für den Verlauf und die Beendigung der Gärung. Die durch
die Gärung erzielte alkoholhaltige Flüssigkeit, die
weingare Maische, enthält außer Alkohol verschiedene
Mengen fremder Stoffe, von denen der Alkohol getrennt werden
muß. Diese fremden Bestandteile rühren teils von dem
Rohmaterial her, welches ja nicht reiner Zucker war und also nicht
völlig in Alkohol oder Kohlensäure übergeführt
werden kann, teils sind es Nebenprodukte der Gärung selbst.
Der Gehalt an reinem Weingeist beträgt durchschnittlich 5-10
Proz. Denselben in konzentrierter Gestalt und frei von den
übrigen Bestandteilen der Maische zu erhalten, ist der Zweck
der Destillation (s. d.), des Abtreibens oder Abbrennens. Reines
Wasser kocht bei 100° C., reiner Alkohol bei 78,3°. Der
Siedepunkt

166

Spiritus (Darstellung des Trinkbranntweins).

eines Gemisches von Alkohol und Wasser liegt zwischen diesen
beiden Punkten und ist im allgemeinen um so höher, je geringer
der Alkoholgehalt desselben ist. Wird ein solches der Destillation,
d. h. dem Kochen in einem Apparat, unterworfen, welcher die
vollständige Wiederverdichtung des gebildeten Dampfes in einem
andern Teil des Apparats durch Abkühlung gestattet, so
erhält man aus dem Dampf eine Flüssigkeit, ein Destillat,
welches im Verhältnis zum Wasser mehr Alkohol enthält als
die siedende Flüssigkeit. Der einfachste Destillationsapparat,
bei welchem der aus der kochenden weingaren Maische sich
entwickelnde Dampf sofort vollständig verdichtet wird, liefert
ein alkoholarmes Produkt (Lutter, Läuter, Lauer), aus welchem
bei abermaliger Destillation (Rektifikation) ein alkoholreicheres
Produkt erhalten werden kann. Die verschiedenen Apparate, welche
gegenwärtig bei der Spiritusfabrikation in Anwendung sind,
liefern sofort ein alkoholreiches Produkt (bis 95 Proz.) und
führen die Verdichtung des letzten alkoholreichen Dampfes in
sehr verschiedener Weise und mit sehr verschieden gestalteten
Apparatteilen aus. Bei dem einfachsten Destillationsapparat benutzt
man zur Verdichtung der Dämpfe kaltes Wasser, bei den
vollkommnern aber Maische, die bei dieser Verwendung
vorgewärmt wird; anderseits schaltet man zwischen Blase und
Kühler Verstärkungsvorrichtungen (Verdampfer und
Niederschlagsvorrichtungen) ein und trifft Vorkehrungen, um den
vollständigen Abtrieb (namentlich durch Anwendung zweier
Blasen) zu sichern. In Deutschland war Pistorius der erste, welcher
zwei Brennblasen statt einer anwandte und mit den Blasen
Rektifikatoren und Dephlegmatoren auf sehr zweckmäßige
Weise verband. Wenn man von einem normal konstruierten Apparat
verlangt, daß man mit seiner Hilfe nicht nur allen Alkohol
aus der Maische, sondern denselben auch möglichst rein
konzentriert und zwar mit dem geringsten Aufwand an Zeit,
Arbeitslohn und Brennstoff erhalte, so muß man anerkennen,
daß der Apparat von Pistorius viel leistet. Es wird ihm
deshalb in Norddeutschland (viel weniger in Süddeutschland, wo
mehr der Gallsche Apparat eingeführt ist) meist der Vorzug vor
andern Brennapparaten gegeben, zu deren Konstruktion der
Pistoriussche Apparat in vielen Fällen der Ausgangspunkt war
(vgl. Destillation, S. 721).

Sehr gebräuchliche Apparate sind ferner: der Pistoriussche
Apparat mit direkter Feuerung, der Pistoriussche
säulenförmige Apparat, der Gallsche Wechselapparat,
außerdem die Apparate von Neumann, Dorn, Egrot, Siemens und
besonders auch der kontinuierlich arbeitende Apparat von Ilges, der
beim ersten Abtrieb S. von mindestens 94 Proz. liefert (s.
Destillation, S. 723). Eine besondere Art der zusammengesetzten
Apparate bilden die namentlich von Savalle gebauten Säulen-
oder Kolonnenapparate, welche besonders in Frankreich und Belgien
in außerordentlicher Anzahl verbreitet sind, und deren
Hauptteil die verschiedenen Arten Verdampfungskapseln bilden. Die
Säulenapparate sind meistens für kontinuierlichen Abtrieb
eingerichtet und enthalten in vielen Fällen keine eigentliche
Blase. Die Verstärkungseinrichtungen sind bei denselben
vielfach nicht sehr ausgeprägt, und sie werden dann nur zur
Herstellung von 35-50proz., oft sogar nur von 25proz. Destillaten
benutzt. Sie sind vorzugsweise für starken,
fabrikmäßigen Betrieb bestimmt und setzen, wenn 80proz.
S. erzeugt werden soll, eine zweite Destillation oder die
Hinzufügung von in Frankreich und Belgien nicht üblichen
Verstärkungseinrichtungen voraus. Ein in Frankreich
verbreiteter Apparat für kontinuierlichen Betrieb ist endlich
der von Derosne verbesserte von Cellier-Blumenthal (s.
Destillation,. S. 722). Es ist der älteste dieser Art und war
ursprünglich nur für die Destillation von Wein (s. oben)
bestimmt; doch dient er jetzt auch zur Destillation von andern
gegornen dünnen oder klaren Flüssigkeiten, wie z. B.
Rübensaft. Für dicke Maischen, wie die in Deutschland zu
verarbeitenden, ist er nicht verwendbar.

Um Trinkbranntwein zu erhalten, wird in zweierlei Weise
verfahren: Ein Teil des aus verschiedenen Rohstoffen erzeugten
alkoholischen Destillats von 80-82 Proz. (Rohspiritus) wird
unmittelbar mit Wasser auf die verlangte Branntweinstärke
verdünnt, zuweilen durch eine Filtration über Holzkohle
in geringem Maß von den in dem Rohspiritus stets als
Nebenprodukt der Gärung enthaltenen, unangenehm riechenden und
schmeckenden Fuselölen gereinigt und außerdem
öfters mit aromatischen, bittern etc. Stoffen versetzt. In
dieser Weise werden nur sehr unreine und fuselig schmeckende
Branntweine erhalten. Reinere und ganz reine Branntweine bereitet
man aus 90-94proz. Sprit, wie derselbe durch Verfeinerung
(Raffinierung) des Rohsprits erhalten wird. Die reinsten in dieser
Weise erzielten Produkte sind das Material, aus welchem die
Liköre und sonstige zusammengesetzte weingeistige
Getränke fabriziert werden. Die weitaus größere
Menge eigentlichen Trinkbranntweins wird aber so erhalten,
daß man die gewünschte geringe Stärke des Produkts
(40-50 Proz.) unmittelbar durch Destillation solcher Maischen
erzielt, welche eigens zu diesem Zweck hergestellt werden, und aus
welchen dann eigentlicher, reinerer S. nicht gewonnen wird. Diese
Art, Trinkbranntwein darzustellen, ist in allen Ländern
gebräuchlich, jedoch je nach dem Geschmack des Publikums und
der Art des Rohmaterials verschieden. Der Absatz des Branntweins
ist an den durch Herkommen und Gewohnheit beliebten Geschmack
desselben gebunden, und es haben sich demnach in den verschiedenen
Gegenden etwas abweichende Branntweinbrennerei-Methoden
herausgebildet, welche, Verbesserung durchweg verschmähend,
darauf gerichtet sind, dem Produkt gewisse Beimengungen (meist zu
den oben erwähnten Fuselölen gehörig) in sehr
geringem Verhältnis zu erhalten, welche den besondern, von dem
des reinen, verdünnten Alkohols abweichenden Geschmack
bedingen. So wird z. B. in Deutschland in kleinen Brennereien aus
der vergornen Weizen- und Gerstenmalzmaische zuerst durch Abtrieb
in der einfachen Blase über freiem Feuer Lutter dargestellt
und aus diesem durch eine zweite Destillation in derselben Weise
Branntwein von der gewünschten Stärke gewonnen. In
Belgien wird der sogen. Genever sowohl in kleinen als in kolossalen
fabrikmäßigen Brennereien aus Roggenmaische erhalten,
welche man zuerst mittels eines kontinuierlich arbeitenden
Säulenapparats mit ununterbrochenem Dampfbetrieb zu Lutter von
etwa 30-35 Proz. abbrennt. Dieser Lutter wird dann ausnahmslos in
ganz einfachen Blasen ohne jede Verstärkung über freiem
Feuer abgetrieben und so Branntwein von der gewünschten
Stärke erhalten. Wacholder wird nicht zugesetzt. Der Abtrieb
des Obstbranntweins aus den verschiedenen Obstmaischen (s. oben)
geschieht im Kleinbetrieb (z. B. im Schwarzwald)
ausschließlich in ganz kleinen, einfachen kupfernen Blasen,
welche auf freiem Feuer erhitzt werden. Es wird zwei- oder dreimal
gebrannt, also zuerst aus der Maische (durch

167

Spiritus (Benutzung, Ausbeute, Produktionsstatistik).

das Rauchbrennen) 15-20proz. Lutter, dann aus diesem (durch das
Läutern) mittels derselben Blase das fertige Produkt erhalten.
Zuweilen wird noch ein drittes Mal geläutert. Weinbranntwein,
Franzbranntwein, Kognak werden in Frankreich aus Wein, entweder
mittels des Apparats von Cellier, Blumenthal und Derosne (s. oben)
oder auch mittels der einfachen, im Wasser- oder Dampfbad erhitzten
Blase, erhalten. Für die feinern Branntweine wird der
Nachlauf, d. h. der gegen Ende des Abtriebs kommende
schwächere Branntwein, wegen seines geringern Geschmacks
getrennt aufgefangen.

Wie schon angedeutet, enthält das Destillat aller weingaren
Maischen flüchtige Stoffe, die demselben einen besondern
Geschmack geben und unter dem Namen Fuselöle (s. d.)
zusammengefaßt werden. Sie sind weniger flüchtig als
Wasser und treten erst in der letzten Periode der Destillation auf.
Außerdem kommen noch andre riechende und schmeckende Stoffe
vor, welche, leichter flüchtig als Alkohol, bei der
Destillation zuerst erscheinen und hauptsächlich aus Aldehyd
bestehen. Um den Branntwein oder Rohspiritus von diesen Stoffen zu
befreien (denselben zu raffinieren), behandelt man ihn zuweilen mit
Holzkohle; meistens aber wird zugleich mit Herstellung von starkem
S. (die Rektifikation zu Ware von 90 und mehr Prozenten) eine
Trennung der zu Anfang, Mitte und Ende der nochmaligen Destillation
zu erhaltenden Produkte vorgenommen und so, unter Benutzung der
verschiedenen Flüchtigkeit der bezeichneten Stoffe, ein reines
Produkt, der Sprit, erhalten. Das Verfahren stellt also im
wesentlichen eine unterbrochene Destillation dar; die Apparate sind
hauptsächlich Säulenapparate mit Blase und kräftigen
Verstärkungseinrichtungen. Man erhält Vorlauf, reinsten
Sprit von etwa 90-93 Proz., und dann Nachlauf, die getrennt
aufgefangen werden. Alle Kühlvorrichtungen der
Destillationsapparate endigen mit einem sogen. Verschluß
(Ablauf, Glocke). Ein solcher (Textfig. 3) besteht z. B. aus einer
zweischenkeligen Röhre t t, welche bei s an das Ende der
Schlange p p befestigt ist. Der eine Schenkel erweitert sich oben
zu einem mit einer Glasglocke bedeckten Trichter w mit dem
Abfluß v und enthält ein Alkoholometer, so daß man
die Beschaffenheit des Destillats beständig beobachten kann.
Das Rohr x dient zum Entweichen von Luft aus dem Apparat und von
Kohlensäure aus der Maische. Soll das Destillat je nach seiner
Reinheit nach verschiedenen Behältern geleitet werden, so sind
weniger einfache Verschlüsse erforderlich. Der Ablauf von
Savalle (Textfig. 4) gestattet nicht nur die Beobachtung des
Alkoholgehalts des Destillats und die beliebige Ableitung, sondern
auch das Abmessen der in einer gewissen Zeit gelieferten
Flüssigkeit. b ist das Zuflußrohr vom Kühlapparat,
c der Ansatz für den Ablauf mit dem Probehähnchen d; die
Verschlußglocke e enthält ein Aräometer und die
Meßröhre, welche durch den Boden der die Glocke
tragenden Schale l hindurchgeht. f ist die Öffnung für
den Abfluß, g die Verteilungskugel mit den Leitungen h i k
nach den verschiedenen Behältern. Der zuströmende S.
fließt durch f ab, steigt aber teilweise nach e, übt von
hier aus einen Druck auf den Abfluß durch f und setzt sich
mit diesem ins Gleichgewicht. Die Größe der Öffnung
f wird durch besondere Versuche so reguliert, daß die Zahlen
an der Meßröhre den Abfluß in einer bestimmten
Zeit ergeben. Steigt die Flüssigkeit in e, so fließt
durch f mehr S. ab, weil der Druck größer wird. Wenn der
Brennapparat und der Kühler gleichmäßig arbeiten,
erscheint der Stand der Flüssigkeit in e vollkommen ruhig und
unveränderlich; jede Unregelmäßigkeit im Betrieb
wird hier sofort erkannt.

Man benutzt S. zu Getränken (Branntwein, Likör), als
Lösungsmittel zur Darstellung von Tinkturen, Firnissen,
Parfümen, Extrakten, Alkaloiden, auch in der Färberei und
Rübenzuckerfabrikation, ferner zur Bereitung von Essig,
Äther, Chloroform, Chloralhydrat, zusammengesetzten
Äthern, Aldehyd, Knallsäuresalzen, Soda, Pottasche,
Teerfarben und vielen andern Präparaten, zum Konservieren
fäulnisfähiger Substanzen, als Brennmaterial, zum
Füllen von Thermometern, zur Regeneration alter
Ölgemälde, als Arzneimittel etc. - Was die Ausbeute
betrifft, so sollten Stärkemehl 56,78 Proz., Rohrzucker 53,8,
Traubenzucker 51,1 Proz. Alkohol liefern, thatsächlich aber
erhält man weniger, z. B. aus Rohrzucker nur 51,1 Proz.
Alkohol. In der Praxis liefern:

100 kg Gerste . . 44,64 Liter S. von 50 Proz. Tr.

100 " Gerstenmalz 54,96 " " " 50 " "

100 " Weizen . . 49,22 " " " 50 " "

100 " Roggen . . 45,80 " " " 50 " "

100 " Kartoffeln . 18,32 " " " 50 " "

Multipliziert man die Literzahl mit dem Alkoholgehalt in
Volumprozenten, so erhält man Literprozente. Ein metrischer
Zentner Gerste liefert danach 2232, Gerstenmalz 2748, Weizen 2461,
Roggen 2290, Kartoffeln 916 Literprozent Alkohol. Nach solchen
Literprozenten rechnet man im deutschen Spiritushandel, und zwar
nimmt man 10,000 Literprozent (100 Lit. à 100 Proz.) als
Einheit an und bezieht auf sie die Preisnotierungen.

Über die Alkoholproduktion liegen zuverlässige Angaben
nicht vor. Der jährliche Verbrauch auf den Kopf der
Bevölkerung betrug 1881-85 in:

Liter Alkohol | Lit. 45% Branntwein

Italien . . . 0,9 | 2,0

Norwegen . . 1,7 | 3,8

Finnland . . 2,2 | 4,9

Großbritannien 2,7 | 6,0

Österreich-Ungarn . . . 3,5 | 7,7

Frankreich . . 3,8 | 8,4

Schweden . . 3,9 | 8,7

Deutschland 4,1 | 9,1

Schweiz . . 4,6 | 10,2

Rußland (europ.) . . 4,7 | 10,4

Belgien . . 4,7 | 10,4

Niederlande 4,7 | 10,4

Dänemark . 8,9 | 19,8

Verein. Staaten 2,6 | 5,8

168

Spiritus familiaris - Spittler.

Seit 1875 zeigt sich eine Steigerung des Alkoholverbrauchs in
Frankreich von 2,9 auf 3,8, in Rußland von 4,0 auf 4,7, in
Österreich-Ungarn, Belgien blieben die Verbrauchsziffern
dieselben, in den Niederlanden, Großbritannien, Finnland,
Deutschland ist eine geringe, in Schweden und Norwegen eine
beträchtliche Abnahme zu verzeichnen. 95 Proz. des
produzierten S. sollen zum Genuß verbraucht werden.

Alkoholische Getränke waren schon in den ältesten
Zeiten bei vielen Völkern bekannt, aber erst im 8. Jahrh.
gewann man durch Destillation von Wein einen S. In den
nördlichen Ländern war bis zum Ende des 18. Jahrh. der
Kornbranntwein allein herrschend. Die ersten Versuche mit
Kartoffeln scheinen 1775 in Schweden angestellt worden zu sein, und
1796 wurde in Franken Kartoffelbranntwein gewonnen. Wichtigkeit
erlangte die Kartoffelbrennerei aber erst seit 1810, und 20 Jahre
später war die Kartoffel in Deutschland das Hauptmaterial
für die Branntweingewinnung. Infolge der Kartoffelkrankheit
wandte man sich wieder mehr dem Getreide, dann aber auch dem Mais,
der Melasse und den Zuckerrüben zu. Zur Verarbeitung der
Kartoffel gaben der ältere und der jüngere Siemens 1818
und 1840 zweckmäßige Apparate an. Die alten
Destillierblasen wurden vielfach verbessert, durch direkten Dampf
geheizt (Gall 1829) etc. Zusammengesetzte Destillierapparate
konstruierten Adam und Solimani in Nîmes (1801), Pistorius
(1816), Cellier-Blumenthal und Derosne (1818), Dorn (1819), Schwarz
(1833), Siemens (1850) etc. Die von Lowitz 1790 entdeckte
Eigenschaft der Kohle, das Fuselöl zu absorbieren, wurde
schnell in die Praxis eingeführt. Die neuesten Fortschritte
betreffen die gründlichere Aufschließung des Materials
durch gespannte Dämpfe und Zerkleinerungsapparate vor dem
Maischen (Hollefreund, Bohm, Henze), namentlich aber ist die
Spiritusfabrikation auch durch wissenschaftliche Untersuchungen
über den Gärungsprozeß, die Ernährung der Hefe
und durch Verbesserung der analytischen Methoden gefördert
worden. Das Laboratorium und die Versuchsstation der deutschen
Spiritusfabrikanten in Berlin hat wesentlich beigetragen, für
die Spiritusfabrikation eine wissenschaftlich begründete Basis
zu gewinnen. Vgl. Stammer, Die Branntweinbrennerei und deren
Nebenzweige (Braunschw. 1875); Derselbe, Wegweiser in der
Branntweinbrennerei (das. 1876); Märcker, Handbuch der
Spiritusfabrikation (4. Aufl., Berl. 1886); Böhm,
Branntweinbrennereikunde (9. Aufl., das. 1885); Gumbinner,
Anleitung zur Spiritusfabrikation (das. 1882); Bersch, Die
Spiritusfabrikation und Preßhefebereitung (das. 1881);
Ulbricht und Wagner, Handbuch der Spiritusfabrikation (Weim. 1888);
Freiesleben, Der Brennereibau (Berl. 1885); "Zeitschrift für
Spiritusindustrie" (das.).

Spiritus familiaris (neulat.), ein vertrauter dienstbarer
Geist, Hausgeist.

Spirochaete Ehrb., früher Gattung der Spaltpilze,
deren angebliche Arten wie die nahe verwandten Spirillen als
Entwickelungsformen von Bakterien erkannt sind.

Spirometer (griech.), von Hutchinson angegebener Apparat,
welcher dazu dient, das Luftquantum zu bestimmen, welches beim
Atmen aus den Lungen entweicht. Das S. stimmt im Prinzip mit dem
gewöhnlichen Gasometer (s. d.) überein. Die durch einen
Schlauch unter die Glocke des Gasometers geleitete ausgeatmete Luft
hebt die durch Gegengewichte äquilibrierte Glocke und kann
direkt an einer Skala gemessen werden.

Spirre, s. Blütenstand, S. 82.

Spirsäure, s. Salicylsäure.

Spital (lat., Spittel), s. v. w. Hospital.

Spital, Marktflecken im österreich. Herzogtum
Kärnten, an der Drau und der Bahnlinie Marburg-Franzensfeste,
ist Sitz einer Bezirkshauptmannschaft und eines Bezirksgerichts,
hat ein Schloß des Fürsten Porzia, Holzstofffabrikation
und (1880) 1832 Einw.

Spitalfields (spr. spittelfihlds), Stadtteil im O.
Londons, in welchem sich die aus Frankreich eingewanderten
hugenottischen Seidenweber niederließen, deren Nachkommen
teilweise noch jetzt dort wohnen.

Spithead (spr. spitt-hedd), s. Portsmouth.

Spitta, Karl Johann Philipp, geistlicher Liederdichter,
geb. 1. Aug. 1801 zu Hannover, studierte in Göttingen
Theologie und ward, nachdem er verschiedene andre Stellen bekleidet
hatte, 1853 Superintendent zu Peine im Hildesheimischen, dann im
Juli 1859 Superintendent in Burgdorf, wo er 28. Sept. d. J. starb.
Außer einzelnen Predigten veröffentlichte er: "Psalter
und Harfe" (Leipz. 1833 u. öfter), eine in zahlreichen
Auflagen verbreitete Sammlung geistlicher, für häusliche
Erbauung bestimmter Lieder, die durch Vollendung der Form,
Innigkeit und wahrhaft christliches Gepräge zu den besten
derartigen Produkten der Neuzeit gehören. Noch erschienen von
ihm: "Nachgelassene geistliche Lieder" (5. Aufl., Brem. 1883).
Spittas Leben beschrieb Münkel (Leipz. 1861). -

Sein Sohn Philipp, geb. 27. Dez. 1841 zu Wechold bei Hoya in
Hannover, seit 1875 Dozent der Musikgeschichte an der Hochschule
für Musik (seit 1882 deren stellvertretender Direktor) sowie
Universitätsprofessor für Musikwissenschaft und
Sekretär der Akademie der Künste zu Berlin, hat sich
durch seine Biographie "Johann Sebastian Bach" (Leipz. 1873-79, 2
Bde.; engl., Lond. 1884) sowie durch eine Gesamtausgabe der
Orgelwerke Buxtehudes und der Werke von H. Schütz bekannt
gemacht. Kleinere Schriften von ihm sind: "Über J. S. Bach"
(Leipz. 1879) und "Ein Lebensbild Robert Schumanns" (das. 1882).
Mit Chrysander und Adler gibt er seit 1885 die "Vierteljahrsschrift
für Musikwissenschaft" (Leipz.) heraus.

Spittler, Ludwig Timotheus, Freiherr von, berühmter
Geschichtschreiber und Publizist, geb. 11. Nov. 1752 zu Stuttgart,
widmete sich in Tübingen und Göttingen theologischen und
historischen Studien, ward 1778 Repetent am theologischen Seminar
zu Tübingen und 1779 Professor der Philosophie zu
Göttingen, wo er sich als Lehrer der Geschichte großen
Ruf erwarb, kehrte aber 1797 als Präsident der
Oberstudiendirektion und Wirklicher Geheimer Rat in sein Vaterland
zurück; 1806 ward er auch zum Kurator der Universität
Tübingen und Minister ernannt und zugleich in den
Freiherrenstand erhoben. Er starb 14. März 1810. Von seinen
Schriften sind zu bemerken: "Geschichte des kanonischen Rechts bis
auf die Zeiten des falschen Isidor" (Halle 1778); "Grundriß
der Geschichte der christlichen Kirche" (Götting. 1782; 5.
Aufl. von Planck, 1813); "Geschichte Württembergs unter den
Grafen und Herzögen" (das. 1783); "Geschichte des
Fürstentums Hannover" (das. 1786); "Entwurf der Geschichte der
europäischen Staaten" (Berl. 1793, 2 Bde.; 3. Aufl. von
Sartorius, 1823); "Geschichte der dänischen Revolution 1660"
(das. 1796). Seine geistreich skizzierten "Vorlesungen über
die Geschichte des Papsttums" wurden mit Anmerkungen von Gurlitt
(Hamb. 1828), seine "Geschichte der Kreuzzüge" (das. 1827) und
die "Geschichte der Hierarchen von Gregor VII. bis auf die Zeit der
Reformation"

169

Spitzbergen - Spitzen.

von K. Müller (das. 1828) herausgegeben. Seine
sämtlichen Werke gab sein Schwiegersohn K. v. Wächter
(Stuttg. 1827-37, 15 Bde.) heraus. S. verband mit ernster
Quellenforschung philosophischen Geist und lichtvolle Darstellung
bei sinnreicher Kürze, hellen politischen Blick und Sicherheit
des Urteils. Vgl. Planck, Über S. als Historiker
(Götting. 1811).

Spitzbergen, Inselgruppe im Nördlichen Eismeer,
zwischen 76° 27'-80° 50' nördl. Br. und
10°-32½° östl. L. v. Gr., nordöstlich von
Grönland, dem es früher zugerechnet wurde, während
Nordenskjöld 1868 den untermeerischen Zusammenhang von S. mit
Skandinavien nachwies. Die Gruppe besteht aus der Hauptinsel,
Westspitzbergen (39,540 qkm oder 718 QM.), dem von voriger durch
die Hinlopenstraße getrennten Nordostland (10,460 qkm oder
190 QM.), dem Edgeland oder Stans-Foreland (5720 qkm oder 104 QM.),
der Barentsinsel, König Karls-Land, Prinz Karls-Vorland und
vielen kleinern Eilanden, welche ein Gesamtareal von 70,068 qkm
(1273 QM.) einnehmen. Die Inselgruppe ist im Sommer von Eisschollen
umgeben, im Winter von festen Eismassen eingeschlossen; nur
längs der Westküste ist das Meer fast das ganze Jahr
hindurch von Eis frei. Die Nordküste wird in den meisten
Jahren durch den auch an ihr vorüberziehenden Golfstrom
verhältnismäßig früh vom Treibeis befreit,
wogegen die Ostseite von einem Polarstrom bestrichen wird. Die
Hauptinseln steigen mit steilen Ufern aus dem Meer auf und sind im
Innern mit einer 100 m dicken Schicht Landeis bedeckt, aus welcher
scharfe Bergspitzen (daher der Name) bis zu 1390 m hervorragen. Die
Hauptgebirgsart ist Granit; von vulkanischen Produkten findet sich
der sogen. Hyperit vor, daneben Jurakalksteine, Kreide und andre
Sedimentärgebilde. Die mittlere Jahrestemperatur beträgt
unter 79° 53' nördl. Br. (Mosselbai) -9,56° C., die
des kältesten Monats (Februar) -22,69°, die des Juli
+4,55°. Das Klima ist also bedeutend milder als in Nordamerika
unter weit südlichern Breiten, was dem Golfstrom zuzuschreiben
ist. Die Vegetation ist äußerst dürftig, da die
Erdrinde nur während weniger Wochen im Sommer, wo die Sonne
nicht untergeht, von Eis und Schnee frei ist; von baumartigen
Gewächsen finden sich nur zwei einige Zoll hohe Weidenarten.
Überhaupt hat man 96 Arten von Phanerogamen und etwa 250
Kryptogamen beobachtet. Kruciferen und Gramineen herrschen vor.
Fließende Wasser gibt es nur zur Zeit der Schneeschmelze. Von
Landsäugetieren kommen vor: das Renntier (sehr zahlreich), der
Eisbär, der braune Bär (?, selten), der Blaufuchs, aber
kein Lemming; dagegen sind die Küsten reich an Walrossen und
Robben. Im W. fanden sich früher viele Walfische, deren Zahl
jedoch durch die beständige Verfolgung auf ein Geringes
gesunken ist. Jetzt jagt man an den Küsten neben den
Flossenfüßern besonders den Weißfisch und eine
Haifischart (Haakjärring). Von Vögeln kennt man 28 Arten,
von denen das Schneehuhn (Lagopus hyperboreus) der einzige
Standvogel ist. An Insekten hat man bisher 23 Arten entdeckt. Das
Mineralreich bietet Granit (reich an edlen Granaten), Graphit,
Bleiglanz, Eisen, Marmor u. Braunkohlen. Eingeborne oder auch nur
ansässige Bevölkerung hat keine der Inseln; doch haben
sich bisweilen einzelne russische Jäger mehrere Jahre lang auf
denselben aufgehalten, und während der Sommermonate werden sie
von Fangfischern besucht, wenn auch nicht mehr so zahlreich wie
früher. Im 17. und 18. Jahrh. war die Gruppe der Sammelplatz
aller Walfischfänger, und an den Küsten wurden um das
Privilegium des Walfischfangs und Robbenschlags zwischen
Engländern, Holländern, Dänen und Franzosen vielfach
blutige Kämpfe ausgefochten. Jetzt macht keine der
seefahrenden Nationen Ansprüche auf den Besitz der Gruppe. S.
wurde 1596 von den Holländern Barents, Heemskerk und Cornelis
Ryp entdeckt. Näher erforscht wurden die Inseln in neuerer
Zeit unter andern von Scoresby (1817-18), Parry (1827), der
Recherche-Expedition (1838 ff.), Lamont (1858 und später),
Karlsen (seit 1859), v. Heuglin (1870), Tobiesen (seit 1865), Leigh
Smith (1871-72), besonders aber von den schwedischen Expeditionen
unter Torell und Nordenskjöld (1858-73). S. Karte
"Nordpolarländer". Vgl. außer den Berichten in
"Petermanns Mitteilungen": Nordenskjöld, Die schwedischen
Expeditionen nach S. und Bären-Eiland (Jena 1869); Heuglin,
Reisen nach dem Nordpolarmeer 1870-71 (Braunschw. 1872-74, 3
Bde.).

Spitzbeutel, s. Filtrieren, S. 263.

Spitzblume, s. Ardisia.

Spitzbogen, s. Bogen und Gewölbe.

Spitzbogenstil, ungenaue Benennung für gotischer
Stil, s. Baukunst, S. 496.

Spitze, in der Heraldik, s. Heroldsfiguren.

Spitzeder, Adele, s. Dachauer Banken.

Spitzel, in Süddeutschland s. v. w.
Geheimpolizist.

Spitzeln, Kartenspiel, eine Art Solo unter dreien, wird
mit mancherlei Abweichungen gespielt. Erforderlich ist dazu eine
Pikettkarte, aus welcher man 1) alles Karo (bez. Schellen) bis auf
die Sieben und 2) die Coeur- (rote) Acht entfernt hat. So bleiben 8
Blätter für jeden. Man spielt entweder in den schlechten
Farben oder in "Kouleur" (Karo). Die ständigen Trümpfe:
Spadille, Manille, Baste gelten wie im gewöhnlichen Solo; in
Kouleur gibt es also nur 3 Trümpfe. Zum Gewinn eines Spiels
gehören wenigstens 5 Stiche. Wenn alle passen, wird
"gespitzelt" ("gestichelt"), d.h. man spielt ohne Trumpf, und
derjenige, welcher den letzten Stich macht, verliert. Gerade diese
für das Spiel charakteristische Regel wird aber oft durch
Karteneinwerfen oder durch ein Points-Spiel ersetzt. Im letztern
Fall zählt man die Karten von Daus bis Zehn herab der Reihe
nach 5, 4, 3, 2 und 1. Jeder sucht soviel Points wie möglich
zu bekommen. Wer über 15 hat, bekommt von jedem den
Überschuß vergütet, und wer die wenigsten Augen
hat, muß an beide bezahlen, selbst wenn der zweite nicht bis
15 gekommen ist.

Spitzen (Kanten), zarte Geflechte mit durchsichtigem
Grund und einem aus dichter liegenden Fäden gebildeten Muster,
werden entweder mit Klöppeln (Kissenspitzen, Dentelles) oder
mit der Nadel (Points) gefertigt. Zum Klöppeln bedarf man
eines Polsters (Klöppelsacks), welches im Erzgebirge
walzenförmig und drehbar, in Belgien und Frankreich viereckig
und flach gewölbt ist; auf dem Sack liegt der
Klöppelbrief, ein Streifen Papier, auf welchem das Muster in
Nadelstichen vorgezeichnet ist. Die Klöppel sind etwa 10 cm
lange Holzstäbchen, auf welchen der zu verarbeitende Zwirn
aufgewickelt (und im Erzgebirge durch eine übergeschobene
Papierhülse geschützt) ist; die Löcher des
Musterbriefs werden bei der Arbeit mit Nadeln besteckt und die
Fäden durch Hin- und Herwerfen der Klöppel, welche von
der Walze herabhängen oder auf dem belgischen Kissen liegen,
zwischen den Nadeln verflochten. In dem Maß, wie die Arbeit
fortschreitet, werden aus der fertigen Spitze die Nadeln ausgezogen
und in die folgenden offenen Löcher des Briefs gesteckt. Ist
die Spitze Ellenware, so kann die Arbeit auf der rotierenden Walze
beliebig

170

Spitzen - Spitzenglas.

oft rund herum fortgehen. Genähte S. werden entweder auf
einem Gewebe, Tüll, Marly etc., oder auf einem für diesen
Zweck mit dem Klöppel oder der Nadel hergestellten
Spitzengrund aufgenäht. Das Muster ist auf ein Blatt starkes
Papier (früher Pergament) gezeichnet; die Nadel folgt den
Umrissen und umschnürt diese der Befestigung halber noch
einmal. Ist das Muster fertig, so wird das Papier weggerissen.
Durch noch stärkern, sowohl breitern als plastisch
heraustretenden Umriß zeichnet sich die Guipurespitze aus;
Guipure ist ein dicker Faden oder ein Streifen von dünnem
Pergament oder Kartenpapier, welcher mit dem Faden ganz umwunden
ist. Seit Anfang unsers Jahrhunderts besteht neben der
Handspitzenindustrie die Fabrikation der S. auf Maschinen, so
daß man wohl Handspitzen (echte) und Maschinenspitzen
(unechte) unterscheidet. Wenn nun auch feststeht, daß die
Spitzenmaschine eine große Mannigfaltigkeit in ihren
Produkten und eine erstaunliche Ähnlichkeit mit den echten S.
zu erzeugen vermag, so nehmen die Maschinenspitzen in Bezug auf
Wechsel und schöne Formgestaltung des Erzeugnisses doch immer
nur einen zweiten Rang ein, da sie ausschließlich
Nachahmungen der Handspitzen sind. Bei den applizierten S. wird das
geklöppelte Muster auf feinen Maschinengrund aufgenäht;
bei den tamburierten ist der Grund und zum Teil auch das Muster aus
der Maschine erzeugt und die Ergänzung durch Handarbeit
ausgeführt. Nach dem Material unterscheidet man seidene S.,
speziell Blonden, welche in Schwarz und Weiß vorkommen,
leinene S. (alle echten S.), baumwollene (die englischen
Maschinenspitzen) und wollene (Mohairspitzen). Die Anfertigung der
S. mag in eine sehr frühe Zeit zurückreichen, doch ist
über ihren Ursprung nichts bekannt. Vielleicht entwickelte sie
sich aus Flecht- und Knüpfwerk, welches in der auf alter
Überlieferung beruhenden Hausindustrie namentlich
südlicher Länder noch heute vorkommt und mit der Nadel
später auf einen durchbrochenen Grund übertragen wurde.
In Italien wurden um die Mitte des 15. Jahrh. nachweislich schon
Nadelspitzen gefertigt, und man gibt an, daß die Kunst
dorthin von Byzanz oder dem sarazenischen Sizilien gekommen sei.
Man unterscheidet Reticellaspitzen (s. d.), venezianische oder
Reliefspitzen (s. d.), Rosenspitzen (s. d.) u. a. Der englische
Ausdruck Lace findet sich zur Zeit Richards III., und 1545 werden
in Frankreich Dentelles erwähnt. Älter scheint die
Spitzenklöppelei in den Niederlanden zu sein; doch liegen auch
dafür keine bestimmten Zeugnisse vor. In Deutschland wurde
diese Industrie durch Barbara v. Elterlein (aus Nürnberg
stammend) eingeführt, welche 1553 als Gattin des Bergherrn
Uttmann zu Annaberg in Sachsen starb. Die alten italienischen
Nadelspitzen wurden besonders in Venedig und Mailand hergestellt;
in Genua und Albissola wurde geklöppelt. Im 17. Jahrh.
gelangte die Spitzenindustrie durch den Venezianer Vinciolo nach
Frankreich, und gewisse Städte, wie Sedan, Alençon,
wurden schnell berühmt als Sitze derselben, zumal seit Ludwig
XIV. sie lebhaft begünstigte. Alençoner S. werden
durchaus mit der Nadel gearbeitet; die Fabrikation, welche
wiederholt dem Erlöschen nahe war, wurde immer wieder
emporgebracht, zuletzt durch Napoleon III. Argentan, Chantilly,
Valenciennes, Lille lieferten ebenfalls berühmte S. In den
Niederlanden entwickelte sich die Klöppelarbeit sehr lebhaft
und kann noch heute als ein Hauptfaktor des Nationalwohlstandes in
Belgien betrachtet werden. Die Brüsseler S. sind in jeder
Beziehung die feinsten von allen; ihre Vorzüge sind
begründet durch die Güte des belgischen Flachses, die
Feinheit des aus diesem gewonnenen Zwirns und die ererbte
Geschicklichkeit der Arbeiterinnen. Der Netzgrund (réseau)
der Brüsseler S. wird jetzt von der Maschine geliefert
(Bobbinet), während man ihn früher nähte oder
klöppelte. Mechelner S. werden in Einem Stück auf dem
Polster gearbeitet und besitzen nach Art des Plattstichs
eingewirkte Blümchen. Andre Sitze der belgischen
Spitzenindustrie sind Gent und Brügge (points de duchesse).
Von Hugenotten lernten die Holländer feinere Leinenspitzen
machen, doch gelangte diese Industrie dort nicht zu der Bedeutung
wie in den südlichen Provinzen. Im Erzgebirge verbreitete sich
das Klöppeln sehr schnell, und seit dem Anfang des 17. Jahrh.
trugen schottische Händler die sächsischen und
böhmischen S. in alle Länder. Seit Einführung der
Maschinenarbeit hat gerade diese einst so blühende Industrie
sehr stark gelitten, weil sie sich im allgemeinen auf so einfache
Erzeugnisse beschränkte, die sehr leicht durch Maschinenarbeit
nachgeahmt werden konnten. Jetzt werden im Erzgebirge (weiteres s.
d.) und in Böhmen die verschiedensten S. dargestellt, und um
die Hebung der Industrie bemühen sich zahlreiche
Klöppelschulen (Schneeberg, Gassengrün, Bleistadt u. a.).
Auch im Hirschberger Kreis ist seit 1855 die Spitzenindustrie
eingeführt worden. In vielen andern Gegenden Deutschlands
sowie in Genf und Neuchâtel erblühte dieselbe durch
Hugenotten, doch nur auf kurze Zeit. Französische und
niederländische Flüchtlinge wurden auch in England die
Begründer der Spitzenfabrikation. Zuerst ahmte man
vorzüglich Valencienner und Brüsseler S. nach,
gegenwärtig werden alle möglichen Stile gepflegt. Honiton
in Devonshire arbeitet mit der Nadel auf Brüsseler Grund,
vornehmlich Zweige mit Blättern und Blüten, welche jetzt
meist in Guipure ausgeführt werden. Die Maschinenarbeit hat
der Spitzenmacherei außerordentlich geschadet, sie bringt
schöne Arbeit in unbegrenzter Menge zu mäßigen
Preisen hervor; doch ist das Glatte und Regelmäßige der
Arbeit den zarten Effekten der Ausführung schädlich, und
niemals kann sie mit den durch die Hand geschaffenen Meisterwerken
konkurrieren. Spanische S. werden aus Gold- und Silberdraht
hergestellt, der mit bunter Seide und kleinen Perlen untermischt
ist. In den skandinavischen und slawischen Ländern werden
meist grobe Leinen- und Litzenspitzen angefertigt, in
Rußland, Siebenbürgen, Rumänien u. a. von der
Hausindustrie. Vgl. Palliser, History of lace (3. Aufl., Lond.
1875); Séguin, La dentelle. Histoire, description,
fabrication, bibliographie (Par. 1874); Ilg, Geschichte und
Terminologie der alten S. (Wien 1876); Hans Sibmacher, Stick- und
Musterbuch (nach der Ausgabe von 1597 hrsg. vom
Österreichischen Museum für Kunst und Industrie, 3.
Aufl., das. 1882, und von Wasmuth, Berl. 1885; nach der 4. Ausg.
von 1604 hrsg. von Georgens, das. 1874); Wilhelm Hoffmann,
Spitzenmusterbuch (nach der Ausgabe von 1607 hrsg. vom
Österreichischen Museum, Wien 1876); Derselbe,
Originalstickmuster der Renaissance (das. 1874); v. Braunmühl,
Technik u. Entwickelung der Spitzen (in der Zeitschrift "Kunst und
Gewerbe", Nürnb. 1882); Raßmussen, Klöppelbuch
(Kopenh. 1884); Jamnig u. Richter, Technik der geklöppelten
Spitze (Wien 1886 ff.). Auch gab Cocheris in Paris eine Reihe
seltener Spitzenmusterbücher aus der Bibliothèque
Mazarin und Eitelberger 50 Blatt der schönsten Muster aus
deutschen und italienischen Musterbüchern des 16. Jahrh. (Wien
1874) heraus.

Spitzenglas, s. v. w. Fadenglas, s. Millefiori.

171

Spitzengrund - Spitzmäuse.

Spitzengrund, s. Spitzen.

Spitzenkatarrh, Katarrh der Lungenspitzen.

Spitzenpapier, durch Pressen und Ausschlagen
spitzenähnlich gestaltetes Papier, dient besonders zu
Manschetten für Bouketts.

Spitzenschnitt, in der Heraldik, s. Heroldsfiguren.

Spitzer, Daniel, Wiener Feuilletonist, geb. 3. Juli 1835
zu Wien, studierte daselbst die Rechte, war kurze Zeit als
Konzipist bei der Wiener Handelskammer beschäftigt und begann
seine litterarische Laufbahn mit volkswirtschaftlichen Artikeln und
einzelnen Beiträgen für die Witzblätter Wiens. Seine
satirischen Aufsätze, welche er von 1865 an als "Wiener
Spaziergänge" in der "Neuen Freien Presse" zu
veröffentlichen begann, fanden außergewöhnliche
Teilnahme und begründeten seinen Ruf. Ein Teil dieser an die
politisch-sozialen oder litterarischen Hauptereignisse des Tags
anknüpfenden Feuilletons wurde unter dem Titel: "Wiener
Spaziergänge" (6 Bde., mehrfach aufgelegt) gesammelt
herausgegeben. Die Novellen: "Das Herrenrecht" (Wien 1877) und
"Verliebte Wagnerianer" (das. 1878), die ebenso zahlreiche Auflagen
erlebten, sind gleichfalls nur als Satiren, nicht als wirkliche
Erzählungen aufzufassen; an ihrem Erfolg hatten die
pikant-lüsternen Elemente jedenfalls so viel Anteil wie die
humoristischen.

Spitzfuß, s. Pferdefuß.

Spitzgang, s. Mühlen, S. 849.

Spitzgeschoß, s. v. w. Langgeschoß, s.
Geschoß.

Spitzharfe, s. Harfe.

Spitzhengst (Klopfhengst), männliches Pferd, bei
welchem eine oder beide Hoden nicht im Hodensack, sondern in der
Bauchhöhle liegen und nicht zur vollständigen
Entwickelung gelangen. Die Kastration des Spitzhengstes ist nicht
ohne Gefahr, gelingt aber bei geschickter Ausführung oft. Die
Meinung, daß der S. eine größere Anlage zur
Bösartigkeit habe als Hengste mit normalen Hoden, beruht auf
Irrtum.

Spitzhörnchen (Tupaiidae), s. Insektenfresser.

Spitzkasten, s. Aufbereitung, S. 53.

Spitzkeimer, s. Monokotyledonen.

Spitzklette, s. Xanthium.

Spitzkugeln, Geschosse gezogener Handfeuerwaffen mit
kegelförmiger Spitze.

Spitzlerche, s. Pieper.

Spitzmäuschen (Apion Herst.), Käfergattung aus
der Gruppe der Kryptopentameren und der Familie der
Rüsselkäfer (Curculionina), sehr kleine, birnförmige
Käferchen mit dünnem, fadenförmigem Rüssel,
dünnen, nicht geknieten Fühlern, welche in einem ovalen
und zugespitzten Knopf enden, punktförmigem Schildchen und
kürzern oder längern Flügeldecken, welche den
Hinterleib ganz bedecken. Man kennt ca. 300 Arten, welche im
Sonnenschein lebhaft umherfliegen und Blüten und junges Laub
der verschiedensten Pflanzen benagen. Die Larven leben meist in den
Samen von Leguminosen, seltener im Mark von Krautstengeln. A.
apricans Herbst., 2 mm lang, schwarz, leicht metallisch
glänzend, an der Fühlerbasis, den Hüften und
Schenkeln rotgelb, ist überall häufig auf Wiesen; das
Weibchen legt die Eier an den Blütenstand des Klees, dessen
Samen die Larven auf einzelnen Feldern bisweilen fast
vollständig vernichten. Die Larven verpuppen sich zwischen den
Blüten des Köpfchens, und bald darauf schlüpft der
Käfer aus, welcher überwintert.

Spitzmäuse (Soricidea Gerv.), Familie aus der
Ordnung der Insektenfresser, kleine Säugetiere vom Habitus der
Ratten und Mäuse, mit schlankem Leib, langem Kopf, gestrecktem
Schnauzenteil, sehr vollständigem Gebiß, meist kleinen
Augen und Ohren und eigentümlichen Drüsen an den Seiten
des Körpers oder an der Schwanzwurzel. Die S. finden sich in
der Alten Welt und Amerika und sind durch Vertilgung
schädlicher Insekten sehr nützlich. Sie zerfallen in zwei
Unterfamilien: eigentliche S. (Soricina) und Bisamspitzmäuse
(Myogalina). Die Waldspitzmaus (Sorex vulgaris L., s. Tafel
"Insektenfresser"), 6,5 cm lang, mit 4,5 cm langem,
gleichmäßig behaartem Schwanz, ist rotbraun, an den
Seiten lichter, unterseits gräulichweiß, mit oben
dunkelbraunem, unten bräunlichgelbem Schwanz und langen,
schwarzen Schnurren, findet sich weitverbreitet in Europa, in der
Ebene und im Gebirge, am häufigsten in feuchten Wäldern,
an Flüssen und Teichen; sie kommt im Winter in Ställe,
Scheunen und Wohnhäuser und lebt in selbstgegrabenen oder
schon vorhandenen unterirdischen Gängen. Sie ist sehr
lichtempfindlich und jagt daher nur nachts. Außer Insekten
und Würmern frißt sie auch Mäuse und S. Sie ist
ungemein gewandt, höchst gefräßig und blutgierig,
durchaus ungesellig und wirft zwischen Mai und Juli im Mauerwerk
oder unter hohlen Baumwurzeln in einem selbstgebauten Nest 5-10
Junge. Sie riecht sehr stark moschusartig, wird deshalb von der
Katze zwar getötet, aber nicht gefressen; nur einige
Raubvögel, Storch und Kreuzotter verschlingen sie. Ehemals
galt sie als sehr heilkräftig und, wie z. B. noch jetzt in
England, als höchst giftig. Die Zwergspitzmaus (S. pygmaeus
Pall.), das kleinste Säugetier diesseit der Alpen, 4,6 cm
lang, mit 3,4 cm langem Schwanz, oberseits dunkel graubraun, an den
Seiten mit gelblichem Anflug, unterseits weißgrau, findet
sich in fast allen Ländern Europas, in Nordasien und
Nordafrika, in Wäldern und in der Nähe von Gebüsch
und hat wesentlich dieselbe Lebensweise wie die vorige. Die
Hausspitzmaus (Crocidura Araneus Wagn., s. Tafel
"Insektenfresser"), 7 cm lang, mit 4,5 cm langem Schwanz, aus dem
Pelz deutlich hervortretenden Ohren und langen, zerstreut stehenden
Wimperhaaren auf dem Schwanz, oberseits braungrau, unterseits
hellgrau, bewohnt Nordafrika und fast ganz Europa, besonders Felder
und Gärten, jagt morgens und abends auf allerlei kleine Tiere,
siedelt sich gern in Gebäuden an und benascht Fleisch, Speck
und Öl. Das Weibchen wirft 5-10 Junge, welche schon nach sechs
Wochen ziemlich erwachsen und selbständig sind. Die
Wimperspitzmaus (C. etrusca Wagn.), 4 cm lang, mit 2,5 cm langem
Schwanz, neben einer Fledermaus das kleinste Säugetier, mit
verhältnismäßig sehr großer Ohrmuschel, ist
hellbräunlich, lebt in den Mittelmeerländern und am
Schwarzen Meer, am liebsten in Gärten und Gebäuden. Die
Wasserspitzmaus (Crossopus fodiens Wagn., s. Tafel
"Insektenfresser"), 6,5 cm lang, mit 5,3 cm langem Schwanz, mit
steifen Borstenhaaren ringsum an den Füßen und Zehen und
mit einem Kiel von ebensolchen Borstenhaaren längs der Mitte
der Unterseite des Schwanzes, ist oberseits schwarz, unterseits
weißlich, aber vielfach in der Farbe ändernd, findet
sich zuweilen in erstaunlicher Menge in Mittel- und Südeuropa
und in einem Teil Asiens, bewohnt fließende und stehende
Gewässer besonders gebirgiger Gegenden, geht auch auf Felder
und in Gebäude, gräbt sich unterirdische Gänge,
benutzt aber auch solche von Mäusen und Maulwürfen,
erscheint an Orten ohne Störung auch am Tag, schwimmt
vortrefflich, wobei ihr die Borstenhaare gute Dienste leisten, und
bleibt dabei vollständig trocken. Sie ist im Verhältnis
zu ihrer Größe das furchtbarste Raubtier, frißt
namentlich auch Lurche, Fische, Vögel und kleine

172

Spitzpocken - Spohr.

Säugetiere und wird dadurch der Teichwirtschaft
schädlich. Das Weibchen wirft in einem kleinen Kessel, der mit
Moos ausgekleidet wurde, 6-10 Junge. In der Gefangenschaft sind sie
schwer zu erhalten.

Spitzpocken, s. Windpocken.

Spitzsäule, s. v. w. Obelisk.

Spitzschwanz, s. v. w. Pfriemenschwanz, s. Madenwurm.

Spitzstein, s. Diamant, S. 931.

Spitzweg, Karl, Maler, geb. 5. Febr. 1808 zu
München, war anfangs Apotheker, studierte dann von 1830 bis
1832 auf der Universität in München und wendete sich erst
um 1835 der Kunst zu, in welcher er sich als Autodidakt durch
Studien nach ältern Meistern, insbesondere durch Kopien nach
den Niederländern ausbildete. Zur malerischen Darstellung
wählte er das spießbürgerliche Leben seiner Zeit in
gemütvoller und humoristischer Auffassung und mit Hervorhebung
gewisser Typen (Stadtgardisten, Nachtwächter, fahrende
Künstler, Invaliden, Sonderlinge, Gelehrte, Klausner), malte
daneben aber auch romantisch gehaltene Landschaften mit
phantastischer Staffage. Er bevorzugte dabei besonders die
Mondscheinbeleuchtung. Dem kleinen Format seiner Bilder entsprachen
die sorgsame Durchführung und die feine Charakteristik der
Figuren. Seine Hauptwerke sind: der arme Poet, Zauberer und Drache,
die reisende Künstlergesellschaft, schlafender Wachtposten bei
Mondschein, der Bücherantiquar, der Gelehrte im
Dachstübchen, der Kommandant, der Hypochonder, der
Sonntagsjäger, der Nachtwächter und die Serenade. Seit
1844 war er Mitarbeiter an den "Fliegenden Blättern", welche
er mit zahlreichen humoristischen Zeichnungen versah. Er starb 23.
Sept. 1885. Vgl. E. Spitzweg, Die S.-Mappe (Münch. 1887).

Spitzwegerich, s. Plantago (lanceolata).

Spitzahnornament, eine im normännischen und
romanischen Baustil vorkommende Gliedbesetzung (s. Abbildung).

Spix, Johann Baptist von, Naturforscher und Reisender,
geb. 9. Febr. 1781 zu Höchstadt a. d. Aisch, studierte in den
Seminaren zu Bamberg und Würzburg Theologie, wandte sich dann
zur Medizin und wurde 1811 Konservator der zootomischen Sammlungen
in München. 1817 ging er mit Martins nach Brasilien, kehrte
1820 nach Europa zurück und starb 13. März 1826 in
München. Er schrieb: "Geschichte und Beurteilung aller Systeme
in der Zoologie" (Nürnb. 1811); "Cephalogenesis" (Münch.
1815); "Reise nach Brasilien" (fortgesetzt von Fr. v. Martius, das.
1823 bis 1831, 3 Bde. mit Karten und Kupfern) und mehrere
Prachtwerke über Affen, Fledermäuse, Reptilien und
Vögel, die er in Brasilien gesammelt hatte (1824 bis 1825 mit
andern Zoologen vollendet).

Spizza (slaw. Spiz), Gemeinde in der dalmatischen
Bezirkshauptmannschaft Cattaro, im äußersten Süden
Österreichs, am Adriatischen Meer, mit Hafen und (1880) 1521
vorwiegend albanesischen Bewohnern. S. wurde durch den Berliner
Frieden 1878 von der Türkei an Österreich abgetreten.

Splanchnici (nervi s.), Eingeweidenerven.

Splanchnologie (griech.), Eingeweidelehre, Teil der
Anatomie (s. d.).

Spleen (engl., spr. splihn, "Milzsucht"), Form von
Melancholie mit Hypochondrie, welche oft zum Selbstmord führt.
Esquirol findet die Ursachen derselben zur Zeit der Pubertät
in einer unbestimmten, im Grund geschlechtlichen, unbefriedigten
Sehnsucht, beim reifern Alter im Aufgeben einer geregelten
Thätigkeit, in Übersättigung mit Vergnügungen
etc. Die Behandlung des Spleens muß zuerst die
körperlichen Verhältnisse berücksichtigen,
hinsichtlich deren sich meist Verdauungsstörungen vorfinden,
und die geistige Verstimmung durch zweckmäßige
psychische Behandlung, besonders durch geregelte Thätigkeit,
zu heben suchen.

Spleißofen, s. Kupfer, S. 320.

Splen (lat.), Milz; Splenalgie, Milzstechen; Splenitis,
Milzentzündung.

Splendid (lat.), glänzend, prächtig,
prachtliebend, viel aufgehen lassend; beim Buchdruck s. v. w. weit,
geräumig gesetzt (Gegenteil: kompreß).

Splint (Splintholz), s. Holz, S. 669; im Bauwesen s. v.
w. Schließe, s. Anker, S. 597.

Splintkäfer, s. Borkenkäfer.

Splissen, die Vereinigung zweier Tauenden, welche zu dem
Zweck aufgedreht werden, so daß die einzelnen Kardeele oder
Garne frei liegen; letztere werden demnächst mit Hilfe des
Marlpfriems zwischen die Kardeele der nicht aufgedrehten Teile der
Taue gearbeitet, derart, daß die fertige Splissung keinen
wesentlich größern Durchmesser erhält als das
übrige Tau.

Splißhorn, ein als Gefäß zum
Mitführen von Talg benutztes Kuhhorn, welches, am Gurt
getragen, neben dem Messer und Marlpfriem, dessen Spitze vor dem
Gebrauch mit Talg eingefettet wird, das Handwerkszeug der Takler
und Matrosen bildet.

Splitter, Dorf im preuß Regierungsbezirk Gumbinnen,
westlich bei Tilsit, mit Stolbeck zusammenhängend, hat (1885)
770 Einw.; hier 30. Jan. 1679 siegreiches Gefecht der Brandenburger
gegen die Schweden.

Splügen (roman. Speluga), ein Hochgebirgspaß
der Graubündner Alpen (2117 m), zwischen dem Tambo- und
Surettahorn, verbindet den Hinterrhein mit dem Liro
(Nebenfluß der Adda), also Bodensee und Comersee, und ward
schon zur Römerzeit benutzt. Über den S. führte
Macdonald (27. Nov. bis 4. Dez. 1800) die französische
Reservearmee. Später (1812 bis 1822) unternahm die
österreichisch-lombardische Regierung den Bau der
Splügenstraße, die vom Graubündner Dorf S. (1450 m)
bis Chiavenna (317 m) 38 km lang, überall 4,5 m breit ist und
eine größere Zahl von Galerien und Zufluchtsstätten
enthält. Erbauer war Karl Donegani. Seit längerer Zeit
ist der S. auch als Paß für eine ostschweizerische
Alpenbahn in Aussicht genommen.

Spodium (lat.), s. v. w. Beinschwarz oder Knochenkohle;
weißes S., s. v. w. Knochenasche.

Spodumen, Mineral, s. Triphan.

Spohr, Ludwig, Violinspieler und Komponist, geb. 5. April
1784 zu Braunschweig als das älteste Kind eines Arztes, der
1786 als Physikus nach Seesen am Harz versetzt wurde, zeigte
früh musikalisches Talent, so daß er schon in seinem
fünften Jahr gelegentlich in den musikalischen
Abendunterhaltungen der Familie mit seiner Mutter Duette singen
konnte, und wurde mit zwölf Jahren nach Braunschweig
geschickt, um bei gleichzeitigem Gymnasialunterricht sich in der
Musik auszubilden. Hier wurden Kunisch und später Maucourt
seine Violinlehrer, während ihn der Organist Hartung, jedoch
nur kurze Zeit, in der Komposition unterrichtete. Nach Spohrs
eigner Versicherung war dies die einzige Unterweisung, die ihm in
Harmonielehre und Kontrapunkt je zu teil geworden, so daß er
also die bedeutenden Fähigkeiten, welche er gerade auf diesem
Gebiet besaß, hauptsächlich dem eignen Fleiß zu
danken hatte.

173

Spöl - Spoleto.

15 Jahre alt, wurde er vom Herzog von Braunschweig, zum
Kammermusikus ernannt und erhielt zugleich das Versprechen,
daß der Herzog ihn zu weiterer Ausbildung noch irgend einem
großen Meister übergeben wolle. Die Wahl fiel endlich
auf Franz Eck in München, als dieser eben im Begriff war, eine
Kunstreise nach Rußland anzutreten. S. begleitete ihn und
kehrte erst im Juli 1803 nach Braunschweig zurück. Hier traf
er Rode an, dessen Spiel nachhaltigen Einfluß auf seine
weitere Entwickelung übte. Spohrs Ruf als ausgezeichneter
Violinvirtuose verbreitete sich nun infolge einiger Kunstreisen so
rasch, daß er schon 1805 die Konzertmeisterstelle in Gotha
erhielt. In dieser Stellung verblieb er, nachdem er sich ein Jahr
später mit der Harfen- und Klaviervirtuosin Dorette Scheidler
verehelicht hatte, abgesehen von mehreren mit seiner Gattin
unternommenen Kunstreisen, bis 1813, in welchem Jahr er einem Ruf
als Kapellmeister des Theaters an der Wien folgte. Zwistigkeiten
mit dem Direktor desselben, Grafen Pálffy, waren die
Ursache, daß er dies Amt bereits nach zwei Jahren niederlegte
und wiederum Kunstreisen antrat, die sich diesmal auch auf die
Schweiz, Italien und Holland erstreckten, bis er im Winter 1817 die
Kapellmeisterstelle am Theater in Frankfurt a. M. übernahm.
Hier brachte er 1818 seine Oper "Faust" und 1819 "Zemire und Azor"
zur Aufführung, welche beide enthusiastischen Beifall fanden;
gleichwohl verließ S. schon im September d. J. Frankfurt und
begab sich von neuem auf Kunstreisen nach Belgien, Paris und 1820
nach London. Nach viermonatlichem Aufenthalt ruhmgekrönt
zurückgekehrt, ließ er sich in Dresden nieder, erhielt
jedoch schon im folgenden Jahr auf Veranlassung K. M. v. Webers die
Berufung als Hofkapellmeister nach Kassel und trat im Januar 1822
in sein neues Amt ein. Größere Virtuosenreisen unternahm
er von nun an nicht mehr; dagegen entfaltete er die
ersprießlichste Thätigkeit zur Hebung der musikalischen
Zustände Kassels, insofern er sowohl das Orchester zu einer
zuvor nie gekannten Höhe hob, als auch außerdem einen
Gesangverein für Oratorienmusik gründete. Nicht minder
bedeutend war seine Thätigkeit als Lehrer und Komponist. In
ersterer Eigenschaft wurde er das Haupt einer Violinschule, wie sie
Deutschland seit Franz Benda nicht besessen, und von allen Teilen
Europas strömten ihm die Schüler zu. Gleichzeitig
entwickelte er eine erstaunliche Produktionskraft auf allen
Gebieten der Komposition und bethätigte sich als Dirigent
zahlreicher Musikfeste in Deutschland und England. Auch der Verlust
seiner Gattin (1834), für den er in einer zweiten Ehe mit der
Klavierspielerin Marianne Pfeiffer nur einen annähernden
Ersatz fand, vermochte seinen Arbeitseifer und seine Pflichttreue
nicht zu vermindern, so wenig wie die kleinlichen Schikanen, die er
später von seinem Fürsten zu erdulden hatte, dies
namentlich nach dem Jahr 1848, obwohl er das Jahr zuvor durch die
Ernennung zum Generalmusikdirektor ausgezeichnet war. 1857 gegen
seinen Wunsch und mit teilweiser Entziehung seines Gehalts
pensioniert, blieb er bis zu seinem Tod 22. Okt. 1859 als Mensch
wie als Künstler ein Gegenstand der allgemeinen Verehrung. Als
Komponist hat S. die musikalische Litteratur auf jedem ihrer
Gebiete durch Meisterwerke von unvergänglichem Wert
bereichert. Auf dem der dramatischen Musik wurde er neben K. M. v.
Weber und Marschner der Hauptvertreter der romantischen Oper, wenn
er auch hinsichtlich des szenisch Wirksamen hinter diesen beiden
zurücksteht und infolgedessen seine Opern, mit Ausnahme von
"Jessonda", noch zu seinen Lebzeiten von den deutschen Bühnen
verschwanden. Auch in seinen Oratorien: "Die letzten Dinge", "Der
Fall Babylons" u. a. folgt er zu ausschließlich seinem
subjektiven Naturell, um auf die Nachwelt zu wirken, wiewohl hier
seine Neigung zum Elegischen und das konsequente Festhalten eines
erhabenen Pathos sowie endlich der für alle seine Arbeiten
charakteristische, nicht selten in Überfülle ausartende
Reichtum der Modulation die Wirkung weniger beeinträchtigen
als in seinen Opern. Unbedingte Bewunderung verdienen seine
zahlreichen, ausnahmslos durch Adel der Empfindung und formale
Abrundung hervorragenden Instrumentalwerke, sowohl für
Orchester als für Kammermusik, unter den erstern die
Symphonien in C moll und "Die Weihe der Töne", unter den
letztern die Quintette und Quartette, sowohl für
Streichinstrumente allein als mit Klavier. Den größten
und verdientesten Erfolg aber haben die speziell für sein
Instrument geschriebenen Werke gehabt, und seine 15 Violinkonzerte,
darunter namentlich das 7., 8. ("in Form einer Gesangsszene") und
9., sowie seine Violinduette, endlich seine große
Violinschule stehen noch heute an klassischem Wert
unübertroffen da. Vgl. Spohrs "Selbstbiographie"
(Götting. 1860-61, 2 Bde.; bis 1838 von ihm selbst geschrieben
und von da bis zu seinem Tod von den Angehörigen
ergänzt); v. Wasielewski, Die Violine und ihre Meister (2.
Aufl., Leipz. 1883); Malibran, Louis S., sein Leben und Wirken
(Frankf. a. M. 1860); Schletterer, Louis S. (Leipz. 1881).

Spöl, Fluß, s. Livigno (Val di).

Spoleto, Kreishauptstadt in der ital. Provinz Perugia
(Umbrien), an der Eisenbahn Rom-Foligno-Ancona, auf einem
Hügel (dem Krater eines erloschenen Vulkans) unfern der
reißenden Maroggia, über deren Thal ein 69 m hoher, 209
m langer Aquädukt mit altem Brückenweg führt, hat
ein schönes Kastell (jetzt Strafhaus), viele Kirchen (darunter
die Kathedrale mit Fresken von Filippo Lippi), zahlreiche
Altertümer, ansehnliche Paläste (Kommunalpalast mit
kleiner Gemäldesammlung), ein schönes Theater und (1881)
7696 Einw., die Fabrikation von Hüten, Leder, Wollenstoffen,
Bereitung von Konserven, Getreide-, Wein- und Ölbau sowie
Handel mit diesen Produkten betreiben. S. hat ein Lyceum,
Gymnasium, Seminar, eine technische Schule, ein Konviktkollegium,
eine Bibliothek, eine wissenschaftliche Akademie und ist Sitz eines
Erzbischofs, eines Unterpräfekten und eines Handelsgerichts. -
S. hieß im Altertum Spoletium und war eine der ansehnlichsten
Städte Umbriens, die 242 v. Chr. eine römische Kolonie
ward und sich 217 standhaft gegen Hannibals Angriffe verteidigte.
Von den Goten unter Totilas zerstört, ward sie von Narses
wieder aufgebaut und dann von den Langobarden zur Hauptstadt eines
Lehnsherzogtums gemacht, das einen großen Teil Mittelitaliens
(Umbrien, Sabiner- und Marsenland, Fermo und Camerino)
umfaßte und auch unter fränkischer Herrschaft bestehen
blieb. Herzog Guido von S. ward 891 Kaiser, ebenso sein Sohn
Lambert 898. Mit Konrad dem Schwaben erlosch das selbständige
Herzogtum. Durch Kaiser Heinrich II. wurde S. mit Toscana
vereinigt, war nach Mathildens von Tuscien Tod (1115) Gegenstand
des Streits zwischen Kaiser und Papst und nur vorübergehend
Sitz eines kaiserlichen Markgrafen. Seit dem 13. Jahrh.
gehörte das Herzogtum nebst der Mark Fermo zum Kirchenstaat,
seit 1861 gehört es zum Königreich Italien. Vgl. Sansi,
Storia del comune di S. (Foligno 1879).

174

Spoliation - Spontini.

Spoliation (lat.), Beraubung.

Spolien (lat. Spolia), die dem Feind von den
römischen Soldaten in der Schlacht entrissene Beute an Waffen,
Schmuck etc., welche den Tempel sowie das Vestibulum und Atrium des
Hauses, namentlich der siegenden Feldherren, schmückte und
stets an dem Haus blieb, auch wenn es den Besitzer wechselte.
Besonders berühmt waren die Spolia opima ("fette Beute"), die
dem feindlichen Feldherrn abgenommen waren und dem Jupiter
Feretrius auf dem Kapitol geweiht wurden. Auch die ehedem in den
Kirchen aufgehängten ritterlichen Ehrenzeichen (Schild, Helm
etc.) der Kirchenpatrone sowie die Güter geistlicher, ohne
Testament verstorbener Personen werden S. genannt (vgl.
Spolienrecht).

Spolienklage, s. Besitz.

Spolienrecht (Jus spolii), das von den deutschen Kaisern
ehedem in Anspruch genommene und bis auf Friedrich II.
ausgeübte Recht, den Nachlaß verstorbener Bischöfe
einzuziehen. Auch die Landes- und Grundherren nahmen im Mittelalter
dem Nachlaß von katholischen Geistlichen gegenüber
zuweilen ein S. in Anspruch, und auch von Päpsten und
Bischöfen ist es ausgeübt worden.

Spoliieren (lat.), berauben, plündern.

Sponde (lat.), Bettgestell, Bettstatt.

Spondeus, ein aus zwei langen Silben (- -) bestehender
Versfuß, der anfänglich bei den Libationen (Spondä)
der Griechen, wobei man eine langsame und ernste Melodie liebte,
dann aber namentlich mit dem Daktylus abwechselnd im Hexameter
angewendet wurde.

Spondias L., Gattung aus der Familie der Anakardiaceen,
Bäume mit unpaarig gefiederten Blättern, unansehnlichen
Blüten und fleischigen, pflaumenähnlichen Früchten.
Von den etwa zehn tropischen Arten liefert S. Mombin L. (S.
purpurea Mill., Mombinpflaumenbaum), in Südamerika und
Westindien, die beliebten Mombinpflaumen oder otahaitischen
Äpfel, zum Räuchern dienendes Amra- oder Aruraharz und
Holz zu Pfropfen. S. lutea L. hat gelbe, herbe Früchte, die
als Arzneimittel dienen, und liefert Acajouholz. S. mangifera Pers.
(Amrabaum), auf Malabar und Koromandel, mit ebenfalls
genießbaren Früchten, liefert auch Amraharz. S. dulcis
Forst., auf den Südseeinseln, liefert die
Cytherenäpfel.

Spondieren (lat.), geloben, besonders von
Ehegelöbnissen gebraucht.

Spondylarthrokace (Spondylitis), s. v. w.
Wirbelentzündung, s. Pottsches Übel.

Spondylus (lat.), Wirbelknochen.

Spongiae, Schwämme (s. d.); S. ceratae,
Wachsschwämme, mit geschmolzenem gelben Wachs getränkte
und scharf ausgedrückte Schwämme; S. compressae,
Preßschwämme, durch Umschnüren mit Bindfaden stark
komprimierte Schwämme, werden wie die vorigen ihres
Quellungsvermögens halber zu unblutigen Erweiterungen,
namentlich des Uteruskanals und des Muttermundes, benutzt, in
neuerer Zeit aber meist durch Laminaria digitata ersetzt.

Spongiös (lat.), schwammig; spongiöse
Knochensubstanz, die weiche, am macerierten Knochen poröse
Substanz in den Knochenenden im Gegensatz zu der festen
Knochenrinde und dem weichen Mark.

Spongitenkalk (Scyphienkalk), fossile Schwämme
enthaltender Kalk; s. Juraformation.

Sponheim (Spanheim), früher reichsunmittelbare
Grafschaft im oberrhein. Kreis, zwischen dem Rhein, der Nahe und
der Mosel, zerfiel in S.-Kreuznach und S.-Starkenburg oder die
vordere und hintere Grafschaft. Der Stammvater des gräflichen
Geschlechts ist Eberhard, um 1044; sein Sohn Stephan gründete
1101 unweit seiner Burg die Abtei S. auf dem Gauchsberg. Nach dem
Tod Gottfrieds II. (1232) begründeten seine Söhne Johann
I. die Linie S.-Starkenburg, Simon II. S.-Kreuznach, während
Heinrich 1248 in der Grafschaft Sayn den Zweig S.-Blankenberg
stiftete, welcher sich bald in die Zweige S.-Heinsberg und
S.-Lewenberg teilte und im 15. Jahrh. erlosch. Johanns I. zweiter
Sohn, Gottfried, ist der Stammvater der Grafen von Sayn und
Wittgenstein (s. d.). Bei dem Aussterben der Kreuznacher Linie 1416
fiel ein Fünftel der Grafschaft an Kurpfalz, vier Fünftel
an die Starkenburger Grafen. Als auch diese 1437 ausstarben, fielen
ihre Besitzungen an Baden und die Pfalz. Nach langwierigen
Streitigkeiten mit der Pfalz wurde im Teilungsvertrag von 1708
Birkenfeld an Pfalz-Zweibrücken überwiesen, fiel jedoch
1776 an Baden zurück, während Kreuznach bei Kurpfalz
verblieb. 1801 kam die ganze Grafschaft an Frankreich, 1814 an
Preußen, das 1817 einen Teil davon, das Fürstentum
Birkenfeld, an Oldenburg abtrat.

Sponsalien (lat.), s. Verlöbnis.

Sponsieren (lat.), liebeln, um ein Mädchen werben,
buhlen; Sponsierer, Freier, Buhler.

Sponsor (lat.), Bürge; auch s. v. w. Pate.

Sponsus (lat.), Bräutigam; Sponsa, Braut.

Spontan (lat.), von selbst, ohne äußere
Einwirkung erfolgend; daher Spontaneität,
Selbstthätigkeit, das Vermögen, von selbst und nicht
infolge besonderer Anregung thätig zu sein.

Spontini, Gasparo, Komponist, geb. 14. Nov. 1774 zu
Majolati bei Jesi (Mark Ancona), erhielt seine Ausbildung zu Neapel
im Konservatorium della Pietà, wo er von Sala im Kontrapunkt
unterrichtet wurde, und debütierte 1796 in Rom mit der Oper "I
puntigli delle donne", welche mit Beifall aufgenommen wurde. Diesem
Werk folgte für verschiedene italienische Theater eine Reihe
von Opern, die sich jedoch von dem damals in Italien
landläufigen Stil in nichts unterschieden. In Paris, wohin er
sich 1803 wandte, vermochte er anfangs keine Anerkennung zu finden
und mußte durch Gesangstunden sein Leben fristen, bis er 1804
mit der einaktigen Oper "Milton" die Aufmerksamkeit des Publikums
erregte. S. hatte sich mittlerweile den Stil Glucks angeeignet und
verwendete ihn zum erstenmal in seiner "Vestalin" (Text von Jouy),
welche 15. Dez. 1807 zur Aufführung kam. Der Erfolg war ein
vollständiger, und das Nationalinstitut erkannte dem Meister
den von Napoleon I. gestifteten Preis von 10,000 Frank zu. Die 1809
folgende Oper "Ferdinand Cortez" fand gleichfalls enthusiastische
Aufnahme. Im nächsten Jahr erhielt S., nachdem er schon 1805
Direktor der Kammermusik der Kaiserin Josephine geworden war, die
Direktion des italienischen Theaters im Odéon, woselbst er
zum erstenmal in Paris Mozarts "Don Juan" zur Aufführung
brachte. Intrigen verleideten ihm jedoch bald genug dieses Amt, er
legte es deshalb nach zwei Jahren wieder nieder. Mit dem Sturz des
Kaiserreichs verlor S. auch seine Stellung bei Hof und war
demgemäß für die folgenden Jahre lediglich auf sein
Talent und seine Arbeiten für die Bühne angewiesen. Sein
nächstes großes Werk: "Olympia", ging im Dezember 1819
zum erstenmal in Szene, fand jedoch nicht den entschiedenen Beifall
wie die beiden vorhergehenden Opern. S. folgte daher um so lieber
einer Aufforderung des Königs von

175

Sponton - Sporenfink

Preußen, der ihn 1820 als Generalmusikdirektor nach Berlin
berief. Hier entfaltete S. während seiner mehr als
20jährigen unbeschränkten Herrschaft über die
Opernbühne eine auf alle Zweige des Opernwesens sich
erstreckende Thätigkeit, die so erfolgreich war, daß er
das seiner Leitung anvertraute Institut auf eine weder vor noch
nach ihm erreichte Höhe brachte; allein die drei "Hofopern",
welche er in Berlin noch schrieb ("Nurmahal", "Alcidor" und "Agnes
von Hohenstaufen"), blieben hinter seinen drei vorhergegangenen
Werken weit zurück. Zudem schuf er sich durch sein häufig
schroffes Auftreten eine große Anzahl von Feinden, und die
hieraus sich entspinnenden litterarischen Fehden, die ihn fast in
einen Prozeß wegen Majestätsbeleidigung verwickelt
hätten und schließlich bei Gelegenheit einer von ihm
geleiteten Aufführung des "Don Juan" zu einer gegen ihn
gerichteten stürmischen Demonstration des Publikums
führten, veranlaßten ihn 1842, sein Amt niederzulegen
und nach Paris zurückzukehren. 1844 unternahm er eine Reise
nach Italien, wo ihn der Papst zum Grafen Sant' Andrea ernannte.
1847 wollte sich S. auf Wunsch des Königs von Preußen
nochmals nach Berlin begeben, um dort einige seiner Opern zu
dirigieren, allein ein Gehörübel verhinderte ihn daran.
Infolge der politischen Wirren kehrte er endlich 1848 für
immer in sein Vaterland zurück, wo er 24. Jan. 1851 in seinem
Geburtsort starb. S. ist einer der Hauptrepräsentanten der
unter dem Einfluß des Napoleonischen Kaiserreichs
entstandenen heroischen Oper, die trotz alles Aufwandes
äußerer Effektmittel doch unter seinen Händen zu
einem Kunstwerk ersten Ranges wurde. Hinsichts des Adels der
Melodie, der Reinheit der Deklamation und der Konsequenz in der
Ausführung seiner Charaktere steht er von allen Komponisten
der französischen Großen Oper Gluck am nächsten,
und er ist von keinem seiner Nachfolger auf diesem Gebiet erreicht
worden. Vgl. Robert, G. Spontini (Berl. 1883); R. Wagner,
Erinnerungen an S. ("Gesammelte Schriften", Bd. 5).

Sponton (spr. spongtóng, Esponton, franz.), eine
Halbpike nach Art der Hellebarde (s. Abbildung), wurde bis zu
Anfang dieses Jahrhunderts von den Offizieren der Infanterie neben
dem Degen als Paradewaffe geführt. Der S. der Unteroffiziere,
auch Partisane genannt, war länger, etwa 2,5 m lang, und
hieß mit ersterm Kurzgewehr im Gegensatz zur längern
Pike (s. d.).

Sporaden, Inselgruppe im Ägeischen Meer und zwar im
Gegensatz zu den Kykladen (s. d.) diejenigen Inseln, welche im N.,
O. und Süden um dieselben "zerstreut" an der Küste von
Kleinasien und Thessalien liegen. Die S. zerfallen in die
Nordsporaden (Skiathos, Skopelos, Chilidromia, Pelagonisi, Skyros
und mehrere kleinere), die Ostsporaden (Nikaria, Patinos, Lero,
Kos, Rhodos nebst vielen kleinern) und die Südsporaden (Thera
oder Santorin, Amurgos, Astypaläa oder Stampalia, Ios oder
Nio, Karpathos, Kasos und mehrere kleinere). Letztere werden von
manchen Neuern (wie auch offiziell) zu den Kykladen gezählt
und die Ostsporaden dann als Südsporaden bezeichnet. Die S.
sind meist mit Bergen bedeckt, die sich durch ihre schroffen Formen
auszeichnen; vielen fehlt die Bewässerung; die
bewässerten zeichnen sich durch große Fruchtbarkeit aus.
Die alten Griechen bezeichneten als S. im engern Sinne nur die im
Ikarischen Meer von Rhodos bis Nikaria (Ikaria) gelegenen Inseln.
Bei der Trennung Griechenlands von der Türkei blieben nur die
zunächst der Küste von Kleinasien liegenden Ostsporaden
bei letzterm Land, während die Nord- und die meisten
Südsporaden an Griechenland fielen. S. Karte
"Griechenland".

Sporadisch (griech., "zerstreut"), in der Medizin von
Krankheiten gebraucht, welche nur einzelne Individuen ergreifen, im
Gegensatz zur Epidemie; auch sonst s. v. w. vereinzelt
vorhanden.

Sporangium (lat., Keimfrucht), bei den Kryptogamen die
Behälter der Sporen, welche entweder, wie bei vielen Algen und
Pilzen, einfache Zellen darstellen, in denen durch Zellbildung
zahlreiche ruhende Sporen oder Schwärmsporen (im letztern Fall
Zoosporangien genannt) entstehen, oder kapselartige Behälter
sind, welche eine aus Zellen zusammengesetzte Wand besitzen und im
Innern meist durch Vierteilung aus Mutterzellen die Sporen
erzeugen, wie bei den Moosen, Farnkräutern etc.

Sporck, Johann von, kaiserl. General, geb. 1595 zu
Westerloh bei Delbrück im Bistum Paderborn, Sohn eines armes
Edelmanns, trat als gemeiner Soldat in das ligistische Heer, in dem
er den Dreißigjährigen Krieg mitmachte, ward 1639
bayrischer Reiteroberst, vollführte im November 1643 einen
glücklichen Handstreich gegen das französische Heer und
zeichnete sich 1645 in der Schlacht bei Jankau aus. Als
Generalwachtmeister beteiligte er sich im Juli 1647 an dem Versuch
Johanns v. Werth, das bayrische Heer dem Kaiser nach Böhmen
zuzuführen, wurde nach dessen Mißlingen vom
Kurfürsten Maximilian für einen Verräter
erklärt, trat in kaiserliche Dienste, ward zum
österreichischen Freiherrn ernannt und mit Gütern in
Böhmen beschenkt. Er focht dann als Reitergeneral unter
Montecuccoli 1657-60 gegen die Schweden in Polen und
Schleswig-Holstein, in der Schlacht bei St. Gotthardt 1. Aug. 1664
gegen die Türken, worauf er zum Reichsgrafen ernannt wurde,
und 1674-75 gegen die Franzosen am Rhein. Er starb 6. Aug. 1679 auf
seinem Gut Herman-Mestiz in Böhmen. Vgl. Rosenkranz, Graf
Johann v. S. (2. Ausg., Paderb. 1854). Fr. Löher hat sein
Leben in einem Epos behandelt.

Sporco (ital., "unrein"), s. v. w. Brutto (s. d.).

Sporen (Sporae, Keimkörner), bei den Kryptogamen die
zur Vermehrung dienenden, den Samen der Phanerogamen analogen
Körper, welche aber einzelne Zellen oder aus wenigen Zellen
zusammengesetzt sind und nie einen Embryo enthalten, wie die Samen
der Blütenpflanzen. Sie sind in der Regel mikroskopisch klein,
treten aber meist massenhaft auf. Ihre Entstehung und
Beschaffenheit sind in den einzelnen Klassen, Ordnungen und
Familien der Kryptogamen verschieden; man nennt die durch
Abschnürung auf Basidien entstehenden S. Basidio- oder
Akrosporen, oft auch Konidien oder Stylosporen, die in
Sporenschläuchen sich bildenden S. Askosporen oder
Thekasporen, die in Sporangien entstehenden nackten, d. h. nicht
von einer Zellhaut umhüllten, mittels schwingender Wimpern im
Wasser frei beweglichen S. Schwärmsporen oder Zoosporen.

Sporenfink, s. Ammer, S. 489

176

Sporenfrucht - Spottdrossel.

Sporenfrucht, s. Sporocarpium.

Sporenorden, s. Goldener Sporn.

Sporenschlacht (Journée des éperons),
Bezeichnung sowohl der Schlacht (1302) bei Courtrai (s. d.) als der
zweiten (1513) bei Guinegate (s. d.).

Sporenschlauch (Ascus, Theca), bei Pilzen und Flechten
diejenigen meist keulen- oder schlauchförmigen Mutterzellen
von Sporen, in welchen die letztern durch Zellbildung erzeugt
werden.

Sporer, zünftiger Name der Metallarbeiter, welche
Sporen und die zum Reitzeug gehörigen Beschläge und
sonstigen Zieraten verfertigten.

Spörer, Gustav Friedrich Wilhelm, Astronom, geb. 23.
Okt. 1822 zu Berlin, wurde Professor der Mathematik am Gymnasium in
Anklam, 1868 Teilnehmer an der Expedition, welche vom Norddeutschen
Bund zur Beobachtung der totalen Sonnenfinsternis (18. Aug.) nach
Mulwar in Ostindien geschickt wurde, 1875 an das bei Potsdam
erbaute astrophysikalische Observatorium berufen, machte sich
besonders durch Beobachtungen der Sonnenoberfläche
verdient.

Spörgel, s. Spergula.

Sporidesmium Link, Pilzgattung aus der Gruppe der
Pyrenomyceten, umfaßt etwa 20 deutsche Arten, welche
wahrscheinlich alle Konidienformen von Pyrenomyceten, besonders
Pleospora, darstellen. Sie bilden auf Pflanzenteilen dunkle
Überzüge, den sogen. Rußtau. S. putrefaciens Fuckel
lebt parasitisch in den jungen Blättern der Runkelrübe
und verursacht die Herzfäule der Rüben. Er bildet
olivengrüne, ausgebreitete Räschen auf den durch den Pilz
schwarz gefärbten Blättern.

Sporidien, bei Rost- und Brandpilzen die auf den
Promycelien (s. d.) durch Abschnürung entstehenden kleinen
Sporen, welche durch Keimung das eigentliche Mycelium erzeugen.

Spörk, s. v. w. Spergel, s. Spergula.

Sporn, s.v.w. Stachel, stachelähnliches Werkzeug, z.
B. an der Ferse eines Reiterstiefels; auch s. v. w. Ramme eines
Panzerschiffs (s. d.); stachelartige Hervorragung an den
Füßen mancher Tiere, besonders Vögel (Hahnensporn
etc.); in der Botanik ein nach abwärts röhrenförmig
verlängerter, etwas gekrümmter Fortsatz der Perigon-,
Kelch- oder Blumenblätter (s. Blüte, S. 67).

Spornblume, s. Plectranthus.

Sporocarpium (Sporenfrucht), der nach der Befruchtung zur
Ausbildung gelangende Fruchtkörper der Karposporeen, in oder
an welchem sich die Sporen bilden; s. Kryptogamen.

Sporocysten, s. Leberegel.

Sporogonium (griech.-lat.), s. Moose, S. 790.

Sport (engl., "Spiel, Belustigung"), das ehrgeizige
Bestreben eines Mannes nach hervorragender körperlicher
Leistung, ein Begriff, der dem Altertum (Kampfspiele der Griechen)
und dem Mittelalter (Turniere) nicht unbekannt war. Der neuesten
Zeit war es indessen vorbehalten, den S. nach allen Richtungen hin
auszubilden, und zwar geschah dies hauptsächlich in England.
Es folgten dann besonders die Vereinigten Staaten und in
größerm oder geringerm Maß das europäische
Festland. Zugleich erweiterte sich der Begriff dahin, daß man
darunter auch Thätigkeiten verstand, bei welchen nicht
bloß der Körper, sondern auch der Geist seine Rechnung
findet. Ein wesentliches Merkmal dieser Thätigkeiten war es
indessen von jeher und ist es noch, daß sie im Freien
ausgeübt werden. Widersinnig ist daher z. B. die Bezeichnung
Briefmarkensport, ebenso widersinnig wie die ausschließliche
Anwendung des Wortes S. auf die Pferderennen. Man unterscheidet: 1)
die mehr gesundheitlichen Zwecken dienenden, im wesentlichen
bloß Kraft erfordernden, bez. die Körperkraft
fördernden Sportarten, so die Mehrzahl der Turnübungen,
das Rudern, das Fahren mit Dreirädern, das Gehen, Laufen etc.;
2) die Sportarten, welche Kraft und Geschicklichkeit zugleich
verlangen, bez. fördern helfen: Schlittschuhlaufen und
Schwimmen, die höhern Turnübungen, das Fechten, das
Fahren mit Zweirädern, das gewöhnliche Reiten, die Jagd
auf wehrlose Tiere, die Angel- und Netzfischerei auf
Binnengewässern, Cricket, Fußball, Lawn Tennis, das
Schießen; 3) endlich die Sportarten, deren Ausübung
Kraft und Geschick erfordert und mit einer gewissen Gefahr
verbunden ist, welche mit Hilfe dieses Geschicks abgewendet werden
soll: die Jagd auf wilde, wehrhafte Tiere, Parforcejagd und
Pferderennen, der Bergsport, die Fischerei auf hoher See und vor
allen der Segelsport, welcher bei den Engländern für den
Inbegriff des Sportlichen gilt. Dieser zerfällt wiederum in
Segeln auf Binnengewässern und Segeln auf hoher See. Letzterer
erfordert zugleich erhebliche mathematische und astronomische
Kenntnisse. Die Sportarten lassen sich aber auch nach den toten
oder lebendigen Gegenständen einteilen, welche zu deren
Ausübung dienen, bez. den Gegenstand derselben bilden. So
unterscheidet man 1) Jagd- und Schießsport nebst Hundezucht;
2) Pferdesport in allen seinen Abarten, wie: Turf, Trabersport,
Fahrsport, Parforcejagd, Schnitzeljagd, Dauerreiten und
Steeplechase; 3) Wassersport, welcher wiederum zerfällt in
Segeln, Dampfen, Rudern, Fischen und Angeln, Eissport und
Schwimmen; endlich 4) die verschiedenen Sportarten, als: Fechten
und Turnen, Radfahren, Athletik, Skaten, Ballonsport, Bergsport,
Gartenspiele etc. Als ein wesentliches Merkmal des Sports ist
endlich anzuführen, daß dessen Ausübung nicht um
des Gelderwerbs wegen geschieht. Näheres s. in den einzelnen
Artikeln. Vgl. Georgens, Illustriertes Sportbuch (Leipz. 1882).
Eine "Sportzeitung" (seit 1880) und eine "Sportbibliothek" für
die verschiedenen Sportzweige gibt V. Silberer in Wien heraus; in
Berlin erscheinen die "Sportswelt" und die "Neuesten
Sportsnachrichten" (hrsg. vom Unionklub).

Sporteln (lat.), Gebühren für Amtshandlungen,
die nach gesetzlich festgestellter Norm (Sporteltaxe) entrichtet
werden; namentlich Bezeichnung für die Gerichtskosten (s.
d.).

Sports-man (engl., spr. -män), Liebhaber oder
Betreiber des Sports (s. d.).

Sposalizio (ital., "Verlobung"), in der Malerei die bei
den Italienern übliche Bezeichnung für die Darstellung
der Verlobung der Jungfrau Maria und Josephs, insbesondere für
die beiden berühmten Bilder Peruginos (in Caen) und Raffaels
(in Mailand).

Spott kommt mit dem Scherz (s. d.) darin überein,
daß er den andern lächerlich, unterscheidet sich von
diesem dadurch, daß er ihn zugleich verächtlich
macht.

Spottdrossel (Mimus Boie), Gattung aus der Ordnung der
Sperlingsvögel, der Familie der Drosseln (Turdidae) und der
Unterfamilie der Spottdrosseln (Miminae), Vögel mit sehr
gestrecktem Leib, mittellangem, abwärts gekrümmtem
Schnabel mit deutlicher Kerbe an der Spitze,
verhältnismäßig hochläufigen, starken
Füßen mit kräftigen Zehen und schwächlichen
Nägeln, kurzen, abgerundeten Flügeln, in denen die
dritte, vierte und fünfte Schwinge am längsten sind, und
mäßig langem, stufigem Schwanz. Die S. (Mimus
polyglottus Boie) ist oberseits dunkelgrau, am Kopf bräunlich,
unterseits bräunlichweiß;

177

Spottiswoode - Sprache (physiologisch).

die Schwingen sind braunschwarz, fahlgrau gesäumt, die
Spitzen der Flügeldeckfedern weiß, die mittelsten
Steuerfedern schwarz, die äußern weiß; die Augen
sind blaßgelb, der Schnabel ist bräunlichschwarz, die
Füße dunkelbraun. Die S. bewohnt Nordamerika, vom
40° nördl. Br. bis Mexiko, besonders den Süden,
findet sich im Buschwerk, im lichten Wald und in Pflanzungen, in
Ebenen und an der Küste, sucht, besonders im Winter, die
Nähe menschlicher Wohnungen, ähnelt in ihren Bewegungen
den Drosseln und nährt sich von Kerbtieren und Beeren. Sie
brütet zwei-, im Süden auch dreimal in dichten Baumkronen
oder Büschen oft sehr nahe den Wohnungen und legt 3-6
hellgrüne, dunkelbraun gefleckte Eier. Sie singt vortrefflich,
berühmt aber ist sie durch ihre bewundernswerte
Fähigkeit, fremde Gesänge und die verschiedensten
Töne und Geräusche nachzuahmen. Sie hält sich gut in
der Gefangenschaft und hat sich mehrfach, auch in Europa,
fortgepflanzt.

Spottiswoode (spr. -wudd), William, Mathematiker und
Physiker, geb. 11. Jan. 1825 zu London, studierte in Oxford und
übernahm dann die Druckerei der Königin, welche unter
seiner Leitung namhaften Aufschwung gewann, ohne ihm die Muße
zu selbständiger wissenschaftlicher Thätigkeit zu rauben.
Seine frühsten Werke: "Meditationes analyticae" (1847) und
"Elementary theorems relating to Determinants" (1851), bilden die
erste umfassendere Darstellung der Determinantentheorie. Eine Reise
durch Ostrußland (1856) beschrieb er in "A tarantasse journey
through Eastern Russia" (1857) und eine andre durch Kroatien und
Ungarn in Galtons "Vacation tourist in 1860". Seit 1870 wandte er
der Optik und Elektrizitätslehre seine Aufmerksamkeit zu und
schrieb noch "Polarisation of light" (1874). 1879 ward ihm die
höchste wissenschaftliche Würde in England, die des
Präsidenten der Royal Society, übertragen, welche er bis
zu seinem Tod 27. Juni 1883 bekleidete.

Spottkruzifix, Bezeichnung eines 1856 in einem antiken
Gebäude am Palatin entdeckten, im Museum Kircherianum zu Rom
befindlichen Stuckfragments mit der kunstlos eingeritzten
Darstellung eines Gekreuzigten mit einem Eselskopf, vermutlich aus
der Mitte des 2. Jahrh. Er ist bekleidet mit einem Hemd und einer
losen Tunika; rechts daneben steht eine ebenso bekleidete
menschliche Gestalt, die Hand als Zeichen der Anbetung
emporstreckend; darunter die griechischen Worte: "Alexamenos betet
Gott an". Das S. ist wichtig als Zeugnis der Verspottung der ersten
Anhänger des Christentums durch die Römer. Vgl. Kraus,
Das S. vom Palatin (Freiburg 1872); Becker, Das S. der
römischen Kaiserpaläste (Gera 1876).

Spottsylvania Court-House (spr. kohrt-haus'),
Gerichtshalle der gleichnamigen Grafschaft im nordamerikan. Staat
Virginia, 20 km südwestlich von Fredericksburg, wo Lee 24. Mai
1864 von Grant besiegt wurde.

Spr., auch Spreng., bei botan. Namen Abkürzung
für Kurt Sprengel (s. d.).

Sprache (Sprechen), vom physiologischen Standpunkt eine
Kombination von Tönen und Geräuschen, welche durch
entsprechende Verwendung der Ausatmungsluft, in gewissen
Fällen auch beim Einatmen (Schnalzlaute der Hottentoten und
andrer Völker) hervorgebracht werden. Die Vokale oder
Selbstlauter sind Klänge, die an den Stimmbändern
entstehen und sich mit den auf einem musikalischen Instrument
hervorgebrachten Tönen vergleichen lassen; ihre besondere
Klangfarbe erhalten sie wie die Töne auf einer Geige, einem
Pianoforte etc. durch die neben dem Grundton erklingenden Ober-
oder Nebentöne, welche ihrerseits durch die wechselnde
Gestaltung des Ansatzrohrs und Resonanzraums, d. h. der
Mundhöhle, des Gaumens etc., bedingt werden. Als die drei
Grundvokale kann man a, i, u bezeichnen; doch gibt es zwischen
denselben eine unendliche Menge von Nuancen, die durch kleine
Verschiedenheiten der Mundstellung bedingt werden. Bei der
Aussprache des u senkt sich der Kehlkopf, und die Lippen treten
nach vorn, indem sie nur eine kleine rundliche Öffnung
zwischen sich lassen (Fig. 1). Von dem dumpfen u gelangt man zu dem
heller klingenden a durch die Übergangsstufe des o, bei dessen
Bildung sich die Lippenöffnung mäßig erweitert. Bei
der Hervorbringung des a liegt der Kehlkopf höher, die Zunge
liegt platt auf dem Boden der Mundhöhle, so daß das
Ansatzrohr einem vorn offenen Trichter gleicht (Fig. 2). Den
Übergang vom a zu i, dem hellsten Vokal, bildet das e, bei dem
der hintere Teil der Zunge und zugleich der Gaumen sich etwas
emporheben. Beim i wird der Kehlkopf sowohl als der hintere Teil
der Zunge stark emporgehoben, so daß die Mundhöhle eine
Flasche mit sehr engem Hals darstellt (Fig. 3). Die Diphthonge
entstehen durch raschen Übergang der Organe aus einer
Mundstellung in die entsprechende andre, die zur Hervorbringung des
zweiten Teils des Diphthongen erforderlich ist. Die Konsonanten
oder Mitlauter kann man auf verschiedene Weise einteilen. Ihrer
physiologischen oder akustischen Beschaffenheit nach sind sie
entweder tonlos oder tönend, d. h. sie werden entweder

178

Sprache und Sprachwissenschaft (Natur- und
Kulturvölker).

wie die Vokale mit periodischen Schwingungen der
Stimmbänder oder ohne solche Schwingungen hervorgebracht.
Tonlose Laute sind z. B. k, t, p, h, f, tönende Laute z. B. r,
l, n, m, d, b, g. Übrigens können die tönenden
Konsonanten in vielen Fällen auch tonlos gebildet werden; auch
kann sich dem in der Stimmritze gebildeten Ton ein in der
Mundhöhle entstehendes Geräusch beimischen, wodurch
solche Konsonanten den Charakter von Geräuschlauten annehmen.
Der Artikulationsstelle nach teilt man die Konsonanten von alters
her ein in Dentale oder Zahnlaute, bei deren Hervorbringung der
vordere Teil der Zunge und die Zähne in Betracht kommen,
Labiale oder Lippenlaute, die vorn an den Lippen, und Gutturale
oder Gaumenlaute, die hinten am Gaumen gebildet werden.
Tatsächlich gibt es jedoch viele Zwischenstufen; so kann man
nach Brücke von den eigentlichen Dentalen die alveolaren,
lingualen und dorsalen Dentalen unterscheiden, auch gibt es neben
den rein labialen die labiodentalen Konsonanten und drei Arten von
Gaumenlauten. Im Deutschen können als Dentale das t, d, s,
sch, auch n, r, l angesehen werden; labiale Konsonanten sind p, b,
f, m, w; guttural sind k, g, ch, j. Bis zu einem gewissen Grad
kommt die Verschiedenheit der Artikulationsstellen auch für
die Vokale in Betracht, indem z. B. bei u ungefähr die
labiale, bei i ungefähr die dentale Artikulation stattfindet.
Drittens lassen sich die Konsonanten nach ihrer Artikulationsart
einteilen, wobei am meisten der Mundraum, außerdem der
Nasenraum und der Kehlkopf in Betracht kommen. Wird die Stimmritze
so weit verengert, daß die ausgeatmete Luft an den
Rändern der Stimmritze ein reibendes Geräusch erzeugt, so
entsteht der Hauchlaut h; auch alle geflüsterten Laute werden
auf diese Weise gebildet. Der Nasenraum erscheint an der Bildung
der Nasalen oder Nasenlaute n, m und ng (z. B. in "Ding")
beteiligt, indem er durch Senkung des Gaumensegels geöffnet
wird, so daß die Luft aus der Nase strömen kann (ein
Vorgang, durch den auch das sogen. Näseln bedingt wird). Die
Artikulationsart des Mundraums kann wechseln und so entstehen: 1)
Liquidä oder Zitterlaute, die entweder durch Biegung der
Zungenspitze gebildet werden (r-Laute) oder an den
Seitenwänden der Zunge (l-Laute); 2) frikative oder
Reibelaute, durch Verengerung des Mundkanals gebildet, indem die
Ausatmungsluft an den Rändern der Enge ein reibendes
Geräusch erzeugt, wie z. B. beim deutschen s, sch, f, ch, j,
w; 3) Explosiv- oder Verschlußlaute, bei deren Erzeugung der
Mundkanal an irgend einer Stelle plötzlich geschlossen und
wieder geöffnet wird, z. B. an den Lippen bei b, p, hinter
oder an den Zähnen bei d, t, am Gaumen bei g, k. Andre
Sprachen kennen auch noch andre Artikulationsarten, wie
überhaupt die Mannigfaltigkeit der menschlichen Sprachlaute
eine fast unbegrenzte und durch die Schrift nicht entfernt
ausdrückbare ist. Ein sehr wichtiger Faktor bei der
Lautbildung ist auch die Betonung, auf der namentlich die Silben-
und Wortbildung und daher auch die landläufige Unterscheidung
zwischen Vokalen und Konsonanten vornehmlich beruht. Ihrer
akustischen Beschaffenheit nach unterscheiden sich z. B. die Nasale
n, m und die Zitterlaute r, l in keiner Weise von den Vokalen, da
sie wie die letztern mit dem auf regelmäßigen
Schwingungen der Stimmbänder beruhenden Stimmton
hervorgebracht werden (daher auch Resonanten genannt); sie stimmen
aber darin mit den übrigen Konsonanten überein, daß
sie in der Regel nicht als Träger des Silbenaccents fungieren.
Doch gibt es auch hierin Ausnahmen; man vergleiche z. B. das
silbenbildende l in dem deutschen Wort "Handel" (sprich: Handl)
oder die r- und l-Vokale der slawischen Sprachen und des Sanskrit.
Eine künstliche Nachbildung der menschlichen Sprachlaute
liefert der Phonograph Edisons, durch den die schon im 18. Jahrh.
von Kempelen konstruierte Sprechmaschine weit überboten wurde.
Vgl. auch Lautlehre.

Sprache und Sprachwissenschaft. Unter Sprache versteht man, ohne
beide Bedeutungen streng zu sondern, einesteils die
Sprachthätigkeit oder das Sprachvermögen, d. h. nach W.
v. Humboldts treffender Definition der Sprache "die ewig sich
wiederholende Arbeit des menschlichen Geistes, den artikulierten
Laut zum Ausdruck des Gedankens fähig zu machen"; andernteils
wird damit etwas Konkretes, Individuelles bezeichnet, nämlich
die Summe der Wörter, welche bei einem bestimmten Volk als
Mittel zur Verständigung in Anwendung sind oder (bei toten
Sprachen) gewesen sind. Die einzelnen Sprachen sind das Produkt des
Sprachvermögens oder mit andern Worten des Triebes nach
Äußerung und Mitteilung, und die Sprache im allgemeinen
ist eine nicht minder wichtige Seite in der Eigenart des Menschen
als Recht und Sitte, Religion und Kunst und zwar eine solche,
welche sich schon auf den frühsten Stufen der geistigen
Entwickelung, beim Kind und unzivilisierten Menschen, geltend
macht. Gerade bei den rohesten Naturvölkern ist die
Sprachthätigkeit besonders lebendig und das Leben der Sprache,
die man bei ihnen gewissermaßen in ihrem natürlichen
Zustand studieren kann, ein ungemein rasches. So herrscht im Innern
von Brasilien eine so große Sprachverschiedenheit, daß
bisweilen an einem Fluß hin, dessen Länge 300-500 km
nicht übersteigt, 7-8 völlig verschiedene Sprachen
gesprochen werden. Genaue Kenner des Landes erklären dies
daraus, daß es ein Hauptzeitvertreib der Indianer ist,
während sie an ihrem Feuer sitzen, neue Wörter zu
ersinnen, über die, wenn sie treffend sind, der ganze Haufe in
Gelächter ausbricht und sie dann beibehält. Bei
südafrikanischen Negerstämmen, unter denen der englische
Missionär Moffat lebte, wurden die Kinder manchmal von ihren
Eltern so sehr sich selbst überlassen, daß sie
genötigt waren, sich eine besondere Sprache zu ersinnen,
wodurch im Lauf einer Generation die Sprache des ganzen Stammes
eine andre Gestalt annahm. Missionäre in Zentralamerika hatten
von der Sprache des Volkes, dem sie das Christentum predigten, ein
sorgfältiges Lexikon angelegt; als sie nach zehn Jahren zu dem
nämlichen Stamm zurückkehrten, fanden sie, daß
dasselbe veraltet und unbrauchbar geworden war. Die kleinen
melanesischen Inseln des Stillen Ozeans haben jede eine besondere
Sprache, wenn dieselben auch zu dem gleichen Sprachstamm
gehören. Selbst auf den friesischen Inseln der Nordsee hat die
Isoliertheit der insularen Lage die Folge gehabt, daß auf
allen diesen Inseln verschiedene Dialekte herrschen, worin sogar
ein so gewöhnlicher Begriff wie "Vater" durch besondere
Wörter ausgedrückt wird. Dieselbe sprachliche
Isoliertheit wie bei Inselvölkern findet sich auch bei
Bergvölkern. So fand der russische General Baron v. Uslar bei
der ethnographischen und linguistischen Durchforschung des
nördlichen Kaukasus dort mindestens zehn total verschiedene
Sprachen, und die auf etwa 800,000 Köpfe geschätzten
Basken der Pyrenäen sprechen acht Dialekte, die so stark
voneinander abweichen wie das Französische vom Englischen.

Bei Kulturvölkern erscheint die Veränderung der

179

Sprache und Sprachwissenschaft (Ursprung der Sprache).

Sprache ungemein verlangsamt. Ganz neue Wörter werden
meist nur von Kindern erfunden, deren Neuerungsversuche in der
Regel keine bleibende Wirkung hinterlassen. So berichtet Charles
Darwin von einem englischen Kinde, das im Alter von einem Jahr
alles Eßbare mit der Silbe "umm" bezeichnete; Taine
beobachtete ein französisches Kind, das etwa im gleichen Alter
einen Hund "na-na", ein Pferd "da-da" nannte; und der Schreiber
dieser Zeilen kannte ein deutsches Kind, das umherflatternde Tauben
als "Wattel-Wattel" bezeichnete. Aber wenige Jahre später
waren diese Wörter vergessen. Dem gebildeten Deutschen,
Engländer, Franzosen etc. sind daher noch jetzt Bücher,
die in den zwei oder drei letzten Jahrhunderten geschrieben wurden,
fast ohne Mühe verständlich. Das Englische hat sich
über alle Weltteile verbreitet, ist aber dabei vollkommen
stabil geblieben. Namentlich bildet die Schrift und in der Neuzeit
auch der Buchdruck, dann die ungeheure Vermehrung und Verbesserung
der Verkehrsmittel die wirksamste Schranke gegen die sprachliche
Neuerungssucht. Dennoch wäre es ein vollkommener Irrtum,
irgend eine moderne Sprache für vollkommen abgeschlossen zu
halten. Vor allem ist auch in der Sprache unaufhörlich ein
Gesetz der Trägheit wirksam, das sich besonders in der
Vereinfachung oder gänzlichen Beseitigung schwer sprechbarer
oder unbetonter Laute und Lautverbindungen geltend macht. Durch
diese stufenweise fortschreitende Abschleifung und Verwitterung der
Laute ist z. B. im Englischen überall das ch und das vor einem
n stehende k abgestoßen worden, so daß knight, das
deutsche "Knecht", wie neit gesprochen wird; im Deutschen ist das
tonlose e in Schlußsilben in völligem Rückzug
begriffen, wodurch z. B. erst in neuester Zeit "des Königes,
dem Könige" in "Königs, König", "befestiget" in
"befestigt" verwandelt wurde u. dgl. Anderseits führt der
Nachahmungs- und Analogietrieb zur Erfindung und Ausbildung neuer
Wörter, Formen und Bedeutungen, die entweder aus fremden
Sprachen entlehnt werden, wie z. B. unsre aus dem
Französischen herübergenommenen zahlreichen Verba auf
-ieren, oder aus den Mundarten in die Schriftsprache eindringen,
oder an ältere einheimische Wörter und Formen angelehnt
werden, wie z. B. die deutsche Form der Vergangenheit auf -te,
welche zusehends die alten ablautenden Verba verdrängt,
wofür unser "backte" für das noch im vorigen Jahrhundert
übliche "buk" als Beispiel dienen kann. Überhaupt hat die
Sprachforschung dargethan, daß der Grad, bis zu dem sich
Laute, Wörter, Wort- und Satzformen verändern
können, an und für sich ein völlig unbegrenzter ist
und oft die scheinbar unähnlichsten Sprachen durch eine Reihe
von Mittelgliedern hindurch auf eine und dieselbe Grundsprache
zurückgeführt werden können.

Denkt man sich die Entwickelung sämtlicher geschichtlich
nachweisbarer Grundsprachen in einer vorgeschichtlichen Periode bis
an ihren Ausgangspunkt fortgesetzt, so liegt es nahe, die Frage
aufzuwerfen, ob nicht dieser Ausgangspunkt der gleiche, alle
Grundsprachen in letzter Linie aus der nämlichen Ursprache
entsprungen seien. Diese Frage, die man früher, teilweise aus
religiösen Vorurteilen, voreilig zu bejahen pflegte, muß
auf dem heutigen Stande der Wissenschaft entschieden verneint
werden. Standen auch eine Reihe wichtiger Sprachen einander
früher viel näher als jetzt, so weichen doch die
Grundsprachen, auf die sie zurückgehen, sowohl hinsichtlich
der Wurzeln als des grammatischen Baues so entschieden voneinander
ab, daß alle Versuche, sie (z. B. die indogermanische und
semitische Grundsprache) auf eine gemeinsame Ursprache
zurückzuführen, vollständig scheitern mußten.
Man muß im Gegenteil annehmen, daß eine Reihe
ursprünglicher Sprachtypen jetzt entweder völlig oder nur
mit Hinterlassung vereinzelter Überreste, wie das
rätselhafte Baskisch der Pyrenäen und die Sprachen des
nördlichen Kaukasus, vom Erdboden verschwunden sind; denn je
mehr die Kultur zunimmt, desto mehr nimmt die Sprachverschiedenheit
ab und ist daher in Europa trotz seiner dichten Bevölkerung
weit geringer als in allen übrigen Erdteilen. Auch die
bestehenden Sprachen werden von der heutigen Sprachforschung auf
eine beträchtliche Anzahl selbständiger Ursprachen
zurückgeführt.

Mit dieser Erkenntnis hat sich die Frage nach dem Ursprung der
Sprache, die schon Platon und Aristoteles, Epikur und die Stoiker
beschäftigt und die griechischen und römischen
Grammatiker in zwei Lager gespalten hat, später mit
unbegründetem Hinweis auf die Bibel, welche die Erfindung der
Sprache dem ersten Menschen beilegt, im Sinn eines
übernatürlichen Ursprungs beantwortet wurde, in eine
Frage nach der Entstehung der einzelnen tatsächlich
nachgewiesenen Grundsprachen verwandelt. Wie man sich dieselbe zu
denken habe, läßt sich freilich historisch nicht
feststellen; auch gehen die Ansichten darüber sehr
auseinander, indem die einen, wie W. v. Humboldt, M. Müller,
Steinthal etc., annehmen, daß sich unwillkürlich
bestimmte Laute an bestimmte Begriffe oder Anschauungen anschlossen
(Nativismus), die andern dagegen, wie Whitney, L. Geiger, Bleek,
Marty, Madvig u. a., von der jetzigen Unabhängigkeit des Lauts
vom Gedanken und des Gedankens vom Laut ausgehend, einen solchen
Zusammenhang der Laute mit dem Gedanken abweisen (Empirismus). Doch
ist neuerdings eine Vermittelung zwischen den beiden sich
entgegenstehenden Ansichten angebahnt und namentlich die
früher versuchte Zurückführung der Sprache auf ein
eigentümliches, später verlornes Vermögen der
ursprünglichen Menschheit durchweg aufgegeben worden.
Überhaupt ist es bei allen Mutmaßungen über den
Sprachenursprung nötig, sich durchaus auf den
thatsächlichen Boden zu stellen, welchen das Leben der Sprache
während der durch die Geschichte beleuchteten Strecke ihrer
Entwickelung und besonders bei unzivilisierten Völkern
darbietet, und es sind dabei namentlich folgende Sätze
festzuhalten, die sich also ebenso auf das Wesen wie auf den
Ursprung der Sprache beziehen: 1) Sprache und Vernunft sind nicht
identisch, so vielfach sie sich gegenseitig beeinflussen, und zwar
ist das Sprechen eine weitaus beschränktere Fähigkeit als
das Denken, da selbst die gebildetsten Sprachen, die das
Sprachvermögen erzeugt hat, bei weitem nicht alle Gedanken
auszudrücken vermögen. Es gibt Gedanken und Empfindungen,
welche ein Ton oder eine Gebärde viel bezeichnender
ausdrückt als ein Wort, und namentlich beim Kind und bei einem
Menschen von lebhaftem Naturell ist die Gebärdensprache
höchst entwickelt. Die Taubstummen, denen gewiß niemand
die Vernunft absprechen wird, haben eine höchst
künstliche und ihnen gleichwohl völlig geläufige
Zeichensprache. Viele Lehrsätze der Mathematik, welche sich in
Worten nur mit Mühe oder gar nicht ausdrücken lassen,
können durch ein paar einfache Zeichen oder eine Zeichnung
leicht demonstriert werden. Musik und Malerei stehen der Poesie als
selbständige Künste zur Seite. Auch sind die Gesetze der
Denklehre oder Logik von den Gesetzen der Sprachlehre oder
Grammatik verschieden, wie z. B. der deutsche Satz: "die

180

Sprache und Sprachwissenschaft (Grammatik, Etymologie).

Kugel ist viereckig" grammatisch ganz richtig, aber logisch
verkehrt ist. Hiernach hat es gewiß auch von allem Anfang an
ein Denken ohne Sprechen gegeben. 2) Kinder und Naturmenschen
bezeichnen viele Individuen oder Gegenstände dadurch,
daß sie mit ihrer Stimme den Schall nachahmen, den sie als
von denselben ausgehend wahrgenommen haben. Diese einfache und
nächstliegende Art der Bezeichnung, die onomatopoetische, war
ohne Zweifel in jeder Ursprache sehr häufig, wenn die
Wau-wau-Theorie (so genannt von dem Namen Wau-wau des Hundes in der
Kindersprache) auch nicht den Anspruch erheben kann, alle
Wörter zu erklären. 3) Ausrufe und Schreie
(Interjektionen) spielen selbst bei gebildeten und erwachsenen
Menschen noch eine mehr oder weniger große Rolle, eine sicher
viel größere in den Anfängen einer Sprache. Hierin
liegt die Berechtigung der sogen. Ah-ah- oder Interjektionstheorie
vom Ursprung der Sprache. 4) Hiernach sind wohl auch die ersten
Wörter nichts als Reflexlaute gewesen, welche im Affekt
hervorgebracht wurden, gerade wie die Zuckungen oder sonstigen
unwillkürlichen Reflexbewegungen, die aus
Gemütsbewegungen hervorgehen. Die Reflexlaute gingen
ursprünglich mit den andern unwillkürlichen Gebärden
Hand in Hand. Da die Gemütsbewegungen am leichtesten durch
verschiedenerlei Geräusche verursacht wurden, so ahmte die
menschliche Stimme mit Vorliebe diese Geräusche nach. 5) Erst
in zweiter Linie wurden die Sprachlaute zugleich zu Mitteilungen
verwendet, nachdem es wiederholt gelungen war, durch ihre
Hervorbringung die Aufmerksamkeit der andern zu erregen. Es ging
damit ähnlich wie mit der Gebärdensprache, die sich aus
ursprünglichen Reflexbewegungen zu der ausgebildeten
Zeichensprache entwickelt hat, die man z. B. bei den Indianern
Nordamerikas findet. Auch die Schrift hat sich aus roher
Ideenmalerei und Bilderschrift successive zu einem der
vollkommensten Verständigungsmittel entwickelt. 6) Die ersten
Sprachschöpfungen waren primitive Sätze, etwa wie die
Ausrufe: "Diebe!" "Feuer!", und aus diesen chaotischen
Äußerungen haben sich erst allmählich
selbständige Wörter und Redeteile entwickelt.

Vgl. Herder, Über den Ursprung der Sprache (zuerst Berl.
1772); W. v. Humboldt, Über die Verschiedenheit des
menschlichen Sprachbaues (neu hrsg. mit einer Einleitung von Pott,
das. 1876, 2 Bde.); Steinthal, Der Ursprung der Sprache im
Zusammenhang mit den letzten Fragen alles Wissens (4. Aufl., das.
1888); Derselbe, Abriß der Sprachwissenschaft (2. Aufl., das.
1881, Bd. 1: "Einleitung in die Psychologie und
Sprachwissenschaft"); J. Grimm, Über den Ursprung der Sprache
(in "Kleinere Schriften", Bd. 1, das. 1864); Max Müller,
Vorlesungen über die Wissenschaft der Sprache (deutsch von
Böttger, 2. Aufl., Leipz. 1866-70, 2 Bde.); Renan, De
l'origine du langage (4. Aufl., Par. 1863); Heyse, System der
Sprachwissenschaft (Berl. 1856); Schleicher, Die Darwinsche Theorie
und die Sprachwissenschaft (3. Aufl., Weim. 1873); Wedgewood, On
the origin of language (Lond. 1866); Whitney, Die
Sprachwissenschaft (bearbeitet von Jolly, Münch. 1874); Bleek,
Über den Ursprung der Sprache (Weim. 1868); L. Geiger,
Ursprung und Entwickelung der menschlichen Sprache und Vernunft
(Stuttg. 1869-72, 2 Bde.); Wackernagel, Über den Ursprung und
die Entwickelung der Sprache (Basel 1872); Madvig, Kleine
philologische Schriften (Leipz. 1875); Marty, Über den
Ursprung der Sprache (Würzb. 1875); Noiré, Der Ursprung
der Sprache (Mainz 1877); Paul, Prinzipien der Sprachgeschichte (2.
Aufl., Halle 1886). Weitere Litteratur S. 182.

Sprachwissenschaft.

Die Sprachwissenschaft oder Linguistik (auch allgemeine
Grammatik genannt) ist als Wissenschaft erst ein Kind des 19.
Jahrh. Denn die Grammatik der Griechen und Römer und die nicht
minder bedeutenden grammatischen Forschungen der Inder und Araber
waren schon durch ihre Beschränkung auf eine oder
höchstens zwei Sprachen völlig ungeeignet, zu einer
Einsicht in das Wesen und die Verwandtschaftsverhältnisse der
Sprachen zu führen, und vom Mittelalter ab bis in die Neuzeit
herein bildete besonders das Vorurteil, als sei das Hebräische
die Ursprache der Menschheit, ein Hemmnis für den Fortschritt
der Sprachforschung. Erst die Entdeckung der alten heiligen Sprache
Indiens, des Sanskrit, gegen Ende des 18. Jahrh. und die Aufdeckung
des Zusammenhangs, in dem es mit den meisten Kultursprachen Europas
steht, gaben den Anstoß zu einer ausgedehntern
Sprachvergleichung und damit zur Begründung einer wirklichen
Wissenschaft von der Sprache, deren Lebensprinzip, wie das jeder
Wissenschaft, die Vergleichung ist. Ihrer exakten, streng
induktiven Methode wegen ist die Sprachwissenschaft mehrfach den
Naturwissenschaften zugezählt worden; doch gehört sie
ihres Objekts wegen entschieden zu den sogen.
Geisteswissenschaften, da die Sprache kein Naturprodukt, sondern
ein Erzeugnis des menschlichen Geistes ist. Auch waren die
Begründer der Sprachwissenschaft durchweg Philologen. Durch
die Forschungen Fr. Schlegels, Bopps und ihrer Nachfolger wurde der
indogermanische Sprachstamm nachgewiesen und die zu ihm
gehörigen Sprachfamilien festgestellt wie auch die
vergleichende Grammatik der indogermanischen Sprachen
begründet. Zugleich regten W. v. Humboldts und Potts
weitgreifende Forschungen eingehende Untersuchungen sowohl auf
andern, selbst den fernst liegenden Sprachgebieten als auf dem
Gebiet der Sprachphilosophie an, und die historische
Sprachforschung, von J. Grimm und W. Diez begründet, schuf
durch exakte und gründliche Forschung in dem enger begrenzten
Bereich einzelner Sprachfamilien die Methode der historischen
Grammatik. Seitdem hat der Betrieb der Sprachwissenschaft in ihren
drei Hauptrichtungen, der historischen, vergleichenden und
philosophischen, in allen Ländern, namentlich aber in
Deutschland, einen mächtigen Aufschwung genommen.

Die genaue Beobachtung des Lautwechsels, der sogen. Lautgesetze,
bildet die Hauptgrundlage, auf der die bedeutenden Resultate der
Sprachwissenschaft beruhen. Vor allem besitzen wir jetzt eine
wissenschaftliche Etymologie, während früher nach dem
Ausspruch des heil. Augustin die Ableitung der Wörter wie die
Deutung der Träume ganz nach subjektiver Willkür
betrieben und das berüchtigte Prinzip "lucus a non lucendo"
nicht selten alles Ernstes angewendet wurde. Nicht minder haben
auch alle Teile der Grammatik, die Laut-, Flexions- und
Wortbildungslehre wie die Syntax und die Lehre von der
Zusammensetzung, eine völlige Umgestaltung erfahren, der sich
auch die Schulgrammatik nicht mehr entziehen kann, seitdem Curtius
in seiner "Griechischen Schulgrammatik" (zuerst 1852) gezeigt hat,
wie wichtig auch für den Schulbetrieb der Grammatik die
Ergebnisse der vergleichenden Sprachforschung sich gestalten.
Ferner ist über die Urgeschichte der Menschheit, besonders der
indogermanischen Völker, ein un-

180a

[Zur Sprachenkarte bei Artikel Sprache etc.]

Übersicht der wichtigern Sprachstämme.

I. Einsilbige Sprachen in Südostasien.

Chinesisch mit seinen Dialekten, Anamitisch mit der Sprache von
Kambodscha, Siamesisch nebst dem Schan und der Sprache der Miaotse,
Birmanisch nebst Khassia und Talaing (Pegu) und Tibetisch nebst den
zahlreichen, noch wenig erforschten Himalajasprachen. Die Sprache
besteht ganz aus einsilbigen Wurzeln, welche keiner
Veränderung fähig sind; jede Wurzel kann je nach ihrer
Stellung im Satz alle verschiedenen Redeteile ausdrücken, die
wir durch besondere Wortformen unterscheiden. Doch gibt es neben
den Stoffwurzeln, welche Begriffe und Thätigkeiten
ausdrücken, auch eine Anzahl Deutewurzeln, die sich mit unsern
grammatischen Endungen vergleichen lassen. Unter sich sind diese
Sprachen nur durch die Gleichheit des Baues, nicht durch
Gleichklang der Wurzeln verbunden.

II. Malaio-polynesischer Sprachstamm,

zerfallend in drei Gruppen (nach Fr. Müller):

1) Die malaiische, welche von der Insel Formosa an der
chinesischen Küste bis zur Insel Java im Süden und bis
zur Insel Madagaskar in Afrika reicht und die Sprachen der
Philippinen (Tagalisch, Bisaya, Pampanga etc.), der Insel Formosa,
der Inseln Borneo, Celebes und Sumatra (Dajak, Alfurisch, Bugi,
Makassarisch und Batak), der Marianen, Molukken und einiger andern
kleinern Inseln, der Insel Java (dazu Kawi, die stark mit Sanskrit
versetzte Litteratursprache), der Halbinsel Malakka (eigentliches
Malaiisch) und der Insel Madagaskar (Malagasi) umfaßt.

2) Die melanesische, auf den Neuen Hebriden und den Fidschi-
sowie den Salomoninseln, vielleicht auch auf Neukaledonien
(Gabelentz), den Palau-, Marshall- und Kingsmillinseln (Fr.
Müller).

3) Die polynesische, auf Neuseeland (Maori), den Unionsinseln,
Samoa, Tonga, Tahiti, Rarotonga, Paumotu, den Markesas, der
Osterinsel etc. bis einschließlich Hawai im Norden.

Diese Sprachen zeichnen sich durch Wohlklang aus, indem sie sehr
reich an Vokalen sind, dagegen nur wenig Konsonanten unterscheiden;
auch sind die Wörter meist vielsilbig. Gleichwohl ist die
Grammatik auch hier sehr unentwickelt, wie z. B. Nomen und Verbum
gar nicht unterschieden und nur einige andre grammatische
Beziehungen durch vorn angehängte Silben bezeichnet werden. Am
unentwickeltsten sind die Sprachen Polynesiens, das wahrscheinlich
den Ausgangspunkt der großen nach Westen gerichteten
Wanderung der Malaio-Polynesier gebildet hat.

III. Drawidasprachen in Südindien.

Telugu und Tamil an der Koromandel-, Kanaresisch, Malayalam,
Tulu an der Malabarküste, die Hauptsprachen Südindiens,
die sich nach der neuesten Statistik der englischen Regierung auf
ungefähr 49 Mill. Köpfe in der Weise verteilen, daß
das Tamil oder Tamulische nebst dem nördlich und nordwestlich
davon bis nach der Provinz Orissa sich verbreitenden Telugu
zusammen von nahezu 35 Mill., das Malayalam nebst dem nördlich
daran anstoßenden Tulu und das Kanaresische zusammen von etwa
14 Mill. gesprochen werden. Das Tamil wird außerdem von einem
Bruchteil der Bevölkerung von Ceylon gesprochen.

Zu den Drawidasprachen werden auch die Idiome der Kota, Toda,
Gond, Kond, Uraon und einiger andrer wilder Stämme in
Südindien sowie der Brahui in Belutschistan gerechnet. Die
grammatischen Elemente folgen hier der Wurzel nach und wirken auf
dieselbe zurück, indem sie sich ihren Endvokal assimilieren;
sonst bleibt die Wurzel unverändert.

IV. Uralaltaischer Sprachstamm,

auch Turanisch (Max Müller), Skythisch (Whitney) oder
Finnisch-Tatarisch genannt, zerfällt in fünf Gruppen:

1) Die finnisch-ugrische in Osteuropa und Nordasien (nach
Budenz), mit den 7 Hauptsprachen: Finnisch (Suomi) nebst Esthnisch
und Livisch, Lappisch, Mordwinisch, Tscheremissisch,
Sirjänisch-Wotjakisch und Permisch, Ostjakisch-Wogulisch,
Magyarisch.

2) Die samojedische, im Norden und Nordosten der vorigen,
nämlich: Yurak, Tawgy, Jenissei- und
Ostjakisch-Samojedisch.

3) Die türkische, von der europäischen Türkei mit
Unterbrechungen bis zur Lena, nämlich: Osmanisch, Nogaisch (in
der Krim), Tschuwaschisch, Kirgisisch, Kumükisch, Uigurisch,
Tschagataisch, Turkmenisch, Uzbekisch und Jakutisch. Alle diese
Sprachen sind trotz der großen räumlichen Entfernung
sehr nahe untereinander verwandt.

4) Die mongolische, nämlich die Sprachen der Mongolen,
Kalmücken und Buräten.

5) Die tungusische, nämlich die Sprachen der Tungusen und
Mandschu.

Der grammatische Bau ist auch hier sehr einfach, indem jedes
Wort aus einer unveränderlichen Wurzel und einem oder mehreren
Suffixen besteht. Letztere sind aber sehr zahlreich und
drücken nicht bloß den Unterschied von Nomen und Verbum,
sondern die verschiedensten andern grammatischen Beziehungen aus;
die in den Suffixen enthaltenen Vokale werden an den Wurzelvokal
assimiliert (Vokalharmonie). Die Flexion zeichnet sich durch
große Regelmäßigkeit aus.

V. Bantu-Sprachstamm

(von kafferisch abantu, »Leute«), auch
südafrikanischer Sprachstamm genannt, reicht, abgesehen von
einigen Unterbrechungen im Süden durch die isoliert
dastehenden Sprachen der Hottentoten und Buschmänner, von der
Kapkolonie an im Westen etwa bis zum 8.° nördl. Br., im
Osten bis zum Äquator, weiter wahrscheinlich in den noch
unbekannten Regionen Zentralafrikas. Er zerfällt in 3 Gruppen
(Fr. Müller):

1) Die östliche Gruppe umfaßt die Kaffernsprachen
(Kafir im engern Sinn, Zulu), die Sambesisprachen (Sprachen der
Barotse, Bayeye, Maschona) und Sansibarsprachen (Kisuaheli, Kinika,
Kikamba, Kihiau, Kipokomo).

2) Die mittlere Gruppe besteht aus:

a) Setschuana (Sesuto, Serolong, Sehlapi).

b) Tekeza (Sprachen der Mankolosi, Matonga, Mahloenga).

3) Zur westlichen Gruppe gehören:

a) Herero, Bunda, Loanda.

b) Congo, Mpongwe, Dikele, Isubu, Fernando Po, Dualla (in
Camerun).

Auch dieser Sprachstamm zeichnet sich durch eine sehr reiche und
regelmäßige Flexion aus, die aber fast nur durch vorn
antretende grammatische Elemente (Präfixe) bewirkt wird.
Besonders besitzen sämtliche Bantusprachen eine
beträchtliche Anzahl von Artikeln, die zugleich, in der
Bedeutung von Pronomina, an das Verbum und andre Satzteile vorn
angesetzt werden, um die grammatische Kongruenz der Satzglieder
auszudrücken. Daher hat sie Bleek die
»präfix-pronominalen« Sprachen genannt.

VI. Hamito-semitischer Sprachstamm.

A. Die hamitische Gruppe umfaßt:

1) Die libyschen od. Berbersprachen in Nordafrika.

2) Die äthiopischen Sprachen, Galla, Somali, Bedscha,
Dankali (Danakil), Agau, Saho, Falascha, Belen, vom südlichen
Ägypten bis au den Äquator reichend.

180b

Übersicht der wichtigern Sprachstämme.

3) Das Altägyptische der ägyptischen Denkmäler
und Papyrusrollen mit seiner ebenfalls schon ausgestorbenen
Tochtersprache, dem Koptischen.

B. Die semitische Gruppe teilt sich in:

1) Nördliche Abteilung, bestehend aus dem nahe verwandten
Assyrisch und Babylonisch der Keilinschriften, den kanaanitischen
Sprachen, nämlich Hebräisch nebst Samaritanisch und
Phönikisch nebst Punisch, und aus den aramäischen
Sprachen, d. h. Chaldäisch und Syrisch nebst Mandäisch
und Palmyrenisch.

2) Südliche Abteilung mit Arabisch, jetzt auch in
Nordafrika verbreitet u. mit dem Islam immer weiter nach dem
Süden Afrikas vordringend, Himjarisch, Äthiopisch (Geez),
Amharisch, Tigré, Harrari.

Die beiden ersten Spezies der semitischen Gruppe sind
völlig ausgestorben, wenn man von dem syrischen Dialekt
einiger Nestorianer und Jakobitengemeinden am Urmiasee und in
Turabdin absieht, und auch von der dritten Spezies sind das
Äthiopische und Himjarische jetzt erloschen. Die hamitische
und semitische Gruppe stimmen nur betreffs eines Teils ihrer
Wurzeln, namentlich bei den Pronomina und Zahlwörtern, und
betreffs der Unterscheidung des grammatischen Geschlechts
überein. Sonst sind die hamitischen Sprachen grammatisch sehr
wenig, die semitischen dagegen im höchsten Grad entwickelt,
indem sie, die verschiedenen grammatischen Beziehungen, sowohl am
Nomen als am Verbum, teils durch vorn oder hinten antretende
Affixe, teils durch Variation des Wurzelvokals ausdrücken.
Jede Wurzel enthält drei Konsonanten, welche stets
unverändert bleiben, so sehr die Vokale wechseln.

VII. Der indogermanische Sprachstamm

zerfällt in acht Gruppen:

1) Indische Gruppe: Jetzt ausgestorben sind das Sanskrit,
Prâkrit und Pâli; lebende Sprachen sind: Hindi und
Hindostani (Urdu), fast in ganz Nordindien verbreitet, wo es von
nahezu 100 Mill. Menschen gesprochen wird, Pandschabi am obern,
Sindi am untern Indus, Marathi und Gadscherati in der
Präsidentschaft Bombay, Bengali, Assami, Oriya in Bengalen,
Nepali, Kaschmiri im Norden, nach einigen auch das Singhalesische
auf der Südhälfte der Insel Ceylon, nördlich von
Indien das Kafir und Dardu, in Europa die mit diesen beiden Idiomen
nahe verwandte Sprache der Zigeuner, die Auswanderer aus Indien
sind.

2) Iranische Gruppe: Zend oder Altbaktrisch, Altpersisch der
Keilinschriften, Pehlewi oder Mittelpersisch, Pazend und Parsi,
wahrscheinlich auch die Sprache der Skythen nordwärts vom
Schwarzen Meer (Müllenhoff) sind die toten, Neupersisch,
Kurdisch, Belutschi, Afghanisch oder Puchtu und Ossetisch (im
Kaukasus) die lebenden Sprachen dieser Gruppe, die mit der
indischen sehr nahe verwandt ist.

3) Armenisch, früher zu der iranischen Gruppe
gerechnet.

4) Griechische Gruppe: Dazu gehören die alt- und
neugriechischen Dialekte und Schriftsprachen; das Neugriechische
herrscht auch auf der Südküste von Kleinasien, in Kreta
und Cypern.

5) Illyrische Gruppe: Albanesisch in Epirus.

6) Italische Gruppe: Latein, Umbrisch, Oskisch im Altertum; in
der Neuzeit die romanischen Sprachen: Spanisch nebst Katalonisch,
Portugiesisch, Italienisch, Französisch nebst
Provençalisch, Rumänisch, Ladinisch nebst
Rätoromanisch (in Südtirol, Graubünden und
Friaul).

7) Keltische Gruppe: Kymrisch in Wales und der Bretagne, dazu
das ausgestorbene Cornisch in Cornwallis; Gälisch in Irland,
dem schottischen Hochland (Erse) und auf der Insel Man (Manx). Auch
die nur aus einigen Inschriften bekannte Sprache der alten Gallier
gehört hierher.

8) Slawisch-lettische Gruppe, dazu:

a) Altslawisch oder Kirchenslawisch, jetzt ausgestorben,
Russisch nebst Weiß- und Kleinrussisch (Russinisch,
Ruthenisch), Serbo-kroatisch, Slowenisch oder Südslawisch in
Steiermark, Kärnten etc., Tschechisch-Slowakisch in
Böhmen und Mähren, Polnisch in Preußisch- und
Russisch-Polen und Galizien, Wendisch in der Lausitz,

b) Altpreußisch (jetzt ausgestorben), Litauisch,
Lettisch.

9) Germanische Gruppe, zerfallend in:

a) Ost- und Nordgermanisch mit Gotisch (ausgestorben),
Schwedisch, Norwegisch, Dänisch, Isländisch.

b) Westgermanisch mit Hoch- oder Oberdeutsch, Mitteldeutsch,
Niederdeutsch od. Plattdeutsch, Vlämisch, Niederländisch
und Englisch.

Der indogermanische Sprachstamm ist, wie der wichtigste u.
verbreitetste, so der vollkommenste aller Sprachtypen, dem nur der
semitische einigermaßen nahekommt. Wie die übrigen
grammatisch entwickelten Sprachstämme, bildet er die
Wörter aus Wurzeln und Affixen, welch letztere in der Regel
der Wurzel nachfolgen. Die große Anzahl der Affixe, welche
überdies in beliebiger Menge aufeinander gehäuft werden
können, ihre innige Vereinigung mit der Wurzel zu einem
vollkommen selbständigen, neuen Wort ermöglichen den
charakteristischen Wort- und Bedeutungsreichtum der
indogermanischen Sprachen. Auch die feine und mannigfaltige
Gliederung der Sätze ist ihnen eigentümlich.

VIII. Der amerikanische Sprachstamm

umfaßt die Sprachen der Eingebornen von Nord- und
Südamerika mit Ausnahme der Eskimo im äußersten
Norden. Es gehört dazu der an die Eskimosprachen angrenzende
athabaskische Sprachstamm (dazu nach Buschmann auch die
Kenaisprachen in Alaska), dessen südwestliche Ausläufer,
die Idiome der Apatschen und der Navajo, bis nach Mexiko hinein
reichen; die Algonkinsprachen (dazu das Delaware, Mohikan,
Odschibwä, Minsi, Kri, Mikmak etc.) südlich davon sind
besonders im Osten heimisch und reichten früher von Labrador
bis nach Südcarolina; westlich vom Hudson schließt sich
daran das Irokesische, weiter nach Westen, jenseit des Mississippi,
das Dakota der Sioux-Indianer, das Pani der Pani-Indianer am
Arkansas etc. Im Felsengebirge und Quellengebiet des Missouri
beginnt mit der Gruppe der Schoschonensprachen der
Sonora-Sprachstamm, der im südlichen Arizona und Kalifornien
sowie im nördlichen Mexiko herrscht; dazu gehören wohl
auch das Nahuatl der Epoche Montezumas und das davon abgeleitete
moderne Aztekisch nebst zahlreichen Dialekten, die bis nach San
Salvador reichen. Im Süden und Südosten schließen
sich daran die Sprachen der Urbewohner Mexikos, der
mittelamerikanischen Republiken und der Antillen: Otomi,
Mixtekisch, Zapotekisch, Tarasca, Cibuney, Cueva, Maya u. a. Die
Hauptsprachen Südamerikas sind: das Galibi oder Karibische
nebst dem Arowakischen, vom Isthmus von Panama bis nach Guayana,
zur Zeit der Entdeckung Amerikas auch auf den Antillen heimisch,
verwandt mit dem weitverbreiteten Tupi (Lingoa geral, d. h.
allgemeine Umgangssprache, genannt) im Innern von Brasilien und dem
Guarani am La Plata; das Chibcha in Kolumbien; die andoperuanische
Gruppe mit Kechua und Aymara als Hauptsprachen; die andisische
Gruppe östlich davon, mit den Sprachen der Yuracare u. a.; das
Araukanische, Patagonische, Guaicuru, Chiquito, Abiponische und die
Sprache der Pescheräh oder Feuerländer. Alle diese
Sprachen oder Sprachstämme Amerikas nebst vielen andern hier
ungenannten Sprachen (Amerika zählt deren über 400) haben
zwar keine Wurzeln, aber den gleichen grammatischen Bau miteinander
gemeinsam. Der ganze Satz geht im Verbum auf, mit welchem Subjekt,
Objekt und adverbiale Bestimmungen zu Einem Wort verschmolzen
werden, wodurch die ungeheuern Wortkonglomerate entstehen, welche
die amerikanischen Sprachen charakterisieren.

Über die außerhalb der angeführten acht
Sprachstämme stehenden sogen. isolierten Sprachen vgl. den
Text, S. 181 f.

180c

SPRACHENKARTE.

Gegenwärtige Verbreitung der Sprachstämme.

Maßstab am Äquator

l:155 000 000.

Indogermanischer Sprachstamm:

Germanisch

Romanisch

Slawisch

^Keltisch

Griechisch

^Iranisch

^Irakisch

Ural-Altaischer Sprachstamm:

Finnisch-Ugrisch

Türkisch u. Jakut.

Mongolisch

^Tiutgusisch

^Samojectiscfv

Südostasiatischer Sprachstamm:

Chinesisch

Siamesisch

Birmanisch

Tibetisch

Hamito-Semitischer Sprachstamm:

Semitisch (Arabisch)

Hamitisch

Malayo-Polynesischer Sprachstamm:

Malayisch

Melanesisch

Polynesisch

Bantu-Sprachstamm

Drawida-Sprachen

Amerikan. "

(nur dem Bau nach verwandt)

Isolirte oder noch unerforschte Sprachen

zum Artikel »Sprachwissenschaft«

181

Sprache und Sprachwissenschaft (Verbreitung u. Einteilung der
Sprachen).

erwartetes Licht verbreitet worden, indem die Ausscheidung der
allen indogermanischen Sprachen gemeinsamen Wörter erkennen
ließ, welchen Kulturgrad diese Völker vor ihrem Aufbruch
aus der gemeinsamen asiatischen Heimat schon erreicht hatten. Auch
hat sich im Anschluß an diese Forschungen eine vergleichende
Mythologie und eine vergleichende Sitten- und Rechtsgeschichte
entwickelt. Selbst die schwierige Frage nach dem Ursprung der
Sprache ist, wie schon erwähnt, in ein ganz neues Licht
getreten. Das wichtigste Ergebnis bleibt aber immer die
Klassifikation der Sprachen, weil dadurch zugleich die wichtigsten
Fragen der Anthropologie auf einem ganz neuen Weg ihrer Lösung
entgegengeführt werden. Man unterscheidet zwischen einer
morphologischen und einer genealogischen Einteilung der Sprachen.
Bei der erstern gibt der grammatische Bau der Sprachen den
Einteilungsgrund ab, und man stellt meistenteils drei Hauptarten
desselben auf. Die isolierenden Sprachen, wie z. B. das
Chinesische, bestehen aus lauter einsilbigen Wurzeln, welche stets
unverändert bleiben, selbst wenn sie miteinander
zusammengesetzt werden. Der Unterschied zwischen Subjekt und Objekt
und überhaupt alle grammatischen Verhältnisse werden nur
durch die Stellung der Wörter im Satz ausgedrückt.
Agglutinierende ("anleimende") Sprachen sind solche, welche einen
Teil ihrer Wurzeln zum Zweck des Beziehungsausdrucks an andre
regelmäßig anfügen und dabei die erstern
verändern, während dagegen die Hauptwurzel, welche den
Begriff des Wortes enthält, unverändert bleibt. Eine
Unterart dieser sehr zahlreichen Klasse sind die polysynthetischen
Sprachen, die, wie z. B. die amerikanischen, alle abhängigen
oder minder wichtigen Satzglieder in verkürzter Form an die
Hauptwurzel anhängen. Diese unbeholfene Ausdrucksweise ist
vielleicht als ein Überbleibsel aus der primitiven Stufe des
Sprachlebens anzusehen, als man noch nicht dazu gelangt war, den
Satz in seine einzelnen Bestandteile aufzulösen. Von den
polysynthetischen Sprachen trennen manche als eine besondere Klasse
die einverleibenden ab, die, wie das Baskische, die
Nebenbestimmungen zwischen Wurzel und Endung einschieben.
Flektierend sind diejenigen Sprachen, welche in Zusammensetzungen
sowohl die erste als die zweite nebst den folgenden Wurzeln
beliebig verändern können, um verschiedene
Nebenbeziehungen auszudrücken. Zu dieser höchsten
morphologischen Klasse rechnet man nur den indogermanischen und
semitischen Sprachstamm. Die morphologische Verschiedenheit
läßt sich auch durch Zeichen ausdrücken, indem man
die unveränderlichen Wurzeln durch große, die
veränderlichen durch kleine Buchstaben bezeichnet. Die
Wörter der isolierenden Klasse können dann nur die Form A
oder A B, B A, A B C etc., die der agglutinierenden außerdem
auch die Form A b, A c, b A etc., die der flektierenden noch die
Formen a b, b a, a b c etc. annehmen. Übrigens kommen nicht
nur in den flektierenden und agglutinierenden Sprachstämmen
Wortbildungen nach dem isolierenden, sondern auch in den
isolierenden Sprachen solche nach dem agglutinierenden und selbst
dem flektierenden Prinzip vor, so daß sich diese Einteilung
keineswegs streng durchführen läßt. Viel wichtiger
als die morphologische Klassifikation ist daher die genealogische
Einteilung der Sprachen, welche Gemeinsamkeit der Abstammung zum
Einteilungsgrund macht. Stimmen zwei oder mehrere Sprachen sowohl
in betreff ihrer Wörter und Wurzeln als ihres grammatischen
Baues überein, oder haben sie wenigstens in einer diesen
beiden Beziehungen so viel miteinander gemein, daß die
Annahme einer bloß zufälligen Ähnlichkeit
völlig ausgeschlossen ist, so muß man annehmen,
daß sie auf eine und dieselbe Grundsprache zurückgehen.
Hieraus folgt zugleich, daß die Völker, welche die
betreffenden Sprachen sprechen, zu irgend einer Zeit einmal ein
einziges Volk gebildet haben müssen, und es ergeben sich so
aus der genealogischen Klassifikation der Sprachen die wichtigsten
Resultate für die Einteilung der Völker und Rassen,
Resultate, die viel sicherer sind als diejenigen der
Schädelvergleichung, da die Sprachen weniger leicht der
Mischung unterliegen und stattgehabte Mischungen weit leichter
erkennbar sind als bei den Körpermerkmalen.

Verbreitung und Einteilung der Sprachen.

(Hierzu die "Sprachenkarte", mit Textblatt.)

Die Gesamtzahl der lebenden Sprachen mag in runder Summe etwa
1000 betragen. Adelung in seinem "Mithridates" zählte deren
über 3000 auf; dagegen veranschlagen Balbi und Pott sie nur
auf 860, Max Müller auf 900, welche Ziffern jedoch
wahrscheinlich zu niedrig gegriffen sind. Die Sprachenstatistik
wird dadurch sehr erschwert, daß es unmöglich ist, die
Grenze zwischen Sprache und Dialekt zu bestimmen. Bei einer
Übersicht über die geographische Verbreitung der Sprachen
handelt es sich vorzugsweise darum, ihre Zusammengehörigkeit
zu größern oder kleinern Gruppen, die von einer
gemeinsamen Ursprache herstammen, zur Anschauung zu bringen. Auf
beifolgender "Sprachenkarte" und der zugehörigen
Übersicht sind nur die wichtigern der bis jetzt von der
Linguistik ermittelten Sprachstämme und deren Unterabteilungen
vollständig (letztere auch einschließlich der jetzt
ausgestorbenen), von den einzelnen Sprachen sind nur die
hervorragendsten aufgeführt, namentlich von den in Amerika
gesprochenen. Dort ist die Sprachverschiedenheit am
größten; geringer ist sie in den Weltteilen, die
wenigstens teilweise von alters her von Kulturvölkern bewohnt
und daher früher zur Ausbildung von Schriftsprachen gelangt
sind, in Asien und Afrika, am geringsten in Europa, wo es nur 53
Sprachen gibt; die Sprachen der Eingebornen von Australien sind
teilweise schon ausgestorben. Nach den bisherigen Ergebnissen der
genealogischen Einteilung der Sprachen unterscheiden wir nun acht
Sprachstämme: 1) einsilbige Sprachen in Südostasien; 2)
den malaio-polynesischen Sprachstamm; 3) die Drawidasprachen in
Südindien; 4) den uralaltaischen Sprachstamm; 5) die
Bantusprachen (südafrikanischer Sprachstamm); 6) den
hamito-semitischen Sprachstamm; 7) den indogermanischen
Sprachstamm; 8) den amerikanischen Sprachstamm. Außerdem gibt
es noch eine beträchtliche Anzahl isolierter Sprachen, welche
sich, wenigstens auf Grund der bisherigen Forschungen, in keinen
der größern Sprachstämme einreihen lassen. Dazu
gehören: in Europa das Baskische in den Pyrenäen und das
jetzt ausgestorbene Etruskische (nach Corssen Indogermanisch) in
Toscana; die meisten Negersprachen in Nord- und Zentralafrika, so
das Wolof, Bidschogo, Banyum, Haussa, Nalu, Bulanda, Baghirmi,
Bari, Dinka etc., von denen nur einzelne, wie die Nuba-, Fulbe-,
Mande-, Nil-, Kru-, Ewe-, Bornusprachen, sich zu Gruppen vereinigen
lassen; in Südafrika die verschiedenen Sprachen der
Hottentoten und Buschmänner, welche sich durch das
Vorhandensein zahlreicher Schnalzlaute, im Buschmännischen
acht, auszeichnen, übrigens dem Aussterben nahe sind; die
Sprachen des Kaukasus, unter denen man einen südkaukasischen
Sprachstamm

182

Sprachfehler - Sprachreinigung.

mit Georgisch, Mingrelisch und Lasisch nebst Suanisch und einen
nordkaukasischen Sprachstamm mit Tscherkessisch, Awarisch, Udisch,
Tschetschenzisch etc. unterscheiden kann; im Innern von Ostindien
die Mundasprachen (Ho und Santhal) etc.; das Japanische und
Koreanische in Japan und Korea; das Jukagirische, Korjakische u.
Tschuktschische, Kamtschadalische, Aino, Giljakische,
Jenissei-Ostjakische und Kottische in Nordasien; die Sprachen der
Aleuten in Nordamerika; die Maforsprache auf Neuguinea und andre
Papuasprachen; die südaustralischen und die jetzt
ausgestorbenen tasmanischen Sprachen auf Vandiemensland; die
Sprachen der Mincopie auf den Andamanen sowie der Negrito auf den
Philippinen und der Halbinsel Malakka und andre Sprachen. Vgl.
außer den S. 180 angeführten Werken: Pott, Die
quinäre und vigesimale Zählmethode bei Völkern aller
Weltteile (Halle 1847); Steinthal, Charakteristik der
hauptsächlichsten Typen des Sprachbaues (Berl. 1860); Max
Müller, Essays (deutsch, Leipz. 1869 ff., 4 Bde.); Schleicher,
Die deutsche Sprache (5. Aufl., Stuttg. 1888); Whitney, Leben u.
Wachstum der Sprache (deutsch von Leskien, Leipz. 1876); Sayce,
Introduction to the science of language (2. Aufl., Lond. 1883, 2
Bde.); Hovelacque, La linguistique (3. Aufl., Par. 1882); Pezzi,
Glottologia aria recentissima (Tur. 1877); Fr. Müller,
Grundriß der Sprachwissenschaft (Wien 1876-88, 4 Bde.); G.
Curtius, Kleine Schriften (Leipz. 1886, 2 Bde.); Delbrück,
Einleitung in das Sprachstudium (2. Aufl., das. 1884); Brugmann,
Zum heutigen Stand der Sprachwissenschaft (Straßb. 1885);
Jolly, Schulgrammatik und Sprachwissenschaft (Münch. 1874);
Benfey, Geschichte der Sprachwissenschaft und orientalischen
Philologie in Deutschland (das. 1869); Brücke, Physiologie und
Systematik der Sprachlaute (2. Aufl., Wien 1876); Sievers,
Grundzüge der Phonetik (3. Aufl., Leipz. 1885). Eine
"Zeitschrift für allgemeine Sprachwissenschaft" wird von
Techmer herausgegeben (Leipz., seit 1884).

Sprachfehler (besser Sprachstörungen) werden bedingt
durch Bildungsfehler oder Erkrankungen 1) der lautbildenden Organe
(Kehlkopf, Schlund, Mund), 2) des diesen Artikulationsorganen
zugehörenden Nervenapparats. Über S. der ersten Gruppe s.
die betreffenden Artikel. Die S. der zweiten Gruppe, die
eigentlichen S., äußern sich als solche der
Artikulation, d. h. der mechanischen Silben- und Wortbildung, und
solche der Diktion, d. h. der Fähigkeit, einen Gedanken in
richtiger Wahl und Anordnung der Wörter zum Ausdruck zu
bringen. Bei den Fehlern der Artikulation handelt es sich um
Beeinträchtigung derjenigen Muskelbewegungen, welche
nötig sind, um einen bestimmten Laut hervorzubringen; diese
Muskeln werden in Thätigkeit versetzt von dem zwölften
Gehirnnerv (nervus hypoglossus), und da die Ursprungsstellen oder
Kerne dieses Nervs im verlängerten Mark (bulbus), am Boden des
vierten Gehirnventrikels, gelegen sind, so sind es besonders
häufig Blutungen oder andre Veränderungen dieses
Gehirnteils, welche zu schweren Bewegungsstörungen der
Lippen-, Zungen- und Schlundmuskulatur (Bulbärparalyse, s. d.)
führen. Die S. der Diktion sind stets bedingt durch
Erkrankungen des Großhirns (z. B. Gehirnerweichung), und zwar
sind es besonders zwei Stellen der Großhirnrinde, deren
Zerstörung die als Aphasie benannten S. herbeiführt. Die
eine dieser Stellen (von Broca entdeckt) findet sich bei
Rechtshändern im Fuß der dritten linken Stirnwindung,
die andre (nach Wernicke) in der ersten Schläfenwindung. Ist
die erstere erkrankt, so findet sich motorische oder ataktische
Aphasie, d. h. der Kranke ist nicht im stande, die Bewegungen
seiner Sprachwerkzeuge so zu beeinflussen, daß ein ihm in
seinem Bewußtsein vorschwebender Laut ertönt. Bei
Schädigung der zweiten Stelle tritt sensorische Aphasie
(Worttaubheit Kußmauls) ein, wobei der Kranke trotz
vorhandener Intelligenz und bei intaktem Gehör den Sinn
gesprochener Worte nicht auffassen kann. Als amnestische Aphasie
bezeichnet man das Unvermögen des Kranken, für einen ihm
bekannten Gegenstand die richtige Bezeichnung zu finden; als
Paraphasie das Verwechseln ganzer Wörter oder Silben, ein
krankhaftes Sichversprechen. - Den Störungen der Sprache
entsprechen solche des Schreibens, der Aphasie die Agraphie; doch
findet sich z. B. bei sensorischer Aphasie nicht etwa auch
sensorische Agraphie, d. h. das Unvermögen, Geschriebenes zu
verstehen, woraus hervorgeht, daß die Zentren des Hörens
und Lesens an verschiedenen Stellen der Gehirnrinde ihren Sitz
haben. Da die meisten S. durch solche Gehirnveränderungen
bedingt werden, welche einen dauernden Verlust von Rindensubstanz
mit sich bringen, so sollte man annehmen, daß diese S.
unheilbar sein müßten; doch lehrt die Erfahrung,
daß teilweise oder völlige Heilung eintreten kann, wobei
namentlich methodischer Unterricht von Erfolg ist. Vgl.
Kußmaul, Störungen der Sprache (2. Aufl., Leipz.
1881).

Sprachgewölbe, Gewölbe, welche so gebaut sind,
daß alles, was an einem bestimmten Punkt ihres Innern leise
gesprochen wird, nur an einem andern Punkte desselben gehört
werden kann. Sie müssen ellipsoidisch gebaut sein, weil
Ellipsen die Eigenschaft haben, alle Schallstrahlen, welche von dem
einen ihrer beiden Brennpunkte ausgehen, nach dem andern
zurückzuwerfen und dort zu vereinigen. Die Pariser Sternwarte,
die Kuppel der Paulskirche in London, das Ohr des Dionys besitzen
oder bilden solche [korrigiert für "soche"] S. Vgl. Echo.

Sprachlehre, s. Grammatik.

Sprachreinigung, die Ausscheidung fremdartiger, im
weitern Sinn auch fehlerhafter Beimischungen (Solözismen) aus
einer Sprache und die Ersetzung derselben durch einheimische und
regelrecht gebildete Wörter und Wortverbindungen. Das hierauf
gerichtete Streben ist an sich löblich; doch muß dabei
mit Vorsicht, gründlicher Sprachkenntnis, gesundem Urteil und
geläutertem Geschmack zu Werke gegangen werden, da es leicht
in Übertreibung (Purismus) ausartet. Wörter wie Fenster,
Wein, Pforte, opfern, schreiben etc. (v. lat. fenestra, vinum,
porta, offerre, scribere) lassen nur für den Sprachforscher
den fremden Ursprung erkennen; seit frühster Zeit
eingebürgert, haben sich dieselben mit den auf deutschem
Sprachboden erwachsenen Wörtern verschwistert und gleiche
Rechte erworben (vgl. Fremdwörter). Auch werden heutzutage,
wenn neue technische und wissenschaftliche Begriffe eine
sprachliche Bezeichnung verlangen, die Ausdrücke dafür
mit Recht vornehmlich dem griechischen und lateinischen
Sprachschatz entnommen. Mit einheimischen vertauscht, sind diese
häufig unverständlich oder zu unbestimmt oder müssen
gar umschrieben werden; auch wird dadurch der Verkehr mit fremden
Nationen erschwert. Mehr als lächerlich ist es aber, wenn der
Purismus sich an solchen Wörtern vergreift, die nur scheinbar
fremden Ursprungs sind, wie z. B. von Deutschtümlern für
Nase der Ausdruck "Gesichtserker" vorgeschlagen wurde, während
Nase keineswegs von dem lateini-

183

Sprachrohr - Sprachunterricht.

schen nasus stammt, sondern ein Urwort ist, das sich in allen
indogermanischen Sprachen übereinstimmend wiederfindet
(sanskr. nas, nasa, altpers. naha, lat. nasus, altslaw. nosu etc.).
Auch die S., die in neuester Zeit von einigen Germanisten an den
durch Volksetymologie (s. Etymologie) entstandenen Wörtern
Sündflut, Friedhof u. a. versucht wurde, ist, obwohl sie auf
gründlicher Sprachkenntnis beruht, nicht zu billigen. In
diesen Fällen hat die jetzige Schreibung und Deutung dieser
Wörter längst das Bürgerrecht erlangt, wenn auch
"Sinflut" und "Freithof", wie man nach jenen Gelehrten schreiben
sollte, früher "die große Flut" und den "eingefriedigten
Hof" bedeutet haben. Ihren triftigen Grund hat dagegen die S., wenn
aus bloßer Nachlässigkeit oder Bequemlichkeit oder aus
Vorliebe für das Ausländische ohne alle Not
Fremdwörter eingeschwärzt werden. Einen solchen Kampf
hatte namentlich die deutsche Sprache zu führen seit dem
Anfang des 17. Jahrh., als der Verkehr mit den Franzosen zunahm und
der Deutsche die größere Freiheit und Gewandtheit
derselben auch durch Nachäffung ihrer Sprache sich anzueignen
suchte. Energisch trat diesem Unwesen zuerst Martin Opitz in seinem
Buch "Von der teutschen Poeterei" entgegen; weiter noch ging
Philipp v. Zesen teils mit seiner Schrift "Rosenmond", teils durch
die Stiftung der Deutschgesinnten Genossenschaft (s. d.) in
Hamburg. Ähnliche Zwecke verfolgten: die Frucht bringende
Gesellschaft zu Weimar, der Blumenorden an der Pegnitz zu
Nürnberg, der Schwanenorden an der Elbe und die Deutsche
Gesellschaft zu Leipzig. Größern Erfolg aber als diese
Verbindungen, die von abgeschmackt puristischen Bestrebungen sich
nicht frei erhielten, hatten die Bemühungen einzelner für
die Sache begeisterter Männer, namentlich Leibniz', der,
obschon er nur selten in deutscher Sprache schrieb, dennoch die
Kraft und Ausdrucksfähigkeit derselben wohl erkannte und in
seinen "Unvorgreiflichen Gedanken, betreffend die Ausübung und
Verbesserung der deutschen Sprache" (1717) und der "Ermahnung an
die Deutschen, ihren Verstand und ihre Sprache besser zu üben"
(hrsg. von Grotefend, Hannov. 1846) gerade die deutsche Sprache als
die geeignetste für die Darstellung einer wahren Philosophie
erklärte. Noch freilich fehlten Werke, die mit dem Streben
nach reiner und edler Form auch gediegenen Inhalt verbanden. Sobald
aber im 18. Jahrh. die große Blütezeit der deutschen
Litteratur anbrach, erhob sich auch die Sprache aus ihrer tiefen
Erniedrigung und gedieh durch unsre Klassiker noch vor dem Ende des
Jahrhunderts zu hoher Vollendung. Nicht ohne Verdienst waren dabei
auch die besondern, ausdrücklich auf S. gerichteten
Bemühungen J. H. Campes (s. d.) und Karl W. Kolbes (gest.
1835; "Über Wortmengerei", Berl. 1809), während Chr.
Heinr. Wolke (gest. 1825) sich wieder in übertriebenen
Purismus verirrte. In der neuesten Zeit wurde der Kampf gegen den
noch immer über Gebühr herrschenden Gebrauch von
Fremdwörtern sowohl als von sprachwidrigen Wortbildungen und
Redensarten von M. Moltke in seiner Zeitschrift "Deutscher
Sprachwart" (1856-79) und namentlich von dem 1885 begründeten
Allgemeinen Deutschen Sprachverein und der "Zeitschrift" desselben
(hrsg. von Riegel in Braunschweig) wieder aufgenommen. Vgl. Wolff,
Purismus in der deutschen Litteratur des 17. Jahrhunderts
(Straßb. 1888); H. Schultz, Die Bestrebungen der
Sprachgesellschaften des 17. Jahrhunderts für Reinigung der
deutschen Sprache (Götting. 1888); Riegel, Der Allgemeine
Deutsche Sprachverein (Heilbr. 1885).

Sprachrohr, eine Blechröhre von der Form eines
abgekürzten Kegels, dessen kleinere Öffnung der
Sprechende vor den Mund nimmt, während er die weitere einer
entfernt stehenden Person zuwendet. Je größer das S.
ist, desto lauter und weiter vernehmbar ist das hineingesprochene
Wort. Auf Schiffen bedient man sich meist solcher von 1,25-2 m
Länge bei einer Stärke von 5 cm an dem obern und von
15-25 cm an dem untern Ende. Eine starke Mannsstimme soll sich
durch ein S. von 5,5-7,5 m Länge auf 5,5 km vernehmlich machen
lassen, mit einem 1,5 m langen aber kann man auf eine Entfernung
von höchstens 1,5-2 km verstanden werden. Erfunden ward das S.
1670 von dem Engländer Morland, welcher die ersten aus Glas,
dann aus Kupfer verfertigte. Die Theorie des Sprachrohrs
bearbeitete namentlich Lambert. Überall gleich weite Rohre
(Blei-, Zinkrohre etc.) mit Mundstück, welche zwei entfernte
Räume direkt miteinander verbinden und zur Übermittelung
von gesprochenen Worten dienen, nennt man wohl auch Sprachrohre
(Kommunikationsrohre). Durch ein 950 m langes Rohr hört man
noch leise Geräusche.

Sprachunterricht. Da die Sprachen in der Regel zu praktischen
Zwecken erlernt werden, d. h. um verstanden und gesprochen zu
werden, so bietet sich als der natürliche Weg zum Ziel die
Art, wie wir unsre Muttersprache erlernen. Man gibt also Kindern
ausländische Erzieherinnen und bringt es nicht selten dahin,
daß gut begabte Kinder sich in mehreren Sprachen
auszudrücken vermögen, allerdings meist auf Kosten ihrer
Muttersprache; da aber die Korrektheit des Ausdrucks und der Umfang
des Sprachmaterials notwendig von dem oft sehr geringen
Bildungsgrad der Bonnen abhängen, so kann von einer
Beherrschung der Sprache gar keine Rede sein. Für Erwachsene
ist ein längerer Aufenthalt im Ausland sowie die unausgesetzte
Übung im Gebrauch des fremden Idioms notwendig, wenn die
Fertigkeit, sich leicht und fließend in der fremden Sprache
auszudrücken, erreicht werden soll. "Es gehört eine gar
große Gewandtheit dazu, der Natur entgegen, die eigentlich
jeden nur an Eine Sprache, wie an Ein Vaterland gewiesen hat, sich
zweier Sprachen bis zum Schreiben und Reden zu bemächtigen,
und nur diejenigen können hierin den Mund zum Fordern weit
aufthun, die keine solcher Forderungen selbst zu erfüllen
vermögen" (Fr. A. Wolf). Leute, die als Dienstboten,
Handwerker, Handlungsdiener etc. sich in einem fremden Land
aufhalten, vermögen zwar nach einer gewissen Zeit sich im
fremden Idiom auszudrücken; da sie aber immer nur einen eng
umgrenzten Wortschatz und Ideenkreis beherrschen, so haben sie beim
Versuch, sich in einer andern geistigen Sphäre zu bewegen,
fast dieselben Schwierigkeiten zu überwinden, als sollten sie
eine neue Sprache erlernen. Ebenso sind die Deutsch-Amerikaner ein
redender Beweis dafür, daß der ausschließliche
Gebrauch eines fremden Idioms, das bedingungslose Aufgehen in das
Wesen einer fremden Nation immer den Verlust der Muttersprache zur
Folge hat. In vielsprachigen Ländern, wie Österreich,
Rußland etc., fehlt es nicht an Menschen, die fünf und
sechs Sprachen nebeneinander sprechen; aber vollständig
beherrschen sie selten auch nur eine. Bei dieser Art der
Spracherlernung kann natürlich von S. keine Rede sein; die
Erfahrung hat aber gelehrt, daß ein Aufenthalt im Ausland
erst dann wirklich fruchtbar ist, wenn die Grundlage einer guten
grammatischen Vorbildung vorhanden ist. Diese muß sogar
ausreichen für alle die, welche weder Zeit

184

Sprachunterricht (Schule und Selbststudium).

noch Mittel haben, das Ausland aufzusuchen, und denen es weniger
auf Sprachfertigkeit als auf die Befähigung ankommt, die in
der fremden Sprache geschriebenen Werke zu verstehen und vielleicht
auch einen Brief in derselben abzufassen. Diese Vorbildung erwirbt
man gewöhnlich mit Hilfe eines Lehrers unter Zugrundelegung
eines Lehrbuchs; die Methoden des Unterrichts sind entweder die
analytische oder die synthetische. Während die analytische
Methode, welche auch die natürliche, praktische oder die
induktive genannt wird, mit der mechanischen Einübung eines
Sprachstoffes beginnt und an diesem die Gesetze der Sprache zu
erkennen und zu entwickeln lehrt, geht die synthetische,
wissenschaftliche oder deduktive Methode den umgekehrten Weg, von
der Regel zum Beispiel, von dem in Form und Geltung erkannten
Einzelwort zur Bildung eines Sprachganzen. Diesen Weg haben im
allgemeinen alle gelehrten Schulen bis auf den heutigen Tag
eingeschlagen, nur daß wohl kaum noch die Synthese in ihrer
Reinheit angewendet wird; jedenfalls erfährt der
propädeutische Kursus jetzt eine vorwiegend praktische und
methodische Behandlung. Das Verdienst, diese in die Schule
eingeführt zu haben, anfangs allerdings nur für das
Französische, gebührt Seidenstücker (Rektor in
Soest, gest. 1817). Nach ihm wird mit den einfachsten Sätzen
begonnen, und an ihnen werden die Elemente der Sprache zur
Anschauung gebracht, dann allmählich und stufenweise
fortgeschritten, bis das Wichtigste aus der Grammatik sowie die
notwendigsten lexikalischen Kenntnisse vorgeführt sind und
durch unablässige Übung festgewußt werden; erst
dann schreitet man zu leichtern, zusammenhängenden
Lesestücken. Diese Methode, welche ohne besondere Berechtigung
die Ahnsche genannt wird, ist von Schifflin, Seyerlein, Barbieux,
Schmitz u. a. selbständig fortgebildet worden und hat ihre
Anwendung auf alle europäischen Sprachen gefunden; sie ist am
bekanntesten geworden durch die französischen Lehrbücher
von Plötz (s. d.), welche eine große Verbreitung
gefunden haben. Die geschickte Anordnung und leichtfaßliche
Darstellung des Sprachstoffes sowie die Betonung der Wichtigkeit
einer guten Aussprache sind ihre Hauptvorzüge, während
mit Recht über die oft überaus trivialen
Übungssätze, über den Zwang, den seine "Methodik"
auf den Gang des Unterrichts ausübt, und über den Mangel
an Wirtschaftlichkeit geklagt wird.

Die Versuche, die rein analytische Methode für den
Unterricht nutzbar zu machen, gehen alle auf die Interlinearmethode
des Franzosen Jacotot (s. d.) und des Engländers Hamilton
(s.d. 9) zurück, welche darauf beruht, daß zuerst ein
Sprachganzes vollständig eingeübt, dann in seine Teile
zerlegt und erläutert wird. Es wird also ein Abschnitt aus dem
zu Grunde gelegten Musterbuch (bei Jacotot der "Telémaque"
von Fénelon, bei Hamilton das Evangelium Johannis), welches
mit fortlaufender Interlinearübersetzung versehen ist, so
lange gelesen, übersetzt und abgefragt, bis der Schüler
es vollständig innehat. So schafft man durch unablässige
Wiederholung einen festen Besitz von Wörtern und Phrasen und
bringt mit diesem Grundstock das jedesmal hinzutretende Neue in
lebendige Verbindung. Erst spät tritt grammatische Analyse und
bei Jacotot auch Synthese hinzu. Die bessere Durcharbeitung und
Durchführung der Methode ist unbedingt Jacotot
nachzurühmen; ihre größte Schwäche bestand in
der Gefahr, das Interesse der Schüler durch die mechanische
Behandlung des Stoffes abzustumpfen und sie zu einer
Oberflächlichkeit zu erziehen, welche äußerliche
Fertigkeit und Dressur mit wirklichem Wissen und Können
verwechselt. Dennoch erwarben die unzweifelhaften Erfolge, welche
die Erfinder aufzuweisen hatten, ihrer Methode viele Freunde, und
wenn auch die Versuche andrer, nach derselben zu unterrichten (z.
B. von L. Tafel in Württemberg, L. Lewis in Österreich,
W. Blum in Leipzig), scheiterten, so haben doch einige
Lehrbücher, in denen die analytische Methode mehr ausgebildet
wurde und zwar durch stärkere Betonung der grammatischen
Synthese, große Verbreitung gefunden, z. B. die englischen
Lehrbücher von Gesenius, Fölsing u. a. Großes
Aufsehen haben die Reformvorschläge von Perthes in Karlsruhe
erregt, welche die analytische Methode auch auf den lateinischen
Unterricht (und zwar zur leichtern Erlernung der Sprache) anwenden
wollen und zuerst in der "Zeitschrift für Gymnasialwesen"
1873-75 veröffentlicht wurden. Seine Methode besteht
hauptsächlich darin, daß der Knabe von Anfang an zur
Induktion angeleitet wird, daß die Wörter und Phrasen,
die ihm entgegentreten, nicht aus ihrem natürlichen
Zusammenhang gerissen werden, daß das Neue stets nach der
sogen. gruppierenden Repetitionsmethode an das Gelernte
angeknüpft werde, und daß der Unterricht durch
Hinweisung auf abgeleitete Wörter und naheliegende oder leicht
abzuleitende Begriffe aus der unbewußten Aneignung derselben
möglichst Nutzen ziehe. Die Hauptsache sind, wie bei allen
Methodikern, seine Hilfsbücher, welche mit großem
Fleiß und Geschick gearbeitet sind und eine treffliche
Anleitung zur Präparation geben. Allein trotz der Anerkennung,
welche diese Vorschläge gefunden haben, verhält sich die
überwiegende Mehrzahl der Fachmänner ablehnend; besonders
wird das Prinzip der unbewußten Aneignung bestritten sowie
die Anwendbarkeit der Induktion auf die Erlernung der Grammatik.
Auch im Französischen sind in neuester Zeit Versuche gemacht
worden, die rein analytische Methode in den Anfangsunterricht
einzuführen. Man geht von kleinen Erzählungen aus,
übt sie mechanisch ein, lehrt daran lesen, sprechen, schreiben
und, durch Zusammenstellung des Gleichartigen, die Grammatik, doch
nur, soweit sie am Übungsstoff in die Erscheinung tritt. Diese
Methode, welche sich auf die Lehrbücher von Mangold und Coste,
von Ulbrich u. a. stützt, rühmt sich großer
Erfolge, findet aber auch starken Widerspruch und wird ihn ebenso
wie die Perthessche finden, solange an den Schulen die Erreichung
einer logisch-formalen Bildung als das Hauptziel des Unterrichts
gilt.

Wer zur Erlernung einer Sprache auf Privatunterricht oder
Selbststudium angewiesen ist, hat die Auswahl unter einer Anzahl
von Lehrbüchern, welche sich zwar alle einer ihnen
eigentümlichen Methode rühmen, aber doch samt und sonders
an die natürliche Art der Spracherlernung durch den Gebrauch
anknüpfen. Zu den verbreitetsten gehören die von
Ollendorff. In ihnen sind die Regeln auf ein geringes Maß
beschränkt, Vokabeln und Sätze dem gewöhnlichen
Leben entnommen und außer den fremdsprachlichen
Musterbeispielen nur deutsche Übungssätze gegeben,
welche, auf Einführung in die Konversation berechnet,
hauptsächlich Fragen und Antworten enthalten. Der eng
begrenzte Kreis von Wörtern und Gedanken, in denen sich diese
Sätze bewegen, bedingt eine fortwährende Wiederholung des
meist trivialen und absurden Stoffes und führt zu einer
mechanischen, geistlosen Dressur. Ebenso wie Ollendorff geht
Robertson darauf aus, den Lernenden möglichst bald zum
Sprechen zu befähigen. Diese Methode (weitergebildet von
Ölschläger und A. Boltz) nähert

185

Sprachvergleichung - Spreewald.

sich der Hamiltonschen, unterscheidet sich aber darin, daß
auf jeden Textabschnitt mit der Interlinearversion eine
möglichst ausführliche Erläuterung grammatischer,
lexikologischer und andrer Schwierigkeiten folgt, die dem
Schüler am besten vorbehalten bleibt. Eine andre viel
angepriesene Methode, das Meisterschaftssystem von Rich. S.
Rosenthal, welche in drei Monaten bei täglich
halbstündiger Arbeit eine fremde Sprache lesen, sprechen und
schreiben lehren will, kann ihr Programm nur erfüllen durch
weise Beschränkung auf die für den Reisenden und
Geschäftsmann notwendige Sprache. Von "System" ist allerdings
wenig zu merken; die Grammatik wird vollständig
zerpflückt, und in Bezug auf die Aussprache muß der
Verfasser den Schüler an einen ausländischen Lehrer
verweisen! Einen großen Teil seiner Regeln, Beispiele etc.
hat das "Meisterschaftssystem" der sogen. Konversationsmethode von
Gaspey-Otto-Sauer entnommen, deren Lehrbücher für
Französisch, Englisch, Italienisch, Spanisch,
Holländisch, Russisch großen Nachdruck auf
Sprechübungen legen und die oben erwähnten
Lehrbücher durch größere Einfachheit und
Zuverlässigkeit übertreffen. Das Meisterschaftssystem
unter gleichzeitiger Anwendung der Robertsonschen Methode hat F.
Booch-Árkossy in Leipzig für seine modernen Grammatiken
benutzt, die für Schul- und Selbstunterricht eingerichtet sind
und nicht nur alle neuern Sprachen, sondern auch Latein und
Griechisch lehren wollen; er "berechnet das Studium dieser letztern
auf je ein Jahr, welches bei ausschließlicher Verwendung
dieser Zeit auf den betreffenden Gegenstand hinreichen wird, dem
fleißig Studierenden die betreffende klassische Litteratur
zum selbständigen nützlichen und angenehmen Gebrauch zu
erschließen". Nützlich und empfehlenswert sind die von
Thum herausgegebenen Lehrbücher des Englischen,
Französischen etc. für den Kaufmann und Gewerbtreibenden;
sie beschränken sich auf die dem geschäftlichen Leben
angehörigen Phrasen, Vokabeln und Übungen und führen
leicht und sicher in den kaufmännischen Stil ein. Eine
ausgezeichnete Hilfe für das Selbststudium bieten die
Unterrichtsbriefe von Toussaint-Langenscheidt für
Französisch und Englisch. Diese, von vortrefflichen Kennern
der beiden Sprachen zusammengestellt, geben nicht nur Anleitung zur
richtigen Aussprache, sondern auch klar und präzis
gefaßte Regeln und einen durchaus korrekten Sprachstoff
("Atala" von Chateaubriand und "The Christmas Carol" von Dickens).
Durch die Reichhaltigkeit des Stoffes, die leichte
Verständlichkeit der Darstellung sowie die Richtigkeit des
Gebotenen übertreffen diese "Briefe" alle ähnlichen
Werke, stellen aber an den Lernenden so hohe Anforderungen,
daß er nur mit "großer Anstrengung, Ausdauer und
Einsetzung der edelsten Kräfte" sein Ziel in der angegebenen
Zeit (9 Monate) erreichen wird. Diese "Briefe" sind häufig
nachgeahmt worden. In allerneuester Zeit macht die Methode von
Berlitz aus Nordamerika viel von sich reden, welche darin besteht,
daß der Lehrer sich beim Unterricht ausschließlich des
fremden Idioms bedient und auch die Schüler zwingt, in
demselben zu antworten. Sie ist also im Grund nichts andres als die
systematisierte Form der Erlernung einer fremden Sprache im fremden
Lande durch den wirklichen Gebrauch.

Sprachvergleichung, Sprachwissenschaft, s. Sprache und
Sprachwissenschaft.

Sprangrute, s. Vogelfang.

Spratzen, die Eigenschaft einiger Metalle, im
flüssigen Zustand absorbierte Gase während der
Abkühlung zu entlassen, wobei das gewaltsam entweichende Gas
Metallteilchen mit fortreißt und zuweilen auf der
Oberfläche des Metalls blumenkohlähnliche Auswüchse
hervorbringt. So absorbiert Silber Sauerstoff, Kupfer schweflige
Säure, Stahl Kohlenoxydgas.

Spray (engl., spr. spreh), "Sprühregen" von
antiseptischer Flüssigkeit, welcher nach Listers Vorschriften
der Wundbehandlung bei Operationen über das ganze
Operationsfeld, die Hände des Chirurgen und die Instrumente
mittels Richardsonschen Doppelgebläses unterhalten werden
soll. Nachdem bakteriologische Untersuchungen die
Unschädlichkeit der Luft erwiesen haben, wird die S. kaum noch
angewandt.

Sprechmaschine, s. Sprache, S. 178.

Sprechsaal, in vielen Tages- und Wochenzeitschriften eine
Abteilung, in welcher die Redaktion Anfragen ihrer Abonnenten
beantwortet, auch Zuschriften derselben von gemeinnützigem
Interesse zum Abdruck bringt und einen schriftlichen Verkehr
zwischen den Lesern vermittelt. Vgl. Eingesandt.

Spree, der bedeutendste unter den Nebenflüssen der
Havel in der Mark Brandenburg, entspringt bei dem Vorwerk Ebersbach
in der sächsischen Oberlausitz, unweit der böhmischen
Grenze, in mehreren Quellen, von denen der Spreeborn in Spreedorf
und der Pfarrborn in Gersdorf als Hauptquellen angesehen werden und
neuerdings vom Humboldt-Verein in Zittau eingefaßt und mit
Anlagen umgeben worden sind, durchfließt die sächsische
Oberlausitz, teilt sich hinter Bautzen in zwei Arme, die bei
Hermsdorf und Weißig auf preußisches Gebiet
übertreten und bei Spreewitz wieder zusammenfließen. Die
S. fließt dann an Spremberg und Kottbus vorbei, wendet sich
unterhalb letzterer Stadt westlich, teilt sich in viele Arme und
bildet den Spreewald (s. d.). Oberhalb Lübben vereinigen sich
diese Arme wieder, woraus die S. eine nordöstliche Richtung
nimmt und sich unterhalb Lübben abermals in mehrere Arme
teilt, die sich bei Schlepzig wieder vereinigen. Sie wird bei
Leibsch für kleinere Fahrzeuge schiffbar, durchfließt
den Schwielug- und Müggelsee, bildet bei Berlin eine Insel,
auf der ein Hauptteil dieser Stadt, Kölln an der S., gebaut
ist, und mündet unterhalb Spandau links in die Havel, nachdem
sie einen Lauf von 365 km (wovon 180 schiffbar) zurückgelegt
hat. Ihre Hauptzuflüsse sind rechts: die Schwarze Schöps,
Malxe, das schiffbare Rüdersdorfer Kalkfließ und die
Panke (in Berlin); links: die Berste und die schiffbare Dahme, die
wieder mehrere schiffbare Gewässer, darunter die Notte,
aufnimmt. Das ganze Flußgebiet der S. beträgt 9470 km
(172 QM.). Durch den Friedrich Wilhelms- oder Müllroser Kanal,
neuerdings auch durch den Oder-Spreekanal (s. d.) ist sie mit der
Oder verbunden; außerdem bestehen noch bei Berlin mehrere
schiffbare Kanäle, von denen der Landwehrkanal Berlin auf der
Südseite umgeht und der Berlin-Spandauer Schiffahrtskanal (9
km lang) unterhalb Berlin die S. auf der rechten Seite
verläßt und zur Havel bei Saatwinkel führt. Um die
S. innerhalb Berlins mit großen Schiffen befahren zu
können und den Durchgangsverkehr zwischen Elbe und Oder
(Hamburg und Breslau) zu erlangen, ist eine Tieferlegung des
Flußbettes innerhalb des Weichbildes der Stadt in Aussicht
genommen, deren Kosten auf 9,5 Mill. Mk. veranschlagt sind.

Spreewald, bruchige Niederung an der Spree im
preuß. Regierungsbezirk Frankfurt, in den Kreisen Kottbus,
Kalau und Lübben, ist in seinem Hauptteil, dem obern S.,
zwischen Peitz und Lübben, 30 km lang und zwischen Neuzauche
und Lübbenau 10 km

186

Sprehe - Sprengen.

breit, während der untere S., unterhalb Lübben, 15 km
Länge und 6 km Breite hat. Von der Spree in zahlreichen
netzförmig verbundenen Armen durchflossen, ist die Niederung
oft überschwemmt. Ein Teil des sumpfigen Bodens ist durch
Kanäle entwässert und in Felder und Wiesen umgewandelt
worden, während der andre, mit Wald (größtenteils
Erlen) bestandene Teil nur auf Kähnen zugänglich ist. Der
gleiche Verkehr findet auch in den Orten Burg (Kaupergemeinde),
Lehde und Leipe statt, wo jedes Gehöft auf einer einzelnen
Insel liegt. Die Einwohner sind nur noch im östlichen Teil des
obern Spreewaldes (Burg) Wenden, sonst bereits germanisiert; sie
treiben außer Viehzucht und Fischerei besonders
Gemüsebau, dessen Produkte (Gurken von Lübbenau) weit
verfahren werden. Durch die Bemühungen des Spreewaldvereins
ist neuerdings Sorge getragen, die Schönheiten des Spreewaldes
noch mehr aufzuschließen, namentlich auch die für den
Fremdenverkehr meist unzulänglichen Wirtshäuser zu heben.
Vgl. Franz, Der S. in physikalischer und statistischer Hinsicht
(Görl. 1800); "Führer durch den S." (Lübben 1889);
Trinius, Märkische Streifzüge, Bd. 3 (Mind. 1887);
Köhler, Die Landesmelioration des Spreewaldes (Berl. 1885); v.
Schulenburg, Wendische Volkssagen aus dem S. (Leipz. 1879); Virchow
und v. Schulenburg, Der S. und der Schloßberg von Burg,
prähistorische Skizze (Berl. 1880).

Sprehe (Spreu), Vogel, s. v. w. Star.

Sprekelia formosissima, s. Amaryllis.

Spremberg, Kreisstadt im preuß. Regierungsbezirk
Frankfurt, an der Spree und der Linie Berlin-Görlitz der
Preußischen Staatsbahn, 104 m ü. M., hat 2 evangelische
und eine neue gotische kath. Kirche, ein Realprogymnasium, eine
Webschule, ein Rettungshaus, ein Amtsgericht, eine
Reichsbanknebenstelle, sehr bedeutende Tuchfabrikation nebst
Wollspinnerei, Papp- und Möbelfabrikation, ein großes
Mühlenwerk, Braunkohlengruben und (1885) 10,999 meist evang.
Einwohner.

Spreng., bei naturwissenschaftl. Namen Abkürzung
für Kurt Sprengel (s. d.).

Sprengarbeit, s. Sprengen.

Sprengbock, in der Baukunst, s. Bock.

Sprengel, 1) Kurt, Arzt und Botaniker, geb. 3. Aug. 1766
zu Boldekow bei Anklam, studierte seit 1784 in Halle Theologie,
später Medizin und Naturwissenschaften, ward 1789 daselbst
Professor der Medizin, 1797 auch der Botanik und starb hier 15.
März 1833. S. erweckte zu Anfang des 19. Jahrh. erneutes
Interesse für Phytotomie und lieferte mehrere Untersuchungen
über Zellen und Gefäße; größere
Verdienste erwarb er sich als Historiker der Medizin und Botanik.
Er schrieb: "Pragmatische Geschichte der Arzneikunde" (Halle
1792-1803, 5 Bde.; 3. Aufl. 1821-28; Bd. 6 von Eble, Wien 1837-40;
Bd. 1, 4. Aufl. von Rosenbaum, Leipz. 1846); "Historia rei
herbariae" (Amsterd. 1807-1808, 2 Bde.); "Geschichte der Botanik"
(Altona u. Leipz. 1817-18, 2 Bde.); "Neue Entdeckungen im ganzen
Umfang der Pflanzenkunde " (das. 1819-22, 3 Bde.). Seine "Opuscula
academica" nebst Biographie gab Rosenbaum heraus (Leipz. 1844). -
Ein Oheim Sprengels, Christian Konrad S., geb. 1750, gest. 7. April
1816 als Rektor in Spandau, entdeckte die Bestäubung der
Blüten durch Insekten und schrieb: "Das entdeckte Geheimnis
der Natur im Bau und in der Befruchtung der Blumen" (Berl.
1793).

2) Karl, Landwirt, geb. 1787 zu Schillerslage bei Hannover,
besuchte die Thaerschen Institute in Celle und Möglin und war
seit 1808 als Ökonom in Sachsen und Schlesien thätig,
studierte 1821-24 in Göttingen Naturwissenschaften,
habilitierte sich 1830 daselbst als Privatdozent der Ökonomie
und Chemie und folgte 1831 einem Ruf als Professor der
Landwirtschaft an das Carolinum in Braunschweig, von wo er 1839 als
Generalsekretär der Ökonomischen Gesellschaft in Pommern
nach Regenwalde ging. Hier gründete er eine höhere
landwirtschaftliche Lehranstalt und eine Ackergerätfabrik und
starb 19. April 1859. S. gehört zu den Vorläufern
Liebigs, insofern er die Naturforschung in die Landwirtschaft
einführte und namentlich die Chemie auf Bodenkunde und
Düngerlehre anwandte. Er betonte bereits, daß jede
Pflanze eine bestimmte Menge nicht organischer Stoffe zu ihrer
Ausbildung bedürfe, und daß auch der Stickstoffgehalt
des Düngers und des Bodens zu berücksichtigen sei. Auch
bildete er die Boden- und Düngeranalyse aus und wollte durch
künstlichen Dünger Ersatz für die durch die Analyse
festgestellte Erschöpfung des Bodens geben. Er schrieb:
"Chemie für Landwirte" (Braunschw. 1831-32); "Bodenkunde" (2.
Aufl., Leipz. 1844); "Die Lehre vom Dünger" (2. Aufl., das.
1845) und "Die Lehre von den Urbarmachungen" (2. Aufl., das. 1846).
Seit 1840 gab er die "Allgemeine landwirtschaftliche Monatsschrift"
(Kösl. 1840-44, Berl. 1844 ff.) heraus.

Sprengen, Zertrümmerung fester Materialien, wobei es
sich um die Gewinnung der Bruchstücke (Bergbau,
Steinbruchbetrieb etc.) oder nur um Beseitigung des Materials
(Tunnel-, Straßen-, Kanalbau, Eissprengung) oder um
Verwertung der den Bruchstücken erteilten lebendigen Kraft
(Sprenggeschosse, Minen) handelt. Gesteine sprengt man zur
Gewinnung regelmäßig geformter großer
Werkstücke mittels eiserner Keile, indem man in der Richtung
der herzustellenden Spaltfläche nach unten zu gespitzte Rinnen
einarbeitet, in diese keilförmig zusammengebogene Bleche
bringt und dann eiserne Keile durch mäßige, später
kräftige Schläge eintreibt. Die alten Ägypter
arbeiteten Keillöcher in das Gestein, trieben in diese
künstlich getrocknete Pflöcke aus Weidenholz und
übergossen letztere mit heißem Wasser, unter dessen
Einwirkung das Holz sich so energisch ausdehnte, daß es die
Sprengung herbeiführte. Hierher gehört auch das S. mit
gebranntem Kalk. Man preßt aus demselben unter einem Druck
von 40,000 kg Cylinder von 65 mm Dicke, läßt an der
Peripherie jedes Cylinders eine schmiedeeiserne Röhre mit
Längsschlitz und vielen Löchern ein und schiebt diese
Vorrichtung, in einen Leinwandsack eingeschlossen, in ein Bohrloch
ein, welches mit kurzem Lehmbesatz verschlossen wird. Pumpt man nun
mittels einer Druckpumpe Wasser in das Rohr, so löscht sich
der Kalk, und unter dem Druck von 250 Atmosphären, welche die
Dampfspannung erreichen soll, erfolgt die Sprengung. Beim S. durch
Feuersetzen, welches schon die Römer kannten, wird das Gestein
nach einer Seite hin stark erhitzt, so daß eine ungleiche
Spannung in seinen Teilen entsteht, die sich bis zum
Zerreißen des Steins steigert. Durch starke
Hammerschläge, auch durch plötzliches Abkühlen wird
dies Zerreißen befördert. Viel häufiger sprengt man
gegenwärtig mit Hilfe von Explosivstoffen (Sprengstoffen).
Schieß- oder Sprengpulver wurde im Bergbau angeblich
zuerst

187

Sprengen.

1613 in Freiberg, 1632 in Klausthal zum S. benutzt. Man bohrt in
das Gestein Löcher von 2,25-3 cm Durchmesser mit dem
Meißel- oder Kronenbohrer, bei sehr hartem Gestein mit dem
Stern- oder Kreuzbohrer und hebt das Steinmehl, welches hierbei
entsteht, mittels eines kleinen Löffels an langem eisernen
Stiel (Krätzer) von Zeit zu Zeit heraus. Öfteres
Eingießen von Wasser ins Bohrloch beschleunigt die Arbeit
(Naßbohren). Die Tiefe des Bohrlochs richtet sich nach der
Dicke des abzusprengenden Steins. Man stößt in dasselbe
die Patrone hinab, führt die kupferne Räumnadel an der
einen Seite des Bohrlochs bis in die Mitte des Pulvers ein und
füllt nun das Bohrloch mit dem Besatz aus. Dieser besteht aus
Lehm und Ziegelmehl, aus Thonschiefermehl, auch aus
Schieferstücken oder Sand. Unmittelbar über die Patrone
füllt man lockern Besatz, die höhern Schichten aber
werden fest eingestampft, bis das Bohrloch gefüllt ist. Dann
zieht man die Räumnadel heraus und führt in den Kanal ein
Zündröhrchen (Raketchen, Schredel) ein, an dessen
äußerm Ende ein längerer Schwefelfaden befestigt
wird. Vorteilhafter ist die Bickfordsche Zündschnur, welche
mit dem einen Ende in der Patrone steckt und mit dem andern aus dem
Bohrloch herausragt, so daß man das gefährliche
Herausziehen der Räumnadel vermeidet. Zum Abthun des Schusses
wird der Schwefelfaden oder das freie Ende der Zündschnur
entzündet, worauf die Arbeiter fliehen u. die Explosion
abwarten. Größere Sicherheit und, wenn es sich bei
großen Sprengungen um das gleichzeitige Abthun mehrerer
Schüsse handelt, höhern Effekt erzielt man durch
elektrische Zündung, u. zwar benutzt man Zündung durch
den Funken häufiger als durch Erglühen eines dünnen
Drahts. Die Drähte, zwischen denen der Funke überspringen
soll, werden gut isoliert in die Patrone geführt und hier so
gebogen, daß ihre Enden sich gegenüberstehen. Eine bei
jeder Witterung, selbst in feuchten Gruben stets brauchbare
Elektrisiermaschine von Bornhardt zeigt Fig. 1 und 2. Die Maschine
steht in einem durch eine Glasplatte hermetisch verschlossenen
Blechkasten. Die Scheibe B besteht aus Ebonit, das Reibzeug aus
eigentümlich präpariertem Pelzwerk ohne Amalgam. Die
Saugarme A sitzen unmittelbar auf der kleinen Leidener Flasche F.
Die Achse der Scheibe B geht durch eine Stopfbüchse in der
Rückwand des Kastens hindurch und trägt außerhalb
desselben eine Kurbel. Das Reibzeug und die äußere
Belegung der Leidener Flasche stehen mit dem Blechkasten und mithin
auch mit dem Metallring b, in welchen das eine Ende der zum
Zünder führenden Drahtleitung eingehängt wird, in
leitender Verbindung. Das andre Ende der Drahtleitung wird an den
Ring a befestigt, welcher mit einem vertikalen Messinghebel, der
die Kugel k trägt, in leitender Verbindung steht, aber von dem
Blechkasten durch zwei Ebonitplatten D isoliert ist. Als
Zündung dient eine Mischung von Schwefelantimon und
chlorsaurem Kali, in welcher der Funke überspringt. Der
Zünder wird in die Patrone eingeführt, und die aus dem
Bohrloch hervorragenden Drähte verbindet man mit den
Leitungsdrähten. Sollen mehrere Bohrlöcher miteinander
verbunden werden, so schaltet man sie hintereinander in die Leitung
ein, indem man den ersten Draht des ersten Bohrlochs mit der
Hinleitung, den zweiten mit dem ersten Drahte des zweiten Bohrlochs
verbindet und so fortfährt, bis der zweite Draht des letzten
Bohrlochs mit der Rückleitung verbunden wird. In neuerer Zeit
wird statt des Pulvers meist Dynamit verwendet. Dasselbe wird in
Patronen in das Bohrloch bis zur erforderlichen Ladehöhe
eingedrückt und mit einer Zündpatrone versehen. Letztere
besteht aus einem Zündhütchen, welches man an dem einen
Ende der Zündschnur durch Einkneifen befestigt und bis zu
dieser Stelle in das Dynamit einer kleinen Patrone versenkt, deren
Papier an die Zündschnur gebunden wird. Auf diese Weise
erreicht man sicher, daß die Zündschnur zunächst
das Zündhütchen und nicht direkt das Dynamit
entzündet. Geschähe letzteres, so würde das Dynamit
abbrennen, aber nicht explodieren. Die Zündpatrone wird in das
Bohrloch eingeführt, welches nun auf halbe Länge mit
losem Besatz und dann völlig mit festem Satz gefüllt
wird. Bei Verwendung in Wasser muß man die Umhüllung des
Dynamits und die Zündschnur durch Wachs oder Talg vor
Feuchtigkeit schützen, auch wendet man vorteilhaft
Cellulosedynamit an, das durch Feuchtigkeit weniger leidet.
Stärkere Ladungen setzt man gern in
Weißblechbüchsen ein.

Die Wirkung der verschiedenen Sprengstoffe ist abhängig von
der Schnelligkeit, mit welcher sie sich zersetzen, von ihrer
Brisanz. Man kann bei Sprengungen eine Zermalmungs-, eine
Verschiebung- und eine Trennungszone unterscheiden. Je brisanter
ein Sprengungsstoff ist, um so größer werden bei
gleicher Ladungsstärke die kubischen Inhalte der beiden ersten
Zonen. Schwarzpulver erzeugt fast gar keine Zermalmungs-, eine
mittelgroße Verschiebungs-, aber

188

Sprenger - Sprengwerk.

eine verhältnismäßig große Trennungszone,
während Dynamit um so mehr zermalmt, je stärker es ist.
Die starken Dynamitsorten zerbrechen und zermalmen die
zunächst gelegenen Massen, und ihre Wirkung ist eine ziemlich
scharf begrenzte, die schwächern Dynamitsorten brechen nur in
unmittelbarer Nähe, trennen aber die Gesteine weithin. -
Sprengarbeit kommt im Bergbau, beim Bau von Tunnels, Eisenbahnen,
Straßen, Kanälen, zur Beseitigung von Felsen in
Flußläufen etc. vor. Auch aus Ackerland werden
Felsklippen durch S. fortgeschafft. Ebenso werden Bodenvertiefungen
für Baumpflanzungen und Lockerung des Ackerbodens auf Tiefen,
in die kein Ackergerät reicht, durch S. hervorgebracht
(Sprengkultur). Große Wurzelstöcke werden vorteilhaft
durch S. zerrissen. In Steinbrüchen gewinnt man das Material
durch S., auch sprengt man Stahl- und Gußeisenblöcke.
Für Kriegszwecke baut man Minen und benutzt S. in Geschossen
(Granaten, Schrapnells) und Torpedos, zum Zerstören von
Brücken, Eisenbahnen etc. Vgl. Mahler, Die Sprengtechnik (2.
Aufl., Wien 1882); Krause, Die moderne Sprengtechnik (Leipz. 1881);
Hamm, Sprengkultur (Berl. 1877); Zickler, Elektrische
Minenzündung (Braunschw. 1888).

Sprenger, Aloys, Orientalist, geb. 3. Sept. 1813 zu
Nassereit in Tirol, studierte zu Wien neben Medizin und
Naturwissenschaften besonders orientalische Sprachen, ging 1836
nach London, wo er als Hilfsarbeiter des Grafen von Münster an
dessen großem Werk über die Geschichte der
Kriegswissenschaften bei den mohammedanischen Völkern
thätig war, 1843 nach Kalkutta und ward hier 1848 zum
Vorsteher des Kollegiums in Dehli ernannt, in welcher Stellung er
viele Unterrichtsschriften aus europäischen Sprachen in das
Hindostani übertragen ließ. 1848 wurde er nach Lathnau
geschickt, um einen Katalog der dortigen königlichen
Bibliothek anzufertigen, wovon der erste Band 1854 in Kalkutta
erschien. Dieses Buch mit seinen Listen persischer Dichter, seiner
sorgfältigen Beschreibung aller Hauptwerke der persischen
Poesie und seinem wertvollen biographischen Material ist ein
treffliches Hilfsmittel für die Durchforschung des noch so
wenig angebauten Feldes neupersischer Litteratur. 1850 ward S. zum
Examinator, Dolmetsch der Regierung und Sekretär der
Asiatischen Gesellschaft in Kalkutta ernannt. Von seinen
Publikationen aus jener Zeit sind noch zu erwähnen:
"Dictionary of the Technical terms used in the sciences of the
Musulmans" (arab., Kalk. 1854); "Ibn Hajar's biographical
dictionary of persons who knew Mohammed" (arab., 1856); "Soyuti's
Itqân on the exegetic sciences of the Qoran in Arabic" (1856)
u. a. Seit 1857 wirkte S. als Professor der orientalischen Sprachen
an der Universität zu Bern, siedelte aber im Nov. 1881 nach
Heidelberg über. Seine reichhaltige Sammlung arabischer,
persischer, hindostanischer und andrer Manuskripte und Drucke hat
die königliche Bibliothek in Berlin angekauft. Sonstige Werke
von S. sind: "Otby's history of Mahmud of Ghaznah" (arab., Dehli
1847); "Masudî's meadows of gold" (Übersetzung, Lond.
1849, Bd. 1); "The Gulistân of Sady" (pers., Kalk. 1851),
eine korrekte Ausgabe des berühmten didaktischen Werkes, u.
a.; ferner in deutscher Sprache: "Das Leben und die Lehre des
Mohammed" (Berl. 1861-65, 3 Bde.); "Post- und Reiserouten des
Orients" (Leipz. 1864); "Die alte Geographie Arabiens als Grundlage
der Entwickelungsgeschichte des Semitismus" (Bern 1875) und
"Babylonien, das reichste Land in der Vorzeit und das lohnendste
Kolonisationsfeld" (Heidelb. 1886).

Sprenggelatine, s. Nitroglycerin.

Sprenggeschosse, s. Explosionsgeschosse.

Sprengglas, s. v. w. Glasglanz.

Sprenggummi, s. v. w. Sprenggelatine, s.
Nitroglycerin.

Sprengkultur, s. Sprengen, S. 188.

Sprengling, Fisch, s. Äsche.

Sprengmörser, s. v. w. Petarde.

Sprengöl, Nobelsches, s. v. w. Nitroglycerin.

Sprengpulver, s. Schießpulver, S. 453.

Sprengsel, s. v. w. Heuschrecke.

Sprengstoffe, Substanzen, welche durch Erwärmung,
Stoß oder Druck plötzlich mehr oder weniger
vollständig aus dem starren oder flüssigen in den
gasförmigen Zustand übergehen (s. Explosivstoffe) und
durch den dabei sich entwickelnden Gasdruck in der Nähe
befindliche Körper zertrümmern oder fortschleudern. Der
zuerst angewandte Sprengstoff, das Sprengpulver, besitzt im
allgemeinen die Zusammensetzung des Schießpulvers, welche nur
aus Rücksichten auf den Preis und in der Absicht, eine
stärkere Gasentwickelung zu erzielen, etwas modifiziert wurde.
Gegenwärtig ist das Sprengpulver durch neuere Präparate,
namentlich durch die nitroglycerinhaltigen, also hauptsächlich
durch die Dynamite (s. Nitroglycerin) und durch die
Schießbaumwolle (s. d.), stark zurückgedrängt
worden. Auch pikrinsäurehaltige Mischungen, Nitrocellulose und
ähnliche Substanzen spielen eine größere Rolle.
Diese neuen S., welche viel größere Brisanz besitzen als
Schießpulver und selbst, gegen die zu sprengenden Körper
gelegt und zur Explosion gebracht, ihre zerstörende Wirkung
äußern, führen im Bergbau und Tunnelbau zu
erheblichen Ersparnissen an Zeit, Bohr- und Verdämmungsarbeit,
und ihre Explosionsgase sind bei weitem weniger gesundheits- und
lebensgefährlich als die des Sprengpulvers. Bei hartem Gestein
gewähren sie eine Ersparnis an Handarbeit von 30 Proz., bei
sehr weichem Gestein und Kohle etwas weniger; die Zeitersparnis
beträgt bei Sprengungen im Trocknen ca. 30 Proz., in
wasserhaltigem Gestein aber 100 Proz. und mehr. Ebenso große
Vorteile erzielt man durch die neuen S. im Kriegswesen, wo man
Schießbaumwolle mit großem Erfolg zur Füllung von
Granaten angewandt hat. Wegen des weithin hörbaren hellen
Knalles hat man Schießbaumwolle auch im Signalwesen benutzt.
Vgl. Upmann, Das Schießpulver (Braunschw. 1874); v. Meyer,
Die Explosivkörper (das. 1874); Trauzl, Die Dynamite (Wien
1876 und Berl. 1876); Heß, Sprenggelatine (das. 1878); Rziha,
Theorie der Minen (Lemb. 1866).

Sprengweite, s. Intervall.

Sprengwerk, im Gegensatz zu Hängewerk (s. d.)
Baukonstruktion, mittels deren Balken oder Balkenlagen von mehr
oder minder bedeutender Länge durch Streben oder durch Streben
und Spannriegel von unten gestützt werden. Sprengwerke werden
zur Unterstützung von Brückenbahnen und von
Dachstühlen, seltener von Zwischendecken, verwendet und
bestehen in ihrer einfachsten Gestalt aus einem durch zwei Streben
(Fig. 1) oder aus einem durch zwei Streben und einen Spannriegel
(Fig. 2) unterstützten Balken. Bei zunehmenden Längen der
Balken werden dieselben durch je vier, je sechs und mehr Streben
ohne Spannriegel oder mit bez. je zwei, je drei und mehr der
letztern unterstützt. Bei Dachstühlen werden die
Sprengwerke meist aus mehreren in Form eines Polygons verbundenen
geraden Streben zusammengesetzt (Fig. 3), während sie bei
Brückenbauten meist fächerförmig angeordnet werden.
Wo, besonders im

189

Sprenkel - Springbrunnen.

letztern Fall, die Streben sehr lang werden und eine geringe
Neigung erhalten müssen, werden sie an einem oder mehreren
Punkten durch Zangen, welche mit den Hauptbalken verbunden sind,
versteift (Fig. 4) oder die Streben aus mehreren, meist
verdübelten Balken zusammengesetzt. Bogensprengwerke sind aus
gebogenen Balken oder aus teils wagerecht (System Emy), teils
lotrecht (System Delorme) untereinander verbundenen Bohlen
bestehende Sprengwerke, die früher teils im Hoch-, teils im
Brückenbau Anwendung fanden. Unter die bedeutendsten
hölzernen Bogensprengwerke im Hochbau gehören das nach
dem Delormeschen System gebaute Kuppeldach der Kornhalle in Paris
und der katholischen Kirche in Darmstadt sowie der nach dem
Emyschen System erbaute Dachstuhl einer Reitbahn zu Libourne bei
Bordeaux. Die bedeutendsten hölzernen Sprengwerkbrücken
sind die nach dem Emyschen System konstruierten Viadukte von
Willington und St.-Germain (Fig. 5) sowie die 1848 und 1849 von
Brown in der Eriebahn erbaute Kaskadebrücke, welch letztere
eine Schlucht von 53,34 m Weite überspannt, und deren vier
Tragrippen aus je zwei gekrümmten, durch Fachwerk verbundenen
Balkenlagen (Fig. 6) bestehen.

Sprenkel, s. Vogelfang.

Sprenzling, Fisch, s. v. w. Äsche.

Spreublätter (Paleae), trockenhäutige,
nichtgrüne Deckblätter in den Köpfchen vieler
Kompositen.

Spreuschuppen, Epidermoidalorgane an Stämmen und
Wedeln der Farne (s. d., S. 50).

Spreustein, s. Natrolith.

Sprichwörter (lat. Proverbia), kurze und
bündige, leichtfaßliche Sätze, welche eine Regel
der Klugheit oder des sittlichen Verhaltens oder eine Erfahrung des
praktischen Lebens ausdrücken und, dem Volksmund entstammend,
in die volkstümliche Redeweise übergegangen sind. Sie
bilden ein nicht unwichtiges Mittel zur Erkenntnis und Beurteilung
des Charakters eines Volkes, insofern sie dessen Anschauung und
Denkweise, Sitten und Gebräuche treu abspiegeln. S. sind bei
allen Völkern im Gebrauch, und zwar hat jedes Volk seine
eigentümlichen, obwohl manche räumlich und zeitlich weit
verbreitet sind. Auch haben fast alle zivilisierten Nationen die
Bedeutung der S. zu würdigen gewußt und Sammlungen
derselben angelegt. Schon bei den Griechen fand dies statt (s.
Parömiographen). Eine große, aber ungeordnete Menge
griechischer und lateinischer S. und ähnlicher Ausdrücke
gab Erasmus in seinem "Adagia" betitelten Buch. Sammlungen
lateinischer S. veröffentlichten Goßmann (Landau 1844),
Wiegand (Leipz. 1861), Wüstemann (2. Aufl., Nordhaus. 1864),
Georges (Leipz. 1863) u. a. Auch Sammlungen deutscher S. erschienen
seit dem 16. Jahrh. zahlreich; hervorzuheben sind die von Agricola
(zuerst 1529), Seb. Franck (1541), Eyering (1601), Zinkgref (zuerst
1626), Lehmann (1630); aus neuerer Zeit die von Körte (2.
Aufl., Leipz. 1861), Simrock (4. Aufl., Frankf. 1881), Binder
(Stuttg. 1874), Wächter (Gütersloh 1888), ferner
Sutermeister ("Schweizerische S.", Aar. 1869), Birlinger ("So
sprechen die Schwaben", Berl. 1868), Eichwald ("Niederdeutsche S."
Leipz. 1860), Frischbier ("Preußische S.", Berl. 1865) und
als umfangreichste Sammlungen: Wanders "Deutsches
Sprichwörterlexikon" (Leipz. 1863-80, 5 Bde.) und v.
Reinsberg-Düringsfelds "S. der germanischen und romanischen
Sprachen, vergleichend zusammengestellt" (das. 1872-75, 2 Bde.).
Arabische S. veröffentlichte Socin (Tübing. 1878),
niederländische Harrebomée (Utr. 1853-70, 3 Bde.),
italienische Passerini (Rom 1875), sizilische Pitrè (Palermo
1879, 3 Bde.). S. auch Rechtssprichwort. Vgl. Nopitsch, Litteratur
der S. (Nürnb. 1833); Zacher, Die deutschen
Sprichwörtersammlungen (Leipz. 1852); Duplessis, Bibliographie
parémiologique (Par. 1847); Wahl, Das Sprichwort der neuern
Sprachen (Erf. 1877); Prantl, Die Philosophie in den
Sprichwörtern (Münch. 1858); Borchardt, Die
sprichwörtlichen Redensarten im deutschen Volksmund (Leipz.
1888).

Spriet, das bei Sprietsegeln von Booten und andern
Fahrzeugen benutzte Rundholz zur Ausbringung der obern,
äußern Ecke des länglich vierkantigen Segels, wobei
das untere Ende des Spriets am untern Teil des Mastes
fährt.

Springaufblumen, s. Convallaria.

Springbock, s. Antilopen, S. 639.

Springbrunnen (Fontäne), Vorrichtung zum
Emportreiben eines oder mehrerer freier Wasserstrahlen. Leitet man
aus einem hoch gelegenen Reservoir das Wasser in einer Röhre
nach einem tiefer liegenden Ort und läßt es hier aus
einer passend angebrachten Öffnung ausströmen, so springt
ein Strahl empor, welcher nach dem Gesetz der kommunizierenden
Röhren die Höhe des Wasserspiegels im Reservoir erreichen
würde, wenn nicht durch Reibung ein Kraft-

190

Springe - Springer.

verlust entstände. Finden sich die hier künstlich
geschaffenen Bedingungen in der Natur, so entstehen die
natürlichen S., zu welchen auch die artesischen Brunnen
gehören (s. Brunnen). Die Steighöhe des Wasserstrahls
hängt bei einer guten Anordnung der Rohrleitung auch noch
hauptsächlich von der Sprungöffnung ab. Die senkrecht
emporspringenden Wasserstrahlen steigen (unter nicht sehr kleinem
Druck) aus kurzen konischen, konoidischen und innen gehörig
abgerundeten cylindrischen Ansatzröhren bei gleichem
Querschnitt und gleichem innern Druck höher als die aus
Mündungen in der sogen. dünnen Wand ausfließenden
kontrahierten Wasserstrahlen. Der Widerstand der Luft ist bei
schwächern Strahlen ein verhältnismäßig
größerer als bei dickern Strahlen. Wasserstrahlen von
kreisförmigem Querschnitt springen unter gleichen
Verhältnissen höher als solche mit quadratischem oder
anders geformtem Querschnitt. Auch das zurückfallende Wasser
hemmt den aufsteigenden Strahl; neigt man daher einen senkrechten
Strahl, so daß das zurückfallende Wasser seitlich
fortgeht. so erreicht der Strahl sofort eine größere
Höhe. Künstliche S. kann man durch Wasser- und
Windmühlen, Dampfmaschinen etc. betreiben, indem man Pumpen in
Bewegung setzt, durch welche das Wasser in hoch liegende Reservoirs
geschafft oder in Windkessel gepreßt wird, aus welchen es die
komprimierte Luft in die Höhe treibt. Zu den kleinern
künstlichen S. gehört der Heronsbrunnen, welcher aus drei
Gefäßen besteht, einem obern schüsselförmigen
und zwei verschlossenen, ferner aus drei Röhren, von denen die
eine am Boden des obern Gefäßes mündet und im
untern bis dicht an den Boden reicht, die zweite vom Deckel des
untern Gefäßes im mittlern bis fast an den Deckel reicht
und die dritte durch den Boden des obern Gefäßes fast
bis auf den Boden des mittlern hinabreicht. Nachdem das mittlere
Gefäß mit Wasser gefüllt ist, gießt man auch
in das schüsselförmige Gesäß Wasser, welches
nun in das untere Gefäß abfließt, dadurch aber die
Luft in diesem und im mittlern Gefäß
zusammendrückt, so daß aus diesem ein Wasserstrahl
emporsteigen muß.

Springe (Hallerspringe), Kreisstadt im preuß.
Regierungsbezirk Hannover, am Ursprung der Haller und an der Linie
Hannover-Altenbeken der Preußischen Staatsbahn, 113 m ü.
M., hat eine evang. Kirche, ein Amtsgericht, eine
Oberförsterei, Teppich- und Wattefabrikation, Spinnerei,
Ziegelei und (1885) 2700 Einw. In der Nähe ein kaiserlicher
Saupark mit Jagdschloß; auf dem Ebersberg die "Deisterpforte"
mit Aussichtsturm.

Springen, eigentümliche Art der Fortbewegung des
Körpers, bei welcher der Körper vermittelst der
Wadenmuskulatur energischer vom Boden abgestoßen wird und
längere Zeit frei in der Luft schwebt als beim Laufen. Der
Körper erhält beim S. durch die kräftige
Zusammenziehung der Wadenmuskeln eine Wurfbewegung, bei welcher der
Schwerpunkt des Körpers eine parabolische Linie beschreibt,
entsprechend einem geworfenen, bez. fallenden Körper.
Gewöhnlich geht dem S. der Eillauf (Anlauf) voran, weil
dadurch der Körper schon eine gewisse Schnelligkeit der
Bewegung erhält, welche ihm dann beim S. zu statten kommt.
Ebenso werden die beim S. hauptsächlich beteiligten
Wadenmuskeln durch eine Wurfbewegung der Arme unterstützt.

Springer, 1) Robert, Schriftsteller, geb. 23. Nov. 1816
zu Berlin, widmete sich erst dem Lehrfach, privatisierte studierend
eine Reihe von Jahren in Paris, Rom, Wien und Leipzig und lebte
seit 1853 dauernd in Berlin, wo er 21. Okt. 1885 starb. Er
veröffentlichte: "Weimars klassische Stätten" (Berl.
1867); "Die klassischen Stätten von Jena und Ilmenau" (das.
1869); die Romane: "Gräfin Lichtenau" (das. 1871, 3 Bde.),
"Devrient und Hoffmann" (das. 1873, 3 Bde.), "Sidney Smith" (das.
1874, 3 Bde.), "Anna Amalia von Weimar und ihre poetische
Tafelrunde" (das. 1875, 2 Bde.) etc.; ferner: "Enkarpa.
Kulturgeschichte der Menschheit im Lichte der pythagoreischen
Lehre" (Hannov. 1884); "Essays zur Kritik und Philosophie und zur
Goethe-Litteratur" (Minden 1885); "Charakterbilder und Szenerien"
(das. 1886); auch zahlreiche beliebte Jugendschriften, letztere
meist unter dem Pseudonym A. Stein.

2) Anton, Geschichtschreiber und Kunsthistoriker, geb. 13. Juli
1825 zu Prag, widmete sich auf der Universität daselbst sowie
in München und Berlin den Studien der Philosophie und der
Kunst, ging, nachdem er 1846 kurze Zeit die Stelle eines Lehrers
der Kunstgeschichte an der Prager Akademie bekleidet, auf ein Jahr
nach Italien und ließ sich sodann in Tübingen nieder, wo
er seine erste Schrift: "Die Hegelsche Geschichtsanschauung",
erscheinen ließ. Das Jahr 1848 rief ihn nach Prag
zurück. S. trat hier für die föderative Verfassung
des Kaiserstaats ein und galt als ein Wortführer der Rechte
des Reichstags in der Presse. Im Herbste d. J. habilitierte er sich
zu Prag für neuere Geschichte; doch zogen ihm seine
freisinnigen Vorlesungen, welche sodann als "Geschichte des
Revolutionszeitalters" (Prag 1849) im Druck erschienen, die Ungunst
der Regierung zu, so daß er seine Lehrthätigkeit aufgab
und eine Reise zu kunsthistorischen Studien durch die Niederlande,
Frankreich und England unternahm. Von London aus durch seine
politischen Freunde zurückgerufen, trat er an die Spitze der
Zeitung "Union", die aber, weil er darin die Rechte Preußens
auf die Führerrolle in Deutschland vertrat, 1850
unterdrückt wurde. Während des orientalischen Kriegs
1854-56 arbeitete S. zahlreiche Druckschriften im Auftrag der
serbischen Regierung aus, in welchen er für die Emanzipation
der türkischen Vasallenstaaten, aber gegen das russische
Protektorat plaidierte. Dieselben politischen Grundsätze
führten ihn im letzten russisch-türkischen Krieg wiederum
auf den publizistischen Kampfplatz und veranlaßten ihn zu
zahlreichen Aufsätzen in "Im neuen Reich" gegen die russische
Politik. Im Herbst 1852 habilitierte er sich in Bonn als
Privatdozent der Kunstgeschichte, und 1859 ward er zum Professor
derselben ernannt. Bei der Gründung der Universität
Straßburg 1872 wurde er als Professor für neuere
Kunstgeschichte berufen; seit 1873 gehört er der
Universität Leipzig an. Von seinen historisch-politischen
Schriften sind noch hervorzuheben: "Österreich nach der
Revolution" (Prag 1850); "Österreich, Preußen und
Deutschland" (das. 1851) und "Südslawische Denkschrift" (das.
1854); "Paris im 13. Jahrhundert" (Leipz 1856); " Geschichte
Österreichs seit dem Wiener Frieden" (das. 1863-64, 2 Bde.);
"Friedr. Christoph Dahlmann", Biographie (das. 1870-72, 2 Bde.);
"Protokolle des Verfassungsausschusses im österreichischen
Reichstag 1848-49" (das. 1885). Springers Kunstanschauung,
wenngleich zunächst durch die Hegelsche Philosophie
vermittelt, hat sich von dem beschränkenden Einfluß
dieser Schule loszumachen gewußt. Sein Hauptstudium hat er
den Schöpfungen des Mittelalters und der neuern und neuesten
Zeit, besonders der Periode der klassischen italienischen Kunst,
zugewendet. Seine vorzüglichsten kunstgeschichtlichen Werke
sind: "Kunsthistorische Briefe"

191

Springerle - Springschwänze.

(Prag 1852-57); "Handbuch der Kunstgeschichte" (Stuttg. 1855);
"Geschichte der bildenden Künste im 19. Jahrhundert" (Leipz.
1858); "Bilder aus der neuern Kunstgeschichte" (Bonn 1867; 2.
Aufl., das. 1887, 2 Bde.); "Raffael u. Michelangelo " (Leipz. 1877;
2. Aufl. 1883, die beste Biographie der beiden Meister);
"Grundzüge der Kunstgeschichte" (das. 1887-88). Auch hat S.
die deutsche Ausgabe von Crowes und Cavalcaselles "Geschichte der
altniederländischen Malerei" (Leipz. 1875) bearbeitet.

Springerle, ein in Süddeutschland und der Schweiz
sehr beliebtes Backwerk, eine Art Anisbrot.

Springfield (spr. -fild), 1) Hauptstadt des nordamerikan.
Staats Illinois, liegt südlich vom Sangamonfluß an der
Grenze der Prärien, hat ein Kapitol (Staatenhaus), einen
Gerichtshof, ein Zeughaus, ein Zollamt, eine sogen. Hochschule,
Uhren- und andre Fabriken, Eisenbahnwerkstätten und (1880)
19,743 Einw. Auf dem Ridge Cemetery das Grabmal des
Präsidenten Lincoln. -

2) Hauptstadt der Grafschaft Hampden im nordamerikan. Staat
Massachusetts, am Connecticut, hat ein großartiges Zeughaus
mit Waffenfabrik (Vorrat von Gewehren etc. für 175,000 Mann),
eine Bibliothek von 30,000 Bänden, Baumwoll-, Woll-,
Papierkragen-, Waffen- u. Eisenbahnwagenfabriken, Goldschmiederei
und (1885) 37,577 Einw. S. ist Knotenpunkt zahlreicher Eisenbahnen;
es wurde 1635 gegründet. -

3) Stadt im nordamerikan. Staat Missouri, Grafschaft Greene, 320
km südwestlich von St. Louis, hat Tabaksfabriken, Bau
landwirtschaftlicher Geräte etc. und (1880) 6522 Einw. -

4) Hauptstadt der Grafschaft Clarke im nordamerikan. Staat Ohio,
am Mad River, 64 km westlich von Columbus, Sitz des lutherischen
Wittenberg College, ist berühmt wegen seiner Turbinen und
landwirtschaftlichen Maschinen und hat (1880) 20,720 Einw.

Springflut, s. Ebbe und Flut.

Springfrüchte, alle trocknen oder saftigen
Früchte, deren Wandung bei der Reife in irgend welcher Weise
sich öffnet und die Samen frei werden läßt, wie
Balgfrucht, Hülse, Schote, Kapsel oder auch die Frucht der
Roßkastanie, deren saftiges, mit Stacheln versehenes Perikarp
sich klappig öffnet.

Springgurke, s. v. w. Momordica.

Springhase, s. v. w. Springmaus.

Springinklee, Hans, deutscher Maler und Zeichner für
den Holzschnitt, arbeitete in der Werkstatt und unter dem
Einfluß Dürers und fertigte unter andern 50 Zeichnungen
zu den Holzschnitten in einem Nürnberger Gebetbuch: "Hortulus
animae" (1518).

Springkäfer, s. v. w. Schnellkäfer.

Springkasten, s. Tisch.

Springkörner, s. Euphorbia.

Springkraut, s. Impatiens; kleines S., s. Euphorbia.

Springkürbis, s. Momordica.

Springläuse, s. Blattflöhe.

Springmaus (Dipus Schreb.), Gattung aus der Ordnung der
Nagetiere und der Familie der Springmäuse (Dipodina), kleine
Tiere mit gedrungenem Leib, sehr kurzem Hals, hasenähnlichem
Kopf, großen, häutigen Ohrmuscheln, großen Augen,
sehr langen Schnurrhaaren, sehr langem Schwanz, stark
verkürzten Vorderfüßen (welche beim Springen
größtenteils im Pelz versteckt werden, daher der Name
Zweifuß, Dipus) mit vier Zehen und wohl sechsfach
längern Hinterfüßen mit drei Zehen, die mit steifem
Borstenhaar bedeckt sind, und deren Krallen rechtwinkelig zum
Nagelglied stehen. Die Sohle ist mit elastischen Springballen
versehen. Die Wüstenspringmaus (Djerboa, D. aegyptius Hempr.
et Ehbg., s. Tafel "Nagetiere I"), 17 cm lang, mit 21 cm langem
Schwanz, oben grausandfarben, schwarz gesprenkelt, unterseits
weiß, mit breitem, weißem Schenkelstreifen, oben
blaßgelbem, unten weißlichem Schwanz mit weißer,
pfeilartig schwarz gezeichneter Quaste, bewohnt Nordostafrika bis
Mittelnubien und das westliche Asien und findet sich in den
ödesten Steppen und in Sandwüsten, zuweilen in
größern Gesellschaften. Sie gräbt vielverzweigte,
flache Gänge im Boden, um bei der geringsten Gefahr in diese
Zufluchtsstätten zu flüchten. In der Ruhe steht sie oft
aufrecht wie ein Känguruh, im Lauf macht sie weite
Sprünge und entwickelt eine außerordentliche
Geschwindigkeit. Sie nährt sich hauptsächlich von Knollen
und Wurzeln, frißt aber auch Blätter, Früchte und
Kerbtiere. Gegen Hitze ist sie sehr unempfindlich, doch erscheint
sie als echtes Nachttier und verfällt bei Kälte und
Nässe in eine Art Erstarrung. Sie soll in ihrem Bau 2-4 Junge
werfen. In der Gefangenschaft zeigt sie sich sehr harmlos und
zutraulich. Die Araber essen das Fleisch der S. und benutzen das
Fell zu kleinen Pelzen für Kinder und Frauen, zu Besatz etc.
Die Alten erwähnen die S. häufig, auch finden sich
bildliche Darstellungen auf Münzen und Tempelverzierungen.
Jesaias verbot, das Fleisch der S. zu genießen (Jes. 66,
17).

Springprozession, s. Echternach.

Springraupe, s. Zünsler.

Spring-Rice (spr. -reiß), Thomas, Baron Monteagle
von Brandon, brit. Staatsmann, geb. 8. Febr. 1790 in Irland,
studierte zu Cambridge und saß seit 1816 als Mitglied der
Whigpartei im Unterhaus. Als diese 1830 unter Grey ans Staatsruder
kam, ward er Unterstaatssekretär des Innern, dann
Sekretär des Schatzes und gelangte nach Stanleys
Rücktritt 1834 als Staatssekretär der Kolonien ins
Ministerium, welches jedoch schon im November zurücktreten
mußte. Bei der Bildung des neuen Whigministeriums 1835
übernahm S. die Finanzverwaltung, bewies sich aber nicht
befähigt für dieselbe. Als er im August 1839 aus dieser
Stellung schied, erhielt er die Peerswürde mit dem Titel eines
Lord Monteagle und das Amt eines Kontrolleurs der Schatzkammer. Er
starb 7. Febr. 1866; in der Peerswürde folgte ihm sein Enkel
Thomas S., geb. 31. Mai 1849.

Springschwänze (Poduren, Poduridae Burm.),
Insektenfamilie aus der Ordnung der Thysanuren, kleine, meist
langgestreckte Tiere mit behaarter oder beschuppter
Oberfläche, meist wagerecht gestelltem Kopf, derben, vier- bis
sechsgliederigen Fühlern, jederseits 4-8 (selten bis 20)
einfachen Augen, verborgenen Mundteilen, derben Beinen mit
zweilappigen, in eine gespaltene Klaue endenden Tarsen und an der
Spitze des Hinterleibs mit langer, unter den Bauch geschlagener
Springgabel, mittels welcher sie sich weit fortschnellen. Sie leben
am Boden unter faulenden Vegetabilien, bedürfen großer
Feuchtigkeit, erscheinen oft im Winter massenhaft auf dem Schnee,
sind sehr fruchtbar, entwickeln sich aber langsam. Der
Gletscherfloh (Desoria glacialis Nic.), 2 mm lang, schwarz, dicht
behaart, findet sich häufig auf den Alpengletschern und kann
bei -11° einfrieren, ohne Schaden zu leiden. Auf Schnee
erscheint auch häufig die gelblichgraue, schwarz gestreifte
Degeeria nivalis L.; auf stehenden Gewässern findet sich in
zahlloser Menge der Wasserfloh (Podura aquatica de Geer), welcher 2
mm lang, schwarzblau, an Fühlern und Beinen rot ist. Der
zottige Springschwanz (Podura villosa L.), 3,37 mm lang, gelbrot
mit schwarzen Binden, lebt wie der gleichgroße

192

Springwurm - Spruner.

bleigraue Springschwanz (P. plumbea L.) im Gebüsch unter
abgefallenem Laub.

Springwurm, s. Madenwurm.

Springzeit, Flutzeit, s. Ebbe und Flut.

Sprinz, s. Sperber.

Sprit, s. v. w. gereinigter Spiritus; auch s. v. w.
Essigsprit (s. Essig, S. 860).

Spritzflasche, chemischer Apparat zum Auswaschen von
Niederschlägen etc., besteht aus einer etwa zur Hälfte
mit Wasser gefüllten Flasche mit durchbohrtem Kork, in welchem
ein kurzes, zu einer Spitze ausgezogenes Glasrohr steckt.
Bläst man durch dieses Rohr, um die Luft in der Flasche zu
verdichten, so schießt aus der mit der Mündung nach
unten gekehrten Flasche ein Wasserstrahl hervor. Bequemer steckt
man in den zweimal durchbohrten Kork ein bis auf den Boden der
Flasche reichendes Rohr, das im spitzen Winkel umgebogen ist und am
abwärts gerichteten Schenkel in eine Spitze ausläuft, und
außerdem ein stumpfwinkelig gebogenes Blasrohr, welches dicht
unter dem Kork endet.

Spritzgurke, s. v. w. Momordica Elaterium.

Spritzloch, bei den Walen und den meisten Haifischen eine
oder zwei Öffnungen am Kopf zum Ausstoßen von Luft oder
Wasser. Bei den Haifischen liegt ein Paar Spritzlöcher hinter
den Augen, entspricht einem Paar Kiemen und spritzt Wasser aus, bei
den Walen ist das S. enger, geht aus der Verschmelzung der
Nasenlöcher hervor und entläßt den Atem, dessen
Feuchtigkeit in der kalten Luft sich zu einer hohen Säule von
Wasserdampf verdichtet und so den Anschein hervorruft, als
würde Wasser ausgespritzt.

Sprocke (Sprockwürmer), s. Köcherjungfern.

Sprödglaserz (Stephanit, Schwarzgüldigerz,
Melanglanz), Mineral aus der Ordnung der Sulfosalze, kristallisiert
in rhombischen, dick tafelartigen oder kurz
säulenförmigen Kristallen, findet sich auch eingesprengt,
in derben Massen und als Anflug, ist eisenschwarz bis bleigrau,
selten bunt angelaufen, Härte 2-2,5, spez. Gew. 6,2-6,3, und
besteht aus Antimon, Silber und Schwefel 5Ag2 + Sb2S3 mit 68,36
Silber und 15,44 Antimon. Das auf Gängen der kristallinischen
Schiefer, der ältesten Sedimentformationen und trachytischer
Gesteine brechende Mineral kommt besonders im Erzgebirge, am Harz,
in Böhmen, Ungarn, Mexiko sowie auf dem Comstockgang in Nevada
vor und ist ein sehr reiches Silbererz. Vgl. Eugenglanz.

Sprödigkeit, Eigenschaft harter Körper,
vermöge welcher sie leicht durch einen Stoß oder durch
eine geringe Verletzung ihrer Oberfläche in mehr oder weniger
zahlreiche Stücke zerspringen, wie z. B. Glas. Vgl.
Kohäsion.

Sproß, in der Botanik der ganze Einer Achse
angehörige Pflanzenteil, also insbesondere jeder Zweig, der
aus einer Achse niedern Grades entspringt, samt allen seinen
seitlichen Organen.

Sprossen, die Enden am Hirschgeweih unterhalb der Krone
(Augen-, Eis-, Mittelsprosse).

Sprossentanne, s. Tsuga.

Sprosser, s. Nachtigall.

Sprossung, s. Knospe und Proliferierend; hefeartige
Sprossung, s. Pilze, S. 65.

Sprottau, Kreisstadt im preuß. Regierungsbezirk
Liegnitz, an der Mündung der Sprotte in den Bober und der
Linie Lissa-Hansdorf der Preußischen Staatsbahn, 132 m
ü. M., hat eine evangelische und eine kath. Kirche, ein
stattliches Rathaus, ein öffentliches Schlachthaus, ein
Realgymnasium, ein Amtsgericht, Fabrikation von Tabak und Zigarren,
Brückenwagen, Zündwaren, Teppichen und künstlichen
Blumen, Strumpfwirkerei, Bierbrauerei, Ziegelbrennerei, große
Mühlwerke, bedeutende Stadtforst und (1885) mit der Garnison
(eine Abteilung Feldartillerie Nr. 5) 7552 meist evang. Einwohner.
In der Nähe die Eisenhütte und Maschinenbauanstalt
Wilhelmshütte. S. erhielt 1289 deutsches Stadtrecht.

Sprotte (Breitling, Clupea sprattus L.), Fischart aus der
Gattung Hering, 10-13 cm lang, dem gemeinen Hering ähnlich,
mit gekieltem, deutlich gezähneltem Bauch, auf dem Rücken
dunkelblau mit grünem Schimmer, sonst silberweiß, mit
dunkler Rücken- und Schwanzflosse und weißer Brust-,
Bauch- und Afterflosse, findet sich in der Nord- und Ostsee,
nördlich bis Island gewöhnlich in bedeutender Tiefe,
laicht im Mai und Oktober und wird an der Küste Englands,
Frankreichs und in der Ostsee im Juni bis September und im November
bis Frühling in großer Zahl mit feinmaschigen Netzen
gefangen und zusammen mit den sehr zahlreichen jungen Heringen, die
ebenfalls in das Netz geraten waren, auf den Markt gebracht.
Geschätzt sind in Deutschland besonders die geräucherten
Kieler Sprotten. In Hamburg wird auch der Stint zu "Kieler
Sprotten" verarbeitet. In Norwegen macht man die S. ein und bringt
sie als Anschovis in den Handel, wie sich auch den Sardellen u.
Sardinen viele Sprotten beimischen. Mit Gewürzen zubereitet
ist die S. als russische Sardine im Handel.

Spruchband, s. Banderole.

Sprüche Salomos (lat. Proverbia), Titel einer
Gnomensammlung des Alten Testaments, welche aus mehreren, durch
besondere Überschriften bezeichneten Hauptteilen und einigen
Anhängen besteht. Der erste Teil (Kap. l-9) enthält eine
zusammenhängende Empfehlung der Weisheit in Form der Rede
eines Vaters an seinen Sohn; dann folgen unter dem Titel:
"Denksprüche Salomos" (10, 1) einzelne aneinander gereihte
Sentenzen. Eine dieser Sammlungen (Kap. 25-29) soll nach ihrer
Aufschrift unter Hiskias' Regierung durch Gelehrte des Hofs
veranstaltet worden sein. Somit erscheint Salomo (s. d.) bloß
als Kollektivname zur Charakterisierung dieser ganzen Art von
Lehrdichtung. Kommentiert wurden die S. zuletzt von Hitzig
(Zürich 1858), Zöckler (Bielef. 1867), Ewald
(Götting. 1867), Delitzsch (Leipz. 1873), Nowack (das.
1883).

Spruchliste, s. Schwurgericht, S. 781.

Sprüchwörter, s. Sprichwörter.

Sprudelstein, Absatz oder Niederschlag aus brodelnden
Quellen, z. B. der Aragonitabsatz, den die Karlsbader Quelle
liefert, und als besondere Abart der Pisolith oder Erbsenstein,
zusammengebackene konzentrisch-schalige Kugeln, durch Umrindung
fremdartiger Gesteinsbrocken entstanden. Gegen einen Vergleich des
Erbsensteins mit den Oolithen der frühern geologischen
Perioden spricht das Vorkommen dieser Oolithe: sie sind mitunter in
mächtigen Schichten über große Strecken
gleichmäßig verbreitet und stellen mithin keine
Quellabsätze, die sich doch nur lokal hätten entwickeln
können, dar. Den S. verarbeitet man auf allerlei kleine
Gebrauchs- und Schmuckgegenstände, auch läßt man
Objekte (Blumen, Holzschnitzereien etc.) durch längeres
Einhängen in die Quellen mit S. überziehen.

Spruner, Karl S. von Mertz, Geschichtsforscher und
Kartograph, geb. 15. Nov. 1803 zu Stuttgart, ward, seit 1814 im
Kadettenkorps zu München gebildet, 1825 Leutnant, 1851
Hauptmann im Generalstab, 1855 Oberstleutnant und Lehrer der
Militärgeographie im Kadettenkorps, 1869 endlich
Generaleutnant. Daneben hatte ihn König Maximilian II. zu

193

Sprung - Spurgeon.

seinem Flügeladjutanten, König Ludwig II. 1864 zu
seinem Generaladjutanten ernannt. Im Sommer 1886 trat S. in den
Ruhestand. Er schrieb: "Bayerns Gaue" (Bamb. 1831) und gab eine
"Gaukarte des Herzogtums Ostfranken" (das. 1835) heraus. Sein
Hauptwerk ist der große auf Grund der sorgfältigsten
Detailforschung sehr sauber ausgeführte
"Historisch-geographische Handatlas" (Gotha 1853-64) in 3
Abteilungen: "Atlas antiquus" (3. Aufl. bearbeitet von Menke, 31
Bl., 1862-64), "Handatlas für die Geschichte des Mittelalters
und der neuern Zeit" (neubearbeitet von Menke, 90 Bl., 3. Aufl.
1879) und "Zur Geschichte Asiens, Afrikas etc." (18 Bl., 2. Aufl.
1855). Außerdem veröffentlichte S. einen trefflichen
"Historischen Atlas von Bayern" (Gotha 1838, 7 Bl.), einen
"Historisch-geographischen Schulatlas" (23 Bl., das. 1856, 5. Aufl.
1870), desgleichen historisch-geographische Schulatlanten von
Österreich (13 Bl., das. 1860) und von Deutschland (12 Bl., 2.
Aufl., das. 1866), den "Historico-geographical handatlas" (26 Bl.,
Gotha 1860) u. a. Historische Schriften von S. sind: "Leitfaden zur
Geschichte von Bayern" (2. Aufl., Bamb. 1853), " Pfalzgraf Rupert
der Kavalier" (Münch. 1854) und "Die Wandbilder des bayrischen
Nationalmuseums" (das. 1858), später unter dem Titel:
"Charakterbilder aus der bayrischen Geschichte" (das. 1878) neu
herausgegeben. Endlich hat S. auch mehrere historische Schauspiele
sowie die Schriften: "Jamben eines greisen Ghibellinen" (Bonn 1876)
u. "Aus der Mappe des greisen Ghibellinen" (Münch. 1882)
verfaßt.

Sprung (lat. Saltus), in der Logik und zwar im Beweis das
Auslassen von Mittelsätzen, die nicht fehlen dürfen, wenn
der Schlußsatz bewiesen, in der Metaphysik und
Naturphilosophie das Auslassen von Mittelstufen, die nicht
übergangen werden dürfen, wenn das Ziel der Entwickelung
erreicht werden soll. Ersteres, die Stetigkeit der
Beweisführung, wird durch den Satz, daß die Folge nur
aus der Gesamtheit der Gründe, letzteres, die Stetigkeit der
Entwickelung, durch den Satz, daß die Wirkung nur aus der
Gesamtheit der Ursachen entspringe, die Anwendung des letztern auf
die Natur insbesondere durch den Kanon ausgedrückt, daß
es in dieser keinen S. gebe (in natura non datur saltus).

Sprung, in der Jägersprache mehrere
beisammenstehende Rehe.

Sprungbein, s. Fuß, S. 800.

Sprungzügel, s. Zaum.

Spule, eine hölzerne Walze zum Aufwickeln von Garn,
Draht etc.

Spülkanne, s. v. w. Irrigator (s. d.).

Spuller (spr. spüllähr), Eugène, franz.
Politiker, geb. 8. Dez. 1835 zu Seurre (Côte d'Or) von aus
Baden eingewanderten Eltern, studierte die Rechte, ließ sich
1859 in Paris als Advokat einschreiben, widmete sich aber seit 1863
ganz der demokratischen Journalistik, trat in enge
Freundschaftsbeziehungen zu Gambetta, dessen Sekretär er
während seiner Diktatur 1870-71 war, ward 1872 Redakteur der
"République française" und 1876 Mitglied der
Deputiertenkammer. Er gehörte in dieser zum Republikanischen
Verein und unterstützte Gambettas Politik mit hingebendem
Eifer. Als dieser im November 1881 Ministerpräsident wurde,
ernannte er S. zum Unterstaatssekretär des Auswärtigen,
was er aber bloß bis zum Januar 1882 blieb. 1884 wurde er zum
Vizepräsidenten der Deputiertenkammer erwählt und war vom
Mai bis Dezember 1887 im Ministerium Rouvier Unterrichtsminister.
Im März 1889 ward er Minister des Äußern.

Spulmaschine, Vorrichtung zum Aufwickeln von Fäden
auf Spulen.

Spulrad, eine einem Spinnrad ähnliche Vorrichtung
zum Bewickeln einer Garnspule.

Spulwurm (Ascaris L.), Gattung aus der Klasse der
Nematoden (Fadenwürmer) und der Familie der Askariden (s. d.),
derbhäutige Eingeweidewürmer von mäßiger Dicke
und ansehnlicher Länge, mit stark entwickelten, hohen und
breiten Lippen, welche einen mehr oder minder kugeligen Kopfzapfen
zusammensetzen und bei den größern Arten am Rand
gezähnelt sind. Sie legen meist hartschalige Eier, welche nach
längerm Aufenthalt in feuchter Umgebung einen Embryo
entwickeln, der vielleicht überall zunächst in einen
Zwischenwirt gelangt und seine ganze Metamorphose in der Regel erst
in dem definitiven Wirt durchläuft. Die zahlreichen Arten
bewohnen mit wenigen Ausnahmen den Darm von Wirbeltieren, besonders
Warmblütern. Der gemeine S. (A. lumbricoides L., s. Tafel
"Würmer"; das Männchen etwa 40 cm lang und reichlich 5 mm
dick, das Weibchen bedeutend kleiner), meist gelblichbraun oder
rötlich, verbreitet einen unangenehmen Geruch, bewohnt den
Dünndarm des Menschen, besonders der Kinder, bisweilen in so
beträchtlicher Menge, daß er denselben fast unwegsam
macht, findet sich auch im Rind und Schwein und scheint über
die ganze Erde verbreitet zu sein. Er produziert im Jahr etwa 60
Mill. Eier, die beständig mit dem Kot abgehen, sehr lange auch
in Frost und Trockenheit ihre Keimkraft behalten und sich in Wasser
oder feuchter Erde langsam entwickeln. Ob die Embryonen beim
Genuß von abgefallenem Obst, rohen ungereinigten Rüben,
Bachwasser etc. direkt in den Menschen oder zunächst in einen
Zwischenwirt gelangen, ist noch nicht ermittelt. Sie verursachen
mancherlei Störungen und nicht selten schwerere Leiden. Der
Katzenspulwurm (A. mystax Fab.) schmarotzt auch im Hund und
gelegentlich im Menschen, der großköpfige S. (A.
megalocephala Cloquet), bis 37 cm lang, im Darm des Pferdes und des
Esels und erzeugt oft bösartige Verstopfungen, Katarrh der
Darmschleimhaut etc.

Spur, im Hüttenwesen die Öffnung in der Vorwand
von Schachtöfen, durch welche die geschmolzenen Massen aus dem
Schmelzraum in einen Sammelraum vor dem Ofen fließen; daher
Spuröfen, Öfen mit einer solchen Öffnung. Spuren
nennt man beim Kupferhüttenprozeß die Anreicherung des
Kupfers in den Kupferlechen (Kupfersteine) durch Rösten u.
reduzierend-solvierendes Schmelzen, wobei Spurstein
(Konzentrations-, Anreich-, Dublier-, Mittelstein) entsteht (s.
Kupfer, S. 319). Über den Ausdruck S. in der Jägersprache
s. Fährte.

Spur (Spurweite), s. Eisenbahnbau, S. 450.

Spüren, in der Jägersprache s. v. w.
Abspüren.

Spurensteine, die natürlichen äußern
Abgüsse pflanzlicher oder tierischer Organismen, besonders
aber die Fährten vorweltlicher Tiere.

Spurgeon (spr. spörrdsch'n), Charles Haddon, engl.
Kanzelredner, geb. 19. Juni 1834 zu Kelvedon in Essex, war
zunächst Hilfslehrer an einer Schule zu Newmarket und
schloß sich, von Bunyans Pilgerreise beeinflußt, 1850
der baptistischen Gemeinde in Cambridge an, deren Lehren er bald
als Landprediger zu Teversham vertrat; seine große Jugend
verschaffte ihm hier den Beinamen "the boy preacher". Kaum 17 Jahre
alt, wurde er Prediger einer kleinen Baptistenkapelle zu Waterbeach
und erreichte als solcher Erfolge, wie sie an Wesley und Whitefield
erinnerten. Seit 1853 an der Baptistenkapelle in der New

194

Spurinna - Srászy.

Parkstreet zu London, predigte er unter solchem Zudrang,
daß sehr bald eine Vergrößerung des Gebäudes
nötig wurde. Doch auch das neue Gebäude genügte auf
die Dauer nicht, denn bald war S. die merkwürdigste
Charakterfigur des so überreich verzweigten kirchlichen Lebens
der englischen Metropole und ihr populärster Kanzelredner, zu
welchem Vertreter aller Stände und Bekenntnisse wallfahrteten.
So veranlaßten seine Verehrer 1856 eine öffentliche
Subskription zum Bau einer mächtigen Halle, welche, in
Newington Butts gelegen und zu den Sehenswürdigkeiten Londons
gehörend, 1861 unter dem Namen "Spurgeon's Tabernacle"
eröffnet wurde und 4400 Zuhörern Raum darbietet. Von
seinen Predigten erschienen viele Hunderte im Druck, zahlreiche
auch in deutschen Übersetzungen (gesammelt in 5 Bänden,
Hamb. 1860-73); zuletzt noch seine "Lectures to my students" (Lond.
1875; deutsch, Hamb. 1878-80, 2 Bde.). Vgl. Pike, Ch. H. S.
(deutsch, Hagen 1887).

Spurinna, 1) Vestricius, röm. Feldherr und Dichter
in der ersten Hälfte des 1. Jahrh. n. Chr., focht siegreich
gegen die Germanen am Rhein, zog sich aber später vom
öffentlichen Leben zurück. Die angeblichen Fragmente
seiner lyrischen Poesien, deren Anmut die Alten rühmten, sind
ein modernes Fabrikat des Polyhistors Kasp. Barth (abgedruckt in
Rieses "Anthologia latina", Bd. 2, Leipz. 1870, und Bährens'
"Poetae latini minores", Bd. 5, das. 1883).

2) Haruspex und Wahrsager, welcher Cäsar vor dem
verhängnisvollen 15. März warnte.

Spurius (lat., "unecht"), s. v. w. Bastard.

Spurstein, s. Spur.

Spurstränge (Blattspuren), in der Pflanzenanatomie
die untern, im Stengel befindlichen Endigungen der in die
Blätter ausbiegenden Gefäßbündel.

Spurweite, s. Eisenbahnbau, S. 450.

Spurzapfen (Grundzapfen), Zapfen, bei denen der
größte vorkommende Druck in der Richtung der Achse des
Zapfens wirkt und von der Grundfläche des Zapfens aufgenommen
wird. Vgl. Zapfen.

Sputum (lat.), der Auswurf.

Spuz (spr. spuhsch), Städtchen in Montenegro, an der
Zeta, mit Citadelle und ca. 1000 Einw.; lange Schauplatz von
Kämpfen mit den Türken, kam durch den Berliner Frieden
1878 an Montenegro.

Squalidae, Haifische.

Squalius, Elten (Fisch).

Squamae (lat.), Schuppen (s. d. und Fruchtschuppen);
squamös, schuppig.

Squarcione (spr. skwartschohne), Francesco, ital. Maler,
geb. 1394 zu Padua, gest. 1474 daselbst, Haupt der paduanischen
Malerschule und vornehmlich als Lehrer Mantegnas bekannt. Von
seinen Werken ist nur eine Madonna mit dem Kind (im Besitz der
Familie Lazzara zu Padua) durch seine Namensinschrift
beglaubigt.

Square (engl., spr. skwehr), Quadrat, daher S. mile,
Quadratmeile; auch ein viereckiger oder runder, von Häusern
umgebener, mit Rasen und Baumgruppen versehener und meist durch ein
eisernes Gitter abgeschlossener Platz in englischen (und danach
auch in andern) Städten. Derartige Plätze von
halbkreisförmiger Gestalt heißen Crescent
("Halbmond").

Squatter (engl., spr. skwotter, von to squat,
niederkauern), in den Vereinigten Staaten von Amerika ein
Ansiedler, der sich ohne Rechtstitel auf einem Stück Land
niederläßt, insbesondere derjenige, welcher noch nicht
angebautes Regierungsland ohne Kauf okkupiert. Da diese Praxis viel
zum raschen Anbau, namentlich der westlichen Staaten, beitrug,
indem unbemittelte Leute in Gegenden, wohin die Kolonisation auf
dem gewöhnlichen Weg erst spät gedrungen sein würde,
Niederlassungen gründeten, so suchte man dergleichen Ansiedler
durch sogen. Präemtionsgesetze in dem Besitz der von ihnen
eigenmächtig okkupierten Ländereien zu schützen.
Nach einem bereits 1808 in Massachusetts erlassenen Gesetz wurde
das Eigentumsrecht auf ein Grundstück schon durch
40jährige Okkupation erworben; spätere
Kongreßbeschlüsse erteilten den Squatters das Recht, von
ihnen okkupierte Staatsländereien, ohne Rücksicht auf den
inzwischen gestiegenen Wert derselben, zum Minimalpreis von
1¼ Doll. pro Acre zu erwerben. Nachdem 1830 dies Gesetz
für eine bestimmte Anzahl von Jahren auf das ganze
Unionsgebiet ausgedehnt worden, kam 1841 das Präemtionsgesetz
zu stande, wodurch die Squatters allenthalben in den Vereinigten
Staaten die Befugnis erhielten, durch Erlegung jenes Minimalpreises
sich einen gesetzlichen Rechtstitel auf die von ihnen bebauten
Grundstücke zu erwerben, wobei nur die Beschränkung
stattfinden sollte, daß kein Kolonist mehr als 160 Acres auf
einmal ankaufen oder auf die zu Schul- und andern
gemeinnützigen Zwecken bestimmten Ländereien Anspruch
machen dürfte. Seit Erlaß des Heimstättegesetzes
von 1862 (homesteadbill) müssen jedem, der sich in gutem
Glauben ansiedelt und Bürger ist oder seine Absicht,
Bürger zu werden, erklärt, 160 Acres Kongreßland
unentgeltlich bewilligt werden. - In Australien heißen
Squatters die Viehzüchter, welche große Strecken neu
angebauten Landes von der Regierung pachten.

Squaws (spr. skwahs), die Frauen der nordamerikan.
Indianer.

Squier (spr. skwihr), Ephraim George, nordamerikan.
Altertumsforscher, geb. 17. Juni 1821 zu Bethlehem (New York), ward
Ingenieur, stellte mit Davis Untersuchungen über die alten
Denkmäler im Mississippithal an, worüber er in "The
ancient monuments of the Mississippi valley" (Washingt. 1848)
berichtete, und ward 1849 zum Geschäftsträger der Union
in den zentralamerikanischen Republiken ernannt, welche Staaten er
ebenfalls (wiederholt 1853) zu wissenschaftlichen Zwecken
erforschte. Später besuchte er Europa, war 1863-64 Kommissar
der Union in Peru, 1868 Generalkonsul für Honduras in New York
und wurde 1871 Präsident des Anthropological Institute
daselbst. Er starb 17. April 1888 in New York. Von seinen Schriften
sind noch zu nennen: "Aboriginal monuments of the state of New
York" (Washingt. 1849); "The serpent symbols" (New York 1851);
"Travels in Central-America: Nicaragua, its people, scenery and
monuments" (das. 1852, 2 Bde.); "The states of Central America"
(das. 1857, 2. Aufl. 1870); "Honduras, descriptive, historical and
statistical"(1870); "Peru. Incidents and explorations in the land
of the Incas" (1877; deutsch, Leipz. 1883).

Squillace (spr. -latsche), Flecken in der ital. Provinz
Catanzaro, unweit des Golfs von S. des Ionischen Meers, an der
Eisenbahn Metaponto-Reggio gelegen, Bischofsitz, mit Kathedrale,
geistlichem Seminar, Industrie in Seide und Thonwaren und (1881)
2673 Einw. S. ist das antike Scylacium, eine Stadt der Bruttier und
Geburtsort des Cassiodorus (s. d.).

Squire (engl., spr. skweir), entstanden aus Esquire (s.
Adel, S. 111, und Esquire), s. v. w. Gutsherr.

Sr, in der Chemie Zeichen für Strontium.

Srászy (spr. ssrahschi), poln. Gericht, mit
Zwiebeln u. dgl. gedünstete Scheiben von Rindfleisch.

195

Sredec - Staat.

Sredec, bulgar. Name für Sofia (s. d.).

Srinagar, 1) Hauptstadt von Kaschmir, in der Nordwestecke
Ostindiens, 1568 m ü. M., am Dschelam, in einem durch seine
malerischen Reize weltberühmten Thalkessel, mit großem
Palast, Fort, Gewehrfabrik, Münze, engen, schmutzigen
Straßen aus hohen Holzhäusern und 150,000 Einw. (meist
Mohammedaner, nur 20,000 Hindu), welche besonders berühmte
Shawlweberei betreiben. Zur Unterkunft der in beschränkter
Zahl zugelassenen Europäer (300 bis 400) gibt es jetzt
Pensionen und Hotels. -

2) Hauptort des Distrikts Garwhal (s. d. 1).

S romanum (Flexura sigmoidea, F. iliaca), der
S-förmig gekrümmte untere Abschnitt des Grimmdarms, der
an den Mastdarm anstößt.

Ss... Die so beginnenden russischen Namen s. unter einfachem
S...

Ssant s. Acacia.

Ssossar s. Acacia.

Sselo (russ.), s. v. w. Kirchdorf; vgl. Derewnja.

St., Abkürzung für Sanctus, Sankt oder
Saint.

St., bei naturwissenschaftl. Namen Abkürzung
für Jakob Sturm (s. d.) oder für H. Steudner (s. d.).

Staab, Stadt in der böhm. Bezirkshauptmannschaft
Mies, an der Radbusa und der Böhmischen Westbahn, hat ein
Bezirksgericht, (1880) 2068 Einw., Bierbrauerei und
Dampfbrettsäge.

Staal, Marguerite Jeanne, Baronin de, durch Geist und
Bildung ausgezeichnete Französin, geb. 1693 zu Paris als
Tochter eines armen Malers, Cordier, dessen Namen sie ablegte, um
den ihrer Mutter, Delaunay, anzunehmen, war zuerst Kammerjungfer
der tyrannischen Herzogin von Maine, machte sich durch ihre Verse
und Pläne zu Theaterstücken den Prinzen und vielen
geistreichen Männern des Hofs bekannt und ward
schließlich die Tonangeberin in den Salons von Paris. Ihre
Ergebenheit für die Herzogin brachte sie auf zwei Jahre in die
Bastille. 1735 heiratete sie den Offizier der Garde, Baron von S.
Sie starb 16. Juni 1750 bei Paris. Ihre "Mémoires" (Par.
1755, 4 Bde.; neue Ausg. von Lescure, 1878, 2 Bde.) zeichnen sich
durch scharfe Beobachtung und feine Satire aus und sind in einem
Stil geschrieben, dem die Kritik nur denjenigen Voltaires vorzog.
Ihre "OEuvres complètes" erschienen Paris 1821, 2 Bde. Vgl.
Frary, Étude sur Mad. S. (1863).

Staar, Augenkrankheit und Vogel, s. Star.

Staat, das öffentliche Gemeinwesen, welches eine auf
einem bestimmten Gebiet ansässige Völkerschaft in der
Vereinigung von Regierung und Regierten umfaßt. Diese
Definition ist freilich keine allgemein angenommene; vielmehr gehen
in der Wissenschaft die Ansichten über Wesen und Zweck des
Staats sehr auseinander. Jedenfalls müssen aber folgende
Requisite vorhanden sein, wenn von einem S. die Rede sein soll:
Staatsgebiet, Regierung, Regierte und eine zweckentsprechende
Organisation.

[Wesen und Zweck des Staats.] Die Geschichte lehrt uns,
daß von eigentlichen Staaten erst dann die Rede sein kann,
wenn eine größere Gesamtheit von Menschen zu einem
gemeinsamen Organismus vereinigt ist. Die Familie mag als die
natürliche Grundlage und als der Ausgangspunkt dieses
Organismus betrachtet werden; der S. selbst aber charakterisiert
sich gerade im Gegensatz zur Familie dadurch, daß seine
Angehörigen nicht durch das Band der Verwandtschaft, sondern
durch eine besondere Organisation zusammengehalten werden, und das
Charakteristische ebendieser Organisation besteht wieder darin,
daß eine Vereinigung von Regierung (Staatsregierung,
Gouvernement) einerseits und von Regierten (Staatsangehörigen,
Staatsbürgern, Unterthanen) anderseits gegeben ist. Endlich
ist aber noch als wesentlicher Faktor des Staatsbegriffs das
Vorhandensein eines bestimmten Gebiets (Staatsgebiet, Territorium)
hervorzuheben, auf welchem sich jene Gesamtheit von Menschen
dauernd niedergelassen hat. Der Zustand eines Nomadenvolkes ist die
Negation des Staatsbegriffs. Diejenigen Rechte nun, welche der
Staatsregierung und deren Inhaber, dem Staatsbeherrscher
(Staatsoberhaupt, Souverän), als solchem zustehen, die sogen.
Hoheitsrechte, bilden den Inhalt der Staatsgewalt
(Regierungsgewalt), welche namentlich insofern, als sie das Recht
des Staatsbeherrschers zur Ausübung der Hoheitsrechte auf dem
Staatsgebiet und in Ansehung der auf demselben lebenden Menschen
(Territorialitätsprinzip) bedeutet, als Souveränität
(Staatshoheit, Suprema potestas) bezeichnet zu werden pflegt. Das
Subjekt der Staatsgewalt sowie die Art und Weise ihrer
Ausübung durch ersteres, also die Staats- und Regierungsform,
wird durch die Staatsverfassung (Konstitution) bestimmt. Wenn man
aber ferner die Staatsgewalt in die gesetzgebende, die richterliche
und die vollziehende Gewalt (Exekutive) einzuteilen pflegt, so ist
dies im Grund nur eine Bezeichnung der verschiedenen Richtungen,
nach denen hin die Staatsgewalt thätig ist; denn die
Staatsgewalt selbst ist und bleibt unteilbar, einheitlich und
ausschließend. Die wissenschaftliche Begründung und
Rechtfertigung des Staatsbegriffs ist von Philosophen und
Publizisten auf die verschiedenste Weise versucht worden,
während andre sich damit begnügen wollen, den S. und das
damit gegebene Verhältnis der Unterordnung der Regierten als
eine historische Thatsache und ebendarum der philosophischen
Rechtfertigung nicht bedürftig hinzustellen. Dagegen finden
wir schon im Altertum in den Theokratien der Orientalen die sogen.
religiöse Theorie vertreten, welche den S. als eine
göttliche Stiftung und die Einsetzung der Regierungsgewalt als
einen Teil der göttlichen Weltordnung auffaßt; eine
Theorie, welche man neuerdings als die Lehre vom Königtum "von
Gottes Gnaden" zu modernisieren suchte, wie dies z. B. von Stahl
geschehen ist. Andre wollen die Entstehung des Staats aus dem
sogen. Rechte des Stärkern, aus der Übermacht, welche
auch in dem Ausdruck "Staatsgewalt" angedeutet sei, herleiten,
während auf der entgegengesetzten Seite der S.
(Patriarchalstaat) auf die väterliche Gewalt
zurückgeführt und als eine Erweiterung der Familie
hingestellt wird. Eine weitere, früher auch in Deutschland
vielfach praktisch geltend gemachte Theorie (Patrimonialprinzip)
stellt die Staatsgewalt als Ausfluß des Eigentums
(Patrimonialität) am Grund und Boden hin. Es ist dies die
Theorie der absoluten Monarchie, vermöge deren sich die
Staatsbeherrscher gewissermaßen als Eigentümer von Land
und Leuten betrachteten, und welche zu jenem Satz führen
konnte, der Ludwig XIV. in den Mund gelegt wird: "Ich bin der S."
Auch der sogen. Vertragstheorie ist hier zu gedenken, welche die
Entstehung des Staats auf eine vertragsmäßige
Unterwerfung der Unterthanen unter die Staatsgewalt (Contrat
social) zurückzuführen sucht und durch Jean Jacques
Rousseau populär geworden ist, zuvor aber schon durch die
Engländer Hobbes und Locke vertreten worden war. Dagegen
bezeichneten Kant und nach ihm Karl Salomo Zachariä und Wilh.
v. Humboldt den S. als durch das Rechtsgesetz gerechtfertigt.

196

Staat (Staatsformen, Staatenverbindungen).

Im Zusammenhang damit stellte man den Schutz des Rechts als den
eigentlichen Zweck des Staats (Rechtsstaat) hin. Dieser Theorie
(Manchestertheorie) steht die sogen. Wohlfahrtstheorie
gegenüber, welche die öffentliche Wohlfahrt des Staats
und die allgemeine Wohlfahrt seiner Angehörigen als den
Staatszweck bezeichnet, damit aber freilich nicht selten zu einer
Bevormundung des Volkes und zum sogen. Polizeistaat geführt
hat. Dazwischen steht die vermittelnde Theorie, welche das Recht
als die Basis und den Hauptzweck des Staats bezeichnet und im
übrigen die Staatshilfe nur als völkerschaftliche
Unterstützung zur selbstthätig freien Entwickelung der
Staatsangehörigen eintreten lassen will, indem das gesamte
staatliche Leben sich in den Angeln des Rechts bewegen soll
(Kulturstaat). Übrigens pflegt man gegenwärtig den
Ausdruck "Rechtsstaat" kaum noch in jener engen Bedeutung, sondern
vielmehr gleichbedeutend mit "Verfassungsstaat" zu gebrauchen,
indem man für den Staatsbürger nicht nur in
Privatrechtssachen, sondern auch auf dem Gebiet des
öffentlichen Rechts die Möglichkeit richterlicher
Entscheidung fordert und die Grenzen der staatlichen
Machtvollkommenheit durch Verfassung und Gesetz festgelegt wissen
will.

[Staatsformen.] Nach der Art und Weise, wie das Verhältnis
zwischen Regierung und Regierten geordnet ist, werden verschiedene
Staats- und Regierungsformen unterschieden. Bis in die neueste Zeit
hat sich die alte Einteilung des Aristoteles erhalten, welcher
zwischen Monarchie (Einzelherrschaft), Aristokratie (Herrschaft
einer bevorzugten Volksklasse) und Demokratie (Volksherrschaft)
unterschied und als die Entartungen dieser Staatsformen die
Despotie, die Oligarchie und die Ochlokratie hinstellte. Manche
haben noch eine sogen. Theokratie hinzugefügt, als eine
Staatsbeherrschungsform, bei welcher die Gottheit selbst als durch
ihre Priester regierend gedacht ist. Richtiger und den modernen
Verhältnissen entsprechend ist es wohl, nur zwei Hauptarten
der Staatsformen zu unterscheiden: die Monarchie und den Freistaat
oder die Republik. In der erstern steht ein Einzelner an der Spitze
des Staatswesens, während in der Republik die Gesamtheit des
Volkes als regierend gedacht ist, welcher die Einzelnen als die
Regierten gegenüberstehen. Bezüglich der Monarchie ist
dann zwischen der absolutistischen Staatsbeherrschungsform, der
Autokratie, wie sie z. B. in Rußland besteht, zu
unterscheiden und zwischen der konstitutionellen Monarchie, in
welcher dem Volk durch seine Vertretung ein Mitwirkungsrecht bei
den wichtigern Regierungshandlungen und namentlich bei der
Gesetzgebung eingeräumt ist. Bezüglich der Autokratie
kann man übrigens wiederum zwischen reinen Autokratien
unterscheiden und solchen mit geregelten Staatsformen und
bestimmten Staatsgrundgesetzen. Der Konstitutionalismus aber ist
nicht als eine Teilung der Staatsgewalt zwischen Monarch und
Volksvertretung aufzufassen, auch ist der Monarch selbst der
Volksvertretung nicht verantwortlich; wohl aber ist letzteres in
Ansehung der Minister der Fall. Bezüglich der Republik endlich
ist, abgesehen von dem Unterschied zwischen Aristokratie und
Demokratie, zwischen der unmittelbaren (antiken) und der
repräsentativen Demokratie zu unterscheiden, je nachdem das
Volk selbst in der Volksversammlung die Regierung ausübt, oder
je nachdem dies durch seine Vertreter geschieht. Vgl. die Artikel
über die einzelnen Staatsformen und die Übersicht
über die Staats- und Regierungsformen bei dem Art.
"Bevölkerung".

Staatenverbindungen.

Die regelmäßige Erscheinungsform des Staats ist der
Einheitsstaat, d. h. der für sich bestehende souveräne S.
mit einem einheitlichen Staatsgebiet unter einer und derselben
Staatsregierung. Dadurch, daß der S. zu andern Staaten
Beziehungen unterhält und mit solchen vorübergehend oder
dauernd in Verbindung tritt, wird die Selbständigkeit des
Einheitsstaats nicht beeinträchtigt. Zwischen den
nebeneinander bestehenden Staaten entwickeln sich eben
naturgemäß ein geistiger und materieller
Völkerverkehr und ein völkerrechtliches Verhältnis,
welches namentlich auf dem Gebiet des Handels und der Rechtspflege
vielfach durch besondere Staatsverträge geregelt ist. Man
bezeichnet dies Verhältnis selbständig nebeneinander
bestehender, aber durch freundschaftliche Beziehungen verbundener
Staaten als Staatensystem (im weitern Sinn) und pflegt so
namentlich von einem europäischen Staatensystem zu sprechen.
Treten nun verschiedene Staatskörper zu einer nähern
Vereinigung mit einem bestimmten Zweck zusammen, so wird dies als
Bund bezeichnet. Dieser Bund kann aber a) nur vorübergehend zu
einem speziellen Zweck ins Leben treten (Allianz, Koalition) oder
b) auf die Dauer zur Verwirklichung umfassender politischer Zwecke
berechnet sein (Staatsverbindung, Staatensystem im engern Sinn).
Ein Beispiel der erstern Art ist das gegenwärtig zwischen
Deutschland und Österreich-Ungarn bestehende Schutz- und
Trutzbündnis. In dem zweiten Fall dagegen trägt die
Vereinigung selbst einen staatlichen Charakter, ohne daß
jedoch die selbständige staatliche Existenz der einzelnen
verbündeten Staaten aufgehoben wäre, wie dies bei der
Vereinigung mehrerer Staaten zu einem Einheitsstaat der Fall ist.
Letzteres kann nämlich entweder so geschehen, daß die zu
einem Einheitsstaat zusammengefügten Staaten einen ganz neuen
S. bilden, wie dies z. B. bei der Gründung des
Königreichs Italien geschah, oder so, daß der eine S.
dem andern einverleibt wird, in welcher Weise z. B. Preußen
den 1866 annektierten Staaten gegenüber verfuhr. Im erstern
Fall spricht man von einer Union in diesem besondern Sinn,
während in dem letztern Fall eine Inkorporation vor sich geht.
Bei der Staatenverbindung dagegen bleiben die verbündeten
Staatswesen nach wie vor nebeneinander bestehen, und zwar ist es
möglich, daß diese verbündeten Staaten an und
für sich völlig unabhängig voneinander, oder
daß dieselben zu einem politischen Gesamtwesen vereinigt
sind. Im erstern Fall ist eine Union (im engern Sinn), im zweiten
eine Konföderation gegeben.

Es kommt nämlich einmal vor, daß verschiedene, an und
für sich voneinander getrennte und unabhängige Monarchien
unter einem und demselben Souverän stehen, also durch die
Identität des Staatsbeherrschers miteinander verbunden sind
(Union, Unio civitatum); sei es nun, daß eine Personalunion
(Unio personalis), sei es, daß eine Realunion (Unio realis)
vorliegt. Die Personalunion ist dann gegeben, wenn rein
thatsächlich zwei oder mehrere an und für sich
selbständige Staaten unter dem Zepter eines gemeinsamen
Monarchen vereinigt sind. Dies ist z. B. dann der Fall, wenn in
einer Wahlmonarchie ein Fürst an die Spitze des Staats
gestellt wird, der bereits das Oberhaupt eines andern Staats ist.
So erklärt sich z. B. die Personalunion Sachsens und Polens
unter August dem Starken. Der Hauptfall der Personalunion aber ist
der, daß infolge einer Übereinstimmung der
Thronfolgeordnung dasselbe Glied derselben Dynastie zur Regierung
über beide

197

Staat (Staatenbund und Bundesstaat).

Länder gerufen wird. Hierfür bietet die Geschichte in
der Vereinigung von Spanien und Deutschland, Hannover und England,
Preußen und Neuenburg Beispiele. Auch Holland und Luxemburg
stehen zu einander im Verhältnis der Personalunion. Ist
dagegen die Union eine verfassungsmäßige, dauernde und
von Rechts wegen unauflösliche, so liegt eine Realunion vor.
Die einzelnen Kronländer sind, wie dies in
Österreich-Ungarn der Fall ist, zwar besondere Staaten, aber
sie sind verfassungsmäßig unter Einem Zepter vereinigt.
Sie stellen sich daher in ihrer Verbindung und namentlich dem
Ausland gegenüber als eine staatliche Gesamtheit dar. Ihre
gemeinsamen Interessen werden in Österreich-Ungarn durch ein
gemeinsames Reichsministerium wahrgenommen, und aus den
Volksvertretungen der beiden Reichshälften, dem
österreichischen Reichsrat und dem ungarischen Reichstag,
werden Delegationen (Parlamentsausschüsse) zum Zweck der
Teilnahme an der gemeinsamen Gesetzgebung abgeordnet. Ebenso stehen
Schweden und Norwegen seit 1814 in Realunion, während die
Elbherzogtümer Schleswig und Holstein ehedem zu einander im
Verhältnis der Realunion, zur Krone Dänemark aber in
demjenigen der Personalunion gestanden haben.

Was dagegen die Konföderation (Föderation) anbetrifft,
so wird zwischen Staatenbund (lat. Confoederatio civitatum, ital.
Confederazione degli stati) und Bundesstaat (Bundesreich,
Föderativstaat, Gesamtreich, Gesamtstaat, Staatenstaat,
Civitas foederata s. composita, von den italienischen Publizisten
Stato federativo genannt) unterschieden. Bei dem Staatenbund wie
bei dem Bundesstaat ist eine Mehrheit von Staaten mit besondern
Staatsgebieten und Staatsregierungen und, wofern die letztern
monarchische sind, auch mit verschiedenen Staatsbeherrschern
vorhanden. Beide sind im Gegensatz zu der nur vorübergehenden
Allianz auf die Dauer berechnet, beide stellen ferner einen
politischen Organismus mit einer Zentralgewalt dar. Allein bei dem
Staatenbund sind es immer nur bestimmte Aufgaben, welche den Zweck
des Bundes bilden, der Bundesstaat dagegen sucht die Zwecke des
Staats überhaupt zu erfüllen. Der Staatenbund ist
vorwiegend Bund, der Bundesstaat ist vorwiegend Staat. Der
Staatenbund ist ein völkerrechtlicher Verein mit
internationalem Charakter, der Bundesstaat ist ein wirkliches
Staatswesen mit nationalem Charakter. So war die Schweiz bis 1848
nur ein Staatenbund, während sie jetzt vermöge der
Verfassung vom 12. Sept. 1848 ein Bundesstaat ist. Auch die
Vereinigten Staaten von Nordamerika sind ein solcher, und als
dritter Bundesstaat kommt das gegenwärtige Deutsche Reich
hinzu, während der vormalige Deutsche Bund ein bloßer
Staatenbund war. Freilich entspricht in Deutschland der
gegenwärtige Sprachgebrauch des praktischen politischen Lebens
dem theoretischen Schulbegriff nicht. Denn man pflegt offiziell die
einzelnen verbündeten deutschen Staaten als Bundesstaaten zu
bezeichnen, während theoretisch der Gesamtstaat, zu welchem
sie vereinigt sind, also das Deutsche Reich, der Bundesstaat
ist.

Im einzelnen treten dabei namentlich folgende Gegensätze
hervor: Im vormaligen Deutschen Bund als einem bloßen
Staatenbund waren die einzelnen Staaten völlig souverän.
Das Organ dieses Bundes, der Frankfurter Bundestag, setzte sich
lediglich aus den instruierten Bevollmächtigten der
verschiedenen souveränen Bundesregierungen zusammen. Der
Angehörige des einzelnen Staats stand zu jenem Zentralorgan in
keiner direkten Beziehung, sondern die Bundesbeschlüsse hatten
nur für die verbündeten Regierungen, nicht aber für
die von diesen Regierten rechtsverbindliche Kraft. Sie erhielten
diese für die Angehörigen der einzelnen Staaten vielmehr
erst dadurch, daß sie von der betreffenden Einzelregierung
als Gesetz verkündet wurden. Das Deutsche Reich als ein
Gesamtstaat hat dagegen eine wirkliche Staatsgewalt im Gegensatz zu
der lediglich vertragsmäßig geschaffenen Zentralgewalt
des Staatenbundes. In der Unterordnung unter jene Staatsgewalt des
Gesamtstaats liegt eine Beschränkung der
Souveränität der einzelnen Regierungen. Das Reich
übt ferner eine wirkliche gesetzgebende Gewalt aus, die
Reichsgesetze gehen den Landesgesetzen vor, und sie erhalten ihre
rechtsverbindliche Kraft für die Unterthanen des Reichs und
der Einzelstaaten durch die Verkündigung von Reichs wegen. Dem
vormaligen deutschen Bundestag entspricht jetzt der Bundesrat. Aber
ihm steht im Deutschen Reich als einem wirklichen konstitutionellen
Staat in dem Reichstag eine Volksvertretung zur Seite. An der
Spitze dieses Gesamtstaats steht ein einzelner Monarch, welcher die
Reichsgesetze verkündet und vollzieht, auch das Reich
völkerrechtlich zu vertreten hat, namens desselben den Krieg
erklärt und den Frieden schließt. In dem Reichskanzler
ist ihm ein verantwortlicher Minister beigegeben, von welchem
natürlich im Staatenbund nicht die Rede sein kann. Das
Bundesreich hat ferner seine eignen Reichsbeamten, sein eignes Heer
und seine eignen Finanzen wie ein wirklicher Staat. Die Unterthanen
der einzelnen deutschen Staaten stehen jetzt in einem doppelten
Unterthanenverhältnis; sie sind Bürger des Einzelstaats,
dem sie angehören, und Unterthanen der betreffenden
Einzelregierung, aber sie sind auch zugleich Unterthanen und
Bürger des Deutschen Reichs und im Verhältnis zu einander
keine Ausländer mehr. Während endlich der Deutsche Bund
sich lediglich "die Erhaltung der äußern und innern
Sicherheit Deutschlands und der Unabhängigkeit und
Unverletzbarkeit der einzelnen deutschen Staaten" als Zweck gesetzt
hatte, ist der Zweck des nunmehrigen Bundesreichs "der Schutz des
Bundesgebiets und des innerhalb desselben gültigen Rechts
sowie die Pflege der Wohlfahrt des deutschen Volkes", also der
allgemeine Staatszweck. Die Organisation des Deutschen Reichs und
der oben genannten beiden andern Bundesstaaten veranschaulicht die
nachstehende Übersicht:

Bundesstaaten Vollziehende Gewalt Gesetzgebende Gewalt

Vertretung der Staaten Vertretung des Volkes

Deutsches Reich Kaiser Bundesrat Reichskanzler Bundesrat
Reichstag

Nordamerikanische Union Präsident Senat
Repräsentantenhaus

Kongreß

Schweiz Bundesrat Ständerat Nationalrat

Bundesversammlung

[s. Bildansicht]

Die Verhältnisse und Beziehungen der Staatsregierung zu den
Staatsunterthanen und die Beziehungen der letztern untereinander
werden, insoweit sie sich auf den S. beziehen, durch das
Staatsrecht (s. d.) geregelt. Dorthin gehören auch die
Satzungen über die Rechtsverhältnisse in einem
zusammengesetzten S., als welchen man vornehmlich die Realunion und
den Bundesstaat bezeichnen kann. Für

198

Staatenbund - Staatsanwalt.

das Deutsche Reich bildet die Gesamtheit jener
Rechtsgrundsätze das Reichsstaatsrecht. Das Staatsleben
dagegen bildet den Gegenstand der Politik (s. d.), während die
rechtlichen Beziehungen mehrerer selbständiger Staaten
untereinander sich nach dem Völkerrecht (s. d.) bestimmen.
Vgl. Waitz, Das Wesen des Bundesstaats (in seinen "Grundzügen
der Politik", Kiel 1862); Jellinek, Die Lehre von den
Staatenverbindungen (Wien 1882); Brie, Der Bundesstaat (Leipz.
1874); Derselbe, Theorie der Staatenverbindungen (Stuttg.
1886).

Staatenbund, Staatensystem, s. Staat.

Staateninsel, die östlichste Insel des Feuerlandes,
von der Hauptinsel durch die 60 km breite Le Maire-Straße
getrennt, hat steile, von Baien tief eingeschnittene Küsten,
steigt bis 900 m an und ist fast das ganze Jahr durch mit Schnee
bedeckt. Nahe ihrem Ostende liegt St. John's Hafen. Die Insel wurde
1616 von Schouten zu Ehren der "Staaten" (Stände) der
Niederlande benannt.

Staatsadreßbuch, s. Staatshandbuch.

Staatsangehörigkeit (Heimatsrecht, Indigenat), die
Eigenschaft als Unterthan in einem bestimmten Staatswesen. Im
Bundesstaat ist der Staatsangehörige einer doppelten
Herrschaft unterworfen; er steht unter der Staatsgewalt des
Einzelstaats, welchem er angehört, und er ist der
Bundes-(Reichs-) Gewalt untergeordnet, welche in dem Gesamtstaat
besteht, welchem jener Einzelstaat zugehört. So ergibt sich
für die Angehörigen des Deutschen Reichs eine S. oder ein
Landesindigenat und eine Reichsangehörigkeit oder ein
Bundesindigenat (s. d.). Die Reichsangehörigkeit setzt die S.
in einem deutschen Einzelstaat voraus, sie wird mit der S. erworben
und endigt mit derselben. Nach dem Bundes-(Reichs-) Gesetz vom 1.
Juni 1870 über den Erwerb und Verlust der Bundes- und
Staatsangehörigkeit wird die S., mit welcher also die
Reichsangehörigkeit von selbst verbunden ist, erworben durch
Abstammung von einem inländischen Vater und für
uneheliche Kinder durch die Geburt von einer dem betreffenden Staat
angehörigen Mutter, auch durch die nachfolgende Legitimation
seitens des natürlichen Vaters; sodann seitens einer Ehefrau
durch deren Verheiratung mit einem Staatsangehörigen und
endlich für den Angehörigen eines Bundesstaats durch
dessen Aufnahme in einen andern (Überwanderung) und für
Ausländer oder Nichtdeutsche durch die Naturalisation
(Einwanderung) derselben. Beides, Aufnahme u. Naturalisation,
erfolgt durch die höhere Verwaltungsbehörde des
betreffenden Staats und zwar die Aufnahme kostenfrei. Der
Hauptunterschied zwischen Aufnahme und Naturalisation besteht
darin, daß die Aufnahme jedem Angehörigen eines andern
Bundesstaats erteilt werden muß, wenn er darum nachsucht und
zugleich nachweist, daß er in dem Bundesstaat, in welchem er
um die Aufnahme nachsucht, sich niedergelassen habe; es
müßte denn einer der Fälle vorliegen, in welchen
nach dem Freizügigkeitsgesetz die Abweisung eines
Neuanziehenden oder die Versagung der Fortsetzung des Aufenthalts
als gerechtfertigt erscheint. Dagegen besteht keine Verpflichtung
zur Naturalisation eines Ausländers, deren allgemeine
Voraussetzungen Dispositionsfähigkeit, resp. Zustimmung des
gesetzlichen Vertreters, Unbescholtenheit, Wohnung am Orte der
Niederlassung und die Fähigkeit, sich und seine
Angehörigen ernähren zu können, sind. Bei Staats-,
Kirchen- und Gemeindedienern vertritt die Bestallung die Aufnahme-
oder die Naturalisationsurkunde. Die S. geht verloren durch
zehnjährigen ununterbrochenen Aufenthalt im Ausland, es sei
denn, daß sich der Betreffende im Besitz eines Reisepapiers
oder Heimatscheins befindet; durch Verheiratung einer
Inländerin mit einem Ausländer oder mit einem
Angehörigen eines andern Bundesstaats sowie bei dem
unehelichen Kind einer inländischen Frauensperson durch die
Legitimation seitens des ausländischen Vaters. Außerdem
geht die S. verloren durch die Entlassung, welche unbedenklich zu
erteilen ist, wenn der zu Entlassende in einem andern deutschen
Staate die S. erworben hat. Die Entlassung ist gegenüber
Wehrpflichtigen vom vollendeten 17. bis zum 25. Lebensjahr zu
beanstanden, desgleichen Militärpersonen und den zum aktiven
Dienst einberufenen Reservisten und Landwehrleuten gegenüber.
Ferner kann ein Deutscher der S. und damit auch der
Reichsangehörigkeit für verlustig erklärt werden,
wenn er ohne Erlaubnis seiner Regierung in fremde Staatsdienste
tritt, oder wenn er im Fall eines Kriegs oder einer Kriegsgefahr im
Ausland sich aufhält und einer Aufforderung zur Rückkehr
innerhalb der hierzu gesetzten Frist keine Folge leistet. Dagegen
geht die S. nicht dadurch verloren, daß man in einem andern
Staat naturalisiert wird, wie dies in Frankreich der Fall ist.
Deutschen, welche ihre S. durch zehnjährigen Aufenhalt im
Ausland verloren haben, kann die S. in dem frühern Heimatstaat
wieder verliehen werden, auch wenn sie sich in diesem Heimatstaat
nicht wiederum niederlassen, wofern sie keine anderweite S.
erworben haben. Sie muß ihnen wieder verliehen werden, wenn
sie sich dort wieder niederlassen, selbst wenn sie inzwischen eine
anderweite S. erworben haben sollten. Übrigens wird jene
zehnjährige Frist durch Eintrag in die Matrikel eines
Reichskonsuls auf weitere zehn Jahre unterbrochen. Die
Bescheinigung über die S. heißt
Staatsangehörigkeits-Ausweis (Heimatschein). Vgl. v. Martitz,
Das Recht der S. im internationalen Verkehr (Leipz. 1875);
Folleville, Traité de la naturalisation (Par. 1880); Cahn,
Das Reichsgesetz über die Erwerbung und den Verlust der
Reichs- und S. (Berl. 1889).

Staatsanleihen, s. Staatsschulden.

Staatsanwalt, der zur Wahrnehmung des öffentlichen
Interesses in Rechtssachen und insbesondere in Untersuchungssachen
bestellte Staatsbeamte; Staatsanwaltschaft (ministère
public), die hierzu geordnete ständige Behörde. Dem
Altertum war das Institut der Staatsanwaltschaft fremd. Man
überließ es dem Verletzten oder seinen Familiengenossen,
gerichtliche Genugthuung zu suchen, und nur zuweilen traten Redner
mit einer öffentlichen Anklage hervor, ohne daß sie von
Staats wegen dazu veranlaßt waren. Der Ursprung der S. ist in
Frankreich zu suchen, woselbst die heutigen Staatsanwalte aus den
fiskalischen Beamten (gens du roi, avocats généraux,
procureurs du roi) hervorgingen, welche die königlichen
Gerechtsame bei den Gerichten wahrnahmen und die fiskalischen
Interessen zu vertreten hatten. Aber schon im Mittelalter wurde
diesen Beamten auch die Wahrnehmung der öffentlichen
Interessen verbrecherischen Handlungen gegenüber
übertragen, und so entwickelte sich in Frankreich die
strafprozessualische Thätigkeit der Staatsanwaltschaft als die
hauptsächlichste, wenn auch nicht ausschließliche
Berufssphäre derselben. Nach heutigem französischen
Recht, wie dasselbe namentlich durch das Organisationsgesetz
Napoleons I. vom 20. April 1810 normiert ist, gilt nämlich der
S. überhaupt als Wächter des Gesetzes. Er tritt daher
auch in bürgerlichen Rechte

199

Staatsärar - Staatsarzneikunde.

streitigkeiten, auch wenn das staatliche Interesse direkt dabei
nicht in Frage kommt, in Thätigkeit. Der S. vermittelt ferner
den Verkehr des Justizministeriums mit den Gerichten; er nimmt als
Vertreter der bürgerlichen Gesellschaft auch an Akten der
freiwilligen Gerichtsbarkeit teil, vermittelt den Verkehr der
Gerichte untereinander und mit dem Ausland, überwacht den
Geschäftsgang der Gerichte, beantragt
Disziplinaruntersuchungen, beaufsichtigt die Anwalte und die
Subalternbeamten und überwacht das Gefängniswesen. In
Strafsachen geht die Verfolgung aller verbrecherischen Handlungen
und ebenso der Vollzug der Strafurteile von dem S. aus. Die
Funktionen der Staatsanwaltschaft werden bei dem Kassationshof
durch den Procureur général (Generalprokurator) und
sechs Vertreter desselben (avocats généraux)
wahrgenommen. Ebenso fungiert bei den Appellhöfen ein
Generalprokurator, welchem Generaladvokaten und Substituten
(substituts du procureur général) beigegeben sind.
Bei den Untergerichten sind Staatsanwalte (procureurs de la
république) und Substituten oder Gehilfen derselben
bestellt, während bei den Polizeigerichten die
staatsanwaltlichen Funktionen von Polizeikommissaren wahrgenommen
werden. Nach diesem französischen Muster ist die
Staatsanwaltschaft in den meisten europäischen Staaten
eingerichtet worden; doch war es, wenigstens in Deutschland, die
strafprozessualische Seite der staatsanwaltschaftlichen
Thätigkeit, auf welche sich diese Nachahmung beschränkte,
abgesehen von der in den Rheinlanden vollständig nach
französischem Muster durchgeführten Justizorganisation.
Die deutschen Justizgesetze von 1877 haben jene Einschränkung
zur Regel erhoben. Die Zivilprozeßordnung kennt eine
Mitwirkung der Staatsanwaltschaft im öffentlichen Interesse
nur in Ehesachen und im Entmündigungsverfahren, wenn es sich
darum handelt, eine Person unter Zustandsvormundschaft zu stellen.
Das deutsche Gerichtsverfassungsgesetz aber erklärt
ausdrücklich, daß den Staatsanwalten eine Dienstaufsicht
über die Richter nicht übertragen werden dürfe. Das
Amt der Staatsanwaltschaft selbst wird bei dem Reichsgericht durch
einen Oberreichsanwalt und durch einen oder mehrere Reichsanwalte,
bei den Oberlandesgerichten, den Landgerichten und den
Schwurgerichten durch einen oder mehrere Staatsanwalte und bei den
Amts- und Schöffengerichten durch einen oder mehrere
Amtsanwalte ausgeübt. Zum Oberreichsanwalt, zu Reichsanwalten
und Staatsanwalten können nur zum Richteramt befähigte
Beamte ernannt werden. Oberreichsanwalt und Reichsanwalte sind dem
Reichskanzler untergeordnet, während hinsichtlich aller
übrigen staatsanwaltschaftlichen Beamten die
Landesjustizverwaltung das Recht der Aufsicht und Leitung
ausübt; auch sind den ersten Beamten der Staatsanwaltschaft
bei den Oberlandesgerichten und Landgerichten alle Beamten der
Staatsanwaltschaft ihres Bezirks untergeordnet. Die ersten
Staatsanwalte bei den Oberlandesgerichten und in manchen Staaten
auch die bei den Landgerichten führen den Titel
Oberstaatsanwalt. Der frühere Amtstitel "Generalstaatsanwalt"
für den S. bei den Gerichten höchster Instanz kommt nur
noch als Auszeichnungstitel vor. Die Bezeichnung "Kronanwalt" ist
nicht mehr üblich. In Österreich führt der S. bei
dem obersten Gerichts- und Kassationshof in Wien den Titel
"Generalprokurator". Bei den österreichischen
Oberlandesgerichten fungieren Oberstaatsanwalte. Die Beamten der
Staatsanwaltschaft haben den dienstlichen Weisungen ihres
Vorgesetzten nachzugehen. Die Beamten des Polizei- und
Sicherheitsdienstes sind Hilfsbeamte der Staatsanwaltschaft und
sind in dieser Eigenschaft verpflichtet, den Anordnungen der
Staatsanwalte und der diesen vorgesetzten Beamten Folge zu leisten.
Die Thätigkeit der Staatsanwaltschaft besteht nach der
deutschen Strafprozeßordnung im wesentlichen in der
Vorermittelung verbrecherischer Handlungen (Vorverfahren,
Ermittelungs-, Skrutinialverfahren), in dem Antrag auf
Voruntersuchung und dem Mitwirken bei derselben sowie in der
Erhebung und Vertretung der öffentlichen Klage bei strafbaren
Handlungen. Nur bei Körperverletzungen und Beleidigungen,
soweit diese Vergehen auf Antrag verfolgt werden, ist es Sache des
Verletzten oder des an seiner Stelle zur Stellung des Strafantrags
Berechtigten, die Strafverfolgung mittels der Privatklage zu
betreiben. Bloß dann, wenn dies im öffentlichen
Interesse geboten erscheint, übernimmt auch in solchen
Fällen der S. die Strafverfolgung. Die sogen. subsidiäre
Privatklage, d. h. das Recht des Verletzten, im Fall einer
Ablehnung der Strafverfolgung seitens der Staatsanwaltschaft diese
Strafverfolgung selbst zu betreiben, wurde in die
Strafprozeßordnung nicht aufgenommen, obwohl sich der
deutsche Juristentag dafür ausgesprochen hatte. Es ist aber
für den Fall, daß die Staatsanwaltschaft dem bei ihr
angebrachten Antrag auf Erhebung der öffentlichen Klage keine
Folge gibt, nicht nur das Recht der Beschwerde an die vorgesetzte
Dienstbehörde, sondern auch gegen einen ebenfalls ablehnenden
Bescheid der letztern die Berufung auf gerichtliche Entscheidung
statuiert. Diese geht von dem Oberlandesgericht und in den vor das
Reichsgericht gehörigen Sachen von diesem selbst aus. Auf
diese Weise ist also das sogen. Anklagemonopol der
Staatsanwaltschaft abgeschwächt. Übrigens kann die
Staatsanwaltschaft gerichtlichen Entscheidungen gegenüber auch
zu gunsten des Beschuldigten von den gesetzlich zulässigen
Rechtsmitteln Gebrauch machen. Endlich ist auch die
Strafvollstreckung Sache der Staatsanwaltschaft. In Preußen
liegt übrigens dem S. auch die Überwachung der durch das
Handelsgesetzbuch den Kaufleuten auferlegten Verpflichtungen ob.
Vgl. Deutsches Gerichtsverfassungsgesetz, § 142-153; Deutsche
Strafprozeßordnung, § 151-175, 225 ff., 483 ff.;
Österreichische Strafprozeßordnung, § 29 ff.;
Berninger, Das Institut der Staatsanwaltschaft (Erlang. 1861); von
Holtzendorff, Die Umgestaltung der Staatsanwaltschaft (Berl. 1865);
Keller, Die Staatsanwaltschaft in Deutschland (Wien 1866); Gneist,
Vier Fragen zur Strafprozeßordnung (das. 1874); König,
Die Geschäftsverwaltung der Staatsanwaltschaft in
Preußen (Berl. 1882); Tinsch, Die Staatsanwaltschaft im
deutschen Reichsprozeßrecht (Erlang. 1883); von Marck, Die
Staatsanwaltschaft bei den Land- und Amtsgerichten (Berl. 1884);
Massabiau, Manuel du ministère public (4. Aufl., Par. 1876,
3 Bde.; "Répertoire" dazu, 1885).

Staatsärar, s. v. w. Fiskus (s. d.).

Staatsarzneikunde, derjenige Teil der Medizin, welcher
der öffentlichen Gerichtsbarkeit und Gesundheitspflege dient.
Der Begriff fällt im gewöhnlichen Sprachgebrauch mit
demjenigen der gerichtlichen Medizin zusammen, das neuerrichtete
Institut für S. in Berlin enthält außer einem Raum
für die Leichenschau, in welchem unbekannte Verunglückte
zur Rekognoszierung ausgestellt werden, auch die zum Unterricht in
der gerichtlichen Medizin notwendigen Einrichtungen. Im weitern
Sinn gehören zur S.

200

Staatsausgaben - Staatsflandern.

größere Teile der Gesundheitspflege (s. d.), der
Medizinalpolizei, des Militärmedizinalwesens, allein sowohl im
akademischen Unterricht als in der praktischen Verwaltung sind
diese einzelnen Teile der S. völlig getrennte Fächer.
Vgl. Kraus und Pichler, Encyklopädisches Wörterbuch der
S. (Stuttg. 1872 bis 1878, 4 Bde.).

Staatsausgaben, s. Finanzwesen, S. 267.

Staatsbankrott, derjenige Zustand der Staatswirtschaft,
bei welchem der Staat, sei es mit, sei es ohne ausdrückliche
Erklärung, seine Schuldverbindlichkeiten nicht erfüllt
oder sich Einnahmen verschafft, welche mit der Verfassung oder doch
mit einer gesunden Finanzverwaltung im Widerspruch stehen. Wie
jeder Private, kann auch der Staat in die Lage kommen, daß er
unfähig wird, seinen Verpflichtungen zu genügen. Die
formellen Folgen, welche eine Insolvenz dem Privatmann
gegenüber hat, der Konkursprozeß, die Unfähigkeit
zu eigner Vermögensverwaltung, treten alsdann freilich dem
Staat gegenüber nicht ein, und es trägt demnach der S.
den Charakter eines einseitigen Gewaltaktes. Derselbe kommt in
folgenden Formen vor: 1) Repudiation der Staatsschulden, d. h. die
Erklärung, daß der Staat seine Schulden oder einen Teil
derselben überhaupt nicht verzinsen oder zurückzahlen
werde. Eine solche Weigerung kam früher oft beim Wechsel der
Regierung vor, indem die neue Regierung die von der frühern
eingegangenen Verpflichtungen als ungesetzlich erklärte
(einzelne nordamerikanische Freistaaten 1841, Dänemark 1850,
welches das Anlehen der vom Deutschen Bund in Schleswig-Holstein
eingesetzten Bundesregierung nicht anerkannte, Frankreich zur
Revolutionszeit); 2) Einstellung der Zahlungen auf unbestimmte
Zeit; 3) einseitige, d. h. ohne das Angebot etwaniger Heimzahlung,
also ohne die Zustimmung der Gläubiger, herbeigeführte
Zinsreduktion; 4) einseitige oder verhältnismäßig
zu hohe Besteuerung der Koupons der Staatsschulden, also eine
verschleierte Herabsetzung des Zinsfußes; 5) Ausgabe einer
übermäßigen Menge Papiergeldes mit Zwangskurs. Vom
moralischen Standpunkt muß jede Abweichung von der
Erfüllung der staatlichen Verpflichtungen um so mehr
verurteilt werden, als dieselbe mit einer der ersten Aufgaben des
Staats, der Wahrung der Rechtsordnung, im Widerspruch steht. Aber
auch in finanzieller Beziehung ist sie zu mißbilligen, da sie
für die Zukunft den Kredit des Staats erschwert und verteuert.
Solide Staatsverwaltungen werden deshalb auch den Bankrott zu
vermeiden suchen und sich bemühen, das Gleichgewicht zwischen
Einnahmen und Ausgaben durch wirtschaftliche Bemessung der
letztern, Reorganisation der Verwaltung und zweckentsprechende
Ausnutzung des Besteuerungsrechts herzustellen.

Staatsbetrieb, der Betrieb von Unternehmungen durch den
Staat, welche mehr oder weniger einen privatwirtschaftlichen
Charakter tragen. Derselbe kann ganz auf dem Boden des freien
Wettbewerbs stehen (Domänen, Forsten, Bergwerke), oder er ist
im finanziellen Interesse (z. B. bei dem Tabaksmonopol) oder aus
andern Gründen monopolisiert oder regasiert. Vgl.
Aufwandsteuern und Regalien.

Staatsbürger, im weitern Sinn jeder
Staatsangehörige (s. Staatsangehörigkeit); im engern Sinn
derjenige, welcher selbstthätig in der durch die Verfassung
bezeichneten Weise an den öffentlichen Angelegenheiten
teilnimmt. Zu den Rechten des Staatsbürgers in diesem Sinn
gehören insbesondere die Fähigkeit zu öffentlichen
Ämtern und das aktive und passive Wahlrecht. Dieses
Staatsbürgerrecht kann durch richterliches Urteil wegen
Verbrechen und durch Konkurs ganz oder vorübergehend entzogen
werden (s. Ehrenrechte).

Staatsbürgereid, s. Huldigung.

Staatsdienst, derjenige Dienst, der auf einem besondern,
von der Staatsgewalt ausgehenden Auftrag beruht und den
Beauftragten zur Verwaltung bestimmter Staatsangelegenheiten
anweist. Hiernach schließt man vom S. jeden Dienst aus, worin
nur die Erfüllung einer allgemeinen Bürgerpflicht liegt;
ferner jeden Dienst, der, wenn auch zu seiner Ausübung eine
Bevollmächtigung oder Bestätigung durch die Staatsgewalt
erforderlich ist, doch nicht Staatsangelegenheiten, sondern nur
Privatinteressen betrifft, welche den Staat bloß mittelbar
berühren, wie namentlich die Funktionen der Privat- und
Hofdiener des Fürsten, der Korporations- und Gemeindediener,
der Diener der Kirche und aller, welche, wie Ärzte und
Rechtsanwälte, nur die ihnen vom Publikum an vertrauten
Angelegenheiten besorgen; endlich jeden Dienst, der, wenn auch auf
öffentliche Zwecke gerichtet, doch nicht vom Inhaber der
Staatsgewalt übertragen wird (Mitglieder der
Ständeversammlung, Geschworne). Dagegen sind die Offiziere
Staatsdiener, wenn auch der Ausdruck S. zuweilen auf den
Zivildienst allein beschränkt wird. Insofern übrigens
Kommunalbeamte mit gewissen Funktionen betraut sind, die von dem
Staat auf die Gemeinde oder auf einen Kommunalverband
übertragen wurden, pflegt man dieselben als mittelbare
Staatsbeamte zu bezeichnen. Die Berufung zum S. geschieht durch das
Staatsoberhaupt, in der Regel auf gutachtliche Vorschläge der
vorgesetzten Behörden; bei Subalternbeamten pflegt die
Anstellung von der Oberbehörde kraft erteilter Vollmacht
seitens des Regenten auszugehen. Die Beschäftigung mit dem
öffentlichen Dienst ist in der Regel eine
ausschließliche, neben welcher andre regelmäßige
Erwerbsgeschäfte nicht betrieben werden dürfen. Daher
muß aber auch der Unterhalt durch ausreichende Besoldung
(Gehalt) und für den Fall unverschuldeter
Dienstuntüchtigkeit durch Gewährung eines Ruhegehalts
gesichert werden (s. Pension). In der Regel darf der Staat den
Beamten nicht ohne weiteres entfernen, sofern er nicht durch
Vergehen oder durch ihm zuzurechnende Dienstunfähigkeit die
Entfernung verschuldet. Ebensowenig kann der Beamte seinen Dienst
ohne weiteres verlassen. Der Beamte ist dem Staatsoberhaupt
Gehorsam schuldig und für seine Handlungen verantwortlich; er
steht unter der staatlichen Disziplinargewalt (s. d.). Der Gehorsam
ist aber nur ein verfassungsmäßiger; der Befehl
muß von der zuständigen Behörde und in der
gesetzmäßigen Form ergangen sein und in den Bereich des
Dienstes fallen, um Gehorsam beanspruchen zu können; auch darf
nichts gefordert werden, was dem allgemeinen Sitten- und dem
Rechtsgesetz entgegen ist. Eine eigentümliche Stellung nehmen
die Richter (s. d.) und die Minister (s. d.) ein, welch letztere
mit ihrer Verantwortlichkeit die Handlungen des Fürsten
decken. Im einzelnen sind die Rechtsverhältnisse der
Staatsdiener (Staatsbeamten) in den meisten Staaten durch besondere
Gesetze geregelt; für die deutschen Reichsbeamten insbesondere
ist dies durch Reichsgesetz vom 31. März 1873 (mit
Nachtragsgesetz vom 25. Mai 1887) geschehen (s. Reichsbeamte und
die dort angeführte Litteratur).

Staatseinnahmen, s. Finanzwesen, S. 268.

Staatsflandern, s. Flandern.

201

Staatsforstwissenschaft - Staatsrat.

Staatsforstwissenschaft, die Lehre von dem
Verhältnis des Staats zu den Forsten. Zur S. gehören die
Forstpolitik, welche lehrt, wie dies Verhältnis sein soll, und
das Forstverwaltungsrecht, welches das rechtlich geordnete
Verhältnis, wie es ist, darstellt. S. Forstpolitik u.
Forstverwaltung.

Staatsgarantie, die von der Staatsregierung
übernommene Bürgschaft, vermöge deren sie für
die vertragsmäßige Rückzahlung und Verzinsung einer
von einem Dritten gewirkten Schuld einsteht. Der
hauptsächlichste Fall einer solchen S. ist der, daß der
Staat, um das Zustandekommen eines im öffentlichen Interesse
wünschenswerten Eisenbahnbaues zu ermöglichen, den
Aktionären eine bestimmte Dividende "garantiert", d. h.
alljährlich für einen gewissen Prozentsatz einsteht,
für welchen er dann selbst aufzukommen hat, wenn und soweit
die Einnahmen der Bahn nicht ausreichen. Auch kommt es vor,
daß der Staat für die Verzinsung und Amortisation einer
Anleihe einsteht, welche im Interesse einer Eisenbahnanlage
kontrahiert wird. Zuweilen wird eine solche Eisenbahngarantie
seitens des Staats nur auf eine bestimmte Reihe von Jahren
übernommen, auch kommt dabei eine sogen. Rückgarantie
vor, welche darin besteht, daß gewisse bei dem Bahnbau
besonders interessierte Gemeinden, Korporationen etc. sich
verpflichten, den Staat für den Fehlbetrag, für welchen
er eventuell aufzukommen hat, ganz oder teilweise schadlos zu
halten. In konstitutionellen Staaten ist zur Übernahme einer
S. die Zustimmung der Volksvertretung nötig.

Staatsgefangene, Gefangene, welche nicht wegen eines
begangenen Verbrechens durch gerichtliches Urteil der Freiheit
beraubt waren, sondern die man eingekerkert hatte, weil es das
Interesse des Staats oder Fürstenhauses zu fordern schien.

Staatsgerichtshof, derjenige Gerichtshof eines Landes,
welcher über die gegen einen Minister erhobene Anklage wegen
Verfassungsverletzung zu entscheiden hat. In England ist die
Peerskammer der S., während in den meisten deutschen Staaten
das oberste Gericht des Landes die Funktionen des
Staatsgerichtshofs auszuüben hat oder, wie in Baden, Bayern,
Sachsen und Württemberg, ein besonderer Gerichtshof in solchem
Fall niedergesetzt wird, und zwar in der Weise, daß Krone und
Stände gleichmäßig dessen Besetzung bewirken. S.
wird auch die zur Entscheidung von Kompetenzkonflikten zwischen
Justiz- und Verwaltungsbehörden bestellte Behörde
genannt, endlich auch das zur Aburteilung schwerer politischer
Verbrechen bestellte Ausnahmegericht. Das deutsche
Gerichtsverfassungsgesetz (§ 136) verweist Verbrechen der
letztern Art, sofern sie gegen den Kaiser oder das Reich gerichtet
sind, vor das Reichsgericht.

Staatsgewalt, s. Staat, S. 195.

Staatsgrundgesetz, s. Staatsverfassung.

Staatsgut, s. v. w. Domäne (s. d.).

Staatshandbuch (Staatsadreßbuch, Staatskalender),
Namensverzeichnis der Beamten eines Staats, insbesondere die
offizielle Darstellung eines Hof- und Staatswesens unter
Aufführung aller oder doch der höhern Staats- und
Hofbeamten unter Hinzufügung genealogischer und statistischer
Notizen. Wahrscheinlich ist der französische "Almanach royal"
(1679 von dem Buchhändler Laurent Houry in Paris
gegründet) der Vorläufer der Staatshandbücher. Im
18. Jahrh. erschienen ähnliche Almanache nach und nach in
allen, selbst in den kleinsten, europäischen Staaten sowie in
den verschiedenen Gebieten des damaligen Deutschen Reichs. Die
ersten darunter waren: das "Namensregister für die vereinigten
Niederlande" (1700), der "Preußisch-brandenburgische
Staatskalender" (seit 1704), der "Regensburger Komitialkalender"
(seit 1720), der "Kursächsische Staatskalender" (seit 1728),
der englische "Royal calendar" (seit 1730) etc. Auch der
"Gothaische Genealogische Hofkalender" nebst
"Diplomatisch-statistischem Jahrbuch" (1889 im 126. Jahrgang
erscheinend) ist hier zu nennen. Wie jetzt für die meisten
europäischen Staaten amtlich redigierte Staatshandbücher
herausgegeben werden, z. B. für Preußen das "Handbuch
über den königlich preußischen Hof und Staat", so
wird auch ein "Handbuch für das Deutsche Reich" (Berl. 1876
ff.) vom Reichsamt des Innern herausgegeben.

Staatshaushalt, s. Finanzwesen und Budget.

Staatshaushaltskontrolle, die Gesamtheit derjenigen
Einrichtungen, durch welche festgestellt werden soll, ob die
Finanzverwaltung des Staats unter Beobachtung des Etatsgesetzes und
der sonstigen gesetzlichen Schranken erfolgt ist. Die Befugnis der
Volksvertretung, nach Ablauf der Budgetperiode die Staatsrechnungen
zu prüfen und die Entlastung der Staatsregierung
auszusprechen, ist eine notwendige Folge des Budgetrechts selbst.
Dieser parlamentarischen S. geht aber regelmäßig eine
Prüfung der Staatsrechnungen durch eine unabhängige
Revisionsbehörde voraus, so z. B. in Preußen durch die
Oberrechnungskammer (s. d.), welche auch als Rechnungshof für
das Deutsche Reich fungiert. In manchen Kleinstaaten findet diese
Vorprüfung durch einen Finanzausschuß des Landtags unter
Zuziehung eines Finanzministerialbeamten statt.

Staatshoheit (Souveränität), die dem Staat als
solchem zukommende Unabhängigkeit, vermöge deren er
selbst sich die Gesetze seines Handelns gibt und an fremden Staaten
nur die gleiche Unabhängigkeit zu achten hat. Die S. ist mit
dem Dasein des Staats selbst gegeben, ohne daß es der
völkerrechtlichen Anerkennung bedarf; vielmehr kann und
muß jeder Staat die Achtung seiner S. von andern Staaten
fordern. Thatsächliche Verhältnisse haben aber zur
Bildung halb souveräner Staaten geführt, welche der
Oberhoheit (Suzeränität) eines andern unterworfen sind;
auch kommen in den sogen. zusammengesetzten Staaten
Beschränkungen der S. der Einzelstaaten im Interesse des
Gesamtstaats vor (s. Staat).

Staatskreditzettel, s. v. w. Schatzscheine (s. d.).

Staatskunst, s. Politik.

Staatsministerium, s. Minister.

Staatsnotrecht, s. Notrecht.

Staatspapiere nennt man alle Schuldverschreibungen,
welche über die Einzelbeträge ausgestellt sind, in die
eine vom Staat aufgenommene Schuld zerlegt ist. Im weitern Sinn
umfassen sie auch die unverzinslichen Papiere (Papiergeld oder
Staatsnoten, Kassenanweisungen), im engern nur die verzinslichen
(Staatsobligationen, Staatseffekten, Schatzscheine), bez. mit
Gewinnaussicht verbundenen (Prämienscheine, Losbriefe). Vgl.
Staatsschulden.

Staatspraxis, s. v. w. praktische Politik.

Staatsrat, Kollegium, welches die wichtigsten
Staatsangelegenheiten in gutachtliche Beratung zieht und sich
über die Grundsätze für deren weitere Behandlung
ausspricht. Durch das Vertrauen des Fürsten aus hochgestellten
und erfahrenen Personen berufen, hat der S. die Aufgabe, Einheit in
die Maßregeln der einzelnen großen Verwaltungszweige zu
bringen und demnach teils die Organisation der Staatsverwaltung im
ganzen, teils die Grundlagen der Gesetzgebung, teils die
auswärtigen Verhältnisse

202

Staatsrechnungshof - Staatsromane.

zu beraten. In Preußen (Verordnungen vom 20. März
1817 und 6. Jan. 1848) war der S. bis 1848 eine wichtige
Institution, deren Bedeutung jedoch mit der Entwickelung des
Konstitutionalismus nahezu aufhörte, wenn auch ein Erlaß
vom 12. Jan. 1852 eine Wiederbelebung versucht hat. Auch der 1884
gemachte Wiederbelebungsversuch und die Übertragung des
Vorsitzes auf den damaligen Kronprinzen Friedrich Wilhelm hatten
keinen nennenswerten Erfolg. Der S. setzt sich zusammen aus den
Prinzen des königlichen Hauses, sobald sie das 18. Lebensjahr
erreicht haben, und aus den Staatsdienern, welche durch ihr Amt zu
Mitgliedern des Staatsrats berufen sind, nämlich dem
Präsidenten des Staatsministeriums, den Feldmarschällen,
den aktiven Staatsministern, dem Chefpräsidenten der
Oberrechnungskammer, dem Geheimen Kabinettsrat und dem Chef des
Militärkabinetts. Ferner haben die kommandierenden Generale
und die Oberpräsidenten, wenn sie in Berlin anwesend sind,
Sitz und Stimme im S. Dazu kommen dann diejenigen Staatsdiener,
welchen aus besonderm königlichen Vertrauen Sitz und Stimme im
S. beigelegt ist. Derartige Ernennungen erfolgten 1884 in
beträchtlicher Anzahl. Auch in Bayern, Elsaß-Lothringen,
Sachsen und Württemberg besteht ein S. Vgl. Sailer, Der
preußische S. (Berl. 1884). In der absoluten Monarchie,
insbesondere in Rußland, ist der S. (in Rußland
"Reichsrat") eine Art Ersatz der Volksvertretung. In manchen
Staaten ist S. auch Titel für höhere Staatsbeamte,
namentlich für die verantwortlichen Vorstände von
Ministerialabteilungen, in Rußland auch für verdiente
Gelehrte.

Staatsrechnungshof, s. Oberrechnungskammer.

Staatsrecht (Jus publicum) im weitern Sinn s. v. w.
öffentliches Recht; im engern und eigentlichen und zwar im
subjektiven Sinn wird damit unter Ausscheidung des Straf- und
Prozeßrechts, des Kirchen- und Völkerrechts der
Inbegriff der Rechte und Pflichten bezeichnet, welche durch das
Staatswesen für die Regierung und für die Regierten im
Verhältnis zueinander und für die letztern untereinander
begründet, im objektiven Sinn die Gesamtheit derjenigen
Rechtsgrundsätze, durch welche jene Rechte und Pflichten
normiert werden. Je nachdem nun diese Grundsätze unmittelbar
aus dem Begriff und aus dem Wesen des Staats überhaupt
abgeleitet und entwickelt werden, oder je nachdem es sich um die
positiven Satzungen eines bestimmten Staats, z. B. des Deutschen
Reichs, handelt, wird zwischen allgemeinem (philosophischem,
natürlichem) und besonderm (positivem, historischem) S., z. B.
dem S. des Deutschen Reichs, unterschieden. Ferner unterscheidet
man nach den Gegenständen, auf welche sich jene Satzungen
beziehen, zwischen äußerm und innerm S., je nachdem es
sich um die äußern Verhältnisse und um die Stellung
des Staats andern Staaten gegenüber oder um innere
Staatsangelegenheiten handelt. Für Deutschland insbesondere
war zur Zeit des frühern Deutschen Reichs die Einteilung in
Reichsstaatsrecht und Territorial- oder Landesstaatsrecht von
Wichtigkeit, indem man damit die auf Verfassung und Regierung des
Reichs bezüglichen Satzungen den für die einzelnen
Territorien besonders gegebenen staatsrechtlichen Bestimmungen
gegenüberstellte, eine Einteilung, welche nach der Errichtung
des neuen Deutschen Reichs, und nachdem so die bisherige Einteilung
in Bundesrecht und Landesstaatsrecht hinweggefallen, wiederum
praktische Bedeutung gewonnen hat. Ferner pflegt man neuerdings aus
dem S. das Verwaltungsrecht auszuscheiden, als den Inbegriff
derjenigen Rechtsgrundsätze, nach welchen sich die
Thätigkeit der Verwaltungsorgane in den einzelnen Fällen
richtet. Dem S. (Verfassungsrecht) verbleibt alsdann die Lehre von
dem Herrschaftsbereich und von der Organisation der Staatsgewalt
(Monarch, Volksvertretung, Behörden, Kommunalverbände),
von ihren Funktionen und von den Rechtsverhältnissen der
Unterthanen. Die staatsrechtliche Litteratur, namentlich die
deutsche, ist eine sehr reichhaltige. Die zahlreichen Publizisten
des 16. und 17. Jahrh., unter denen besonders Pufendorf, Leibniz,
Cocceji und Thomasius zu nennen sind, wurden von J. J. Moser durch
die Gründlichkeit, womit er in seinen zahlreichen Schriften
die verschiedenen Zweige des Staatsrechts behandelte, und von
Pütter, dem größten Staatsrechtslehrer des vorigen
Jahrhunderts, übertroffen, welcher auf historischer Grundlage
zuerst einer systematischen Bearbeitung des Staatsrechts die Bahn
eröffnete. Unter den neuern Systemen des Staatsrechts sind die
von Zachariä (3. Aufl., Götting. 1865-67, 2 Bde.),
Zöpfl (5. Aufl., Leipz. 1863), Held (Würzb. 1856-57, 2
Bde.), Gerber (3. Aufl., Leipz. 1880), Laband (Tübing.
1876-82, 3 Bde.), G. Meyer (2. Aufl., Leipz. 1885), Zorn (Berl.
1880-83, 2 Bde.), H. Schulze (Leipz. 1881), Kirchenheim (Stuttg.
1887) und Gareis u. Hinschius (Freib. 1887) hervorzuheben. Unter
den Bearbeitungen des partikulären Staatsrechts, von welchen
besonders die von Schulze (Preußen), Mohl (Württemberg),
Pözl (Bayern), Milhauser (Sachsen) und Wiggers (Mecklenburg)
zu nennen sind, steht Rönnes "S. der preußischen
Monarchie" (4. Aufl., Leipz. 1882 ff., 5 Bde.) obenan. Ebenso ist
unter den systematischen Bearbeitungen des deutschen
Reichsstaatsrechts der Gegenwart das Werk von Rönne (2. Aufl.,
Leipz. 1877) wegen seiner Reichhaltigkeit und Gründlichkeit
von Bedeutung. Um die Bearbeitung des allgemeinen Staatsrechts hat
sich namentlich Bluntschli verdient gemacht, welcher in der
"Deutschen Staatslehre für Gebildete" (2. Aufl.,
Nördling. 1880) auch eine populäre Darstellung des
Staatsrechts zu geben versuchte. Vgl. außer den
angeführten Lehr- u. Handbüchern des Staatsrechts:
Bluntschli, Lehre vom modernen Staat (Stuttg. 1875 ff.), Bd. 1.
"Allgemeine Staatslehre", Bd. 2: "Allgemeines S." (6. Aufl. des
frühern Werkes, welches unter diesem Titel erschien), Bd. 3:
"Politik"; Sarwey, Das öffentliche Recht und die
Verwaltungsrechtspflege (Tübing. 1880); Marquardsen, Handbuch
des öffentlichen Rechts der Gegenwart (in
Einzelbeiträgen, Freib. 1885 ff.); Hirth, Annalen des
Deutschen Reichs (Leipz. 1871 ff.). Encyklopädische Werke:
Rotteck u. Welcker, Staatslexikon (3. Aufl., Leipz. 1856-66, 14
Bde.); Bluntschli und Brater, Staatswörterbuch (Stuttg.
1856-70, 11 Bde.); kleinere Lexika von K. Baumbach (Lpz. 1882),
Rauter (Wien 1885) u. a.

Staatsromane, Schriften, welche in der Form eines Romans
die Zustände und Einrichtungen eines Staats behandeln, und
zwar indem sie "den realen Erscheinungen des staatlichen Lebens
gegenüber ein Ideal aufstellen, welchem sie das Gewand der
Wirklichkeit geben". Werke ähnlicher Art finden sich schon bei
den Griechen; wir erinnern nur an Platons "Republik" und Xenophons
"Kyropädie". In der modernen Litteratur eröffnete den
Reigen der S. Thomas Morus' "Beschreibung der Insel Utopia (1515),
der sich ein Jahrhundert später des Dominikanermönchs
Thomas Campanella "Sonnenstaat" ("Civitas solis", 1620; deutsch von
Grün, Darmst. 1845), J. Valentin Andreäs "Reipublicae
christiano-poli-

203

Staatsschatz - Staatsschulden.

tanae descriptio" (1619), Bacons "Nova Atlantis" (geschrieben um
1624), Harringtons "Oceana" (1656) u. a. anreihten. Aus
späterer Zeit sind hervorzuheben: Fénelons
"Télémaque" (1700) nebst Ramsays "Voyages de Cyrus"
(1727); Holbergs "N. Klimii iter subterraneum" (1741); Morellys
"Naufrage des îles flottantes, ou la Basiliade" (1753) und
"Code de la nature" (1755); Stanislaus Leszczynskis "Entretien d'un
Européen avec un insulaire du royaume de Dimocala" (1756);
Fontenelles (?) "République des philosophes" (1768); Albr.
v. Hallers Romantrilogie "Usong" (1771), "Alfred, König der
Angelsachsen" (1773) und "Fabius und Cato" (1774); Wielands
"Goldener Spiegel" (1772); Cabets "Voyage en Icarie" (1840) u.a.
Vgl. R. v. Mohl, Die S. (in seiner "Geschichte und Litteratur der
Staatswissenschaften", Bd. 1, Erlang. 1855).

Staatsschatz, s. v. w. Staatskasse, insbesondere ein
Vorrat an barem Geld, welcher vom Staat für
außergewöhnliche Bedürfnisse, vornehmlich zur
Deckung der ersten großen Ausgaben vor Ausbruch und bei
Beginn eines Kriegs zurückgelegt und unter besonderer
Verwaltung gehalten wird. Ein solcher Schatz wurde früher von
Herrschern im dynastischen Interesse (Perser, orientalische
Fürsten) erhalten. Gegenwärtig hat nur das Deutsche Reich
einen S. von Bedeutung. In Preußen, wo Friedrich Wilhelm I.
einen ansehnlichen S. bildete, mußten
Etatsüberschüsse, sofern über dieselben nicht
anderweit durch Gesetz verfügt war, in den S. abgeliefert
werden, ohne daß für die Höhe eine Grenze gesetzt
war. 1866 wurde, nachdem der vorhandene Schatz für
Kriegszwecke verwandt worden war, ein neuer S. im Betrag von 30
Mill. Thlr. gebildet. An dessen Stelle ist 1871 der
Reichskriegsschatz (s. d.) getreten. Die volkswirtschaftlichen,
teilweise aus merkantilistischen Überschätzungen des
Geldes hervorgegangenen Bedenken, welche man früher gegen den
S. hegte, als werde durch denselben dem Verkehr produktives Kapital
entzogen, halten nicht Stich gegenüber dem Bedürfnis, bei
unvermutetem Ausbruch eines Kriegs auf eine bereite Summe rasch
zurückgreifen zu können, ohne durch sofortige
Ausschreibung von Kriegssteuern Mißtrauen zu erregen oder
sich der Gefahr auszusetzen, bei Auflegung eines Anlehens nicht die
ganze gewünschte Summe zu erhalten oder dasselbe zu allzu
niedrigem Kurs begeben zu müssen. Wie viele andre Güter,
welche für den Fall eines Bedürfnisses bereit gehalten
werden müssen, ist der S., auch wenn er keine Zinsen
trägt, keineswegs als totes Kapital zu betrachten, sobald er
nur seinen Zweck erfüllt. Übrigens ist die Notwendigkeit
der Ansammlung eines Staatsschatzes eine durchaus relative, indem
sie durch die politische Stellung des Staats, Beschaffenheit des
Staatsgebiets, Ausbildung des Kreditwesens etc. bedingt ist.

Staatsschrift, s. Deduktion.

Staatsschuldbuch, amtliches Register, in welches
Darlehnsforderungen an die Staatskasse in der Form von Buchschulden
eingetragen werden können. Nach dem preußischen Gesetz
vom 20. Juli 1883 kann der Inhaber einer Schuldverschreibung der
konsolidierten Staatsanleihe gegen Einlieferung des Schuldbriefs
die Eintragung dieser Schuld in das bei der Hauptverwaltung der
Staatsschulden geführte S. beantragen. Dadurch entsteht eine
Buchschuld des Staats auf den Namen des eingetragenen
Gläubigers. Dieser Eintrag vertritt die Stelle einer
Obligation. Der Gläubiger erhält zwar über den
erfolgten Eintrag eine Benachrichtigung, allein diese
Benachrichtigung ist auch nichts weiter als eine solche; sie
repräsentiert nicht wie die Staatsobligation die Forderung
selbst. Da noch ein zweites Exemplar des Staatsschuldbuchs an einem
andern Ort geführt wird, so ist durch das S. der Vorteil einer
absoluten Sicherheit gegeben. Das S. ist so für Stiftungen,
Fideikommisse, vormundschaftliche und ähnliche
Vermögensverwaltungen, aber auch für einzelne
Privatpersonen von großer Wichtigkeit. Durch Löschung
der Buchschuld und Ausreichung eines neuen Inhaberschuldbriefs kann
der betreffenden Forderung die Zirkulationsfähigkeit
wiedergegeben werden. Vgl. "Amtliche Nachrichten über das
preußische S." (3. Ausg., Berl. 1888). In Frankreich wurde
ein S. (Grand-livre de la dette publique) schon durch Gesetz vom
24. Aug. 1793 eingeführt.

Staatsschulden. Auch bei durchaus geordnetem Staatsleben
ist eine unmittelbare Deckung der erforderlichen Ausgaben nicht
immer möglich. Oft können Leistung und Gegenleistung der
Natur der Sache nach sich nicht sofort begleichen, und es sind
infolge dessen Kreditverträge unvermeidlich. Hieraus
entspringen die sogenannten Verwaltungsschulden, d. h. diejenigen,
welche aus der Wirtschaftsführung der einzelnen
Verwaltungszweige hervorgehen, und die innerhalb des Rahmens der
diesen Zweigen überwiesenen Kredite oder ihrer eignen
Einnahmen ihre Tilgung finden (A. Wagner). Zu unterscheiden hiervon
sind die Finanzschulden, d. h. solche, welche die allgemeine
Finanzverwaltung macht. Dieselben werden zum Teil nur zu dem Zweck
aufgenommen, um in einer Finanzperiode den Etat
kassengeschäftlich durchzuführen. Einnahmen und Ausgaben
sind in einer solchen Periode nicht immer gleich hoch, wenn sie
sich auch summarisch begleichen. Erfolgen die Einnahmen erst
später, während vorher die entsprechenden Ausgaben zu
bestreiten sind, so kann man sich durch Aufnahme einer
vorübergehenden Anleihe, einer sogen. schwebenden Schuld
(franz. dette flottante, engl. Floating debt, flottierende Schuld,
auch unfundierte Schuld genannt) helfen, deren Rückzahlung mit
Hilfe jener bestimmten Einnahmen in Aussicht genommen werden kann.
Die übliche Form solcher Schulden ist die Ausgabe von
verzinslichen, zu festgesetzter Zeit wieder einlösbaren
Schatzscheinen (s. d.). Dem Wesen nach sind hierher auch alle
diejenigen Schulden zu rechnen, welche dazu dienen, um
Störungen infolge unerwarteter Mindereinnahmen oder
Mehrausgaben zu begleichen, die in der folgenden Finanzperiode ihre
Deckung finden sollen und meist ebenfalls durch Begebung von
Schatzscheinen aufgenommen werden können. Solche schwebende
Schulden werden oft prolongiert und dadurch thatsächlich zu
dauernden. Sie werden aber auch oft, wenn die Finanzverwaltung mehr
nur die Bedürfnisse der Gegenwart ins Auge faßt, formell
in bleibende oder fundierte Schulden umgewandelt. Überhaupt
gehören zu den schwebenden Schulden alle kurzfristigen und
stets fälligen Verbindlichkeiten, insbesondere die
verschiedenen Depositenschulden, welche in Frankreich (Caisse des
depôts et des consignations) einen hohen Betrag ausmachen.
Ursprünglich bezeichnete man als fundierte Schulden solche,
für deren Verzinsung und Tilgung bestimmte Einnahmen
vorgesehen oder auch verpfändet waren. Heute, wo diese Art der
Fundierung meist außer Gebrauch gekommen ist, nennt man
fundierte Schulden schlechthin solche, für welche eine rasche
Rückzahlung nicht vorgesehen oder eine bestimmte
Tilgungspflicht nicht übernommen wird. Da grund-

204

Staatsschulden (Arten der Staatsanleihen, Emission).

sätzlich die ordentlichen Ausgaben durch ordentliche
Einnahmen gedeckt werden sollen, so dürfte die Aufnahme von
dauernden Schulden nur in Frage kommen, wenn es sich darum handelt,
Mittel zur Ermöglichung außergewöhnlicher
Aufwendungen zu beschaffen, wie sie im Interesse des Schutzes und
der Selbsterhaltung (Krieg) oder in demjenigen einer positiven
Wohlfahrtsförderung durch Ausführung kostspieliger
Unternehmungen (Meliorationen, Flußregulierungen, Bahnbau
etc.) nötig werden. Da nun in solchen Fällen alle
Aufwendungen tatsächlich jetzt schon gemacht werden, so sind
auch alle Opfer von der Gesamtheit heute schon zu tragen, sie
können nicht der Zukunft durch Aufnahme von Anlehen
zugewälzt werden. Dieser Umstand gab zur Forderung
Veranlassung, es sollten auch alle außerordentlichen Ausgaben
durch Besteuerung gedeckt werden. Man übersieht jedoch
hierbei, daß alle Ausgleichungen von Störungen des
volkswirtschaftlichen Gleichgewichts mit Opfern verknüpft
sind, ferner daß, wenn auch bei der Steuer wie beim Anlehen
die jetzt aufzulegende Last die gleiche ist, doch nicht in beiden
Fällen die gleichen Personen als Träger derselben
erscheinen. Die Steuer muß von allen Staatsangehörigen
entrichtet werden ohne Rücksicht darauf, ob die Summen
überall gleich verfügbar sind. Bei dem freiwilligen
Anlehen werden dagegen vorwiegend die disponibleren Summen
angeboten. Strömt bei demselben auch Kapital aus dem Ausland
zu, so führt die augenblickliche örtlich-persönliche
Übertragung der Last auch für das ganze Volk zu einer
zeitlichen, indem die jetzige Aufwendung von einer spätern
Generation bei der Tilgung getragen wird. Was hier von Volk zu
Volk, das tritt im andern Fall von Klasse zu Klasse ein. Insofern
kommt auch hier eine zeitliche Überwälzung der Last vor.
Eine solche Überwälzung ist an und für sich
gerechtfertigt, wenn den spätern Steuerträgern auch die
Vorteile der außerordentlichen Aufwendung zu gute kommen. Zu
ungunsten der Besteuerung kann noch weiter der Umstand sprechen,
daß die Veranlagung derselben praktisch immer unvollkommen
ist, Ungleichmäßigkeiten aber um so schwerer empfunden
werden, je höher die Steuer ist. Hiernach kommen bei der
Frage, ob Anlehen oder Besteuerung, im wesentlichen die Wirkung der
Steuerauflegung und die der außerordentlichen Aufwendung in
Betracht. Ist letztere sehr hoch, und kommt sie den spätern
Staatsangehörigen vorzüglich zugute, so ist das Anlehen,
im andern Fall die Besteuerung am Platz. Da nun ersteres die
Möglichkeit der Lastenüberschiebung bietet, so gibt es
allerdings leicht Veranlassung zu unwirtschaftlichen Mehrausgaben,
welche unterblieben wären, wenn man sie sofort hätte
decken müssen. Für das Anlehen wird weiter geltend
gemacht, daß dasselbe Gelegenheit zu sicherer Kapitalanlage
biete, infolgedessen zu Fleiß und Sparsamkeit anrege und in
den Gläubigern konservative staatserhaltende Kräfte
schaffe, während freilich damit auch die Bildung
müßiger Rentnerexistenzen veranlaßt wird.

Arten der Staatsanleihen. Emission.

Man unterscheidet freiwillige und erzwungene oder
Zwangsanleihen. Zu letztern rechnet man die Einziehung von Bank-
und Kautionskapitalien, Einstellung fälliger Zahlungen,
erzwungene Steuervorschüsse, die eigentlichen Zwangsanleihen
mit Zins- und Tilgepflicht, dann auch die Ausgabe von Papiergeld.
Die eigentlichen Zwangsanleihen, früher auch patriotische
Anleihen genannt, kommen beider heutigen Kreditentwickelnng nur
noch selten vor, und man greift in der Not schon lieber zum Mittel
der Ausgabe von Papiergeld (s. d.). Letzteres bildet jedoch als
unverzinsliche Schuld ein verlockendes, deshalb aber auch
gefährliches Mittel. Der Verkehr wird jeweilig bis zu einer
gewissen Menge Papiergeld willig annehmen, ohne daß der Kurs
unter pari sinkt. Dies geschieht jedoch, sobald jene Grenze
überschritten wird, ohne daß dafür gesorgt ist,
daß die überschüssige Menge bei vorhandenen
Einlösungsstellen wieder zurückfließen kann. Der
Zwangskurs führt somit von jener Grenze ab zur Entwertung,
welche für Geldwesen, Verkehr und Staatskredit gleich
schädlich ist. Die freiwilligen Anlehen sind innere, wenn sie
im Inland aufgelegt werden, was jedoch nicht ausschließt,
daß sich bei denselben auch fremdes Kapital beteiligt. Die
äußern Anlehen werden im Ausland aufgenommen und lauten
dann auf fremde Währung oder auf mehrere in ein festes
Verhältnis zu einander gesetzte Geldsorten. Bei unentwickeltem
Kredit müssen den Gläubigern besondere Sicherheiten
bestellt werden. Dies geschah früher durch Verpfändung
von Domänen und Landesteilen, durch "Radizierung" von
Verzinsung und Tilgung auf bestimmte Einnahmequellen, welche auch
oft den Gläubigern zur eignen Verwaltung überwiesen
wurden. In modernen Kulturstaaten mit entwickeltem Kredit ist die
Verpfändung nicht mehr nötig. An ihre Stelle tritt der
allgemeine auf Reichtum des Volkes u. Vertrauenswürdigkeit
seiner Regierung gegründete Staatskredit, von dessen Höhe
Zins und Emissionskurs abhängen.

Die Begebung (Emission) von Staatsanleihen erfolgt entweder auf
direktem Weg, indem der Staat sich unmittelbar an die Kapitalisten
wendet, oder indirekt, indem der Staat sich der
Zwischenhändler bedient. Im erstern Fall kann der Staat die
Anlehenspapiere (Staatsschuldscheine, Staatspapiere) auf eigne
Rechnung durch Agenten und Makler gegen Provision verkaufen
(Kommissionsanleihe, weil das Zusammenbringen der Zeichnungen in
Kommission gegeben wird), was bei kleinen Beträgen anwendbar
ist, bei großen leicht einen Kursdruck bewirkt, oder er
befolgt das französische System des beständigen
Rentenverkaufs durch Hauptsteuereinnehmer, welche das Recht haben,
Inskriptionen im großen Buch vorzunehmen und Schuldtitel
auszustellen, oder endlich, er beschreitet bei großem Bedarf
den Weg der Auflegung zur allgemeinen öffentlichen
Subskription. Bei letzterer werden die Kapitalbesitzer unmittelbar
aufgefordert, an bestimmten Stellen (Zeichen-,
Subskriptionsstellen) ihre Erklärung zur Beteiligung an dem
Anlehen in vorgeschriebener Weise kundzugeben und gegen meist
ratenweise Einzahlung die betreffenden Dokumente in Empfang zu
nehmen. Wird der geforderte Betrag überzeichnet, so findet
gewöhnlich eine Reduktion nach Verhältnis der
gezeichneten Summen statt. Die indirekte Emission (Negoziation)
kommt meist in der Form der Submission vor. Der Staat fordert
größere Geldinstitute, bez. Bereinigungen von solchen
(Konsortien) auf, ein Angebot zu stellen, leiht die erforderliche
Summe von demjenigen, welcher sich unter sonst gleich
günstigen Bedingungen mit dem geringsten Gewinnsatz
begnügt, also den höchsten Kurs zahlt, und
überliefert ihm hierauf die bedungenen Obligationen, welche
der Darleiher bei dem Publikum durch Subskription, Verkauf an der
Börse oder sonst unter der Hand zu möglichst hohem Kurs
auf eigne Rechnung unterzubringen sucht. Der gewöhnlich in
Prozenten des Anleihekapitals ausgedrückte Gewinn, den hierbei
der Übernehmer der Anleihe er-

205

Staatsschulden (Kündigung, Tilgung, Konversion).

zielt, heißt Bonus. Derselbe kann um so kleiner sein, je
größer der Staatskredit und je mehr Kapital auf dem
Geldmarkt zur Verfügung steht. Auch können die
Unternehmer, statt unmittelbar die Obligationen an den Staat zu
bezahlen, die Garantie für ein bestimmtes
Minimalerträgnis übernehmen. Diese Form der Emission
bietet den Vorteil, daß die gewünschte Summe
vollständig beschafft wird und alle einzelnen Punkte in Bezug
auf Zahlung, Raten und Fristen von vornherein festgestellt werden
können. Dagegen kommt sie leicht sehr teuer, wenn die
Darleiher wegen hohen Risikos auf hohen Gewinn rechnen müssen.
Darum wird, wenn die Summe nicht plötzlich ihrem vollen Betrag
nach aufzubringen ist und der Kredit des Darlehensnehmers einen
hohen Emissionskurs anzusetzen gestattet, ohne daß aus einem
submissionsweisen Unterbieten erhebliche Vorteile zu erwarten
wären, die direkte Emission am Platze sein. In besonders
kapitalreichen Ländern, welche der Garantie durch Bankiers
nicht bedürfen, werden mit der Subskription überhaupt
leicht günstigere Erfolge erzielt.

Die Anlehenspapiere werden meist unter pari begeben, so
daß der wirkliche Zinssatz unter den Nominalzinsfuß zu
stehen kommt. Je höher der vom Nominalbetrag gewährte
Zins, um so höher kann der Emissionskurs sein. Ob nun ein
niedriger Nominalzinsfuß mit geringem oder ein hoher mit
hohem Kurs vorzuziehen ist, hängt im wesentlichen von der Art
der Tilgung und den Schwankungen des landesüblichen Zinssatzes
ab. Ist ein Sinken des Zinses wahrscheinlich und Gefahr vorhanden,
daß der Staat kündigt, sobald der Kurs über pari
gestiegen ist, so wird die Neigung größer sein, Papiere
zu nehmen, die zu geringem, als solche, die zu hohem Nominalzins
ausgeboten werden. Infolgedessen werden Papiere der erstern Art zu
verhältnismäßig höherm Kurs begeben werden
können. Allerdings wird damit auch die Tilgung erschwert,
indem bei der Einlösung der Nennbetrag zurückzuzahlen
ist.

Die Staatsschuldscheine lauten entweder auf den Inhaber oder auf
Namen. Im letztern Fall werden die Namen der Besitzer im
Staatsschuldbuch (s. d.) eingetragen. Die Übertragung auf
Dritte erfolgt durch Umschreibung, kann aber auch durch Ausgabe von
Certifikaten (s. d.) erleichtert werden. Einzelne Staaten besorgen
auf Wunsch die Umwandlung von Inhaberpapieren in Namenpapiere und
umgekehrt (vgl. Außerkurssetzung). Die Papiere selbst
bestehen aus der eigentlichen Schuldurkunde und, wenn sie
periodisch auszuzahlende Zinsen tragen, aus dem meist mit einem
Talon versehenen Kouponbogen (s. Koupon). Der Nominalbetrag lautet
auf abgerundete Summen, und zwar sind die Appoints so zu
wählen, daß auf genügende Beteiligung desjenigen
Publikums gerechnet werden darf, dessen Zuziehung als
erwünscht erscheint.

Kündigung. Tilgung.

Die Staatsschuld kann sein 1) eine von beiden Seiten
aufkündbare. Eine solche kann zur Bedrängnis der
Finanzverwaltung führen. Sie ist deshalb um so weniger zu
empfehlen, als die Erfahrung lehrt, daß den Gläubigern
ein freies Kündigungsrecht nicht eingeräumt zu werden
braucht; 2) eine von beiden Seiten unaufkündbare und zwar
entweder mit festem Rückzahlungstermin oder ohne solchen. In
die letztere Klasse gehört die echte ewige Rente, welche nur
dadurch getilgt werden kann, daß die Rententitel an der
Börse zurückgekauft werden; in die erstere Klasse
gehören die temporären oder Zeitrenten, wie die
eigentlichen Zeitrenten oder Annuitäten (s. d.), durch deren
Zahlung in bestimmter Frist das Kapital verzinst und getilgt wird,
dann dem Wesen der Sache nach die Leibrenten und Tontinen (s.
Rente), ferner die Lotterieanlehen (s. Lotterie) sowie diejenigen
Obligationen, bei denen bestimmte Tilgungstermine festgesetzt sind
und durch Verlosung die zu tilgenden Serien und Nummern
festgestellt werden. Die Schuld kann endlich auch sein 3) eine nur
vom Staat, nichts aber auch vom Schuldner jederzeit
aufkündbare (terminable, amortisierbare Anlehen, deren Titel
gewöhnlich schlechthin Obligationen genannt werden). Hierher
sind auch viele Rentenschulden zu rechnen wie z. B. die englischen
Konsols, deren Rentenverschreibungen (bonds) sich auf eine
bestimmte Kapitalsumme beziehen, zu welcher der Staat jederzeit
einlösen kann. Bisweilen wird auch eine Minimal- und eine
Maximalfrist für die Rückzahlung bestimmt, innerhalb
deren die Verwaltung freie Hand hat. Eine Verpflichtung zur Tilgung
zu bestimmter Zeit kann für die Finanzverwaltung sehr
lästig werden. Die Tilgung kann dann leicht zu einem Zeitpunkt
stattfinden, in welchem keine Mittel verfügbar oder gar zu
großen außerordentlichen Aufwendungen Anlehen
aufgenommen werden müssen. Alsdann kann leicht der Fall
eintreten, daß nicht allein neue Schulden lediglich zu dem
Zweck gemacht werden müssen, um alte heimzuzahlen, sondern
daß auch neue Anlehen unter ungünstigern Bedingungen
abgeschlossen werden. Aus diesem Grund empfiehlt es sich auch
nicht, einen besondern Tilgungsfonds (s. d.) zu bilden, sondern
vielmehr jeweilig Tilgungen vorzunehmen, wenn die Einnahmen die
Ausgaben übersteigen. Allerdings wäre im Interesse eines
geordneten Staatshaushalts schon bei Aufstellung des Budgets darauf
zu sehen, daß auch wirklich vorteilhafte Tilgungen
stattfinden können. Andernfalls würde Schuld auf Schuld
gehäuft und eine unbillige Lastenabwälzung bewirkt.
Für die technische Erledigung der Geschäfte, welche sich
an die Staatsschulden anknüpfen, sind besondere Stellen
erforderlich, und zwar können hierfür entweder besondere
Behörden und Kassen (Staatsschuldenverwaltung, Amortisations-,
Schuldentilgungskasse) eingerichtet oder auch Banken mit der
Besorgung beauftragt werden. Für Kontrolle der
Staatsschuldenverwaltung werden in mehreren Staaten aus den
Mitgliedern der Volksvertretung besondere
Staatsschuldenkommissionen gebildet. Ist der Staat nicht durch
einen Verlosungsplan oder überhaupt durch einen Vertrag an die
Tilgung gebunden, und hat er freies Kündigungsrecht, so kann
er Obligationen aufrufen und zum Nominalbetrag heimzahlen oder
dieselben durch Agenten an der Börse aufkaufen lassen.
Ersteres empfiehlt sich, wenn bei sinkendem Zinsfuß der Kurs
der Papiere über pari steigt, letzteres, wenn bei niedrigem
Kurs verfügbare Geldbestände in der genannten Weise
vorteilhaft verwendet werden können.

Konversion. Statistisches.

Kündigungen sind nicht allein am Platz, wenn Schulden
getilgt werden sollen, sondern auch wenn der Staat in der Lage ist,
neue Anlehen zu günstigern Bedingungen aufzunehmen,
insbesondere wenn der Staatskredit gestiegen oder der
landesübliche Zinsfuß gesunken ist. In diesem Fall kann
der Staat Zinsherabsetzungen (Zinsreduktionen), bez.
Schuldumwandlungen (Konversionen, Rentenkonversionen) durch
Änderung von Schuldbedingungen, welche die Zinsenlast
verringern, vornehmen. Solche Konversionen oder Reduktionen sind
dann angezeigt, wenn bei gu-

206

Staatssekretär - Staatsverbrechen.

tem Kredit des Staats der Kurs über pari gestiegen, mithin
Geld zu einem niedrigern Zins zu haben ist. Zur sichern
Durchführung der genannten Maßregel ist es nötig,
daß die Finanzverwaltung der Einwilligung der meisten
Gläubiger gewiß ist und die nötigen Mittel bereit
gehalten werden, um die erforderlichen Heimzahlungen
vollständig bewirken zu können. Hierauf werden die
Gläubiger öffentlich aufgefordert, ihren Willen zu
erklären. Diejenigen, welche den neuen Bedingungen zustimmen,
erhalten für die alten Obligationen, falls dieselben nicht nur
einfach abgestempelt werden, neue mit entsprechenden Kouponbogen,
die übrigen Schuldtitel werden gegen bar eingelöst. Meist
wird, um die Gläubiger der Konversion geneigt zu stimmen, noch
eine besondere Konversionsprämie in einem Prozentsatz der
umzutauschenden Summe zugestanden. Solche Konversionen sind dann
unmöglich, wenn der Staat sich an einen bestimmten
Tilgungsplan gebunden hat oder die Kündigung überhaupt
ausgeschlossen ist; sie werden unvorteilhaft, wenn das Anlehen zu
einem zu niedrigen Nominalzinsfuß und damit auch zu niedrigem
Kurs begeben worden ist. Die Zinsreduktionen werden oft mit der
Konsolidation oder Schuldzusammenziehung verbunden, d. h mit
Operationen, durch welche mehrere Anlehen verschiedener Benennung
und mit verschiedenen Nominalzinsfüßen in eine einzige
mit nur einem Zinsfuß zusammen verbunden werden. Dieser
Umstand hat dazu Veranlagung gegeben, daß die Worte
Konversion, Zinsreduktion und Konsolidation oft als gleichbedeutend
gebraucht werden. Die Konvertierung kann auch unter der Form der
Arrosierung auftreten. Unter letzterer ist jede Nachzahlung zu
verstehen, welche zu dem Zweck gemacht wird, um bereits bestehende
Ansprüche behaupten zu können. So verlangte
Österreich 1805 und 1809 Nachzahlungen von den Inhabern von
Schuldscheinen, welche ihrer Forderungsrechte überhaupt nicht
verlustig gehen wollten. Die Arrosierungsanlehen können jedoch
auch den Charakter freier Übereinkunft behaupten. Steigt der
Zinsfuß erheblich, während der Kurs vorhandener, zu
niedrigem Nominalzinsfuß abgeschlossener Anlehen stark sinkt,
so kann die Möglichkeit einer spätern Zinsreduktion und
einer Tilgung dadurch geschaffen werden, daß der
Nominalzinsfuß erhöht wird und zudem Ende die
Gläubiger zu Zahlungen aufgefordert werden. Gewaltsame
Ermäßigung von Zins und Schuldsumme ohne
Einverständnis der Gläubiger nennt man Staatsbankrott (s.
d.).

In den meisten Ländern ist bei der gegebenen Lage der
Finanzverwaltung (fortwährend steigende Ausgaben) an eine
erfolgreiche Tilgung der Schulden nicht zu denken. Letztere sind
vielmehr seit Ende vorigen Jahrhunderts stetig gestiegen. Eine
genaue Vergleichung der Schulden verschiedener Länder und
Zeiten ist zwar unmöglich; doch bieten die Zahlen
nachfolgender Tabelle immerhin einen brauchbaren Inhalt für
die Beurteilung im allgemeinen. Unter der Hauptsumme von 91,794
Mill. Mk. (für 1880) sind 6984 Mill. Mk. Eisenbahnschulden.
Auf Deutschland allein entfallen davon 2700 Mill. Mk., so daß
unter den Großstaaten Deutschland
verhältnismäßig am günstigsten gestellt ist.
Die Ausgaben für Verzinsung und Tilgung der[e] Schuld waren in
Millionen Mark 1885: in Frankreich 1067, England 591, Rußland
521, Italien 436, Österreich-Ungarn 372, Spanien 219,
Vereinigte Staaten 201, Niederlande 58, Preußen 182, Bayern
51, Sachsen 31, Württemberg 17, Deutsches Reich 17. Es
betrugen die S. (in Millionen Mark) in:

Länder...................1787 1816 1846 1874 1880

Frankreich.............1500 1680 3300 18126 24798

Großbritannien.......4800 16990 16080 15690 14834

Spanien..................600 2250 3600 7200 10333

Italien.....................240 900 1200 7830 10006

Österreich-Ungarn... 690 1800 2490 7290 7992

Rußland...................600 2400 1800 6700 7211

Türkei - - - 2250 5727

Deutschland ...........240 1020 900 3150 4821

Portugal ..................60 240 480 2160 1745

Belgien .................. - - 450 564 1633

Niederlande...........1500 2700 2400 1520 1579

Rumänien..............- - - 120 377

Griechenland..........- - 120 212 277

Schweden................18 24 30 144 220

Dänemark................46 108 330 270 194

Serbien...................- - - - 28

Norwegen................- 26 16 40 17

Zusammen:............10294 30058 33196 75266 91794

Regelmäßige Angaben über die S. aller
Länder der Erde liefert das "Diplomatisch-statistische
Jahrbuch des Gothaischen Hofkalenders". Vgl. Nebenius, Der
öffentliche Kredit (2. Aufl., Karlsr. 1829); Baumstark,
Staatswissenschaftliche Versuche über Staatskredit, Steuern
und Staatspapiere (Heiden. 1833); Hock, Die öffentlichen
Abgaben und Schulden (Stuttg. 1863); Eug. Richter, Das
preußische Staatsschuldenwesen (Bresl. 1869); Salings
Börsenpapiere, finanzieller Teil (12. Aufl., Berl. 1888).

Staatssekretär, der Chef eines Verwaltungsressorts.
Wenn man auch den Ausdruck S. vielfach gleichbedeutend mit Minister
gebraucht, so besteht zwischen beiden im konstitutionellen
Staatswesen doch ein wichtiger Unterschied, indem der Minister der
Volksvertretung verantwortlich ist, der S. nicht. Der Minister hat
eine politische, der S. eine geschäftliche Stellung. Im
Deutschen Reich ist der Reichskanzler der alleinige verantwortliche
Minister. Die Chefs der einzelnen Reichsämter, die
Staatssekretäre des Auswärtigen Amtes, des Reichsamtes
des Innern, des Reichsjustizamtes, des Reichsschatzamtes und des
Reichspostamtes haben keine selbständige politische Stellung.
Den Staatssekretären des Auswärtigen und des Innern sind
Unterstaatssekretäre beigegeben. In Preußen führen
die Vertreter der verantwortlichen Minister den Amtstitel
Unterstaatssekretär. In Elsaß-Lothringen führt der
unter dem Statthalter stehende Chef des Ministeriums den Titel S.
Die Chefs der einzelnen Ministerialabteilungen heißen
Unterstaatssekretäre.

Staatsservituten (öffentliche Servituten), dauernde
Beschränkungen der Staatshoheit eines unabhängigen
Staatswesens im Interesse und zugunsten eines andern Staats oder
sonstigen Berechtigten. In diesem Sinn wurde früher z. B. das
dem Haus Thurn und Taxis zustehende Postrecht in den einzelnen
deutschen Staaten als Staatsservitut bezeichnet. Auch die
Verpflichtung, fremde Truppen auf bestimmten Etappenstraßen
durch das eigne Staatsgebiet marschieren zu lassen, gehört
hierher.

Staatssozialismus, diejenige soziale Richtung, welche
unter Befestigung der Machtstellung der Monarchie von der letztern
eine Hebung der Lage der Arbeiter, insbesondere aber eine
Einschränkung der Herrschaft der Bourgeosie und des
beweglichen Kapitals erwartet. Vgl. Arbeiterfrage, S. 752, und
Sozialismus.

Staatsstreich, s. Revolution.

Staatsverbrechen, s. Majestätsverbrechen.

207

Staatsverfassung - Stabel.

Staatsverfassuug, Inbegriff der Bestimmungen, welche den Zweck
eines Staats (s. d.), die dazu bestehenden Einrichtungen, Formen,
Grenzen und Inhaber der Staatsgewalt und deren Verhältnisse zu
den Staatsbürgern bezeichnen und regeln; dann Bezeichnung
eines umfassenden Gesetzes (Konstitution, Charte, Grundgesetz), in
welchem die Staats- und Regierungsform eines Landes verbrieft, auch
der Urkunde selbst, welche darüber aufgenommen ist. Je nachdem
eine solche S. einseitig von dem Staatsbeherrscher gegeben oder
nach vorgängiger Vereinbarung mit Vertretern des Volkes
erlassen worden ist, wird zwischen oktroyierter und paktierter
(vereinbarter) Verfassung unterschieden. Insbesondere spricht man
in der konstitutionellen Monarchie im Gegensatz zur absoluten von
der bestehenden S., wonach der Monarch in der Gesetzgebung an die
Zustimmung von Vertretern der Staatsbürger gebunden ist, sei
es, daß diese nur für einzelne bevorrechtete Klassen
(ständische Verfassung) oder daß sie zur Vertretung des
ganzen Volkes berufen sind (Repräsentativsystem). Über
die verschiedenen Arten der S. (Staatsformen) s. Staat.

Staatsvertrag, das zwischen zwei selbständigen
Staaten getroffene völkerrechtliche Übereinkommen. Ein
solches kann verschiedene Angelegenheiten betreffen, in welchen
befreundete Staaten miteinander in Beziehung treten, so z. B.
Rechtshilfe, Auslieferung von Verbrechern u. dgl. Besonders wichtig
sind die Handels- und Schiffahrtsverträge. In
konstitutionellen Staaten ist zum Abschluß von
Staatsverträgen in der Regel die Zustimmung der
Volksvertretung erforderlich. Nach der deutschen Reichsverfassung
bedürfen Verträge über Gegenstände, welche in
den Bereich der Reichsgesetzgebung gehören, zu ihrem
Abschluß der Zustimmung des Bundesrats und zu ihrer
Gültigkeit der Genehmigung des Reichstags.

Staatsverwaltung, s. Verwaltung.

Staatswirtschaft, die Wirtschaft des Staats, umfaßt
alle Thätigkeiten und Veranstaltungen, welche zur Befriedigung
von Staatsbedürfnissen dienen, wird im engern Sinn auch oft
als mit der Finanzverwaltung identisch betrachtet (vgl.
Finanzwesen).

Staatswirtschaftslehre, Lehre von der Wirtschaft des
Staats, Finanzwissenschaft, auch als gleichbedeutend mit
Volkswirtschaftslehre (s. d.) gebraucht.

Staatswissenschaften (Kameralwissenschaften), im
allgemeinen Bezeichnung für diejenigen Wissenschaften, deren
Gegenstand der Staat ist. Sie sind teils erzählende und
beschreibende (historische), teils erörternde (dogmatische),
teils philosophische und teils politische. Zu der erstern Kategorie
gehören die Statistik oder Staatenkunde, welche dermalige
Zustände und Einrichtungen schildert, und die
Staatengeschichte. Die staatswissenschaftliche Dogmatik dagegen
behandelt systematisch Zweck, Wesen und Eigenschaften des Staats
und seine rechtlichen Beziehungen, und zwar sowohl diejenigen unter
den Staaten selbst (Völkerrecht) als diejenigen zwischen der
Staatsgewalt und den Staatsangehörigen sowie zwischen den
letztern untereinander (Staatsrecht). Sie handelt ferner von den
Mitteln zur Erreichung des Staatszwecks (Verwaltungsrecht, Polizei-
und Finanzwissenschaft). Die dogmatische Staatswissenschaft hat
einen gegebenen Staat und dessen positive Satzungen zum Gegenstand,
während die Staatsphilosophie nicht das, was ist, sondern das,
was nach der Staatsidee sein soll, ins Auge faßt, und so
entsteht namentlich der Gegensatz zwischen positivem und
allgemeinem philosophischen Staats- und Völkerrecht. Die
politische Behandlungsweise endlich betrachtet den Staat, seine
Mittel und seine Zwecke vom Standpunkt der
Zweckmäßigkeit aus, und eben dadurch wird das Gebiet der
Politik ebenso wie dasjenige der Volkswirtschaftslehre
(Nationalökonomie) staatswissenschaftlich abgegrenzt.

Stab (lat. Scipio), im Altertum Auszeichnung für
ältere Personen oder Könige (s. Zepter); außerdem
war der S. in besonderer Form auch gewissen Priesterschaften,
namentlich den Augurn, die damit die Weltgegenden bezeichneten,
beigelegt, worauf ihn später in der christlichen Kirche der
Bischof symbolisch als Hirt der Gemeinde trug (Hirtenstab,
Bischofstab). Den S. als Attribut und Gerät der Zauberer
(Zauberstab) führte schon im alten Chaldäadie "Dame
(Göttin) des magischen Stabes", sodann Moses, Zoroaster und in
der griechischen Mythe Hermes, der mit Hilfe desselben "Schlummer
gibt und enthebt". Auch ist der S. Zeichen der richterlichen und
oberherrschaftlichen Gewalt und trägt dann an der Spitze die
Hand als Schwur- oder Machtsymbol. - Als Ellenmaß war ein S.
in Frankreich = 1,188 m, in Berlin = 1,75 Ellen, in Frankfurt a. M.
= 2,166 Ellen. - In der Baukunst, und im Kunsthandwerk
(Möbeltischlerei) ist S. ein rundes Glied von verschiedener
Form: als Astragal, Rundstab, gebrochener S. (s. Figur), gewundener
S., gewunden mit Hohlkehlen etc. (vgl. Viertelstab).

[Gebrochener Stab.]

Stab (franz. État-major), die zu dem Kommando
eines Truppenteils gehörigen Personen. Man unterscheidet den
Oberstab (Offiziere und im Offiziersrang stehende Beamte), z. B.
beim Bataillon: den Kommandeur, den Adjutanten, Arzt und
Zahlmeister, und den Unterstab: die Schreiber, Ordonnanzen,
Büchsenmacher u. dgl. Höhere Stäbe sind diejenigen
der Armeen, Korps und Divisionen, welche neben einer
größern Zahl von Offizieren etc. noch Geistliche,
Auditeure, Post-, Kassen-, Proviant- und andre Beamte, dann zum
Botendienst im Frieden die Stabsordonnanzen, zur Sicherung im Felde
die Stabswachen umfassen. Vgl. Generalstab.

Stabat mater (lat., "die Mutter [Jesu] stand [am
Kreuz]"), Anfangsworte eines geistlichen Textes in lateinischen
Terzinen, der als sogen. Sequenz (s. d.) in der katholischen
Kirche, besonders am Feste der sieben Schmerzen Mariä,
gesungen wurde und wahrscheinlich von dem Minoriten Jacopone da
Todi herrührt. Von den Kompositionen desselben sind die
berühmtesten die von Palestrina, Pergolese und Astorga, aus
neuerer Zeit die von Jos. Haydn, Winter und Rossini. Vgl. Lisco,
Stabat mater (Berl. 1843).

Stäbchenalgen (Bacillarien), s. v. w. Diatomeen, s.
Algen, S. 343.

Stäbchenbakterie, s. Bacterium.

Stabeisen, Schmiedeeisen in Stabform, auch Eisen- oder
Stahlstangen von gleichmäßigem Querschnitt.

Stabel, Anton von, bad. Staatsmann, geb. 9. Okt. 1806 zu
Stockach, studierte in Tübingen und Heidelberg die Rechte und
trat 1828 in den Staatsjustizdienst. 1832 wurde er zum
Obergerichtsadvokaten und Prokurator in Mannheim, 1838 zum Mitglied
des dortigen Hofgerichts, 1841 zum Hofgerichtsrat und in demselben
Jahr zum Professor der Jurisprudenz in Freiburg ernannt. 1845 wurde
er Hofgerichts-

208

Staberl - Stachel.

präsident in Freiburg, 1847 Vizekanzler des Oberhofgerichts
in Karlsruhe und 1849 Präsident der Ministerien des Innern und
der Justiz im sogen. Reaktionsministerium; er machte sich um die
Reform der Justiz sehr verdient. Nachdem er 1850 Mitglied des
Erfurter Parlaments gewesen, trat er 1851 wieder als Oberhofrichter
an die Spitze des obersten Gerichtshofs und ward 1853 zum Mitglied
und Vizepräsidenten der Ersten Kammer ernannt. Als
Berichterstatter der Kommission der Ersten Kammer über das
Konkordat in der Landtagssession 1859-1860 wies er nach, daß
für dasselbe gemäß der Verfassung die
ständische Zustimmung unerläßlich sei. Als
infolgedessen das Konkordatsministerium Meysenbug-Stengel
stürzte, ward S. im April 1860 zum Minister der Justiz und des
Auswärtigen und 1861 zum Präsidenten des Ministeriums und
Staatsminister ernannt. Er leitete nun die badische
Kirchengesetzgebung und schuf die vortreffliche badische
Gerichtsverfassung. Im Juli 1866 in Ruhestand versetzt, trat er
Anfang 1867 nochmals als Justizminister in das Ministerium Mathy
ein, schied aber nach dessen Tod 1868 wieder aus und zog sich in
das Privatleben zurück. 1877 in den erblichen Adelstand
erhoben, starb er 22. März 1880 in Karlsruhe. Er
verfaßte mehrere bedeutende juristische Schriften:
"Vorträge über das französische und badische
Zivilrecht" (Freiburg 1843); "Vorträge über den
bürgerlichen Prozeß (Heidelb. 1845); "Institutionen des
französischen Zivilrechts" (Mannh. 1871, 2. Aufl. 1883) u.
a.

Staberl, stehend gewordene Figur der Wiener Lokalposse,
welche einen Wiener Bürger des Mittelstands (Parapluiemacher)
darstellt, der sich in fremdartigen Verhältnissen zwar
ungelenk benimmt, aber durch Mutterwitz sich immer zu helfen
weiß; von A. Bäuerle (s. d.) erfunden.

Stabheuschrecken, s. Gespenstheuschrecken.

Stabiä, alte Stadt in Kampanien, zwischen Pompeji
und Surrentum, beim heutigen Castellammare (s. d.), wurde im
Bundesgenossenkrieg von Sulla zerstört, dann als Badeort
wiederhergestellt, der bei dem Ausbruch des Vesuvs mit Herculaneum
und Pompeji zugleich verschüttet ward. Einige Gebäude der
alten Stadt wurden im vorigen Jahrhundert (seit 1749) ausgegraben;
die aufgefundenen Kunstwerke befinden sich in Neapel.

Stabil (lat.), beständig, nicht veränderlich;
stabilieren, festigen, fest begründen; Stabilismus, das
Beharren beim Bestehenden, Herkömmlichen.

Stabilität (lat.), in der Mechanik das Vermögen
eines Körpers, seine Stellung der Schwerkraft gegenüber
selbständig zu behaupten, s. Standfähigkeit. Allgemeiner
gebraucht man S. für Beständigkeit,
Unveränderlichkeit, Beharren in dem Bestehenden.

Stablo, belg. Stadt, s. Stavelot.

Stabmessung (Stäbchenmessung), s. v. w. Bakulometrie
(s. d.).

Stabrecht, das (zuweilen dem Gutsherrn oder der Gemeinde
zustehende) Recht, fremde Schafe hüten, weiden und düngen
zu lassen, während man mit Stabgemeinschaft lediglich das
Verhältnis derjenigen bezeichnet, welche sich für ihre
Schafe gemeinschaftlich einen Hirten halten.

Stabreim, s. Allitteration.

Stabsapotheker, s. Feldapotheker.

Stabschrecken, s. v. w. Stabheuschrecken.

Stabsführer, s. Führer.

Stabskapitän, früher militär. Rangklasse,
etwa dem heutigen 13. Hauptmann entsprechend.

Stabsoffiziere, militär. Rangklasse, welche die
Obersten, Oberstleutnants und Majore, in der Marine den
Kapitän zur See und Korvettenkapitän umfaßt.

Stabsquartier, s. v. w. Hauptquartier.

Stabswachen, beim Militär die den mobilen
höhern Stäben dauernd zugeteilte Mannschaft zum
Sicherheits- und Ordonnanzdienst: bei der Division 8 Mann
Infanterie, 4 Reiter; beim Armeekorps 1 Offizier, 52 Mann, 26
Reiter.

Stabtierchen (Bacillarien), s. v. w. Diatomeen (s. Algen,
S. 343).

Stabübungen, den Freiübungen verwandte
Turnübungen mit einem jetzt meist eisernen Stab von 1 m
Länge und 1½ -2 cm Stärke, hauptsächlich
durch Otto Jäger (s. d. 4) zu mannigfaltiger Verwendung
gekommen, besonders im Schulturnen. Über das Springen mit
langen Stäben s. Stangenspringen. Vgl. Zettler, Die Schule der
S. (Leipz. 1887); Mayr, Übungen mit langen Stäben (Hof
1887).

Stabwurz, s. Artemisia.

Stabziemer, s. Drossel.

Staccato (ital., abgekürzt stacc.,
"abgestoßen"), eine musikalische Vortragsbezeichnung, welche
fordert, daß die Töne nicht direkt aneinander
geschlossen, sondern deutlich getrennt werden sollen, so daß
zwischen ihnen wenn auch noch so kurze Pausen entstehen. Über
die verschiedenen Arten des S. beim Klavierspiel, Violinspiel etc.
s. Anschlag und Bogenführung. Das S. beim Gesang besteht in
einem Schließen der Stimmritze nach jedem Ton; seine virtuose
Ausführung ist sehr schwer. Entsprechend wird das S. bei den
Blasinstrumenten durch Unterbrechung des Atemausflusses
(stoßweises Blasen) hervorgebracht.

Stachel (Aculeus), in der Botanik jede mit einer starren,
stechenden Spitze versehene, durch Umwandlung aus Haargebilden,
Blättern oder ganzen Sprossen hervorgehende Bildung, auch die
Dornen (spinae) umfassend. Die Stacheln treten bald nur als
Anhangsgebilde fertig angelegter Organe an Blättern oder
Stengeln auf (Haut- oder Trichomstacheln), oder sie entstehen durch
Umwandlung von ganzen Blättern oder Blattteilen (Blatt- oder
Phyllomstacheln), oder sie stellen selbständig umgewandelte
Sprosse (Dornen oder Kaulomstacheln) dar. Die Hautstacheln sind
bald einzellige Haarbildungen, bald vielzellige Gewebekörper
oder Zwischenbildungen beider; bald gehen sie nur aus der Epidermis
hervor, wie bei der Brombeere, bald beteiligt sich auch das unter
der Oberhaut liegende Rindengewebe, das Periblem, an ihrer Bildung,
wie bei dem S. der Rose. In den meisten Fällen sind die
Hautstacheln gefäßlos, bisweilen, z. B. bei den Stacheln
auf den Kapfeln des Stechapfels und der Roßkastanie,
führen sie Gefäßbündel.
Übergangsbildungen zwischen den Haut- und Blattstacheln finden
sich bei den Kakteen, deren Stacheln aus den Vegetationspunkten der
Achselknospen wie wahre Blätter, jedoch ohne deren
Entwickelungsfähigkeit, hervorgehen. Unter den Blattstacheln
bilden sich einige durch Metamorphose von Nebenblättern, z. B.
die Stacheln der Robinie; andre gehen aus umgewandelten Blattteilen
hervor (Blattzahnstacheln), wie die Stacheln der Stechpalme, welche
Gefäßbündel und Blattparenchym enthalten. Eine
dritte Gruppe besteht aus denen, die durch Umwandlung eines ganzen
Blattes entstehen, wie die gefiederten Stacheln von Xanthium oder
die dreigeteilten Stacheln der Berberitze, aus deren Achseln
Laubsprosse entspringen. Ebenso verschieden ist auch der Ursprung
der Kaulomstacheln oder Dornen; es können
überzählige Knospen, wie bei Genista, Ulex, Gleditschia,
oder auch normale Achselknospen, wie bei Ononis, zu Stacheln
auswachsen

209

Stachelbeerstrauch - Stachelschwein

Die höchste Form der Stachelbildung tritt bei vielen
Pomaceen und Amygdalaceen, besonders bei Arten von Crataegus und
Prunus ein; hier wandelt sich ein ganzer blatttragender Zweig in
einen S. um. Auch kann umgekehrt durch Kultur der S. wieder als
blatttragender Zweig erscheinen. Auch der Hauptsproß erzeugt
unter Umständen, wie bei Rhamnus cathartica, durch Verholzung
des Vegetationspunktes einen endständigen S. Im allgemeinen
zeigt sich, daß der Begriff des Stachels durchaus nicht durch
ein einheitliches morphologisches Merkmal zu bestimmen ist, sondern
daß hier wie überall die Pflanze die verschiedensten
morphologischen Glieder demselben physiologischen Zweck anzupassen
weiß. Die biologische Aufgabe der Stacheln besteht teils
darin, als Schutzorgan der Pflanze gegen die Angriffe weidender
Tiere zu dienen, teils in der Rolle eines Verbreitungsmittels,
insbesondere bei stachligen Früchten, die in dem Haar- oder
Federkleid von Tieren hängen bleiben und dadurch weiter
transportiert werden; endlich sind auch Beziehungen zwischen
stacheltragenden Pflanzen und insektenfressenden Vögeln, wie
den Würgerarten, bekannt, die ihre Beute an den Stacheln von
Dornsträuchern aufzuspießen pflegen. Vgl. Delbrouck, Die
Pflanzenstacheln (Bonn 1875). Bei Tieren ist der S. eine Waffe zur
Verteidigung oder zum Angriff, aber auch zur Anbohrung von
Pflanzen, Erdreich etc., um die Eier hineinzulegen (Legestachel).
Besonders verbreitet bei den Insekten (Bienen, Wespen etc.):
häufig fließt durch ihn ein in besonderer Drüse
bereitetes Gift in die Wunde (Giftstachel); stets sitzt er am Ende
des Hinterleibes, nie am Munde (die Stechvorrichtungen der
Mücken, Wanzen etc. sind Mundteile und heißen
Stechborsten, nicht Stacheln). Beim Stachelschwein sind die
Stacheln Haargebilde, bei Fischen umgewandelte Flossenstrahlen.
Vgl. auch Echinodermen.

Stachelbeerstrauch (Ribitzel, Grossularia Mill.),
Untergattung der Gattung Ribes (Familie der Saxifragaceen),
Sträucher mit sehr verkürzten Zweigen, meist dreiteiligen
Dornen an der Basis derselben, büschelförmig gestellten
Blättern und einzeln oder in arm-, selten reichblütigen
Trauben stehenden Blüten. Der gemeine Stachelbeerstrauch
(Krausbeere, Klosterbeere, R. Grossularia L.), mit meist
dreiteiligen Stacheln, drei- bis fünflappigen Blättern,
1-3 grünlichgelben Blüten an gemeinschaftlichem Stiel und
grünlichweißen oder roten Früchten, ist
wahrscheinlich im nordöstlichen Europa heimisch, wo er in
Norwegen bis 63° nördl. Br. vorkommt, und findet sich bei
uns vielfach verwildert. Linné u. a. unterscheiden drei
Arten: R. uva crispa, mit schließlich unbehaarten,
grünlichen oder gelben Früchten, im Norden; R.
Grossularia, niedriger, behaart, sehr stachlig, mit behaarten,
grünlichen oder gelben Früchten, in den Alpen, in
Griechenland, Armenien, auf dem Kaukasus, Himalaja, seltener bei
uns verwildert; R. reclinatum, mit roten, glatten Früchten,
aus dem Kaukasus, vielleicht bei uns verwildert. Die meisten
Kultursorten dürften von der ersten Art abstammen, die roten
von den letztern; doch werden auch viele Blendlinge kultiviert. Der
S. wächst am besten in lockerm, nahrhaftem Boden in freier,
aber geschützter Lage; man pflanzt ihn meist auf Rabatten,
doch darf er nicht zu dicht und nicht unter hohen Bäumen
stehen. Im Spätherbst oder im zeitigen Frühjahr schneidet
man allzu lange oder schlecht gestellte Zweige wie auch
Wurzelschößlinge fort, nach dem Fruchtansatz gibt man
zweimal einen Düngerguß und pflückt zu dicht
hängende Beeren aus; man vermehrt ihn durch Stecklinge aus
vorjährigen, im Herbst geschnittenen Trieben oder durch
Wurzelausläufer und gewinnt die besten Früchte von
einstämmig erzogenen Kronenbäumchen, welche durch
Unterdrücken der Seitentriebe und Wurzelsprosse, sehr gut und
dauerhaft durch Okulieren und Kopulieren auf R. aureum zu erziehen
sind. Empfehlenswerte Sorten sind: rote: Alexander, Blood hound,
Farmer's Glory, Jolly Printer, Over all; grüne: Early green
hairy, Freecost, Green Willow, Nettle green; gelbe: Britannia,
Bumper, Golden, Smiling Beauty, Yellow Lion; weiße: Balloon,
Large hairy, Ostrich White. Queen Mary, Sämling von Pausner.
Über die Zusammensetzung der Stachelbeeren s. Obst. Der
Strauch wird zuerst in einem französischen Psalmenbuch des 12.
Jahrh. als Groisellier, die Frucht vom Trouvère Rutebeuf im
13. Jahrh. erwähnt. Gegenwärtig ist die Stachelbeere eine
Lieblingsfrucht der Engländer, welche vorzügliche Sorten
erzogen haben. Man benutzt sie auch viel zur Bereitung von
Obstwein. Mehrere amerikanische Stachelbeersträucher werden
bei uns als Ziersträucher kultiviert.

Stachelbeerwein, s. Obstwein.

Stachelberg, Bad im schweizer. Kanton Glarus, in
romantischer Lage des Linththals, 664 m ü. M., mit
heilkräftiger Schwefelquelle (7,7° C.), jetzt
zugänglicher durch die Bahnlinie Glarus-Schwanden-Linththal.
Vgl. König, Bad S. (Zürich 1867).

Stachelflosser, s. Fische, S. 298.

Stachelhäuter, s. Echinodermen.

Stachelkümmel, s. Cuminum.

Stachelmohn, s. Argemone.

Stachelnuß, s. Datura.

Stachelschwamm, s. Hydnum.

Stachelschwein (Hystrix L.), Gattung aus der Ordnung der
Nagetiere und der Familie der Stachelschweine (Hystrichina), sehr
gedrungen gebaute Tiere mit kurzem Hals, dickem Kopf, kurzer,
stumpfer Schnauze, kleinen Ohren, kurzem, mit hohlen,
federspulartigen Stacheln besetztem Schwanz,
verhältnismäßig hohen Beinen, fünfzehigen
Füßen, stark gekrümmten Nägeln und ungemein
stark entwickeltem Stachelkleid. Das gemeine S. (Hystrix cristata
L., s. Tafel "Nagetiere II"), 65 cm lang, mit 11 cm langem Schwanz,
24 cm hoch, hat auf der Oberlippe glänzend schwarze Schnurren,
längs des Halses eine Mähne aus starken,
rückwärts gerichteten, sehr langen, gebogenen,
weißen oder grauen Borsten mit schwarzer Spitze, auf der
Oberseite verschieden lange, dunkelbraun und weiß geringelte,
scharf gespitzte, leicht ausfallende Stacheln und borstige Haare,
an den Seiten des Leibes kürzere und stumpfere Stacheln, am
Schwanz abgestutzte, am Ende offene Stacheln, an der Unterseite
dunkelbraune, rötlich gespitzte Haare. Die dünnen,
biegsamen Stacheln werden 40 cm, die starken nur 15-30 cm lang,
aber 5 mm dick; alle sind hohl oder mit schwammigem Mark
gefüllt. Das S. stammt aus Nordafrika und findet sich jetzt
auch in Griechenland, Kalabrien, Sizilien und in der Campagna von
Rom. Es lebt ungesellig am Tag in langen, selbstgegrabenen
Gängen, sucht nachts seine Nahrung, die in allerlei
Pflanzenstoffen besteht. Alle Bewegungen des Stachelschweins sind
langsam und unbeholfen, nur im Graben besitzt es einige Fertigkeit.
Im Winter schläft es tagelang in seinem Bau. Vollkommen
harmlos und unfähig, sich zu verteidigen, erliegt es jedem
geschickten Feind. Es ist stumpfsinnig, aber leicht erregbar.
Gereizt grunzt es, sträubt die Stacheln und rasselt mit
den-

210

Stachelschweinaussatz - Stadion.

selben, wobei oft einzelne ausfallen, was zu der Fabel
Veranlassung gegeben hat, daß es die Stacheln
fortschießen könne. In der Not rollt es sich wie ein
Igel zusammen. Die Paarung erfolgt im Frühjahr, und 60-70 Tage
nach der Begattung wirft das Weibchen in einer Höhle 2-4
Junge, deren kurze, weiche Stacheln sehr bald erhärten und
ungemein schnell wachsen. In der Gefangenschaft wird es leicht
zahm, hält sich gut, pflanzt sich auch fort, bleibt aber stets
scheu und furchtsam. Italiener ziehen mit gezähmten
Stachelschweinen von Dorf zu Dorf. Man ißt sein Fleisch und
benutzt die Stacheln zu mancherlei Zwecken. Die Bezoarkugel eines
ostindischen Stachelschweins war früher als Heilmittel
hochgeschätzt. Stachelschweine mit Wickelschwanz, welche
andern Gattungen angehören, leben als Baumtiere in
Amerika.

Stachelschweinaussatz, s. v. w. Fischschuppenkrankheit
(s. d.).

Stachelschweinholz, s. Cocos.

Stachelschweinmenschen, an Ichthyosis oder
Fischschuppenkrankheit (s. d.) Leidende.

Stachelzaundraht, Drahtlitzen mit in kurzen
Abständen eingeflochtenen kurzen, spitzigen Draht- oder
Blechstückchen oder aus zackig ausgeschnittenem Bandeisen,
dient zu billigen Einfriedigungen.

Stachine, Fluß, s. Stikeen.

Stackelberg, Otto Magnus, Freiherr von, Archäolog
und Künstler, geb. 25. Juli (a. St.) 1787 zu Reval, studierte
in Göttingen, machte hierauf eine Kunstreise durch
Südfrankreich, Oberitalien und sein eignes Vaterland, ging
1808, um die Malerei zu erlernen, nach Dresden, dann nach Rom und
unternahm von da aus 1810-14 mit Brönstedt u. a. eine
Expedition nach Griechenland und Kleinasien, auf der er mit seinen
Gefährten die äginetischen Statuen und die Reste des
Apollontempels zu Bassä (Phigalia) auffand. Seine Zeichnungen
des letztern samt der Umgebung sind seinem Werk "Der Apollotempel
zu Bassä (Berl. 1826) beigefügt. Eine andre Frucht dieser
Reise sind die "Costumes et usages des peuples de la Grèce
moderne" (Rom 1825). Von Rom aus unternahm er später Reisen
nach Großgriechenland, Sizilien und Etrurien, wo er 1827 die
etrurischen Hypogäen von Corneto entdeckte, bereiste dann
Frankreich, England und die Niederlande und starb 27. März
1837 in Petersburg. Noch sind von seinen Arbeiten hervorzuheben:
"La Grèce, vues pittoresques ettopographiques" (Par. 1830, 2
Bde.); "Trachten und Gebräuche der Neugriechen" (Berl.
1831-1835, 2 Abtlgn.) und besonders "Die Gräber der Hellenen
in Bildwerken und Vasengemälden" (das. 1836-37, mit 80
Tafeln). Eine Biographie Stackelbergs nach seinen Tagebüchern
und Briefen veröffentlichte seine Tochter Natalie v. S.
(Heidelb. 1882).

Slackh., bei botan. Namen Abkürzung für John
Stackhouse, geb. 1740, gest. 1819 in Bath (Algen).

Stade, Hauptstadt des gleichnamigen Regierungsbezirks der
preuß. Provinz Hannover, an der schiffbaren Schwinge und der
Eisenbahn Harburg-Kuxhaven, hat 2 evangelische und eine kath.
Kirche, ein Gymnasium, verbunden mit Realprogymnasium, ein
Schullehrerseminar, eine Taubstummenanstalt, einen Historischen
Verein (für Bremen und Verden), eine königliche
Regierung, ein Konsistorium, ein Landratsamt, ein Landgericht, ein
Hauptsteueramt, einen Ritterschaftlichen Kreditverein, eine
Handelskammer, Eisengießerei, Maschinen-, Schiff- und
Mühlenbau, Tabaks- und Zigarrenfabrikation, Brennerei,
Bierbrauerei, Färberei, Ziegeleien, Schiffahrt, lebhaften
Handel und (1885) mit der Garnison (ein Füsilierbataillon Nr.
75 und eine Abteilung Feldartillerie Nr. 9) 9997 meist evang.
Einwohner. In der Nähe viele Ziegeleien sowie ein Gipslager
und bei dem Dorf Kampe eine Saline. Zum Landgerichtsbezirk S.
gehören die elf Amtsgerichte zu Bremervörde, Buxtehude,
Freiburg, Harburg, Jork, Neuhaus a. O., Osten, Otterndorf, S.,
Tostedt und Zeven. - S. erscheint schon im Anfang des 10. Jahrh.
als der Stammsitz eines gräflichen Geschlechts, das 1056 auch
in den Besitz der sächsischen Nordmark gelangte, sie fast ein
Jahrhundert behielt und 1168 ausstarb. Von den Welfen Kaiser Otto
IV. und seinem Bruder, dem Pfalzgrafen Heinrich, ward S. 1202
erobert, fiel aber um 1204 an Bremen zurück, nachdem es von
Otto IV. umfangreiche Freiheiten erhalten hatte. In diese Zeit
fällt die Einführung des Elbzolles. 1648 im
Westfälischen Frieden ward es Schweden zuerkannt und zur
Hauptstadt des Fürstentums Bremen gemacht. 1676 von den
Hannoveranern, 1712 von den Dänen erobert, kam es 1719 nebst
dem Bistum Bremen an Hannover. 1807 ward es Westfalen einverleibt,
1810 von Napoleon I. in Besitz genommen, 1813 aber von den
Alliierten an Hannover zurückgegeben und von diesem wieder zur
Festung gemacht und 1816 neu befestigt. Hannover mußte den
Elbzoll durch Vertrag vom 22. Juni 1861 gegen eine
Entschädigung von 2,857,338 Thlr. aufheben (s. Elbe, S. 503).
Am 18. Juni 1866 wurde die Festung S. von den Preußen ohne
Kampf genommen und fiel dann mit dem übrigen Hannover an
Preußen. Der Regierungsbezirk S. (s. Karte "Hannover etc.")
umfaßt 6786 qkm (123,25 QM.), zählt (1885) 325,916 Einw.
(darunter 320,329 Protestanten, 4118 Katholiken und 1126 Juden) und
besteht aus den 14 Kreisen:

Kreise QKilom. QMeilen Einwohner Einw. auf 1 qkm

Achim 286 5,19 19973 70

Blumenthal 174 3,16 19224 110

Bremervörde 579 10,52 16760 29

Geestemünde 630 11,44 33656 53

Hadeln 326 5,92 17086 52

Jork 167 3,03 21097 126

Kehdingen 378 6,87 20214 53

Lehe 633 11,50 28797 45

Neuhaus a. Oste 522 9,48 28474 55

Osterholz 479 8,70 27736 58

Rotenburg i. Hann 816 14,82 19282 24

Stade 725 13,17 34536 48

Verden 409 7,43 25257 62

Zeven 662 12,02 13824 21

Stadel, in Süddeutschland s. v. w. Scheune; auch
Vorrichtung zum Rösten der Erze (s. Rösten).

Städelsches Institut, s. Frankfurt a. M., S.
500.

Staden, Stadt in der hess. Provinz Oberhessen, Kreis
Friedberg, an der Nidda, hat eine evang. Kirche, ein Schloß
und (1885) 376 Einw. Stadion, uraltes Adelsgeschlecht, dessen
Stammschloß S. ob Küblis in Graubünden jetzt Ruine
ist, und das sich später in Schwaben an der Donau
niederließ; von Walter von S. (Stategun) an, der als
habsburgischer Landvogt von Glarus 1352 im Kampf gegen die Glarner
fiel, läßt sich die Geschichte des Geschlechts genau
verfolgen. Die bemerkenswertesten Sprößlinge desselben
sind: Christoph von S., Bi-

211

Stadium - Stadt.

schof von Augsburg, geb. 1478, ein Freund Kaiser Maximilians I.
und Ferdinands I., aber auch Melanchthons, mit dem er in Verkehr
wegen der Reformation der Kirche und Wiedervereinigung der beiden
christlichen Kirchen stand; starb 1543. Johann Kaspar von S.,
Hochmeister des Deutschen Ordens, österreichischer
Kriegspräsident und Feldzeugmeister, zeichnete sich besonders
1634 in der Schlacht bei Nördlingen aus. Johann Philipp von
S., Staatsminister von Kurmainz, geb. 1652, war die Seele aller
Reichsgeschäfte, 1711 Botschafter bei der Wahl Karls VI. und
Gesandter des rheinischen Kreises beim Utrechter und Badener
Friedenskongreß. Mit ihm ward das Geschlecht 1705 in den
Reichsgrafenstand erhoben. Er starb 1741 und ward durch seine
beiden Söhne der Stifter der jetzt noch blühenden
Fridericianischen und Philippinischen Linie. Ersterer gehörte
an Johann Philipp Karl Joseph, Graf von S., geb. 18. Juni 1763.
Derselbe hatte auf deutschen Hochschulen eine tüchtige Bildung
erhalten, war 1788 österreichischer Gesandter zu Stockholm,
1790 bis 1792 zu London, trug 1797 nicht wenig dazu bei, die durch
die polnischen Teilungen zwischen Österreich und Preußen
entstandene Spannung zu heben, betrieb, seit 1804 Botschafter in
Petersburg, eifrig die Bildung der dritten Koalition und folgte
1805 dem Kaiser Alexander I. zur Armee. Von reichsritterlichem
Stolz und echt deutschem Patriotismus erfüllt, haßte er
Napoleon aus ganzer Seele. Nach dem Preßburger Frieden mit
dem Ministerium der auswärtigen Angelegenheiten betraut, hatte
er die Absicht, Österreich im Innern zu reorganisieren, seine
äußere Macht wiederherzustellen und es an die Spitze des
wieder befreiten Deutschland zu bringen. Er löste die
drückenden Geistesfesseln, förderte den Gemeinsinn und
betrieb vor allem die Reform des Heerwesens und die Bildung einer
Landwehr. Das plötzliche Erscheinen eines deutschen
Patriotismus in Österreich beim Beginn des auf seinen Antrieb
unternommenen Kriegs von 1809 war Stadions Werk. Der
unglückliche Ausgang des Kriegs nötigte ihn, dem Grafen
Metternich im Ministerium Platz zu machen; doch ward er schon 1812
wieder nach Wien berufen und erhielt nach der Schlacht bei
Lützen eine Sendung zu Alexander I. und Friedrich Wilhelm III.
Nach dem Frieden mußte er sich abermals dem schwierigen
Auftrag der Herstellung der Finanzen unterziehen. Die Ausgaben des
Staats wurden beschränkt und genau bestimmt und die
Steuerverfassung nach vernünftigen Grundsätzen geregelt.
Er starb 18. Mai 1824 in Baden bei Wien. Franz Seraph, Graf von S.,
zweiter Sohn des vorigen, geb. 27. Juli 1806, trat früh in den
Staatsdienst ein und zeichnete sich namentlich als
Administrativbeamter aus. In Triest und Galizien, wo er 1846 an die
Spitze der Verwaltung trat, sicherte er sich ein dankbares
Andenken. Nach Niederwerfung der Wiener Revolution trat er mit
Schwarzenberg und Bach ins Ministerium vom 21. Nov. 1848 und
vertrat hier die freisinnigere Richtung. Schon im Mai 1849 aber
mußte er wegen eines Körperleidens zurücktreten; er
starb in Geisteszerrüttung 8. Juni 1853. Vgl. Hirsch, Franz
Graf S. (Wien 1861). Sein Neffe Philipp, Graf von S., geb. 29. Mai
1854, ist jetzt das Haupt der Fridericianischen Linie; die
Philippinische wird repräsentiert durch Friedrich, Grafen von
S., geb. 13. Dez. 1817, erblichen Reichsrat der Krone Bayern.

Stadium (griech. Stadion), bei den Alten
Längenmaß, eine Strecke von 600 griech. Fuß, aber
thatsächlich von schwankender Länge; das Itinerarstadium
(s. d.) war jedenfalls kleiner, und man kann es bis in die Mitte
des 2. Jahrh. v. Chr. auf etwa 1/50 geogr. Meile ansetzen. Das
olympische S. betrug ungefähr 1/40 Meile. In der
römischen Kaiserzeit rechnete man 7,5 Stadien auf eine
römische Meile. Ursprünglich bezeichnete das Wort die
für den Wettlauf bestimmte Rennbahn von der angegebenen
Länge, namentlich die zu Olympia (s. d., mit Plan), nach der
die andern eingerichtet wurden. Die Konstruktion des Stadiums
erkennt man deutlich aus vielen noch vorhandenen Ruinen. Demnach
war es der Länge nach durch mehrere Richtungssäulen in
zwei Hälften geteilt und eine oder mehrere Seiten desselben
oft mit Benutzung des Terrains mit aufsteigenden Sitzreihen
versehen. An einem der schmalen Enden wurde die Bahn in der Regel
von einem Halbkreis eingeschlossen, in dem sich die Plätze
für die Kampfrichter (Hellanodiken) und die vornehmern
Zuschauer befanden, und wo auch die übrigen Wettkämpfe
stattfanden. Bei den Römern kamen die Stadien zu Cäsars
Zeit auf und wurden hier auch zu andern Vergnügungen,
namentlich zu Tierhetzen, benutzt. Im modernen Sprachgebrauch
bezeichnet man mit S. jeden einzelnen Abschnitt in dem Verlauf oder
der Entwickelung einer Sache.

Stadler, Maximilian, Abbe, Kirchenkomponist, geb. 7. Aug.
1748 zu Melk in Unterösterreich, genoß seine
musikalische Ausbildung vorwiegend als Zögling des Wiener
Jesuitenkollegiums, trat dann in das Benediktinerstift seines
Geburtsorts, ward 1786 zum Abt von Lilienfeld und drei Jahre
später zum Abt und Kanonikus von Kremsmünster ernannt.
Nachdem er 1791 von dieser Stelle freiwillig zurückgetreten
war, lebte er bis zu seinem Tod 8. Nov. 1833 in Wien, als Mensch
und Künstler hochgeachtet und mit allen musikalischen
Berühmtheiten seiner Zeit in lebhaftem Verkehr stehend. Unter
seinen zahlreichen durch kontrapunktische Gewandtheit
ausgezeichneten Kompositionen sind besonders sein Oratorium "Die
Befreiung Jerusalems", ein großes Requiem und Klopstocks
"Frühlingsfeier" hervorzuheben.

Stadt (Stadtgemeinde), größere Gemeinde mit
selbständiger Organisation und Verwaltung der
Gemeindeangelegenheiten. Verschiedene Merkmale, welche früher
für den Unterschied zwischen S. und Dorf oder zwischen Stadt-
und Landgemeinde von Bedeutung waren, sind es jetzt nicht mehr. Wie
die alten Stadtthore und Stadtmauern gefallen sind, welche
früher einem Ort im Gegensatz zum platten Lande den
städtischen Charakter verliehen, so hat sich auch der
Unterschied zwischen der rechtlichen und wirtschaftlichen Stellung
des städtischen Bürgers und des Landmanns mehr und mehr
verwischt. Die Größe und Einwohnerzahl ist nicht mehr
schlechthin entscheidend. Denn manche Industriedörfer sind
heutzutage volkreicher als kleine Landstädtchen mit vorwiegend
landwirtschaftlicher Beschäftigung der Ackerbürger.
Beseitigt sind ferner durch die moderne Gesetzgebung die einstige
Ausschließlichkeit des zunftmäßigen
Gewerbebetriebs innerhalb des städtischen Weichbildes und das
Recht der Stadtgemeinde, innerhalb der städtischen Bannmeile
jeden für den städtischen Verkehr nachteilige
Gewerbebetrieb zu untersagen. Das Marktrecht, welches einst den
städtischen Gemeinden ausschließlich zukam, ist jetzt
auch größern Landgemeinden (Marktflecken) zugestanden.
Auch die Beschäftigung auf dem Gebiet des Handels und der
Industrie findet sich nicht mehr ausschließlich und in
manchen Gegenden nicht einmal mehr vorwiegend in den Städten.
Dagegen besteht noch in verschiedenen Staaten in Ansehung der
Gemeindeverfassung ein

14*

212

Stadt (Entwicklung des Städtewesens).

erheblicher Unterschied zwischen S. und Land (s. Gemeinde); doch
auch dieser Unterschied ist bereits in manchen Gegenden mehr oder
weniger beseitigt.

Die Entwickelung des Städtewesens.

Die ersten Städte wurden unter den mildern Himmelsstrichen
Asiens, Afrikas, Griechenlands und Italiens gegründet. In
Griechenland erhielten sie sich meist ihre volle
Selbständigkeit und wurden Mittelpunkte besonderer Staaten.
Bei den Babyloniern und Assyrern dienten sie vornehmlich als feste
Plätze, als Handelsniederlassungen bei den Phönikern. Bei
den Etruskern und Latinern gab es schon früh städtische
Niederlassungen, zunächst mit einer gewissen
Selbständigkeit ausgestattet und durch Bündnisse geeint,
bis sich Rom zur Herrin Italiens, dann sogar der ganzen
zivilisierten Welt machte und unter Beibehaltung städtischer
Verfassungsformen die Herrschaft über ein ausgedehntes Reich
zu führen wußte. Während bei den Kelten, ja auch
bei den Slawen die Sitte des städtischen Zusammenwohnens von
Anbeginn wohlbekannt war, fehlte den alten Germanen jede Neigung
zum Stadtleben. Die ersten Städte in Deutschland verdankten
vielmehr den Römern ihre Entstehung; sie erwuchsen meist aus
den am Rhein und an der Donau angelegten Lagern und Kastellen. So
entstanden: Straßburg, Speier, Worms, Mainz, Bingen, Koblenz,
Remagen, Bonn, Köln, Xanten, Utrecht, Leiden im Rheinthal; im
Gebiet der Donau: Augsburg, Regensburg, Passau, Salzburg und
Wien.

Später ging mit der Ausdehnung des Deutschen Reichs
über den slawischen Osten die Entwickelung des
Städtewesens Hand in Hand. Um die zum Schutz der deutschen
Landschaft angelegten Burgen entstanden städtische
Niederlassungen, wie sie zuerst Heinrich I., den man den
Städtegründer genannt hat, begründete; ihm verdanken
Quedlinburg, Merseburg und Goslar ihren Ursprung. Seinem Beispiel
folgten die Markgrafen der östlichen Gebiete. Als Beamte
erscheinen in größern Orten Burggrafen, in kleinern
Schultheißen, in bischöflichen Vögte. In Orten, wo
sich eine altfreie Einwohnerschaft erhalten hatte, erlangte diese
in der Folgezeit das Übergewicht in der städtischen
Verwaltung. Hier übten Schöffen die Rechtspflege aus; es
gab einen Rat mit einem Schultheißen oder, wie in Köln,
mit zwei Bürgermeistern an der Spitze. Die Rechte des Reichs
nahm daneben ein Burggraf wahr, wozu in Bischofstädten noch
der Vogt trat. Die glänzendste Entwickelung aber haben die
königlichen Pfalzstädte genommen, aus deren
bevorrechteter Stellung allmählich die Reichsfreiheit
erblühte (s. Reichsstädte). Dagegen blieben die
fürstlichen Städte, welche meist von den Fürsten
selbst gegründet waren, noch lange und viele für immer
unter der Territorialhoheit derselben. Doch auch hier besteht
wenigstens ein Schein von Selbstverwaltung: sie wählen ihren
Schultheißen, ihre Schöffen selbst. Wo dann die
herzogliche Gewalt erlischt oder geteilt wird, wie in Schwaben und
Sachsen, haben sich die fürstlichen Städte zur
Reichsfreiheit emporgeschwungen. Je reicher und unabhängiger
die Städte wurden, um so mehr übten sie innerhalb des
Reichs politischen Einfluß aus. Da ihr Handel nur bei der
Sicherheit der Land- und Wasserstraßen gedeihen konnte, so
war die Aufrechterhaltung des Landfriedens ihre vornehmste Sorge.
Deshalb schlossen sie Bündnisse, wie die rheinischen und
schwäbischen Städte und besonders die Hansa, welche sogar
den Norden Europas in den Bereich ihrer Machtsphäre zu ziehen
vermocht hat. Als innerhalb der Städte einzelne Klassen durch
Handel an Reichtum zunahmen, schlossen sie sich von den niedern ab
und suchten möglichst allein die Leitung der städtischen
Angelegenheiten sich anzueignen. Dies hatte dann zur Folge,
daß die Handwerker sich in Zünfte organisierten und um
Beteiligung am Stadtregiment sich bemühten. Sie erhielten denn
auch meist einige Stellen oder eine besondere Bank im Rat. An den
deutschen Reichstagen nehmen die Reichsstädte vereinzelt schon
seit Wilhelm von Holland teil; Ludwig der Bayer hat sie mehr
herangezogen, doch wird ihre Beteiligung an jenen Versammlungen
erst seit 1474 regelmäßig. Seit dem 16. Jahrh. bilden
die Reichsstädte neben den Kurfürsten und Fürsten
eine besondere Körperschaft auf den Reichstagen. Die
Auffindung des Seewegs nach Ostindien und die Entdeckung Amerikas
habenden deutschen Handel schwer geschädigt und den
Mittelpunkt der merkantilen Interessen nach dem Westen, nach
Spanien, Holland und England, verlegt. Verheerend schritt dann der
Dreißigjährige Krieg über die deutschen Gauen, und
unter seiner blutigen Geißel erstarb die Blüte der einst
so mächtigen Städte. Viele Reichsstädte verloren
ihre Reichsunmittelbarkeit und wurden Landstädte der
Fürsten, und selbst der Hansabund ging seinem Untergang
entgegen. Zur Zeit des Beginns der französischen Revolution
gab es nur noch 51 Reichsstädte, die aber noch vor und nach
der Auflösung des Deutschen Reichs bis auf vier, 1866 bis auf
drei, Hamburg, Bremen und Lübeck, welche noch jetzt
selbständige Staaten sind, ihre Selbständigkeit verloren.
Inzwischen waren namentlich die Residenzstädte der
Fürsten zur Blüte gekommen, die sich um so schneller und
glänzender entwickelte, je entschiedener die
Fürstengewalt der Mittelpunkt des politischen Lebens in
Deutschland wurde. Im 19. Jahrh. aber hat nicht nur der Bau von
Eisenbahnen, sondern auch der Aufschwung im Bergbau, in der
Fabrikthätigkeit und im Handel dem Städtewesen in
Deutschland einen ungeahnten Aufschwung gegeben. Städte,
welche im Mittelpunkt wichtiger Eisenbahnnetze, ergiebiger Bergbau-
und Industriebezirke liegen, haben ihre Bevölkerung bisweilen
verzehnfacht.

Einen bedeutenden Aufschwung hatte das Städtewesen
frühzeitig in Italien genommen. Die einzelnen Einwohnerklassen
traten in Vereinigungen zusammen, so in Mailand die vornehmen
Lehnsleute, die Ritter und Vollfreien, und erwarben zu Ende des 11.
Jahrh. für ihre Vorsteher (consules) die Verwaltung und
Gerichtsbarkeit innerhalb der S. Friedrich I. hatte den Anspruch
erhoben, diese Consules in den lombardischen Städten zu
ernennen, mußte ihnen aber nach furchtlosem Kampf 1183 das
Wahlrecht der Konsuln zugestehen. Diese wurden dann vom König
oder in den bischöflichen Städten vom Bischof mit den
Regalien belehnt. Neben jenen Beamten finden sich häufig ein
Rat von 100 Personen (credenza) und eine allgemeine
Bürgerversammlung (parlamentum). Seit dem 13. Jahrh. wurde es
Sitte, Mitgliedern auswärtiger adliger Familien unter dem
Titel "Podestà" die militärische und richterliche
Gewalt auf ein Jahr anzuvertrauen, neben denen zwei Ratskollegien,
ein Großer und ein Kleiner Rat, fungierten. Auch die
Handwerker bemühten sich, Anteil am Stadtregiment zu erhalten,
bildeten Innungen und organisierten sich unter Consules oder einem
eignen Podestà oder Capitano del popolo als besondere
Gemeinde neben den Adelsgeschlechtern. Diese Rivalität unter
den einzelnen Bevölkerungsklassen erhielt einen neuen Impuls
durch die Parteiungen der Guelfen und Ghibellinen.

213

Stadt (Bevölkerungsverhältnisse).

In diesen blutigen Kämpfen ging meist die städtische
Freiheit

verloren. Erst in neuerer Zeit nahm das Städtewesen in
Italien wiederum

einen erfreulichen Aufschwung.

In Südfrankreich findet anfangs eine

ähnliche Entwickelung wie in Italien statt. Auch hier gibt
es Consules,

Ratskollegien und ein Parlamentum, aber daneben macht sich auch
die

erstarkende Staatsgewalt geltend; ihre Vertreter sind die
Baillis, denen

die höhere Gerichtsbarkeit vorbehalten bleibt. In den
bischöflichen

Städten von Nordfrankreich traten die untern Stände zu
Vereinigungen

(Kommunen) zusammen, nahmen den Kampf gegen ihre Bischöfe
auf und fanden

dabei bei den Königen lebhafte Unterstützung. Diese
vertraten den

wohlwollenden Grundsatz, daß jede "Kommune" unter dem
König stehe,

obwohl sie die Städte ihres unmittelbaren Gebiets (des
alten Francien)

nicht sonderlich begünstigten. Als Beamte finden sich in
diesen Städten:

ein Maire, mehrere Schöffen (Jurati) und ein Bailli. Als
die Macht des

Königtums wuchs, wurde die städtische Selbstverwaltung
mehr und mehr

eingeschränkt.

In England sind die Städte teils auf keltischen,
teils

auf römischen Ursprung zurückzuführen. Sie
besaßen in der

angelsächsischen Zeit eine seltene Freiheit und
Selbständigkeit, berieten

ihre Angelegenheiten in eigner Versammlung und standen unter

Burggrafen. Innerhalb der städtischen Bevölkerung
haben sich schon früh

Vereinigungen (Gilden) gebildet, welchen die Pflicht
gegenseitiger

Rechtshilfe und der Blutrache oblag. Diese Gilden hatten
Statuten und

eigne Vorsteher. Nach der Eroberung Englands durch die Normannen
wurden

die Rechte der Städte vielfach verkürzt; sie gerieten
in Abhängigkeit

von den Königen, Baronen oder Bischöfen. Seit dem 15.
Jahrh. erhielten

sie von den Königen umfangreichere Privilegien, doch haben
sie auch

schon früher bei der eigenartigen Entwickelung der
englischen Verfassung

Einfluß auf die öffentlichen Angelegenheiten
gewonnen. Ihnen wurden

bestimmte Anteile der aufzubringenden Steuern nicht ohne ihre
Zustimmung

auferlegt und die Verteilung und Eintreibung im einzelnen ihnen
selbst

überlassen. In der Magna Charta ist jedoch nur London und
sieben andern

Städten oder Häfen ein Recht der Teilnahme am
Parlament

zugestanden. Später stieg die Zahl dieser Städte
bisweilen auf 200, doch

hing die Berufung der städtischen Abgeordneten von der
Willkür der

Könige ab. Schon um die Mitte des 13. Jahrh. kam für
die Vertreter der

Städte die Bezeichnung "Gemeine" (communitas totius regni
Angliae) auf;

sie bildeten neben der Versammlung der Barone und Prälaten
ein zweites

Kollegium und erhielten einen Sprecher. Ihr Hauptrecht war
die

Verwilligung von Abgaben. Manche Städte sendeten einen,
andre zwei

Vertreter zur Versammlung der Gemeinen, wozu im 14. Jahrh. noch
zwei

Vertreter aus jeder Grafschaft kamen. Seit dem 16. Jahrh.,
besonders

aber seit den Zeiten Elisabeths, hob sich mit dem wachsenden
Wohlstand

der Einfluß der Städte. Die Mehrzahl der englischen
Städte hat jedoch

erst seit dem vorigen Jahrhundert durch Handel, Schiffahrt und
Industrie

einen bewunderungswürdigen Aufschwung genommen; denn noch
zu Ende des

17. Jahrh. gab es außer London, das damals ½ Mill.
Einwohner zählte,

nur zwei Städte (Bristol und Norwich) mit 30,000 und vier
andre mit mehr

als 10,000 Einw.

Bevölkerungsverhältnisse.

Naturgemäß bildet die S. vorzüglich den
Standort für Handel und Gewerbe,

welche die Anhäufung vieler Betriebe auf kleinem
Flächenraum nicht

allein gestatten, sondern in derselben eine vorzügliche
Stütze für

Gedeihen und Weiterentwickelung finden, während die auf die
Bebauung der

Bodenoberfläche angewiesene Landwirtschaft eine Zerstreuung
der

Bevölkerung über das ganze Land hin bedingt. Land und
S. versorgen

einander gegenseitig. Demnach können große
Städte, welche stets der

Zufuhr von Massengütern (Lebensmittel, Brennstoffe etc.)
bedürfen, nur

bestehen, wenn die Verkehrsverhältnisse für sie
genügend entwickelt

sind. Darum sind solche Städte früher vornehmlich an
Meeresküsten und

schiffbaren Strömen entstanden. Zwar hatte auch das
Altertum seine

Großstädte, doch konnte die Zahl derselben nur
verhältnismäßig klein

sein. Und im Mittelalter bis zum 19. Jahrh. trat in den
meisten

europäischen Ländern die städtische
Bevölkerung gegenüber der ländlichen

erheblich zurück. Eine wesentliche Änderung wurde in
dieser Beziehung

durch die Fortschritte der modernen Technik und insbesondere
des

Verkehrswesens herbeigeführt. Die städtische
Bevölkerung wächst in

größerm Verhältnis und zwar vorzugsweise durch
Zuzug als diejenige des

flachen Landes. Als Folge dieses Umstandes läßt sich
in den Städten eine

stärkere Besetzung der Altersklassen von 15-35 Jahren
wahrnehmen. So

enthielten Prozente der Bevölkerung die Altersklassen unter
15 Jahren im

Deutschen Reich 35, in einer Reihe größerer deutscher
Städte nur 25; für

die Alter von 20-30 Jahren waren die Prozente 16 u. 26, für
die Alter

von 30-40 Jahren: 13 u. 16, für die Alter über 40
Jahren dagegen: 25

u. 20. Schon aus diesem Grund wird es nicht als auffallend
erscheinen,

wenn in den Städten Heirats- u. Geburtszahl
verhältnismäßig hoch

sind. Gleichzeitig ist aber auch und zwar vornehmlich, weil hier
die

gesamten Lebensverhältnisse andrer Art sind, die Anzahl der
unehelichen

Geburten und der Sterbefälle in den meisten Städten
relativ größer als

auf dem Land.

In Orten mit über 2000 Einw. leben Prozente von
der

gesamten Bevölkerung: in den Niederlanden 80, Belgien 60,
Großbritannien

und Irland 45, Spanien und Italien 43, Portugal 41, Deutschland
40

(Sachsen 52, Rheinland 60, Posen 22), Schweiz 39,
Österreich-Ungarn 37,

Frankreich 30, Dänemark 22, Norwegen 15, Schweden 11,
Rußland

11. Vorzüglich ist in den letzten Jahren die
Bevölkerung der großen

Städte und zwar am meisten die der Städte mit mehr als
100,000

Einw. gewachsen. In geringerm Grad hat die der kleinern
Städte

zugenommen, während in Orten von weniger als 3000 Seelen
nicht selten

ein Rückgang zu beobachten war. Auf der ganzen Erde gibt es
zur Zeit 206

Städte mit über 100,000 Einw. Hiervon entfallen je 2/5
auf Europa und

Asien. Von der gesamten Bevölkerung lebten 1881 in solchen
Großstädten:

in England und Wales 33 Proz., Belgien u. Niederlande 12,5,
Frankreich

7,7, Deutschland 7,1, Italien 6,7, Österreich-Ungarn 3,3,
Rußland 1,7

Proz. Die Art des raschen Wachstums einiger
Großstädte wird durch

nachstehende Zahlen verdeutlicht. Es hatten in Tausenden

Städte Jahr Einw. Jahr Einw. Jahr Einw. Jahr
Einw.

London 1801 959 1851 2362 1875 3445 1886 4120

Paris 1817 714 1856 1171 1876 1989 1886 2345

Berlin 1801 173 1851 425 1875 967 1885 1315

Wien 1800 231 1857 476 1875 677 1880 726¹

New York - - 1850 516 1875 1029 1886 1439²

Leipzig 1801 32 1852 67 1875 127 1885 170

¹ Mit 35 angrenzenden Gemeinden 1888: 1,200,000.

² Mit Brooklyn, Jersey City und Hoboken 2¼
Mill.

214

Stadt (Verfassungen).

Sind die Städte schon infolge davon in politischer und
wirtschaftlicher Beziehung in vielen Ländern tonangebend,
daß in denselben das gesamte geistige Leben und der
menschliche Verkehr viel reger ist als auf dem Land, so wird ihr
Einfluß durch das Wachstum der Volkszahl noch weiter
gesteigert. Mit dieser Zunahme erwachsen den Städten eine
Reihe von Aufgaben, welche das Landleben entweder gar nicht oder
doch nur in einem viel bescheidenern Umfang kennt, und die
vollständig zu bewältigen erst mit den Fortschritten der
modernen Technik möglich wurde. So werden in unsern
Millionenstädten großartige Aufwendungen gemacht im
Interesse der Sicherheit, der Sittlichkeit und Reinlichkeit,
für Gesundheitspflege, Wasserbeschaffung, Kanalisierung,
Abfuhr von Abfallstoffen, Beleuchtung, Unterrichtswesen,
Verkehrswesen etc., welche die Budgets vieler kleinerer Staaten
weit übertreffen. Übrigens gilt der Satz: "Wo viel Licht
ist, da ist auch viel Schatten" ganz vorzüglich von den
Städten, insbesondere von Großstädten, in welchen
sich immer viele verkümmerte und verzweifelte Existenzen
ansammeln, wo dicht neben Luxus und Üppigkeit Jammer und Elend
ihre Wohnstätte aufschlagen und bei Vorhandensein von nur
teilweise bewohnten Palästen von einer für die untern
Klassen empfindlichen und für die mittlern oft selbst
drückenden Wohnungsnot gesprochen werden kann.

Städteverfassungen.

In Bezug auf die Verfassung der Stadtgemeinden stehen sich
gegenwärtig in Deutschland hauptsächlich zwei Systeme
gegenüber. Das eine hat sich namentlich im Anschluß an
die preußische (Steinsche) Städteordnung vom 19. Nov.
1808 entwickelt. Es charakterisiert sich dadurch, daß die
Verfassung der Städte und der Landgemeinden eine verschiedene,
und daß den Städten eine weiter gehende Selbstverwaltung
eingeräumt ist als den ländlichen Ortschaften. An der
Spitze der Stadtgemeinde befindet sich nach diesem System in der
Regel eine kollegialische Vollzugsbehörde, der als Vertretung
der Bürgerschaft das städtische Kollegium zur Seite
steht. Die erstere Behörde ist der Magistrat oder Stadtrat
(Gemeindevorstand, Ortsvorstand), bestehend aus einem ersten
Bürgermeister (Stadtschultheißen), welcher in
größern Städten den Titel Oberbürgermeister
führt, dem zweiten Bürgermeister oder Beigeordneten und
in größern Städten aus einer Anzahl von besoldeten
und unbesoldeten Stadträten (Ratsherren, Schöffen,
Ratsmännern, Magistratsräten). Dazu kommen nach
Bedürfnis noch besondere besoldete Magistratsmitglieder
für einzelne Zweige der städtischen Verwaltung
(Kämmerer, Baurat, Schulrat, Syndikus etc.). Der Magistrat ist
das Organ der Verwaltung; insbesondere steht ihm auch die
Handhabung der Ortspolizei zu, wofern diese nicht, wie in manchen
größern Städten, einer staatlichen Behörde
(Polizeipräsident, Polizeidirektion) übertragen ist. Die
Vertretung der Bürgerschaft ist die
Stadtverordnetenversammlung (Gemeinderat, städtischer
Ausschuß, Kollegium der Bürgervorsteher,
Stadtältesten, Stadtverordneten, Stadtrat). Diese
Körperschaft hat das Recht der Kontrolle; ihre Zustimmung ist
zur Aufstellung des städtischen Haushaltsetats, zu wichtigen
Akten der Vermögensverwaltung und zum Erlaß von
Ortsstatuten erforderlich. Die Stadtverordneten versehen ihre
Funktionen als Neben- und Ehrenamt; ihre Wahl erfolgt durch die
Bürgerschaft. Dagegen werden die Magistratsmitglieder in der
Regel durch die Stadtverordneten gewählt; sie sind teils
besoldete Berufsbeamte, was namentlich von den Bürgermeistern
in den größern Städten gilt, teils fungieren sie im
Ehrenamt. Die Wahlperiode der Stadtverordneten ist eine drei- bis
sechsjährige, für die Magistratsmitglieder beträgt
sie 6, 9, 12 Jahre; auch ist bei den letztern Wahl auf Lebenszeit
zulässig. Gegenüber diesen Gemeindewahlen hat die
Regierung ein Bestätigungsrecht, dessen Umfang jedoch
verschiedenartig begrenzt ist. Dies System des kollegialischen
Magistrats und Gemeinderats ist namentlich im Norden und im Osten
Deutschlands verbreitet. Es besteht zunächst in den
östlichen Provinzen Preußens und in den Provinzen
Hannover, Westfalen und Schleswig-Holstein. Die Städteordnung
vom 19. Nov. 1808 hatte nämlich die preußischen
Städte von den beengenden Fesseln einer weitgehenden
staatlichen Bevormundung befreit. Ihr folgte die revidierte
Städteordnung vom 17. März 1831, welche die
Möglichkeit erweiterte, durch Ortsstatuten Sonderbestimmungen
treffen zu können. Nach einem mißglückten Versuch,
die Gemeindeverfassung für die Städte, Landgemeinden und
Gutsbezirke für das ganze Staatsgebiet in einheitlicher Weise
zu regeln, folgte die Städteordnung vom 30. Mai 1853 für
die östlichen Provinzen, indem nur Neuvorpommern und
Rügen für die dortigen Städte ihre auf besondern
Bestimmungen beruhende Verfassung behielten. Die neuern
Verwaltungsgesetze haben übrigens manche Abänderungen
dieser Städteordnung herbeigeführt. Dasselbe gilt von der
Städteordnung für Westfalen vom 19. März 1856. Eine
besondere Städteordnung ist 25. März 1867 für
Frankfurt a. M. erlassen. Der erste Bürgermeister wird dort
aus den von der S. präsentierten Kandidaten vom König
ernannt. Die Städteordnung für Schleswig-Holstein vom 14.
April 1869 überweist die Verwaltung einem aus
Bürgermeister und "Ratsverwandten" bestehenden
Magistratskollegium. Auch in der Provinz Hannover
(Städteordnung vom 24. Juni 1858) ist der Magistrat, ebenso
wie das Kollegium der Bürgervorsteher, kollegialisch
organisiert. Dasselbe System finden wir im rechtsrheinischen Bayern
(Gesetze von 1817, 1818, 1869 und 1872), im Königreich Sachsen
(revidierte Städteordnung vom 24. April 1873), in
Braunschweig, Oldenburg, Sachsen-Koburg-Gotha, Lippe und
Schaumburg-Lippe. In Sachsen-Meiningen und -Altenburg beruht die
Städteverfassung zumeist auf ortsstatutarischer Bestimmung,
ebenso in Mecklenburg.

Neben dem bisher erörterten System findet sich aber in
Deutschland ein zweites, welches seine Verbreitung wesentlich dem
Einfluß der französischen Gesetzgebung verdankt. Dies
kennt für Stadt- und Landgemeinden nur Eine Verfassung (sogen.
Bürgermeistereiverfassung). Die Verwaltungsgeschäfte der
S. werden hiernach von einem Bürgermeister mit einem oder
mehreren Beigeordneten geführt, die Gemeindevertretung ist
Sache eines gewählten Gemeinderats. Dies System ist in der
Rheinprovinz (Städteordnung vom 15. Mai 1856), in der
bayrischen Pfalz, in Hessen, Sachsen-Weimar, Anhalt, Waldeck und in
den reußischen und schwarzburgischen Fürstentümern
vertreten. Ein drittes zwischen jenen beiden vermittelndes System
gilt in Württemberg, Baden und in Hessen-Nassau. Auch hier ist
die Verfassung für S. und Land eine einheitliche; sie
nähert sich aber mehr der städtischen als der
ländlichen Verfassung, indem sie neben dem Vorstand der
Gemeinde noch einen Gemeinderat für die
Verwaltungsgeschäfte und dann als Vertretung der
Bürgerschaft den Gemeindeausschuß hat. In
Elsaß-Lothringen besteht das französische System, doch
ist seit 1887 die Änderung getroffen, daß der
Bürgermeister und die Beigeordneten nicht

215

Stadtältester - Stadtlohn.

mehr notwendig dem Gemeinderat zu entnehmen sind, wie dies
früher vorgeschrieben war. Auch kann jenen Gemeindebeamten,
entgegen den in Frankreich geltenden Bestimmungen, kraft
ministerieller Anordnung eine Besoldung gewährt werden. Eine
Entschädigung für Repräsentationsaufwand war schon
nach französischem Recht zulässig. In Frankreich selbst
erscheinen die Städte wesentlich als Verwaltungsbezirke, und
von einer eigentlichen Selbständigkeit derselben ist nicht die
Rede. Dagegen hat Schweden durch Gesetz vom 3. Mai 1862 seinen
Städten die Selbstverwaltung verliehen. Auch in England ist
die Städteverfassung von dem Regierungseinfluß
möglichst unabhängig. Für Rußland ist eine
Städteordnung 16. Juni 1870 erlassen.

[Litteratur.] Vgl. v. Maurer, Geschichte der
Städteverfassung in Deutschland (Erlang. 1869-71, 4 Bde.);
Heusler, Der Ursprung der deutschen Städteverfassung (Weim.
1872); Hüllmann, Städtewesen des Mittelalters (Bonn
1825-29, 4 Bde.); Arnold, Verfassungsgeschichte der deutschen
Freistädte (Gotha 1854, 2 Bde.); Brülcke, Die
Entwickelung der Reichsstandschaft der Städte (Hamb. 1881);
"Chroniken der deutschen Städte" (hrsg. von der Münchener
Historischen Kommission 1862-89, Bd. 1-21); Lambert, Die
Entwickelung der deutschen Städteverfassungen im Mittelalter
(Halle 1865, 2 Bde.); v. Below, Entstehung der deutschen
Stadtgemeinde (Düsseld. 1888); Jastrow, Die Volkszahl
deutscher Städte zu Ende des Mittelalters etc. (Berl. 1886)
und die Litteratur bei Art. Stadtrechte; ferner Steffenhagen,
Preußische Städteordnung vom 30. Mai 1853 (6. Aufl.,
Demmin 1885); Derselbe, Handbuch der städtischen Verfassung
und Verwaltung in Preußen (Berl. 1887-1888, 2 Bde.);
Örtel, Städteordnung vom 30. Mai 1853 (Liegn. 1883, 2
Bde.); Kotze, Die preußischen Städteordnungen (2. Aufl.,
Berl. 1883); Ebert, Der Stadtverordnete im Geltungsgebiet der
Städteordnung vom 30. Mai 1853 (2. Aufl., das. 1883);
"Städteordnung für die Rheinprovinz" (3. Aufl., Elberf.
1882); v. Bosse, Die sächsische Städteordnung (4. Aufl.,
Leipz. 1879); Schwanebach, Russische Städteordnung (St.
Petersb. 1874); Gneist, Selfgovernment (3. Aufl., Berl. 1871);
Kohl, Die geographische Lage der Hauptstädte Europas (Leipz.
1874); Sitte, Der Städtebau (geschichtlich, Wien 1889).

Stadtältester, in Preußen Ehrentitel eines
Magistratsmitglieds, welches sein Amt mindestens neun Jahre lang
mit Ehren bekleidet hat; wird vom Magistrat in Übereinstimmung
mit der Stadtverordnetenversammlung verliehen. In andern Staaten
heißen die Stadtverordneten zuweilen Stadtälteste.

Stadtamhof, Bezirksamtsstadt im bayr. Regierungsbezirk
Oberpfalz, an der Mündung des Regen in die Donau, Regensburg
gegenüber, hat eine kath. Kirche, 2 Waisenhäuser, ein
Amtsgericht, Maschinenfabrikation, Schiffahrt, Speditionshandel und
(1885) 3449 meist kath. Einwohner.

Stadtausschuß, s. Stadtkreis.

Stadtbahn, entweder das durch die Straßen einer
Stadt gelegte, zum Befahren mit Pferdewagen oder
Straßenlokomotiven bestimmte Schienennetz (s.
Straßeneisenbahn) oder die zur Vermittelung des Lokalverkehrs
und durchgehenden Eisenbahnverkehrs durch eine Stadt geführte
Lokomotiveisenbahn.

Stadtberge, Stadt, s. Marsberg.

Stadtbücher, s. Grundbücher.

Städtebünde, die Verbindungen der Städte
im Mittelalter zur Verteidigung ihrer Freiheiten gegen
fürstliche Herrschaftsansprüche und in den Zeiten des
Faustrechts zum Schutz ihres Handels und Verkehrs: so bildete sich
in Italien der Lombardische Städtebund gegen Kaiser Friedrich
I., in Deutschland im 14. Jahrh. der Rheinische und der
Schwäbische Städtebund, in Norddeutschland vor allem die
Hansa (s. d.), in Preußen im 15. Jahrh. der
Westpreußische Städtebund u. a.

Städteordnung, die für Städte im Gegensatz
zu den Landgemeinden gegebene Gemeindeordnung (s. Stadt, S.
214).

Städtereinigung, die Beseitigung aller Abfallstoffe
aus den Städten zur Vermeidung schädlicher Zersetzungen
derselben und einer Verunreinigung des Bodens und des Grundwassers
mit fäulnisfähigen Substanzen, welche die Entwickelung
krankheiterregender Organismen begünstigen. In den meisten
ältern großen Städten ist der Boden durch
Senkgruben, Schlachthäuser etc. arg verunreinigt, und an
vielen Orten ist infolgedessen das Wasser aus den städtischen
Brunnen nur noch für gewisse technische Zwecke brauchbar. Die
moderne S. kann daher nur durch rationelle Abfuhr der Exkremente
(s. d.), durch Kanalisation (s. d.), Zentralisation des
Schlächtereibetriebs in öffentlichen Schlachthäusern
etc. weiterer Verunreinigung vorbeugen und die Selbstreinigung des
Bodens vorbereiten, für die Versorgung mit gutem Trinkwasser
müssen Wasserleitungen angelegt werden. Wo S. konsequent
durchgeführt ist, hat sich der Gesundheitszustand gehoben und
ist die Sterblichkeit gesunken. Vgl. Varrentrapp, Entwässerung
der Städte (Berl. 1868); "Reinigung und Entwässerung
Berlins" (das. 1870-79, 13 Hefte); Pettenkofer, Kanalisation und
Abfuhr (Münch. 1876); Sommaruga, Die
Städtereinigungssysteme in ihrer land- und
volkswirtschaftlichen Bedeutung (Halle 1874); kleinere Schriften
von v. Langsdorff, Lorenz, Martini, Riedel, Stammer u. a.

Stadthagen, Stadt im Fürstentum Schaumburg-Lippe,
Knotenpunkt der Linien Braunschweig-Hamm und S.-Osterholz der
Preußischen Staatsbahn, hat eine evang. Kirche, ein
Schloß, ein Landratsamt, ein Amtsgericht, Steinkohlengruben,
Glasfabrikation, Gerberei, Holzschneiderei, Steinbrüche,
Ziegeleien und (1885) 4394 meist evang. Einwohner.

Stadtilm, Stadt im Fürstentum
Schwarzburg-Rudolstadt, Landratsamt Rudolstadt, an der Ilm, 348 m
ü. M., hat eine evang. Kirche, ein Amtsgericht, eine
Hutfabrik, Gerberei, Orgelbau, Bierbrauerei und (1885) 3107 evang.
Einwohner. 1599 ward hier der Hauptrezeß, betreffend die
Teilung der schwarzburgischen Länder, geschlossen.

Stadtkreis, in Preußen der besondere Kreis- und
Kommunalverband, welchen die sogen. großen Städte, d. h.
diejenigen, welche mit Ausschluß der aktiven
Militärpersonen mindestens 25,000 Einwohner haben, bilden
können. Kleinere Städte können nur ausnahmsweise auf
Grund königlicher Verordnung aus dem Kreisverband ausscheiden.
Die Geschäfte des Kreistags und des Kreisausschusses, soweit
sich die Thätigkeit des letztern auf die Verwaltung der
Kreiskommunalsachen bezieht, werden von den städtischen
Behörden wahrgenommen. Im übrigen besteht an Stelle des
Kreisausschusses ein Stadtausschuß unter dem Vorsitz des
Bürgermeisters oder seines Stellvertreters.

Stadtlohn, Stadt im preuß. Regierungsbezirk
Münster, Kreis Ahaus, an der Berkel, hat eine kath. Kirche,
bedeutende Nesselweberei, Lein- und Halbleinweberei, Bleicherei,
Thonwarenfabrikation und (1885) 2189 Einw. Hier 6. Aug. 1623 Sieg
der Kai-

216

Stadtmusikus - Stael-Holstein.

serlichen unter Tilly über Herzog Christian von
Braunschweig und im August 1638 der Kaiserlichen (Hatzfeld)
über die Schweden (King).

Stadtmusikus (Stadtpfeifer), s.
Musikantenzünfte.

Stadtoldendorf, Stadt im braunschweig. Kreis Holzminden,
an der Linie Holzminden-Jerxheim der Preußischen Staatsbahn,
195 m ü. M., hat eine evang. Kirche, ein Amtsgericht, eine
Oberförsterei, Sandsteinbrüche und (1885) 2571 Einw.
Dabei das ehemalige Cistercienserkloster Amelunxborn mit einer
berühmten Klosterschule von 1569 bis 1754.

Stadtprozelten, Stadt im bayr. Regierungsbezirk
Unterfranken, Bezirksamt Marktheidenfeld, am Main, hat eine kath.
Kirche, eine Burgruine, ein Amtsgericht, ein Forstamt, ein reiches
Hospital, Obst- und Weinbau und (1885) 844 Einw. Dabei das Dorf
Dorfprozelten mit 1017 Einw.

Stadtrat, städtische Kollegialbehörde, welcher
die Verwaltung der städtischen Angelegenheiten obliegt. Das
vollziehende Organ ihrer Beschlüsse ist der Magistrat
(Bürgermeisteramt). Mitunter wird aber auch der letztere S.
genannt und für die Mitglieder desselben die Bezeichnung
"Stadträte" (Magistratsräte) gebraucht. Vgl. Stadt, S.
215.

Stadtrecht (Weichbildrecht), ursprünglich das
kaiserliche oder landesherrliche Privilegium, wodurch eine Gemeinde
zur Stadt erhoben ward; dann Inbegriff der in einer Stadt
gültigen Rechtssätze. Solche Stadtrechte entstanden in
Deutschland seit dem 10. Jahrh., und es wurden dadurch nicht nur
Privatrechtsverhältnisse, sondern auch Gegenstände des
öffentlichen Rechts normiert. Oft ward das Recht einer Stadt
mehr oder minder vollständig von andern rezipiert; so die
Stadtrechte von Münster, Dortmund, Soest und andern
westfälischen Städten, ganz besonders aber die
Stadtrechte von Magdeburg, Lübeck und Köln. Das
lübische Recht gewann die Küstenstriche von Schleswig ab
bis zu den östlichsten deutschen Ansiedelungen, das
Magdeburger die Binnenlande bis nach Böhmen, Schlesien und
Polen hinein und verbreitete sich als Kulmer Recht über ganz
Preußen. Infolge der Umgestaltung der
Territorialverhältnisse sowie der Rechtsbegriffe machten sich
Umänderungen der Stadtrechte notwendig, und so entstanden im
Lauf des 15., 16. und 17. Jahrh. an vielen Orten verbesserte
Stadtrechte, sogen. "Reformationen", wobei aber unter Einwirkung
der Rechtsgelehrten mehr und mehr römisches Recht eingemischt
ward bis zuletzt die alten Stadtrechte zugleich mit der eignen
Gerichtsbarkeit und der Autonomie der Städte bis auf
dürftige Reste der Autorität der Landesherren weichen
mußten. Nur für das Familien- und Erbrecht haben sich
einzelne Satzungen der alten Stadtrechte (Statuten) bis auf die
Gegenwart erhalten.

Vgl. Gaupp, Deutsche Stadtrechte des Mittelalters (Bresl.
1851-52, 2 Bde.); Gengler, Deutsche Stadtrechte des Mittelalters
(neue Ausg., Nürnb. 1866); Derselbe, Codex juris municipalis
Germaniae (Erlang. 1863-67, Bd. 1); Derselbe, Deutsche
Stadtrechtsaltertümer (das. 1882).

Stadtreisender, s. Platzreisender.

Stadtsteinach, Bezirksamtsstadt im bayr. Regierungsbezirk
Oberfranken, an der Steinach, hat eine kath. Kirche, ein
Amtsgericht, ein Forstamt, Eisensteingruben und (1885) 1490 meist
kath. Einwohner.

Stadtsulza, s. Sulza.

Stadtverordnete, s. Stadt, S. 214.

Staël-Holstein (spr. stal), Anne Louise Germaine,
Baronin von, berühmte franz. Schriftstellerin, geb. 22. April
1766 zu Paris, Tochter des Ministers Necker, entwickelte sich
frühzeitig unter dem Einfluß einer streng
protestantischen Mutter und der philosophischen Anschauungen, denen
man im Haus ihres Vaters huldigte, verfaßte mit 15 Jahren
juristische und politische Abhandlungen und verheiratete sich 1786
auf den Wunsch ihrer Mutter mit dem schwedischen Gesandten, Baron
von S. Doch war diese Ehe nicht glücklich; 1796 trennte sie
sich von ihrem geistig tief unter ihr stehenden Gemahl,
näherte sich ihm aber 1798 wieder, als er krank wurde, um ihn
zu pflegen, und blieb bei ihm bis zu seinem Tod (1802). Seit dem
ersten Jahr ihrer Ehe entwickelte sie eine eifrige litterarische
Thätigkeit. 1786 war ihr Schauspiel "Sophie, ou les sentiments
secrets" erschienen, dem als letzter Versuch dieser Art 1790 die
Tragödie "Jane Gray" folgte; sie sah ein, daß sie
für Bühnendichtung nicht geschaffen war. Besser gelangen
ihr die überschwenglich lobenden "Lettres sur les
écrits et le caractère de J. J. Rousseau" (1788);
doch fehlt die Kritik fast ganz. Das immer reichlicher
fließende Blut ließ ihre anfängliche Begeisterung
für die Revolution bald schwinden; ein Plan zur Flucht, den
sie der königlichen Familie unterbreitete, wurde nicht
angenommen; am 2. Sept. 1792 mußte sie selbst flüchten.
Auch ihre beredte Schrift zu gunsten der Königin:
"Réflexions sur le procès de la reine" (1793) hatte
keine Wirkung. Dagegen erregte sie Aufsehen durch ihre Schriften:
"Réflexions sur la paix, adressées à M. Pitt
et aux Français" (Genf 1795) und besonders durch "De
l'influence des passions sur le bonheur des individus et des
nations" (Laus. 1796), ein Werk voll tiefer und lichtvoller
Gedanken. Nach ihrer Rückkehr verfeindete sie aber ihr
energisches Eintreten für konstitutionelle Ideen derart mit
Bonaparte, daß sie auf 40 Stunden im Umkreis von Paris
verbannt wurde. Sie ging nach Coppet, lebte aber meist auf Reisen.
Ihr schriftstellerischer Ruf hatte sich inzwischen in weitern
Kreisen verbreitet durch ihre Schrift "De la littérature
considérée dans ses rapports avec les institutions
sociales" (1799, 2 Bde.) und durch den Roman "Delphine" (1802, 6
Bde., u. öfter; hrsg. von Sainte-Beuve, 1868; deutsch, Leipz.
1847, 3 Bde.), eine Schilderung ihrer eignen Jugend in Briefform.
1803 machte sie ihre erste Reise nach Deutschland, wo sie
längere Zeit in Weimar und Berlin verweilte; 1805 bereiste sie
Italien. Seit dieser Zeit war A. W. v. Schlegel, den sie in Berlin
kennen gelernt hatte, ihr Begleiter, und sein Umgang ist nicht ohne
Einfluß auf ihre Ansichten, besonders über Kunst und
deutsche Litteratur, geblieben. Die Frucht ihrer Reise nach Italien
war der Roman "Corinne, ou l'Italie" (1807, 2 Bde., u. öfter;
deutsch von Fr. Schlegel, Berl. 1807; von Bock, Hildburgh. 1868),
eine begeisterte Schilderung Italiens und das glänzendste
ihrer Werke. 1810 ging sie nach Wien, um Stoff zu ihrem schon lange
geplanten Werk "De l'Allemagne" zu sammeln, einem Gemälde
Deutschlands in Beziehung auf Sitten, Litteratur und Philosophie;
doch wurde die ganze Auflage auf Befehl des damaligen
Polizeiministers Savary sogleich vernichtet und gegen die
Verfasserin von Napoleon I. ein neues Verbannungsdekret erlassen,
das sich auf ganz Frankreich erstreckte. Erst zu Ende 1813 erschien
das Werk (3 Bde.) zu London, darauf 1814 auch zu Paris. So reich es
an geistvollen Gedanken ist und so achtungswert durch die
Wärme, womit es den Franzosen deutsche Art und Kunst
empfiehlt, so enthält es doch auch viele schiefe Ansichten und
erhebliche Unrichtigkeiten. Jedenfalls

217

Stäfa - Staffordshire.

aber hat es den größten und dauerndsten Eindruck
gemacht und muß darum als ihr Hauptwerk gelten. S. lebte in
der nächsten Zeit wieder zu Coppet, wo sie sich insgeheim mit
einem jungen Husarenoffizier, de Rocca, verheiratete. Von der
französischen Polizei fort und fort verfolgt, begab sie sich
im Frühjahr 1812 nach Moskau und Petersburg und von da nach
Stockholm, wo ihr jüngster Sohn, Albert, im Duell blieb. Im
Anfang des folgenden Jahrs ging sie nach England; erst nach
Napoleons Sturz kehrte sie nach langer Verbannung, deren Ereignisse
sie in "Dix années d'exil" (1821; deutsch, Leipz. 1822)
teilweise erzählt, nach Paris zurück. Nach Bonapartes
Rückkehr von Elba zog sie sich nach Coppet zurück. Nach
der zweiten Restauration erhielt sie Vergütung für die
alte Schuld von 2 Mill. Frank, die ihr Vater bei seinem Abschied im
öffentlichen Schatze zurückgelassen hatte, und lebte
fortan in einem glücklichen häuslichen Kreis und im engen
Verkehr mit litterarischen und politischen Freunden in Paris, bis
zu ihrer letzten Krankheit mit Ausarbeitung der trefflichen
"Considérations sur les principaux événements
de la Révolution française" (1818, 3 Bde.; neue Ausg.
1861; deutsch von A. W. v. Schlegel, Heidelb. 1818, 6 Bde.)
beschäftigt. Sie starb 14. Juli 1817. Zu erwähnen sind
noch die Werke: "Vie privée de M. Necker", an der Spitze der
Ausgabe der Manuskripte ihres Vaters (1804); "Réflexions sur
le suicide" (1813); "Zulma et trois nouvelles" (1813); "Essais
dramatiques" (1821), eine Sammlung von 7 Stücken in Prosa,
darunter das Drama "Sapho". Eine Ausgabe ihrer Werke (Par. 1820-21,
17 Bde.) veranstaltete ihr ältester Sohn, Auguste Louis, Baron
von S. (geb. 1790), der sich selbst als Schriftsteller bekannt
machte und 1827 starb (seine "OEuvres divers" gab seine Schwester,
die Herzogin von Broglie, heraus, 1829, 3 Bde.). Vgl. Baudrillart,
Éloge de Mad. de S. (1850); Norris, Life and times of Mad.
de S. (Lond. 1853); Gérando, Lettres inédites et
Souvenirs biographiques de Mad. Récamier et de Mad. S. (Par.
1868); Stevens, Mad. de S. (Lond. 1880, 2 Bde.); Lady
Blennerhassett, Frau von S. und ihre Freunde (Berl. 1887-89, 3
Bde.); ferner "Correspondance diplomatique du baron de S.,
documents inédits" (hrsg. von Léouzon le Duc, Par.
1881).

Stäfa, Gemeinde im schweizer. Kanton Zürich, am
rechten Ufer des Zürichsees, mit Weinbau, Baumwoll- und
Seidenweberei und (1880) 3874 Einw., durch Dampfschiffahrt mit
sämtlichen Uferorten verbunden.

Stafette (franz. Estafette), ein außerordentlicher
reitender Bote, welcher Briefe so schnell wie möglich
befördert, namentlich den Verkehr der Regierungen mit den
obern Behörden und den Gesandtschaften vielfach
unterhält. Seit der Entwickelung des Eisenbahn- und
Telegraphenverkehrs ist die Sache und mit ihr das Wort sehr
außer Gebrauch gekommen. Für Deutschland sind
Bestimmungen über die Estafettenbeförderung in Abschnitt
II, § 45 der Postordnung gegeben.

Staffa, eine der innern Hebriden, westlich von Mull, nur
360 Hektar groß, aber berühmt wegen ihrer
Basaltsäulen und Höhlen, unter denen die
Fingalshöhle (s. d.) die berühmteste ist.

Staffage (spr. -ahsche), Bezeichnung für einzelne
Figuren oder ganze Gruppen von Menschen und Tieren, welche in einer
Landschaft oder einem Architekturbild zur Belebung der Darstellung
angebracht werden, jedoch ohne die Hauptsache derselben zu
sein.

Staffelei, hölzernes Gestell, dessen sich der Maler
beim Anfertigen seiner Bilder zum Aufstellen derselben bedient. Es
hat an der Rückseite eine bewegliche Stütze zum Behuf
einer willkürlich schrägen Stellung und an der
Vorderseite ein bewegliches Querholz zum Höher- und
Niedrigerstellen des Bildes, was durch eiserne oder hölzerne
Bolzen erfolgt, welche in parallel angebrachte Öffnungen
gesteckt werden, und auf denen das Querholz aufliegt. Daher
Staffeleigemälde, kleinere Gemälde, welche auf der S.
verfertigt werden, Gegensatz von Wandgemälden.

Staffelgiebel, die an den Seitenkanten durch
stufenförmige Einschnitte gegliederten Hausgiebel, welche in
der Profanbaukunst des Mittelalters häufig angewendet wurden,
auch Katzentreppen (s. d.) und Treppengiebel genannt.

Staffelit, Mineral aus der Ordnung der Phosphate, nach
dem Fundort Staffel in Nassau benannt, vielleicht nur eine
Varietät des Phosphorits, bildet hellgrüne, traubige und
nierenförmige, mikrokristallinische Aggregate und enthält
bis zu 9 Proz. kohlensauren Kalk, etwas Wasser und Spuren von
Jod.

Staffeln, s. v. w. Stufen, beim Militär die Teile
von Truppenkörpern, die sich in gewissen Abständen
folgen, z. B. bei der Artillerie die Wagenstaffeln der Batterien
und Kolonnen. Über S. im taktischen Sinn s. Echelon.

Staffelngebete, s. Stufengebete.

Staffelrechnnng, s. Kontokorrent, S. 47.

Staffelrecht, s. Stapelgerechtigkeit.

Staffelschnitt, in der Heraldik die stufenförmige
Teilung eines Wappenschildes.

Staffelstein, Bezirksamtsstadt im bayr. Regierungsbezirk
Oberfranken, an der Lauter und der Linie München-Bamberg-Hof
der Bayrischen Staatsbahn, 295 m ü. M., hat eine kath. Kirche,
ein Amtsgericht, Obst-, Wein- und Spargelbau, Bierbrauerei, 2
Kunstmühlen, Landesprodukten-, Gerberrinden-, Weidenreifen-
und Holzhandel und (1885) 1837 Einw. Dabei der pittoreske
Staffelberg (mit Kapelle), reich an Versteinerungen. S. war der
Geburtsort des Rechenmeisters Adam Riese.

Staffieren (v. altfranz. estoffer), mit dem nötigen
Stoff oder Zubehör versehen, verzieren, mit Beiwerk
ausschmücken. Vgl. Staffage.

Stäffis am See, Ort, s. Estavayer le Lac.

Stafford, altertümliche Hauptstadt von Staffordshire
(England), am Sow, der sich dicht bei der Stadt mit dem Trent
vereinigt, hat 2 alte Kirchen, eine Grafschaftshalle (Shire Hall),
ein Rathaus mit großer Markthalle, ein neues Schloß,
Irrenhaus, Zuchthaus, große Stiefelfabriken, Gerberei,
Brauereien und (1881) 19,977 Einw.

Staffordshire (spr. stäffordschir), engl.
Grafschaft, von den Grafschaften Derby, Warwick, Worcester, Salop
und Chester begrenzt, umfaßt 3022 qkm (54,9 QM.) mit (1881)
981,013 Einw. Der Norden des Landes besteht aus kahlem,
unfruchtbarem, bis zu 552 m ansteigendem Hügelland mit
großen Strecken Moorland; im O. liegt Needwood Forest, ein
ausgedehnter Strich Heide; das Thal des Trent aber ist ungemein
fruchtbar, und auch der wellenförmige Süden ist
vorzüglich angebaut. Von der Oberfläche sind 39,7 Proz.
unter dem Pflug, 56,8 Proz. bestehen aus Wiesen, und an Vieh
zählte man 1887: 143,159 Rinder, 244,394 Schafe und 116,956
Schweine. Die wichtigsten Produkte des Bergbaues sind: Steinkohlen
(1887: 12,853,000 Ton.), Eisen (938,018 T. Erz), Blei und Kupfer.
Die Industrie ist ungemein entwickelt und liefert namentlich
Eisenwaren, Töpferwaren (in dem

218

Stage - Stahl.

als "Potteries" bekannten Bezirk), Glas, Seidenwaren,
Baumwollwaren und Stiefel. Hauptstadt ist Stafford, die
volkreichste Stadt ist Wolverhampton.

Stage, Taue aus Hanf oder Draht, welche von den Spitzen
der Masten und Stengen schräg nach vorn und unten verlaufen,
um den genannten Rundhölzern einen bessern Halt zu geben; sie
gestatten die Anbringung von Stagsegeln.

Stageiros (Stagira), von Andriern im 7. Jahrh. v. Chr.
gegründete Stadt im alten Makedonien, auf der Halbinsel
Chalkidike, berühmt als Geburtsort des Aristoteles (daher der
Stagirite), von Philipp II. 348 v. Chr. zerstört, aber
später wieder aufgebaut. Heute Ruinen Lymbiada.

Stägemann, Friedrich August von, preuß.
Staatsmann und Dichter, geb. 7. Nov. 1763 zu Vierraden in der
Ukermark, studierte zu Halle die Rechte und ward 1806 Geheimer
Oberfinanzrat, 1807 vortragender Rat bei dem nachmaligen
Staatskanzler v. Hardenberg und nach dem Tilsiter Frieden Mitglied
der zur Verwaltung des Landes niedergesetzten Immediatkommission,
unter dem Ministerium Stein vortragender Rat, 1809 Staatsrat, in
welcher Stellung er Hardenberg nach Paris, London und zum Wiener
Kongreß begleitete. Er starb 17. Dez. 1840 in Berlin. Seine
vaterländischen Gedichte, gesammelt als "Historische
Erinnerungen in lyrischen Gedichten" (Berl. 1828), zum Teil in
kunstvoller Odenform, spiegeln den idealistisch-patriotischen
Geist, welcher zur Zeit der Befreiungskriege die gebildeten Kreise
durchdrang. Dem Andenken seiner Gattin (gest. 1835) gewidmet ist
die als Manuskript gedruckte Sonettensammlung "Erinnerungen an
Elisabeth" (Berl. 1835); von ihr selbst erschienen: "Erinnerungen
für edle Frauen" (Leipz. 1846, 3. Aufl. 1873). Vgl. auch
"Briefe von S., Metternich, Heine und Bettina v. Arnim" (aus
Varnhagens Nachlaß, Leipz. 1865).

Stagione (ital., spr. stadschohne), Jahreszeit,
Saison.

Stagnation (lat.), Stillstand, Stockung.

Stagnelius, Erik Johan, schwed. Dichter, geb. 14. Okt.
1793 zu Gärdslösa auf Örland, studierte in Lund und
Upsala und erhielt dann eine Anstellung in der königlichen
Kanzlei. Seine Muße widmete er philosophischen Studien,
namentlich suchte er Schellings Identitätslehre mit
gnostischer Mystik zu verschmelzen. Finster und verschlossen, dabei
maßlos ausschweifend, verfiel er in periodischen Wahnsinn und
starb 23. April 1823. Seinen litterarischen Ruf begründete
1817 das epische Gedicht "Wladimir ten store", das von der
schwedischen Akademie gekrönt wurde. Seine Hauptwerke aber
sind der halb philosophische, halb religiöse Gedichtcyklus
"Liljor i Saron" (1820), das antike Trauerspiel "Bacchanterna", die
nordischen Tragödien "Visbur" und "Sigurd Ring", das Drama
"Riddartornet", die Schauspiele "Gladjetlickan i Rom" und
"Karlekena fter doden" und die religiöse Tragödie
"Martyrerne", worin die Idee vom Leben als einer Strafe und einem
Leiden in ergreifender Weise durchgeführt ist. Auch viele
seiner kleinern, im Volkston gehaltenen Lieder sind vortrefflich.
Seine "Gesammelten Schriften" gab zuletzt C. Eichhorn (Stockh.
1866-68, 2 Bde.) heraus; eine deutsche Übersetzung
Kannegießer (Leipz. 1853, 6 Bde.).

Stagnieren (lat.), stillstehen, stocken.

Stagnone (spr. stanjohne), flacher Meerbusen an der
Westseite Siziliens, zwischen Marsala und Trapani, welcher durch
die niedrigen, fast ganz mit Salinen bedeckten Stagnoneinseln gegen
das Meer geschlossen ist. Dieser Inseln sind drei: Borrone,
Isolalonga und in der Mitte die kleine kreisrunde Insel San
Pantaleone, berühmt als Sitz der karthagischen Stadt Motye,
von der noch einzelne Reste vorhanden sind.

Stahl, s. Eisen, S. 418 ff.

Stahl, 1) Georg Ernst, Chemiker und Mediziner, geb. 21.
Okt. 1660 zu Ansbach, studierte in Jena wurde 1687 Hofarzt des
Herzogs von Weimar, 1694 Professor der Medizin in Halle, 1716
Leibarzt des Königs von Preußen; starb 14. Mai 1734 in
Berlin. S. stellte eine Theorie der Chemie auf, welche bis auf
Lavoisier allgemeine Geltung behielt und auf der Annahme des
Phlogistons beruhte. Auch entdeckte er viele Eigenschaften der
Alkalien, Metalloxyde und Säuren. Seine Hauptwerke sind:
"Experimenta et observationes chemicae" (Berl. 1731) und "Theoria
medica vera" (Halle 1707; Leipz. 1831-33, 3 Bde.; deutsch von
Ideler, Berl. 1831-32, 3 Bde.), in welcher er Hoffmann
bekämpfte und die Lehre vom psychischen Einfluß
(Animismus, s. d.) aufstellte.

2) Friedrich Julius, hervorragender Schriftsteller im Fach des
Staatsrechts und Kammerredner, geb. 16. Jan. 1802 zu München
von jüdischen Eltern, trat 1819 in Erlangen zur
protestantischen Kirche über, studierte in Würzburg,
Heidelberg, Erlangen Rechtswissenschaft und habilitierte sich im
Herbst 1827 als Privatdozent in München. In demselben Jahr
erschien seine erste größere Schrift: "Über das
ältere römische Klagenrecht" (Münch. 1827). Von
Schelling angeregt, schrieb er: "Die Philosophie des Rechts nach
geschichtlicher Ansicht" (Heidelb. 1830-1837, 2 Bde. in 3 Abtlgn.;
5. Aufl. 1878), sein wissenschaftliches Hauptwerk, welches trotz
großer Mängel epochemachend für die Geschichte der
Staatswissenschaft ist. S. trat darin der naturrechtlichen Lehre
schroff entgegen und begründete seine Rechts- und Staatslehre
"auf der Grundlage christlicher Weltanschauung", indem er "Umkehr
der Wissenschaft" zum Glauben an die geoffenbarte Wahrheit der
christlichen Religion forderte. 1832 ward S. zum
außerordentlichen Professor in Erlangen, im November zum
ordentlichen Professor für Rechtsphilosophie, Pandekten und
bayrisches Landrecht in Würzburg ernannt. Später kehrte
er nach Erlangen zurück und lehrte hier Kirchenrecht,
Staatsrecht und Rechtsphilosophie. 1840 als Professor der
Rechtsphilosophie, des Staatsrechts und Kirchenrechts nach Berlin
berufen, 1849 von König Friedrich Wilhelm IV., der ihm seine
Gunst zuwandte, zum lebenslänglichen Mitglied der damaligen
Ersten Kammer, des spätern Herrenhauses ernannt, wurde S. der
Hauptwortführer der Reaktion und der ritterschaftlichen
Partei, der er bis zu seinem Ende treu geblieben ist. Auch auf
kirchlichem Gebiet benutzte er seine Stellung als Mitglied des
evangelischen Oberkirchenrats (I852-58) zur Lockerung der Union,
zur Stärkung des lutherischen Konfessionalismus und zur
Erneuerung der Herrschaft der orthodoxen Geistlichkeit über
die Laienwelt. Der politische Umschwung infolge der Erhebung des
Prinz-Regenten und der Sturz des Ministeriums Manteuffel brachen
auch Stahls Herrschaft im Oberkirchenrat und veranlaßten 1858
seinen Austritt aus dieser Behörde. Seitdem setzte er den
politischen Kampf gegen das "Ministerium der liberalen Ära"
mit zäher Energie im Herrenhaus fort, drohend, "das Haus werde
in seinem Widerstand gegen die neue liberale Richtung der Regierung
vielleicht brechen, aber nicht biegen", erlebte jedoch nicht mehr
den Umschlag der Regierung, welche nach schwachen liberalen
Versuchen ihre Stütze wieder in dem Herrenhaus suchte. Er
starb 10. August 1861 in Brückenau. Von seinen Schriften sind
noch hervorzuheben: "Die Kirchenver-

219

Stahlblau - Stahr.

fassung nach Lehre und Recht der Protestanten" (Erlang. 1840, 2.
Aufl. 1862); "Über Kirchenzucht" (Berl. 1845, 2. Aufl. 1858);
"Das monarchische Prinzip" (Heidelb. 1845); "Der christliche Staat"
(Berl. 1847, 2. Aufl. 1858); "Die Revolution und die
konstitutionelle Monarchie" (das. 1848, 2. Aufl. 1849); "Was ist
Revolution?" (1.-3. Aufl., das. 1852); "Der Protestantismus als
politisches Prinzip" (das. 1853, 3. Aufl. 1854); "Die katholischen
Widerlegungen" (das. 1854); "Wider Bunsen" (gegen dessen "Zeichen
der Zeit", 1.-3. Aufl., das. 1856); "Die lutherische Kirche und die
Union" (das. 1859, 2. Aufl. 1860). Nach seinem Tod erschienen:
"Siebenzehn parlamentarische Reden" (Berl. 1862) und "Die
gegenwärtigen Parteien in Staat und Kirche" (2. Aufl., das.
1868). Vgl. "Pernice, Savigny, S." (Berl. 1862).

3) Karl, Pseudonym, s. Gödeke.

4) Pierre Jules, Pseudonym, s. Hetzel.

5) Arthur, Pseudonym, s. Voigtel.

Stahlblau, dunkelblaue Farbe, ähnlich dem
angelaufenen Stahl, besonders wenn der so gefärbte Körper
Metallglanz hat.

Stahlbrillanten (Stahldiamanten), Stahlstückchen mit
vielen glänzenden Facetten, bisweilen als Köpfe von
Stahlstiften mit Schraubengewinde.

Stahlbronze, s. Bronze, S. 460.

Stahleck, Burg bei Bacharach (s. d.).

Stahlfedern, Schreibfedern aus Stahl, werden dargestellt,
indem man aus entsprechend dünnem Stahlblech Plättchen
von der Gestalt der Federn mittels eines Durchstoßes
ausschneidet, dann diese Plättchen unter einem andern
Durchstoß mit dem Loch versieht, in welchem der Spalt endigt,
und zugleich mit den beiden seitlichen Spalten, welche die
Biegsamkeit der Feder erhöhen. Hierauf glüht man die
Plättchen in eisernen Töpfen aus, versieht sie unter
einem Fallwerk mit der Schrift und etwanigen Verzierungen und gibt
ihnen auf einer Presse durch Hineintreiben in eine entsprechend
konkave Stanze die rinnenförmige Gestalt. Die durch das
Ausglühen sehr weich gewordenen Federn werden nun zum Zweck
des Härtens in flachen, bedeckten Eisengefäßen
rotglühend gemacht und schnell in Öl oder Thran
geschüttet. Behufs ihrer Reinigung von dem Öl behandelt
man sie dann mit Sägespänen in einer um ihre Achse
rotierenden Trommel, scheuert sie durch eine ähnliche Prozedur
mit zerstoßenen Schmelztiegelscherben und schleift sie nun
einzeln auf der Außenseite ihres Schnabels durch fast nur
augenblickliches Anhalten an eine schnell umlaufende
Schmirgelscheibe. Die blau oder gelb angelaufenen S. erhalten diese
Farbe durch Erhitzen in einer über Kohlenfeuer rotierenden
Trommel aus Eisenblech. Diese Operation ist für alle S.
erforderlich, da sie die Härte bestimmt, und es müssen
daher diejenigen, welche nicht farbig in den Handel gebracht werden
sollen, schließlich nochmals gescheuert werden. Zuletzt wird
der Spalt mittels einer besonders gebauten kleinen Parallelschere
erzeugt. Manche S. werden schließlich noch mit
Schellackfirnis überzogen. Über die Erfindung der S. ist
nichts Sicheres begannt. Die ersten S. soll auf Anregung des
Chemikers Priestley der Metallwarenfabrikant Harrison in Birmingham
hergestellt haben, aber erst sein Gehilfe Josiah Mason (gest. 1881)
beutete die Erfindung aus und arbeitete Jahrzehnte für Perry,
welcher als Begründer der Birminghamer Stahlfederindustrie
gilt. Gegenwärtig gibt es 18 Stahlfedernfabriken: 13 in
England, 2 in Nordamerika, 2 in Deutschland (Berlin und
Plagwitz-Leipzig), 1 in Frankreich, welche zusammen
wöchentlich 37½ Mill. Stück fabrizieren.

Stahlhof (Steelyard, wohl aus "Stapelhof" korrumpiert),
die alte Faktorei der Hanseaten in London, die ihnen 1473 gegen
eine Jahresmiete von 70 Pfd. Sterl. überlassen wurde und bis
1866 ihr Eigentum blieb, in welchem Jahr sie dieselbe an eine
Eisenbahngesellschaft verkauften. Jetzt steht an der Stelle der
Bahnhof in Canon Street.

Stahlquellen, s. v. w. Eisenquellen, s.
Mineralwässer, S. 652.

Stahlrot, s. Englischrot.

Stahlrouge, s. Polierrot.

Stahlspiel, s. Lyra.

Stahlstein, s. Spateisenstein.

Stahlstich (Siderographie), die Vervielfältiggung
von Bildwerken mittels geschnittener Stahltafeln, 1820 von dem
Engländer Charles Heath erfunden. Das Verfahren dabei ist
folgendes. Stahlblöcke oder Platten werden dekarbonisiert, d.
h. des Kohlenstoffs beraubt, und dadurch bis zu dem Grad erweicht,
daß sie sich beim Stich der Figuren noch besser behandeln
lassen als Kupfer. Das Verfahren beim Stich ist dasselbe wie bei
dem auf Kupfer, nur bedient man sich auf Stahl seltener und mit
weniger Vorteil der kalten Nadel. Nach dem Stich wird durch ein
chemisches Verfahren die Platte wieder gehärtet. Um den Stich
auf andre Platten zu übertragen, schiebt man einen gleichfalls
dekarbonisierten Cylinder von Stahl in die Übertragungspresse
(transfer-press) und fährt damit über die
eingeschnittenen Figuren der wieder gehärteten Stahlplatte
hin. Die Einschnitte der Platte drücken sich hierbei dem
Cylinder erhaben auf, und zwar wird es durch eine schwingende
Bewegung der Presse und der Peripherie des Cylinders
ermöglicht, daß sich immer eine neue Oberfläche zur
Aufnahme des Stahlschnitts darbietet. Nachdem darauf der Cylinder
ebenfalls gehärtet worden ist, drückt man damit auf neue
dekarbonisierte Stahlplatten das ursprüngliche Bild der
Originalplatte auf und druckt diese wie gewöhnlich ab. Auf
diese Weise kann das Bild ins Unendliche vervielfältigt
werden, so daß der 10,000. Abdruck nicht den geringsten
Unterschied vom ersten zeigt. Dennoch ist für Kunstwerke
höherer Gattung der Kupferstich in Geltung geblieben, da er
größere Kraft, Sicherheit und Weichheit in der
Linienführung gestattet, wogegen der S. besonders für
solche Werke angewendet wird, welche einen starken Absatz
versprechen, wie für Illustrationen, Veduten u. dgl. Der erste
Stahlstecher in Deutschland war Karl Ludwig Frommel in Karlsruhe.
Seit der Erfindung der Galvanoplastik, welche die Abnahme von
Klischees von Kupferplatten gestattet, und der Verstählung von
Kupferplatten ist der S. in Abnahme gekommen. Vgl.
Kupferstecherkunst.

Stahlwasser, eisenhaltiges Mineralwasser.

Stahlweinstein, s. Eisenpräparate.

Stahr, Adolf Wilhelm Theodor, Schriftsteller, geb. 22.
Okt. 1805 zu Prenzlau, widmete sich in Halle den klassischen
Studien, ward 1826 Lehrer am Pädagogium daselbst und 1836
Konrektor am Gymnasium zu Oldenburg. Seine litterarische
Thätigkeit erstreckte sich zunächst auf die Geschichte,
Kritik und Erklärung der Schriften des Aristoteles. Hierher
gehören seine "Aristotelia" (Halle 1830-32, 2 Bde.), ferner:
"Aristoteles bei den Römern" (Leipz. 1834) und die Bearbeitung
der Aristotelischen "Politik" (das. 1836 bis 1838), denen sich
"Aristoteles und die Wirkung der Tragödie" (Berl. 1859) und
die Übersetzungen von Aristoteles' Poetik, Politik, Rhetorik
und Ethik (Stuttg. 1860-63) anschließen. Neben dieser
philologischen Thätigkeit hatte sich S. frühzeitig auch
den

220

Stähr - Stair.

allgemeinen litterarischen Interessen zugewandt. Er gab eine
Handschrift von Goethes "Iphigenia", die er in der Bibliothek zu
Oldenburg entdeckt hatte, mit einem trefflichen Vorwort heraus,
schrieb eine "Charakteristik Immermanns" (Hamb. 1842) und nahm an
dem versuchten Aufschwung der Oldenburger Hofbühne lebhaften
Anteil, den seine "Oldenburgische Theaterschau" (Oldenb. 1845, 2
Bde.) bethätigte. Einen Wendepunkt seines Lebens bildete seine
Reise nach Italien, die er 1845 antrat und die er in seinem
lebendig geschriebenen, farbenreichen und weitverbreiteten Buch
"Ein Jahr in Italien" (Oldenb. 1847-50, 3 Bde.; 4. Aufl., das.
1874) eingehend schilderte. In Rom lernte er Fanny Lewald (s. d.)
kennen, mit der er sich nach Trennung seiner ersten Ehe 1854
verheiratete. Schon vorher hatte er wegen Kränklichkeit seine
Stellung am Oldenburger Gymnasium niedergelegt und sich 1852 in
Berlin niedergelassen, wo er lebte, bis ihn
Gesundheitsrücksichten nötigten, verschiedene Kurorte zu
seinem Wohnsitz zu wählen. S. starb 3. Okt. 1876 in Wiesbaden.
Seine litterarische Produktivität hatte während der Zeit
seines Berliner Aufenthalts sich beständig gesteigert. Die
poetischen Anläufe in dem Roman "Die Republikaner in Neapel"
(Berl. 1849, 3 Bde.) und den Gedichten "Ein Stück Leben" (das.
1869) erwiesen keine eigentliche Produktionskraft. So wandte sich
S. in zahlreichen Kritiken, Essays und selbständigen Werken
zur Kunst- und Litteraturgeschichte. Seinem "Torso; Kunst,
Künstler und Kunstwerke der Alten" (Braunschw. 1854- 55, 2
Bde.; 2. Aufl. 1878) folgten: "Lessing, sein Leben und seine
Werke", eine populäre Biographie und Charakteristik, die
raschen Eingang ins Publikum gewann (Berl. 1859, 2 Bde.; 9. Aufl.
1887); "Fichte", ein Lebensbild (das. 1862); "Goethes
Frauengestalten" (das. 1865-68, 2 Bde.; 7. Aufl. 1882); "Kleine
Schriften zur Litteratur und Kunst" (das. 1871-75, 4 Bde.). Aus
Lebenserinnerungen, persönlichen Eindrücken, namentlich
der zahlreichen Reisen, die er mit seiner Gattin unternahm, gingen
die Bücher: "Die preußische Revolution" (Oldenb. 1850, 2
Bde.; 2. Aufl. 1852), "Weimar und Jena", ein Tagebuch (das. 1852, 2
Bde.; 2. Aufl. 1871), "Zwei Monate in Paris" (das. 1851, 2 Bde.),
"Nach fünf Jahren", Pariser Studien (das. 1857, 2 Bde.),
"Herbstmonate in Oberitalien" (das. 1860, 3. Aufl. 1884), "Ein
Winter in Rom", gemeinsam mit Fanny Lewald (Berl. 1869, 2. Aufl.
1871), hervor, während er in der Schrift "Aus der Jugendzeit"
(Schwerin 1870-77, 2 Bde.) seine Jugendtage schilderte. Heftigen
Widerspruch erfuhren seine "Bilder aus dem Altertum" (Berl.
1863-66, in 4 Bänden), "Tiberius" (2. Aufl. 1873), "Kleopatra"
(2. Aufl. 1879), "Römische Kaiserfrauen" (2. Aufl. 1880),
"Agrippina, die Mutter Neros" (2. Aufl. 1880) enthaltend, in denen
S. den Versuch unternahm, die bisherige historische Auffassung,
namentlich des Tacitus, zu entkräften und die genannten
historichen Gestalten zu reinigen und zu rechtfertigen.

Stähr, s. v. w. männliches Schaf, Bock.

Staigue-Fort (spr. stäckfort), vorgeschichtliches
Festungswerk der Grafschaft Kerry (Irland), bestehend aus einer
ohne Mörtel erbauten Ringmauer von 114 Fuß
äußerm Durchmesser.

Stainer (Steiner), Jakob, berühmter
Saiteninstrumentenmacher, geb. 14. Juli 1621 zu Absam bei Hall in
Tirol, war ein Schüler von Amati zu Cremona. Im Leben von
Sorgen und Mißgeschick heimgesucht, mußte er anfangs
von seinen Violinen das Stück für 6 Gulden verkaufen.
1669 vom Erzherzog Leopold zum "Hofgeigenmacher" ernannt, wurde er
gleichwohl von den Jesuiten als vermeintlicher Ketzer monatelang in
Haft gehalten, verfiel in Wahnsinn und starb in größter
Not 1683. Seine Geigen zeichnen sich durch besonders hohe Bauart
und einen ganz vorzüglichen Ton aus und werden von Kennern
jetzt teuer bezahlt. Auch sein Bruder Markus S. war als
Instrumentenmacher bekannt. Vgl. Ruf, Der Geigenmacher J. S.
(Innsbr. 1872).

Staines (spr. stehns), Stadt in der engl. Grafschaft
Middlesex, 24 km westsüdwestlich von Hyde Park (London), an
der Themse, hat lebhaften Produktenhandel und (1881) 4628 Einw. Die
Jurisdiktion Londons über die Themse erstreckt sich seit 1280
bis hierher.

Stair (spr. stehr), 1) John Dalrymple, erster Graf von,
brit. Staatsmann, geb. 1648, schloß sich wie sein als Jurist
berühmter, 1690 zum Viscount S. erhobener Vater James
Dalrymple (gest. 1695) Wilhelm III. von Oranien an, wurde 1691 zum
Staatssekretär für Schottland ernannt, mußte aber
wegen der von ihm 1692 angeordneten Niedermetzelung eines Clans
jakobitischer Hochländer zu Glencoe, die das schottische
Parlament für einen barbarischen Mord erklärte, 1695
seine Entlassung nehmen und wagte erst fünf Jahre nach dem Tod
seines Vaters im Oberhaus zu erscheinen. 1703 nichtsdestoweniger
zum Grafen von S. ernannt, gehörte er zu den eifrigsten
Vertretern der unter Königin Anna zu stande gebrachten Union
zwischen England und Schottland und starb 18. Jan. 1707.

2) John Dalrymple, zweiter Graf von, Sohn des vorigen, brit.
Staatsmann und Heerführer, geb. 1673 zu Edinburg, diente von
1702 bis 1709 unter Markborough in den Niederlanden und Deutschland
und zeichnete sich in den Schlachten von Ramillies, Oudenaarde und
Malplaquet aus. 1714 zum Gesandten in Paris ernannt, erlangte S.
nach Ludwigs XIV. Tod bei dem Regenten so viel Einfluß,
daß er den bourbonischen Familienbund zwischen Frankreich und
Spanien sprengte und Frankreich vermochte, die Stuarts
preiszugeben. 1720 aber erregte sein Widerstand gegen die
Finanzpläne Laws den Unwillen der britischen Regierung und
veranlaßte seine Zurückberufung. Erst nach dem
Rücktritt Walpoles trat er wieder in den Staatsdienst, wurde
Gesandter bei den Generalstaaten und 1742 Feldmarschall und
Kommandeur der englischen Armee im österreichischen
Erbfolgekrieg. Er drang mit seinem Heer bis Aschaffenburg vor und
schlug 27. Juni 1743 die Franzosen unter Noailles bei Dettingen,
verließ dann aber wegen Bevorzugung der hannoverschen
Interessen und wegen Einmischung der Minister und Diplomaten die
Armee. Infolge davon fiel er am Hof in Ungnade, bis der
jakobitische Aufstand in Schottland (1745) ihn an die Spitze des in
England aufgestellten Heers rief. Er starb 1. Mai 1747.

3) John Hamilton Dalrymple, achter Graf von, geb. 15. Juni 1771
aus einer Seitenlinie, diente seit 1790 in der britischen Armee,
focht mit Auszeichnung 1794 und 1795 in Holland und Flandern und
nahm 1807 an der Expedition nach Kopenhagen teil, worauf er zum
Generalmajor befördert ward. 1832 wurde er ins Parlament
gewählt, 1840 erbte er von seinem Vetter die Grafschaft S.,
und im April 1841 ward er als Lord Oxenfoord zum englischen Peer
erhoben. In den Jahren 1840-41 und 1846-52 verwaltete er das Amt
eines Großsiegelbewahrers für Schottland. Er starb 10.
Jan. 1853 auf Oxenfoord Castle. Ihm folgten sein Bruder North
Dalrymple, geb. 1776, gest. 9. Nov. 1864,

221

Stake - Stallungen.

als neunter und dessen Sohn John, Viscount Dalrymple, geb. 1.
April 1819, als zehnter Graf von S. Vgl. Graham, Annals and
correspondence of the Viscount and the first and second Earls of S.
(Edinb. 1875, 2 Bde.).

Stake, Wasserbaukunst, s. Buhne.

Stake (engl., spr. stehk), Einsatz, Einlage (beim
Spielen, Wetten etc.).

Staket, Zaun aus Pfählen, Latten etc. (Staken).

Stakholz, s. Fachholz.

Stalagmiten und Stalaktiten, s. Tropfstein.

Stalaktitengewölbe, eine Gewölbeform des
arabischen Baustils, welche durch Verbindung von einzelnen
Gewölbstückchen den Eindruck von Tropfsteinbildungen
hervorruft. S. Baukunst, S. 492.

Stalaktitenstruktur, s. Mineralien, S. 647.

Stalbent, Adriaen van, niederländ. Maler, geb. 1580
zu Antwerpen, wurde 1610 Freimeister daselbst und starb 1662. Er
hat meist Landschaften andrer Künstler mit Figuren in der Art
des H. van Balen staffiert, aber auch selbständige
Landschaften in der bunten Manier der ältern vlämischen
Schule und Figurenbilder gemalt. Werke von ihm befinden sich in den
Galerien von Antwerpen, Kassel (Kirmes), Frankfurt a. M., Dresden
(Midasurteil, Göttermahlzeit), Berlin und Schwerin.

Stalimene, Insel, s. Lemnos.

Stälin, Christoph Friedrich von, deutscher
Geschichtsforscher, geb. 4. Aug. 1805 zu Kalw in Württemberg,
studierte zu Tübingen und Heidelberg Theologie und Philologie,
ward 1826 Bibliothekar in Stuttgart, 1846 Oberbibliothekar, 1869
Bibliothekdirektor und leitete die königliche Bibliothek diese
lange Zeit mit großem Geschick und Erfolg. Auch die
königliche Münz- und Medaillen-, ebenso die Kunst- und
Altertümersammlung ordnete und verwaltete er. Er starb 12.
Aug. 1873. Außer kleinern Arbeiten über
württembergische Landeskunde verfaßte er die
"Wirtembergische Geschichte" (Stuttg. 1841-73, 4 Bde.), sein
Hauptwerk und die beste deutsche Provinzialgeschichte. Seit 1858
Mitglied der Historischen Kommission in München, redigierte er
mit Waitz und Häusser die "Forschungen zur deutschen
Geschichte". - Sein Sohn Paul, geb. 23. Okt. 1840, Archivrat in
Stuttgart, schrieb "Geschichte Württembergs" (Gotha 1882
ff.).

Stall, s. Stallungen.

Stallbaum, Gottfried, Philolog und Schulmann, geb. 25.
Sept. 1793 zu Zaasch bei Delitzsch, vorgebildet in Leipzig,
studierte daselbst seit 1815, ward 1818 Lehrer am Pädagogium
in Halle, 1820 an der Thomasschule zu Leipzig und 1835 Rektor
dieser Anstalt. Seit 1840 auch außerordentlicher Professor an
der Universität, starb er 24. Jan. 1861. S. hat sich besonders
um Platon verdient gemacht, nicht bloß durch tüchtige
Bearbeitung einzelner Dialoge, des "Philebus" (Leipz. 1820, 2.
Ausg. 1826), "Euthyphro" (das. 1823), "Meno" (das. 1827, 2. Ausg.
1839), "Dialogorum delectus" (das. 1838, 2. Ausg. 1851),
"Parmenides" (das. 1839, 2. Aufl. 1848), sondern vor allem durch
seine Gesamtausgaben, die große kritische (das. 1821-25, 12
Bde.; der Text auch besonders in 8 Bänden), die kommentierte
in der Jacobs-Rostschen "Bibliotheca graeca" (Gotha 1827-1860, 10
Bde.; zum Teil in wiederholten Auflagen, zuletzt von Wohlrab und
Kroschel) und die Tauchnitzsche Stereotypausgabe (1 Bd., das. 1850
u. 1873; 8 Bde., 1850 u. 1866-74). Sonst sind zu nennen seine
Ausgaben des Herodot (Gotha 1819, 3 Bde.; 2. Aufl. 1825-26) und des
Kommentars zu Homer von Eustathios (das. 1825-30, 7 Bde.) sowie
Bearbeitungen der Ruddimanschen "Institutiones grammaticae latinae"
(das. 1823, 2 Bde.) und des Westerhofschen "Terentius" (das.
1830-31, 6 Bde.).

Stallfütterung, s. Futter, S. 811.

Stallungen, Wohnungen der landwirtschaftlichen Haustiere.
Die Lage des Stalles muß leichte Ableitung der
Flüssigkeiten gestatten und Ansammlungen von Grundwasser,
welches, durch die Auswurfstoffe der Tiere verunreinigt, zum
Träger von Krankheitserregern wird, vermeiden. Die Hauptfronte
legt man gegen Osten und den Ausgang an diese Hauptfronte;
Thüren an der Westseite erleichtern das Eindringen von
Fliegen, die gegen Abend warme Stellen aufsuchen. In der Mitte der
Höhe geteilte Thüren gestatten durch Öffnen der
obern Thürflügel eine leichte und gründliche
Ventilation. Der Feuersgefahr wegen bringt man zahlreiche
Thüren an; um aber zu vermeiden, daß bei Öffnung
derselben der Luftzug die Insassen trifft, stellt man die
Thüren in der Regel an die Enden der sogen. Stallgasse, welche
meist zugleich als Mistgang dient. Die Thürpfosten macht man
rund oder doch an den Kanten abgerundet und versieht sie mit 1,5 m
hohen senkrechten Walzen, um Beschädigungen der Tiere beim
Aus- und Eindrängen in den Stall vorzubeugen; ebendeshalb
müssen Thüren und Thürflügel sich stets nach
außen öffnen und nicht von selbst zufallen.
Gegenwärtig sind vielfach Schiebthüren in Gebrauch. Die
Stallfenster bringt man womöglich hinter den Köpfen der
Tiere an und so hoch, daß Lichtstrahlen wie
Luftströmungen über den Tieren hinwegstreichen. Erlaubt
dies die Anlage des Gebäudes nicht, dann verwendet man matt
geschliffene oder blaue Glasscheiben und schützt diese gegen
Zerbrechen durch Drahtgitter. Mit Oberlicht können
Vorrichtungen zur Lufterneuerung verbunden werden, und mit
teilweise beweglichen Fenstern kann man lüften, ohne das ganze
Fenster zu öffnen, und ohne daß die eindringende kalte
Luft die Tiere unmittelbar trifft. Die Fensterrahmen werden am
besten von Eisen hergestellt. Zur Ventilation der S. dürften
senkrechte, an dem First ausmündende Dunstkamine immer noch
verhältnismäßig ebensoviel leisten wie die neuern
kostspieligen Einrichtungen. Die Abzugskanäle bleiben in
kleinern S. am besten offen, werden aber wasserdicht eingerichtet
und mit Wasserleitungsröhren in Verbindung gebracht. Offene,
nicht zu tiefe Stallrinnen sind der bequemen und gründlichen,
auch leicht kontrollierbaren Reinigung wegen vorzuziehen. Die
größte Dauer und die sicherste Abscheidung zwischen
Stall und darüber gelegenen Räumen gewähren
steinerne Gewölbe, doch benutzt man auch Konstruktionen mit
Eisenbahnschienen; bei Anwendung von Holz ist für enge
Verbindung der einzelnen Bretter (Einlegen in Falze) zu sorgen. Der
Fußboden soll den Tieren eine bequeme und nicht
abkühlende Lagerstätte bieten, er darf daher nach hinten
nur geringen Fall haben und nicht aus guten Wärmeleitern
hergestellt sein. Das beste Pflasterungsmaterial geben
hartgebrannte Backsteine ab. Die sogen. Brückenstände, d.
h. über flache Kanäle gelegte Dielenböden, sind
teuer, nicht dauerhaft und unreinlich, geben aber allerdings die
wärmste Unterlage.

Das Baumaterial für Ställe darf nicht porös sein,
um die bei Zersetzung des Urins sich bildenden Stoffe nicht
aufzusaugen. Die Bildung von Salpeter an den Stallwänden
erhält diese stets feucht. Der Raumbedarf in den Ställen
ist nach Tiergattung, Zahl der Tiere und den Nutzungszwecken
äußerst verschieden zu bemessen. Man unterscheidet: a)
freie,

222

Stallupönen - Stamma.

offene Standplätze ohne Abgrenzung; b) Standplätze mit
beweglichen Abscheidungen, den sogen. Latier- oder Raumbäumen,
die an Säulen befestigt werden oder an Ketten hängen; c)
Kastenstände, Standplätze mit festen
Trennungsscheidewänden; d) Laufstände, Loose boxes, zur
Aufnahme Eines frei gehenden Tiers ohne Raum zum Tummeln; e)
Laufställe für mehrere frei gehende Tiere mit Raum zum
Tummeln, für junge Tiere, Mutter mit Jungen etc.; f) Paddocks,
Stallräume für einzelne Tiere, meist Pferde, z. B.
Zuchtpferde, mit Ausgang in einen sicher abgegrenzten Hofraum,
Tummelplatz oder in Weideabteilungen. Ein Pferd bedarf eines 1,70 m
breiten und 3 m langen Standplatzes, nur bei beweglicher
Abscheidung durch Latierbäume kann die Breite um 10-20 cm
geringer sein; in Boxen berechnet man aufs Pferd 3 qm.
Rindviehställe sollen Standplätze von 1,4 m Breite bei
2,8 m Länge haben, Kälber und Jungvieh solche von 2-3 qm.
Bei Schafen veranschlagt man den Raum auf 2 für das einzelne
Stück, für frei gehende auf 1 qm. Hinter den
Standplätzen wird ein genügend breiter Stallgang
eingerichtet (1,6-2,0-3,0 m breit), damit, namentlich in
Pferdeställen, Menschen und Tiere ungefährdet verkehren
können. In größern landwirtschaftlichen S. ist
dieser Gang häufig breit genug, um das Einfahren von Futter-
und Mistwagen zu gestatten. Stehen die Tiere in zwei Reihen mit den
Köpfen einander gegenüber, wie vielfach in
Rindviehställen, so wird dazwischen ein erhöhter
Futtergang oder ein Futtertisch nötig; letzterer erleichtert
die Fütterung erheblich. Zum Vorlegen des "Kurzfutters":
Körner, Schrot, Häcksel, Wurzeln etc., vielfach auch zur
Aufnahme des Getränks, dienen die Krippen. Abteilung der
Krippe für die einzelnen Tiere (Krippenschüsseln für
Pferde) gestattet die Zuteilung bestimmter Ration an jedes,
zugleich auch die Kontrolle der Freßlust. Krippen aus weichem
Holz sind schwer zu reinigen und begünstigen daher die
Zersetzung des Futters; das beste Material sind: Granit, Jurakalk,
gut gebrannte Backsteine, Zementguß; für
Pferdeställe gußeiserne, innen gut emaillierte
Krippenschüsseln. Hölzerne Krippen sowie hölzerne
Krippenträger in Pferdeställen müssen zum Schutz
gegen das Benagen durch die Tiere mit Eisenblech beschlagen werden.
In den gewöhnlich oberhalb der Krippen angebrachten, meist
leiter- oder korbförmigen Raufen wird das Lang- oder
Rauffutter (fälschlich Rauh- oder Rauchfutter): Heu, Stroh,
Grünfutter, verabreicht. Zur Vermeidung von Verletzungen an
Kopf und Augen hat man die "Nischenraufe" empfohlen, bei welcher
einige Zentimeter über der Krippe in einer Mauernische, vor
der eine senkrechte Leiterraufe angebracht ist, das Langfutter
dargereicht wird. Vgl. Rueff, Bau und Einrichtung der S. (Stuttg.
1875); Miles, Der Pferdestall (Frankf. a. M. 1862); Engel, Der
Viehstall (2. Aufl., Berl. 1889); Derselbe, Der Pferdestall (das.
1876); Gehrlicher, Der Rindviehstall (Leipz. 1879); Wanderley, Die
Stallgebäude (Karlsr. 1887).

Stallupönen, Kreisstadt im preuß.
Regierungsbezirk Gumbinnen, an der Linie Seepothen-Eydtkuhnen der
Preußischen Staatsbahn, 80 m ü. M., hat ein Amtsgericht,
ein Warendepot der Reichsbank, Maschinenfabrikation, Gerberei,
Ziegelbrennerei und (1885) mit der Garnison (2 Eskadrons Ulanen Nr.
12) 4181 meist evang. Einwohner.

Stalwarts (engl., "Starke", "Mutige"), in Nordamerika
Name derjenigen Republikaner, welche die Herrschaft dieser Partei
nach dem Bürgerkrieg rücksichtslos zu ihrem Vorteil
ausbeuten wollten und deshalb 1879 für die dritte Wahl Grants
zum Präsidenten, wiewohl vergeblich, eintraten; ihre
Führer waren Conkling, Cameron und Logan. Ihre Gegner in der
Partei, die zur Versöhnung mit den Demokraten geneigten, der
Korruption feindlichen Republikaner (unter Schurz und Curtis),
hießen Mugwumps.

Stalybridge (spr. stehlibriddsch), Fabrikstadt an der
Grenze von Cheshire und Lancashire (England), am Tame, hat
Baumwollmanufaktur, Maschinenbau, Nagelschmieden und (1881) 25,977
Einw.

Stambul, türk. Name für Konstantinopel.

Stambulow, St., bulgar. Staatsmann, geb. 1853 zu Tirnowa,
studierte in Rußland die Rechte, erregte 1875 in Eski Zagra
einen Aufstand gegen die Türken, mußte nach dessen
Scheitern nach Bukarest fliehen, nahm 1877-78 als Freiwilliger am
russisch-türkischen Krieg teil, ließ sich darauf in
Tirnowa als Advokat nieder und ward Mitglied und bald
Präsident der Sobranje. Als 21. Aug. 1886 der Staatsstreich
gegen den Fürsten Alexander ausgeführt und eine
revolutionäre Regierung eingesetzt wurde, stürzte er
diese im Verein mit Mutkurow und Karawelow und bildete mit diesen
eine neue Regierung, der nach der Abdankung Alexanders 7. Sept. die
Regentschaft übertragen wurde. Er behauptete sich gegen alle
Ränke seiner Nebenbuhler und die Wühlereien der
russischen Agenten, besonders des Generals Kaulbars, und bewirkte
7. Juli 1887 die Wahl des Fürsten Ferdinand, nach dessen
Regierungsantritt (14. Aug.) er an die Spitze des Ministeriums
trat.

Stamen (lat.), Staubgefäß (s. d.).

Stamford, 1) Stadt in Lincolnshire (England), am
schiffbaren Welland, hat mehrere alte Kirchen, ein Museum,
Brauereien, Fabriken für landwirtschaftliche Maschinen, Handel
mit Malz, Kohlen und Bausteinen und (1881) 8773 Einw. 1572
ließen sich vlämische Weber hier nieder. -

2) Hafenstadt im nordamerikan. Staat Connecticut, am Long
Island-Sound, hat Eisen-, Woll- und Farbefabriken und (1880) 2540
Einw.; beliebter Sommeraufenthalt.

Staminodie (lat.-griech.), die durch vor- oder
rückschreitende Metamorphose bewirkte Umbildung eines
Blütenteils in ein Staubblatt (s. Staubgefäß).

Stamm, in der Botanik im weitesten Sinn s. v. w. Stengel
(s. d.); im engern Sinn derjenige Teil des Stengels, welcher als
unmittelbare Fortsetzung der Wurzel nach oben sich vertikal erhebt
und größern Umfang besitzt als die in einer gewissen
Höhe seitlich von ihm ausgehenden Äste. In der
Sprachlehre ist S. der Teil des Wortes, welcher nach Ausscheidung
aller Beugungsformen übrigbleibt; z. B. Haus in Haus-es, ruf
in ruf-en. Trennt man auch die Ableitungssilben ab, so erhält
man die Wurzel, wie z. B. in er-wach-en "erwach" der S., "wach" die
Wurzel ist. Häufig fällt indessen der S. mit der Wurzel
zusammen. Ferner versteht man unter S. Menschen oder Familien und
Geschlechter, welche ihre Abkunft von Einem Elternpaar
(Stammeltern) in ununterbrochener Reihe abzuleiten vermögen.
Im Militärwesen heißt S. der Teil einer Truppe, welcher
bei der Fahne bleibt, während die andern in die Heimat
entlassen und durch Rekruten ersetzt werden.

Stamma, Philipp, Schachmeister, gebürtig aus Aleppo
in Syrien, ist der Verfasser eines der bekanntesten ältern
Schachbücher, der "100 künstlichen Endspiele", 1737 zu
Paris erschienen und herausgegeben von Bledow und O. v. Oppen
(Berl. 1856). S. war der erste, welcher die jetzt bei uns
gebräuchliche Notation mit Buchstaben und Zahlen
anwendete.

223

Stammakkord - Stampiglia.

Stammakkord, in der Harmonielehre der Gegensatz der
abgeleiteten Akkorde. Man versteht unter S. meist einen in lauter
Terzen aufgebauten Akkord, also Dreiklang, Septimenakkord oder
Nonenakkord; die Umkehrungen dieser Akkorde (abgeleiteten Akkorde),
bei denen die Terz, Quinte, Septime oder None tiefster Ton ist,
sind Sextakkord, Quartsextakkord, Quintsextakkord,
Terzquartsextakkord, Sekundquartsextakkord etc. Doch kann man die
Bezeichnung S. auch als Gegensatz der durch Alteration oder
Vorhalte veränderten reinen Harmonien gebrauchen.

Stammaktien, s. Aktie, S. 263.

Stammbaum, die Aufstellung der Nachkommenschaft einer
bestimmten Persönlichkeit in männlicher Linie, in welcher
die Töchter zwar aufgezählt werden können, aber
(falls sie in ein andres Geschlecht heiraten) nicht deren
Nachkommenschaft. Der Name S. rührt von dem Gebrauch her, die
Aufstellung in der Form eines Baums zu entwerfen, an welchem die
Zweige die verschiedenen Linien eines Geschlechts darstellen. Vgl.
Genealogie.

Stammbuch, s. Album.

Stammeln, s. Stottern und Stammeln.

Stammgüter, im weitern Sinn diejenigen von den
Vorfahren ererbten Immobilien, welche die Bestimmung haben, bei der
betreffenden Familie zu bleiben. Im einzelnen wird aber dabei
wiederum zwischen Stammgütern im engern Sinn, zwischen
Familienfideikommiß- und Erbgütern unterschieden.
Erstere (bona stemmatica) sind Familiengüter des höhern
und niedern Adels, bei welchen die Erbfolge vermöge Herkommens
nur auf Agnaten, d. h. auf die durch Männer miteinander
verwandten männlichen Familienangehörigen, übergeht.
Bei den Familienfideikommißgütern ist durch besondere
Disposition bestimmt, daß dieselben stets bei der Familie
bleiben sollen (s. Fideikommiß), während die
Erbgüter endlich, welche sich früher auch beim
Bürgerstand fanden, dadurch ausgezeichnet sind, daß ihre
Veräußerung, abgesehen von besondern Notfällen, im
Interesse der Intestaterben untersagt oder doch erschwert ist. Vgl.
Bärnreither, Stammgütersystem und Anerbenrecht in
Deutschland (Wien 1882).

Stammkapital, s. Aktie, S. 262.

Stammprioritäten, s. Aktie, S. 264.

Stammregister, s. v. w. Juxtabuch (s. d.).

Stammrolle, das für Aushebungszwecke geführte
Verzeichnis aller im militärpflichtigen Alter stehenden
Männer eines Ortes; auch die Liste der Mannschaften einer
Kompanie, Eskadron etc.

Stammtafel, s. Genealogie.

Stammtöne, in der Musik die Töne ohne
Vorzeichen, von denen alle übrigen durch ^[Kreuz], ^[B],
^[Doppelkreuz] und ^[Doppel-B] abgeleitet sind. Die Folge der S. in
Sekundschritten (Grundskala) ist und war schon im Altertum die
Folge von 2 Ganztönen, 1 Halbton, 3 Ganztönen, 1 Halbton,
welche sich in allen Oktaven wiederholt:

^[siehe Bildansicht]

Eine Ausnahme machen nur die noch ältern
fünftönigen Skalen (archaistische Tonleitern), welche
sich der Halbtonschritte gänzlich enthalten und daher den
untern oder obern Ton des Halbtonintervalls auslassen, so in
uralter Zeit bei den Chinesen, aber auch bei den Griechen, Schotten
(Tonleiter ohne Quarte und Septime) und vermutlich
überall.

Stammzuchtbuch, s. Herdbuch.

Stamnos, altgriech. faßartiges
Vorratsgefäß aus gebranntem Thon zur Aufbewahrung von
Wein, Öl u. dgl. (s. Tafel "Vasen", Fig. 7).

Stampa (ital.), Gepräge, Stempel; Druck, Druckerei;
Stampatore, Buchdrucker.

Stampa, Gaspara, ital. Dichterin, geb. 1524 zu Padua,
wird nicht mit Unrecht die "Sappho ihrer Zeit" genannt, denn auch
ihr bereitete eine verkannte, unerwiderte Liebe, deren Sehnsucht
sich in ihren Liedern ergoß, ein frühes Grab. Sie starb
1554 in Venedig. Ihre Gedichte, die sie selbst auch zur Laute sang,
haben einen musikalischen Charakter und zeichnen sich durch
ungewöhnliche Innigkeit wie durch leidenschaftliches Pathos
vorteilhaft aus. Sie erschienen Venedig 1554 (neuere Ausg., das.
1738).

Stampalia (griech. Astropalia, türk. Ustopalia),
türk. Insel im Ägeischen Meer, südöstlich von
Amorgos, 136 qkm (2½ QM.) groß, besteht aus zwei
gebirgigen Hälften, die durch einen schmalen Isthmus verbunden
sind, hat mehrere treffliche Häfen und Reste aus dem
spätern Altertum und den ersten christlichen Zeiten. Auf dem
Isthmus liegt die Stadt S., mit Bergschloß und 1500 Einw. Im
Altertum hieß die Insel Astypaläa.

Stampfbau, s. Pisee.

Stampfen, die oszillierende Bewegung eines Schiffs um
seine Querachse, bei welcher Bug und Heck abwechselnd aus- und
eintauchen.

Stämpfli, Jakob, schweizer. Staatsmann, geb. 1820 zu
Schupfen im Kanton Bern, widmete sich zu Bern juristischen Studien,
ward 1843 Advokat und trat 1845 als Redakteur der "Berner Zeitung",
des Organs der radikalen Partei, in Opposition zu der
gemäßigt liberalen Fraktion, welche damals am Ruder war.
In dem auf seinen Betrieb berufenen Verfassungsrat führte er
neben Ochsenbein die Hauptstimme. Im Juli 1846 in den Regierungsrat
berufen, übernahm er die Leitung der Finanzen und führte
direkte Besteuerung, Aufhebung aller Feudallasten und
Zentralisation des Armenwesens durch. 1849 wurde er
Regierungspräsident, mußte aber 1850 beim Sturz der
radikalen Partei ins Privatleben zurücktreten. 1849 von seinem
Kanton in den schweizerischen Ständerat und 1850 in den
Nationalrat gewählt, dem er 1851 und 1854 präsidierte,
wurde er, nachdem er eben infolge der Fusion der beiden bernischen
Parteien wieder in die Regierung des Kantons getreten war, im
Dezember 1854 an Stelle Ochsenbeins in den Bundesrat berufen. 1856
und 1862 Bundespräsident, nahm er in der Neuenburger wie in
der Savoyer Frage eine energische Stellung ein und forderte
vergeblich den Bau und Rückkauf der Eisenbahnen durch den
Staat, erfreute sich aber gerade deshalb außerordentlicher
Popularität. 1863 schied er aus dem Bundesrat und stand
1865-78 der sogen. Eidgenössischen Bank vor. 1872 wurde er vom
Bundesrat zum Mitglied des internationalen Schiedsgerichts in der
Alabamafrage ernannt. Er starb 15. Mai 1879 in Bern.

Stampfmühle (Stampfwerk), Maschine, welche aus
niederfallenden Stampfen besteht und zum Zerkleinern der
Ölfrüchte in Ölmühlen, der Ingredienzien zur
Anfertigung von Schießpulver, der Materialien in Porzellan-,
Glas- und dergleichen Fabriken, der Hadern in Papierfabriken, der
Mineralien (Pochen) etc., zum Boken des Hanfs, zum Kalandern der
Leinengewebe, zum Klopfen des Leders etc. dient. Vgl.
Pochwerke.

Stampiglia (ital., spr. -pillja), "Stempel", wel-

224

Stams - Standesherren.

cher zum Abdruck des Titels einer Behörde, Anstalt, Firma
etc. mittels Druckerschwärze oder Farbe aus Dokumenten,
Briefen, Rechnungen u. dgl. benutzt wird.

Stams, Dorf in Tirol, Bezirkshauptmannschaft Imst, im
Oberinnthal, an der Arlbergbahn, hat (1880) 565 Einw. und eine
berühmte Cistercienserabtei (1271 von Elisabeth, der Mutter
Konradins, gegründet) mit Bibliothek, reichen Sammlungen und
der Gruft tirolischer Fürsten in der Klosterkirche.

Stanco (türk. Istankoi, das alte Kos), türk.
Insel im Ägeischen Meer, an der Südwestspitze von
Kleinasien, 246 qkm (4½ QM.) groß, ist bergig, aber an
der Nordküste eben und fruchtbar, liefert Südfrüchte
(Export jährlich 10-20,000 Ztr. Rosinen), trefflichen Wein und
Salz und hat ca. 11,000 Einw., meist Griechen. - Die gleichnamige
Stadt, an der Nordostküste, ist Sitz eines Bischofs und eines
türkischen Kaimakams, hat eine alte Citadelle, einen
schlechten Hafen und 3000 Einw.

Stand, s. Stände.

Standard (engl., spr. stanndard), s. v. w. gesetzlich,
normal, mustergültig, z. B. s. gold, Goldlegierung von dem
Gesetz entsprechendem (11/12) Feingehalt.

Standard Hill, Hügel in der engl. Grafschaft Nork,
bei Cutton, berühmt durch die Standartenschlacht zwischen
Engländern und Schotten 22. Aug. 1138, in der 11,000 der
letztern blieben.

Standard of life (engl., spr. leif, "Lebenshaltung"),
dasjenige, was der Mensch zum Leben braucht, um die von ihm
erreichte Kulturhöhe zu behaupten. Vgl. Existenzminimum.

Standarte (v. franz. étendard), ursprünglich
das kaiserliche Reichsbanner, jetzt die Fahne der Kavallerie, mit
kleinerm Tuch als die Fahne der Infanterie. Die Stange (Schaft) mit
Metallbeschlägen steht mit der untern Spitze im
Standartenschuh am rechten Steigbügel. Früher führte
jede Eskadron eine S., jetzt hat in der Regel ein
Kavallerieregiment nur eine Fahne. - In der Jägersprache
heißt S. der Schwanz des Fuchses.

Standbein, in der Bildhauerkunst bei einer stehenden
menschlichen Figur dasjenige Bein, auf welchem nach Maßgabe
der gewählten Stellung die Hauptlast des Körpers ruht.
Das andre heißt Spielbein.

Ständchen, s. v. w. Huldigungsmusik, Serenade, doch
nicht wie letztere mit der Vorstellung einer bestimmten Tageszeit
verknüpft, da es Abend- und Morgenständchen gibt. Der
Form nach kann das S. in einem Lied bestehen, das der Liebhaber
unter dem Fenster der Geliebten singt, aber auch aus
größern Vorträgen vom Chor, ja Orchester.

Stände, im juristischen Sinn Bezeichnung für
die verschiedenen Klassen von Personen, welchen entweder
vermöge ihrer Geburt (Geburtsstände) oder infolge ihrer
Berufsthätigkeit (Berufsstände, erworbene S.) gewisse
besondere Befugnisse zustehen oder besondere Verpflichtungen
auferlegt sind. Auf dem erstern Einteilungsgrund beruht der
Unterschied zwischen Adligen und Nichtadligen (s. Adel), auf dem
letztern derjenige zwischen Bürger- und Bauernstand, beide in
rechtlicher Hinsicht jetzt nahezu bedeutungslos. Im
gewöhnlichen Leben werden aber auch als S. gewisse Klassen von
Personen bezeichnet, welche wegen Gleichartigkeit ihrer Interessen
und ihrer Beschäftigung als zusammengehörig zu betrachten
sind, wie man denn z. B. von dem Gelehrten-, Beamten-,
Handwerkerstand etc. zu sprechen pflegt. Auch wird der Ausdruck S.
zur Bezeichnung der Landstände (s. Volksvertretung)
gebraucht.

Ständer, in der Heraldik eine gewöhnlich aus
dem rechten Obereck des Schildes hervorkommende halbe
Schräglinie, gegen welche eine halbe Teilungslinie von der
Mitte des Schildrandes gezogen ist. Einen "geständerten"
Schild s. Heroldsfiguren, Fig. 14. In der Jägersprache
bezeichnet der Ausdruck S. die Füße des eßbaren
Federwildes sowie der nicht zu den Schwimmvögeln
gehörigen Wasservögel; ständern, die S. durch einen
Schuß verletzen.

Standesamt, s. Personenstand.

Standesbeamter (Zivilstandsbeamter), der zur Beurkundung
der Geburten, Heiraten und Sterbefälle bestellte staatliche
Beamte (s. Personenstand).

Standeserhöhung, die Versetzung aus dem
bürgerlichen Stand in den Adelstand oder die Erhebung von
einer niedrigern Adelstufe zu einer höhern. S. Adel, S.
109.

Standesgehalt, in manchen Staaten, namentlich in Bayern,
der feststehende und unwiderrufliche Gehalt des Staatsdieners,
neben welchem ein mit den Jahren steigender Dienstgehalt
besteht.

Standesherren (Mediatisierte), die Mitglieder derjenigen
fürstlichen und gräflichen Häuser, welche vormals
reichsunmittelbar waren und Reichsstandschaft besaßen, deren
Territorien aber bei der Auflösung des frühern Deutschen
Reichs andern deutschen Staaten einverleibt wurden (s.
Mediatisieren); im engern Sinn die Häupter dieser Familien.
Die zu dem vormaligen Deutschen Bund vereinigten Regierungen gaben
den S. in der Bundesakte (Art. 14) die Zusicherung, daß diese
fürstlichen und gräflichen Häuser zu dem hohen Adel
Deutschlands gerechnet werden sollten, und daß ihnen das
Recht der Ebenbürtigkeit (s. d.) verbleiben solle.
Spätere Bundesbeschlüsse sicherten den Fürsten das
Prädikat "Durchlaucht" und den Häuptern der vormals
reichsständischen gräflichen Familien das Prädikat
"Erlaucht" zu. Außerdem wurden den Mediatisierten folgende
Rechte garantiert: Die unbeschränkte Freiheit, ihren
Aufenthalt in jedem zu dem Bund gehörenden oder mit demselben
in Frieden lebenden Staat zu nehmen; ein Vorrecht, welches mit der
nunmehrigen allgemeinen Freizügigkeit gegenstandslos geworden
ist. Ferner sollten die Familienverträge der S. aufrecht
erhalten werden, indem den letztern zugleich die Befugnis
zugesichert ward, über ihre Güter- und
Familienverhältnisse, vorbehaltlich der Genehmigung des
Souveräns, gültige Bestimmungen zu treffen. Hierüber
sind jetzt die Landesgesetze der einzelnen deutschen Staaten
maßgebend. Die den S. weiter für sich und ihre Familien
garantierte Befreiung von der Wehrpflicht ist auch in dem Bundes-
(Reichs-) Gesetz vom 9. Nov. 1867, betreffend die Verpflichtung zum
Kriegsdienst, anerkannt. Wenn aber den S. außerdem noch ein
privilegierter Gerichtsstand sowie die Ausübung der
bürgerlichen Rechtspflege und der Strafgerichtsbarkeit in
erster und, wo die Besitzung groß genug, auch in zweiter
Instanz sowie die Ausübung der Forstgerichtsbarkeit
zugesichert ward, so sind die Überbleibsel dieser Gerechtsame
durch das deutsche Gerichtsverfassungsgesetz vom 27. Jan. 1877
beseitigt. Endlich sind auch die Zusicherungen, welche den S. in
Ansehung der Ausübung der Ortspolizei und der Aufsicht in
Kirchen- und Schulsachen erteilt worden waren, nach der modernen
Gesetzgebung als hinfällig anzusehen. Überhaupt bedarf
das Verhältnis der S. der anderweiten Regelung durch die
Gesetzgebung derjenigen Staaten, welchen die S. im einzelnen
angehören. Dies ist wenigstens die Auffassung des Bundesrats,
und in diesem Sinn ist bereits Preußen z. B. mit der
gesetzlichen Regelung

225

Standesregister - Stang.

der Rechtsverhältnisse des vormaligen Herzogtums
Arenberg-Meppen vorgegangen. Übrigens hatte die deutsche
Bundesversammlung nachmals auch verschiedenen Familien, welche
nicht zu den Mediatisierten im Sinn der Bundesakte gehörten,
die Befugnisse der S. verliehen. Dies bezog sich jedoch nicht auf
die Grundbesitzungen der Betreffenden, die damit nicht zu einer
sogen. Standesherrschaft wurden, sondern nur auf die
persönliche Stellung, weshalb man in solchen Fällen von
standesherrlichen Personallisten sprach. Hervorzuheben ist endlich
noch, daß den S. regelmäßig in den
Staatsverfassungen der deutschen Länder die erbliche
Mitgliedschaft in der Ersten Kammer eingeräumt ist. Vgl.
Vollgraf, Die deutschen S. (Gieß. 1823); Vahlkampf, Die
deutschen S. (Jena 1844); "Die Stellung der deutschen S. seit 1866"
(2. Aufl., Berl. 1870); Heffter, Sonderrechte der souveränen
und vormals reichsständischen Häuser Deutschlands (das.
1871).

Standesregister, s. Personenstand.

Ständeversammlung, s. v. w. Landtag.

Standfähigkeit (Stabilität) nennt man das
Vermögen eines Körpers, seine Stellung der Schwerkraft
gegenüber zu behaupten. Auf einer wagerechten Ebene bleibt ein
Körper stehen, wenn die durch seinen Schwerpunkt, in welchem
das Gewicht des Körpers vereinigt zu denken ist, gezogene
lotrechte Linie die Unterstützungsfläche des Körpers
trifft. Stützt sich ein Körper nur in einzelnen Punkten
auf die Unterlage, so ist als Unterstützungsfläche die
Fläche anzusehen, welche man erhält, wenn man die
äußersten Stützpunkte durch gerade Linien
verbindet. Bei einem stehenden Menschen bilden nicht bloß die
Fußsohlen, sondern auch der zwischen ihnen liegende Raum,
welcher beiderseits von den Sohlen, vorn durch eine die
Fußspitzen, hinten durch eine die Fersen verbindende gerade
Linie begrenzt wird, die Stützfläche. Trägt ein
Mensch eine Last, so muß er, um nicht zu fallen, seinen
Körper derart neigen, daß die durch den gemeinsamen
Schwerpunkt des Körpers und der Last gezogene Lotrechte den
Boden innerhalb jener Stehfläche trifft. Um einen Körper
umzuwerfen, muß man ihn um eine Kante oder einen Punkt (a der
Figur) des Umfanges seiner Unterstützungsfläche so lange
drehen, bis sein Schwerpunkt lotrecht über jener Kante oder
jenem Punkt liegt; läßt man ihn los, ehe diese Lage
erreicht ist, so fällt er in seine frühere Stellung
zurück; dreht man ihn aber nur ein wenig über jene Lage
hinaus, so stürzt er um und bleibt in einer neuen Stellung
liegen. Soll das Umkanten durch eine wagerecht am Schwerpunkt (S)
des Körpers angreifende Kraft (K) bewirkt werden, so muß
das Drehungsbestreben dieser Kraft dem entgegengesetzten der
Schwere (G) mindestens gleich sein, oder die Kraft K, multipliziert
mit ihrer Entfernung (ab) vom Drehpunkt (d. h. mit der Höhe
des Schwerpunktes über der Grundfläche), muß gleich
sein der Kraft G oder dem Gewicht des Körpers, multipliziert
mit ihrer Entfernung (ac) vom Drehpunkt (d. h. mit der halben
Breite der Stützfläche). Die Standfestigkeit des
Körpers, für welche die Kraft K das Maß darstellt,
steht demnach im geraden Verhältnis zu dem Gewicht des
Körpers und zur Breite seiner Stützfläche und im
umgekehrten Verhältnis der Höhe des Schwerpunktes
über der Grundfläche, oder ein Körper steht um so
fester, je größer sein Gewicht und je breiter seine
Stützfläche ist, und je tiefer sein Schwerpunkt liegt.
Ein Körper, welcher um eine wagerechte feste Achse drehbar
ist, befindet sich der Schwerkraft gegenüber in jeder
beliebigen Lage im Gleichgewicht, wenn sein Schwerpunkt genau in
der Drehungsachse liegt: man sagt alsdann, er befinde sich im
"gleichgültigen" oder indifferenten Gleichgewicht. Liegt sein
Schwerpunkt lotrecht über der Achse, so wird der Körper,
sobald man ihn aus dieser Gleichgewichtslage nur ein wenig
herausdreht, von der Schwere nach der Seite weiter gedreht, nach
welcher er sich neigt; man nennt daher in diesem Fall sein
Gleichgewicht unsicher, unbeständig oder labil. Er
"schlägt um" und dreht sich so lange, bis sein Schwerpunkt
lotrecht unter der Achse liegt; in dieser Lage ist sein
Gleichgewicht sicher, beständig oder stabil, denn wird er aus
dieser Lage herausgebracht, so wird er durch die Schwerkraft immer
wieder dahin zurückgeführt.

Standgeld (Stättegeld), Vergütung für den
dem Verkäufer für Aufstellung seiner Waren etc.
überlassenen Raum auf Märkten, öffentlichen
Plätzen etc.

Standgericht, früher Ausnahmegericht bei
Unterdrückung von Empörungen und innern Unruhen, dessen
Urteile der in einem Ort oder Lager anwesende oberste Befehlshaber
sofort bestätigen und vollziehen lassen konnte. Das Standrecht
proklamieren hieß der Einwohnerschaft und den Soldaten
kundgeben, daß solche Ausnahmegerichte eingesetzt sind. Jetzt
ist das S. in Deutschland im Gegensatz zu dem mit der höhern
Gerichtsbarkeit betrauten Kriegsgericht das Organ der niedern
Militärgerichtsbarkeit, zuständig über
Unteroffiziere und Gemeine für Vergehen, auf die keine
strengere Strafe gesetzt ist als Arrest und Versetzung in die
zweite Klasse des Soldatenstandes.

Sündhaftigkeit heißt das geduldige Ertragen
vermeidlicher Übel dann, wenn das Vermeiden derselben den
Duldenden einem sittlichen Tadel aussehen würde.

Standia, Insel, s. Dia.

Standish (spr. stänndisch), Stadt in Lancashire
(England), 5 km nordwestlich von Wigan, mit Kohlengruben und (1881)
4261 Einw. Hier Lancashire-Verschwörung zur Restauration der
Stuarts.

Standrecht, s. Standgericht.

Standrede, kurze Rede aus dem Stegreif.

Standrohre, s. Handfeuerwaffen, S. 102.

Standtreiben, s. Treibjagd.

Standwild, das Wild, welches sich an gewissen
Örtlichkeiten zu halten und von diesen nicht weit zu entfernen
pflegt, im Gegensatz zu Wechselwild.

Stang, 1) F., norweg. Staatsmann, geb. 1810, trat 1845
als Chef des Departements des Innern in die norwegische Regierung
ein, legte aber nach zehn Jahren 21. April 1856 sein Amt einer
Nervenkrankheit wegen nieder. Nachdem er sich von derselben in der
Schweiz erholt hatte, ward er 1857 während der Krankheit des
Königs Mitglied der interimistischen Regierung und vertrat
1859-60 Christiania im Storthing. 1861 bildete er ein neues
Ministerium, das er 1873 erneuerte, und war seitdem Staatsminister
des Königreichs. Durch Beförderung der Eisenbahn- und
Wegebauten sowie durch seine ausgezeichneten persönlichen
Eigenschaften erwarb er sich große Sympathien und
Anhänglichkeit, so daß er sich auch während des
langjährigen Streits mit der radikalen Majorität des
Storthings im Amt behauptenkonnte. Anfang Oktober 1880 erhielt er
unter lebhafter Anerkennung seiner Verdienste vom König
die

226

Stange - Stanhope.

erbetene Entlassung. Das Storthing bewies ihm aber seine
Feindseligkeit dadurch, daß es 1881 die für ihn
beantragte Pension von 12,000 Kronen auf die Hälfte
herabsetzte, obwohl S. 1856-60 eine höhere (10,000 Kronen)
bezogen hatte. Eine bedeutende Geldsumme, welche die konservative
Partei zur Entschädigung aufbrachte, verwandte S. zu
wohlthätigen Zwecken. Er starb 8. Juni 1884.

2) Rudolf, Kupferstecher, geb. 26. Nov. 1831 zu Düsseldorf,
bildete sich unter I. Keller auf der dortigen Akademie von 1845 bis
1856. Sein erstes größeres Werk war eine Madonna mit dem
Kind nach Deger in ausgeführter Linienmanier. Die
Verkündigung Mariä, nach Degers Freskobild auf
Stolzenfels, trug ihm 1861 in Metz eine Medaille ein. Zu Goethes
Frauengestalten, nach Kaulbach, stach er drei Blätter: die
Muse, Mignon und Eugenie. 1865 ging er nach Italien, wo er eine
Zeichnung nach Raffaels Sposalizio fertigte. Nach Düsseldorf
zurückgekehrt, vollendete er deren Stich 1873 und wurde in
Anerkennung dieses vortrefflichen Blattes von den Akademien zu
Berlin, München und Brüssel zum Mitglied ernannt; auch
erhielt er vom König von Preußen den Professortitel. Von
1874 bis 1875 war er wieder in Italien, wo er Zeichnungen zu einem
großen Stich des Abendmahls nach Leonardo da Vinci und einem
kleinern Blatt, Fornarina, nach Raffael ausführte. 1876
fertigte er einen Stich nach Landelles Fellahmädchen, und 1881
wurde er als Professor der Kupferstecherkunst an die Akademie zu
Amsterdam berufen, wo er den Stich nach Leonardos Abendmahl, sein
Hauptwerk, 1888 vollendete.

Stange, schwed. Längenmaß, = 2,969 m; 10
Stangen = 1 Schnur.

Stangengehörn, s. Geweih, S. 285.

Stangenkohle, s. Braunkohle und Steinkohle.

Stangenkugeln, zwei durch eine eiserne Stange mit Gelenk
verbundene Voll- oder Halbkugeln, die aus einem Geschütz
großen Kalibers gegen breite Ziele, namentlich gegen die
Takelage von Schiffen, ähnlich den Kettenkugeln, früher
gebraucht wurden.

Stangenkunst, s. v. w. Kunstgestänge, s. Bergbau, S.
729.

Stangenpferde, die an der Deichsel gehenden Pferde eines
Wagens; der auf dem Stangensattelpferd reitende Fahrer bei der
Artillerie heißt Stangenreiter.

Stangenschörl, s. Turmalin.

Stangenspat, s. Schwerspat.

Stangenspringen (Stabspringen), das Springen mit
Unterstützung durch eine 2½ - 4 m lange, bis 4 cm
starke Stange. Während seine Pflege in der hellenischen
Gymnastik zweifelhaft ist, ist es in manchen Gegenden
volkstümlich im Gebrauch, in Deutschland z. B. in
Marschgegenden an der Nordsee zum Überspringen der das Land
durchziehenden Gräben mit den sogen. Klot- od. Pad- (Pfad-)
Stöcken, die meist am untern Ende mit einer Vorrichtung gegen
zu tiefes Einsinken in weichen Boden versehen sind. Die Turnkunst
hat das S. seit Guts Muths und Jahn in den Bereich ihrer
Übungen genommen und macht es neuerdings oft zum Gegenstand
von Wettturnen. Vgl. I. K. Lion, Die Turnübungen des
gemischten Sprunges (2. Aufl., Leipz. 1876); Kluge, Anleitung zum
S., in den "Zeitfragen aus dem Gebiete der Turnkunst" (Berl.
1881).

Stangenstein, s. Topas.

Stanhope (spr. stannop). 1) James, erster Graf von, engl.
Staatsmann, aus der Familie der Grafen von Chesterfield stammend,
geb. 1673, diente unter Wilhelm III. in Flandern mit Auszeichnung
und erwarb sich den Rang eines Obersten. Unter der Königin
Anna ward er Mitglied des Parlaments und später Gesandter bei
den Generalstaaten. Im spanischen Erbfolgekrieg diente er unter
General Peterborough in Spanien, eroberte 1708 als Generalmajor
Port Mahon und die Insel Menorca, siegte, zum Oberbefehlshaber der
englischen Truppen in Spanien befördert, im Sommer 1710 bei
Almenara und Saragossa und führte den Erzherzog Karl nach
Madrid, verzögerte dann aber durch seinen Eigensinn den
notwendigen Rückzug und wurde mit 6000 Mann bei Brihuega im
Dezember d. J. gefangen und erst 1712 ausgewechselt. König
Georg I. ernannte S. 1714 zum Staatssekretär und Mitglied des
Geheimen Rats. 1716 begleitete S. den König von Hannover und
entwarf mit dem Abbe Dubois, Abgesandten Frankreichs, die
Präliminarien zu der Tripelallianz, welche 4. Jan. 1717 im
Haag zwischen England, Frankreich und den Generalstaaten
abgeschlossen wurde; er wurde dafür 1717 zum ersten Lord des
Schatzes, Kanzler der Schatzkammer und Peer von
Großbritannien unter dem Titel Baron S. von Elvaston und
Viscount S. von Mahon ernannt. 1718 vermittelte er als erster
Staatssekretär mit Dubois die berühmte Quadrupelallianz
und wurde hierauf zum Grafen von S. erhoben. Er starb 4. Febr. 1721
in London.

2) Charles, dritter Graf von, Enkel des vorigen, geb. 3. Aug.
1753 zu Genf, löste im Alter von 18 Jahren eine Preisaufgabe
der Akademie zu Stockholm über die Pendelschwingungen, trat
1780 ins Parlament, wo er der Opposition angehörte, und nach
seines Vaters Tod 1786 ins Oberhaus. Die Ideen der
französischen Revolution hatten in ihm einen begeisterten
Vertreter. Als die Habeaskorpusakte suspendiert ward, blieb er aus
dem Parlament weg und erschien erst 1800 wieder. Er starb 15. Dez.
1816. S. erfand eine seinen Namen tragende eiserne Druckerpresse
(s. Presse, S. 332), verbesserte die Stereotypie und schrieb
mehrere Abhandlungen über Mathematik und Mechanik, die sich in
den "Philosophical Transactions" finden.

3) Lady Esther, durch ihre Sonderbarkeiten bekannt gewordene
Tochter des vorigen, geb. 12. März 1776 zu London. Von der
Natur mit imposantem Äußern, scharfem Verstand und
geistiger Energie ausgerüstet, erhielt sie keine geregelte
Erziehung. Später leitete sie das Hauswesen ihres
unverheirateten Oheims Pitt und führte dessen Briefwechsel.
Nach Pitts Tod (1806) zog sie sich mit einem geringen
mütterlichen Erbteil und einer Staatspension von 1200 Pfd.
Sterl. nach Wales zurück. Nach mehrjährigen Reisen durch
Griechenland und die Türkei beschloß sie, sich in Syrien
eine neue Heimat zu gründen, litt aber bei der Überfahrt
Schiffbruch, kehrte nach England zurück, verkaufte den Rest
ihrer Güter und ging dann wirklich nach Syrien. Der Glanz, den
sie um sich verbreitete, und ihr mysteriöses Wesen machten
dort großen Eindruck. Anfangs wohnte sie in einem
griechischen Kloster, später errichtete sie sich zu Dschihun
unweit Sidon, mitten im Libanon, eine Wohnung. Die Syrer pflegten
sie Königin von Tadmor, Zauberin von Dschihun und Sibylle des
Libanon zu nennen und glaubten sie durch Verbindung mit der
Geisterwelt im Besitz großer Schätze. Bei Ibrahim
Paschas Einfall in Syrien spornte sie die Drusen zum Widerstand an
und wußte jenem solchen Respekt einzuflößen,
daß derselbe sie um Neutralität bat. Ein Haupthebel
ihres Einflusses war ihre großartige

227

Stanhopepresse - Stanislaus.

Wohlthätigkeit, bis sie später völlig verarmte,
namentlich seit ihre Staatspension, um ihre Gläubiger zu
befriedigen, innebehalten wurde. Von allen englischen Dienern
verlassen, nur von einigen treuen Arabern umgeben, starb sie 22.
Juni 1839 in Dschihun. Man setzte sie in der Gruft zu Mar Elias
bei. Ihr Arzt veröffentlichte: "Memoirs of the Lady Esther S."
(Lond. 1845, 3 Bde.; deutsch, Stuttg.1846).

4) Philip Henry, Viscount Mahon, fünfter Graf von, engl.
Staatsmann und Geschichtschreiber, geb. 30. Jan. 1805 auf Walmer
Castle, Enkel von S. 2), trat 1830 für den Flecken
Wootton-Basset in das Parlament, wo er als strenger Tory die
Reformbill heftig bekämpfte. Nach deren Annahme verlor er
seinen Sitz im Unterhaus, wurde aber für Hertford wieder
gewählt, bekleidete unter dem Ministerium Peel-Wellington vom
Dezember 1834 bis April 1835 das Amt eines
Unterstaatssekretärs im Auswärtigen Departement, ward im
Juli 1845 Sekretär des indischen Amtes, mußte aber beim
Sturz des Ministeriums Peel im Juli 1846 zurücktreten und
gehörte nun im Unterhaus zur Partei der Peeliten. 1855 trat er
nach seines Vaters Tod ins Oberhaus, wirkte aber hauptsächlich
in verschiedenen Kommissionen und gelehrten Gesellschaften, unter
anderm als Präsident der Society of Antiquaries, als Lord
Rektor der Universität Aberdeen, als Vorstandsmitglied des
Britischen Museums etc., in höchst verdienstlicher Weise. Er
starb 24. Dez. 1875 in Bornemouth. Von seinen Schriften sind
hervorzuheben: "Life of Belisarius" (Lond. 1829, 2. Aufl. 1848);
"History of the war of the succession in Spain" (1834, neue Ausg.
1850); "History of England from the treaty of Utrecht to the peace
of Aix-la-Chapelle" (1836, 2 Bde.; später fortgesetzt bis zum
Frieden von Versailles, 5. Aust. 1858, 7 Bde.; deutsch von Steger,
Braunschw. 1855, 8 Bde.); "Life of the Great Conde" (1840); "Life
of William Pitt" (des jüngern, 4. Aufl. 1879, 3 Bde.);
"History of England comprising the reign of Queen Anne" (1867; 4.
Aufl. 1873, 2 Bde.); "Miscellanies" (1863, neue Folge 1872);
"French retreat from Moscow and historical essays" (1876). Eine
Auswahl seiner für die "Quarterly Review" gelieferten Artikel
erschien unter dem Titel: "Historical essays" (Lond. 1848, neue
Ausg. 1861). Er gab auch die "Letters of Philip Dormer S., Earl of
Chestertield" (neue Ausg., Lond. 1853, 5 Bde.) und "Memoirs by Sir
Robert Peel" (das. 1856-57, 2 Bde.) heraus. Als sechster Graf von
S. folgte ihm sein Sohn Arthur Philip, geb. 13. Sept. 1838, 1868
bis 1875 Mitglied des Unterhauses, 1874-76 Lord des Schatzamtes im
Ministerium Disraeli.

5) Edward, zweiter Sohn des vorigen, geb. 1840 zu London,
erzogen in Harrow und Oxford, wurde 1865 Rechtsanwalt in London und
1874 für Lincolnshire als konservativer Abgeordneter ins
Unterhaus gewählt. Er war Sekretär im Handelsamt vom
November 1875 bis April 1878, Unterstaatssekretär für
Indien vom April 1878 bis April 1880, Vizepräsident des
Erziehungsrats vom Juni bis August 1885, Präsident des
Handelsamtes von da an bis zum Februar 1886. Im August 1886 wurde
er in Lord Salisburys zweitem Ministerium zum Staatssekretär
für die Kolonien und 1887 zum Kriegsminister ernannt. 1888
legte er dem Parlament eine neue Landesverteidigungsbill vor.

Stanhopepresse, s. Stanhope 2).

Stanislau (Stanislawow), Stadt in Galizien, an der
Bistritza, Knotenpunkt der Lemberg-Czernowitzer Bahn und der
Staatsbahnlinie Stryi-Husiatyn, ist Sitz eines
griechisch-katholischen Bistums, einer Bezirkshauptmannschaft,
eines Kreisgerichts und einer Finanzbezirksdirektion, hat ein
Standbild Kaiser Franz I., ein Obergymnasium, Oberrealschule,
Lehrerbildungsanstalt, große Eisenbahnwerkstätte,
Ziegelfabrikation, Dampfmühle, Bierbrauerei, Gerberei,
lebhaften Handel und (1880) 18,626 Einw. (darunter 10,023
Juden).

Stanislaus (Stanislaw), 1) Heiliger, geb. 1030 in
Galizien, studierte zu Gnesen und Paris, wurde 1071 Bischof von
Krakau, aber 1079 in der dortigen Michaeliskirche während der
Messe zusammengehauen, weil er die Ausschweifungen des Königs
Boleslaw des Kühnen gerügt und über denselben den
Bann verhängt hatte. Von Papst Innocenz IV. 1253 heilig
gesprochen, wird S. als Schutzpatron Polens verehrt. Sein
Gedächtnistag ist der 7. Mai.

[Könige von Polen.] 2) S. L Leszczynski, geb. 20. Okt. 1677
zu Lemberg, Sohn Raphael Leszczynskis, Woiwoden von Posen, ward zum
Starosten und Landboten und nach seines Vaters Tod vom König
August II. zum Woiwoden von Posen und General von Großpolen
ernannt. 1704 beteiligte er sich an der Konföderation, die auf
Betrieb Karls II. von Schweden August II. absetzte, und ward
hierauf durch des erstern Einfluß 12. Juni 1704 zum
König von Polen erhoben und 7. Okt. 1705 nebst seiner Gemahlin
Katharina Opalinska gekrönt. Er vermochte sich jedoch nur bis
zur Schlacht von Poltawa (1709) in Polen zu halten, floh darauf
nach Stettin und setzte 1711 nach Schweden über. 1712 kam er
mit einem Heer zurück und stieß zur Armee des Generals
Steenbock. Bereit, auf die Krone zu verzichten, unternahm er 1713,
um Karls Zustimmung zu erhalten, eine Reise nach Jassy, ward aber
vom Hospodar der Moldau nach Bender geschickt und erst 1714 gegen
das Versprechen, das türkische Gebiet meiden zu wollen,
freigegeben. Karl XII. trat ihm, bis er ihm den polnischen Thron
wiedererkämpft hätte, das Fürstentum
Zweibrücken ab. Nach dem Tod Karls XII. (1718) mußte S.
hier dem Pfalzgrafen Gustav Samuel weichen und ging 1720 nach
Frankreich, wo er seinen Aufenthalt erst in Weißenburg, dann
in Bergzabern und, nachdem sich König Ludwig XV. mit seiner
Tochter Maria Leszczynska vermählt hatte, in Chambord bei
Blois nahm. Nach Augusts II. Tod (1733) machte S. seine
Ansprüche auf die polnische Krone von neuem geltend, worin ihn
Frankreich und Schweden unterstützen wollten, reiste heimlich
nach Warschau und ward dort 11. Sept. zum zweitenmal zum König
gewählt. Allein Rußland und Österreich zwangen den
Polen den Kurfürsten von Sachsen, August III., zum König
auf, und S. floh vor einem russischen und sächsischen Heer
nach Danzig und, als er die Übergabe der Festung an die Russen
nahe sah, nach Marienwerder. Durch den Wiener Frieden (3. Okt.
1735, ratifiziert 1738) ward endlich festgesetzt, daß S. auf
die polnische Krone Verzicht leisten, aber den Titel eines
Königs beibehalten und die Herzogtümer Lothringen und Bar
vom Herzog Franz von Lothringen abgetreten erhalten sollte, die
nach dem einstigen Absterben S. an Frankreich fallen sollten.
Nachdem er die Revenuen seiner Herzogtümer gegen eine Pension
von 2 Mill. Frank an Frankreich abgetreten hatte, residierte er
teils zu Nancy, das er sehr verschönerte, teils zu Luneville
und erwarb sich durch Wohlthätigkeit und Förderung der
Wissenschaften und Künste die Liebe seiner Unterthanen. Er
starb an den Folgen einiger am Kaminfeuer erhaltenen Brandwunden
23. Febr. 1766. Seine Schriften erschienen gesammelt

228

Stanislausorden - Stanley.

unter den Titeln: "Oeuvres du philosophe bienfaisant" (Par.
1765, 4 Bde.; neue Ausg. von Migne, 1850); "Oeuvres choisies" (das.
1825).

3) S. II. August, der letzte König von Polen, Sohn des
Grafen Stanislaus Poniatowski und der Fürstin Konstantia
Czartoryiska, geb. 17. Jan. 1732 zu Wolczyn, trat zuerst 1752 auf
dem Reichstag als Landbote auf. August III. sandte ihn an die
Kaiserin Elisabeth nach Petersburg, wo er sich die Gunst der
Großfürstin, nachherigen Kaiserin Katharina, erwarb,
deren Liebhaber er mehrere Jahre war. Nach Augusts Tod brachte es
diese durch ihren Einfluß dahin, daß S. 7. Sept. 1764
zum König von Polen gewählt und 25. Nov. in Warschau
gekrönt wurde. Seine Stellung inmitten der Parteiungen des
Adels und der Übermacht der Nachbarstaaten war eine
schwierige. Der nötigen Energie ermangelnd, um den
unabhängigen Adel zu zügeln und sich der schlauen
russischen Politik zu entziehen, ward er bald mißliebig. Ja,
3. Nov. 1771 ward er von den Verschwornen aus Warschau
entführt, doch auf seine beredten Vorstellungen wieder dahin
zurückgeführt. Die erste Teilung Polens 1772 mußte
er genehmigen. Er schloß sich dann den Bestrebungen, den
zerrütteten Staat zu reformieren, an, vereitelte dieselben
aber dadurch, daß er sich der Konföderation von
Targowitz gegen die Konstitution vom 3. Mai 1791 anschloß und
die abermalige Einmischung der Russen veranlaßte. Sein
Widerspruch gegen die zweite Teilung Polens hatte zur Folge,
daß Katharina ihn nach der Einnahme Warschaus durch Suworow
nach Grodno bringen ließ, wo er den dritten Teilungsvertrag
unterzeichnen und 25. Nov. 1795 dem Thron entsagen mußte. Er
erhielt von Österreich, Rußland und Preußen
200,000 Dukaten Pension, die er anfangs in Grodno verzehrte. Paul
I. berief ihn gleich nach dem Tod Katharinas nach Petersburg, wo er
12. Febr. 1798 unvermählt starb. Der von ihm gestiftete
Stanislausorden ward 1816 vom Zaren Alexander erneuert. Vgl.
"Mémoires secrets inédits de Stanislas II Auguste"
(Leipz. 1862); "Correspondance inédite du roi S. Auguste
Poniatowski et Mad. Geoffrin 1764-77" (1887).

Stanislausorden, russischer, ursprünglich poln.
Verdienstorden, gestiftet von König Stanislaus II. 7. Mai 1765
für 100 Ritter, wurde nach der Teilung Polens nicht mehr
verliehen; erst König Friedrich August von Sachsen, Herzog von
Warschau, verlieh ihn wieder. Kaiser Alexander, als König von
Polen, erneuerte ihn 1815 und teilte ihn in vier Klassen; Kaiser
Nikolaus I. verleibte ihn 1831 den russischen Orden ein und
beschränkte ihn 1839 auf drei Klassen (die zweite mit zwei
Unterabteilungen mit und ohne Krone). Er kommt im Rang nach dem St.
Annenorden. Die Dekoration ist ein rot emailliertes achtspitziges
Kreuz mit goldenen Kugeln und goldenen Halbkreisen zwischen den
Spitzen sowie goldenen Adlern zwischen den Armen. Der weiß
emaillierte Mittelschild, von grünem Lorbeer eingefaßt,
trägt in Rot die Chiffer S. S. (Sanctus Stanislaus). Der
Revers trägt dieselbe Inschrift auf Gold mit weißem
Rande. Der achtstrahlige Silberstern trägt die Devise:
"Praemiando incitat". Der Orden wird in der üblichen Weise an
dunkelrotem Band mit doppelter weißer Einfassung getragen.
Für eine bestimmte Anzahl von Rittern ist eine Pension mit dem
Orden verbunden, dessen Fest 23. April gefeiert wird.

Staniza (russ.), s. v. w. Kosakenansiedelung.

Stankkugeln, Leinwandsäckchen, mit einem Brandsatz
gefüllt, dem Federn, Hornspäne und ähnliche, beim
Verbrennen stinkende Gegenstände beigemengt werden;
früher angewendet, um den Feind aus Minengängen,
Kasematten etc. hinauszuräuchern.

Stanley (spr. stännli), 1) Arthur Penrhyn, engl.
Gelehrter, Sohn des Bischofs S. von Norwich und Vetter des Lords S.
of Alderley, geb. 13. Dez. 1815, studierte Theologie in Oxford, wo
er für sein Gedicht "The gipsies" einen Preis errang, wirkte
dann von 1840 ab als Fellow am University College daselbst und
wurde 1851 zum Kanonikus von Canterbury, 1858 zum Professor der
Kirchengeschichte in Oxford erwählt. Daneben war er Kaplan des
Bischofs von London und seit 1863 Dechant von Westminster.
Vertreter einer milden Aufklärung innerhalb des Christentums,
beteiligte er sich 1872 mit Lebhaftigkeit am
Altkatholikenkongreß in Köln und wurde 1875 zum
Lord-Rektor der Universität St. Andrews erhoben. Seine
litterarische Thätigkeit hatte er mit der Biographie seines
Jugendlehrers Th. Arnold (1844, 13. Aufl. 1882; deutsch, Potsd.
1846) begonnen. Es folgten: "Sermons and essays on the apostolical
age" (1846, 3. Aufl. 1874); "Historical memorials of Canterbury"
(1854, 10. Aufl. 1883); "Sinai and Palestine", die Frucht einer
Reise nach dem Orient (1856, 4. Aufl. 1883); "Lectures on the
history of the Eastern Church" (1861, 5. Aufl. 1883) u. a. Nachdem
er 1862 als Begleiter des Prinzen von Wales eine zweite Reise nach
dem Orient gemacht, veröffentlichte er: "Scenes of the East"
(1863); "Lectures on history of the Jewish Church" (1862; 8. Aufl.
1884, 3 Bde.); "Historical memorials of Westminster Abbey" (5.
Aufl. 1882); "Essays chiefly on questions of church and state from
1850-70" (1870, neue Aufl. 1884); "The Athanasian creed" (1871);
"Lectures on the history of the Church of Scotland" (1872);
"Christian institutions" (4. Aufl. 1883) u. a. Vielfach Unwillen
erregte S. 1880 durch seinen hartnäckig festgehaltenen Plan,
dem Sohne Napoleons III. ein Denkmal in der Westminsterabtei setzen
zu lassen, bis ihn endlich der Wille des Parlaments zum Nachgeben
nötigte. Er starb 18. Juli 1881 in London. Vgl. Grace Oliver,
A. P. S. (3. Aufl., Lond. 1885).

2) Henry Morton (eigentlich James Rowland), berühmter
Afrikareisender, geb. 28. Jan. 1841 bei Denbigh in Wales als Sohn
des Farmers John Rowland, kam im Alter von drei Jahren ins
Armenhaus von St. Asaph, woselbst er bis zum 13. Jahr blieb und
eine gute Erziehung erhielt. Er wollte sich anfangs dem Lehrfach
widmen, wurde dann aber Schiffsjunge und kam als solcher nach New
Orleans. Hier fand er bei einem Kaufmann, Namens S.,
Beschäftigung, ward von demselben adoptiert und nahm dessen
Namen an. Nach dem Tod seines Wohlthäters trat er 1861 beim
Ausbruch des Kriegs in die Armee der Konföderierten, wurde
aber gefangen genommen und der Marine der Vereinigten Staaten
zugeteilt, in welcher er es bis zum Fähnrich brachte. Nach dem
Frieden bereiste er 1865 die Türkei und Kleinasien und
begleitete 1867-68 als Korrespondent des "New Vork Herald" die
englische Armee nach Abessinien. Seinen Weltruf verdankte S. seinem
kühnen Zug zur Auffindung Livingstones, während die
Feststellung des Lualaba und Congostroms ihn zum ersten
Afrikareisenden aller Nationen der Jetztzeit stempelte. Im Auftrag
von J. G. Bennett (s. d.), dem Besitzer des "New York Herald", war
S. nämlich im Okt. 1869 ausgeschickt worden, um den ganz
verschollenen Livingstone aufzusuchen und ihm Hilfe zu bringen.
Nachdem er zuvor als Berichterstatter des "Herald" der

229

Stanley (Afrikareisender).

Einweihung des Suezkanals beigewohnt, dann einen Abstecher nach
Persien und Indien gemacht hatte, langte er im Januar 1871 in
Sansibar an, von wo er mit etwa 200 Mann (darunter 3 Weiße),
vorzüglich ausgerüstet und aufs beste bewaffnet, einige
Wochen später seinen Marsch ins Innere von Afrika antrat. Nach
vielen zu überwindenden Schwierigkeiten war er endlich am
Ziel: 10. Nov. hielt er seinen feierlichen Einzug in Udschidschi am
Tanganjikasee, wo er in der That den tot geglaubten Livingstone
fand. Daß S. in Großbritannien eine starke Anfeindung
erfuhr, daß man seinen ganzen Bericht für eine
Unwahrheit erklärte, daß später aber sich alles
dies als bloße Verleumdung herausstellte, trug nur dazu bei,
dem verdienten Manne noch größere Berühmtheit zu
verschaffen. Nachdem er mit Livingstone sich noch der Erforschung
des Tanganjika gewidmet, trat er im März 1872 seine
Rückreise nach Sansibar und Europa an. Über seine
Erlebnisse und die Resultate seiner Expedition, die dem Besitzer
des "New York Herald" gegen 10,000 Pfd. Sterl. gekostet hatte,
berichtete er in dem Werk "How I found Livingstone" (Lond. 1872;
deutsch, 2. Aufl., Leipz. 1885), worin er außer seinen eignen
auch Livingstones Beobachtungen in dem See- und Flußsystem im
SW. und W. des Tanganjikasees brachte. Darauf wohnte er 1873 bis
1874 dem Feldzug der Engländer gegen den König der
Aschanti bei und berichtete darüber wie über den
abessinischen Feldzug in "Coomassie and Magdala" (Lond. 1874). In
noch großartigerer Weise nahm S. sodann seine Forschungen
1874 wieder auf und zwar zuerst auf Kosten des "New York Herald"
und des Londoner "Daily Telegraph". Mit mehr als 300 Soldaten und
Trägern verließ er im November 1874 Bagamoyo, erreichte
27. Febr. 1875 das südliche Ufer des Ukerewe oder Victoria
Nyanza und umfuhr den ganzen See. Da S. nicht wußte,
daß der Schwestersee des Ukerewe, der 1864 von Baker
entdeckte Mwutan oder Albert Nyanza, bereits von dem Italiener
Gessi bis zu seinem Südende befahren war, so versuchte er,
diesen See zu erreichen. Vom Ukerewe sich westlich wendend,
entdeckte er im Januar 1876 zunächst das 5000 m hohe,
schneebedeckte Gambaragaragebirge. Unter 30° 20' östl. L.
v. Gr. und dem Äquator stieß er alsdann auf einen
großen Golf, den er Beatricegolf nannte und für einen
Teil des Mwutan ansah. Nach spätern Aufnahmen des
ägyptischen Obersten Mason Bei muß jedoch angenommen
werden, daß S. hier einen neuen großen, noch
unbenannten See entdeckt hat. Nun sich südlich wendend,
erforschte er den Hauptzufluß des Ukerewe, den Kagera oder
Kitangule, welchen er als einen bedeutenden, 20-40 m tiefen Strom
schildert, und der aus einem gleichfalls von S. entdeckten See, dem
Akanjaru oder Alexandrasee (zwischen 2-3° südl. Br. und
31° östl. L. v. Gr.), entspringt. S. wandte sich nun der
Lösung des größten noch vorhandenen afrikanischen
Problems zu. Er wollte zu ergründen suchen, wohin die
ungeheuern Wassermassen der Seen und Ströme, die westlich vom
Tanganjikasee liegen, sich ergössen, und ob dieselben, wie
theoretisch bereits Behm nachgewiesen, den obern Lauf des Congo
darstellten, von dem man nur die Mündung kannte. Am 27. Mai
1876 war S. wieder in Udschidschi am Ostufer des Tanganjikasees,
machte auf demselben sein tragbares Boot flott und umfuhr in 51
Tagen zum erstenmal vollständig dieses große
Wasserbecken. Auch den nach W. führenden "Abfluß" des
Tanganjika, den von Cameron entdeckten Lukuga, fand S. wieder auf
und fuhr denselben eine Strecke weit abwärts. Nach seinen
Schilderungen ist der Lukuga jedoch nur ein sumpfiger Arm des
Tanganjika, welcher bloß bei Hochwasser einen gelegentlichen
Abfluß nach W. ausmacht. Nach Vollbringung dieser Aufgabe
drang S. nach W. vor und erreichte unter großen Gefahren
Nyangwe, den äußersten von Livingstone und Cameron
erreichten Ort am obern Lualaba-Congo. Nachdem er seine
zusammengeschmolzene Expedition wieder auf 200 Bewaffnete gebracht
hatte, verließ er 15. Nov. 1876 mit 18 Kanoes Nyangwe, um
eine der gefahrvollsten und merkwürdigsten Reisen anzutreten,
von welcher die Geschichte aller Zeiten berichtet. Sowohl in seinem
obern Lauf bis zum Äquator als in seinem untern zeigt der
Lualaba-Congo zahlreiche bedeutende Wasserfälle, die zum
großen Teil umgangen werden mußten, was meist unter
Kämpfen mit den Eingebornen geschah. Einzelne Katarakte wurden
durchschifft, doch verlor S. hierbei seinen treuen Diener Kalulu
und seinen letzten weißen Gefährten, Francis Pocock.
Drei Vierteljahre hatte diese gefahrvolle, abenteuerliche Reise
gedauert, als S. mit seiner zusammengeschmolzenen Schar, dem
Hungertod nahe, 8. Aug. 1877 in Boma an der Congomündung in
den Bereich portugiesischer Herrschaft gelangte. Aber die
Anstrengungen waren des Resultats wert. Der bisher unbekannte
Riesenlauf des Congo konnte in die Karte eingetragen werden (s.
Congo). S. stellte die ganze Länge des Stroms, für
welchen er den nicht acceptierten Namen "Livingstone" vorschlug,
auf 630 Meilen fest, von denen der 225 Meilen lange, oft seeartig
erweiterte mittlere Teil für die größten Schiffe
fahrbar ist, so daß hier dem Handel ein neues, ungeheuer
großes Gebiet durch den kühnen Reisenden eröffnet
wurde. Die Identität des Congo mit dem Lualaba war somit
festgestellt und damit eine Wasserstraße ins Innere von
Afrika von mehr als 4000 km Länge eröffnet, die nur an
2-3 Stellen von Katarakten unterbrochen wird. Bereits vier Monate
nach seiner Rückkehr veröffentlichte er seinen
Reisebericht "Through the dark continent" (Lond. 1878), der
mehrmals aufgelegt wurde, ebenso wie die zu gleicher Zeit
erschienene deutsche Übersetzung "Durch den dunkeln Weltteil"
(2. Aufl., Leipz. 1881, 2 Bde.). Der großartige Erfolg
Stanleys führte nach der Begegnung König Leopolds II. von
Belgien mit dem Entdecker in Brüssel zur Gründung des
Comité d'études du Haut-Congo, das es sich zur
Aufgabe stellte, Zentralafrika dem Handel zu eröffnen. S.
wurde mit der Leitung des Unternehmens betraut, er legte nicht
allein längs des Congo, auch in dem später an Frankreich
abgetretenen Gebiet des Kuilu eine Reihe von Stationen an bis zu
den Stanleyfällen am obern Congo, entdeckte, den Kwa
aufwärts fahrend, den großen See, welchem er den Namen
Leopolds II. gab, und war mit kurzer Unterbrechung, als ihn seine
geschwächte Gesundheit zur Reise nach Europa nötigte, bis
1884 unermüdlich im Congogebiet thätig. In diesem Jahr
kehrte er endgültig nach Europa zurück, nahm als
technischer Kommissar des Bevollmächtigten der amerikanischen
Union an der Congokonferenz in Berlin teil und veranlaßte in
England die Bildung einer Gesellschaft zur Erbauung einer Eisenbahn
von der Congomündung bis zum Stanley Pool. Zu gleicher Zeit
publizierte er "The Congo and the foundation of its free state",
deutsch unter dem Titel: "Der Congo und die Gründung des
Congostaats" (Leipz. 1885, 2 Bde.). Als Ende 1886 die
ägyptische Regierung in Gemeinschaft mit einigen englischen
Kapitalisten eine Expedition zum Entsatz Emin Beis auszusenden
beschloß,

230

Stanley Pool - Stans.

übernahm S. bereitwilligst die Führung dieses
schwierigen und gefahrvollen Unternehmens, traf 24. Dez. 1886 von
New York in London ein, das er 21. Jan. 1887 verließ, um sich
nach Sansibar zu begeben, von wo er mit den dort von ihm
angeworbenen Leuten um das Kap zum Congo fuhr. Dort traf er 18.
März ein. Seine Begleitung bestand aus 9 Europäern, 13
Somal, 61 Sudanesen und 620 Sansibariten. Außerdem
schloß sich der arabische Sklavenhändler Tippu Tip,
welchen S. durch dessen Ernennung zum Gouverneur vom obern Congo
mit einem Jahresgehalt gewonnen hatte, mit 40 Mann an; weitere
Mannschaften vom Tanganjika und von Kassongo bei Nyangwe sollten
bei den Stanleyfällen zu Tippu Tip stoßen. Da am Congo
großer Mangel an Nahrungsmitteln herrschte, war die
Verproviantierung der großen Kolonne sehr schwierig, doch
konnte sich S. 29. April von Stanley Pool auf vier Dampfern und
mehreren großen Booten endlich einschiffen. Am 28. Mai
erreichte er die Mündung des Aruwimi, wo er ein festes Lager
errichtete, und bereits 2. Juni brach er mit 5 Europäern und
580 Mann nach O. auf. Am 20. Juni befand er sich an den
Jambujafällen des Aruwimi, wo er ein festes Lager zum Schutz
der unter Major Barttelot zurückbleibenden 100 Mann starken
Besatzung errichtete. Von hier brach er 28. Juni mit 389 Mann auf,
am linken Ufer des Flusses aufwärts ziehend. Der Name des
Aruwimi ändert sich wiederholt, 140 km von Jambuja heißt
er Lubali, dann Nevoa, nach seinem Zusammenfluß mit dem
Nepoko heißt er No-Welle, 350 km vom Congo aber Ituri. Trotz
der Feindseligkeiten der Eingebornen ging der Marsch ohne
Schwierigkeit vor sich, bis man Anfang August ein Urwaldgebiet
erreichte, wo der Expedition furchtbare Leiden harrten. Die
Eingebornen widersetzten sich dem Vordringen Stanleys und
erschossen 5 Mann mit vergifteten Pfeilen, auch Leutnant Stairs
wurde schwer verwundet. Um den arabischen Sklavenjägern
auszuweichen, hielt sich S. auf der Congostraße, stieß
31. Aug. aber doch auf eine Abteilung des Sklavenhändlers
Ugarrowa, zu dem 26 Leute desertierten. Auch mußte S. 56
Invalide im Lager Ugarrowas zurücklassen. Mit 273 zog er
weiter, schreckliche Leiden ausstehend in dem durch
Sklavenjäger verwüsteten Land, so daß ein
mitgebrachtes Boot mit 70 Warenladungen unter dem Wundarzt Parke
und dem Kapitän Nelson, beide marschunfähig und
verwundet, bei dem Sklavenhändler Kilonga-Longa
zurückgelassen werden mußte. Endlich wurde Ibwiri
erreicht, wo an Stelle des bisherigen dichten, dumpfen Waldes weite
fruchtbare Ebenen traten und Lebensmittel im Überfluß
waren. Zwar widersetzte sich der mächtige Häuptling
Mogamboni Stanleys Vordringen, doch wurden alle Angriffe
zurückgeschlagen. Am 14. Nov. erreichte S. den Albert Nyanza
bei Kawalli, wo er ein verschanztes Lager errichtete, und da keine
Nachricht von Emin Pascha eingelaufen war, marschierte S. die 200
km zu Kilonga-Longa zurück, um das Boot zu holen. Am 28. April
1888 traf S. endlich mit Emin und Casati zusammen, die ihn in dem
Dampfer Khediv aufgesucht hatten. Emin blieb 26 Tage bei S., ohne
sich bewegen zu lassen, nach Europa zurückzukehren. Darauf
trat S. 16. Juni mit 111 Sansibariten und 101 ihm von Emin
überlassenen Trägern seinen Rückmarsch an, fand
indes von den zurückgelassenen 257 Mann nur noch 71 bei
Bunalaya vor und schlug darauf einen kürzern Weg ein, um nach
Fort Bodo bei Ibwiri, wo er seine Europäer gelassen
zurückzukehren. Vgl. Rowlands, Henry M. S., record of his life
(Lond. 1872); Volz, Stanleys Reise durch den dunkeln Weltteil,
für weitere Kreise bearbeitet (3. Aufl., Leipz. 1885).

3) Frederik Arthur, Lord, engl. Staatsmann, jüngerer Bruder
des Lords Derby, geb. 15. Jan. 1841, widmete sich der
militärischen Laufbahn und avancierte zum Kapitän bei den
Gardegrenadieren, trat aber dann zur Reserve über und wurde
erst zum Major, dann zum Obersten eines Milizregiments ernannt.
Seit 1865 gehörte er für Preston dem Unterhaus an, wo er
sich, den Traditionen seiner Familie gemäß, der
konservativen Partei anschloß. 1868 war er auf kurze Zeit
jüngerer Lord der Admiralität, mußte aber im
Dezember d. J. mit Disraeli zurücktreten. 1878-80 war S.
Kriegsminister und leitete die Vollendung der Rüstungen gegen
Rußland und die Okkupation Cyperns. Unter Salisbury war er im
Juni 1885 bis Januar 1886 Staatssekretär für die Kolonien
und seit August 1886 Handelsminister. Unter dem Titel Lord S. of
Preston wurde er 1887 in den Peersstand erhoben.

Stanley Pool (spr. stännli puhl), das von H. M.
Stanley entdeckte, ca. 40 km lange und 26 km breite, 348 m ü.
M. gelegene Becken, welches der Congo unter 16° östl. L.
und 4° südl. Br. oberhalb der Kallulufälle bildet. Am
Nordufer liegt Brazzaville, im SW. des Sees die Station
Leopoldville.

Stannate, s. Zinnsäure.

Stannin, s. Zinnkies.

Stanniol (Zinnfolie), sehr dünnes Zinnblech aus
reinem Zinn oder einer Zinnlegierung mit 1-2 Proz. Kupfer (wodurch
die Folie an Festigkeit gewinnt) durch Gießen, Walzen und
Schlagen hergestellt. Man gießt das Metall in
Platteneingüssen zu Platten von 10 mm Dicke aus und walzt
diese Platten in einem Blechwalzwerk anfangs einzeln, dann mehrere
aufeinander gelegt, zu Blechen bis zu einer Dicke von 0,1 mm. Noch
dünneres S. wird aus diesen Platten durch Schlagen unter
Hämmern auf die gleiche Weise wie das Blattgold (s.
Goldschlägerei) hergestellt. Nach einem neuen Verfahren wird
Zinn in einer flachen, 2,5 m langen eisernen Schale flüssig
gehalten; über dieser Schale befindet sich eine 2,5 m lange
Walze von 2 m Durchmesser, mit Leinwand überzogen. Diese Walze
wird in das Zinn gesenkt und einmal umgedreht, wodurch sie sich mit
einer dünnen Lage Zinn bedeckt, welche während einer
Rückdrehung der gehobenen Walzen abgewickelt und auf einen
polierten ebenen Stein gelegt wird. Auf diese Lage kommen noch 299
solche Blätter, die nun gemeinschaftlich von zehn Arbeitern
bis zur gewünschten Dicke geschlagen werden. S. dient
hauptsächlich zum Belegen der Spiegel und erhält für
diesen Zweck eine Dicke von 0,038-0,5 mm. S. zum Einwickeln von
Seife, Schokolade etc. ist 0,15-0,0077 mm dick. Auch bleihaltige
Zinnfolie wird vielfach dargestellt und zwar entweder aus
Legierungen oder aus Bleiplatten, die mit Zinn übergossen
wurden. Um farbige, glänzende Zinnfolie zu bereiten, wird S.
mit Baumwolle und Kreidepulver gereinigt, mit Gelatinelösung
überzogen, mit Berberis-, Lackmus-, Orseille- oder
Safranabkochung oder Anilinlösung gefärbt und nach dem
Trocknen mit Weingeistfirnis überzogen.

Stannum (lat.), Zinn,

Stanowoi, Gebirge, s. Sibirien, S. 927.

Stans (auch Stanz), Flecken im schweizer. Kantor
Unterwalden, Hauptort von Nidwalden, am Fuß des 1900 m hohen
Stanser Horns, mit (1880) 2210 Einw. und einem Denkmal Arnolds von
Winkelried.

231

Stansfield - Stapelia.

Hier 9. Sept. 1798 Gefecht zwischen den Nidwaldnern und den
Franzosen unter Schauenburg. Der Hafen des Orts, am
Vierwaldstätter See, ist Stansstad (s. Alpnach), mit 763
Einw.

Stansfield (spr. stännsfild), James, engl.
Staatsmann, geb. 1820 zu Halifax, studierte in London, wurde 1849
Barrister und trat 1859 für seine Geburtsstadt ins Unterhaus,
wo er sich dem linken Flügel der liberalen Partei
anschloß. 1863 wurde er zum Lord der Admiralität
ernannt, schied aber schon 1864 wieder aus der Regierung, bei der
sein intimes Verhältnis zu Mazzini Anstoß erregte.
Trotzdem konnten die folgenden liberalen Regierungen bei dem
Einfluß, den er im Unterhaus hatte, nicht umhin, ihn wieder
in ihre Mitte aufzunehmen: er war Unterstaatssekretär unter
Russell vom Februar bis Juni 1866 und Lord der Admiralität
unter Gladstone vom Dezember 1868 bis Oktober 1869 sowie
Sekretär des Schatzamtes unter demselben bis März 1871.
Darauf erhielt er das Präsidium des Armenamtes und im August
d. J. das Präsidium des neugegründeten
Local-government-board. 1874 trat er mit Gladstone zurück; bei
der Neubildung des liberalen Ministeriums im Frühjahr 1880
wurde S. übergangen.

Stante pede (lat.), stehenden Fußes, auf der
Stelle, flugs, stracks.

Stanton, Edwin M., nordamerikan. Staatsmann, geb. 1815 zu
Steubenville (Ohio), studierte die Rechte, wirkte als Advokat, seit
1857 in Washington, ward 1860 Generalstaatsanwalt, 1861 unter
Lincoln Kriegsminister, weil er als einer der Führer der
republikanischen Partei belohnt werden mußte, erwarb sich
zwar durch rastlose Thätigkeit um die Organisation und
Verpflegung des Heers während des Bürgerkriegs
Verdienste, stiftete aber durch Nepotismus und Einmischung in die
Kriegsoperationen auch Schaden, trat gegen Johnsons vermittelnde
Politik auf, ward deshalb abgesetzt, was den Staatsprozeß
gegen den Präsidenten zur Folge hatte, legte im Mai 1868 sein
Amt nieder, war Richter am obersten Gerichtshof und starb 23. Dez.
1869.

Stanze (ital.), eigentlich Wohnung, Zimmer; dann s. v. w.
Reimgebäude, Strophe; insbesondere das auch Oktave (ital.
Ottava rima) genannte epische Versmaß der Italiener, eine aus
acht fünffüßigen Jamben bestehende Strophe, in
welcher die Verse so verschlungen sind, daß der 1., 3. und
5., dann der 2., 4. und 6., endlich der 7. und 8. aufeinander
reimen und zwar ursprünglich nur mit weiblichem Reim,
während in neuerer Zeit männlicher mit weiblichem Reim
wechselt. Die Strophe findet sich bei den Italienern in allen
größern epischen Gedichten (Ariosts "Rasender Roland",
Tassos "Befreites Jerusalem") angewendet; auch Camoens hat seine
"Lusiaden", Byron seinen "Don Juan" in dieser Form gedichtet sowie
von neuern deutschen Dichtern E. Schulze seine "Bezauberte Rose",
Lingg seine "Völkerwanderung". Indessen eignet sich die S. im
Deutschen mehr zu Widmungsgedichten (z. B. in Goethes "Faust"), zu
Prologen, gedankenreichen Apostrophen u. dgl. als zu
größern epischen Gedichten, wo sie leicht monoton wird
und ermüdend wirkt. Diese Erkenntnis regte Wieland (im
"Oberon") zu einer freiern Behandlung derselben an, indem er die
Zahl der Versfüße beliebig zwischen vier, fünf und
sechs schwanken, die Reime aber ein- oder zweimal wiederkehren
ließ und dabei willkürlich verband. Außer Wieland
hat diese freiere Form, welche einen großen malerischen
Reichtum zu entfalten gestattet, auch Schiller bei seiner
Übersetzung des Vergil angewendet. Eine andre Abart der S. ist
die Spenserstanze, die Spenser in seiner "Feenkönigin" und
nach ihm Lord Byron in seinem "Childe Harold" zur Anwendung
brachte. Sie ist neunzeilig, die Reimpaarung derartig, daß
zuerst zwei Zeilen: die 1. und 3., dann vier: die 2., 4., 5. und
7., und zuletzt drei: die 6., 8. und 9., aufeinander reimen, und um
dem Ganzen einen wuchtigen Abschluß zu geben, hat der letzte
Vers stets einen Fuß mehr. - In der Kunstgeschichte
heißen Stanzen ("Zimmer") vorzugsweise die von Raffael und
seinen Schülern ausgemalten Räume des Vatikans in
Rom.

Stanzen, in der Technik Stempel aus Stahl oder Bronze zur
Verfertigung vertiefter Gegenstände aus Blech
(Eßlöffel, Dosendeckel, Ornamente etc.). Man stellt sie
durch Gravieren oder Gießen her und benutzt sie im Verein mit
Gegenstempeln, indem man das Blech durch Fall- oder Prägwerke
in die liegenden S. eintreibt. Die Gegenstempel werden aus weicherm
Metall (Kupfer, Hartblei etc.) in die S. gegossen oder in dieselben
eingeprägt.

Stanzer Thal, linksseitiges Nebenthal des Inn in
Nordtirol, Bezirkshauptmannschaft Landeck, von der Rosanna
durchströmt, heißt im obersten Teil Verwallthal und wird
von der Straße und Eisenbahn über den Arlberg
durchzogen. Den Namen trägt es vom Dorf Stanz bei Landeck (301
Einw.).

Stanzmaschine, s. Hobelmaschinen, S. 588.

Stapel, ein Haufe, eine Menge Dinge, besonders wenn sie
in einer gewissen Ordnung aufgesetzt sind; vorzüglich eine
Quantität gewisser trockner Waren, welche aufeinander
geschichtet ist, z. B. Holz, Tücher etc., besonders
Häute; Jahrmarkt, Messe, daher Stapelplatz, Ort oder Hafen mit
Warenniederlagen (vgl. Stapelgerechtigkeit). Im Schiffbau nennt man
S. in einer gewissen Ordnung aufeinander gelegte hölzerne
Balken, die entweder bei Luftzutritt aufbewahrt werden sollen, oder
mit deren Hilfe man eine ebene Plattform in einer gewissen
Höhe und Neigung über dem Terrain gewinnen will, auf
welcher ein neues Schiff erbaut wird. Wird ein fertiges Schiff ins
Wasser gelassen, so verläßt es den S., daher Stapellauf
(s. Ablauf).

Stapelartikel, solche Artikel, welche vornehmlich
Handelsgegenstand eines Platzes und infolgedessen hier in
größerer Menge aufgestapelt sind.

Stapelgerechtigkeit (Stapelrecht, Staffelrecht,
Stapelfreiheit), ein in ältern Zeiten gewissen Städten
bewilligtes Recht, wonach gewisse oder auch alle Waren, welche auf
Straßen versandt wurden, an denen ein Stapelplatz gelegen
war, in diesem abgeladen und daselbst eine gewisse Zeit
(Stapelzeit) über zum Verkauf ausgestellt werden mußten,
ehe man sie weiterbringen durfte.

Stapelholm, Landschaft in der preuß. Provinz
Schleswig-Holstein, Kreis Schleswig, östlich von
Friedrichstadt, bildet einen Geestrücken zwischen
Flußmarschen an der Eider, mit den Pfarrdörfern
Süderstapel und Erfde mit (1885) 869 u. 1391 Einw.

Stapelia L. (Aaspflanze), Gattung aus der Familie der
Asklepiadaceen, kaktusartige, blattlose Gewächse mit
fleischigen, oft kantigen und an den Kanten gezähnelten
Stengeln und Ästen, großen, radförmigen
Blumenkronen, welche meist auf gelbem oder gelbgrünem Grund
schwarzpurpurn oder violett gefleckt oder marmoriert sind, und fast
cylindrischen Balgkapseln mit geschwänzten Samen. Die etwa 60
besonders in Südafrika heimischen Arten werden der Blüten
halber als Zierpflanzen in Gewächshäusern kultiviert; die
Blüten riechen indes höchst widerwärtig nach Aas. S.
Tafel "Kakteen".

232

Stapellauf - Star.

Stapellauf, s. Stapel

Stapelplatz, s. Stapel

Stapelrecht, s. v. w. Stapelgerechtigkeit.

Stapelstädte, in Schweden die Städte, welchen
das Recht verliehen ist, auf eignen Schiffen Waren ein- und
auszuführen.

Stapes (lat.), Steigbügel; in der Anatomie eins der
Gehörknöchelchen.

Staphylea L. (Pimpernuß), Gattung aus der Familie
der Sapindaceen, Sträucher mit gegenständigen, unpaarig
gefiederten Blättern, gipfelständigen, meist
überhängenden, weißlichen Blütentrauben und
häutiger, ein- oder wenigsamiger, aufgeblasener Kapsel. S.
pinnata L. (Klappernuß, Blasennuß, Paternosterbaum),
3-5 m hoch, mit fünf- bis siebenzählig gefiederten
Blättern, länglich elliptischen Blättchen,
rötlichweißen Blüten und hellbraunen,
ölreichen Samen mit großem Nabelfleck
(Ölnüßchen), in Gebirgswäldern Mitteleuropas
und Vorderasiens, wird als Zierstrauch angepflanzt. Das
weiße, feste Holz dient zu Drechslerarbeiten; die Samen sind
eßbar und geben ein gutes Öl. Auch S. colchica Stev.
(Hoibreghia formosa hort.), aus Transkaukasien, mit drei- bis
fünfzählig gefiederten Blättern und weißen
Blüten, und S. trifolia L., mit dreizähligen
Blättern, aus Nordamerika, sind Ziersträucher.

Staphyleaceen, dikotyle Pflanzengruppe, eine Unterfamilie
der Celastrineen (s. d.) bildend, von denen sie sich
hauptsächlich durch die Lage des Blütendiskus, die blasig
aufgetriebene Frucht und das Fehlen des Samenmantels
unterscheiden.

Staphylhämatom (griech.), Blutgeschwulst am
Zäpfchen, welche wahrscheinlich durch kleine Verletzungen beim
Essen, Räuspern etc. entsteht und ohne schlimme Bedeutung
ist.

Staphylinus, Staphylinidae, s. Kurzflügler.

Staphyloma (griech.), in der Augenheilkunde zwei
wesentlich verschiedene Zustände: 1) Das S. der Hornhaut ist
ein Auswuchs, der aus jungem Bindegewebe oder Narbenmasse besteht
und seinen Ursprung einer geschwürigen Hornhautentzündung
mit Vorfall der Iris verdankt. Dies S. wird mit dem Messer
abgetragen und ist auf diesem Weg heilbar. 2) Das S. der Sklera,
der harten weißen Haut, bedeutet eine Ausbuchtung derselben,
oft verbunden mit Verdünnung und zunehmender Transparenz,
welche entweder mehr allgemein ist, wie beim grünen Star (s.
Glaukom), oder auf den hintern Umfang beschränkt, wie bei der
Verlängerung des sagittalen Augendurchmessers kurzsichtiger
Augen (S. posticum), oder an mehrfachen Stellen
unregelmäßige Hervorwölbungen bedingen kann, die
ihren Ursprung Entzündungen der Aderhaut oder Iris verdanken.
Ist eine solche Ausstülpung einmal eingetreten, so können
korrigierende Brillen oder die Operation beim Glaukom die
Sehstörungen und die Vergrößerung das S. wohl
beseitigen, aber nicht das Übel selbst heilen.

Staphyloplastik (griech.), künstliche
Gaumenbildung.

Staphylorrhaphie, s. Gaumenspalte.

Stapß, Friedrich, bekannt durch seinen Mordversuch
gegen Napoleon I., geb. 14. März 1792 zu Naumburg, erlernte
die Kaufmannschaft und kam dann nach Leipzig in Stellung. Ein
erbitterter Gegner Napoleons, beschloß er, denselben zu
ermorden, und reiste zu diesem Zweck nach Wien und von da 13. Okt.
1809 nach Schönbrunn, wo jener Heerschau hielt. Der General
Rapp, dem das Benehmen S.', der den Kaiser zu sprechen verlangte,
verdächtig vorkam, ließ ihn festnehmen, und man fand bei
ihm ein großes Küchenmesser. S. gestand unerschrocken
seine Absicht und antwortete auf die Frage des Kaisers: "Wenn ich
Sie nun begnadige, wie werden Sie mir es danken?" mit den Worten:
"Ich werde darum nicht minder Sie töten". Er ward hierauf 17.
Okt. erschossen.

Star, die Herabsetzung oder gänzliche Aufhebung des
Sehvermögens eines oder beider Augen, sofern dieselbe auf
Anomalien der lichtempfindenden Elemente (schwarzer S.) oder auf
Trübung der Kristalllinse (grauer S.) beruht. Über den
sogen. grünen S. oder das Glaukom s. d. Bei dem schwarzen S.
unterscheidet man herkömmlich: Amblyopie, Stumpf- oder
Schwachsichtigkeit, und Amaurose (besser Anopsie), völlige
Blindheit. Beide kommen zu stande zum Teil in der Form von Hemiopie
durch Erkrankung der Netzhaut oder des Sehnervs an irgend einer
Stelle seines Verlaufs oder des Gehirns selbst. Liegt die erkrankte
Stelle hinter dem Eintritt des Sehnervs in die Netzhaut, so
läßt sich die Ursache des schwarzen Stars durch den
Augenspiegel nicht erkennen. In den meisten Fällen hat der
schwarze S. einen langsamen Verlauf, entsteht unmerklich, nimmt
ganz allmählich zu und geht schließlich in
vollständige Erblindung über; doch kommt es auch vor,
daß er auf einer gewissen Stufe der Entwickelung stehen
bleibt oder selbst rückgängig wird. Selten bildet er sich
in sehr kurzer Zeit aus oder tritt selbst plötzlich nach Art
eines Schlaganfalls auf, namentlich dann, wenn sich die Netzhaut
durch einen Bluterguß oder durch ein Entzündungsprodukt
von der Gefäßhaut des Auges abgelöst hat, oder wenn
Blutergüsse, schnell wachsende Geschwülste u. dgl. den
Ursprung des Sehnervs im Gehirn zerstört haben. Der schwarze
S. kommt bei beiden Geschlechtern und in jedem Alter, selbst
angeboren vor; doch ist er bei Männern häufiger als bei
Weibern und in dem Alter von 20-40 Jahren häufiger als im
Greisenalter, hier aber häufiger als im Kindesalter. Vielfach
ist erbliche Disposition vorhanden. Die Pupille pflegt erweitert
oder wenig beweglich oder auch ganz starr zu sein, selbst wenn
starkes Licht in das Auge fällt. Der Kranke hat einen stieren,
nichtssagenden Blick; er büßt überhaupt mehr oder
weniger die Herrschaft des Willens über die Bewegungen des
Auges ein. Die Augenlider sind in der Regel weit geöffnet, der
Augenlidschlag ist träge. Die Bewegungen eines an schwarzem S.
Leidenden sind unsicher, seine Haltung ist ängstlich. Das
wichtigste Symptom ist Schwachsichtigkeit. Jeder Versuch, kleinere
Objekte deutlich zu sehen und anhaltend zu fixieren, kostet
Anstrengung; das Auge ermüdet sehr schnell. Später geht
auch der letzte Lichtschein, das Vermögen, Hell und Dunkel zu
unterscheiden, verloren. Die meisten Fälle von schwarzem S.
sind unheilbar oder sehr schwer zu heilen. Ein frisch entstandener
Fall gibt eine bessere Prognose als ein solcher, der schon lange
Zeit bestanden hat. Der schwarze S., welcher infolge von
Sehnervenschwund, Netzhautablösung und von Zerstörungen
des Gehirns auftritt, gibt die geringste Aussicht auf Heilung. Am
ehesten lassen diejenigen Fälle eine Heilung zu, welche durch
konstitutionelle und dyskrasische Leiden, durch Gicht, Syphilis,
Nierenerkrankungen, Hysterie etc., sowie diejenigen, welche durch
übermäßigen Gebrauch narkotischer Mittel (z. B.
übermäßigen Genuß starker Zigarren, von
Alkohol) entstanden sind. Oft wird nur das eine Auge geheilt, das
andre nicht, oder der schwarze S. heilt nur auf einer Stelle der
Netzhaut; völlige Heilung beider Augen ist selten. Die
Behandlung ist je nach der Form des schwarzen Stars sehr
verschieden. Die

233

Star (Augenkrankheit) - Star (Vogel).

Funktionen des Körpers müssen durch eine angemessene
Lebensordnung geregelt, die Verrichtungen des Auges sorgfältig
überwacht, Anstrengungen desselben durchaus vermieden werden.
Oft wird ein längerer Aufenthalt im Dunkeln, das Tragen
dunkler Brillen etc. notwendig. Die spezielle Behandlung ist von
einem Augenarzt zu leiten.

Der graue S. (Cataracta, s. Tafel "Augenkrankheiten", Fig. 10 u.
11) besteht in einer Trübung im Bereich des Linsensystems, d.
h. der Linse selbst oder ihrer Kapsel, bez. beider, wodurch den
Lichtstrahlen der Durchgang zu der lichtempfindenden Netzhaut
verwehrt wird. Zuerst zeigt sich hinter der Pupille eine
unbedeutende Trübung, welche allmählich zunimmt; der
Kranke sieht wie durch ein trübes Glas, durch Nebel oder
Rauch. Nach und nach wird der vor dem Auge schwebende Nebel
dichter, und die Gegenstände erscheinen wie dunkle Schatten.
Die Pupille bewegt sich meist frei, nur bei sehr großem S.
verliert die Iris an Beweglichkeit und wird nach vorn
gedrängt. Nur nach Verletzungen des Auges entwickelt sich der
graue S. in wenig Tagen (Cataracta traumatica, s. Tafel
"Augenkrankheiten", Fig. 12), meist bedarf er zu seiner Ausbildung
Monate und Jahre. Nur Stare nach äußerer Verwundung
beschränken sich auf Ein Auge. Selten bleibt der S. auf einer
niedern Entwicklungsstufe stehen. Nach dem Sitz der Trübung
unterscheidet man den Kapselstar und den Linsenstar. Der Kapselstar
kommt viel seltener vor und erscheint als eine unsymmetrische,
grauweiße, undurchscheinende Trübung nahe hinter der
Iris. Der Linsenstar befällt am häufigsten alte Leute
(Altersstar, Cataracta senilis) infolge des Sinkens der
Ernährungsthätigkeit. Der Linsenstar ist bald ein
Kernstar, bald ein Rindenstar; bald ist sowohl Kern als Rinde
getrübt (totaler S.). Nach der Konsistenz der getrübten
Linsenmasse teilt man die Linsenstare ein in harte und weiche
Stare. Der harte S. ist von dunkler, bräunlicher Farbe,
betrifft meist den Kern der Linse; dieselbe ist oft knorpelartig
fest oder selbst in eine kalkartige oder steinige Masse (Cataracta
gypsea) umgewandelt. Beim weichen S., welcher unter allen
Starformen am häufigsten vorkommt, zeigt die Linse eine
verminderte Konsistenz. Hinsichtlich der Entwicklungsstufe nennt
man den S. reif, wenn die Trübung die ganze Linse einnimmt,
dagegen unreif, wenn die Entartung noch im Fortschreiten begriffen
ist und besonders die Linsenperipherie noch durchsichtige Stellen
besitzt, überreif, wenn die schon lange getrübten
Linsenmassen stellenweise oder ganz verhärtet und geschrumpft
sind. Die Disposition zum grauen S. ist bei dem männlichen
Geschlecht größer als bei dem weiblichen; Leute mit
blauer oder grauer Iris werden viel häufiger davon betroffen
als solche mit brauner Iris. Mitunter ist der graue S. angeboren
(Cataracta congenita), sehr selten entwickelt er sich vor dem 7.
Lebensjahr; von dieser Zeit an bis zum 60.-70. Lebensjahr wird er
allmählich immer häufiger. Der graue S. tritt oft nach
entzündlichen Augenkrankheiten auf und ist mit solchen
kompliziert. Bei einfachen, nicht komplizierten Staren bleibt
stets, auch wenn das Erkennen von Gegenständen längst
unmöglich geworden ist, die Fähigkeit, Hell und Dunkel zu
unterscheiden, z. B. eine vor dem Auge hin und her bewegte
Lampenflamme zu erkennen, erhalten. Das einzige Mittel, das
Sehvermögen wiederherzustellen, ist die Staroperation, deren
Zweck darin besteht, durch Beseitigung der kranken Linse den
Lichtstrahlen den Eintritt in das Innere des Auges wieder zu
eröffnen. Dies kann auf dreifachem Weg erreicht werden:
entweder indem man die getrübte Linse gänzlich und mit
einemmal aus dem Auge entfernt (Extraktion des Stars); oder durch
Lagenveränderung der Linse, indem man sie aus der Sehachse
entfernt und an einen solchen Ort schiebt, wo sie dem Einfallen der
Lichtstrahlen kein Hindernis in den Weg legt, ohne sie aus dem Auge
zu schaffen (Depression oder Reklination des Stars); oder durch
Zerstückeln und Zerschneiden, wodurch man den S. in einen
solchen Zustand versetzt, daß er aufgesaugt werden und also
von selbst verschwinden kann (Discision des Stars). Die Operation
gelingt bei der Vervollkommnung der modernen Technik unter 100
Fällen 94-96mal. Aber auch im günstigsten Fall ist
dieselbe nicht im stande, das Gesicht so vollkommen
wiederherzustellen, wie es vor der Erkrankung war; denn es fehlt ja
im Auge die Linse, ohne welche sich keine scharfen Bilder auf der
Netzhaut bilden können, und mit der Linse fehlt auch das
Akkommodationsvermögen für verschiedene Entfernungen. Die
verloren gegangene Kristalllinse ersetzt man daher durch starke
(½-¼) Konvexlinsen, durch eine sogen. Starbrille, mit
deren Hilfe der Kranke dann meist wieder kleinste Schrift zu lesen
und die meisten Arbeiten zu verrichten im stande ist. Da aber der
Operierte auch das Akkommodationsvermögen verloren hat, so
muß er Brillen von verschiedener Brechungskraft gebrauchen,
je nachdem er nahe oder ferne Gegenstände sehen will. Nach der
Staroperation tritt oft von neuem wieder eine Trübung in der
hintern Augenkammer ein, welche man sekundärer Kapselstar,
Nachstar (s. Tafel "Augenkrankheiten", Fig. 13), nennt, und wodurch
das Sehvermögen wieder beschränkt oder ganz aufgehoben
wird. Der Nachstar entsteht dadurch, daß die bei der
Operation zurückgelassene hintere Linsenkapsel sich aufs neue
trübt; dieselbe wird dann entweder durch eine Nachoperation
ganz entfernt, oder auf ungefährliche Weise durch
Zerreißung (Discision des Nachstars) beseitigt. Eine
abermalige Trübung ist dann nicht mehr möglich. Vgl.
Magnus, Geschichte des grauen Stars (Leipz. 1876)

Star (Sturnus L.), Vogelgattung aus der Ordnung der
Sperlingsvögel und der Familie der Stare (Sturnidae),
mittelgroße, gedrungen gebaute Vögel mit kurzem Schwanz,
ziemlich langen Flügeln, in welchen die erste Schwinge
verkümmert, die zweite am längsten ist,
mittelmäßig langem, geradem, breit kegelförmigem
Schnabel, mittelhohen, ziemlich starken Füßen und langen
Zehen. Der gemeine S. (Strahl, Sprehe, Spreu, S. vulgaris L.), 22
cm lang, 37 cm breit, ist im Frühling schwarz, auf Schwingen
und Schwanz wegen der breiten, grauen Federränder lichter,
nach der Mauser und im Herbst weiß gepunktet, mit braunen
Augen, schwarzem Schnabel und rotbraunen Füßen, bewohnt
den größten Teil Europas, erscheint aber in den
Mittelmeerländern nur im Winter und geht höchstens bis
Nordafrika; bei uns weilt er von Februar oder März bis Oktober
und November. Er bevorzugt die Ebenen mit Auenwaldungen,
läßt sich aber auch in Gegenden, die er sonst nur auf
dem Zug berührt, durch Anbringung von Brutkasten etc. fesseln.
Dadurch hat ihn z. B. Lenz seit 1856 in Thüringen heimisch
gemacht. Durch sein munteres, heiteres Wesen ist er allgemein
beliebt; seine Stimme ist ein angenehmes Geschwätz, er besitzt
aber auch ein großes Nachahmungsvermögen und mischt die
verschiedensten Töne ein. Er nistet in Baumhöhlungen,
Mauerlöchern, am liebsten in Brutkästchen auf
Bäumen, Stangen, Hausgie-

234

Staraja-Russa - Starhemberg.

beln etc., und legt im April 5-6 lichtblaue Eier (s. Tafel "Eier
I", Fig. 57), welche vom Weibchen allein ausgebrütet werden.
Die ausgeschlüpften Jungen sind bald selbständig und
schweifen mit andern Nestlingen umher. Ist auch die zweite Brut
flügge, so vereinigen sich alle Stare und sammeln sich zu
großen Scharen in Wäldern sowie später (etwa Ende
August) im Röhricht der Gewässer. Die Alten kehren
zuletzt gegen Ende September noch einmal zu den Nistkasten
zurück, singen morgens und abends, ziehen aber nach den ersten
starken Frösten mit den Jungen in die Winterherberge. Der S.
nährt sich von Kerbtieren, Würmern und Schnecken und wird
durch massenhafte Vertilgung derselben sehr nützlich;
weidenden Rindern liest er Mücken und andre Insekten vom
Rücken ab. In Kirschpflanzungen und Gemüsegärten,
namentlich in Weinbergen richtet er zwar oft erheblichen Schaden
an, doch überwiegt sein Nutzen bei weitem. In der
Gefangenschaft wird er leicht zahm, lernt Lieder pfeifen und Worte
nachsprechen und dauert fast ein Menschenalter aus.

Staraja-Russa, Kreisstadt im russ. Gouvernement Nowgorod,
südlich vom Ilmensee, an der Polista und der Eisenbahn
S.-Nowgorod, mit Mönchskloster, 16 Kirchen, weiblichem
Progymnasium, Theater, Stadtbank, Findelhaus, mehreren Kasernen und
(1885) 13,537 Einw. S. besitzt bedeutende Salinen und ist in
neuerer Zeit als Solbad in Ruf gekommen.

Stara Planina, s. Balkan.

Starbuck, zum Manihikiarchipel der Südssee
gehörige, unbewohnte Insel, 3 qkm groß, wurde 1866
für englisches Eigentum erklärt.

Staremiasto (Alt-Sambor), Stadt in Galizien, am Dnjestr,
südwestlich von Sambor, Sitz einer Bezirkshauptmannschaft und
eines Bezirksgerichts, mit (1880) 3482 Einw.

Stargard, 1) Kreisstadt im preuß. Regierungsbezirk
Stettin, Kreis Saatzig, an der Ihna, Knotenpunkt der Linien
Berlin-S., Posen-S. und S.-Zoppot der Preußischen Staatsbahn
wie der Eisenbahn S.-Küstrin, 36 m ü. M., hat 3
evangelische und eine kath. Kirche, ein Bethaus der Irvingianer,
eine Synagoge und (1885) mit der Garnison (ein Grenadierregiment
Nr. 9) 22,112 meist evang. Einwohner, welche Maschinen-,
Schuhwaren-, Lack-, Filzwaren-, Dachpappen-, Seifen-,
Bürsten-, Spiritus- und Zigarrenfabrikation, Bildhauerei,
Gerberei, Bierbrauerei, Feilenhauerei und Dampfschleiferei
betreiben. S. hat außerdem eine Wasser- und
Dampfmahlmühle, eine Dampfmolkerei, eine
Provinzialobstbaumschule und bedeutende Landwirtschaft. Der Handel,
unterstützt durch eine Reichsbanknebenstelle, ist besonders
lebhaft in Getreide, Vieh und Produkten, auch finden
alljährlich in S. ein Leinwandmarkt und zwölf besuchte
Vieh- und Pferdemärkte statt. S. hat ein Landgericht, ein
Landratsamt (für den Kreis Saatzig), ein Hauptsteueramt, eine
Landschaftsdepartements-Direktion, ein Gymnasium, ein
Realprogymnasium, ein Zentralgefängnis, ein Waisenhaus, 8
Hospitäler etc. S. erhielt 1253 Stadtrecht und ward dann die
Hauptstadt von Hinterpommern. Zum Landgerichtsbezirk S.
gehören die 14 Amtsgerichte zu Dramburg, Falkenburg, Gollnow,
Greifenberg i. P., Jakobshagen, Kallies, Labes, Massow, Naugard,
Nörenberg, Pyritz, Regenwalde, S. und Treptow a. R. Vgl.
Petrich, Stargarder Skizzenbuch (Starg. 1876). -

2) (Stargardt, Preußisch-S.) Kreisstadt im preuß.
Regierungsbezirk Danzig, an der Ferse und der Linie
Schneidemühl-Dirschau der Preußischen Staatsbahn, hat
eine evangelische und eine kath. Kirche, eine Synagoge, ein
Gymnasium, eine Präparandenanstalt, ein Amtsgericht, ein
Hauptsteueramt, Eisengießerei, Kupferschmiederei,
Schnupftabaks-, Möbel-, Spiritus- und Essigfabrikation, eine
Holzbearbeitungsanstalt, große Mühlen, Bierbrauerei und
(1885) mit der Garnison (2 Eskadrons Husaren Nr. 1) 6634 meist
kath. Einwohner. Vgl. Stadie, Geschichte der Stadt S. (Starg.
1864). -

3) (S. an der Linde) Stadt im Großherzogtum
Mecklenburg-Strelitz, an der Linie Berlin-Stralsund der
Preußischen Staatsbahn, hat eine evang. Kirche, ein
Amtsgericht, ein Domanialamt, Furniertischlerei, Wollspinnerei,
Tuchmacherei, 2 Dampfschneidemühlen und (1885) 2200 evang.
Einwohner. Dabei auf steiler Höhe die alte Burg S. mit
Wartturm. Vgl. v. Örtzen, Geschichte der Burg S. (Neubrandenb.
1887). Nach S. wurde ehemals auch der Hauptteil des
Großherzogtums Mecklenburg-Strelitz benannt (s. Strelitz,
Herzogtum).

Starhemberg (Starchimberg, Storchenberg),
österreich., teils fürstliches, teils gräfliches
Geschlecht, stammt aus Oberösterreich, erhielt 1643 die
reichsgräfliche, 1765 die reichsfürstliche Würde und
blüht noch in einer fürstlichen Hauptlinie und einer
gräflichen Nebenlinie, erstere vertreten durch Camillo,
Fürsten von S., Mitglied des österreichischen
Herrenhauses, geb. 31. Juli 1835, letztere durch Stephan, Grafen
von S., geb. 25. Juni 1817. Vgl. Schwerdling, Geschichte des
uralten, teils fürstlichen, teils gräflichen Hauses S.
(Linz 1839). Die namhaftesten Sprößlinge des Geschlechts
sind:

1) Ernst Rüdiger, Graf von, geb. 12. Jan. 1638 zu Graz in
Steiermark, diente unter Montecuccoli gegen Türken und
Franzosen und machte sich besonders als Kommandant von Wien durch
die erfolgreiche Verteidigung der Stadt gegen die Türken vom
9. Juli bis 12. Sept. 1683 berühmt. Kaiser Leopold verlieh ihm
hierfür den Feldmarschallsstab, die Würde eines Staats-
und Konferenzministers und das Recht, den Stephansturm in seinem
Wappen zu führen. S. folgte dann dem König Johann
Sobieski als Kommandierender der Infanterie nach Ungarn, ward aber
1686 bei Ofen so schwer verwundet, daß er sein Kommando
niederlegen mußte, und lebte fortan als Präsident des
Hofkriegsrats (seit 1691) zu Wien, vorzugsweise mit der
Organisation des österreichischen Heers beschäftigt. Er
starb 4. Juni 1701. Sein Leben beschrieb Graf Thürheim (Wien
1882).

2) Guido, Graf von, geb. 1657, kämpfte während der
Belagerung Wiens 1683 mit Auszeichnung als Adjutant des vorigen,
seines Vetters, folgte nach dem Entsatz Wiens dem Heer nach Ungarn
und that sich auch dort vielfach, unter anderm 1686 dei der
Belagerung von Ofen, 1687 bei Mohács und bei der
Erstürmung Belgrads (6. Sept. 1688) sowie in den Schlachten
bei Slankamen (19. Aug. 1691) und Zenta (11. Sept. 1697), hervor.
Nach dem Ausbruch

235

Staring - Stärke.

des spanischen Erbfolgekriegs ging er mit dem Prinzen Eugen nach
Italien, führte hier 1703 an dessen Stelle den Oberbefehl und
wußte die versuchte Vereinigung der Franzosen und Bayern in
Tirol zu verhindern. 1708 übernahm er als Feldmarschall das
Kommando der in Spanien kämpfenden österreichischen Armee
und führte trotz der geringen ihm zu Gebote stehenden
Streitkräfte den kleinen Krieg glücklich. 1710 zog er
nach den Siegen bei Almenara und Saragossa in Madrid ein, ward aber
durch Mangel und die Teilnahmlosigkeit des spanischen Volkes an der
Sache Karls bald zum Rückzug nach Barcelona genötigt. Als
Karl nach Josephs Tod in die österreichischen Erblande
zurückgekehrt war, blieb S. als Vizekönig in Barcelona
zurück, konnte sich aber trotz seiner genialen Taktik und
seines Mutes, der ihm den spanischen Beinamen el gran capitan
verschaffte, aus Mangel an Unterstützung daselbst nicht halten
und ließ sich infolge des Neutralitätstraktats vom 14.
Mai 1713 mit den Resten seiner Truppen auf englischen Schiffen nach
Genua übersetzen. Er lebte seitdem in Wien. Während des
Türkenkriegs von 1716 bis 1718 übernahm er in Abwesenheit
des Prinzen Eugen das Präsidium des Hofkriegsrats. Er starb 7.
März 1737 als Gouverneur von Slawonien. Sein Leben beschrieb
Arneth (Wien 1853).

Staring, Antony Winand Christiaan, holländ. Dichter,
geb. 24. Jan. 1767 zu Gendringen, studierte die Rechte in Harderwyk
und Göttingen und wohnte seitdem auf seinem Landgut
Wildenborch bei Zütphen, wo er 18. Aug. 1840 starb. S. hat nur
einen Band Novellen und vier kleine Bände Gedichte geschrieben
(hrsg. von Nik. Beets, 4. Aufl. 1883), welche erst nach seinem Tod
nach Verdienst geschätzt wurden und sich durch
Ursprünglichkeit, Kernhaftigkeit und einen gesunden Humor
auszeichnen.

Stariza, Kreisstadt im russ. Gouvernement Twer, an der
Wolga, die hier den Fluß S. aufnimmt, und an der Eisenbahn
Ostaschkow-Rshew, mit (1885) 4709 Einw., welche starken
Getreidehandel auf der Wolga und den Kanälen nach Petersburg
treiben,

Stark (Starck), 1) Johann Friedrich, luther. asketischer
Schriftsteller, geb. 10. Okt. 1680 zu Hildesheim, wirkte als
Prediger nacheinander in Sachsenhausen und Frankfurt a. M., wo er
17. Juli 1756 als Konsistorialrat starb. Außer vielen
geistlichen Liedern schrieb er einige bis auf den heutigen Tag
vielgebrauchte Gebetbücher, so namentlich: "Tägliches
Handbuch" (Frankf. 1727).

2) Johann August, Freiherr von, bekannt als Kryptokatholik, geb.
29. Okt. 1741 zu Schwerin, war zuerst Lehrer in Petersburg,
besuchte 1763 England und ward 1765 in Paris Interpret der
morgenländischen Handschriften an der königlichen
Bibliothek und, heimgekehrt, Konrektor in Wismar. Nach einer
zweiten Reise nach Petersburg übernahm er 1769 eine Professur
der morgenländischen Sprachen zu Königsberg und wurde
hier 1770 Hofprediger, 1772 ordentlicher Professor der Theologie
und 1776 Oberhofprediger, ging 1777 als Professor an das Gymnasium
nach Mitau und 1781 als Oberhofprediger und Konsistorialrat nach
Darmstadt. 1786 beschuldigten ihn Biester und Nicolai
öffentlich, daß er Kryptokatholik, Priester und Jesuit
sei. S. vermochte sich in der Schrift "Über
Kryptokatholizismus, Proselytenmacherei, Jesuitismus, geheime
Gesellschaften etc." (Frankf. 1787, 2 Bde.; Nachtrag 1788) nicht
vollständig zu rechtfertigen, und sein anonymes Buch "Theoduls
Gastmahl, oder über die Vereinigung der verschiedenen
christlichen Religionssocietäten" (das. 1809, 7. Aufl. 1828)
gab jenem Verdacht nur neue Nahrung. Gleichwohl ward er vom
Großherzog von Hessen 1811 in den Freiherrenstand erhoben; er
starb 3. März 1816. Nach seinem Tod soll man in seinem Haus
ein zum Messehalten eingerichtetes Zimmer gefunden haben, und es
wird behauptet, daß er schon 1766 in Paris förmlich zur
katholischen Kirche übergetreten sei.

3) Karl Bernhard, Archäolog, geb. 2. Okt. 1824 zu Jena,
Sohn des als Professor der Pathologie bekannten Geheimen Hofrats S.
(gest. 1845), studierte in seiner Vaterstadt und in Leipzig
Philologie, wandte sich dann vorzugsweise der Archäologie zu
und unternahm 1847 eine Reise nach Italien. Seit 1848 in Jena erst
als Privatdozent, dann als außerordentlicher Professor
thätig, folgte er 1855 einem Ruf als Professor der
Archäologie nach Heidelberg, wo er 12. Okt. 1878 starb. Er
schrieb: "Kunst und Schule" (Jena 1848); "Forschungen zur
Geschichte des hellenistischen Orients: Gaza und die
philistäische Küste" (das. 1852); "Archäologische
Studien" (Wetzl. 1852) und als Ergebnis einer Reise durch
Frankreich und Belgien "Städteleben, Kunst und Altertum in
Frankreich" (Jena 1855); "Niobe und die Niobiden" (Leipz.1863);
"Gigantomachie auf antiken Reliefs und der Tempel des Jupiter
tonans in Rom" (Heidelb. 1869); "Handbuch der Archäologie der
Kunst" (Leipz. 1878, Bd. 1, die Systematik der Archäologie und
eine Geschichte der archäologischen Studien enthaltend);
kleinere Schriften über Creuzer, Winckelmann, das Heidelberger
Schloß u. a. Auch bearbeitete er die zweite Auflage des
dritten Teils von Hermanns "Lehrbuch der griechischen
Antiquitäten" (Privataltertümer, Leipz. 1870). Eine neue
Reise nach dem griechischen Orient gab Stoff zu einer Reihe von
Berichten, die er später in dem Werk "Nach dem griechischen
Orient" (Heidelb. 1874) verarbeitete. Vgl. W. Frommel, Karl Bernh.
Stark (Berl. 1880).

4) Ludwig, Musikpädagog, geb. 19. Juni 1831 zu
München, studierte daselbst Philologie, widmete sich jedoch
dann unter Ignaz Lachners Beistand der Musik und konnte bald mit
Erfolg als Komponist von Ouvertüren, Zwischenaktsmusiken etc.
am Hoftheater debütieren. Die Bekanntschaft mit Siegm. Lebert
(s. d.) führte S. an die von jenem gegründete Stuttgarter
Musikschule als Lehrer der Theorie und Geschichte der Musik; als
solcher erhielt er 1868 den Professortitel, 1873 den Doktorgrad von
der Universität Tübingen sowie andre Auszeichnungen. Er
starb 22. März 1884 in Stuttgart. Von Starks mit Lebert
gemeinschaftlich herausgegebenen Unterrichtswerken ist außer
der berühmt gewordenen "Klavierschule" (s. Lebert) noch die
"Deutsche Liederschule" zu erwähnen. Ferner erschienen von ihm
ein "instruktives" u. "Solfeggien-Album", eine weitverbreitete
Chorsammlung: "Stimmen der Heimat", eine große, mit A. und C.
Kißner gemeinschaftlich bearbeitete Sammlung keltischer
Volksweisen in verschiedenen Serien ("Burns-Album" etc.), eine
"Elementar- und Chorgesangschule" (mit Faißt, Stuttg.
1880-83, 2 Tle.), Klaviertransskriptionen etc. und eine Bearbeitung
der Klavierwerke Händels, Bachs, Mozarts; endlich auch
zahlreiche Originalkompositionen für Gesang, Klavier und andre
Instrumente und eine Auswahl seiner Tagebuchblätter unter dem
Titel: "Kunst und Welt" (Stuttg. 1884).

Stärke (Stärkemehl, Satzmehl, Kraftmehl,
Amylum), neben Protoplasma (s. d.) u. Chlorophyll (s. d.) der
wichtigste Inhaltsbestandteil der Pflanzenzelle, in welcher sie in
Form organisierter Körner (Fig. 1 u. 2) auftritt. Dieselben
besitzen eine sehr wech-

236

Stärke (natürliches Vorkommen, Chemisches;
Gewinnung).

selnde Größe und erscheinen kugelig, oval, linsen-
oder spindelförmig, mitunter, wie im Milchsaft der Euphorbien,
auch stabartig mit angeschwollenen Enden, in andern Fällen
durch gegenseitigen Druck polyedrisch. Nicht selten treten mehrere
Körner zu einem abgerundeten Ganzen zusammen (zusammengesetzte
Stärkekörner). Im Wasser liegende Stärkekörner
lassen eine deutliche Schichtung (Fig. 1a) erkennen, welche dadurch
hervorgerufen wird, daß um eine innere, weniger dichte
Partie, den sogen. Kern, Schichten von ungleicher Lichtbrechung
schalenartig gelagert sind; der Kern liegt nur bei kugeligen
Körnern genau im Mittelpunkt, meist ist er exzentrisch, und
die ihn umgebenden Schichten haben dem entsprechend ungleiche
Dicke. Die Schichtung wird durch verschiedenen Wassergehalt und
entsprechend verschiedene Lichtbrechung der Schichten verursacht,
weshalb auch trockne oder in absolutem Alkohol liegende Körner
ungeschichtet erscheinen. In polarisiertem Licht zeigen alle
Stärkekörner ein helles, vierarmiges Kreuz, dessen
Mittelpunkt mit dem Schichtungszentrum zusammenfällt, und
verhalten sich demnach so, als wenn sie aus einachsigen
Kristallnadeln zusammengesetzt wären. Mit Jodlösung
färben sich je nach Konzentration derselben die
Stärkekörner mit wenigen Ausnahmen indigoblau bis
schwarz, eine Reaktion, durch welche sich auch sehr geringe
Stärkemengen in Gewebeteilen nachweisen lassen. In kaltem
Wasser sind die Körner unlöslich, quellen aber in warmem
Wasser auf und lösen sich zuletzt beim Kochen auf. Nach
Einwirkung von Speichel oder von verdünnten Säuren bleibt
ein substanzärmeres Stärkeskelett zurück, das sich
mit Jod nicht mehr blau, sondern violett oder gelb färbt, so
daß die Annahme zweier verschiedener Substanzen (von
Nägeli als Granulose und Cellulose bezeichnet) naheliegt;
jedoch scheint die Annahme einer unter diesen Umständen
eintretenden Umwandlung der S. in Amylodextrin wahrscheinlicher.
Die S. tritt in den verschiedenartigsten Geweben aller Pflanzen mit
Ausnahme der Pilze und einiger Algen (Diatomeen und Florideen) auf;
bei letztern wird sie jedoch durch eine ähnliche Substanz
(Florideenstärke) vertreten, welche sich mit Jod gelb oder
braun färbt und direkt aus dem Zellplasma hervorgeht. Auch im
Zellinhalt von Euglena kommen stärkeähnliche, mit Jod
jedoch sich nicht färbende Körner (Paramylon) vor.
Endlich tritt in den Epidermiszellen einiger höherer Pflanzen
eine mit Jod sich blau oder rötlich färbende Substanz in
gelöster Form (lösliche S.) auf. In allen übrigen
Fällen ist das Auftreten der S. in der beschriebenen
Körnerform die Regel. Sehr reich an S. sind die als
Stoffmagazine dienenden Gewebe der Samen, Knollen, Zwiebeln und
Rhizome sowie die Markstrahlen und das Holzparenchym im
Holzkörper der Bäume. Diese Reservestärke
unterscheidet sich durch ihre Großkörnigkeit von der
feinkörnigen, im assimilierenden Gewebe auftretenden S. (s.
Ernährung der Pflanzen). Die Bildung der S. erfolgt entweder
innerhalb der Chlorophyllkörner und andrer
Farbstoffkörper, oder sie entsteht aus farblosen
Plasmakörnern, den Leukoplasten oder Stärkebildnern. Die
letztern treten besonders in solchen chlorophyllfreien Geweben auf,
in welchen die Assimilationsprodukte in Reservestärke
übergeführt werden, wie in vielen stärkemehlhaltigen
Knollen; in diesen werden die kleinen Stärkekörner von
den Leukoplasten fast ganz eingehüllt, während letztere
den großen, exzentrisch gebauten Stärkekörnern nur
einseitig aufsitzen. Bei vielen Chlorophyllalgen, z. B. bei
Spirogyra, treten die Stärkemehlkörner an besondern
Bildungsherden im Umkreis von plasmatischen Kernen (Pyrenoiden)
auf. Das Wachstum der anfangs ganz winzigen Stärkekörner
erfolgt durch Einlagerung neuer Stärkemoleküle zwischen
die schon vorhandenen (Intussuszeption), während die
zusammengesetzten Stärkekörner sich durch
nachträgliche Verschmelzung und Umlagerung mit neuen Schichten
bilden. Die Auflösung der S. im Innern der Pflanzenzelle kommt
vorzugsweise durch Einwirkung von Fermenten zu stande, welche der
Diastase des keimenden Getreidekorns ähnlich sind. Im Leben
der Pflanze liefert die S. das Material für den Aufbau der
Zellwand. - Auch in chemischer Beziehung steht das Stärkemehl
(C6H10O5) in naher Verwandtschaft zu andern Kohlehydraten, wie der
Cellulose, den Zuckerarten, dem Dextrin u. a. Die Umwandlung in
Dextrin und Zucker erfolgt besonders leicht durch Behandlung der S.
mit verdünnten Säuren, Diastase, Speichel, Hefe und
andern Fermenten. Bei 160° geht die S. in Dextrin über,
mit konzentrierter Salpetersäure bildet sie explosives
Nitroamylum (Xyloidin), mit verdünnter Salpetersäure
gekocht, Oxalsäure. Beim Erhitzen mit Wasser quillt die S. je
nach der Abstammung bei 47-57°, die Schichten platzen, und bei
55-87° (Kartoffelstärke bei 62,5°, Weizenstärke
bei 67,5°) entsteht Kleister, welcher je nach der
Stärkesorte verschiedenes Steifungsvermögen besitzt
(Maisstärkekleister größeres als
Weizenstärkekleister, dieser größeres als
Kartoffelstärkekleister) und sich mehr oder weniger leicht
unter Säuerung zersetzt.

Man gewinnt S. aus zahlreichen, sehr verschiedenen Pflanzen, von
denen Weizen, Kartoffeln, Reis (Bruchreis aus den
Reisschälfabriken) und Mais befonders wichtig sind. Wichtige
Objekte des Handels sind außerdem: Sago, Marantastärke
(Arrowroot), brasilische Maniokstärke, ostindische
Kurkumastärke und Kannastärke, letztere beiden ebenfalls
als Arrowroot im Handel. Zur Darstellung der Kartoffelstärke
werden die Kartoffeln, welche etwa 75 Proz. Wasser, 21 Proz. S. und
4 Proz. andre Substanzen enthalten, auf schnell rotierenden
Cylindern, die mit Sägezähnen besetzt sind, unter
Zufluß von Wasser möglichst fein zerrieben, worauf man
den Brei, in welchem die Zellen möglichst vollständig
zerrissen, die Stärkekörner also bloßgelegt sein
sollen, aus einem Metallsieb, auf welchem ein Paar Bürsten
langsam rotieren, unter Zufluß von Wasser auswäscht. Bei
größerm Betrieb benutzt man kontinuierlich wirkende
Apparate, bei denen der Brei durch eine Kette allmählich
über ein langes, geneigt liegendes Sieb transportiert und
dabei ausgewaschen und das

237

Stärke (Gewinnung aus Kartoffeln, Weizen, Reis, Mais).

auf den schon fast erschöpften Brei fließende Wasser,
welches also nur sehr wenig Stärkemehl aufnimmt, auch noch auf
frischen Brei geleitet wird. Der ausgewaschene Brei (Pülpe)
enthält 80-95 Proz. Wasser, in der Trockensubstanz aber noch
etwa 60 Proz. S. und dient als Viehfutter, auch zur
Stärkezucker-, Branntwein- und Papierbereitung; das
Waschwasser hat man zum Berieseln der Wiesen benutzt, doch gelang
es auch, die stickstoffhaltigen Bestandteile des
Kartoffelfruchtwassers für die Zwecke der Verfütterung zu
verwerten. Da die Pülpe noch sehr viel S. enthält, so
zerreibt man sie wohl zwischen Walzen, um alle Zellen zu
öffnen, und wäscht sie noch einmal aus. Nach einer andern
Methode schneidet man die Kartoffeln in Scheiben, befreit sie durch
Maceration in Wasser von ihrem Saft und schichtet sie mit
Reisigholz oder Horden zu Haufen, in welchen sie bei einer
Temperatur von 30-40° in etwa acht Tagen vollständig
verrotten und in eine lockere, breiartige Masse verwandelt werden,
aus welcher die S. leicht ausgewaschen werden kann.

Das von den Sieben abfließende Wasser enthält die
Saftbestandteile der Kartoffeln gelöst und S. und feine
Fasern, die durch das Sieb gegangen sind, suspendiert. Man
rührt es in Bottichen auf, läßt es kurze Zeit
stehen, damit Sand und kleine Steinchen zu Boden fallen
können, zieht es von diesen ab, läßt es durch ein
feines Sieb fließen, um gröbere Fasern
zurückzuhalten, und bringt es dann in einen Bottich, in
welchem sich die S. und auf derselben die Faser ablagert. Die obere
Schicht des Bodensatzes wird deshalb nach dem Ablassen des Wassers
entfernt und als Schlammstärke direkt verwertet oder weiter
gereinigt, indem man sie auf einem Schüttelsieb aus feiner
Seidengaze, durch deren Maschen die S., aber nicht die Fasern
hindurchgehen, mit viel Wasser auswäscht. Die Hauptmasse der
S. wird im Bottich wiederholt mit reinem Wasser angerührt und
nach jedesmaligem Absetzen von der obern unreinen S. befreit. Man
kann auch die rohe S. mit Wasser durch eine sehr schwach geneigte
Rinne fließen lassen, in deren oberm Teil sich die schwere
reine S. ablagert, während die leichtern Fasern von dem Wasser
weiter fortgeführt werden. Sehr häufig benutzt man auch
innen mit Barchent ausgekleidete Zentrifugalmaschinen, in welchen
sich die schwere S. zunächst an der senkrechten Wand der
schnell rotierenden Siebtrommel ablagert, während die leichte
Faser noch im Wasser suspendiert bleibt. Das Wasser aber entweicht
durch die Siebwand, und man kann schließlich die S. aus der
Zentrifugalmaschine in festen Blöcken herausheben, deren
innere Schicht die Faser bildet. Die feuchte (grüne) S.,
welche etwa 33-45 Proz. Wasser enthält, wird ohne weiteres auf
Dextrin und Traubenzucker verarbeitet, für alle andern Zwecke
aber auf Filterpressen oder auf Platten aus gebranntem Gips, die
begierig Wasser einsaugen, auch unter Anwendung der Luftpumpe
entwässert und bei einer Temperatur unter 60° getrocknet.
Man bringt sie in Brocken oder, zwischen Walzen zerdrückt und
gesiebt, als Mehl in den Handel. Bisweilen wird die feuchte S. mit
etwas Kleister angeknetet und durch eine durchlöcherte eiserne
Platte getrieben, worauf man die erhaltenen Stengel auf Horden
trocknet. Um einen gelblichen Ton der S. zu verdecken, setzt man
ihr vor dem letzten Waschen etwas Ultramarin zu.

Weizenstärke wird aus weißem, dünnhülsigem,
mehligem Weizen dargestellt. Derselbe enthält etwa 58-64 Proz.
S., außerdem namentlich etwa 10 Proz. Kleber und 3-4 Proz.
Zellstoff, welcher hauptsächlich die Hülsen des Korns
bildet. Die Eigenschaften des Klebers bedingen die Abweichungen der
Weizenstärkefabrikation von der Gewinnung der S. aus
Kartoffeln. Nach dem Halleschen oder Sauerverfahren weicht man den
Weizen in Wasser, zerquetscht ihn zwischen Walzen und
überläßt ihn, mit Wasser übergossen, der
Gärung, die durch Sauerwasser von einer frühern Operation
eingeleitet wird und namentlich Essig- und Milchsäure liefert,
in welcher sich der Kleber löst oder wenigstens seine
zähe Beschaffenheit so weit verliert, daß man nach 10-20
Tagen in einer siebartig durchlöcherten Waschtrommel die S.
abscheiden kann. Das aus der Trommel abfließende Wasser setzt
in einem Bottich zunächst S., dann eine innige Mischung von S.
mit Kleber und Hülsenteilchen (Schlichte, Schlammstärke),
zuletzt eine schlammige, vorwiegend aus Kleber bestehende Masse ab.
Diese Rohstärke wird ähnlich wie die Kartoffelstärke
gereinigt und dann getrocknet, wobei sie zu Pulver zerfällt
oder, wenn sie noch geringe Mengen Kleber enthält, die sogen.
Strahlenstärke liefert, die vom Publikum irrtümlich
für besonders rein gehalten wird. - Nach dem Elsässer
Verfahren wird der gequellte Weizen durch aufrechte Mühlsteine
unter starkem Wasserzufluß zerquetscht und sofort
ausgewaschen. Das abfließende Wasser enthält neben S.
viel Kleber und Hülsenteilchen und wird entweder der
Gärung überlassen und dann wie beim vorigen Verfahren
weiter verarbeitet, oder direkt in Zentrifugalmaschinen gebracht,
wo viel Kleber abgeschieden und eine Rohstärke erhalten wird,
die man durch Gärung etc. weiter reinigt. Die bei diesem
Verfahren erhaltenen Rückstände besitzen
beträchtlich höhern landwirtschaftlichen Wert als die bei
dem Halleschen Verfahren entstehenden; will man aber den Kleber
noch vorteilhafter verwerten, so macht man aus Weizenmehl einen
festen, zähen Teig und bearbeitet diesen nach etwa einer
Stunde in Stücken von 1kg in einem rinnenförmigen Trog
unter Zufluß von Wasser mit einer leicht kannelierten Walze.
Hierbei wird die S. aus dem Kleber ausgewaschen und fließt
mit dem Wasser ab, während der Kleber als zähe,
fadenziehende Masse zurückbleibt (vgl. Kleber).

Reis enthält 70-75 Proz. S. neben 7-9 Proz.
unlöslichen, eiweißartigen Stoffen, welche aber durch
Einweichen des Reises in ganz schwacher Natronlauge
großenteils gelöst werden. Man zerreibt den Reis alsdann
auf einer Mühle unter beständigem Zufluß schwacher
Lauge, behandelt den Brei in einem Bottich anhaltend mit Lauge und
Wasser, läßt kurze Zeit absetzen, damit sich
gröbere Teile zu Boden senken, und zieht das Wasser, in
welchem reine S. suspendiert ist, ab. Aus dem Bodensatz wird die S.
in einem rotierenden Siebcylinder durch Wasser ausgewaschen, worauf
man sie durch Behandeln mit Lauge und Abschlämmen vom Kleber
befreit. Die zuerst erhaltene reinere S. läßt man
absetzen, entfernt die obere unreine Schicht, behandelt das
übrige auf der Zentrifugalmaschine und trocknet die reine
S.

Mais weicht man vier- bis fünfmal je 24 Stunden in Wasser
von 35°, wäscht ihn und läßt ihn dann durch
zwei Mahlgänge gehen. Das Mehl fällt in eine mit Wasser
gefüllte Kufe mit Flügelrührer und gelangt aus
dieser auf Seidengewebe, welches nur die grobe Kleie
zurückhält. Die mit der S. beladenen, durch das Gewebe
hindurchgegangenen Wasser gelangen in Tröge, dann durch zwei
feine Gewebe und endlich auf wenig geneigte, 80-100 m lange
Schiefertafeln, auf welchen sich die S. ablagert. Das
abfließende, nur noch Spuren von S. enthaltende Wasser
über-

238

Stärkeglanz - Starnberg.

läßt man der Ruhe und preßt den Absatz zu
Kuchen, um ihn als Viehfutter zu verwenden. Die Behandlung mit
schwacher Natronlauge von 2-3° B. ist im nördlichen
Frankreich und in England gebräuchlich. Stärkere Laugen
würden einen Verlust an Eiweißstoffen verursachen. Da
zudem bei Anwendung von Natron sich ein übler Geruch bei der
Gärung entwickelt und dieses Verfahren auch fast keine
Vorzüge bietet, so ist die Behandlung mit reinem Wasser
vorzuziehen. Die S. des Maises ist unter dem Namen Maizena im
Handel. Auch aus Roßkastanien wird S. gewonnen, doch ist
dieselbe nur für technische Zwecke verwendbar, da ein
derselben anhaftender Bitterstoff durch Behandeln mit kohlensaurem
Natron kaum vollständig entfernt werden kann. Die Ausbeute
beträgt 19-20 Proz. Die S. des Handels enthält etwa 80-84
Proz. reine S., 14-18 Proz. Wasser und in den geringern Sorten bis
5 Proz. Kleber, 2,5 Faser und 1,3 Proz. Asche, während der
Aschengehalt in den besten Sorten nur 0,01 Proz. beträgt.

S. dient allgemein zur Appretur, zur Darstellung von Schlichte,
zum Steifen der Wäsche, zum Beizen von Baumwolle, zur
Färbung mit Anilinfarben, zum Leimen des Papiers, zum
Verdicken der Farben in der Zeugdruckerei, zu Kleister, zur
Darstellung von Dextrin (Stärkegummi) und Traubenzucker
(Stärkezucker, Stärkesirup), Nudeln, künstlichem
Sago, überhaupt als Nahrungsmittel (Kartoffelmehl, Kraftmehl
etc.). Die S. ist auch der wesentliche Bestandteil im Getreide und
in den Kartoffeln, aus welcher sich bei der Bierbrauerei und
Branntweinbrennerei, nachdem sie in Zucker und Dextrin
übergeführt worden, der Alkohol bildet. S. war bereits
den Alten bekannt, nach Dioskorides wurde sie amylon genannt, weil
sie nicht wie andre mehlartige Stoffe auf Mühlen gewonnen
wird. Nach Plinius wurde sie zuerst auf Chios aus Weizenmehl
dargestellt. Über die Fortschritte der Fabrikation im
Mittelalter weiß man wenig, nur so viel ist sicher, daß
die Holländer im 16. Jahrh. S. im großen Maßstab
darstellten und bedeutende Mengen exportierten. Die
Stärkeindustrie entwickelte sich vorwiegend als
landwirtschaftliches Gewerbe; mit einfachsten Vorrichtungen gewann
man zwar nur eine mäßige Ausbeute, doch genügte
dieselbe bei der Möglichkeit vorteilhafter Verwertung der
Abfälle, bis die Fortschritte in den eigentlichen
Stärkefabriken auch die Landwirtschaft zwangen, auf
höhere Ausbeute bedacht zu sein. Diese wurde namentlich durch
Vervollkommnung der Maschinen und Apparate erreicht, um welche sich
Fesca durch Einführung eigentümlich konstruierter
Zentrifugalmaschinen wesentliche Verdienste erwarb. In neuerer Zeit
hat die Reisstärke der Kartoffel- und Weizenstärke
namentlich für Zwecke der Appretur erfolgreich Konkurrenz
gemacht. Vgl. Nägeli, Die Stärkekörner (Zürich
1858); Derselbe, Beiträge zur nähern Kenntnis der
Stärkegruppe (Leipz. 1874); Schneider, Rationelle Fabrikation
der Kartoffelstärke (Berl. 1870); Wagner, Handbuch der
Stärkefabrikation (2. Aufl., Weim. 1884); Derselbe, Die
Stärkefabrikation (2. Ausg., Braunschw. 1886); Rehwald,
Stärkefabrikation (2. Aufl., Wien 1885).

Stärkeglanz, s. Glanzstärke.

Stärkegummi, s. Dextrin.

Starke Mann, der, s. Eckenberg.

Stärkemehl, s. Stärke.

Stärkemesser, s. Fäkulometer.

Stärken, s. Appretur.

Starkenbach (tschech. Jilemnice), Stadt im
nördlichen Böhmen, Station der Österreichischen
Nordwestbahn, Sitz einer Bezirkshauptmannschaft und eines
Bezirksgerichts, mit gräflich Harrachschem Schloß,
Webschule, bedeutender Leinwand- und Batistmanufaktur, Bierbrauerei
und (1880) 3418 Einw.

Starkenburg, Provinz des Großherzogtums Hessen,
umfaßt 3019 qkm (54,83 QM.) mit (1885) 402,378 Einw.
(darunter 116,974 Katholiken und 9516 Juden), hat Darmstadt zur
Hauptstadt und sieben Kreise:

Kreise QKilom. QMeilen Einwohner Einw. auf 1 qkm

Bensheim 391 7,10 48756 125

Darmstadt 298 5,41 84020 282

Dieburg 504 9,15 53002 105

Erbach 593 10,77 47540 80

Groß-Gerau 450 8,17 39805 88

Heppenheim 406 7,38 43916 108

Offenbach 377 6,85 85339 225

Stärkende Mittel (tonische Mittel, Tonica,
Roborantia), diejenigen Mittel, welche bei
Schwächezuständen die Thätigkeit und Ausdauer des
ganzen Körpers und der einzelnen Organe steigern; entweder
diätetisch-psychische: einfache, nicht erschlaffende
Lebensweise, Abhärtung, namentlich der Haut, frühes
Aufstehen, Waschungen und Bäder, frische Luft, Turnen,
Fechten, Schwimmen, Sorge für Gemütsruhe etc., oder
arzneiliche, die namentlich bei allgemeiner und örtlicher
Erschlaffung, Blutmangel, Blutzersetzung, schlechter Ernährung
am Platze sind (hier stehen obenan die Eisenmittel, denen sich die
Mineralsäuren, China, Ergotin und die bittern Mittel
anreihen), oder dynamische, wie die Anwendung der Elektrizität
bei Schwäche und Erkrankungen des Muskel- und
Nervensystems.

Stärkescheide (Stärkering, Stärkeschicht),
in der Pflanzenanatomie eine stärkeführende Zellschicht,
welche den Gefäßbündelkreis oder die einzelnen
Gefäßbündel im Stengel und im Blatt umgibt.

Stärkesirup, s. Traubenzucker.

Stärkerer, s. v. w. Traubenzucker.

Stärkmehl, s. Stärke.

Stärlinge (Icteridae), Familie aus der Ordnung der
Sperlingsvögel (s. d.).

Starnberg (Starenberg), Dorf im bayr. Regierungsbezirk
Oberbayern, Bezirksamt München II, am Nordende des danach
benannten Sees und an der Linie München-Peißenberg der
Bayrischen Staatsbahn, hat eine kath. Kirche, ein königliches
Schloß, ein Amtsgericht, ein Forstamt und (1885) 1745 Einw.
Der Starnberger See (auch Würmsee genannt) liegt 584 m ü.
M., ist 21 km lang, bis 5 km breit und 245 m tief. Sein
Abfluß ist die Würm, welche den See unweit S.
verläßt und in die Ammer mündet. Der See ist reich
an trefflichen Fischen (Lachse, Welse, Karpfen, Hechte etc.). Seine
amphitheatralisch aufsteigenden Ufer sind mit Dörfern,
Landhäusern, Schlössern, Kirchen und Gasthäusern
besetzt; im Süden bilden die Alpen (Zugspitze, Benediktenwand,
Karwändelgebirge) einen großartigen Hintergrund.
Bemerkenswert sind außer dem 1541-85 erbauten
Bergschloß S.: das königliche Jagdschloß Berg (s.
d.), das Schloß Possenhofen (s. d.), in dessen Nähe die
liebliche Insel Wörth liegt, das Schlößchen Leoni,
Bad Unterschäftlarn im NO., Bad Petersbrunn am Ausfluß
der Würm, endlich Schloß Leutstetten am Beginn des
romantischen Mühlthals. Der See wird von Dampfschiffen
befahren. Vgl. Horst, Der Starnberger See, eine Wanderung
(Münch. 1877); Schab, Die Pfahlbauten im Würmsee (das.
1877); Lidl, Wanderungen (Landsb. 1878).

239

Starobielsk - Starrsucht.

Starobielsk, Kreisstadt im russ. Gouvernement Charkow, am
Aidar, mit 4 Kirchen, Progymnasium, Talgsiedereien, Getreidehandel
und (1885) 8270 Einw.

Starobradzen, Sekte, s. Raskolniken.

Starodub, Kreisstadt im russ. Gouvernement Tschernigow,
mit 15 Kirchen, einer hebräischen Kronschule, vielen
Gärten, Überresten alter Befestigungen, Handel mit
Getreide und Hanf und (1885) 24,388 Einw.; gehört seit 1686 zu
Rußland.

Staro-Konstantinow, Kreisstadt im russ. Gouvernement
Wolhynien, hat 4 griechisch-russische, 2 kath. Kirchen, 2
Synagogen, bedeutenden Getreidehandel nach Odessa und
Österreich, Ausfuhr von Schweinen nach Polen und
Preußen, von Rindern, Pferden und Schafen nach
Österreich und (1885) 19,025 Einw. Das frühere
Dominikanerkloster (jetzt Gefängnis und Krankenhaus) diente
ehedem als Festung.

Starosten (slaw., "Älteste", Capitanei), in Polen
früher Edelleute, die eins der königlichen Güter
(Starosteien) zum Lehen und damit zumeist auch die Gerichtsbarkeit
in einem gewissen Umfang erhalten hatten (Starosteigerichte). Beim
Ableben des derzeitigen Inhabers durften diese Starosteien nicht
wieder eingezogen, sondern mußten an einen andern verliehen
werden. In Sibirien werden die Vorsteher eines Dorfs S. genannt. In
Böhmen ist Starosta der Titel der Bürgermeister, auch
Bezeichnung von Vereinsvorständen.

Starowertzi, Sekte, s. Raskolniken.

Starrkrampf (Tetanus und Trismus), eine Krankheit, welche
darin sich äußert, daß auf geringe Erregungen
entweder nur gewisse Muskelgruppen, z. B. die Kaumuskeln beim
Trismus (Mundsperre), die Nackenmuskeln beim Opisthotonus
(Genickkrampf), oder daß die gesamte Muskulatur des
Körpers in den Zustand stärkster Zusammenziehung
gerät. Später reicht der geringste Anlaß, eine
Erschütterung, das Klappen einer Thür hin, um einen S.
auszulösen. Fast immer wird zuerst der Kopf durch starre
Kontraktionen der Rückenmuskeln fixiert und
rückwärts gezogen. Vom Nacken aus verbreitet sich der
Krampf über die Rückenmuskeln, der ganze Körper wird
dadurch bogenförmig rückwärts gekrümmt. Aber
auch die Bauch- und Brustmuskeln beteiligen sich an dem S., deshalb
ist der Unterleib eingezogen und bretthart. Die kontrahierten
Muskeln bleiben während des ganzen Verlaufs der Krankheit
gespannt; sie sind dabei hart wie Stein und der Sitz furchtbarer
Schmerzen, welche denjenigen beim Wadenkrampf ähnlich sind.
Die Krankheit ist um so entsetzlicher, als der Kranke meist bis zum
Tode das volle Bewußtsein seiner furchtbaren Leiden
behält. Er leidet Hunger und Durst, weil er nicht schlingen
kann; der Schlaf fehlt, die Atmung ist erschwert, und die
gestörte Respiration und die Erstickungszufälle sind es
auch, welche den Kranken meist schon nach wenigen Tagen
hinwegraffen. Der S. entsteht durch Vergiftungen, von welchen
diejenige mit Strychnin am besten erforscht ist. Neuere
Untersuchungen machen es wahrscheinlich, daß die alte
Einteilung in rheumatischen und traumatischen S. hinfällig
sei, daß vielmehr alle Fälle von kleinen Wunden
ausgehen, in welchen eine Giftbildung (Briegers Tetanin und
Tetanotoxin) durch Bakterien vor sich geht. Da die Wunden meistens
klein und unbedeutend sind, so hat man sie früher nicht
beachtet und den S. als eine Erkältungskrankheit gedeutet;
für zahlreiche Fälle von S. nach Fußverletzungen,
nach dem Einreißen von Splittern unter einen Fingernagel,
für den S. der Neugebornen, welcher von der Nabelwunde
ausgeht, sind indessen Bakterien (Tetanusbacillen) nachgewiesen
worden, welche auch in Nährflüssigkeiten ein Gift
hervorbringen, welches Tetanus bei Tieren erzeugt. Diese Bacillen
kommen im Erdboden vor, woraus sich die Gefährlichkeit kleiner
Fußwunden namentlich bei barfuß gehenden Personen
erklärt. Die Behandlung gewährt nur Aussicht, wenn
frühzeitig die Wunde ausgeschnitten oder das Glied amputiert
wird; gegen den S. selbst wendet man Morphium an, um das Leiden zu
lindern.

S. kommt auch bei den Haustieren und besonders häufig bei
Pferden vor. Gewöhnlich entwickelt sich das Leiden schnell,
aber ohne Temperaturerhöhung. Die Pferde gehen steif, mit
gestrecktem Kopf; die Muskeln sind gespannt, und oft bekunden die
Tiere eine krankhafte Reizbarkeit. Die Schneidezähne sind mehr
oder weniger fest aufeinander geklemmt, so daß die Tiere wohl
noch Wasser trinken, aber keine festen Nahrungsmittel verzehren
können. Nach diesem Symptom wird der S. auch Maulsperre
(Trismus) genannt. Mehr als die Hälfte der am S. erkrankten
Tiere geht zu Grunde. Bei günstigem Verlauf lassen die
Symptome am 10.-15. Krankheitstag allmählich nach; aber die
Rekonvaleszenz erstreckt sich auf 4-6 Wochen. Mit Arzneimitteln
kann beim S. nicht viel geholfen werden. Mehr empfiehlt sich
zweckmäßige Pflege und Vermeidung jeder Aufregung der
kranken Tiere.

Starrsucht (Katalepsie), eine eigentümliche
Krankheit der Bewegungsnerven, bez. des Rückenmarks, welche in
einzelnen Anfällen auftritt. Während eines kataleptischen
Anfalls verharren die Glieder in der Stellung, in welche sie der
Kranke vor dem Anfall durch seinen Willen gebracht hat, oder in der
Stellung, in welche sie während des Anfalls durch fremde Hand
gebracht werden. Sie sinken weder durch ihre eigne Schwere herab,
noch können sie durch den Willen des Kranken in eine andre
Stellung gebracht werden. Es ist wahrscheinlich, daß bei der
S. alle Bewegungsnerven sich in einem Zustand mittlerer Erregung
befinden, und daß infolgedessen alle Muskeln bis zu dem Grad
kontrahiert sind, daß sie der Schwere der Glieder Widerstand
zu leisten vermögen. Kataleptische Erscheinungen treten bei
gewissen Geisteskranken, bei Hysterischen und neben manchen
Krampfformen, sehr selten dagegen selbständig bei sonst
gesunden Individuen auf. Gelegenheitsursachen zum Ausbruch der S.
sind namentlich starke Gemütsbewegungen oder auch diejenigen
Nervenreizungen, welche den magnetischen Schlaf (s. Hypnotismus)
hervorbringen. Als Vorboten der Anfälle von S. sind
Kopfschmerz, Schwindel, Ohrenklingen, unruhiger Schlaf, große
Reizbarkeit etc. zu nennen. Der Anfall selbst tritt plötzlich
ein; die Kranken bleiben unbeweglich wie eine Statue in der
Stellung oder Lage, in welcher sie sich gerade befinden, wenn sie
der Anfall überrascht. Entweder ist während des Anfalls
das Bewußtsein und damit die Empfindlichkeit gegen
äußere Reize vollständig aufgehoben, oder das
Bewußtsein ist vorhanden, äußere Reize werden
empfunden, aber die Kranken sind nicht im stande, durch Worte oder
Bewegungen Zeichen ihres Bewußtseins zu geben. Die
Atmungsbewegungen, der Herz- und Pulsschlag sind zuweilen so
schwach, daß man sie kaum wahrnimmt. Ein solcher Anfall
dauert meist nur wenige Minuten, selten mehrere Stunden oder Tage.
Die Kranken gähnen und seufzen, wenn der Anfall
vorübergeht, und machen ganz den Eindruck eines Menschen, der
aus einem tiefen Schlaf erwacht. Geht der Anfall schnell
vorüber, und ist während des-

240

Stars and stripes - Staßfurt.

selben das Bewußtsein erloschen gewesen, so wissen die
Kranken oft gar nicht, daß etwas Ungewöhnliches mit
ihnen vorgegangen ist. In andern Fällen bleiben die Kranken
nach dem Anfall für kurze Zeit angegriffen, schwindlig und
klagen über Eingenommenheit des Kopfes. Oft tritt nur ein
Anfall ein, selten folgen sich in kurzen oder langen
Zwischenräumen mehrere Anfälle. Die S. geht fast immer
nach längerm oder kürzerm Bestand in Genesung über.
Dauert der Anfall länger an, so kann es nötig werden, dem
Kranken künstlich (durch die Schlundsonde) Nahrung
einzuführen. Vgl. Kataplexie.

Stars and stripes (engl., spr. stars änd streips),
in Nordamerika beliebte Bezeichnung für das "Sternenbanner"
der Vereinigten Staaten von Nordamerika.

Starstein, s. Holz, fossiles.

Start (engl.), der Anfang des Wettrennens, geschieht aus
dem Schritt, wenn er gut oder glatt ist. Geschieht er aus dem
Galopp, so nennt man ihn fliegend. Der Starter gibt durch Senken
einer Fahne das Zeichen zum Ablaufen.

Stary (slaw.), in zusammengesetzten Ortsnamen oft
vorkommend, bedeutet "alt".

Staryj-Bychow (Bychow), Kreisstadt im russ. Gouvernement
Mohilew, am Dnjepr, zur Zeit der Polenherrschaft eine der
stärksten Festungen Weißrußlands, seit 1772 zu
Rußland gehörig, jetzt ein armer Ort mit (1885) 6074
Einw.

Staryj-Oskol, Kreisstadt im russ. Gouvernement Kursk, hat
6 griechisch-russ. Kirchen, ein weibliches Progymnasium, Fabriken
für Seife, Leder, Lichte und Tabak, Getreidehandel und (1885)
10,960 Einw.

Stas, Jean Servais, Chemiker, geb. 20. Sept. 1813 zu
Löwen, war längere Zeit Professor an der
Militärschule in Brüssel und wurde 1841 Mitglied der
belgischen Akademie. Er lieferte anfänglich Untersuchungen
über organische Verbindungen, wie das Phloridzin, das Acetal,
aber schon 1841 mit Dumas eine Arbeit über das Atomgewicht des
Kohlenstoffs und hat sich seitdem große Verdienste durch
überaus exakte Atomgewichtsbestimmungen erworben.

Staschow (Stasczow), Stadt im polnisch-russ. Gouvernement
Radom, Kreis Sandomir, am Czarna, hat Fabrikation von Gewehren,
Thonpfeifen und Papier, Strumpfweberei, Wollweberei, Eisen- und
Kupferhämmer und (1885) 7748 Einw.

Stasimon (griech.), Name der Standlieder des Chors im
griechischen Drama, bei deren Vortrag der Chor meist unbeweglich
stehen blieb. Sie traten nur ein, wo die Handlung einen Ruhepunkt
forderte, und teilten mit dem dem Prolog folgenden Einzugslied
(Parodos) das Stück in verschiedene Abschnitte.

Stasis (griech.), Stellung, Stand; auch s. v. w.
Blutstockung (s. d.), Vorläufer bei der Entzündung.

Stassart (spr. -ssar), Goswin Joseph Augustin, Baron von,
belg. Staatsmann, geb. 2. Sept. 1780 zu Mecheln, studierte die
Rechte in Paris, wurde daselbst 1804 Auditeur im französischen
Staatsrat, erhielt 1805 eine Intendantur in Tirol und 1807 bei der
französischen Armee in Preußen. 1810 ward er
Präfekt des Vauclusedepartements und 1811 des der
Maasmündungen. Nach der zweiten Restauration lebte er auf
seinem Landgut bei Namur, bis ihn die Stadt Namur 1822 in die
niederländische Zweite Kammer sandte, wo er zur Opposition
gehörte. Nach dem Ausbruch der Revolution in Brüssel im
September 1830 war er unter den Abgeordneten der südlichen
Provinzen, welche der Einberufung der Kammer nach dem Haag Folge
leisteten. 1831 begab er sich nach Belgien zurück, wo er in
den Kongreß gewählt und Mitglied der provisorischen
Regierung sowie dann des Senats wurde. In dieser Stellung
bekleidete er sieben Sessionen hindurch das Amt eines
Präsidenten, während er von der Regierung 1834 auch zum
Gouverneur von Brabant ernannt wurde, verlor aber 1838 diese beiden
Würden, da er als Großmeister der belgischen
Freimaurerei mit dem dieselbe besehdenden Episkopat offen gebrochen
hatte. 1840 ward er für kurze Zeit Gesandter zu Turin. 1841
legte er seine Würde als Großmeister der belgischen
Freimaurerei nieder. Er starb 16. Okt. 1854 in Brüssel. Seine
Schriften (Denkschriften, Reden, Kritiken etc., namentlich aber
treffliche Fabeln) erschienen gesammelt Brüssel 1854.

Staßfurt, Stadt im preuß. Regierungsbezirk
Magdeburg, Kreis Kalbe, an der Bode, Knotenpunkt der Linien
S.-Schönebeck, S.-Blumenberg und S.-Löderburg der
Preußischen Staatsbahn, 65 m ü. M., hat 2 evangelische
und eine kath. Kirche, ein Amtsgericht, ein bedeutendes
Steinsalzbergwerk, große chemische Fabriken, eine
Zuckerfabrik, Eisengießerei und Dampfkesselfabrikation und
(1885) 16,459 meist evang. Einwohner. S. wird zuerst 806 als Ort
erwähnt, und die dortigen Solbrunnen existierten bereits 1227.
Im 16. und 17. Jahrh. befand sich der blühende Salzbetrieb
hauptsächlich in den Händen des dort seßhaften
Adels, 1796 aber ging der gesamte Besitz an den König von
Preußen über. Unter der Konkurrenz von Dürrenberg
mußte der Betrieb nach wenigen Jahren eingestellt werden, und
als er 1815 wieder aufgenommen wurde, konnte er doch nur bis 1839
erhalten werden. Damals begann man ein Bohrloch, welches 1843 bei
256 m Tiefe ein Salzlager antraf, dessen Liegendes bei 325 m noch
nicht erreicht wurde. Die Bohrlochsole erwies sich aber wegen hohen
Gehalts an Kali- und Magnesiasalzen unbrauchbar, und als man 1851
mit dem Abteufen zweier Schächte begann, erreichte man in
fünf Jahren das Salzlager, welches sich in einer
Mächtigkeit von 160 m mit Kali- und Magnesiasalzen bedeckt
erwies, die man damals als lästige Zugabe betrachtete und als
Abraumsalze (s. d.) bezeichnete. Spätere Bohrungen ergaben,
daß stellenweise über den Abraumsalzen noch ein
jüngeres Steinsalzlager liegt, welches keine
Anhydritschnüre enthält und sehr reines Steinsalz
liefert. Die ersten Vorschläge zur Verwertung der Kalisalze
veranlaßte die anhaltische Regierung zum Abteufen zweier
Schächte zu Leopoldshall, in unmittelbarer Nähe von S.,
und diese kamen 1861 in Betrieb. Ähnliche Unternehmungen, wie
Douglashall, Neustaßfurt, entstandenen der Umgebung von S.,
und auch Schmidtmannshall bei Aschersleben ist hierher zu rechnen.
Die Kalisalzindustrie entwickelte sich seit 1857 und hat eine so
große Bedeutung gewonnen, daß von S. aus der Weltmarkt
für Kalisalze beherrscht wird. Man stellt schwefelsaures Kali,
schwefelsaure Kalimagnesia, Chlorkalium, Pottasche, außerdem
Glaubersalz, Bittersalz, Kieseritsteine, Chlormagnesium, Brom, Soda
etc. dar. 1887 gab es im Staßfurter Becken 7
Kalisalzbergwerke, darunter 2 fiskalische (ein preußisches
und ein anhaltisches). Diese förderten 12,940,808 metr. Ztr.
Kalisalze (8,402,068 Carnallit 2,375,177 Kainit, 141,850 Kieserit
etc.) und 2,019,625 metr. Ztr. Steinsalz. Davon kamen auf die
königlichen Salzwerke in S. an Carnallit 1,979,816, an Kainit
727,093, an Steinsalz 609,851, auf Leopoldshall an Carnallit
2,152,723, an Kainit 644,881, an Kieserit 29,303, an Steinsalz
480,390 metr. Ztr. Vgl. die Litteratur bei Art. Abraumsalze;
außerdem Precht, Die Salzindustrie von S. (3. Aufl.,
Staßf.

241

Staßfurtit - Statistik.

1889); Pfeiffer, Die Staßfurter Kaliindustrie (Braunschw.
1887).

Staßfurtit, s. Boracit.

Stassjulewitsch, Michael Matwejewitsch, russ. Publizist,
geb. 9. Sept. 1826, studierte auf der Petersburger
Universität, bekleidete an derselben 1851 bis 1861 den
Lehrstuhl der Geschichte und war 1860 bis 1862 Lehrer des
verstorbenen Thronfolgers Nikolaus. Er verfaßte einige
Monographien zur altgriechischen und mittelalterlichen Geschichte
und eine Geschichte des Mittelalters (russ., Petersb. 1863-65, 3
Bde.). Später widmete er sich ganz dem Journalismus, indem er
1865 den "Europäischen Boten" ("Westnik Jewropy")
begründete, eine Monatsschrift, welche bis jetzt unter den
Veröffentlichungen dieser Art in Rußland die erste
Stelle einnimmt.

Statarisch (lat.), stehend, verweilend; daher statarische
Lektüre, Lektüre, bei der das Einzelne genau erklärt
wird (Gegensatz: kursorische Lektüre).

Staten Island (spr. steht'n-eiländ), Insel an der
Küste des nordamerikan. Staats New Jersey, an der Einfahrt in
die Bai von New York, wird durch einen schmalen Meeresarm (Staten
Island-Sound) vom festen Land getrennt, ist 160 qkm groß und
hat (1880) 38,991 Einw. Hauptstadt ist Richmond.

Stater, Name verschiedener Geldstücke des Altertums.
Der athenische Goldstater, meist im 5. Jahrh. geprägt, wiegt
etwa 8,6 g; der Kyzikener S., etwa 16 g schwer, war ein aus sogen.
Elektron (Gold- und Silbermischung) geprägtes Stück; der
äginetische S. ist das silberne Didrachmon von 12,3 g. Die
verbreitetsten S. genannten Münzen sind die nach attischem
Fuß ausgeprägten Goldstücke Philipps und Alexanders
von Makedonien (s. Tafel "Münzen I", Fig. 6).

Stathmograph (griech.), ein von Dato konstruierter
Apparat zur Kontrolle der Fahrzeiten, Aufenthaltszeiten und
Fahrgeschwindigkeiten von Eisenbahnzügen, verbunden mit einem
Kilometerzeiger. Letzterer schlägt bei jedem Kilometerstein in
einen durch ein Uhrwerk fortgezogenen Papierstreifen ein Loch. Auf
diesem über eine Walze gehenden Papierstreifen verzeichnet ein
Bleistift die Fahrgeschwindigkeitskurve, welche auf den Stationen
so lange in die Nulllinie fällt, als der Zug steht. Da der
Streifen eine gewisse Bewegungsgeschwindigkeit besitzt, so ist aus
der Fahrtenkurve ersichtlich, mit welcher Geschwindigkeit der Zug
jeden Punkt der Strecke durchfuhr. Vgl. Perambulator.

Statice Tourn. (Limoniennelke, Strandnelke), Gattung aus
der Familie der Plumbagineen, Kräuter oder Halbsträucher
mit ährigen oder traubigen Blütenständen und
häutigen, einsamigen Schließfrüchten. S. Limonium
L., mit fast lederartigen, verkehrt-eiförmigen,
länglichen Wurzelblättern, 30-45 cm hohem
Blütenstiel und blauen Blüten, wächst in
Mitteleuropa an Meeresküsten. Die Wurzel dient in
Rußland als Kermek zum Gerben, doch stammt die genannte
Drogue hauptsächlich von S. coriaria Pall. in Rußland.
Auch die Wurzel von S. tatarica L. in Sibirien und der Tatarei
dient zum Gerben und Färben. Andre Arten aus Süd- und
Osteuropa, von den Kanarischen Inseln und aus Mittelasien werden
als Zierpflanzen kultiviert.

Statik (griech.), die Lehre vom Gleichgewicht der
Körper, bildet einen Teil der Mechanik (s. d.); man
unterscheidet die S. der festen, flüssigen und
gasförmigen Körper oder Geostatik, Hydrostatik und
Aerostatik. Vgl. Poinsot, Elemente der S. (deutsch, Berl. 1887). S.
des Landbaues, die Lehre vom Gleichgewicht der Entnahme und Zufuhr
an Nährstoffen des Bodens. Durch die Agrikulturchemie ist die
Lehre von der S. eine außerordentlich durchsichtige geworden
und hat die bisher vagen Begriffe "Reichtum des Bodens", "Kraft",
"Thätigkeit" in feste Gestalt gebracht, so daß man immer
umfassender wiegt und mißt, was dem Grund und Boden durch die
Ernten entnommen wird, was ihm der Dünger zurückgibt.
Nicht nur im chemischen Laboratorium, auch im großen
praktischen Betrieb der intelligenten Wirtschaften macht man sich
täglich die Errungenschaften der Agrikulturchemie mehr zu
nutze, wendet die Lehre der S. thätig an. Durch die
umfassenden Düngungsversuche, welche durch die
agrikulturchemischen Versuchsstationen in ganz eminent
hervorragender Weise unter Leitung der Halleschen und neuerdings
Breslauer Station veranlaßt wurden, wird alljährlich
diese Lehre mehr und mehr ausgebaut. Durch die Wolffschen
Nährstofftabellen, die sich in jedes tüchtigen Landwirts
Händen befinden (Kalender von Mentzel u. Lengerke und der von
Graf Lippe), ist es ein Leichtes, sich über Aus- und Zufuhr
der Nährstoffe sichere Rechnung aufzustellen. Würde noch
das Bedürfnis der Pflanzen nach Stickstoffzufuhr festgestellt,
so wäre die Lehre von der S. eine vollkommene; auch diesen
Schleier wird die Agrikulturchemie und -Physiologie über kurz
oder lang zu heben im stande sein. - In gleichem Sinn spricht man
auch von forstlicher S. (vgl. Forstwissenschaft, S. 455).

Station (lat.), Aufenthalts-, Standort; auf Reisen, im
Post- und Eisenbahnwesen Ort, wo angehalten wird; daher auch bei
Wallfahrtsorten Bezeichnung für die durch Kreuze,
Bildstöcke, Kapellen etc. bezeichneten Stellen, wo die
Prozessionen Halt machen, um zu beten (vgl. Kreuzweg); allgemeiner
s. v. w. Amt, Stellung.

Stationär (lat.), stillstehend, seinen Standort oder
Standpunkt behauptend; auch s. v. w. Stationsbeamter.

Stationers' Hall (engl., spr. stehscheners hahl), in
London Bezeichnung des Hauses der alten Buchhändlergilde, die
vom Staat mit dem Einschreiben (registration) der litterarischen
Urheberrechte betraut ist.

Stationsvorsteher, s. Eisenbahnbeamte.

Statiös (lat.), staatmachend, prunkend.

Statisch (griech.), stillstehend; auf Statik
bezüglich.

Statisches Moment, s. Hebel, S. 254.

Statist (lat.), jemand, der auf der Bühne eine nur
"dastehende", nicht mitspielende Person vorstellt; gewöhnlich
gleichbedeutend mit Komparse (s. d.).

Statistik (v. lat. status oder ital. stato, Staat),
ursprünglich die beschreibende Darstellung von Staat
(Verfassung, Verwaltung) und Bevölkerung nach ihren
bemerkenswerten Seiten. Solche Darstellungen, einem praktischen
Bedürfnis für militärische und finanzielle Zwecke
entsprungen, kamen bereits im Altertum vor. In China, Ägypten
und bei den Juden wurden schon frühzeitig
regelmäßige Volkszählungen vorgenommen. Dann hatte
Rom einen entwickelten Zensus aufzuweisen, während das
Mittelalter für eine S. und deren Ausbildung keine Gelegenheit
bot. Erst nach dem 15. Jahrh. macht sich wieder das Bedürfnis
geltend, die eigne und die fremde Lage kennen zu lernen, welchem in
Frankreich unter Sully durch Schaffung einer Art statistischen
Büreaus genügt wurde. Die wissenschaftliche Behandlung
der S. nahm ihren Anfang in der Mitte des 17. Jahrh. In Deutschland
entwickelte sich zuerst die beschreibende Schule der S., welche
dieselbe in dem oben genannten Sinn auffaßte. Als
Schöpfer derselben gilt H. Conring (1606-81, s. d.,)
welcher

Meyers Konv.-Lexikon, 4. Aufl., XV. Bd.

16

242

Statistik (geschichtliche Entwickelung, heutige Richtung).

1660 den üblichen Universitätsvorlesungen eine neue,
aus Geographie, Geschichte und Politik abgesonderte Disziplin als
Notitia rerum publicarum hinzufügte, in welcher er die
Staatszustände zusammenhängend darstellte. Achenwall
(1719-72), ein fleißiger Sammler, stellt den Begriff genauer
fest und führt auch die Bezeichnung S. als Kenntnis der
Staatsmerkwürdigkeiten ein. Auf gleichem Boden steht sein
Schüler Schlözer (1735-1809), welcher der damaligen
Heimlichkeit in Staatssachen gegenüber mit einem gewissen
Freimut die politischen Ereignisse zum Gegenstand der Besprechung
in Vorlesungen machte. Von ihm stammt die bekannte Definition: "S.
ist stillstehende Geschichte, Geschichte ist fortlaufende S."
Gegenüber der ethnographischen Methode der S., welche jedes
Volk für sich behandelte, führte Büsching (1724-93)
die vergleichende Methode ein, indem er bei sachlicher Gliederung
des Stoffes zwischen den entsprechenden Zuständen
verschiedener Länder eine Parallele zog. Bald machte sich das
Bedürfnis geltend, die gesammelten Zahlen der S.
übersichtlich in Tabellenform zu ordnen und dieselben auch
durch graphische Darstellung zu veranschaulichen (Crome, 1782).
Dies führte zu einem lebhaften Streit zwischen der
Göttinger Schule (Anhänger Schlözers) auf der einen
und den von denselben so betitelten Linear- oder
Tabellarstatistikern auf der andern Seite. Der Kampf war insofern
ein verfehlter, als für statistische Darstellungen weder die
Größenangabe (Zahl) noch der Wortausdruck entbehrt
werden kann. Von jeher waren die Ansichten über das Gebiet der
S. geteilt gewesen. Die einen beschränkten es auf den Staat
und staatliche Verhältnisse (Staatsverfassung, Darstellung der
Staatskräfte), andre dehnten es auf alle gesellschaftliche
Thatsachen (faits sociaux) aus, wieder andre überhaupt auf
alle Erscheinungen, an denen ein Dasein, Entstehen und Vergehen
wahrnehmbar sei (also auch Naturerscheinungen). Verlangten die
einen, daß die S. sich nur auf Schilderung der Erscheinungen
der Gegenwart beschränken solle, daß jedes statistische
Datum neu sein müsse, da sich die Vergangenheit nicht
beobachten lasse, so gingen sie zum Teil selbst wieder von dieser
Forderung ab, indem sie auch Einsicht in die Zustände bieten,
den jetzigen Zustand aus dem frühern begreiflich machen
wollten (pragmatische S. nach Achenwall). Man verwechselte hierbei
die einfache Beobachtung, Erhebung und Aufzeichnung des
statistischen Materials mit der wissenschaftlichen Verarbeitung
desselben. Die Beobachtung kann nur die Gegenwart erfassen, die
Zusammenstellung der durch eigne oder (meist) fremde Beobachtung
gewonnenen Ergebnisse erstreckt sich bereits auf die Vergangenheit,
und für die wissenschaftliche Verwertung kann es ganz
gleichgültig sein, welcher Zeit das Material angehört.
Eine weitere Streitfrage war früher die, ob die S. sich auf
solche Thatsachen zu beschränken habe, welche sich durch
Zahlen wiedergeben lassen (nach M. de Jonnés: faits sociaux,
exprimés par des termes numériques). Die moderne S.
befaßt sich allerdings vorzüglich mit Größen
und deren Vergleichung, auch erblickt das gewöhnliche Leben
allgemein in der S. eine Wissenschaft, welche es mit Zahlen und
zwar mit Massen von Zahlen zu thun hat, wobei freilich nicht zu
übersehen, daß Größenangaben in allen
Gebieten der Natur und des gesellschaftlichen Lebens möglich
sind.

Die heutige Richtung der S. hat ihren Ausgangspunkt in England,
und zwar entwickelte sie sich aus der politischen Arithmetik, d.h.
derjenigen Wissenschaft, welche mathematische Rechnungen auf das
Finanzwesen anwandte. Anlaß zur Förderung derselben
gaben vorzüglich das Versicherungswesen und die im 17. Jahrh.
in Aufnahme gekommenen Glücksspiele. Letztere gaben ihrerseits
Anstoß zur Entstehung und Ausbildung der
Wahrscheinlichkeitsrechnung (Huygens, Fermat, Pascal, Bernoulli),
welche eine unentbehrliche Grundlage für wichtige Zweige der
politischen Arithmetik und der S. wurde. Letztere begann sich bald
von der erstern abzuzweigen, ohne daß jedoch, sofern nicht
unter der politischen Arithmetik lediglich die Zins- und
Arbitragerechnung verstanden wird, eine scharfe Scheidung
überhaupt möglich ist. Nachdem Graunt (1660), dann
Pettey, Halley, Kerseboom, Deparcieux sich mit Berechnung der
Sterblichkeit und mit Aufstellung von Sterblichkeitstafeln
befaßt hatten, gab Süßmilch (1707-67) in seiner
"Göttlichen Ordnung in den Veränderungen des menschlichen
Geschlechts" (1742) überhaupt dem Gedanken Ausdruck, daß
im gesellschaftlichen Leben gewisse Regelmäßigkeiten
beobachtet werden könnten, welche freilich nicht in einzelnen,
sondern in einer großen Zahl von Fällen hervortreten.
Diesen Gedanken verfolgte Quételet weiter, und es wird jetzt
an Stelle der frühern einfachen Beschreibung die S. zu einer
Wissenschaft der umfassenden Durchzählung verwandter
Fälle und Vorgänge, um aus derselben
Regelmäßigkeiten und Gesetzmäßigkeiten
abzuleiten. Dieselbe erstreckt sich auf alle diejenigen Gebiete,
auf welchen im einzelnen eine bunte individuelle Mannigfaltigkeit
in Erscheinung tritt, während durchschlagende Ursachen und
Beweggründe erst aus einer großen Zahl von Fällen
erkennbar sind. So kann in wenigen Familien eine
verhältnismäßig große Zahl von Totgeburten
eintreten, während in andern gar keine vorkommt. Faßt
man aber eine große Zahl zusammen, so nähert man sich
einer Mittelzahl (Prozent), von welcher die zu einer andern Zeit
oder in einem andern Gebiet für große Zahlen gewonnenen
Ergebnisse nur wenig abweichen werden. Voraussetzung hierfür
ist, daß die verglichenen Zustände nicht wesentlich
voneinander verschieden sind. Solche durchschlagende
Einflüsse, mögen sie nun das Bestreben haben, einen
Zustand der Beharrung zu bewirken oder Veränderungen zu
veranlassen, können nicht allein da festgestellt werden, wo
der menschliche Wille keine Rolle spielt, sondern auch in der Welt
der sittlichen Thatsachen, in welcher ebenfalls nachgewiesen werden
kann, daß bei aller Freiheit des Willens die menschlichen
Handlungen doch wesentlich durch Naturumgebung, gesellschaftliche
Verhältnisse, Erziehung etc. beeinflußt werden, indem je
nach gegebenen äußern Verhältnissen solche
Handlungen eben als die vernünftigen erscheinen.

Eine richtige Ermittelung der Wirkung jener durchschlagenden
Ursachen und damit dieser selbst ist ohne mathematische Behandlung
nicht möglich und darum die mathematische S. unentbehrlich.
Letztere ist insbesondere in der neuern Zeit in ihrer Anwendung auf
Versicherungs- und Bevölkerungswesen durch Wittstein, Zeuner,
Knapp, Lexis gefördert worden. Je nach den Gebieten, welche
einer statistischen Betrachtung unterworfen werden, unterscheidet
man Ackerbau-, Forst-, Gewerbe-, Handels-, Post-, Eisenbahn-,
Medizinal-, Kriminal-, Moral-, Bevölkerungsstatistik etc. Im
engern Sinn wird heute auch oft die S. als eine auf die
gesellschaftlichen Erscheinungen (Volk und Staat) beschränkte
Disziplin aufgefaßt (vgl. Demographie), während die
Methode der S. in allen Gebieten, auch in denen der
Naturwissenschaften (Meteorologie), anwendbar sei. Die Sammlung des
statistischen Materials ist nun Einzelnen selten in

243

Statistik des Warenverkehrs - Statistische
Darstellungsmethoden.

genügendem Umfang möglich (Privatstatistik), sie
bildet vorzüglich eine Aufgabe von Staat und Gemeinden und in
zweiter Linie als Ergänzung von Vereinen. Infolgedessen ist
denn die S. vorwiegend amtliche S. Die erste Organisation derselben
erfolgte 1756 in Schweden, wo eine "Tabellenkommission"
jährlich Nachweisungen über die Bewegung der
Bevölkerung lieferte. Ferner wurden eigne mit der Ansammlung,
Ordnung und Veröffentlichung des statistischen Materials
betraute Stellen (statistische Büreaus) errichtet in:
Frankreich (1796 vorübergehend, dann 1800), Bayern (1801,
Hermann, Mayr), Italien (1803, Bodio), Preußen (1805 von
Stein gegründet, Krug, I. G. Hoffmann, Dieterici, Engel,
Blenck), Österreich (1810, Czörnig, Ficker), Belgien
(1831), Griechenland (1834), Hannover, Holland (1848), Sachsen
(1849, von Engel gegründet, Petermann, Böhmert),
Kurhessen, Mecklenburg (1851), Braunschweig (1853), Oldenburg
(1855), Rumänien (1859), in der Schweiz (1860), im
Großherzogtum Hessen (1861), in Serbien (1862), den
vereinigten thüringischen Landen (in Jena, 1864, jetzt Weimar)
etc. Das 1872 ins Leben gerufene "Statistische Amt des Deutschen
Reichs" verarbeitet die Erhebungen der einzelnen Landesbüreaus
und der Reichs- und Zollvereinsbehörden. Meist sind die
Büreaus Zentralstellen, welchen in mehreren Ländern
für Beratungen über die Art der auszuführenden
Arbeiten noch eigne aus Mitgliedern verschiedener
Verwaltungszweige, Volksvertretern und Theoretikern bestehende
statistische Zentralkommissionen beigegeben sind. Seit neuerer Zeit
haben auch die meisten Großstädte eigne statistische
Büreaus errichtet. In der ersten Hälfte des Jahrhunderts
wurden die Arbeiten der statistischen Büreaus ziemlich geheim
gehalten; seitdem hat man überall mit regelmäßigen
amtlichen statistischen Veröffentlichungen in Form von
Zeitschriften, Jahrbüchern etc. begonnen, neben welchen als
private Unternehmungen das "Journal of the Statistical Society"
(London) und das "Journal de la Société de
statistique" (Paris) zu nennen sind. Eine internationale S. ist
schwer durchführbar, insbesondere deswegen, weil die Begriffe,
welche den Gegenstand statistischer Ermittelung bilden, nicht
überall die gleichen sind. Volle Gleichheit läßt
sich auf vielen Gebieten wegen der Verschiedenartigkeit in den
Verwaltungseinrichtungen, Volksleben, Gebräuchen etc. nicht
erzielen. Die besonders auf Quételets Anregung geschaffenen
internationalen statistischen Kongresse, welche stattgefunden haben
in Brüssel (1853), Paris (1855), Wien (1857), London (1860),
Berlin (1863), Florenz (1867), Haag (1869), St. Petersburg (1872),
Pest (1876), hatten es sich zur Aufgabe gemacht, Einheit in die
amtlichen Statistiken der verschiedenen Staaten zu bringen und
gleichförmige Grundlagen für die statistischen Arbeiten
zu erlangen. 1885 wurde in London ein "internationanales Institut
der S." mit dem Sitz in Rom gegründet, welches das "Bulletin
de l' Institut international de statistique" herausgibt. Weiteres
s. in den Artikeln: Bevölkerung, Gewerbe-, Handels-,
Kriminal-, Moralstatistik und Statistische
Darstellungsmethoden.

Vgl. Fallati, Einleitung in die Wissenschaft der S.
(Tübing. 1843); A. Quételet, Sur l' homme (Par. 1835;
deutsch, Stuttg. 1838); Derselbe, Physique sociale (Brüssel
1869, 2 Bde.); Knies, Die S. als selbständige Wissenschaft
(Kassel 1850); Jonak, Theorie der S. (Wien 1856); Rümelin,
Reden und Aufsätze (Tübing. 1875); Ad. Wagner (in
Bluntschlis "Staatswörterbuch"); M. Haushofer, Lehr- und
Handbuch der S. (2. Aufl., Wien 1882); Block Traité
théorique et pratique de statistique (Par. 1878; deutsch von
v. Scheel, Leipz. 1879); Wappäus, Einleitung in das Studium
der S. (das. 1881); Meitzen Geschichte, Theorie und Technik der S.
(Berl. 1886); Gabaglio, Teoria generale della statistica (2. Aufl.,
Mail. 1888); John, Geschichte der S. (Stuttg. 1884 ff.); R.
Böckh, Die geschichtliche Entwickelung der amtlichen S. des
preußischen Staats (Berl. 1863); Puslowski, Das
königlich preußische Statistische Büreau (das.
1872); Klinckmüller, Die amtliche S. Preußens im vorigen
Jahrhundert (Jena 1880); Mayr, Die Organisation der amtlichen S.
(Münch. 1876). Als Sammlungen wichtiger statistischer
Thatsachen sind zu erwähnen: der "Gothaische Genealogische
Hofkalender" und O. Hübners "Statistische Tafel" (Frankf. a.
M., jährlich erscheinend); Kolb, Handbuch der vergleichenden
S. (8. Aufl., Leipz. 1879); Brachelli, Die Staaten Europas (4.
Aufl., Brünn 1884).

Statistik des Warenverkehrs, s. v. w. Handelsstatistik
(s. d.).

Statistische Darstellungsmethoden. Statistische Thatsachen
können zunächst durch einfache Beschreibung oder
Schilderung vorgeführt werden. Doch gestattet der Wortausdruck
(groß, steigend, abnehmend, kleiner etc.) keine
übersichtliche Darstellung, sobald eine große Menge
nebeneinander gelagerter oder gereihter Thatsachen in Betracht
kommen. In diesem Fall bietet die ohnedies unvermeidliche Zahl eine
Hilfe, welche, in Tabellenform angeordnet, über
Größen und deren Änderungen Auskunft gibt. Doch
gestattet die Tabelle, zumal wenn eine Masse mehrstelliger Zahlen
vorgeführt wird, keine rasche Orientierung und Vergleichung.
Dieser Zweck soll durch die graphische Darstellung erfüllt
werden, welche zur einfachen Veranschaulichung dient, die
Aufsuchung von Gleichmäßigkeiten,
Gesetzmäßigkeiten und Gegensätzen sowie die
Beurteilung wechselseitiger Zusammenhänge erleichtert, aber an
und für sich nicht als ein besonderes Beweismittel zu
betrachten ist. Die graphische Darstellung gibt Größen
in der linearen oder der Flächenausdehnung oder räumlich
in Körpern für verschiedene Begriffe an. Letztere werden
unterscheidbar gemacht durch verschiedenartige Punktierung,
Anwendung der Schraffur, der Farbe oder andrer Zeichen. Man
unterscheidet das Diagramm und das Kartogramm. Das Diagramm gibt
die Größen einfach als solche wieder. Ist für
dieselben eine feste Reihenfolge gegeben (z. B. nach der Zeit), so
können sie in einem Koordinatensystem in der Art zur
Darstellung kommen, daß je auf den Abschnitten der
Abscissenachse die zugehörigen Größen aufgetragen
werden. Hierfür können aneinander gereihte Flächen
für jede Einheit gewählt werden, wenn die Änderungen
der Größen keine stetigen sind. Statt dessen trägt
man aber auch wohl Linien auf die betreffenden Punkte der Abscissen
auf und verbindet deren Endpunkte miteinander durch eine besondere
Linie, welche eine Leitung für das Auge bilden soll. Alsdann
kann auch die Ordinatenlinie selbst gespart werden. Die
Leitungslinie wird zur regelmäßig verlaufenden Kurve,
sobald die Änderungen stetige sind. Auf einem und demselben
Blatt können mehrere derartige Kurven aufgetragen werden,
voneinander durch Farbe, Punkte, Striche, Kreuze etc.
unterschieden, was eine Vergleichung verschiedener Reihen
erleichtert. Das einfache Flächendiagramm gibt eine
statistische Größe in einer Fläche (Rechteck,
Dreieck) wieder, indem Unterabteilungen (z. B. männliches

16*

244

Statistische Gebühr - Statuten.

weibliches Geschlecht, Altersklassen) in der oben erwähnten
Weise kenntlich gemacht werden. Auch der Körper (Würfel,
Pyramide, Raumkoordinaten mit krummer Oberfläche) kann
statistische Größen zur Anschauung bringen. Das
Kartogramm dient dazu, die örtliche Lagerung statistischer
Thatsachen (auf der Landkarte) anzugeben. Hierfür kann nun,
wie dies schon von jeher üblich, Punkt, Schraffur und Farbe,
dann die Fläche benutzt werden (z. B. für die Städte
auf der Landkarte), welch letztere bei der Darstellung des
längs einer Linie (Fluß, Eisenbahn) sich bewegenden
Verkehrs dem Auge als Bänder erscheinen.

Statistische Gebühr nennt man in Deutschland eine auch
in England, Italien und Frankreich erhobene Gebühr, welche
von über die Grenze des Zollgebiets ein-, aus- oder
durchgeführten Waren im Interesse und zur Deckung der Kosten
der für Zollgesetzgebung und Handel wichtigen Statistik des
Warenverkehrs auf Grund von bei den bestimmten amtlichen
Anmeldestellen erfolgenden Anmeldungen (nach Gattung, Menge,
Herkunft, Bestimmungsland) seit 1. Jan. 1880 (Reichsgesetz vom 20.
Juli 1879) erhoben wird.

Statius, Publius Papinius, röm. Dichter, geboren um
45 n. Chr. zu Neapel, ward in Rom von seinem Vater, der selbst
Lehrer und Dichter war, gebildet und erwarb sich schon früh
durch sein poetisches Talent, namentlich im Improvisieren, Beifall
und mehrfach den Sieg in dichterischen Wettkämpfen. Doch sah
er sich sein lebenlang in Abhängigkeit von der Gunst des
Domitian und der römischen Großen, denen er oft in der
unleidlichsten Weise schmeichelte. Später zog er sich nach
Neapel zurück, wo er um 96 starb. Von seinen Schriften, die
sich durch Gewandtheit und Phantasie auszeichnen, aber vielfach an
rhethorischem Schwulst und dunkler Gelehrsamkeit leiden, besitzen
wir noch: "Silvae", Gelegenheitsgedichte in fünf Büchern
und in verschiedenen Versmaßen (hrsg. von Markland, Lond.
1728, Dresd. 1827, von Bährens, Leipz. 1876); "Thebais", ein
Epos in 12 Büchern (Buch 1-6 hrsg. von Müller, das. 1870,
das ganze Werk von Kohlmann, das. 1844; deutsch von Imhof, Ilmenau
1886), und von dem unvollendeten Epos "Achilleïs" die beiden
ersten Bücher (hrsg. von Kohlmann, Leipz. 1879).
Gesamtausgaben besorgten Gronov (Amsterd. 1653), Dübner (Par.
1835-1836, 2 Bde.) und Queck (Leipz. 1854, 2 Bde.); eine
Übersetzung Bindewald (Stuttg. 1868 ff.).

Stativ (lat.), Gestell für mathematische,
astronomische und andre Apparate.

Stator (lat.), Beiname des Jupiter, angeblich weil ihm
Romulus einen Tempel gelobte, wenn er die vor den Sabinern
fliehenden Römer zum Stehen brächte.

Stättegeld, s. v. w. Standgeld (s. d.).

Statthalter, derjenige, welcher die Stelle des
Landesherrn oder der höchsten Obrigkeit in einem Land oder
einer Provinz vertritt, so in Elsaß-Lothringen (s. d., S.
577) der an der Spitze der Staatsverwaltung stehende höchste
Beamte; (stadhouder) ehemals in den Vereinigten Niederlanden Titel
der Prinzen von Oranien, welchen nach der Losreißung von
Spanien ein Teil der königlichen Rechte, namentlich der
Oberbefehl über die Kriegsmacht zu Lande und zur See,
übertragen wurde; in Österreich Amtstitel von politischen
Landesbehörden (Statthaltereien), s. Landesbehörden.

Statue (lat. statua, Standbild), die durch die
Thätigkeit des bildenden Künstlers in irgend einer, meist
harten Masse dargestellte volle Gestalt, besonders des Menschen. Im
Altertum und in der neuern Zeit bis zur Zeit der Renaissance
pflegte man statuarische Bildwerke zur Belebung und Verdeutlichung
der Formen mehr oder weniger reich zu bemalen (s. Polychromie). Man
unterschied schon im griechischen Altertum Ideal- und
Porträtstatuen, je nachdem der Künstler aus der Phantasie
schöpfte oder sich an die Wirklichkeit hielt. Zu den
Idealstatuen gehörten die der Götter und Heroen. Die
Porträtstatuen kamen erst verhältnismäßig
spät durch die Sitte auf, in Olympia Statuen der Sieger in den
Wettkämpfen aufzustellen. Doch waren auch diese anfangs ideal,
d. h. nicht porträtähnlich, gehalten. Noch später
kam dazu das Genrebild, welches Personen und Vorgänge aus dem
Alltagsleben als Einzelstatuen oder Gruppen darstellte. In der
römischen, besonders kaiserlichen, Zeit wurden in großer
Menge Porträtstatuen gefertigt. Kolossale Dimensionen wurden
durch den Zweck der Aufstellung bedingt. Den Begriff der
Erhabenheit durch räumliche Ausdehnung anzudeuten, war aber
dem griechischen Geschmack fern, und erst die verfallende Kunst,
die sich ägyptisch-asiatischen Begriffen anbequemte, suchte
auf diese Weise durch Zusammenstellungen eine größere
Wirkung hervorzubringen. In Hinsicht ihrer äußern
Stellung unterschieden schon die Alten stehende, sitzende,
Reiterstatuen und fahrende Statuen, und die Statuen waren teils
einzeln, teils in Gruppen zusammengefaßt. Die moderne
Bildhauerkunst versteht unter S. im weitesten Sinn jede plastische
Einzelfigur, im engern Sinn ein stehendes Bild. Statuette,
Standbildchen. Vgl. Bildhauerkunst.

Statuieren (lat.), aufstellen, festsetzen, bestimmen;
etwas statthaben lassen; ein Exempel s., ein Beispiel zur Warnung
aufstellen.

Statur (lat.), Leibesgröße und Gestalt,
Wuchs.

Status (lat.), Stand (z. B. des Vermögens, die
Bilanz der Aktiva und Passiva, wie sie von Aktien-Gesellschaften
als Monatsstatus allmonatlich veröffentlicht wird), Zustand;
daher S. quo, der Zustand, die Lage, in welcher sich etwas befand
oder befindet, namentlich S. quo ante (bellum), die Lage,
insbesondere die Gebiets- und Machtverhältnisse, wie sie vor
einem Krieg waren. S. nascendi, Entstehungszustand; S. praesens,
der gegenwärtige Gesundheitszustand eines Kranken und der
ärztliche Bericht über denselben. Die Römer
bezeichneten mit S. auch die drei Hauptstufen der
Persönlichkeit, nämlich Freiheit, römisches
Bürgerrecht und Familienstand. Der Verlust eines solchen S.
involvierte eine Capitis deminutio (s. d.).

Status duplex (lat., "doppelter Stand"), ein Kapitel in
der Christologie (s. d., S. 100).

Status nascendi, s. Entstehungszustand.

Statutarisch (lat.), was Statuten (Satzungen) zufolge
gesetzmäßig ist; daher statutarische Portion, der
festgesetzte Erbteil, den eine Witwe von der Verlassenschaft des
Mannes erhält (s. Güterrecht der Ehegatten, S. 948).

Statuten (lat.), Satzungen, Gesetze; namentlich
Bezeichnung für die mittelalterlichen Stadtrechte, auch
für die Hausgesetze des hohen Adels (s. Autonomie). S.
heißen ferner die Satzungen über die Verfassung und
Verwaltung von Vereinen, juristischen Personen und Korporationen,
und zwar bestehen über Inhalt und Gültigkeit, namentlich
aber auch über die staatliche Anerkennung und Bestätigung
solcher S. vielfach besondere Vorschriften, so z. B. in Ansehung
der Aktiengesellschaften, der Genossenschaften und der Innungen.
Den Gemeinden und Kommunalverbänden ist jetzt in den meisten
Staaten das Recht ein-

245

Statz - Staubeinatmungskrankheiten.

geräumt, zur Durchführung gemeinnütziger
Maßregeln, zur Aufrechthaltung der öffentlichen
Sicherheit innerhalb des Gemeindebezirks und sonst zur Erreichung
der Gemeindezwecke innerhalb der durch die Gesetzgebung gezogenen
Schranken Ortsstatuten, geeigneten Falls mit Strafbestimmungen, zu
errichten. Nach preußischem Recht bedürfen derartige S.
der Stadtgemeinden der Genehmigung des Bezirksausschusses, in
Berlin des Oberpräsidenten. In andern Staaten ist die
Genehmigung der Zentralverwaltungsbehörde oder sogar diejenige
des Souveräns erforderlich. In England versteht man unter S.
(Statutes) die eigentlichen Gesetze, welche mit Zustimmung des
Parlaments von der Krone erlassen werden, im Gegensatz zur
königlichen Verordnung (Ordinance), für welche die
Zustimmung der beiden Häuser des Parlaments nicht erforderlich
ist. Die Lokalverordnungen der Gemeinden, welche bei uns S.
heißen, werden in England als Bylaws (s. d.) bezeichnet.

Statz, Vinzenz, Architekt, geb. 1819 zu Köln, war
anfangs Maurermeister am dortigen Dombau, wurde 1845
Dombauwerkmeister, legte 1854 diese Stelle nieder und wurde 1863
Diözesanbaumeister. In dieser Stellung war er eifrig
beflissen, der strengen Gotik neue Bahnen zu brechen. Die Zahl der
unter seiner Leitung hergestellten kirchlichen Bauten beläuft
sich auf einige hundert, von denen als die größten zu
nennen sind: die Mauritiuskirche in Köln, die Marienkirche in
Aachen, die katholischen Kirchen in Kevelaer, Dessau, Eberswalde,
Bernshausen in Hannover, wobei er es trefflich verstand, moderne
Einrichtungen mit mittelalterlichen Formen zu verbinden.
Hervorzuheben sind noch: das große Krankenhaus zu St. Hedwig
in Berlin und sein Wohnhaus in Köln. Auch leistete er
Bedeutendes in der innern Ausstattung der Kirchen, in der Holz- wie
in der Steinarchitektur, namentlich in der Liebfrauenkirche zu
Trier, wo er einen prächtigen Altar ausführte. Sein
größtes Werk ist der Dom in Linz an der Donau, den er
1862 begann, ein Bau von gewaltigen Dimensionen. S. gab heraus:
"Gotische Entwürfe" (Bonn 1861); "Gotische Einzelnheiten" (180
Tafeln, 2. Aufl., Berl. 1886); "Gotisches Musterbuch" (mit
Ungewitter und Reichensperger, Leipz. 1856-60) u. a. Er erhielt
1864 den Titel Baurat, ist Ehrenmitglied der Londoner Royal
Society, der k. k. Akademie in Wien etc.

Staub, in der atmosphärischen Luft enthaltene
Körperchen verschiedener Art, welche bei gewisser
Größe oder massenhafter Anhäufung dem bloßen
Auge sichtbar, aber auch in vollkommen rein erscheinender Luft
immer noch nachweisbar sind. Man unterscheidet gröbere
Stäubchen, die, von Winden oder vom Kehrbesen aufgewirbelt,
bei einigermaßen ruhiger Luft bald niederfallen;
Sonnenstäubchen, die nur im Sonnenstrahl sichtbar sind und
auch in scheinbar ruhiger Zimmerluft meist nicht zu Boden sinken;
endlich unsichtbare Stäubchen, die nur künstlich
nachweisbar sind und auch in ruhigster Luft sich schwebend
erhalten. Der S. entsteht hauptsächlich durch die Verwitterung
der Gesteine, wodurch diese in feinste Teilchen zerfallen, auch die
Vulkane werfen Staubmassen aus, die in weite Entfernungen getragen
werden; er entsteht ferner durch zahlreiche Verbrennungsprozesse,
die Ruß und Asche liefern; in jedem S. finden sich auch
Pollenkörner, Sporen der Kryptogamen und Keime der niedersten
Organismen. Endlich erzeugt der Mensch durch seine Thätigkeit
beständig S. Aus Flüssigkeiten und von feuchten
Oberflächen gelangen niemals Teilchen als S. in die Luft,
solange sich jene Substrate in Ruhe befinden; wohl aber kann durch
Verspritzen heftig bewegter Flüssigkeiten oder durch
Schaumbildung ein solcher Übergang bewirkt werden. In der
Regel wird jedoch Austrocknung und nachfolgende Zerkleinerung die
Veranlagung zum Zerstäuben von Pilzvegetationen in
Flüssigkeiten und von gelösten nicht flüchtigen
Substanzen sein. Die Zerkleinerung aber braucht nicht immer durch
mechanische Wirkungen zu erfolgen, sie kann vielmehr auch eine
Folge der geringen Bewegungen sein, welche durch
Temperaturänderungen bedingt sind und leicht
Zusammenhangstrennungen, Ablösungen von Partikelchen
herbeiführen. Landluft enthält weniger S. als Stadtluft,
im Winter und Frühjahr und nach Regen ist die Luft ärmer
an S. als im Sommer und Herbst und nach langer Dürre. 1 cbm
Landluft enthält bei trocknem Wetter 3-4,5, bei feuchtem 0,15
mg S., in Fabriken fand man bis 175 mg S. Aller S. besteht, seiner
Bildung entsprechend, aus mineralischen und organischen Substanzen;
unter letztern interessieren hauptsächlich die Keime
niederster Organismen, welche unter den feinsten Staubteilen zu
suchen sind. Stets enthält die Luft Sporen von Schimmelpilzen,
im März am wenigsten (5480 in 1 cbm), im Juni bis 54,460, nach
Regen mehr als nach Trockenheit. An Bakterien ist die Luft im
Winter arm (53), im Herbst am reichsten (121), nach Regen weniger
reich als bei Dürre. Stadtluft enthält ungleich mehr
Bakterien als Landluft. Die angegebenen Zahlen müssen bei der
Unvollkommenheit der Methode, nach welcher sie gewonnen wurden, im
allgemeinen als zu niedrig betrachtet werden. Der in der Luft
vorkommende S. gelangt vorzüglich durch die Respirationsorgane
zur Einwirkung auf den Menschen, wenn auch nur ein Teil des Staubes
in den Respirationsorganen zurückbleibt; die feinsten
Staubpartikelchen werden fast vollständig wieder ausgeatmet.
Der S., welcher an den Wänden der Luftwege hängen bleibt,
wird durch das Flimmerepithel, welches diese bedeckt, wieder aus
dem Körper entfernt. Vermag das Epithel die Staubmassen nicht
zu bewältigen, so entstehen krampfhafte Bewegungen, wie
Räuspern, Husten etc., zur Herausbeförderung der
staubhaltigen Schleimmassen. Reichen auch diese Hilfsmittel nicht
mehr aus, so entstehen Störungen, welche je nach der Art des
eingeatmeten Staubes verschieden charakterisiert sind. Nur
mechanisch reizender S. erzeugt die Staubeinatmungskrankheiten (s.
d.); S., welcher aus Partikelchen giftiger Substanzen besteht,
erzeugt namentlich durch den in den Mund und in den Magen
gelangenden Anteil eigentümliche Krankheitserscheinungen, am
wichtigsten aber sind die Keime solcher Organismen, welche als
Krankheitserreger zu betrachten sind. Man muß annehmen,
daß jene Keime ebensogut wie alle übrigen in Staubform
auftreten können, und in der That sind mehrere derselben im S.
nachgewiesen worden. Die Übertragung von Krankheiten durch den
S. der Luft ist mithin sehr wohl möglich, sofern nur nicht
jene Keime durch das Austrocknen ihre Entwickelungsfähigkeit
einbüßen. Vgl. Renk, Die Luft ("Handbuch der Hygieine",
von Pettenkofer und Ziemssen, Tl. 1, Abt. 2, Leipz. 1886);
Tissandier, Les poussieres de l'air (Par. 1877).

Staubbach, s. Lütschine.

Staubbeutel, s. Staubgefäß.

Staubbilder, elektrische, s. Lichtenbergsche Figuren.

Staubbrand, s. Brandpilze I.

Staubeinatmungskrankheiten. Der Staub, welcher bei der
Atmung in die Luftwege eingesogen wird,

246

Stäuben - Staubgefäße.

wird größtenteils von dem Schleim aufgenommen, durch
die Flimmerbewegung der Lungenepithelien zurück nach der
Luftröhre geführt und von hier durch Räuspern und
Husten ausgeworfen. Ist die eingeatmete Menge zu groß, so
wird ein Teil der feinsten Körnchen von der Lunge aufgenommen
und bleibt entweder in ihrem Gewebe selbst oder in den
Lymphgefäßen und Drüsen dauernd haften. Am
auffallendsten bemerkbar ist der Kohlenstaub, welcher beim
Lampenbrennen, Kohlen-, Holz- und Torffeuern, kurz überall
entsteht, wo unvollkommene Verbrennung irgend welcher Art vor sich
geht, also auch beim Tabaksrauchen, wenngleich in weit geringerm
Maß, als von den Gegnern des Rauchens angegeben wird.
Während die Lungen der Wilden und der im Freien lebenden Tiere
(nicht der Haustiere) ganz frei davon sind, findet sich bei den
Kulturmenschen und den unter gleichen Verhältnissen lebenden
Haustieren ein gewisser Grad von Schwarzfärbung
(Pigmentierung) der Lunge. Zu einer wirklichen Krankheit, der
Staubeinatmungskrankheit, gibt die Verunreinigung der Luft
Anlaß, wenn infolge gewisser Umstände die Luft mit Staub
geradezu überladen ist und die Einatmenden infolge ihrer
gewerblichen Thätigkeit gezwungen sind, derselben sich
fortwährend oder einen großen Teil des Tags auszusetzen.
So sind dem Kohlenstaub exponiert die Stein- und
Braunkohlenarbeiter, auch manche mit der Holzkohlenfabrikation
beschäftigte Arbeiter, dem Sandstaub oder den Kieselpartikeln
die Steinhauer und Schleifer, dem Eisenstaub die Schmiede,
Feilenhauer, Stahlschleifer, Spiegelglaspolierer, dem Tabaksstaub
die Tabaksarbeiter, dem Farbenstaub die Farbenarbeiter, der
kieselsauren Thonerde die Ultramarinarbeiter etc. Den Nachweis,
daß diese Substanzen wirklich in die Lunge eindringen,
liefert die anatomische, mikroskopische und chemische Untersuchung
der Lungen. Die Folgen der Staubinhalation bestehen in diesen
Fällen zunächst in Hyperämie und Katarrh der
Luftröhrenverzweigungen mit fortwährendem Räuspern,
Husten und Auswurf; weiterhin gesellt sich eine wirkliche
chronische Entzündung des Lungengewebes hinzu, welches seine
Elastizität mehr oder weniger verliert und sich bis zu einem
Grade, daß es unter dem Messer knirscht, verhärtet;
schließlich geht der Zustand in eine Verödung des
Lungengewebes über. Die Überladung des Lungengewebes mit
Kohlenpigment nennt man Anthrakosis, die mit Eisenpartikelchen
Pneumonosiderosis. Vgl. Hirt, Die Staubinhalationskrankheiten
(Leipz. 1871); Eulenberg, Handbuch der Gewerbehygieine (Berl.
1876); Merkel, Staubinhalationskrankheiten (in Ziemssens Handbuch,
Leipz. 1882).

Stäuben, das Fallenlassen des Kotes bei
Feldhühnern.

Staubbewässerung, s. Bewässerung, S. 859.

Staubfaden, s. Staubgefäße.

Staubfiguren, elektrische, s. Lichtenbergsche
Figuren.

Staubgefäße (Stamina, Staubblätter), die
den Blütenstaub erzeugenden Teile der Blüte bei allen
phanerogamen Pflanzen, bilden zusammen in einer Blüte den
männlichen Geschlechtsapparat (Andröceum) derselben und
entstehen wie die übrigen Blattgebilde der Blüte als
seitliche Höcker unterhalb des im Wachstum befindlichen
Scheitels der jungen Blütenanlage. Von besonderer Wichtigkeit
ist außer der Zahl die Verzweigung und die Verwachsung der S.
Verzweigte S. entstehen dadurch, daß an der jungen
Staubblattanlage neue Höcker auftreten, die zu einem
Büschel von Staubgefäßen auswachsen, während
das gemeinsame Fußstück sehr kurz bleibt; es tritt dies
z. B. bei den Staubblättern von Hypericum ein, die in Gruppen
von drei oder fünf in jeder Blüte zusammenstehen, aber
durch Verzweigung aus drei oder fünf ursprünglich
einfachen Staubblattanlagen hervorgegangen sind. Die Spaltung
(Chorise, dédoublement) der Staubblätter ist eine sehr
früh eintretende Teilung einer Staubblattanlage in zwei
später völlig getrennte Staubblätter, wie bei den
Staubgefäßen der Kruciferen. Verwachsene
Staubblätter entstehen durch seitliche Verschmelzung von
Staubblattanlagen, wie z. B. beim Kürbis. Die S. bestehen in
der Regel aus einem stielförmigen Träger, dem Staubfaden
(Filament), und einem durch eine Furche in zwei
Längshälften geteilten angeschwollenen Teil, dem
Staubbeutel (Anthere). Wenn sämtliche Staubfäden der
Blüte in ein einziges Bündel vereinigt sind, so nennt man
die S. einbrüderig (stamina monadelpha). So sind z. B. in der
männlichen Blüte des Kürbisses die S. in eine im
Mittelpunkt stehende Säule vereinigt. In den
Zwitterblüten dagegen bilden die einbrüderigen S. eine
Röhre um den in der Mitte stehenden Stempel (Fig. 1). Sind sie
in zwei oder mehrere Partien vereinigt, so werden sie
zweibrüderig (s. diadelpha) und vielbrüderig (s.
polyadelpha) genannt. Ersteres ist z. B. bei den Fumariaceen,
letzteres bei den Hypericineen Regel, wo die S. in drei Bündel
vereinigt sind (Fig. 2). Einen besondern Fall von
Zweibrüderigkeit bieten viele Schmetterlingsblütler,
indem hier von den zehn vorhandenen Staubgefäßen neun zu
einer gespaltenen Röhre verbunden sind, während das 10.
Staubgefäß vor der Spalte der Röhre frei steht
(Fig. 3). Bei manchen Pflanzen haben die Staubfäden
verschiedene Länge; wo zwei Kreise von Staubgefäßen
vorkommen, sind häufig die des einen kürzer als die des
andern. Bei den Kreuzblütlern finden sich sechs S.; von diesen
sind vier die längern, zwei andre, welche einem
äußern Kreis angehören und links und rechts stehen,
sind kürzer (viermächtige S., s. tetradynama). Bei vielen
Lippenblütlern und Skrofularineen gibt es zwei lange und zwei
kurze, sogen. zweimächtige S. (s. didynama). - Der Staubbeutel
ist ein meist aus zwei Fächern (thecae) bestehendes Gebilde,
in dessen Innenraum der Blütenstaub (Pollen) enthalten ist.
Fig. 4 versinnlicht den Durchschnitt durch einen jungen
Staubbeutel; der Teil, welcher die beiden Fächer
verknüpft, heißt Zwi-

Fig. 1. Einfache Staubgefäßröhre der Malve. Fig.
2. Vielbrüderige Staubgefäße. Fig. 3.
Zweibrüderige Staubgefäße einer
Schmetterlingsblüte. Fig. 4. Durchschnitt eines
Staubbeutels

247

Stäubling - Staubregen.

schenband oder Konnektiv (connectivum). Jedes Fach besteht aus
zwei durch eine Scheidewand getrennten, nebeneinander liegenden
Pollensäcken. Später wird diese Scheidewand
aufgelöst, und jedes Fach stellt dann eine einfache
Höhlung dar. Über den Blütenstaub s. Pollen und
Geschlechtsorgane der Pflanzen. Der Staubfaden ist entweder an das
untere Ende des Konnektivs angesetzt (basifix), oder er geht an
einem höhern Punkt in dasselbe über (dorsifix). Das
Konnektiv ist entweder gleichmäßig schmal, so daß
die beiden Fächer der Länge nach parallel nebeneinander
stehen, wobei es sich in irgend einer Form als sogen.
Konnektivfortsatz über die Antheren fortsetzen kann, z. B. bei
der Gattung Paris (Fig. 5), oder das Konnektiv ist zwischen den
Fächern in der Breite ausgedehnt, so daß die letztern
voneinander entfernt werden, bald nur mäßig, und dann
unten oft weit stärker als oben, so daß die Fächer
mehr und mehr in eine Linie zu liegen kommen, bald sehr
beträchtlich, so daß es einen Querbalken bildet, an
dessen Enden die Fächer sitzen (z. B. bei Salvia, Fig. 6),
oder auch wie eine Spaltung des Staubfadens erscheint, deren beide
Äste je ein Staubbeutelfach tragen, wie z. B. bei der
Hainbuche, bei der Haselnuß, bei den Malven. Eine
Eigentümlichkeit zeigen die Staubbeutel der
Kürbisgewächse, insofern hier die beiden Fächer
unregelmäßig gewunden sind (Fig. 7). Auch die
Staubbeutel können untereinander in eine Röhre vereinigt
sein, während ihre Staubfäden frei sind, wie bei den
Kompositen, die aus diesem Grund auch Synantheren, d. h.
Verwachsenbeutelige, genannt werden (Fig. 8a und b). Behufs
Ausstreuung des Blütenstaubes öffnen sich die beiden
Antherenfächer zur Blütezeit in bestimmter Weise,
gewöhnlich so, daß die Wand jedes Faches eine
Längsspalte bekommt; selten treten Querspalten auf, wie z. B.
bei der Tanne. Danach unterscheidet man die Staubbeutel als
antherae longitudinaliter und transverse dehiscentes. Diese Spalten
liegen meist an der dem Mittelpunkt der Blüte zugekehrten
Seite des Staubbeutels (antherae introrsae), bisweilen aber auch
dem Umfang der Blüte zugewendet (a. extrorsae), wie bei den
Schwertlilien, oder auch an der Seite, z. B. bei Ranunculus. Eine
andre Art des Öffnens ist die mittels Klappen (a. valvatim
dehiscentes), indem eine gewisse Stelle der Antherenwand als Deckel
sich von untenher abhebt, wie z. B. bei Berberis. Oder endlich
jedes Fach öffnet sich mittels eines meist an der Spitze
liegenden Loches (a. porose dehiscentes), wie bei der Kartoffel.
Das Öffnen der mit Spalten aufspringenden Staubbeutel wird
ermöglicht durch den Bau der Antherenwand. Diese besteht
nämlich aus zwei Zellenschichten: einer kleinzelligen
Epidermis und einer unter derselben liegenden Schicht weiterer
Zellen. Letztere sind an ihrer nach innen gekehrten Wand mit ring-
oder netzförmigen Verdickungsschichten ausgestattet, welche
wegen ihrer relativen Starrheit dieser Zellwand keine erhebliche
Zusammenziehung beim Austrocknen gestatten. Dagegen ist die an die
Epidermis stoßende Zellwand nicht verdickt; sie zieht sich
wie die Epidermis bei Wasserverlust stark zusammen. Da somit also
beide Seiten der Antherenwand beim Austrocknen verschiedene
Dimensionen annehmen, so muß dieselbe sich krumm werfen
dergestalt, daß die stärker sich zusammenziehende Seite,
d. h. die äußere, konkav wird, und somit gehen die
Wände auseinander. Die Spalte ist schon vorher angelegt, indem
in der Ausdehnung, in welcher sie entstehen soll, eine Partie von
Zellen zu Grunde geht, so daß dort das Durchreißen der
Wand den geringsten Widerstand findet. Die Ursache des Öffnens
der Antheren ist also das Austrocknen ihrer Wand; daher öffnen
sie sich beim Befeuchtetsein nicht und können durch Benetzen
mit Wasser wieder zum Schließen gebracht werden. Trocknes
Wetter ist daher der Befruchtung der Blüten und somit der
Samenbildung entschieden günstiger als nasses. - Bisweilen
werden gewisse Staubblätter regelmäßig
unvollständig ausgebildet, indem sie keinen Blütenstaub
enthalten. Derartige Staminodien können in verschiedenen
Formen auftreten, bei den Skrofularineen ist von fünf
Staubgefäßen eins bisweilen als bloßer Faden oder
als Schüppchen ausgebildet. Bei den Laurineen nimmt oft ein
ganzer Kreis von Staubblättern die Form von Staminodien in
Gestalt drüsenartiger Gebilde an. Bei der Parnassia palustris
folgt auf den einfachen Kreis der S. ein andrer von Staminodien,
welche hier als Nektarien (s. d.) ausgebildet sind, indem sie
schuppenförmige Blätter mit langen Wimpern darstellen,
deren jede mit einer kopfförmigen, honigtropfenähnlichen
Drüse endigt. Vgl. auch den Art. Blüte.

Stäubling, s. v. w. Lycoperdon.

Staubregen, die meist trocknen Niederschläge der
Atmosphäre, deren Substanz teils von der Erde aus mit den
aufsteigenden Luftströmungen in die höhern Gegenden der
Atmosphäre gelangt, sich mit dem Wind bis auf große
Strecken von dem Ort ihres Aussteigens entfernt und entweder
zugleich mit dem Regen und Schnee niederfällt, oder sich als
Staub (s. Passatstaub) oder trockner Nebel (s. Nebel und Herauch)
und Trübung der Atmosphäre niedersenkt, teils einen
kosmischen Ursprung hat, indem sie aus zu feinem Staub zerfallenen
oder zerriebenen Teilchen von Sternschnuppen und Feuerkugeln
bestehen kann, welche tief in die Erdatmosphäre hineingetaucht
sind, teils endlich Teile von kosmischen Staubmassen bildet, welche
im Weltenraum sich bewegen, und denen die Erde zuweilen in ihrer
Bahn begegnet. Zu den S. irdischen Ursprungs gehören folgende:
1) Die sogen. Blutregen (Blutquellen), die schon von den alten
Schriftstellern, wie unter andern von Livius und Plinius,
häufig erwähnt werden und im Mittelalter zu vielen
abergläubischen Ansichten Anlaß gaben. Die Nachrichten
über diese Blutregen beziehen sich aber meist nicht auf
trockne, sondern auf flüssige oder schleimige Massen, welche
als rote Flecke auftreten, den Boden, die Pflanzen und das Wasser
rot färben

248

Staubspritze - Staudt.

und ihren Ursprung in den Exkrementen von gewissen Insekten, wie
Bienen, Schmetterlingen etc., auch in dem Auftreten der
Blutregenalge (Protococcus pluvialis) haben. 2) Die roten S., d. h.
wirklicher Regen, welcher durch aufgewirbelten Staub rot
gefärbt ist, ereignen sich am häufigsten im Frühling
und Herbst, zur Zeit der Äquinoktialstürme. Auch der
Schnee kann durch solchen roten Staub rot gefärbt werden und
als erdiger roter Schnee niederfallen. Diese Färbung des
Schnees durch roten Staub muß aber nicht mit der oft
wahrgenommenen Färbung verwechselt werden, welche sich
öfters über größere Schneeflächen der
Polargegenden verbreitet, auch auf den Alpen und Pyrenäen
vorkommt und unter dem Namen Blutschnee (s. d.) bekannt ist. 3) Bei
den vulkanischen S. (meist grau) wird die Asche der Vulkane vom
Wind bis auf sehr weite Entfernungen fortgetrieben (Hekla,
westindische Vulkane). Ein auffallendes Beispiel dafür bot die
neueste Zeit, indem die in den letzten Monaten 1883 und 1884 in
Europa vielfach beobachteten eigentümlichen
Dämmerungs-Erscheinungen sowie das häufige Auftreten von
ungewöhnlich starkem Abend- und Morgenrot und das Bilden eines
braunroten Ringes um die Sonne als Folge des vulkanischen Ausbruchs
nachgewiesen sind, welcher 27. Aug. 1883 auf dem Krakatoa in der
Sundastraße erfolgte. 4) Schwefelregen (gelb), d. h. das
Herabfallen eines gelben oder gelblichroten Pulvers, meistens in
Begleitung von wirklichem Regen. Göppert hat nachgewiesen,
daß das gelbe Pulver aus vom Wind fortgeführtem und vom
Regen niedergeschlagenem Blütenstaub besteht, und zwar im
März und April aus Blütenstaub von Erlen und
Haselnuß, im Mai und Juni von Fichtenarten, Wacholder und
Birke, im Juli, August und September von Bärlappsamen, Rohr-,
Liesch- oder Teichkolben. 5) Getreideregen entstehen dadurch,
daß der Regen die kleinen Wurzelknollen gewisser Pflanzen,
wie des kleinen Schöllkrauts (Chelidonium minus), der
Butterblume (Ranunculus Ficaria), des epheublätterigen
Ehrenpreis (Veronica hederaefolia) u.a., aus dem Boden
ausspült und diese dann durch den Wind von ihrem Ursprungsort
weit fortgeführt werden und später zu Boden fallen. - Von
den kosmischen S. hat man erst in neuerer Zeit einige Kenntnis
erlangt. Am 1. Jan. 1869 war in Heßle bei Upsala ein
Meteorit, der aus zahlreichen weithin zerstreuten Stücken
bestand, niedergefallen und mit ihm zugleich ein schwarzer, Kohle
und metallisches Eisen enthaltender Staub (Meteorstaub). Ganz
dieselbe Zusammensetzung zeigte der Staub, welcher während
eines sechstägigen ununterbrochenen Schneefalls in Stockholm
im Dezember 1871 im Schnee gefunden wurde, und ebenso der
gleichzeitig im Innern Finnlands auf dem Schnee gesammelte Staub.
Es kann aber auch wohl vorkommen, daß Schnee und Regen
kosmischen Staub mit sich in kleinen Mengen zur Erde
herunterführen. Die wenigen kohlehaltigen Meteorsteine (s. d.,
S. 541), die wir kennen, zerfallen nämlich in unmerklichen
Staub, sobald sie mit Wasser oder Feuchtigkeit (Regen, Schnee,
Wolken) in Berührung kommen, wobei ihre Kittsubstanz
aufgelöst wird.

Staubspritze, s. v. w. Drosophor, s.
Zerstäubungsapparate.

Staubstrommethode, metallurgisches Verfahren, welches
darin besteht, daß zwei Ströme derjenigen Körper,
welche chemisch aufeinander einwirken sollen, sich in feinster
Verteilung entgegenkommen und durchdringen. Dies Prinzip ist zuerst
im Gerstenhöferschen Röstofen zur Anwendung gekommen, bei
welchem gepulverte Erze, durch Bänke aufgehalten, langsam
durch einen vorher stark geheizten Schachtofen fallen, während
von unten Luft in den Ofen strömt. Die Reaktion ist hierbei
sehr energisch, die durch Verbrennung entstandene schweflige
Säure passiert Flugstaubkammern und gelangt dann in die
Bleikammern zur Schwefelsäureerzeugung. Man benutzt den Ofen
zum Rösten von schwefelkiesreichen Erzen, Kupferrohstein,
Zinkblende etc. Ähnliche Versuche sind in Amerika bei der
Silbergewinnung gemacht worden, indem Stetefeldt mit seinem hohen
Schachtofen den Erzstaub frei, ohne daß er durch Bänke
aufgehalten wird, dem Luftstrom entgegenfallen läßt.
Auch hat man in ähnlicher Weise staubförmige
Brennmaterialien verwertet. Gemahlene und gebeutelte Holzkohle wird
durch einen Ventilator in einem Luftstrom angesogen und in einer
passenden Vorrichtung oder im Ofen selbst verpufft. Nach diesem
Prinzip sind der Eisenstreckofen von Resch, der Doppelzinkofen von
Dähn und der rotierende Puddelofen von Crampton eingerichtet,
wobei indessen Staub- und Luftstrom meist dieselbe Richtung
haben.

Staude, s. v. w. perennierende Pflanze, s.
Ausdauernd.

Staudenmaier, Franz Anton, kath. Theolog, geb. 11. Sept.
1800 zu Donsdorf in Württemberg, studierte im Wilhelmsstift zu
Tübingen, trat 1826 in das Priesterseminar zu Rottenburg,
folgte 1830 einem Ruf als Professor der katholischen Theologie nach
Gießen und 1837 nach Freiburg i. Br., wo er 1843 auch zum
Domkapitular ernannt wurde. Seit 1855 zurückgetreten, starb er
19. Jan. 1856. Unter seinen zahlreichen Schriften, in denen er eine
spekulative Konstruktion des Katholizismus anstrebte, sind
hervorzuheben: "Johann Scotus Erigena" (Frankf. 1834, Bd. 1); "Der
Geist des Christentums" (Mainz 1835; 8. Aufl. 1880, 2 Bde.);
"Darstellung und Kritik des Hegelschen Systems" (das. 1844); "Die
christliche Dogmatik" (Freiburg 1844-52, 4 Bde.); "Zum
religiösen Frieden der Zukunft" (das. 1846-51, 3 Tle.).

Staudenpappel, s. Lavatera.

Staudensalat, s. Lattich.

Staudigl, Joseph, Opernsänger (Baß), geb. 14.
April 1804 zu Wöllersdorf in Niederösterreich, wollte
sich im ersten Jünglingsalter dem geistlichen Stand widmen,
wandte sich dann nach Wien, um Chirurgie zu studieren, und
beschloß endlich, zunächst um seine materielle Lage zu
verbessern, seine herrliche Baßstimme auf der Bühne zu
verwerten. Anfangs als Chorist am Kärntnerthor-Theater
wirksam, gelang es ihm, in der Rolle des Pietro ("Stumme von
Portici") die er an Stelle des erkrankten Inhabers übernommen,
die Aufmerksamkeit des Publikums auf sich zu lenken, und infolge
des Beifalls, den er bei dieser Gelegenheit errang, wurden ihm nach
und nach immer größere Partien übertragen, bis er
endlich im Besitz aller ersten Rollen war. Von Wien aus, wo er bis
1856 dem Hofoperntheater angehörte, verbreitete sich sein Ruf
über ganz Deutschland, und nicht minder wurden seine
Leistungen in London anerkannt, dies um so mehr, da S. auch als
Oratorien- und Liedersänger glänzte und überdies die
englische Sprache vollkommen beherrschte. Er starb nach
fünfjähriger Krankheit 28. März 1861 in der
Irrenanstalt von Michelbeuerngrund.

Staudt, Karl Georg Christian von, Mathematiker, geb. 24.
Jan. 1798 zu Rothenburg a. Tauber, war 1822-27 Professor am
Gymnasium und Privatdozent an der Universität zu
Würzburg, 1827-33 Professor am Gymnasium und der
polytechnischen

249

Stauen - Staupitz.

Schule zu Nürnberg, von 1833 bis zu seinem Tod 1. Juli 1867
Professor an der Universität Erlangen. Staudts Verdienst
beruht namentlich in der Ausbildung der synthetischen Methoden in
der Geometrie, die er in seinem Hauptwerk: "Geometrie der Lage"
(Nürnb. 1847), und in den dazu gehörigen "Beiträgen"
(das. 1856, 1857, 1860) niedergelegt hat.

Stauen, das Unterbringen der Ladung im Schiffsraum, um
diesen möglichst auszunutzen und den Schwerpunkt von Schiff
und Ladung zusammen in eine solche Lage zu bringen, daß
ersteres hinreichende Stabilität hat. Gerät der
Schwerpunkt von Schiff und Ladung durch unsachgemäßes S.
in eine zu hohe Lage, so wird das Schiff zu "oberlastig" und
verliert an der für seine Sicherheit gegen Kentern notwendigen
Stabilität. Auch muß die Ladung so gestaut werden,
daß sie bei den heftigen Bewegungen des Schiffs im Seegang
ihre Lage nicht ändern kann. S. heißt auch das
Zurückhalten fließender Gewässer durch Schleusen,
Dämme und sogen. Stauwerke.

Staufen, Stadt im bad. Kreis Freiburg (Breisgau), am
Fuß des Schwarzwaldes, 290 m ü. M., hat eine kath.
Kirche, ein altertümliches Rathaus, ein Amtsgericht, Tuch-,
Filz- und Gummibandweberei, Weinbau und (1885) 1820 Einw. In der
Nähe die Ruinen der Staufenburg.

Staufen (Staufer), deutsches Kaisergeschlecht, s.
Hohenstaufen.

Staufenberg (Ritter von S.), altdeutsches Gedicht von
einem unbekannten elsässischen Dichter, wahrscheinlich aus dem
Anfang des 14. Jahrh., wurde im 16. Jahrh. von Fischart
überarbeitet und von Engelhardt (Straßb. 1823) und
Jänicke (in "Altdeutsche Studien", Berl. 1871) neu
herausgegeben.

Staufenburg, Ruine; Name mehrerer Ruinen, z. B. bei
Staufen und Gittelde (s. d.).

Stauffacher, Werner, nach der Sage von der Gründung
der schweizerischen Eidgenossenschaft ein wohlhabender Landmann aus
Schwyz, der sich auf das Zureden seiner Gemahlin Margareta Herlobig
an die Spitze der Erhebung der Waldstätte gegen die Vögte
Albrechts I. stellte und 1307 die Verschwörung im Rütli
stiftete. Ein Werner S. erscheint urkundlich als Landammann von
Schwyz 1313 und 1314.

Stauffenberg, Franz August, Freiherr Schenk von,
deutscher Politiker, geb. 4. Aug. 1834 zu Würzburg, studierte
in Heidelberg und Würzburg die Rechte, war bis 1860 als
Staatsanwalt in bayrischem Staatsdienst und lebte seitdem auf
seinem Gut Geißlingen bei Balingen in Württemberg. Seit
1866 Mitglied des bayrischen Abgeordnetenhauses, 1873-75
Präsident desselben, Führer der bayrischen
Fortschrittspartei, ward er 1868 in das Zollparlament, 1871
für München in den deutschen Reichstag gewählt,
schloß sich der nationalliberalen Partei an und war 1876-1879
erster Vizepräsident des Reichstags. 1880 schied er aus der
nationalliberalen Partei aus, ward Mitglied der liberalen
Vereinigung (Sezessionisten) und 1884 der deutschen freisinnigen
Partei.

Staunton (spr. stahnt'n), Stadt im nordamerikan. Staat
Virginia, Grafschaft Augusta, an einem Nebenfluß des
Shenandoah, mit großem Irrenhaus, Staatsanstalt für
Taubstumme und Blinde und (1880) 6664 Einw.; wird von Touristen
viel besucht.

Staunton (spr. stahnt'n), 1) Sir George Leonhard,
Reisender, geb. 1740 zu Galway in Irland, ging 1762 als Arzt nach
Westindien, dann nach Ostindien und begleitete 1792-94 Macartney
auf seiner Gesandtschaftsreise nach China, die er im "Account of an
embassy from the king of Great Britain to the emperor of China"
(Lond. 1791; deutsch, Zürich 1798) beschrieb. Er starb 14.
Jan. 1801 in London.

2) Sir George Thomas, Reisender, Sohn des vorigen, geb. 26. Mai
1781 zu London, begleitete seinen Vater 1792 nach China, studierte
dann in Cambridge, wurde 1799 bei der Faktorei der Ostindischen
Gesellschaft in Kanton angestellt und leistete bei den von 1814 bis
1817 zwischen England und China gepflogenen Verhandlungen wichtige
Dienste. Nach London zurückgekehrt, widmete er sich
litterarischen Arbeiten und übersetzte namentlich vieles aus
dem Chinesischen, z. B. den Kriminalkodex des chinesischen Reichs
(Lond. 1810; franz., Par. 1812, 2 Bde.). Er war bis 1852 Mitglied
des Unterhauses und starb 10. Aug. 1859 in London.

3) Howard, engl. Schriftsteller und berühmter
Schachspieler, geb. 1810, studierte zu Oxford, widmete sich dann in
London der journalistischen Thätigkeit und trug 1843 in einem
großen Schachspielwettkampf zu Paris über den Franzosen
Saint-Amant den Sieg davon, was ihm mit Einem Schlag den Ruf des
ersten Schachspielers in Europa verschaffte. Er erfreute sich
desselben bis zu dem großen Londoner Turnier 1851, aus
welchem der Deutsche Anderssen (s. d.) als erster Sieger
hervorging, und vermied es seitdem, an öffentlichen
Wettkämpfen teilzunehmen. S. starb 22. Juni 1874. Von seinen
Schriften über das Schachspiel wurde das Handbuch ("Laws and
practice of chess") mehrfach aufgelegt (neue Ausg. von Wormald,
1881). Auch leitete er lange Jahre die Schachrubrik in den
"Illustrated London News". Im übrigen beschäftigte er
sich mit dem Studium der ältern englischen Dramatiker und war
als Kommentator bei der Herausgabe einer der besten
Shakespeare-Ausgaben (Edition Routledge) beteiligt. Noch
veröffentlichte er "Great schools of England" (2. Aufl. 1869)
u. a.

Staupe, s. Hundsseuche und Pferdestaupe; böse S., s.
v. w. Epilepsie.

Staupenschlag (Staupbesen, lat. Fustigatio), die
früher gewöhnlich mit der Landesverweisung und mit
Ausstellung am Pranger verbundene Strafe des Auspeitschens bei
welcher der Delinquent vom Henker durch die Straßen
geführt und auf den entblößten Rücken
gepeitscht wurde.

Staupitz, Johann von, Gönner und Freund Luthers,
geboren im Meißenschen, studierte in Tübingen Theologie,
ward Prior im Augustinerkloster daselbst, 1502 Professor und der
eigentliche Organisator der neugegründeten Universität zu
Wittenberg, auch 1503 Generalvikar der (kleinen) sächsischen
Kongregation des Augustinerordens. In dieser Eigenschaft ward er
1505 in Erfurt Luthers geistlicher Vater und veranlaßte 1508
seine Berufung nach Wittenberg. 1512 legte er seine Professur
nieder und hielt sich in München, Nürnberg und Salzburg
auf; 1520 gab er auch das Amt des Generalvikars auf, zog sich aus
Scheu vor den Kämpfen, die er nahen sah, nach Salzburg
zurück, ward dort Hofprediger des Erzbischofs und 1522 Abt des
dortigen Benediktinerklosters. Hier mußte er, vom Erzbischof
von Salzburg zur Zustimmung zu der Bannbulle gegen Luther
aufgefordert, sich wenigstens zu der Erklärung verstehen,
daß er im Papst seinen Richter anerkenne, was Luther ihm als
eine Verdammung der Lehre auslegte, zu der S. ihn selbst gewiesen.
Er starb 1524. Seine hinterlassenen deutschen Schriften gab Knaake
heraus (Potsd. 1867). Vgl. Kolde, Die deutsche
Augustinerkongregation und J. v. S. (Gotha 1879); Keller, Joh. v.
S. (Leipz. 1888).

250

Staurodulie - Stearin.

Staurodulie (griech.), Anbetung des Kreuzes.

Staurolith, Mineral aus der Ordnung der Silikate
(Andalusitgruppe), kristallisiert in rhombischen, meist
säulenförmigen Kristallen und tritt häufig in
Zwillingsverwachsungen auf, von welchen die einer beinahe
rechtwinkeligen Durchkreuzung zweier Individuen den Namen
Kreuzstein sowie gelegentlich eine abergläubische Benutzung zu
Amuletten veranlaßt hat. S. ist rötlich- bis
schwärzlichbraun, selten etwas durchscheinend, gewöhnlich
undurchsichtig, glasglänzend, Härte 7-7,5, spez. Gew.
3,34-3,77. Er enthält zahlreiche mikroskopische
Einschlüsse (Quarz, Granat, Glimmer etc.); seine
Zusammensetzung entspricht am wahrscheinlichsten der Formel
H2R3(Al2)6Si6O34, worin R vorwaltend Eisen in der Form des
Öxyduls neben Magnesium ist. S. findet sich eingewachsen in
Thon- und Glimmerschiefer (namentlich in Paragonitschiefer) am St.
Gotthard, häufig mit Disthen gesetzmäßig
verwachsen, in Tirol, Mähren, Steiermark, im Departement
Finistere, bei Santiago de Compostela und in Nordamerika.

Staurophör (griech.), Kreuzträger.

Stauroskop (griech.), ein von Kobell angegebener
einfacher Polarisationsapparat zur Beobachtung der Farbenringe und
dunkeln Büschel in Kristallplatten.

Stauung, s. Stauen.

Stauungspapille, ein durch v. Gräfe in die
Augenheilkunde eingeführter Begriff, welcher besagt, daß
die Eintrittsstelle des Sehnervs in die Netzhaut von sehr
zahlreichen, strotzend gefüllten Venenästchen durchzogen
wird. Ob diese Stauung eine rein mechanische oder zugleich der
Ausdruck einer Entzündung des Sehnervs (Neuroretinitis) ist,
scheint noch zweifelhaft; dagegen ist die S. ein sehr wertvolles
Symptom, welches auf eine Steigerung des Druckes in der
Schädelkapsel, namentlich auf Geschwulstbildungen im Gehirn,
schließen läßt.

Stavanger, Hauptstadt des gleichnamigen Amtes, welches
9279 qkm (168,5QM.) mit (1876) 110,965 Einw. umfaßt, im
südwestlichen Norwegen, am Buknfjord, durch Eisenbahn mit
Egersund verbunden, ist auf felsigem Boden nach wiederholten
Feuersbrünsten ganz modern aus Holz erbaut, hat eine Domkirche
(im 12. und 13. Jahrh. im alten normännischen Stil erbaut,
1866 im Innern restauriert), eine Lateinschule, ein kleines Museum,
2 Häfen und (1885) 22,634 Einw., welche vornehmlich Schiffahrt
und Handel mit den Produkten der Fischerei betreiben. Die Stadt
besaß 1885: 285 Segelschiffe von 91,851 Ton. und 40
Dampfschiffe von 12,792 T. S. ist Sitz eines deutschen Konsuls. S.,
eine alte, aber erst im 18. Jahrh. wieder emporgekommene Stadt, war
bis 1685 Bischoffitz.

Stavelot (Stablo), Stadt in der belg. Provinz
Lüttich, Arrondissement Verviers, an der Ambleve und der
Staatsbahnlinie Gouvy-Pepinster, hat eine höhere Knabenschule,
Gerberei, Wollmanufakturen und (1887) 4452 Einw. - S. war bis 1801
die Hauptstadt des deutschen Reichsfürstentums S., dessen
Oberhaupt der jeweilige gefürstete Abt des 648 vom
austrafischen König Sigebert gegründeten
Benediktinerstifts S. war. Ein Leben des Abts Poppo (1020-48) von
Everhelm ist erhalten. Wichtig ist der Streit des Klosters gegen
den Erzbischof Anno von Köln um das Kloster Malmedy, in
welchem Anno 1071 unterlag. Von der Abteikirche ist nur noch ein
Teil des Turms vorhanden. In der Stadtkirche befindet sich der
kostbare Schrein des heil. Remaclus.

Stavenhagen, Stadt im Großherzogtum
Mecklenburg-Schwerin, Herzogtum Güstrow, an der Linie
Lübeck-Mecklenburgisch-Preußische Grenze der
Mecklenburgischen Friedrich Franz-Bahn, hat eine evang. Kirche, ein
Schloß mit Park, ein Progymnasinm, ein Waisenhaus, ein
Amtsgericht, eine Zuckerfabrik, eine Dampfmolkerei, Dampfmahl- und
Sägemühlen, eine Spiegelrahmenfabrik, 2
Selterwasserfabriken, Bierbrauerei und (1885) 3023 Einw. S. ist
Geburtsort des Dichters Fritz Reuter, dem am Rathaus eine
Gedenktafel gewidmet ist.

Stavoren (Staveren), Stadt in der niederländ.
Provinz Friesland, an der Zuidersee, Endpunkt der Eisenbahn
Leeuwarden-Sneek-S., mit (1887) 877 Einw.; die älteste Stadt
Frieslands, ehemals groß und mächtig durch Handel und
Schiffahrt, jetzt infolge der Versandung des Hafens ganz
unbedeutend.

Stawell, Stadt in der britisch-austral. Kolonie Victoria,
durch Eisenbahn mit Melbourne verbunden, mit 5 Bankfilialen,
Theater und (1881) 7348 Einw. In der Nähe die Pleasant
Creek-Goldfelder mit 1150 Goldgräbern.

Stawropol, 1) Gouvernement der russ. Statthalterschaft
Kaukasien, an der Nordgrenze gegen Astrachan und das donische
Gebiet, 68,631 qkm (1246 QM.) groß mit (1885) 657,554 Einw.
(Russen, nomadisierenden Kalmücken, Truchmenen, Nogaiern,
Armeniern). Das Gouvernement enthält zum Teil reiches
Ackerland, so daß in jedem Jahr über 16,000 Arbeiter zum
Einheimsen der Ernte aus Rußland kommen müssen, teils
weite, an Salzseen reiche, aber an Trinkwasser arme Steppen, auf
denen Viehzucht getrieben wird. Waldmangel ist nicht nur in der
Steppe, sondern auch in den Berggegenden fühlbar. Die beiden
Hauptflüsse Manytsch und Kuma sind wasserarm und verlieren
sich in den Sand. Getreide, Leinsaat, Sonnenblumenkerne, Wolle,
Häute und Talg werden nach Rostow am Don ausgeführt. Der
südlichste Zipfel des Gouvernements wird von der Eisenbahn
Rostow Wladikawkas durchzogen. Die gleichnamige Hauptstadt, am
Flüßchen Taschla, in dürrer, baumloser Ebene, 611 m
ü. M. gelegen, mit (1885) 36,561 Einw. (Russen, Tataren,
Armeniern, Persern, Nogaiern, Grusiern u. a.), ist Sitz eines
Zivil- und Militärgouverneurs und des kaukasischen und
tschernomorskischen Bischofs, hat 13 griechisch-russ. Kirchen, eine
armenische und eine kath. Kirche, eine Moschee, Nonnenkloster,
geistliches Seminar, vorzügliche Mädchenschule,
öffentliche Bibliothek, Theater und zahlreiche Fabriken, deren
Thätigkeit ebenso wie der Handel beständig im Zunehmen
sind. Die Stadt hat durch ihre Lage an der aus Persien nach
Rußland führenden Karawanenstraße große
kommerzielle Bedeutung, auch für die asiatische Post ist S.
Station. -

2) Kreisstadt im russ. Gouvernement Samara, an der Wolga, 1738
gegründet, mit (1885) 4883 Einw., welche sich vorwiegend mit
Anbau von Getreide, Zwiebeln und Kartoffeln beschäftigen.

Stazione (ital.), Bahnhof.

Steamer (Steamboat, engl., spr. stihmer, stihmboht),
Dampfschiff.

Stearin (C18H35O2)C3H5 findet sich in den meisten Fetten
neben Palmitin und Olein, besonders reichlich im Hammeltalg. Um es
aus diesem zu gewinnen, schmelzt man denselben und mischt ihn mit
so viel Äther, daß er nach dem Erstarren Breikonsistenz
besitzt, preßt wiederholt und kristallisiert den
Rückstand aus Äther häufig um. Das S. bildet farb-,
geruch- und geschmacklose, perlmutterglänzende Schuppen, ist
löslich in siedendem Alkohol und Äther, sehr schwer in
kaltem Alkohol, nicht in Wasser, reagiert neutral, schmilzt bei
62-64°, erstarrt wachsartig und wird

251

Stearinsäure - Stechapfel.

durch Alkalien leicht verseift. Es besteht aus
Stearinsäuretriglycerid und kann direkt durch Erhitzen von
Stearinsäure mit Glycerin erhalten werden. Das S. des Handels
ist kein neutrales Fett, sondern ein aus solchem dargestelltes
Gemisch von Stearinsäure und Palmitinsäure.

Stearinsäure C18H36O2 findet sich, an Glycerin
gebunden, als Stearin (s. d.) in den meisten Fetten, namentlich in
den festen, aber fast immer neben Palmitin und Olein. Aus diesen
Fetten, besonders aus Talg und Palmöl, wird im großen
ein Gemisch von S. und Palmitinsäure dargestellt, welches
unter dem Namen Stearin in den Handel kommt. Stearin liefert 95,7
Proz. S., Palmitin 94,8 Proz. Palmitinsäure, Olein 90,3 Proz.
Olein- oder Ölsäure. Zur Gewinnung des
Fettsäuregemisches erhitzte man das Fett ursprünglich mit
Kalkmilch (aus 14 Proz. gebranntem Kalk), trennte die Kalkseife von
dem glycerinhaltigen Wasser und schied aus derselben durch
Schwefelsäure die fetten Säuren ab. Gegenwärtig
arbeitet man in verschlossenen Kesseln (Autoclaves) unter einem
Druck von 8-10 Atmosphären (bei 170°) und erreicht eine
ziemlich vollständige Verseifung durch Anwendung von nur 2-4
Proz. Kalk, so daß bei der weitern Verarbeitung an
Schwefelsäure bedeutend erspart wird. Unter einem Druck von
10-15 Atmosphären und bei einer Temperatur vom Schmelzpunkt
des Bleies werden die Fette auch durch reines Wasser ohne Anwendung
von Alkalien zersetzt, und wenn man sie bei 315° mit
überhitztem Wasserdampf in geeigneten Apparaten behandelt, so
destillieren die Fettsäuren und das Glycerin über,
während in dem Apparat ein brauner, pechartiger Rückstand
bleibt, den man auf Photogen und Anilin verarbeitet. Diese beiden
Methoden sind im großen Maßstab ausgeführt,
gegenwärtig aber durch die Verseifung mit Schwefelsäure
verdrängt worden. Letztere wendet man besonders auf solche
Fette an, welche wegen ihrer Beschaffenheit oder ihrer
Verunreinigungen nicht mit Kalk verseift werden können, wie
Palmöl, Kokosöl, Knochenfett, Abfälle aus
Schlächtereien, Küchen etc. Man erhitzt die
möglichst gereinigten Fette unter Umrühren mit 6-12 Proz.
konzentrierter Schwefelsäure durch Dampf auf 110-177°,
kocht noch 15-20 Stunden das Produkt mit Wasser, reinigt es durch
wiederholtes Waschen, entwässert es durch Erhitzen in flachen
Pfannen und unterwirft es, da es sehr dunkel gefärbt ist, auch
unzersetztes Fett enthält, der Destillation durch
überhitzten Wasserdampf. Die Produkte, welche nach dieser
Methode erhalten werden, weichen in mancher Hinsicht von den durch
Kalkverseifung gewonnenen ab. Die Ausbeute beträgt bei
letzterer 45-48, bei der Schwefelsäureverseifung mit
Destillation 55-60 Proz. Kerzenmaterial. Das gewonnene Gemisch von
Fettsäuren läßt man in flachen Gefäßen
möglichst langsam grobkristallinisch bei 20-32° erstarren,
preßt unter starkem Druck zuerst kalt, dann bei 35-40°
die Ölsäure ab, aus welcher sich bei hinreichender
Abkühlung noch S. ausscheidet, die man auf
Zentrifugalmaschinen von der Ölsäure trennt, schmelzt und
kocht sämtliche S. mit stark verdünnter
Schwefelsäure und Wasser, klärt sie mit Eiweiß,
bleicht sie auch wohl durch Kochen mit schwacher
Oxalsäurelösung und gießt sie in Formen. Nach einer
neuern Methode erhitzt man das Fett mit 4-6 Proz.
Schwefelsäure etwa 2 Minuten auf 120° und kocht es dann
mit Wasser. Es findet vollständige Zersetzung statt, und von
der erhaltenen S. kann man 80 Proz. nach zweimaliger Pressung
direkt auf Kerzen verarbeiten, während nur der Rest von 20
Proz. zu destillieren ist. Nebenprodukte bei der
Stearinsäurefabrikation sind Glycerin und Ölsäure.
Letztere durch geeignete Prozesse in feste Fettsäuren
umzuwandeln (Ölsäure gibt mit schmelzenden Alkalien
Palmitinsäure und Essigsäure, mit salpetriger Säure
starre Elaidinsäure), ist bis jetzt in lohnender Weise noch
nicht gelungen. Reine S. erhält man aus Seife, wenn man diese
in 6 Teilen Wasser löst, 40-50 Teile kaltes Wasser zusetzt,
das ausgeschiedene Gemenge von saurem stearinsaurem und
palmitinsaurem Natron durch Umkristallisieren aus heißem
Alkohol trennt, das schwer lösliche Stearinsäuresalz mit
Salzsäure zersetzt und die S. aus Alkohol umkristallisiert.
Sie bildet farb- und geruchlose, silberglänzende
Kristallblättchen, ist leicht löslich in Alkohol und
Äther, nicht in Wasser, reagiert sauer, schmilzt unter starker
Volumvergrößerung bei 69° und erstarrt
schuppig-kristallinisch, ist in kleinen Quantitäten bei
vorsichtigem Erhitzen destillierbar, leichter im Vakuum und mit
überhitztem Wasserdampf. Von ihren Salzen sind die der
Alkalien in Wasser löslich, werden aber durch viel Wasser
zersetzt, indem sich unlösliche saure Salze ausscheiden und
basische gelöst bleiben. In Kochsalzlösung sind auch die
Alkalisalze der S. unlöslich. Die übrigen Salze sind
unlöslich; erstere finden sich in der Seife, stearinsaures
Bleioxyd im Bleipflaster. Beim Zusammenschmelzen von S. mit
Palmitinsäure wird der Schmelzpunkt des Gemisches selbst unter
den der Palmitinsäure herabgedrückt. Das
fabrikmäßig dargestellte Gemisch von S. und
Palmitinsäure wird auf Kerzen verarbeitet und zum Enkaustieren
von Gipsabgüssen benutzt.

Ein Patent auf Darstellung von Kerzen aus S. und
Palmitinsäure nahmen zuerst Gay-Lussac, Ehevreul und
Cambacères 1825, doch wurde erst de Milly Begründer der
Stearinindustrie, indem er 1831 die Kalkverseifung einführte
und 1834 auch die Verseifung mit wenig Kalk andeutete und 1855
vervollkommte. 1854 gelangten Tilghman und Melsens unabhängig
voneinander zu der Zersetzung der Fette durch überhitztes
Wasser, und Wright und Fouché konstruierten Apparate
für diese Methode, welche indes, wie auch die mit einer
Destillation verbundene Behandlung der Fette mit überhitztem
Wasserdampf, nur vorübergehende Bedeutung errang. Anfang der
40er Jahre begründeten Jones, Wilson, Gwynne die Methode,
welche auf der schon 1777 von Achard beobachteten Zersetzung der
Fette durch Schwefelsäure beruht und in neuerer Zeit
allgemeine Verbreitung gefunden hat.

Stearoptene, s. Ätherische Ole.

Steatit, s. Speckstein.

Steatom (griech.), veralteter Name krankhafter
Geschwülste von festerer Konsistenz.

Steatopygie (griech.), übermäßige
Fettanhäufung am Gesäß der Hottentotinnen, s.
Hottentoten.

Steatórnis, s. Guacharo.

Steatose (griech.), krankhafte Fettbildung.

Steben (Untersteben), Dorf und Badeort im bayr.
Regierungsbezirk Oberfranken, Bezirksamt Naila, im Frankenwald und
an der Linie Hof-S. der Bayrischen Staatsbahn, 580 m ü. M.,
hat eine evangelische und eine kath. Kirche, ein Forstamt, 5
Stahlquellen und ein Moorbad, die bei Blutarmut, Bleichsucht,
Skrofulose, Rheumatismus, Gicht etc. angewendet werden, und (1885)
772 meist evang. Einwohner. Vgl. Klinger, Bad S. (2. Aufl., Hof
1875).

Stecchetti (spr. stecketti), Lorenzo, Pseudonym des ital.
Dichters Olindo Guerrini (s. d.).

Stechapfel, Pflanzengattung, s. Datura.

252

Stechbeeren - Stecknitz.

Stechbeeren, s. Daphne und Rhamnus.

Stechbeitel, s. Beitel.

Stechbüttel, s. v. w. Stichling.

Stechdorn, s. v. w. Schlehendorn (s. Pflaumenbaum, S.
970); s. v. w. Ilexaquifolium; s. v. w. Rhamnus cathartica.

Stecheiche, s. v. w. Stechpalme, Hex aquifolium.

Stechen, in der Jägerei das Auswerfen kleiner
Vertiefungen im Boden durch den Dachs und den Fuchs beim Aufsuchen
von Insektenlarven, auch das Einbohren des Schnabels (Stechers) der
Schnepfen in den Boden zum Fang von Regenwürmern sowie das
Aufeinanderstoßen der Männchen und Weibchen zur Paarzeit
in der Luft, besonders der Schnepfen zur Strichzeit; endlich das
Spannen des Stechschlosses an einer Büchse durch den Druck am
Stecher.

Stechente, s. Lumme.

Stecher, in der Orgel dünne, aber feste Stäbe,
die unter den Tasten der Klaviatur angebracht sind und, durch diese
herabgedrückt, den weitern Mechanismus in Bewegung setzen.
Vgl. Abstrakten.

Stechginster, s. v. w. Ulex europaeus.

Stechheber, eine weite, bisweilen an einer Stelle zu
einer Kugel oder in andrer Form erweiterte, auch konisch zulaufende
Glas- oder Metallröhre, deren obere Öffnung bequem durch
den aufgedrückten Finger geschlossen werden kann (s. Figur),
dient zum Herausheben von Flüssigkeit aus einem Faß od.
dgl. Der S. füllt sich beim Eintauchen in die Flüssigkeit
u. bleibt gefüllt, wenn man ihn mit verschlossener oberer
Öffnung herauszieht. Durch vorsichtiges Heben des
verschließenden Fingers kann man beliebige Quantitäten
der Flüssigkeit abfließen lassen. Vgl. Pipette.

Stechhelm, s. Helm, S. 364.

Stechpalme, s. v. w. Ilex aquifolium.

Stechwinde, Pflanzengattung, s. v. w. Smilax.

Steckbrief, öffentliches Ersuchen um Festnahme einer
zu verhaftenden Person, welche flüchtig ist oder sich
verborgen hält. Nach der deutschen Strafprozeßordnung
(§ 131) können Steckbriefe von dem Richter sowie von der
Staatsanwaltschaft erlassen werden. Ohne vorgängigen
Haftbefehl ist eine steckbriefliche Verfolgung nur statthaft, wenn
ein Festgenommener aus dem Gefängnis entweicht oder sonst sich
der Bewachung entzieht. In diesem Fall sind auch die
Polizeibehörden zum Erlaß des Steckbriefs befugt. Der S.
muß eine Beschreibung der Person des Verfolgten
(Signalement), soweit dies möglich, enthalten sowie die
demselben zur Last gelegte strafbare Handlung und das
Gefängnis bezeichnen, in welches die Ablieferung zu erfolgen
hat, wofern nicht wegen der Abholung des Festgenommenen eine
Nachricht erbeten wird. Ist ein S. unnötig geworden, so
erfolgt dessen Widerruf (Steckbriefserledigung) auf demselben Weg,
auf dem er erlassen ist.

Steckenknechte, bei den Landsknechten dem Profoß
beigegebene, zur Ausführung von Prügelstrafen "Stecken"
tragende Gehilfen.

Steckenkraut, s. Ferula.

Stecker, Anton, Afrikareisender, geb. 17. Jan. 1855 zu
Josephsthal bei Jungbunzlau in Böhmen, studierte zu Heidelberg
Naturwissenschaften und begleitete 1878 G. Rohlfs auf seiner
Expedition nach Kufra. 1879 nach Bengasi zurückgekehrt, ging
er im Auftrag der Afrikanischen Gesellschaft 1880 nach Tripolis und
von da mit Rohlfs nach Abessinien. Während Rohlfs nach Europa
zurückkehrte, nahm S. den Tsanasee kartographisch auf, kam
1881 nach Godscham, drang von da bis in die Gallaländer,
geriet aber in die Gefangenschaft des Königs Menelik von
Schoa. Auf Verwendung Antinoris freigegeben, nahm S. noch einige
Seen in Abessinien auf und kehrte 1883 nach Europa zurück. Er
starb 15. April 1888 in seinem Geburtsort an der
Lungenschwindsucht.

Steckling (Stopfer), ein beblätterter, halbreifer
oder junger Zweig einer Pflanze, den man in die Erde steckt, damit
er sich bewurzele und dann zu einer neuen, selbständigen
Pflanze sich entwickle. Man schneidet ihn dicht unter einem Auge
(bei Verbenen mit Beibehaltung eines Stückchens vom Stiel),
schneidet einige der untern Blätter ab und steckt ihn in Sand
oder Torfmull. Für die schwierigen Pflanzen oder für eine
Vermehrung in großartigem Maßstab hat man kalte,
halbwarme und warme Vermehrungshäuser und benutzt doppeltes
Glas, d. h. im Vermehrungshaus (auch Wohnzimmer) noch Glasscheiben
oder Glasglocken auf den Stecklingstöpfen oder Schalen;
gleichmäßige Feuchtigkeit und Beschattung gegen
brennende Sonnenstrahlen verhindern das Verwelken und Abtrocknen,
zeitweises Lüften des innern Glases das Faulen. Stecklinge von
Pflanzen mit starkem Saft oder Milchsaft steckt man in Sand mit
stehendem Wasser.

Steckkmuschel (Pinna L.), Gattung aus der Familie der
Miesmuscheln (Mytilidae), mit schiefdreieckigen, vorn spitzen,
hinten klaffenden, dünnen Schalen. Die Steckmuscheln stecken
mit dem spitzen Ende im Schlamm oder Sand und sind durch feine
Byssusfäden an der Umgebung befestigt. Die größte
Art ist die 70 cm lange schuppige S. (Pinna squamosa Gm.), im
Südlichen Ozean und im Mittelländischen Meer. Diese und
die nur 30 cm lange edle S. (P. nobilis L.), im
Mittelländischen und Atlantischen Meer, werden namentlich im
Busen von Tarent gefischt. Den 10-25 cm langen, goldbraunen Bart
verspinnt man mit Seide und fertigt feine und haltbare Handschuhe,
Geldbeutel etc. daraus (s. Byssus). Hin und wieder findet man
wertlose Perlen von brauner Farbe in ihr. Im Altertum fabelte man
von dem sogen. Muschelwächter (Pinnotheres), einem Krebs,
welcher seinen Wirt, die Pinna, vor Gefahren warnen, dafür
aber in ihr wohnen sollte. Die letztere Angabe ist richtig, die
erstere grundlos.

Stecknadeln, s. Nadeln.

Stecknetz (Doppelgarn), Netz zum Fang von
Rebhühnern, Fasanen und Wachteln, gewöhnlich 15 bis 16 m
lang und 35 cm hoch, welches aus zwei spiegelig gestrickten
Außengarnen und einem in der Mitte liegenden Innengarn mit
engern Maschen besteht. Wenn Hühner gesprengt sind und man
dieselben sich zusammenlocken hört, so stellt man zwischen
ihnen die Stecknetze mittels Stellstäbchen auf und lockt sie
dann mittels einer Hühnerlocke (s. d.) zusammen. Wenn sie
durch die Maschen des Außengarns durchkriechen, so bleiben
sie in dem faltigen (busigen) Innengarn hängen. In gleicher
Weise kann man auch die Steckgarne an das Ende nicht zu breiter
Kartoffelstücke und an Hecken stellen und die Hühner
hineintreiben. Der Fang mit diesen Garnen ist leicht, die
Hühner werden jedoch dabei gewöhnlich so beschädigt,
daß man sie nicht lebend aufbewahren kann. Über den Fang
der Wachteln im S. s. Wachtel.

Steckknitz, Fluß im Kreis Herzogtum Lauenburg der
preuß. Provinz Schleswig-Holstein, entspringt aus dem
Möllnsee und fließt in die Trave, ist kanalisiert und
mit der in die Elbe mündenden Delvenau in Verbindung gesetzt,
so daß nun die ganze (56 km lange) Schiffahrtsstrecke
zwischen der Elbe und Trave Stecknitzkanal heißt.

253

Steckrübe - Steen.

Steckrübe, s.Raps.

Stedingerland, fruchtbarer Landstrich in der oldenburg.
Wesermarsch, begreift im wesentlichen das heutige Amt Berne und ist
berühmt durch seine freiheitliebenden und tapfern Bewohner,
die Stedinger (Stettländer). In alten Zeiten umfaßte der
Stedinggau außer dem jetzigen S. die vormaligen vier
Marschvogteien Moorrieh, Oldenbrook, Strückhausen und
Hammelwarden, die Vogtei Wüstenlande (die Stedingerwüste
oder Wösting genannt), das jenseit der Weser gelegene
Osterstade und wahrscheinlich auch den damals schon vorhandenen
Teil des nachmaligen Vogteidistrikts Schwey. Das jetzige S. liegt
zwischen der Ochte, Weser und Hunte, wird von mehreren kleinen
Flüssen, der Berne, Hörspe und Ollen, durchströmt
und ist an zwei Seiten von der Geest umgeben. Der Boden, dessen
obere Lage von dem fetten Wasserschlamm gebildet worden, ist
fruchtbar und der Landstrich unter allen Marschdistrikten
Oldenburgs der gesündeste; wegen seiner niedrigen Lage bedarf
er aber der Eindeichung. - Als König Heinrich IV. 1062 das
linke Weserufer von der Mündung der Ochte bis zum
Butjadingerland dem Erzbischof von Bremen schenkte, siedelte dieser
Rüstringer und Holländer in dem durch Deiche dem
Fluß abgerungenen Gebiet an. Sie nannten sich Stedinger, d.h.
Uferbewohner. Ursprünglich zu Zehnten verpflichtet,
wußten sie sich bei der Schwäche mehrerer
Erzbischöfe allmählich jeder Zahlung zu entziehen und
wahrten ihre Grenzen ebenso energisch gegen die Grafen von
Oldenburg, deren Burgen Lichtenberg und Line sie 1187
zerstörten. Auch Erzbischof Hartwig II., dem der Papst schon
gestattete, einen Kreuzzug gegen die Stedinger zu predigen, konnte
sie nicht unterwerfen (1207). Einer seiner Nachfolger, Gerhard II.,
verklagte sie 1232 beim Papst Gregor IX. als Ketzer; die Folge
waren Bann und Interdikt und ein neuer Kreuzzug, für dessen
Zustandekommen besonders Konrad von Marburg thätig war. Kaiser
Friedrich lI. ließ sich außerdem zur
Achtserklärung herbei. Bald ward unter Anführung des
Herzogs Heinrich von Brabant, der Grafen von Holland, von der Mark,
von Kleve und von Oldenburg ein Heer von 40,000 Mann gesammelt,
welches teils zu Land, teils auf der Weser 1234 gegen die bei
Oldenesch (Altenesch) 11,000 Mann stark in Schlachtordnung
stehenden Stedinger anrückte. Letztere wurden 27. Mai nach
tapferm Widerstand in die Flucht geschlagen. Tausende kamen um, und
gegen die Gefangenen ward schrecklich gewütet und das Land
verwüstet. Die Sieger teilten sich darauf in dasselbe, der
größte Teil fiel dem Erzbischof von Bremen und den
Grafen von Oldenburg zu; doch überließen diese das
Erworbene meist den Besiegten oder neuen Kolonisten wieder zu
Meierrecht. Erzbischof Nikolaus von Bremen (1422-35) sicherte die
Stellung der Stedinger durch ein besonderes Landrecht. Auf dem
Schlachtfeld von Altenesch wurde an der Stelle einer verfallenen
Kapelle 27. Mai 1834 ein Denkmal ("Stedingsehre") errichtet. Vgl.
Schumacher, Die Stedinger (Brem. 1865).

Steeden (Steeten), Dorf im preuß. Regierungsbezirk
Wiesbaden, Oberlahnkreis, an der Lahn, hat eine Dolomithöhle
mit zahlreichen Knochen vorweltlicher Tiere, Kalkbrennerei und
(1885) 645 Einw.

Steele, Stadt im preuß. Regierungsbezirk
Düsseldorf, Landkreis Essen, an der Ruhr, Knotenpunkt der
Linien Ruhrort-Holzwickede, Vohwinkel-S., S.-Witten und Heissen-S.
der Preußischen Staatsbahn, 69 m ü. M., hat ein
Amtsgericht, wichtigen Steinkohlenbergbau und (1885) 8237 meist
kath. Einwohner.

Steele (spr. stihl), Sir Richard, engl. Schriftsteller,
geb. 1671 zu Dublin, studierte in Oxford (Genosse Addisons), trat
dann als gemeiner Soldat in die Armee (was seine Enterbung zur
Folge hatte) und versuchte sich nebenbei als Schriftsteller. Mitten
in einem extravaganten Leben überraschte er die Welt durch den
moralischen Traktat "The christian hero"; ihm folgten einige
ebenfalls moralische Lustspiele. Als Herausgeber der "Gazette", des
offiziellen Regierungsorgans, hatte er den Vorteil, wichtige
Nachrichten aus sicherster Quelle verbreiten zu können, sah
sich aber bei ihrer Beurteilung durch manche Rücksichten
gehemmt. Er gab daher seit 1709 eine eigne, dreimal
wöchentlich erscheinende Zeitschrift: "The Tatler", heraus, in
der er "eine belehrende und zum Denken anregende Unterhaltung"
versprach. Der Inhalt war sehr vielseitig, der Beifall allgemein.
Die bedeutendsten Schriftsteller boten ihre Hilfe an, Addison wurde
der hervorragendste Mitarbeiter. Bald vergrößerte sich
das Unternehmen: seit 1711 erschien täglich "The Spectator",
der in einem novellistischen Rahmen Unterhaltungen über
litterarische, ästhetische, selten politische Dinge,
Erzählungen, moralische Betrachtungen brachte. Im J. 1713
löste "The Guardian" den "Spectator" ab, lenkte aber zu tief
in das politische Fahrwasser, um dauernd Erfolg zu haben, zumal S.
im whiggistischen Sinn wirkte, was sogar 1714 seinen
Ausschluß aus dem Parlament herbeiführte. Als bald
darauf mit der Thronbesteigung Georgs I. die Whigs ans Ruder
traten, kam S. wieder zu Ehren und erhielt die Stelle eines
Oberstallmeisters zu Hamptoncourt. Er starb 1. Sept. 1729. Seine
Lustspiele erschienen 1761, seine Briefe 1787. Vgl. Montgomery,
Memoirs of Sir R. S. (Lond. 1865, 2 Bde.); Dobson, R. S. (das.
1886).

Steen, Jan, holländ. Maler, geboren um 1626 zu
Leiden, war Schüler N. Knupfers zu Utrecht und soll sich dann
in Haarlem bei A. van Ostade, vielleicht auch nach Dirk Hals,
gebildet haben. 1648 ließ er sich in die Malergilde zu Leiden
aufnehmen, und 1649 verheiratete er sich im Haag, wo er bis 1653
thätig war. Von 1654 bis 1658 wohnte er wieder in Leiden, dann
bis 1669 in Haarlem, und 1672 erhielt er in Leiden die Erlaubnis,
eine Schenke zu halten. Er wurde daselbst 3. Febr. 1679 begraben.
S. ist der geistreichste und humorvollste der holländischen
Genremaler, der auch eine scharfe gesellschaftliche Satire nicht
scheut. Er malte biblische Darstellungen in sittenbildlicher,
bisweilen humoristischer Auffassung (Hauptwerke: Simson unter den
Philistern, in Antwerpen; Verstoßung der Hagar und Hochzeit
zu Kana, in Dresden), zumeist aber Szenen aus dem mittlern und
niedern Bürgerstand, in welchen er die größte
Feinheit und Mannigfaltigkeit der Charakteristik mit derbem,
ausgelassenem, oft groteskem Humor zu verbinden weiß. Er
liebt es, seinen figurenreichen Darstellungen oft eine moralische
Tendenz unterzulegen oder durch sie ein Sprichwort oder eine
allgemeine Wahrheit zu versinnlichen. Am besten ist er im
Reichsmuseum zu Amsterdam vertreten, wo sich ein St. Niklasfest,
der berühmte Papageienkäfig, die kranke Dame mit dem
Arzt, eine Tanzstunde und eine Darstellung des Sprichworts "Wie die
Alten sungen, so zwitschern die Jungen" befinden. Von seinen
übrigen Werken sind die hervorragendsten: die Menagerie und
die Lebensalter (im Haag), die Unterzeichnung des Ehekontrakts
(Braunschweig), das Bohnenfest (Kassel), der Streit beim Spiel und
der Wirtshausgarten (Berlin) und die Hochzeit (St. Petersburg). In
der koloristischen Durchführung seiner Bilder ist S.
ungleich.

254

Steenbergen - Steffeck.

Doch übertrifft er in seinen besten und sorgfältigsten
Arbeiten alle Zeitgenossen an geistreicher, fein zusammengestimmter
Färbung und meisterhafter Behandlung des Helldunkels. Vgl. T.
van Westrheene, J. S. (Haag 1856). - Sein Sohn Dirk soll sich als
Bildhauer bekannt gemacht haben.

Steenbergen, Stadt in der niederländ. Provinz
Nordbrabant, Bezirk Breda hat eine katholische und eine reform.
Kirche, einen Hafen, starke Krapp-, auch Garancinfabrikation und
(1887) 6790 Einw. S. war früher Festung.

Steendysser, s. Gräber, prähistorische.

Steenkerke (Steenkerque), Dorf in der belg. Provinz
Hennegau, Arrondissement Soignies, an der Naasee (zur Senne), mit
860 Einw., historisch denkwürdig durch den Sieg der Franzosen
unter dem Marschall von Luxemburg über Wilhelm III. von
England 3. Aug. 1692.

Steenstrup, Johann Japetus Smith, Zoolog und
Prähistoriker, geb. 8. März 1813 zu Vang in Norwegen, war
bis 1845 Lektor für Mineralogie in Sorö, dann Professor
der Zoologie und Direktor des zoologischen Museums in Kopenhagen,
privatisiert seit 1885. Von Bedeutung für die Tierkunde im
allgemeinen sind seine Arbeiten über das Vorkommen des
Hermaphroditismus in der Natur (Kopenh. 1846) und über den
Generationswechsel (das. 1842). Außerdem arbeitete er
über die Cephalopoden, über niedere Schmarotzerkrebse
(mit Lütken, Kopenh. 1861) und über die Wanderung der
Augen bei den Flundern (das. 1864). Lange Jahre widmete er sich
auch der Untersuchung der Torfmoore und der
Kjökkenmöddinger Dänemarks, bei denen er nicht nur
die damalige Tier- und Pflanzenwelt, sondern auch die Erzeugnisse
früherer Kultur berücksichtigte. - Sein Sohn Johannes,
geb. 5. Dez. 1844 in Sorö, seit 1877 Professor der nordischen
Altertumskunde in Kopenhagen, machte sich als Historiker bekannt
durch "Studien über Waldemars Erdebuch "(1873) und ein
größeres Werk über die Normannen (1876-86, 4
Bde.).

Steenwijck (spr. -weik). 1) Hendrik der ältere,
niederländ. Maler, geboren um 1550 zu Steenwijk im Kreis
Overyssel, kam früh nach Antwerpen, wo er Schüler von
Hans Fredeman de Vries wurde und 1577 in die Lukasgilde eintrat. Er
siedelte aber bald nach Frankfurt a. M. über, wo er um 1603
starb. S. war Architekturmaler und hat vorzugsweise das Innere
gotischer Kirchen und großer Säle in genauer, strenger
Zeichnung, aber mit harter Farbe dargestellt. Bilder von ihm
befinden sich in den Galerien von Wien, Petersburg, Stockholm,
Kassel u. a. D.

2) Hendrik der jüngere, Sohn des vorigen, ebenfalls
Architekturmaler, geboren um 1580 zu Frankfurt a. M., war
später in Antwerpen und London thätig und starb nach
1649. Er hat Kircheninterieurs, große Hallen und
Palasträume mit Staffage, aber auch die architektonischen
Hintergründe zu Bildnissen andrer Künstler gemalt. Seine
Bilder sind häufig (z. B. in Berlin, in der kaiserlichen
Galerie zu Wien, im Louvre zu Paris, in der Eremitage zu St.
Petersburg und in den Galerien zu Dresden und Kassel). Seine
malerische Behandlung ist freier und breiter als die des
Vaters.

Steenwijk (spr. -weik), Stadt in der niederländ.
Provinz Overyssel, Bezirk Zwolle, an der Steenwijker Aa und der
Bahnlinie Zwolle-Leeuwarden, Sitz eines Kantonalgerichts, mit
mehreren Kirchen, Ackerbau, lebhafter Industrie und Handel und
(1887) 5065 Einw. S. war früher Festung und ist namentlich
bekannt durch die Belagerung von 1580 und die Einnahme durch die
Spanier 1582. Nordwestlich davon der Flecken Steenwijkerwold, mit
Ackerbau, Viehzucht, Torfstich, starker Besenbinderei und (1887)
6045 Einw.

Steeple-chase (engl., spr. stihpl tsches',
"Kirchturmrennen"), ein Wettrennen, bei welchem man früher
einen Kirchturm oder einen ähnlichen hervorragenden Gegenstand
zum Ziel setzte und dann querfeldein über Hecken und
Zäune, durch Bäche und Flüsse hindurch auf denselben
zujagte. Gegenwärtig versteht man in Deutschland unter S. ein
Rennen mit Hindernissen, bei welchem die Reiter auf einer mit
Flaggen abgesteckten Bahn in unebenem Terrain verschiedene feste,
natürliche oder künstlich angelegte Hindernisse "nehmen"
müssen, um das Ziel zu erreichen.

Stefan, Joseph, Physiker, geb. 24. März 1835 zu St.
Peter bei Klagenfurt in Kärnten, studierte seit 1853 zu Wien,
habilitierte sich 1858 daselbst für mathematische Physik,
wurde 1863 Professor der Physik an der Universität und 1866
Direktor des physikalischen Instituts. 1875-85 war er Sekretär
der mathematisch-naturwissenschaftlichen Klasse der Akademie der
Wissenschaften in Wien, 1883 Präsident der internationalen
wissenschaftlichen Kommission der elektrischen Ausstellung und 1885
Präsident der internationalen Stimmtonkonferenz. Er arbeitete
über die Fortpflanzung des Schalles, über Polarisation,
Interferenz und Doppelbrechung des Lichts, über Diffusion und
Wärmeleitung der Gase, über die Abhängigkeit der
Wärmestrahlung von der Temperatur, über die
elektrodynamischen Erscheinungen und die Induktion.

Steffani, Agostino, Abbate, ital. Komponist, geb. 1655 zu
Castelfranco in Venetien, erhielt seine musikalische Ausbildung in
Venedig und München (bei Ercole Bernabei), wurde 1675 in
letzterer Stadt Organist, um 1681 Direktor der kurfürstlichen
Kammermusik und erhielt 1688 infolge seiner Oper "Servio Tullio"
die Kapellmeisterstelle am Hof zu Hannover, wo er die Musik zu
hoher Blüte brachte. Seine italienischen Opern, welche dort im
Garten zu Herrenhausen mit großem Glanz zur Aufführung
kamen, wurden auch ins Deutsche übersetzt und in den Jahren
1690-1700 auf dem Operntheater zu Hamburg gegeben. Bedeutender aber
als diese und seine kunstvollen Kirchenwerke sind seine zahlreichen
Kammerduette zu italienischen Texten, welche die größte
Kunst des Tonsatzes mit einer gesangreichen und ausdrucksvollen
Melodie vereinigen und als Muster ihrer Gattung gelten. Später
nahm mehr und mehr die Diplomatie sein Interesse in Anspruch.
Nachdem er seine Kapellmeisterstelle 1710 an Händel, mit dem
er befreundet war, abgetreten, wurde er vom Kurfürsten von der
Pfalz zum Geheimrat, vom Papst zum Protonotar und Bischof von Spiza
(in partibus) ernannt und widmete sich öffentlich nur noch
staatswissenschaftlichen und geistlichen Geschäften, die ihn
1729 auch noch einmal nach Italien führten. Er starb auf der
Reise 1730 in Frankfurt a. M. Von seinen wenigen im Druck
erschienenen Kompositionen nennen wir: "Psalmodia vespertina"
(für 8 Stimmen, 1674); "Sonate da camera a due violini, alto e
continuo" (1679); "Duetti da camera a soprano e contralto" (1683)
und "Janus quadrifons" (Motetten mit Basso continuo für 3
Stimmen, von denen jede beliebige weggelassen werden kann.

Steffeck, Karl, Maler, geb. 4. April 1818 zu Berlin, kam
1837 in das Atelier von Franz Krüger, später in das von
Karl Begas und ging 1839 nach Paris, wo er eine Zeitlang im Atelier
von Delaroche arbeitete, besonders aber nach Horace Vernet
studierte.

255

Steffenhagen - Steg

Von 1840 bis 1842 hielt er sich in Italien auf und malte nach
seiner Rückkehr meist Jagd- und Tierstücke, schwang sich
aber auch zu einem großen Geschichtsbild: Albrecht Achilles
im Kampf mit den Nürnbergern um eine Standarte, auf (1848, in
der Berliner Nationalgalerie), welches sowohl durch den Glanz des
Kolorits als durch die meisterhafte Darstellung der Pferde
ausgezeichnet war. In der Darstellung von Pferden in ruhiger
Stellung oder dramatischer Bewegung, aber auch andrer Tiere bewegte
sich fortan seine Hauptthätigkeit. Insbesondere bildete er das
Sportsbild und das Pferdeporträt zu großer
Virtuosität aus. Seine Hauptbilder dieser Gattung sind:
Pferdeschwemme, zwei Wachtelhunde um einen Sonnenschirm streitend
(1850, in der Berliner Nationalgalerie), der lauernde Fuchs,
Arbeitspferde (1860), Halali (1862), Pferdekoppel (1870),
Wochenvisite (1872), Wettrennen (1874), Zigeunerknabe durch einen
Wald reitend, die Stute mit dem toten Füllen. Daneben hat S.
auch zahlreiche Porträte, insbesondere Reiterbildnisse (Kaiser
Wilhelm I., Kronprinz Friedrich Wilhelm und v. Manteussel), und
einige Geschichtsbilder (König Wilhelm auf dem Schlachtfeld
von Königgrätz, im königlichen Schloß zu
Berlin; Übergabe des Briefs Napoleons III. an König
Wilhelm bei Sedan, im Zeughaus zu Berlin) gemalt. Seit dem Anfang
der 50er Jahre entfaltete S. eine umfangreiche Lehrthätigkeit.
1880 wurde er als Direktor der Kunstakademie nach Königsberg
berufen. Er hat auch lithographiert und radiert.

Steffenhagen, Emil Julius Hugo, Rechts- und
Literarhistoriker, geb. 23. Aug. 1838 zu Goldap in
Ostpreußen, studierte zu Königsberg die Rechte, wandte
sich aber bald vorzugsweise litterarwissenschaftlichen Studien zu
und habilitierte sich 1865 in der juristischen Fakultät als
Privatdozent. 1867 ging er nach Athen, um die dortige
Nationalbibliothek im Auftrag der Athener Universität neu zu
ordnen, folgte 1870 einem Ruf als Stadtbibliothekar nach Danzig,
erhielt 1871 eine Kustodenstelle an der Königsberger
Bibliothek, wurde 1872 als Bibliotheksekretär nach
Göttingen versetzt und übernahm 1875 die Leitung der
Universitätsbibliothek in Kiel. 1884 wurde er zum
Oberbibliothekar ernannt. Schon als Student veröffentlichte er
aus Königsberger Handschriften "Beiträge zu v. Savignys
Geschichte des römischen Rechts im Mittelalter" (Königsb.
1859, 2. Ausg. 1861) und den von ihm entdeckten Originaltext von
Johannes Faxiolus "De summaria cognitione" im "Jahrbuch des
gemeinen deutschen Rechts" (Bd. 3, 1859), welchen Arbeiten er 1861
den Katalog der juristischen, 1867 und 1872 den der historischen
sowie in Haupts "Zeitschrift für deutsches Altertum" (Bd. 13,
1867) die Beschreibung der altdeutschen Handschriften der
Königsberger Bibliotheken folgen ließ. Außer
Aufsätzen in verschiedenen Zeitschriften schrieb er noch: "De
inedito juris germanici monumento" (Königsb. 1863); "Die neun
Bücher Magdeburger Rechts" (das. 1865); "Deutsche
Rechtsquellen in Preußen" (Leipz. 1875). 1877 übertrug
ihm die Wiener Akademie der Wissenschaften die kritische
Bearbeitung der Sachsenspiegelglosse. Als Vorarbeit dazu erschien
von ihm in den Sitzungsberichten der Akademie "Die Entwickelung der
Landrechtsglosse des Sachsenspiegels" (Wien 1881-87, 9 Hefte). An
bibliothekwissenschaftlichen Schriften gab er heraus: "Die neue
Aufstellung der Universitätsbibliothek zu Kiel" (Kiel 1883);
"Die Klosterbibliothek zu Bordesholm und die Gottorfer Bibliothek"
(mit A. Wetzel, das. 1884); "Über Normalhöhen für
Büchergeschosse" (das. 1885); "Verzeichnis der laufenden
periodischen Schriften der Universitätsbibliothek Kiel" (das.
1887); "Die Ordnungsprinzipien der Universitätsbibliothek
Kiel" (Burg 1888).

Steffens, Henrich, Philosoph, Naturforscher und Dichter,
geb. 2. Mai 1773 zu Stavanger in Norwegen, widmete sich seit 1790
zu Kopenhagen naturwissenschaftlichen Studien, bereiste dann
Norwegen, eröffnete 1796 zu Kiel naturwissenschaftliche
Vorlesungen, wandte sich aber schon im folgenden Jahr nach Jena, wo
er ein Anhänger von Schillings Naturphilosophie wurde. 1800
ging er nach Freiberg, wo er Werners Gunst gewann und
"Geognostische geologische Aufsätze" (Hamb. 1810)
ausarbeitete, die er später in seinem "Handbuch der
Oryktognosie" (Berl. 1811-24, 4 Bde.) weiter ausführte. Nach
seiner Rückkehr nach Dänemark 1802 hielt er Vorlesungen
an der Kopenhagener Universität, ging aber 1804 als Professor
nach Halle, wo er die "Grundzüge der philosophischen
Naturwissenschaft" (Berl. 1806) herausgab, und 1811 nach Breslau.
1813 trat er in die Reihen der Freiwilligen ein und machte die
Freiheitskriege bis zur ersten Einnahme von Paris mit. Nach dem
Frieden kehrte er zu seinem akademischen Lehrerberuf nach Breslau
zurück, folgte 1831 einem Ruf an die Universität zu
Berlin und starb hier 13. Febr. 1845. S. war einer der
Hauptvertreter der spekulativen Richtung der Naturforschung,
beteiligte sich aber auch lebhaft an andern Fragen der Zeit, wie er
z. B. in Breslau in der sogen. "Turnfehde" mit seinen "Karikaturen"
(s. unten) und dem "Turnziel" (Bresl. 1818) entschieden gegen die
Turnsache Partei nahm und später eifrig die Sache der
Altlutheraner verfocht (vgl. seine Schrift "Wie ich wieder
Lutheraner wurde", das. 1831). Von seinen naturwissenschaftlichen
Arbeiten ist noch die "Anthropologie" (Bresl. 1824, 2 Bde.)
hervorzuheben, Zeitfragen hat er in religiös und politisch
mehr als konservativem Geist unter anderm in den Schriften:
"Karikaturen des Heiligsten" (Leipz. 1819-21, 2 Bde.), "Von der
falschen Theologie und dem wahren Glauben" (Bresl. 1824, neue Aufl.
1831) behandelt, neben welchen die "Christliche
Religionsphilosophie" (das. 1839, 2 Bde.) zu erwähnen ist. Von
seinen dichterischen Arbeiten (gesammelt als "Novellen", Bresl.
1837-38, 16 Bde.) sind besonders "Die Familien Walseth und Leith"
(1827, 5 Bde.), "Die vier Norweger" (1828, 6 Bde.) und "Malkolm"
(1831, 2 Bde.), Werke, die sich namentlich durch meisterhafte
Naturschilderungen aus seiner nordischen Heimat auszeichnen,
hervorzuheben. Eine Selbstbiographie schrieb er unter dem Titel:
"Was ich erlebte" (Bresl. 1840-45, 10 Bde.). Nach seinem Tod
erschienen "Nachgelassene Schriften" (Berl. 1846). Vgl. Tietzen,
Zur Erinnerung an S. (Leipz. 1871); Petersen, Henrik S. (deutsch
von Michelsen, Gotha 1884).

Steg, bei den Streichinstrumenten das zierlich
ausgeschnittene, aus festerm Holz gefertigte Holztäfelchen,
das zwischen den beiden Schalllöchern auf der Oberplatte
aufgestellt ist, und über das die Saiten gespannt sind. Der S.
steht mit seinen beiden Füßen fest auf der Oberplatte
auf; genau unter dem einen Fuß ist zwischen Ober- und
Unterplatte der Stimmstock (die Seele) eingeschoben, welcher ein
Nachgeben der Oberplatte verhindert und dem S. eine einseitige
feste Stütze gibt, die dem andern Fuß, sobald eine Saite
schwingt, eine kräftige stoßweise Übertragung der
Schwingungen auf die Oberplatte ermöglicht. Beim Klavier
heißt S. die parallel mit dem Anhängestock laufende
lange Leiste, die auf dem Re-

256

Steganographie - Steiermark.

sonanzboden aufliegt, und über welche die Saiten gespannt
sind. - An der ionischen Säule heißt S. der schmale
Streifen zwischen den Kannelüren.

Steganographie (griech.), Geheimschrift.

Steganopodes, s. v. w. Ruderfüßer, s.
Schwimmvögel.

Stege, Hauptstadt der dän. Insel Möen (s.
d.).

Steglitz, Dors im preuß. Regierungsbezirk Potsdam,
Kreis Teltow, an der Linie Berlin-Magdeburg der Preußischen
Staatsbahn und an der Dampfstraßenbahn S.-Schöneberg,
hat eine schöne gotische evang. Kirche, ein Progymnasium, eine
Blindenanstalt, ein Feierabendhaus für Lehrerinnen, ein
Denkmal des Prinzen Friedrich Karl (auf der Maihöhe),
bedeutende Gärtnerei, Seidenraupenzucht, Musterlandwirtschaft
und (1885) 8501 meist evang. Einwohner.

Stegreif, s. v. w. Steigbügel; Stegreifritter,
Raubritter. Aus dem S., eigentlich: ohne abzusteigen, dann s. v. w.
ohne Vorbereitung; daher Stegreifdichtung, s. v. w. Improvisation
(s. d.).

Stegreifkomödie, s. Commedia dell' arte.

Stehbolzen, Bolzen, gegen deren Ansätze
plattenförmige Körper gepreßt werden können,
so daß letztere durch die Bolzen in bestimmter Entfernung
voneinander festgehalten werden.

Stehendes Gut, s. Takelung.

Stehkolben (Kochflaschen), s. Kolben.

Stehlsucht (Kleptomanie), s. Geisteskrankheiten, S.
35.

Steichele, Anton, Erzbischof von München-Freising,
geb. 22. Jan. 1816 zu Wertingen in Schwaben, studierte in
München katholische Theologie, ward 1838 Kaplan, 1841 Domvikar
in Augsburg, 1844 geistlicher Rat u. Sekretär des Bischofs von
Augsburg, Peter v. Richarz, 1847 Domkapitular und 1873 Dompropst.
In fast klösterlicher Zurückgezogenheit lebend, widmete
sich S. ganz der Wissenschaft, namentlich der Kirchengeschichte;
für seine Verdienste um diese verlieh ihm die theologische
Fakultät in München 1870 die Doktorwürde. Seine
hauptsächlichsten Werke sind: "Friedrich, Graf von Zollern,
Bischof von Augsburg, und Johann Geiler von Kaisersberg. Mit
Briefen" (Augsb.1854); "Bischof Peter v. Richarz" (das. 1856); "Das
Bistum Augsburg, historisch und statistisch beschrieben" (das.
1861-87, Bd. 1-5). Durch seine Gelehrsamkeit, Frömmigkeit und
Milde für eine hohe kirchliche Würde besonders geeignet,
ward er 1878 vom König nach dem Tod Scherrs zum Erzbischof von
München-Freising ernannt.

Steier, Stadt, s. Steyr.

Steierdorf (ungar. Steierlak), Markt im ungar. Komitat
Krasso Szöreny, an der Flügelbahn Jassenova-S., mit
berühmtem Kohlen- und Eisensteinbergbau der
Österreich.-Ungarischen Staatsbahn und (1881) 9239 deutschen
Einwohnern. In der Nähe das Eisenwerk Anina und der
Bergwerksort Oravicza (s. d.).

Steiermark (hierzu Karte "Steiermark"), österreich.
Herzogtum, grenzt nördlich an Ober- und Niederösterreich,
östlich an Ungarn, westlich an Salzburg und Kärnten,
südlich an Krain und Kroatien und umfaßt 22,355 qkm
(405,99 QM.). Die Bodenbeschaffenheit veranlaßt eine
natürliche Einteilung des Landes in das Hochgebirgsland von
Obersteiermark, das fruchtbare Hügelland von Mittelsteiermark
und das von Slowenen bewohnte Bergland von Untersteiermark. Das
Land nimmt an allen Ketten der Ostalpen Anteil: am nördlichen
Gebirgszug durch die zu den Salzkammergutalpen gehörigen
Massivs des Dachsteins (2996 m), des Kammergebirges, des
Totengebirges, des Grimming (2346 m), des Pyrgas (2244 m) und des
Buchsteins (2224 m), alle nördlich von der Enns gelegen.
Südlich von dieser erheben sich zwischen Enns und Mur die
eigentlichen Steirischen Alpen, im westlichen Teil auch Niedere
Tauern genannt, mit dem Hochgolling (2863 m), im östlichen
Teil als Seckauer Alpen, welche noch weiter östlich in die
Steirisch-Österreichischen Alpen übergehen, mit den
Gruppen des Hochthor (2372 m), Hochschwab (2278 m) und Hochveitsch
(1982 m), woran sich endlich der Semmeringberg und -Paß
anschließen. Das Gebiet der S. zwischen der Mur und Drau wird
von den Kärntnerisch-Steirischen Alpen erfüllt mit dem
Eisenhut (2441 m) im äußersten Südwesten und dem
Zirbitzkogel (2397 m), südlich von Judenburg. Zwischen Lavant
und Mur befinden sich die Stainzer Alpen mit der Koralpe (2141 m),
deren östliche Fortsetzung, der Posruck und die weinreichen
Windischen Bühel, sich zwischen Mur und Drau herabsenkt.
Östlich von der Mur erheben sich die Fischbacher Alpen, welche
nördlich mit dem Wechsel (1738 m) dem Semmering
gegenübertreten, den Schöckel bei Graz (1446 m)
einschließen und nach O. gegen die Raab hin in das Steirische
Hügelland übergehen. Das Land in S. zwischen Drau und
Save endlich gehört den Karawanken und Steiner Alpen (Grintouz
2559 m, Oistriza 2350 m) mit deren östlichen Fortsetzungen,
dem Bachergebirge (1542 m), dem Bergland von Cilli und dem
Matzelgebirge an der kroatischen Grenze, an. Größere
Ebenen sind: das Grazer, Leibnitzer und Pettauer Feld. Die
wichtigsten Flüsse sind: die Drau, welcher die Mur (mit der
Mürz) zufließt, und die Save (mit dem Sann und der
Sotla). Minder wichtig, weil nicht schiffbar, sind: die Enns (mit
der Salza), die Raab (mit der Feistritz und Lasnitz) und die Traun,
die aus den Abflüssen der Seen des steirischen Salzkammerguts,
des Grundelsees, Altausseer Sees und Ödensees, entsteht.
Außer diesen gibt es in S. nur kleine Gebirgsseen, z. B. den
Leopoldsteiner See bei Eisenerz, den Erlassee an der
österreichischen Grenze. Das Klima ist nach der
Bodenbeschaffenheit verschieden, rauher im Hochgebirge (Aussee
+6° C.), günstiger im fruchtreichen Flachland (Cilli fast
+10° C.). Unter den zahlreich vorkommenden Mineralquellen sind
die Säuerlinge von Rohitsch und Gleichenberg, die Saline zu
Aussee, die indifferenten Thermen von Tüffer, Römerbad,
Neuhaus und Tobelbad sowie die Eisenquelle zu Einöd
hervorzuheben. Andre Kurorte sind: St. Radegund und Frohnleiten mit
Kaltwasserheilanstalten. S. zählte Ende 1869: 1,137,990, Ende
1880: 1,213,597 Einw., so daß sich die Bevölkerung im
Durchschnitt jährlich um 0,58 Proz. vermehrte und auf 1 qkm 54
Einw. kommen. Ende 1887 wurde sie auf 1,261,006 Seelen berechnet.
Der Nationalität nach sind 67 Proz. Deutsche und 33 Proz.
Slowenen (die Sprachgrenze läuft südlich von Eibiswald
nach Spielfeld an der Mur, dann längs derselben;
außerdem finden sich deutsche Sprachinseln im slowenischen
Gebiet), der Religion nach größtenteils Katholiken (nur
9221 Protestanten und 1782 Israeliten). Die produktive
Bodenfläche beträgt im ganzen 93 Proz.; von derselben
kommen auf Ackerland 20,26 Proz., auf Weinland 1,63, auf Wiesen
12,78, auf Weiden und Alpen 12,62, auf Wald 51,48 Proz., so
daß unter allen Kronländern Österreichs S.
verhältnismäßig das waldreichste ist. Die
fruchtbarsten Teile des Herzogtums sind die Thäler, besonders
das Mur- und das Mürzthal, und mit geringen Ausnahmen die
Ebenen. Hauptprodukte sind: Hafer (durchschnittlich 1,450,000 hl),
Mais (1,220,000 hl), Roggen

256a

Steiermark

257

Steiermark (geographisch - statistisch).

(1,000,000 hl) und Weizen (815,000 hl); ferner Buchweizen
(600,000 hl), Hirse, Kartoffeln (1,640,000 hl), Futterrüben
(3,150,000 metr. Ztr.), Kraut, Kürbisse, Klee, Heu; endlich
von Handelspflanzen Flachs (30,000 metr. Ztr.), Hanf, Hopfen und
Weberkarden. Die Obstkultur ist noch sehr vernachlässigt,
gutes Obst (Äpfel und Pfirsiche) kommt hauptsächlich nur
in der Gegend von Marburg vor. Die Weinkultur erstreckt sich von
Mittelsteiermark über das ganze Unterland (Zentralpunkte:
Luttenberg, Radkersburg, Gonobitz) und liefert gute Sorten
(durchschnittlich 375,000 hl). Von großer Bedeutung ist die
Viehzucht. In ausgedehnterm Maß wird die Pferdezucht nur in
einzelnen Hauptthälern, so im Ennsthal, betrieben, wo das
schwere norische Pferd zu Hause ist. Von Rinderrassen sind das
Pusterwalder und Mürzthaler Vieh in Obersteiermark, die
Mariahofer Rasse im mittlern und südlichen S. vertreten. Auf
niedriger Stufe steht die Schafzucht, wogegen Schweine sehr stark
gezüchtet werden. Geflügel kommt namentlich in den
slowenischen Teilen sehr häufig vor. Auch mit Seidenraupen
werden seit längerer Zeit Versuche gemacht. Nach der
Zählung von Ende 1880 betrug der Viehstand in S.: 61,338
Pferde, 663,173 Stück Rindvieh, 188,273 Schafe, 43,821 Ziegen
und 532,721 Schweine. Die Flüsse und Seen sind reich an
trefflichen Fischarten (Forellen, Saiblingen). Auf den Hochgebirgen
trifft man noch Gemsen; außerdem ist die Jagd von geringem
Belang.

Den größten Reichtum besitzt S. in seinen nutzbaren
Mineralien. 1887 waren 84 Bergbau- und 19 Hüttenunternehmungen
mit zusammen 12,719 Arbeitern im Betrieb; die Produktion ergab
einen Wert von 11,24 Mill. Gulden. Am wichtigsten ist die
Produktion von Roheisen, welche durch die ausgezeichnete
Qualität des Produkts Weltruf erlangt hat, quantitativ aber in
den letzten Jahren (wegen der durch die Konkurrenz andrer
Produktionsländer gedrückten Preise) erheblich
eingeschränkt worden ist. Es waren 1887 nur 8 Eisenerzbergbaue
im Betrieb, vor allen an dem berühmten Erzberg bei Eisenerz
(Produktion 3,7 Mill. metr. Ztr. Erz). Roheisen wurde von 16 Werken
mit 22 Hochöfen in einer Menge von 1,104,600 metr. Ztr.
produziert. Die größten Hüttenwerke sind zu Hieflau
und Eisenerz, Vordernberg, Trofaiach, Neuberg und Zeltweg.
Zunächst an Bedeutung steht der Braunkohlenbergbau im
Köflacher, Leoben-Fohnsdorfer und Trifailer Becken (55
Unternehmungen, 19 Mill. metr. Ztr. Kohlenförderung). Andre
Bergbau-, resp. Hüttenprodukte sind: Graphit (25,500 metr.
Ztr.), Zink (12,900 metr. Ztr.), in geringer Menge Silber, Blei und
Glätte, Manganerz und Schwefelkies; ferner Salz zu Aussee
(181,832 metr. Ztr.). Die industrielle Thätigkeit des Landes
besteht hauptsächlich in der Verarbeitung des Roheisens. Es
bestehen in Ober- und Mittelsteiermark zahlreiche, zum Teil
ausgedehnte Eisenguß- und Raffinierwerke, welche Schienen,
Wagenachsen, Ackergerät, Sägen, Bleche, Draht, Guß-
und Zementstahl etc. verfertigen. Sehr bedeutend sind ferner: die
Sensenindustrie (jährlich 3,7 Mill. Stück Sensen, Sicheln
etc.), die Erzeugung von Schmiedewaren, dann die Maschinenindustrie
(zu Graz). Außerdem bestehen Fabriken für Zement, Glas
(18), Papier, chemische Produkte (zu Hrastnigg), Kerzen und Seifen,
Tuch und Filz, Zündwaren, Schieß- und Sprengpulver,
Zuckerraffinerien, Kaffeesurrogatfabriken, Bierbrauereien (600,000
hl), Branntweinbrennereien, Schaumweinfabriken, Tabaksfabriken,
Baumwollspinnereien, Dampfsägen etc. Als Förderungsmittel
des Handels dienen vor allen die Eisenbahnen, die Ende 1887 in
einer Länge von 1046 km im Betrieb waren. Die
Hauptverkehrsader ist die Linie Wien-Triest der Südbahn, an
welche sich deren Seitenlinien, ferner die Staatsbahnlinie
Kleinreifling-St. Michael-Villach, die Graz-Köflacher
Eisenbahn und die Ungarische Westbahn anschließen. Andre
Kommunikationsmittel sind neben den Landstraßen die
Schiffahrtslinien der Drau, Mur und Save (zusammen 579 km).
Für die geistige Kultur sorgen: die Universität und die
technische Hochschule zu Graz, die Bergakademie zu Leoben, 2
theologische Lehranstalten; an Mittelschulen 5 Obergymnasien, ein
Untergymnasium, 2 Oberrealschulen, eine Unterrealschule, 2
Lehrerbildungsanstalten, eine solche Anstalt für Lehrerinnen,
ein Mädchenlyceum, 7 Handelslehranstalten, eine
Staatsgewerbeschule, 2 gewerbliche Fach- und 31
Fortbildungsschulen, eine Zeichenakademie, eine Ackerbauschule, 4
andre Schulen für Land- und Forstwirtschaft, eine Berg- und
Hüttenschule, 768 öffentliche Bürger- und
Volksschulen (mit 2883 Lehrpersonen und 150,435 schulbesuchenden
Kindern). In kirchlicher Beziehung hat das Land 2 katholische
Bistümer (Seckau und Lavant, mit dem Sitz in Graz und
Marburg). An der Spitze der Landesverwaltung steht die
Statthalterei zu Graz, der Hauptstadt von S. Andre Behörden
für S. sind: das 3. Korpskommando, ein Landwehrkommando, eine
Postdirektion, ein Oberlandesgericht (für S., Kärnten und
Krain), eine Finanzlandesdirektion etc. Der Landtag besteht aus 63
Mitgliedern und zwar den beiden Fürstbischöfen, dem
Universitätsrektor, 12 Abgeordneten des
Großgrundbesitzes, 19 Abgeordneten der Städte,
Märkte und Industrieorte, 6 Abgeordneten der beiden Handels-
und Gewerbekammern (Graz und Leoben) und 23 Vertretern der
Landgemeinden. Außerdem sind in den politischen Bezirken
eigne Bezirksvertretungen thätig. In den Reichsrat entsendet
S. 23 Abgeordnete. Das Wappen von S. s. auf Tafel
"Österreichisch-Ungarische Länderwappen". Die politische
Einteilung des Landes ist aus folgender Tabelle zu ersehen:

Bezirke Areal in QKilom. in Qmeilen Bevölkerung 1880

Bruck 2209 40,12 60101

Cilli 2002 36,36 124133

Cilli (Stadt) 2 0,04 5393

Feldbach 984 17,87 81770

Graz 1779 32,31 113328

Graz (Stadt) 22 0,40 97791

Gröbming 1914 34,76 28250

Hartberg 976 17,73 52542

Judenburg 1636 29,71 49544

Deutsch -Landsberg 794 14,42 49487

Leibnitz 730 13,26 64089

Leoben 1086 19,72 41492

Lietzen 1398 25,39 23738

Luttenberg 316 5,74 25615

Marburg 1176 21,35 85057

Marburg (Stadt) 9 0,16 17628

Murau 1388 25,21 27185

Pettau 992 18,01 81328

Radkersburg 457 8,30 38082

Rann 592 10,75 46695

Weiz 1076 19,54 59223

Windischgraz 817 14,84 41126

Zusammen: 22355 405,96 1213597

Vgl. Göth, Das Herzogtum S. (Wien 1840-43, 2 Bde.);
Hlubek, Ein treues Bild des Herzogtums S. (das. 1860); Stur,
Geologie der S. (das. 1871, mit Karte); Janisch,
Topographisch-statistisches

258

Steiermark - Steifensand.

Lexikon von S. (das. 1875-85, 3 Bde.); Frischauf,
Gebirgsführer durch S. (das. 1874); Rosegger, Das Volksleben
in S. (6. Aufl., Wien 1888); Jauker, Das Herzogtum S. (das. 1880);
"Spezial-Ortsrepertorium von S.", herausgegeben von der
statistischen Zentralkommission (das. 1883); Schlossar, Kultur- und
Sittenbilder aus S. (Graz 1885); Derselbe, Die Litteratur der S.
(das. 1886); Krauß, Die nordöstliche S. (das. 1888).

Geschichte.

Unter der Herrschaft der Römer, während welcher die
Kelten, darunter als Hauptstamm die Taurisker, das Land bewohnten,
gehörte der östliche Teil Steiermarks zu Pannonien, der
westliche zu Noricum. Während der Völkerwanderung
besetzten oder durchzogen Westgoten, Hunnen, Ostgoten, Rugier,
Langobarden, Franken und Avaren nacheinander das Land. Seit 595
nahmen Slawen (Winden, weshalb früher die Gegend die windische
Mark hieß) erst den untern Teil, nach Besiegung der Avaren
auch den obern Teil desselben in Besitz. Als ein Teil dieses
karentanischen Slawengebiets kam das Murland unter bayrische
Botmäßigkeit, dann unter karolingisch-fränkische
Herrschaft. Das Christentum verbreitete sich allmählich in
diesen Gegenden von Salzburg aus, das zum Metropolitansitz erhoben
wurde und seinen Sprengel auch über das spätere S.
ausdehnte. Unter Karls Nachfolgern hatte es durch feindliche
Einfälle, namentlich der Magyaren, sehr zu leiden. Den
beträchtlichsten Teil, gegen Westen und Norden, hatten die
Markgrafen von Karentanien (s. Kärnten), den Landstrich am
linken Ennsufer die Herzöge von Bayern inne. Im 11. Jahrh.
ward eine besondere Mark "Kärnten" vom Herzogtum Kärnten
abgezweigt und 1056 dem Grafen Ottokar von Steyr im Traungau, einem
Verwandten des Lambachschen Geschlechts, verliehen. Seitdem ward
der Name S. statt des frühern "Kärntner Mark"
üblich. Markgraf Ottokar VI. (VIII.), welcher von Kaiser
Friedrich I. die herzogliche Würde erhielt, schloß, da
er ohne männliche Erben war, 1186 mit dem Herzog Leopold V.
von Österreich einen Erbfolgevertrag, zufolge dessen der
letztere nach Ottokars Tod 1192 das Herzogtum S. mit seinen
Ländern vereinigte. Leopolds V. Söhne Friedrich und
Leopold VI. teilten sich 1194 in die Herrschaft von Österreich
und S., doch kam schon 1198 mit Friedrichs Tod beides wieder in
Leopolds Hand. Diesem folgte 1230 Friedrich der Streitbare. Da er
sehr willkürlich regierte, führten die Steiermärker
Klage bei dem Kaiser Friedrich II. und erhielten von demselben ihre
in Ottokars Testament erhaltenen Freiheiten von neuem
bestätigt. Dieser Freiheitsbrief und Ottokars Testament gaben
der steirischen Landhandfeste ihr Entstehen. Nach dem Tode des
letzten Babenbergers, Friedrichs des Streitbaren (1246), folgte das
für S. so verderbliche Zwischenreich, in welchem das
Herzogtum, obgleich eine Partei der Stände Heinrich von Bayern
1253 zum Herzog wählte, 1254 unter Vermittelung des Papstes
zwischen den Königen Ottokar II. von Böhmen und Bela IV.
von Ungarn geteilt wurde. Ottokar II. besiegte die Ungarn 1260 auf
dem Marchfeld und ward 1262 vom deutschen König Richard mit
Österreich und S. belehnt, aber 1276 vom König Rudolf von
Habsburg dieser Lehen verlustig erklärt, worauf letzterer
seinen ältesten Sohn, Albrecht I., als Statthalter 1282
gemeinsam mit dem jüngern Bruder, Rudolf, 1283 allein als
erblichen Landesherrn mit S. belehnte. Fortan blieb das Herzogtum
im Besitz des Hauses Habsburg. Bei der nach Rudolfs IV. Tod 1365
zwischen dessen Brüdern Albrecht III. und Leopold III.
vorgenommenen Teilung fiel S. mit Kärnten, Tirol etc. an den
letztern. Als dessen Söhne 1406 wiederum teilten, ward S.
Ernst dem Eisernen zugesprochen. Sein ältester Sohn und
Nachfolger (seit 1424) war der nachmalige Kaiser Friedrich III.,
der wiederum alle habsburgischen Lande vereinigte. Als 1456 die
gefürsteten Grafen von Cilli ausstarben, erwarb Friedrich auf
Grund früherer Verträge deren Besitzungen. Die Lehren der
deutschen Reformatoren fanden schon seit 1530 in S. Eingang, und
1547 beanspruchte der Landeshauptmann Freiherr Johann Ungnad auf
dem Reichstag zu Augsburg freie Religionsübung; doch konnte
dieselbe erst auf den Landtagen zu Bruck 1575 und 1578 dem Herzog
Karl II., dem jüngsten Sohn Kaiser Ferdinands I., welchem bei
der Länderteilung 1564 S., Kärnten und Krain zu teil
geworden waren, abgenötigt werden. Um die Verbreitung der
neuen Lehre zu hemmen, rief Herzog Karl 1570 die Jesuiten zu Hilfe
und stiftete 1586 die hohe Schule zu Graz. Sein Sohn Ferdinand II.,
der 1596 die Regierung übernahm, erklärte den
Freiheitsbrief seines Vaters Karl II. für aufgehoben und wies
1598 die protestantischen Lehrer und Prediger aus dem Land. Eine
hierauf eingesetzte katholische Gegenreformationskommission befahl
allen protestantischen Bürgern, entweder zur katholischen
Religion überzutreten, oder auszuwandern. Viele Protestanten
schwuren damals ihr Bekenntnis ab; eine bedeutende Zahl aber, meist
den reichsten und angesehensten Familien angehörig,
verließ die Heimat, und nur in den unzugänglichen Bergen
des obern S. erhielt sich im stillen in einzelnen Bauernfamilien
der evangelische Glaube, weshalb sich dort, nachdem Joseph II. 1781
Glaubensfreiheit proklamiert hatte, einige protestantische
Gemeinden konstituierten. Ferdinand II. erbte 1619 auch die
übrigen österreichischen Lande, und S. blieb seitdem ein
Teil derselben. Seit Karl VI. (1728) nahm kein Landesfürst
mehr die Huldigung an, und seit 1730 bestätigte keiner die
Landhandfeste mehr. Fortan teilte S. die Schicksale der
österreichischen Monarchie und blieb auch während der
Napoleonischen Kriege den Habsburgern erhalten. Seit dem
Wiedererwachen politischen Lebens in Österreich 1860 zeigte
sich der Landtag von S. verfassungstreu und freisinnig, erhob 1865
seine Stimme gegen die Sistierung der Verfassung und forderte 20.
Okt. 1869 die Aufhebung des Konkordats. Das agitatorische Auftreten
der Slawen in S., das seit 1880 von der Regierung begünstigt
wurde, bewirkte nun, daß das Deutschtum sich um so
kräftiger regte und die deutsch-nationale Partei in S. eine
Hauptstütze hatte. Vgl. A. J. Cäsar, Staats- und
Kirchengeschichte Steiermarks (Graz 1785-87, 7 Bde.); v. Muchar,
Geschichte des Herzogtums S. (das. 1844-67, 8 Bde., reicht bis
1566); Gebler, Geschichte des Herzogtums S. (das. 1862); Reichel,
Abriß der steirischen Landesgeschichte (2. Aufl., das. 1884);
"Mitteilungen des Historischen Vereins für S." (das. seit
1850); "Beiträge zur Kunde steiermärkischer
Geschichtsquellen" (das. 1864 ff.); Zahn, Urkundenbuch des
Herzogtums S. (das. 1875-79, 2 Bde.).

Steifensand, Xaver, Kupferstecher, geb. 1809 zu Kaster
(Regierungsbezirk Köln), bezog 1832 die Kunstakademie in
Düsseldorf und bildete sich, nachdem er den Stich der heil.
Katharina nach Raffael von Desnoyers in Linienmanier kopiert hatte,
unter Felsing in Darmstadt weiter aus. Nach seiner Rückkehr
nach Düsseldorf war sein erstes größeres Werk
(1844) der Stahlstich: das Gewitter, nach Jakob Becker für
den

259

Steigbügel - Stein.

Rheinischen Kunstverein, worauf eine Madonna mit dem schlafenden
Kind, nach Overbeck (1846), Friedrich II. mit seinem Kanzler Peter
de Vineis, nach Jul. Schrader (1847, Stahlstich), die
Gefangennehmung des Papstes Paschalis II. durch Heinrich V., nach
Lessing, und einige Porträte folgten. In den 50er Jahren
entstanden: Mirjam, nach Köhler; der Christusknabe, nach
Deger; die Christnacht, nach Mintrop, u. a. m. Nach Vollendung des
Stichs der Regina coeli, nach Karl Müller, begann er sein
größtes Werk, die Anbetung der Könige, nach Paul
Veronese (in Dresden), das, erst 1873 vollendet, ihm mehrere
Auszeichnungen eintrug. Er starb 6. Jan. 1876.

Steigbügel, metallener Halbring mit Platte (Sohle)
unter demselben, der an den Steigriemen, Strippen von starkem
Leder, zu beiden Seiten des Sattels herabhängt und zum
Einsetzen des Fußes beim Reiten dient. Bei den Türken
und mehreren asiatischen Völkern ist die Sohle so groß,
daß die ganze Fußsohle darauf ruhen kann, und ersetzt
mit ihren scharfen Ecken die Sporen. Die Alten kannten die S.
nicht, die erst zur Zeit Ottos I. aufgekommen zu sein scheinen. -
Auch heißt S. (stapes) eins der drei
Gehörknöchelchen (s. Ohr, S. 349).

Steigentesch, August Ernst, Freiherr von, Dichter und
Schriftsteller, geb. 12. Jan. 1774 zu Hildesheim als Sohn eines
kurmainzischen Kabinettsministers, trat frühzeitig in
österreichische Militärdienste und war eifrig als Soldat
und Diplomat, auch an der Seite des Generals Fürsten
Schwarzenberg, gegen Napoleon I. thätig. Er avancierte bis zum
Generalmajor und war bis 1820 österreichischer
Militärbevollmächtigter am Bundestag. Er starb 30. Dez.
1826 in Wien. Außer zahlreichen Lustspielen, in denen er die
kleinen Schwächen und Thorheiten der Menschen mit großer
Wahrheit schilderte, und die sich lange auf der Bühne
erhielten, veröffentlichte er auch Gedichte (4. Aufl., Darmst.
1823) und eine Reihe von Erzählungen. Seine "Gesammelten
Schriften" erschienen in 6 Bänden (Darmst. 1820).

Steiger, s. Bergleute.

Steigerschulen, s. Bergschulen.

Steigerung, in der Grammatik, s. Komparation.

Steigerwald, ein auf der fränk. Terrasse ziemlich
isoliert liegendes, nach W. sehr steil, nach O. ganz
allmählich abfallendes, mit reichen Nadelholzwaldungen
bedecktes Gebirge auf der Grenze zwischen den bayrischen
Regierungsbezirken Ober-, Mittel- und Unterfranken, in dem westlich
von Bamberg befindlichen Mainwinkel zwischen Eltmann, Kitzingen und
Uffenheim gelegen, bedeckt 440 qkm (8 QM.), erhebt sich in seinen
höchsten Spitzen, dem Frankenberg und Hohenlandsberg
(nördlich von Uffenheim), bis zu 512 und 505 m und gibt den
Flüssen Aurach und Ebrach den Ursprung. Auf der Westseite
bildet der Schwan- oder Schwabenberg (473 m) einen vorgeschobenen
Punkt.

Steigkunst, s. Fahrkunst.

Steigrad (Hemmungsrad), eine Art Sperrrad, welches in
regelmäßigen, durch die Pendelschwingungen bedingten
Zeiträumen arretiert wird.

Steigriemenlaufen, s. Spießrutenlaufen.

Steigrohr, ein Rohr, in welchem eine Flüssigkeit
durch Druck emporgetrieben wird.

Stein, im gewöhnlichen Leben jedes feste
anorganische Naturprodukt, welches aber ein Mineral oder ein
Gestein sein kann; in der Metallurgie s. v. w. Lech.

Stein (Konkrement), in der Medizin Ablagerungen,
bestehend aus anorganischen Massen, namentlich Kalksalzen der Oxal-
und Harnsäure und Cholesterin, welche sich in Hohlräumen
oder Flüssigkeit führenden Kanälen unter krankhaften
Verhältnissen bilden. Sie kommen vor in der Harnblase, in der
Gallenblase, in den Gallengängen, im Darm (Darm- oder
Kotsteine), in der Harnröhre, in der Vorsteherdrüse, in
den Nieren, den Bronchien, in den Speichelgängen u. a. O. Sie
entstehen entweder infolge von Katarrhen der betreffenden
Schleimhäute, oder infolge einer Veränderung der
Absonderung, oder als Niederschläge um von außen
eingedrungene Fremdkörper herum. Sie sind bisweilen sehr
klein, in der Harnblase des Menschen kommen aber Steine bis zu 500
g und darüber vor, im Darm von Pferden Kotsteine bis zu 5 kg.
Sie finden sich einzeln oder zu mehreren, in der menschlichen
Gallenblase bis zu 300; im letztern Fall schleifen sie sich
gegenseitig ab und gehen aus der meist rundlichen Form in
polygonale, facettierte Körper über. Sie hemmen die
Zirkulation der Sekrete und bedingen Katarrhe und
Verschwärungen, die meist unter den lebhaftesten Schmerzen in
sogen. Koliken verlaufen. Werden sie nicht aufgelöst oder
ausgestoßen, so werden sie nicht selten die Quelle
lebensgefährlicher Störungen und Veranlassung zu
eingreifenden Operationen.

Stein, Gewicht für Wolle, Flachs etc. in
Preußen, Sachsen, Österreich früher = 0,2 Ztr.; in
England (stone) à 14 Pfd. Avoirdupois = 6,350 kg; in den
Niederlanden früher = 3 kg; in Schweden = 13,602 kg.

Stein, 1) (S. am Rhein) Landstädtchen in einer
Parzelle des schweizer. Kantons Schaffhausen, am Ausfluß des
Rheins aus dem Untersee (Bodensee) und an der Bahnlinie
Singen-Winterthur, mit (1880) 1364 Einw. Das ehemalige Kloster St.
Georg mit gotischem Kreuzgang und einem durch Holzschnitzerei
reichverzierten Saal ist jetzt im Privatbesitz. Dabei das
Schloß Hohen-Klingen. Vgl. Ziegler, Geschichte der Stadt S.
(Schaffh. 1862); Vetter, Das St. Georgenkloster zu S. am Rhein
(Lindau 1884). -

2) Stadt in der niederösterreich. Bezirkshauptmannschaft
Krems, an der Donau, über welche eine Brücke nach dem
gegenüberliegenden Mautern führt, mit Krems durch eine
Häuserreihe ("Und" genannt) zusammenhängend, hat
Schloßruinen, ein Zellengefängnis, eine große
Tabaks- und eine Holzwarenfabrik, bildet einen wichtigen
Landungsplatz für die Donauschiffahrt und zählt (1880)
4069 Einw., welche hauptsächlich Weinbau betreiben. S. ist
Sitz einer Finanzbezirksdirektion. -

3) Stadt in Krain, am Feistritzfluß und an der Lokalbahn
Laibach-S., Sitz einer Bezirkshauptmannschaft und eines
Bezirksgerichts, hat eine Kaltwasserheilanstalt,
Franziskanerkloster, Schießpulverfabrik, Thonwaren- und
Zementfabrikation und (1880) 1963 Einw. Über der Stadt erhebt
sich die Ruine Kleinfeste. Dabei eine sehenswerte dreigeschossige
Kirche. S. bildet den Ausgangspunkt für die nördlich
gelegenen Steiner Alpen (s.d.). -

4) Dorf im bayr. Regierungsbezirk Mittelfranken, Bezirksamt
Nürnberg, an der Regnitz und der Linie
Krailsheim-Nürnberg-Furth i. W. der Bayrischen Staatsbahn, 298
m ü. M., hat eine evang. Kirche, ein Schloß, drei
Bleistiftfabriken (darunter die weltberühmte Fabersche Fabrik
mit 400 Arbeitern), eine Papierfabrik und (1885) 2054 Einw.

Stein, 1) Charlotte von, durch ihre Beziehung zu Goethe
der deutschen Literaturgeschichte angehörig, geb. 25. Dez.
1742 zu Weimar, Tochter des Hofmarschalls v. Schardt daselbst,
vermählte sich als Hofdame der Herzogin Amalia 1764 mit dem
herzoglichen Stallmeister Friedrich v. S. Eine schwärmerische
Verehrerin von Goethe, lernte sie denselben im

260

Stein (Freiherr vom und zum).

November 1775 zuerst persönlich kennen und wurde, wiewohl
fast sieben Jahre älter als er und bereits Mutter von sieben
Kindern, von ihm bald glühend geliebt. Die Innigkeit des
eigentümlichen Verhältnisses, das auf Goethes Leben und
Dichten von großem Einfluß war, litt später unter
Charlottens wachsenden Ansprüchen und endete nach Goethes
Rückkehr aus Italien (1788) mit einem gewaltsamen Bruch,
welcher sich in einer 1794 von Charlotte gedichteten Tragödie
"Dido" (hrsg. von Otto Volger, Leipz. 1867) in peinlicher Weise
kundgibt. Erst nach vielen Jahren gestaltete sich zwischen beiden
wieder ein gewisses Freundschaftsverhältnis, das bis zum Tode
der Frau v. S., die bereits 1793 Witwe geworden, dauerte. Sie starb
6. Jan. 1827 in Weimar. Charlottens schönstes Ehrendenkmal
bleiben "Goethes Briefe an Frau v. S. aus den Jahren 1776-1820"
(hrsg. von A. Schöll, Weim. 1848-51, 3 Bde.; 2.
vervollständigte Ausg. von Fielitz, Frankf. a. M. 1883-85, in
welcher auch "Dido" abgedruckt ist). Eine wertvolle Ergänzung
haben dieselben erhalten durch die von Goethe aus Italien an sie
gerichteten, aber von ihm für die Ausarbeitung seiner
"Italienischen Reise" zurückerbetenen Briefe, die, bisher im
Goetheschen Hausarchiv zu Weimar aufbewahrt, neuerdings durch die
Goethe-Gesellschaft (Weim. 1886) veröffentlicht wurden. Ihre
eignen Briefe an Goethe hatte Frau v. S. sich zurückgeben
lassen und kurz vor ihrem Tod verbrannt. Zahlreiche Briefe
derselben sind in dem Werk "Charlotte von Schiller und ihre
Freunde" (Bd. 2, Stuttg. 1862), enthalten. Gegen mancherlei
Anklagen, die neuerlich erhoben worden sind, rechtfertigt sie H.
Düntzer in "Charlotte v. S." (Stuttg. 1874). Vgl. auch dessen
"Charlotte v. S. und Corona Schröter" (Stuttg. 1876);
Höfer, Goethe und Charlotte v. S. (das. 1878).

2) Heinrich Friedrich Karl, Freiherr vom und zum, berühmter
deutscher Staatsmann, geb. 26. Okt. 1757 zu Nassau an der Lahn aus
einem alten reichsfreiherrlichen Geschlecht, Sohn des
kurmainzischen Geheimrats Philipp von S., widmete sich von 1773 bis
1777 in Göttingen dem Studium der Rechte und der
Staatswirtschaft, arbeitete ein Jahr beim Reichskammergericht in
Wetzlar, unternahm eine Reise durch einen Teil von Europa, trat
dann, entgegen den Traditionen seines Hauses, in den
preußischen Staatsdienst und erhielt 1780 eine Anstellung als
Bergrat zu Wetter in der Grafschaft Mark. Schon 1782 ward er zum
Oberbergrat befördert, und im Februar 1784 erhielt er die
Oberleitung der westfälischen Bergämter. 1793 erfolgte
seine Ernennung zum Kammerdirektor in Hamm, 1795 zum
Präsidenten der märkischen Kriegs- und Domänenkammer
und 1796 zum Oberpräsidenten aller westfälischen Kammern,
in welcher Stellung er sich die größten Verdienste
namentlich um den Chausseebau und die Forsten sowie um Hebung der
Gewerbthätigkeit und Belebung des Handels erwarb. Im Oktober
1804 als Minister des Accise-, Zoll-, Salz-, Fabrik- und
Kommerzialwesens nach Berlin in das Generaldirektorium berufen,
bewirkte er die Aufhebung sämtlicher binnenländischer
Zölle im Innern von Preußen, errichtete das Statistische
Büreau und schuf als Erleichterungsmittel für den Handel
und Verkehr Papiergeld. Vergeblich waren freilich seine
Anstrengungen, den König zu einer kräftigen,
würdigen Politik zu bewegen. Als er im Januar 1807 seinen
Eintritt in das neue Ministerium von der Umgestaltung der obersten
Verwaltungsstellen und insbesondere von der Beseitigung der
Kabinettsregierung abhängig machte, erhielt er vom König
in ungnädigster Weise den Abschied. Nach dem Tilsiter Frieden
(Juli 1807) berief ihn derselbe jedoch wieder zu sich, um ihm als
erstem Minister das große Werk der Neugestaltung des Staats
zu übertragen. Steins Plan war: das Volk wieder für die
Teilnahme am Staat und seinen Zwecken zu beleben und an der Leitung
desselben zu beteiligen, die bisher unterdrückten Stände
von den aus dem Mittelalter überkommenen Lasten und Fesseln zu
befreien und ein allgemeines freies Staatsbürgertum zu
gründen. Die Weise, wie er diese Reform anstrebte, zeugt
ebenso von seinem echt deutschen Geist wie von tiefer
staatsmännischer Einsicht. Im September 1807 übernahm er
sein neues Amt, und 9. Okt. erschien bereits das Edikt, den
erleichterten Besitz und den freien Gebrauch des Grundeigentums
sowie die persönlichen Verhältnisse des
Grundeigentümers betreffend. Ein andres Gesetz
überließ den Domanialbauern ihr Land zu
unumschränktem Grundeigentum. Seine Städteordnung vom 19.
Nov. 1808 bildet noch jetzt die Grundlage der
Rechtsverhältnisse der preußischen Städte. Damit
das so in seinen Verhältnissen und Rechten sittlich und
geistig gehobene Volk auch das Bewußtsein seiner Kraft und
Mut zur Abwerfung des Fremdenjochs gewinne, unternahm S. darauf mit
Scharnhorst die Herstellung einer volkstümlichen
Wehrverfassung. Aber kaum ein Jahr hatte S. als Minister gewaltet,
als er durch einen Machtbefehl Napoleons I., dem ein aufgefangener
Brief Steins an den Fürsten von Wittgenstein seine Hoffnung,
bald das französische Joch abzuschütteln, verraten hatte,
24. Nov. 1808 seinen Abschied zu nehmen und 16. Dez. förmlich
geächtet aus Preußen zu fliehen gezwungen wurde. Ehe er
sein Vaterland verließ, legte er die Grundsätze seiner
Staatsverwaltung in einem Sendschreiben an die oberste
Verwaltungsbehörde nieder, welches unter der Bezeichnung
"Steins politisches Testament" weltgeschichtliche Bedeutung
gewonnen hat. Von der westfälischen Regierung gerichtlich
verfolgt und seiner Güter beraubt, begab er sich nach
Österreich, wo er abwechselnd in Brünn, Troppau und
zuletzt dauernd in Prag lebte. Als zu befürchten stand,
daß seine Auslieferung gefordert werden möchte, folgte
er im Mai 1812 der Einladung des Kaisers Alexander I. nach
Petersburg. Auch von dort aus aber wußte er durch seinen
Einfluß auf den Kaiser sowie durch seine ausgedehnten
Korrespondenzen und die Bildung einer russisch-deutschen Legion die
spätere nationale Erhebung gegen Napoleon I. vorzubereiten.
Nach der Katastrophe von 1812 kehrte er mit dem Kaiser nach
Deutschland zurück und ward zum Vorsitzenden eines
russisch-preußischen Verwaltungsrats für die deutschen
Angelegenheiten ernannt, doch sah er sich in seiner Thätigkeit
in dieser Stellung vielfach beengt. Als nach dem Sieg bei Leipzig
21. Okt. 1813 eine Zentralkommission für die Verwaltung aller
durch die Truppen der Verbündeten besetzten Länder
angeordnet worden war, übernahm S. den Vorsitz in derselben
und erwarb sich trotz der ihm von den einzelnen Regierungen in den
Weg gelegten Hindernisse durch tüchtige Verwaltung im Innern
und Aufstellung zahlreicher Heerhaufen gegen den äußern
Feind hohe Verdienste um das Gesamtvaterland. Die Zentralverwaltung
folgte dem Heer der Verbündeten bis nach Paris. Von dort
kehrte S. im Juni 1814 nach Berlin zurück und begab sich im
September zum Kongreß nach Wien. Hier nahm er besonders an
den Verhandlungen über die deutsche Frage teil. Dann zog er
sich ins Privatleben zurück. Den Sommer brachte er meist auf
seinen Gütern in Nassau,

261

Stein - Steinach.

den Winter in Frankfurt a. M. zu, wo sich im Januar 1819 unter
seinem Vorsitz die Gesellschaft für Deutschlands ältere
Geschichte konstituierte. Ihr Werk ist die Herausgabe der
"Monumenta Germaniae historica" (s. d.), für welche S. selbst
viel sammelte. Mit der nassauischen Regierung in mancherlei
Mißhelligkeiten geraten, siedelte er später auf sein Gut
Kappenberg in Westfalen über. Nach der Einführung der
Provinzialstände in Preußen 1823 ward er für den
westfälischen Landtag zum Deputierten erwählt und vom
König zum Landtagsmarschall ernannt. Auch die Verhandlungen
der evangelischen Provinzialsynode Westfalens leitete er. 1827
ernannte ihn der König zum Mitglied des Staatsrats. S. starb
29. Juni 1831 in Kappenberg als der letzte seines Geschlechts, da
ihn von den Kindern, die ihm seine Gemahlin, Gräfin Wilhelmine
von Wallmoden-Gimborn, geboren, nur drei Töchter
überlebten. 1872 ward ihm auf der Burg Nassau (von Pfuhl),
1874 in Berlin (von Schievelbein und Hagen) ein Standbild
errichtet. Steins Denkschriften über deutsche Verfassungen
wurden von Pertz (Berl. 1848) herausgegeben, Steins Briefe an den
Freiherrn v. Gagern 1813-31 von diesem (Stuttg. 1833), sein
Tagebuch während des Wiener Kongresses von M. Lehmann (in
Sybels "Historischer Zeitschrift", Bd. 60). Vgl. Pertz, Das Leben
des Ministers Freiherrn vom S. (Berl. 1849-55, 6 Bde.); Derselbe,
Aus Steins Leben (das. 1856, 2 Bde.); Stern, S. und sein Zeitalter
(Leipz. 1855); Arndt, Meine Wanderungen und Wandelungen mit dem
Freiherrn vom S. (3. Aufl., Berl. 1869); M. Lehmann, S.,
Scharnhorst und Schön (Leipz. 1877); Seeley, Life and times of
S. (Cambr. 1878, 3 Bde.; deutsch, Gotha 1883-87, 3 Bde.) und die
kürzern Biographien von Reichenbach (Brem. 1880), Baur
(Karlsr. 1885).

3) Christian Gottfried Daniel, Geograph, geb. 14. Okt. 1771 zu
Leipzig, wo er studierte, wurde 1795 an das Gymnasium zum Grauen
Kloster in Berlin berufen, an welchem er bis zu seinem am 14. Juni
1830 erfolgten Tod wirkte. Von seinen zahlreichen Werken sind
besonders zu nennen sein mit Hörschelmann begründetes
"Handbuch der Geographie und Statistik" (Leipz. 1809, 3 Bde.;
neubearbeitet von Wappäus, Delitsch, Meinicke u. a., 7. Aufl.,
das. 1853-71, 4 Bde.); "Geographie für Schule und Haus" (27.
Aufl. von Wagner und Delitsch, das. 1877);
"Geographisch-statistisches Zeitungs-, Post- und Komptoirlexikon"
(2. Aufl., das. 1818-21, 4 Bde.; nebst zwei "Nachträgen", das.
1822-24); "Über den preußischen Staat nach seinem
Länder- und Volksbestand" (Berl. 1818); "Handbuch der
Geographie und Statistik des preußischen Staats" (das. 1819);
"Reisen nach den vorzüglichsten Hauptstädten von
Mitteleuropa" (Leipz. 1827-29, 7 Bde.). Sein "Neuer Atlas der
ganzen Erde" (Leipz. 1814) erlebte in der Bearbeitung durch
Ziegler, Lange u. a. eine 33. Auflage (28 Karten mit Tabellen etc.,
das. 1875).

4) Leopold, jüd. Theolog, geb. 5. Nov. 1810 zu Burgpreppach
(Bayern), bildete sich auf der Talmudschule in Fürth und den
Universitäten zu Erlangen und Würzburg, ward 1834
Rabbiner in Burgkundstadt, 1843 in Frankfurt a. M., wo er nach
Niederlegung des Rabbinats 1864-74 einer höhern
Töchterschule vorstand und 2. Dez. 1882 starb. Er war der
entschiedenste Vertreter der Reform des Judentums. Sein Hauptwerk
ist: "Die Schrift des Lebens. Inbegriff des gesamten Judentums in
Lehre, Gottesverehrung und Sittengesetz" (Mannh. 1868-77).
Außerdem gab er verschiedene Predigtsammlungen und
Zeitschriften ("Der israelitische Volkslehrer", 1851-60;
"Freitagabend", 1860, etc.), mehrere Dramen ("Die Hasmonäer",
Frankf. 1859; "Der Knabenraub von Carpentras", Berl. 1863, u. a.)
heraus. Sein "Gebetbuch" (Straßb. u. Mannh. 1880-82, 2 Bde.)
zeigt S. als formgewandten synagogalen Dichter.

5) Lorenz von, Staatsrechtslehrer und Nationalökonom, geb.
18. Nov. 1815 zu Eckernförde, studierte in Kiel und Jena
Philosophie und Rechtswissenschaft, habilitierte sich dann als
Privatdozent in Kiel und wurde 1846 Professor daselbst. Da er das
Recht der Herzogtümer gegen die dänische Regierung
verfocht und an der Schrift der neun Kieler Professoren über
diesen Gegenstand Anteil nahm, wurde er 1852 aus dem Staatsdienst
entlassen. Er folgte 1855 einem Ruf als Professor der
Staatswissenschaften an die Universität zu Wien, an welcher er
bis zu seiner 1885 erfolgten Pensionierung wirkte. Seine Schriften
sind sehr zahlreich; wir nennen: "Der Sozialismus und Kommunismus
des heutigen Frankreich" (Leipz. 1842, 2. Aufl. 1847); "Die
sozialistischen und kommunistischen Bewegungen seit der dritten
französischen Revolution" (Stuttg. 1818); "Geschichte der
sozialen Bewegung in Frankreich von 1789 bis auf unsre Tage"
(Leipz. 1850, 3 Bde.); "Geschichte des französischen
Strafrechts" (Bas. 1847); "Französische Staats- und
Rechtsgeschichte" (das. 1846-48, 3 Bde.); "System der
Staatswissenschaft" (Bd. 1: Statistik etc., das. 1852; Bd. 2:
Gesellschaftslehre, das. 1857); "Die neue Gestaltung der Geld- und
Kreditverhältnisse in Österreich" (Wien 1855); "Lehrbuch
der Volkswirtschaft" (das. 1858; 3. Aufl. als "Lehrbuch der
Nationalökonomie", 3. Aufl. 1887); "Lehrbuch der
Finanzwissenschaft" (Leipz. 1860; 5. Aufl. 1885-86, 4 Bde.); "Die
Lehre vom Heerwesen" (Stuttg. 1872). Sein bedeutendstes Werk ist
die "Verwaltungslehre" (Stuttg. 1865-84, 8 Bde.), eine umfassende,
nicht zum Abschluß gelangte Behandlung desjenigen
Gegenstandes, den man sonst als Polizeiwissenschaft zu behandeln
pflegt. Eine kompendiöse Zusammenfassung der ganzen
Wissenschaft ist das "Handbuch der Verwaltungslehre" (Stuttg. 1870;
3. Aufl. 1889, 3 Bde.). Außerdem schrieb er: "Zur
Eisenbahnrechtsbildung" (Wien 1872); "Die Frau auf dem Gebiet der
Nationalökonomie" (Stuttg. 1875, 6. Aufl. 1886); "Gegenwart
und Zukunft der Rechts- und Staatswissenschaft Deutschlands" (das.
1876); "Der Wucher und sein Recht" (Wien 1880); "Die drei Fragen
des Grundbesitzes und seiner Zukunft" (Stuttg. 1881). Das
Eigentümliche der Werke Steins besteht darin, daß er die
Hegelsche Dialektik auf das Gebiet der Volkswirtschaft und der
Staatswissenschaft anwandte, um an der Hand derselben die
Systematik dieser Wissenschaften zu verbessern. Doch hat er
darüber die Hinwendung auf das Geschichtliche nicht
vernachlässigt.

Steinach, 1) Marktflecken im meining. Kreise Sonneberg,
im freundlichen Thal der Steinach, eines Nebenflusses der Rodach,
an der Sekundärbahn Sonneberg-Lauscha (Werrabahn), hat ein
Amtsgericht, Amtseinnahme, Forstei, ein Schloß, Verfertigung
von Kisten, Schachteln, Schiefertafeln, Griffeln, Spielwaren etc.,
Wetzstein- und Schieferbrüche, Eisensteingruben, eine
Glashütte, Schneide- und Märmelmühlen, Bierbrauerei
und (1885) 4743 Einw. Aufwärts im Thal das
Eisenhüttenwerk Obersteinach. Am Fellberg, 3 km von S., die
ersten und lange Zeit einzigen bedeutenden
Griffelschieferbrüche in Deutschland. -

2) Marktflecken in Tirol, Bezirkshauptmannschaft Innsbruck, im
Wippthal, an der Mündung des Gschnitzthals und an der
Brennerbahn gelegen,

262

Steinalter - Steinberge.

beliebte Sommerfrische, hat eine Pfarrkirche mit guten
Gemälden, ein Bezirksgericht und (1880) 643 Einw.

Steinalter, s. Steinzeit.

Steinamanger (ungar. Szombathely), Stadt im ungar.
Komitat Eisenburg, Knotenpunkt der Österreichischen Süd-
und Ungarischen Westbahn und Sitz des Komitats, eines
römisch-katholischen Bischofs und eines Gerichtshofs, mit
bischöflichem Palais und Park, Franziskaner- und
Dominikanerkloster, schöner zweitürmiger Domkirche,
hübschem Komitatshaus und (1881) 10,820 Einw. S. hat eine
große Eisenbahnwerkstätte, eine Gasfabrik, ein
Obergymnasium, ein Seminar, eine theologische
Diözesanlehranstalt, ein Theater und ein archäologisches
Museum. S., das an der Stelle des römischen Savaria (s. d.)
steht, ist von Rebenhügeln umgeben und Fundort zahlreicher
römischer Altertümer.

Stein, armenischer, s. Lasurstein.

Steinau, 1) (S. an der Straße) Stadt im
preuß. Regierungsbezirk Kassel, Kreis Schlüchtern, an
der Kinzig und der Linie Frankfurt-Bebra-Göttingen der
Preußischen Staatsbahn, 169 m ü. M., hat 2 Kirchen, ein
Schloß, ein Amtsgericht, Zigarren-, Wagen- und
Steingutwarenfabrikation, eine Dampfmolkerei, eine Dampfziegelei,
Bierbrauerei und (1885) 2189 meist evang. Einwohner. -

2) Kreisstadt im preuß. Regierungsbezirk Breslau, an der
Oder und der Linie Breslau-Stettin der Preußischen
Staatsbahn, 97 m ü. M., hat eine evangelische und eine kath.
Kirche, ein Schullehrerseminar, 2 Krankenhäuser, ein
Amtsgericht, Fabrikation von Öfen, Thonwaren und Möbeln,
eine Maschinen- u. eine Schiffbauanstalt und (1885) 3636 meist
evang. Einwohner. S. erhielt 1215 deutsches Stadtrecht. Am 11. Okt.
1633 Sieg Wallensteins über die Schweden und Sachsen unter
Thurn, welcher sich mit 12,000 Mann ergeben mußte. Vgl.
Schubert, Geschichte der Stadt S. (Bresl. 1885).

Steinäxte, Steinmesser etc., s. Steinzeit.

Steinbach, Stadt im bad. Kreis Baden, an der Linie
Mannheim-Konstanz der Badischen Staatsbahn, 151 m ü. M., hat
eine kath. Kirche, eine Bezirksforstei, Essig- und
Mostrichfabrikation, bedeutenden Weinbau (Affenthaler) und (1885)
2055 meist kath. Einwohner. S. ist Geburtsort Erwins von S., dem
1844 auf einem nahen Hügel ein Denkmal errichtet ward.

Steinbach, s. Erwin von Steinbach.

Steinbach-Hallenberg, Flecken im preuß.
Regierungsbezirk Kassel, Kreis Schmalkalden, an der Schwarza und an
der Eisenbahn Zella-Schmalkalden, 438 m ü. M., hat eine
imposante Burgruine, ein Amtsgericht, eine Oberförsterei,
Fabrikation von Eisenkurzwaren, gedrechselten Holzwaren, mehrere
Eisenhämmer, Schneidemühlen, Braunsteingruben und (1885)
3116 evang. Einwohner.

Steinbearbeitung, s. Steine.

Steinbeere (Steinfrucht, Drupa), eine Art der
Schließfrüchte, von den Beeren dadurch unterschieden,
daß auf den saftigen Teil der Frucht nach innen eine
saftlose, meist harte Schicht (das Endokarp) folgt, welche in einer
einfachen oder mehrfächerigen Höhlung erst den
eigentlichen Samen einschließt und Steinkern oder Steinschale
(Putamen) genannt wird. Der Steinkern ist meist von holzartiger,
knochen- oder steinartiger Härte, wie beim Walnußbaum
und bei den Amygdalaceen, die deshalb auch Steinobstgehölze
heißen. Bei den Pomaceen ist dagegen der hier
mehrfächerige Steinkern mit wenigen Ausnahmen nur aus einer
dünnen, pergamentartigen Schicht gebildet. Das Fleisch der S.
ist entweder saftig, wie bei den meisten Amygdalaceen, oder
saftlos, wie bei der Mandel und Walnuß, oder trocken und
faserig, wie bei der Kokosnuß. Zusammengesetzte Steinbeeren
sind die Brombeeren und Himbeeren, indem hier die zahlreichen auf
dem Blütenboden sitzenden Steinfrüchtchen
zusammenhängen und als Ganzes sich ablösen.

Steinbeere, s. Paris und Vaccinium

Steinbeis, Ferdinand von, geb. 5. Mai 1807 zu
Ölbronn in Württemberg, erlernte seit 1821 zu
Wasseralfingen und Abtsgmünd den Berg- und Hüttenbetrieb,
studierte in Tübingen Mathematik und Naturwissenschaft und
trat 1827 in die Verwaltung des Staatseisenwerks Ludwigsthal ein.
1830 wurde er Betriebsdirektor der Hüttenwerke des
Fürsten zu Fürstenberg, folgte dann einem Ruf der
Gebrüder Stumm in Neunkirchen bei Saarbrücken zur
Betriebsleitung und zum Umbau ihrer Eisenwerke und führte den
in den Rheingegenden vergeblich versuchten Kokshochofenbetrieb mit
großen Vorteilen in der Materialersparnis und der
Qualität der Produkte ein. 1848 wurde er Mitglied der
neubegründeten Zentralstelle für Gewerbe und Handel in
Stuttgart, deren Präsidium ihm 1855 zufiel. Zu besonderm Ruf
gelangten das von ihm 1849 begonnene württembergische
Gewerbemuseum und der unter seiner Leitung entstandene, über
das ganze Land verbreitete Fortbildungsunterricht, welchem auch die
Frauenarbeitsschulen angehören. Nach dem im Gewerbemuseum
befolgten Plan, der 1851 durch die Ausstellung in London bekannter
wurde, legten die Engländer das Kensington-Museum (allerdings
mit viel bedeutendern Mitteln) an, welches wiederum das Vorbild
für derartige Museen in allen Industrieländern geworden
ist. 1848 wurde S. zu dem in Frankfurt a. M. thätigen
Ausschuß des Allgemeinen Deutschen Vereins zum Schutz der
vaterländischen Arbeit entsandt und unterstützte die
schutzzöllnerischen Bestrebungen desselben bis zur
Auflösung des Parlaments, während er seit 1862 mehr dem
Freihandel zuneigte. Von 185l an war S. als Kommissar und
Preisrichter auf fast allen Universalausstellungen thätig. In
dem seit 1849 von ihm redigierten "Gewerbeblatt" publizierte er
eine große Zahl technischer und volkswirtschaftlicher
Aufsätze. Außerdem schrieb er: "Die Elemente der
Gewerbebeförderung, nachgewiesen an der belgischen Industrie"
(Stuttg. 1853); "Entstehung und Entwickelung der gewerblichen
Fortbildungsschule in Württemberg" (das. 1872). Für seine
vielfachen Verdienste um die Industrie wurde S. der
persönliche Adel verliehen, und nach der Pariser
Industrieausstellung begründete eine große Anzahl
Industrieller eine S.-Stiftung zur Ausbildung u. Unterstützung
der gewerblichen Jugend. Seit 1880 lebt S. in Leipzig.

Steinbeißer, s. v. w. Kirschkernbeißer (s.
Kernbeißer) und Steinschmätzer.

Steinberge (Crannoges, Holzinseln), den schweizerischen
Pfahlbauten ähnliche, aus Erde und Steinen in Verbindung mit
Pfählen hergestellte vorgeschichtliche Konstruktionen in
Irland, besonders auf den durch die Gewässer des Shannon
gebildeten Inseln, die im Winter unter Wasser stehen. Lubbock ("Die
vorgeschichtliche Zeit", Jena 1874, Bd. 1, S. 174) gibt die
Abbildung eines Durchschnitts durch einen solchen Wasserbau.
Knochen von Haus- und Jagdtieren, Stein-, Knochen-, Bronze- und
Eisengeräte wurden auf den Steinbergen in großen Mengen
angetroffen. Die S. sind als Festungen und Zufluchtsorte der
kleinen irischen Häuptlinge noch im 16. Jahrh. bewohnt
gewesen. Vgl. Martin, The lake dwellings of Ireland (Dublin
1886).

263

Steinberger - Steinbrechmaschine.

Steinberger, Rheinweinsorte erster Güte, die am
Stein bei Hochheim (s. d.) erzeugt wird; s. Rheinweine.

Steinbock (Ibex Wagn.), Untergattung der Gattung Ziege
(Capra L.), durch die vorn abgeplatteten Hörner ohne Kiel mit
knotigen Querwülsten charakterisiert, umfaßt mehrere den
höchsten Gebirgen der Alten Welt angehörige Tiere,
über deren Artverschiedenheit nichts Sicheres bekannt ist. Man
kennt Steinböcke auf den europäischen Alpen, auf den
Pyrenäen (Bergbock) und andern spanischen Gebirgen, auf dem
Kaukasus, den Hochgebirgen Asiens, im Steinigen Arabien, in
Abessinien und auf dem Himalaja.

Der Alpensteinbock (Capra Ibex L.), 1,5-1,6 m lang, 80-85 cm
hoch, der Bock mit sehr starkem, 80-100 cm langem, bogen- oder
halbmondförmig schief nach rückwärts gebogenem
Gehörn, welches beim Weibchen bedeutend kleiner und mehr
hausziegenartig ist. Der Körper ist gedrungen und stark, der
Hals von mittlerer Länge, der Kopf
verhältnismäßig klein, aber an der Stirn stark
gewölbt; die Beine sind kräftig und von mittlerer
Höhe. Die Behaarung ist rauh und dicht, am Hinterkopf, Nacken
und Unterkiefer verlängert, im Sommer rötlichgrau, im
Winter fahl gelblichgrau. Längs der Mitte des Rückens
verläuft ein schwach abgesetzter, hellbrauner Streifen; Stirn,
Scheitel, Nase, Rücken und Kehle sind dunkelbraun; die Mitte
des Unterleibs ist weiß.

Der S. der Alpen ist wie die Steinböcke der andern
Hochgebirge und wie die Gemse ein wahres Alpentier; er lebt in
Rudeln von verschiedener Stärke und steigt nur dann in die
Waldregion herab, wenn die Alpenkräuter, seine Nahrung, vom
Schnee bedeckt sind. Alle seine Bewegungen sind rasch und leicht;
er klettert mit außerordentlicher Gewandtheit und weiß
an den steilsten Felsenwänden Fuß zu fassen, auch
springt er mit größter Sicherheit und verfehlt nie sein
Ziel. Mit Sonnenaufgang steigen sie weidend bergauf, lagern sich an
den wärmsten und höchsten Plätzen und kehren gegen
Abend weidend zurück, um die Nacht in den Wäldern weidend
zu verbringen. Die Brunstzeit fällt in den Januar, und
fünf Monate nach der Paarung wirft das Weibchen ein oder zwei
Junge, welche sie in der Gefahr tapfer verteidigt. Jung
eingefangene Steinböcke werden leicht zahm, doch bricht die
Wildheit im Alter wieder hervor. Während der S. in der Mammut-
und Renntierzeit durch die ganze Schweiz, einen Teil
Südfrankreichs und (wahrscheinlich) bis Belgien verbreitet
war, noch von Plinius kenntlich als Hochgebirgsstier erwähnt
wurde, auch im frühen Mittelalter bei den St. Galler
Mönchen als Wildbret beliebt war und noch von Albertus Magnus
zur Hohenstaufenzeit als häufig in den Deutschen Alpen
bezeichnet wurde, ist der Bestand desselben in den letzten
Jahrhunderten schnell zusammengeschmolzen; 1550 wurde der letzte in
Glarus, 1583 der letzte am Gotthard erlegt; 1574 war er in
Graubünden kaum noch aufzutreiben; 1706 verschwand er aus dem
Zillerthal, wo er über ein Jahrhundert von den
Erzbischöfen von Salzburg beschützt worden war, so
daß schon im vorigen Jahrhundert sein natürliches
Vorkommen auf die Hochgebirge des südlichen Wallis, Savoyens
und Piemonts sich beschränkte. Mehrfache Versuche, ihn an
einzelnen Stellen der Schweiz und den Österreichischen Alpen
wieder einzubürgern, haben keinen dauernden Erfolg gehabt, nur
im Höllensteingebirge am Traunsee soll sich eine Kolonie
erhalten und fortgepflanzt haben. Gegenwärtig findet sich nur
noch in den Thälern, welche vom Aostathal in
südwestlicher Richtung streichen, durch strengste
Maßregeln des Königs Viktor Emanuel geschützt, eine
Anzahl von 300 bis 500 Stück, die aber doch trotz allen
Schutzes an Terrain eher zu verlieren als zu gewinnen scheinen. Nur
einzelne alte Böcke finden sich oft weit versprengt bisweilen
noch in andern Gebieten. Im Aostathal legte der König auch ein
Gehege für Steinbockzucht an und erzielte durch eine
ausgewählte Ziegenart, welche in das Gebirge zu den wilden
Steinböcken getrieben wurde und von dort trächtig
zurückkehrte, eine Kolonie von Steinbockbastarden, welche nur
sehr gute Kenner von den echten Steinböcken zu unterscheiden
vermögen. Diese Steinbockbastarde haben 1 m lange Hörner
und sind zur Fortpflanzung durchaus geeignet. Beim Tode des
Königs kam der größte Teil des Bestandes von 52
Stück in das fürstlich Pleßsche Gehege in Salzau,
17 Stück aber wurden in Graubünden in Freiheit gesetzt,
um das Rätische Gebirge mit Steinwild zu bevölkern. Vgl.
Girtanner, Der Alpensteinbock (Trier 1878).

Steinbock, 1) das zehnte Zeichen des Tierkreises
(^[...]);

2) Sternbild zwischen 301-326½° Rektaszension und
9¾-28 1/3° südl. Deklination, nach Heis 63 dem
bloßen Auge sichtbare Sterne zählend, davon drei von
dritter Größe.

Steinborn, Pfarrdorf im preuß. Regierungsbezirk
Trier, Kreis Daun, in geognostisch merkwürdiger Gegend der
Eifel, hat (1885) 282 kath. Einwohner. Dabei der Felsberg,
Rimmerich, Errensberg und Scharteberg mit deutlich erkennbaren
Lavaströmen.

Steinbrand, s. Brandpilze II.

Steinbrech, Pflanzengattung, s. Saxifraga.

Steinbrechartige Pflanzen, s. Saxifragaceen.

Steinbrecher, s. Adler, S. 122.

Steinbrechmaschine, mechan. Vorrichtung zur Zerkleinerung
von Gesteinen, Erzen etc., welche vielfach an Stelle der sonst
üblichen Pochwerke und Walzen angewandt wird, besteht im
wesentlichen nach der Figur aus zwei im spitzen Winkel
gegeneinander gestellten eisernen Platten a c, zwischen welche die
zu zerbrechenden Steine geschüttet werden. Die eine Platte a
steht fest, die andre ist um Zapfen f beweglich und nähert
sich der feststehenden Platte durch die Wirkung eines Kniehebels g
h g', welcher sich gegen a' stützt, während die
Rückbewegung durch das Gewicht der Platte, unterstützt
durch eine Feder i, erfolgt. Bei dieser Rückbewegung findet
natürlich eine Erweiterung des Brechmauls r statt, welche dem
darin befindlichen Steinmaterial Gelegenheit gibt, tiefer zu
sinken, bis es wieder fest anliegt; die hierauf folgende
Verengerung wird sodann, wenn der Winkel zwischen beiden

264

Steinbruch - Steindienst.

Backen genügend klein gewählt ist, um ein Ausweichen
der Steine nach oben auszuschließen, die Zerdrückung zur
Folge haben. Bei rasch aufeinander folgender Wiederholung dieser
Schwingungen des Backens c, hervorgerufen durch das Exzenter k,
welches auf der Welle des Schwungrades l sitzt, werden sonach die
oben aufgegebenen großen Steine immer tiefer einsinken und
allmählich zu immer feinerm Korn zerdrückt. Die Maschine
arbeitet demnach kontinuierlich, indem regelmäßig oben
aufgegeben und unten abgezogen werden kann. Um die Maschine selbst
vor Abnutzung zu schützen und gleichzeitig die Form des
Backenquerschnitts für verschiedenes Material verschieden
wählen zu können, sind die Backen noch mit besondern
Druckplatten b d aus hart gegossenem Gußeisen von
wellenförmigem Querschnitt versehen, welche nach Bedarf
ausgewechselt oder erneuert werden können. Der Antrieb der
Maschine erfolgt durch Riemenscheibe von einem Dampf- oder
Wassermotor aus, und ein Schwungrad l dient zur Regulierung des
Widerstandes. Die S. von Blake zerkleinerte in der Stunde 200 Ztr.
harten, körnigen Granit zu brauchbarem Chausseematerial, wenn
die Betriebsarbeit 5 Pferdekräften entsprach.

Steinbruch (ungar. Köbánya), Ort bei Budapest
in Ungarn und Station der Österreichisch-Ungarischen sowie der
Ungarischen Staatsbahn, hat (1881) 8804 Einw., 2 große
Bierbrauereien, Schweinemastanstalten und 2 Hochreservoirs der
Budapester Wasserleitung und bildet den 10. Bezirk der ungarischen
Hauptstadt (s. Budapest, S. 588).

Steinbrüche, s. Steine.

Steinbrück, Eduard, Maler, geb. 3 Mai 1802 zu
Magdeburg, widmete sich in Berlin unter Wach der Kunst, ging 1829
nach Düsseldorf, dann nach Rom, lebte von 1830 bis 1833 wieder
in Berlin, darauf bis 1846 in Düsseldorf, seitdem abermals in
Berlin und zog sich im März 1876 nach Landeck in Schlesien
zurück, wo er 3. Febr. 1882 starb. Seine Bilder, deren Motive
meist der Sage und der Dichtung entnommen sind, tragen in der
empfindsamen Auffassung wie in dem zarten, weichen Kolorit das
Gepräge der Düsseldorfer Romantik. Die hervorragendsten
derselben sind: Genoveva, Rotkäppchen, Nymphe der Düssel,
Fischerfrau am Strand, Undine, die Magdeburger Jungfrauen, welche
sich während der Plünderung der Stadt 1631 von den
Wällen herabstürzen, und Maria bei den Elfen, nach Tiecks
Märchen (1840, in der Nationalgalerie zu Berlin).

Steinbühler Gelb, s. v. w. chromsaurer Baryt oder
chromsaurer Kalikalk, welcher aus Chlorcalciumlösung durch
chromsaures Kali gefällt wird und einen schön gelben
Farbstoff bildet.

Steinburg, Kreis in der preuß. Provinz
Schleswig-Holstein, benannt nach einer alten Burg, östlich von
Krempe, mit der Hauptstadt Itzehoe.

Steinbutt, s. Schollen.

Steinbutter, s. Bergbutter.

Steindattel (Lithodomus lithophagus Cuv.), Muschel aus
der Familie der Miesmuscheln (Mytilidae), lebt an den Ufern des
Mittelmeers in Felslöchern oder in Steinkorallen, in welche
sie sich auf noch nicht sicher ermittelte Weise einbohrt.
Wahrscheinlich sondert sie einen kalkauflösenden Saft ab, da
sie nicht wie die Bohrmuschel (s. d.) sich durch Feilen helfen
kann. Die Bohrlöcher sind innen völlig glatt. Besonders
interessant ist ihr Vorkommen in den Säulen des sogen.
Serapistempels von Pozzuoli bei Neapel. Sie nehmen dort eine scharf
begrenzte, etwa 2 m hohe Zone ein und beweisen so, daß der
Tempel nach seiner Erbauung eine geraume Zeit im Wasser gestanden
haben muß. Da er aber gegenwärtig wieder auf dem
Trocknen steht, so hat man darin wahrscheinlich ein Beispiel von
Senkung und Hebung des Meeresbodens in vulkanischer Gegend und zu
historischer Zeit (weiteres s. Hebung; vgl. indes Brauns, Das
Problem des Serapeums zu Pozzuoli, Halle 1888).

Stein der Weisen, s. Alchimie.

Steindienst (Steinkultus), die dem gesamten Heidentum der
Vorzeit und Jetztwelt eigentümliche Verehrung erwählter
Steine, sei es roher oder behauener, und zwar als Fetisch, Idol der
Gottheit oder als Opferstein. Die roheste und ursprünglichste
Form scheint diejenige zu sein, in welcher das Naturkind irgend
einen beliebigen Stein erwählt und zu seinem Fetisch macht.
Die Dakota Nordamerikas nehmen einen runden Kieselstein und bemalen
ihn, dann reden sie ihn Großvater an, bringen ihm Opfer und
bitten ihn, sie aus der Gefahr zu erretten. Ähnliches
beobachtete man in Südamerika, in der Südsee, an vielen
Orten Afrikas, Lapplands, Indiens etc. Bei den Kulturvölkern
der Alten Welt finden sich ähnliche Gebräuche, die aber
meist nur Meteorsteinen und prähistorischen Steinwaffen oder
Werkzeugen, die man für vom Himmel gefallene Waffen der
Götter, namentlich für Donnerkeile (Jupiter lapis-Kult),
hielt und vielfach als Amulette trug, dargebracht wurden, wobei man
bereits eine deutlichere Verknüpfung mit der
übersinnlichen Welt gewahrt. Die hochgefeierten Palladien der
Trojaner, Griechen und Römer waren meistens solche vom Himmel
herabgefallene Göttergeschenke, die namentlich im Kulte der
Kybele, Minerva und des Mars eine Rolle spielten. Anderseits
scheint bei einer etwas höher gestiegenen religiösen
Bildung eine Art von Vermählung der Gottheit mit einem
bestimmten ihr errichteten Altarstein, Opfertisch oder Idol
angenommen worden zu sein, sei es, daß man, wie im alten
Ägypten, meinte, die Gottheit nehme in dem Stein Wohnung, oder
auch, indem der Stein als uralte Opferstätte der Väter
den Nimbus des nationalen Allerheiligsten eines Volkes oder Stammes
erwarb. So wurden einfache Platten, Steinkegel, Opfertische etc. zu
dem Ursymbol der Nationalgottheit, dem man sich mit dem
höchsten religiösen Schauder näherte. Hierher
gehören: der schwarze Stein von Pessinus, das berühmte
konische Idol der Venus auf Cypern, der Stein, welcher bei den
böotischen Festen als Vertreter des typischen Eros die
höchsten Ehren genoß, der rohe Stein zu Hyettos, welcher
"nach alter Weise" den Herakles darstellte, die 30 Steine, welche
die Pharäaner in althergebrachter Weise an Stelle der
Götter verehrten, die rohen Steinaltäre zu Bethel,
Garizim und Jerusalem, der Steinkreis von Stonehenge (s. d.) als
vornehmstes Beispiel der unzähligen, über die ganze Alte
Welt verbreiteten Cromlechs (s.d.) etc. Tacitus sagt, wo er von der
Verehrung der paphischen Venus als Steinkegel spricht, die Ursache
ruhe im Dunkel (ratio in obscuro); allein wir werden kaum irre
gehen, wenn wir in ihnen Überbleibsel aus einer rohern
Urreligion suchen, die in dem philosophischer gewordenen Kultus
Aufnahme fanden, wie z. B. so vielfach Isisbilder in "schwarze
Madonnenbilder" umgewandelt worden sind. Durch die Beibehaltung des
alten Idols besiegelte die neue Religion ihren Frieden mit der
alten. Wir sehen ganz dasselbe bei dem heiligen Stein in der Kaaba
(s. d.) zu Mekka und an der heiligen Steinplatte in der Moschee
Omars zu Jerusalem, die eben uralte heilige Steine und
Opferstätten der Araber und Juden waren, vielleicht seit
Jahr-

265

Steindrossel - Steine, künstliche.

tausenden vor dem Auftreten Mohammeds. Aber gerade der mystische
Reiz, welcher in der Verehrung des rohen Naturidols liegt,
führte zu den tollsten Übertreibungen in dieser
Kultusform. Theophrast schildert im 4. Jahrh. v. Chr. den Typus des
abergläubischen Griechen, der immer sein Salbfläschchen
bei sich führt, um jedem heiligen Stein, dem er auf der
Straße begegnet, Öl aufzuträufeln, dann davor
niederzufallen und ihn anzubeten, ehe er seines Wegs weiter
schreitet. Die Kirchenväter (Arnobius, Tertullian u. a.)
machen sich lustig über diesen Gebrauch der Heiden, Steine zu
salben und anzubeten; aber sie vergessen, daß dies eine gut
biblische Sitte war, die auch Jakob, der Erzvater, bei jenem Stein
übte, der ihm als Kopfkissen gedient hatte. Noch Heliogabal
brachte das schwarze Steinidol des syrischen Sonnengottes unter
großer Feierlichkeit nach Rom und errichtete ihm einen durch
orientalische Pracht ausgezeichneten Dienst. Viele Forscher nehmen
an, daß die Menhirs, Bautasteine (s. d.) und megalithischen
Bauwerke, die sich in einer weiten Zone vom Westen Europas bis nach
Indien ziehen, ähnliche Idole eines besondern Steinvolkes
gewesen seien. Mehr an den reinen Fetischdienst erinnert die
besonders in Syrien und Phönikien heimisch gewesene Verehrung
kleiner Meteorsteine oder Bätylien (s. Bätylus); denn
diese Steine wurden speziell als Hausgötter etc. gebraucht,
und die Dioskuren, welche als die Nothelfer des Altertums galten,
wurden besonders häufig als Steine verehrt. Ähnliches
gilt von den Buddhasteinen in Indien. Vgl. v. Dalberg, Über
Meteorkultus der Alten (Heidelb. 1811); Tylor, Anfänge der
Kultur (deutsch, Leipz. 1873).

Steindrossel (Felsschmätzer, Monticola Boie),
Gattung aus der Ordnung der Sperlingsvögel, der Familie der
Drosseln (Turdidae) und der Unterfamilie der Steinschmätzer
(Saxicolinae), große, schlanke Vögel mit starkem,
pfriemenförmigem, gestrecktem, seicht gewölbtem Schnabel
mit überragender Spitze, langen Flügeln, in denen die
dritte Schwinge am längsten ist, kurzem, schwach ausgerandetem
Schwanz und mittelhohem, starkem, langzehigem Fuß mit
großen, merklich gebogenen Krallen. Der Steinrötel
(Steinmerle, Rotschwanz, M. saxatilis Cab.), 23 cm lang, 37 cm
breit, ist am Kopfe, Vorderhals, Nacken u. Bürzel blaugrau, am
Unterrücken weißblau, an der Unterseite und am Schwanz,
mit Ausnahme der beiden mittelsten dunkelgrauen Federn, rot, an den
Flügeln schwarzbraun; die Augen sind rotbraun, der Schnabel
schwarz, die Füße rötlichgrau. Er findet sich in
fast allen Gebirgen Südeuropas, brütet noch in
Österreich, am Rhein, ausnahmsweise in Böhmen, in der
Lausitz und am Harz, geht im Winter nach Nordafrika, bewohnt weite,
steinige Thalmulden, singt trefflich, nährt sich von Beeren
und Kerbtieren, nistet in Mauer- und Felsspalten, auch im
Gestrüpp und legt 4-6 blaugrüne Eier (s. Tafel "Eier I",
Fig. 59). Die Blaumerle (Blauamsel, Blaudrossel, Blauvogel,
einsamer Spatz, Einsiedler, M. cyana Cab.) ist 25 cm lang, 37 cm
breit, schieferblau, mit mattschwarzen Schwingen und Steuerfedern,
braunem Auge, schwarzem Schnabel und Fuß, bewohnt
Südeuropa, Nordafrika, Mittelasien, findet sich auch in den
südlichen Kronländern Österreichs, als Strichvogel
im Bayrischen Hochgebirge, lebt einsam in Einöden, singt sehr
angenehm, nistet in Felsspalten, auf Kirchtürmen etc. und legt
vier grünlichblaue, violett und rotbraun gefleckte Eier. In
Italien, Griechenland und auf Malta ist sie als Stubenvogel sehr
beliebt.

Steindruck, s. Lithographie.

Steine, linksseitiger Nebenfluß der Glatzer
Neiße, im preuß. Regierungsbezirk Breslau, entspringt
unfern Görbersdorf im Waldenburger Gebirge, fließt
südöstlich und mündet unterhalb Glatz; 55 km
lang.

Steine (Bausteine), Gesteine (s. d.) der verschiedensten
Art, welche zu Bauzwecken benutzt werden. Soweit sich dieselben
nicht als lose Trümmer in der Nähe größerer
Felsmassen, als Rollsteine, Geschiebe oder erratische Blöcke
vorfinden, werden sie an ihren natürlichen Fundorten
(Steinbrüchen) abgebaut oder gebrochen. Am häufigsten und
leichtesten gewinnt man die S. durch Tagebau; liegt das brauchbare
Gestein tief unter der Erdoberfläche, so wird die Gewinnung
durch Grubenbau betrieben. Zur Abtrennung der S. von ihren Lagern
dienen Brechstangen und Keile, und wo diese nicht ausreichen,
sprengt man mit Pulver oder Dynamit, während das früher
übliche Feuersetzen jetzt fast ganz aufgegeben ist. Beim
Sprengen werden Bohrmaschinen angewandt, und auch bei der
Ablösung der S. mittels der Keile benutzt man jetzt Maschinen,
wie in einem Steinbruch bei Marcoussis (Paris) einen auf Schienen
beweglichen Dampfhammer, der die S. absprengt und spaltet. Die aus
den Steinbrüchen gelieferten rohen S. werden zum Teil als
solche benutzt, meist aber zu Werkstücken, Schnittsteinen oder
Quadern verarbeitet. Seit dem Altertum wird diese Steinmetzarbeit
mit Hammer und sehr verschieden gestalteten Meißeln (Eisen)
ausgeführt, in neuerer Zeit aber sind immer mehr maschinelle
Vorrichtungen in Gebrauch gekommen, welche erfolgreich mit der
Handarbeit konkurrieren. Zum Zerschneiden der S. dienen
Steinsägen, welche statt der gezahnten in der Regel einfache
Stahlblätter oder Drähte enthalten, die
scharfkörnigen Sand unter Zufluß von Wasser hin- und
herschleifen. Die Bewegung des Gatters wird durch Menschen,
Göpel oder andre Motoren hervorgebracht. Bei den Sägen
mit Draht benutzt man oft einen sehr langen Draht, der sich
abwechselnd von einer Rolle auf eine andre ab- und aufwickelt. Zur
Bearbeitung ebener Flächen benutzt man Maschinen, welche nach
Art der Metallhobelmaschinen wirken, nur daß die Meißel
während der Steinbewegung nicht stillstehen, sondern, unter
45° geneigt, vermittelst schnell drehender Exzenter kurze
Stöße gegen den Stein führen und so die Handarbeit
nachahmen. Bei Anwendung profilierter Meißel erhält man
hierbei Kehlungen etc. Andre Maschinen besitzen als Arbeitsorgan
eine sehr schnell rotierende Scheibe mit feststehenden
Meißeln oder mit kleinen runden Scheiben aus Hartguß
(Kreismeißel), welche bei der schnellen Rotation der Scheibe
gegen den Stein stoßen, sich an diesem wälzen und
Stücke bis 25 mm Dicke abtrennen. Auch schwarze Diamanten
werden statt der Meißel angewandt. Die ebenen
Steinflächen werden mit scharfkörnigem Sand und Wasser
mittels hin und her bewegter, auch rotierender, belasteter eiserner
Schleifschalen geschliffen und zuletzt mit Bimsstein (für
Marmor), Kolkothar (Granit, Syenit), Zinnasche (für weicheres
Gestein) poliert. Hierbei werden runde Formen (Säulen etc.)
durch eine Drehbank gedreht, während die Schleifschalen
dagegen gedrückt werden. In neuerer Zeit benutzt man mehr und
mehr auch Schmirgelscheiben zum Schleifen der S. Vgl. Gottgetreu,
Physischen. chemische Beschaffenheit der Baumaterialien (3. Aufl.,
Berl. 1880, 2 Bde.); Schwartze, Die Steinbearbeitungsmaschinen
(Leipz. 1885).

Steine, künstliche, aus verschiedenen Substanzen
hergestellte steinartige Massen, welche als Surrogate

266

Steinen - Steingallen.

der natürlichen Steine benutzt werden. Hierher gehören
außer den Mauersteinen (s. d.) die Kalkziegel
(Kalksandziegel), die durch Mischen von Kalkmilch mit Sand zu einer
plastischen Masse, Formen der letztern unter starkem Druck und
Trocknen an freier Luft dargestellt werden. Vorteilhaft taucht man
sie vor völligem Erhärten in schwache
Wasserglaslösung. Auch der Zementguß muß zu den
künstlichen Steinen gerechnet werden. Sehr gute k. S.
erhält man aus einer Mischung von Steinbrocken, Zement und
Wasser, welche in Formen gestampft wird. Aus derartigem Beton sind
für Hafenbauten Steine von 18 cbm Inhalt dargestellt worden.
Cendrinsteine bestehen aus Zement mit Kohlenstaub oder Asche; eine
andre Sorte aus gebranntem Kalk und Steinkohlenasche, welche
breiförmig zusammengestampft werden, worauf man die Masse in
Ziegelform bringt und die Steine nach dem Trocknen in
Wasserglaslösung taucht. Die englischen Viktoriasteine werden
aus kleinen Granitbruchstücken und Zement geformt und nach 4
Tagen etwa 12 Stunden in Natronwasserglaslösung gelegt.
Marmorartige und bei Zusatz von Quarzstückchen und Eisenoxyd
auch granitartige Steine stellt Ransome dar, indem er Zement,
Kreide, feinen Sand und Infusorienerde mit Natronwasserglas zu
einem dicken Brei anmacht, diesen in Formen gießt, die
erhärtete Masse wiederholt mit sehr starker
Chlorcalciumlösung begießt, 3 Stunden hineinlegt und
schließlich in Wasser bringt, um lösliche Salze zu
entfernen. Diese Steine werden für solides Mauerwerk,
Trottoirplatten und zu Ornamenten sehr viel benutzt und sind
polierbar. Die Marmormosaik-Bodenbelegplatten von Oberalm bestehen
aus Marmorabfällen, welche durch eine Mischung von Zement und
Marmorpulver zu einer Masse verbunden werden, die man in eiserne
Formen preßt und nach dem Erhärten schleift und poliert.
In Nordamerika finden Steinplatten aus Schieferpulver, mit geringem
Zementzusatz gepreßt, ausgedehnte Verwendung. Der
Bietigheimer künstliche Sandstein besteht aus
Sandkörnern, die durch ein gesintertes alkalisches Silikat
(Feldspat, Glaspulver, Thon) verbunden sind. In Dirschau mischt man
1 Teil Thon mit 4 Teilen Mergel (Wiesenkalk) im Thonschneider,
zerschneidet den heraustretenden Strang, brennt die Steine im
Ringofen, mahlt sie mit 3 Volumen Sand und wenig Wasser in
rotierenden Trommeln, setzt Farbstoff zu und formt daraus Steine
unter dem Dampfhammer. Die Steine trocknen im Trockenschuppen und
sind nach 3 Tagen verwendbar. Auch Magnesiazement, Kieserit, Gips
(s. Zement) werden zu künstlichen Steinen verarbeitet, und
namentlich Schlacken bilden ein vortreffliches Material, aus
welchem sehr allgemein Ziegel gegossen werden. Eine Mischung von
Sodarückständen und geröstetem Schwefelkies mit
konzentrierter Wasserglaslösung liefert sehr harte Steine,
welche dem Wasser Widerstand leisten. Zu den künstlichen
Steinen gehören auch Mischungen aus Steintrümmern und
harzigen Bindemitteln, wie die braune Metalllava aus Sand,
Kalkstein, Teer und wenig Wachs. Aus dieser Masse gegossene Platten
lassen sich schön polieren.

Steinen, Karl von den, Forschungsreisender, geb. 7.
März 1855 zu Mülheim a. d. Ruhr, studierte Medizin in
Zürich, Bonn und Straßburg, widmete sich dann in Berlin
und Wien der Psychiatrie und war 1878-79 Assistenzarzt an der
Irrenklinik der Charitee in Berlin. 1879-81 machte er eine Reise um
die Erde, studierte dabei das Irrenwesen in den Kulturstaaten und
machte auf mehreren Gruppen der Südsee ethnologische
Forschungen. Nachdem er dann wiederum seine frühere Stellung
in Berlin eingenommen hatte, ging er als Arzt und Naturforscher mit
der von Deutschland ausgesandten Südpolarexpedition 1882 nach
Südgeorgien, wo er bis zum nächsten Jahr verweilte, um
darauf noch im Februar 1884 nach Asuncion zu gehen, von wo er mit
seinem Vetter, dem Maler Wilhelm von den S., und Clauß sowie
einem Kommando brasilischer Soldaten den Lauf des Xingu, eines
Nebenflusses des Amazonas, erforschte. Nach Europa
zurückgekehrt, veröffentlichte er als Ergebnis dieser
Reise: "Durch Zentralbrasilien" (Leipz. 1886). Eine zweite Reise in
dasselbe Gebiet trat S. im Januar 1887 an; er untersuchte, durch
den Ausbruch der Cholera am Paraguay aufgehalten, die
merkwürdigen Sambaquis in der Provinz Santa Catharina und traf
16. Juli in Cuyaba ein, von wo er im August aufbrach. Er erforschte
im östlichen Quellgebiet des Xingu eine Reihe von
Stämmen, die noch in vorkolumbianischer Steinzeit lebten, und
kehrte im August 1888 nach Europa zurück.

Steiner, 1) Jakob, Mathematiker, geb. 18. März 1796
zu Utzendorf bei Solothurn, besuchte die heimatliche Dorfschule, wo
er erst mit 14 Jahren schreiben lernte, und ging im Alter von 17
Jahren nach Yverdon zu Pestalozzi, an dessen Anstalt er später
einige Zeit als Hilfslehrer thätig war. Von hier wandte er
sich 1818 nach Heidelberg, um Mathematik zu studieren, sah sich
aber fast ganz auf Privatstudien angewiesen. Seit 1821 lebte er in
Berlin, anfangs als Privatlehrer der Mathematik, dann als Lehrer an
der Gewerbeakademie, seit 1834 als außerordentlicher
Professor an der Universität und Mitglied der Akademie der
Wissenschaften. Die letzten Lebensjahre verbrachte er, von schweren
Körperleiden gequält, in der Schweiz, wo er 1. April 1863
in Bern starb. Von seinem Hauptwerk: "Systematische Entwickelung
der Abhängigkeit geometrischer Gestalten", haben wir nur den
ersten Teil (Berl. 1832); außerdem schrieb er noch: "Die
geometrischen Konstruktionen, ausgeführt mittels der geraden
Linie und Eines festen Kreises" (das. 1833). Nach seinem Tod
erschienen seine "Vorlesungen über synthetische Geometrie"
(hrsg. von Geiser und Schröter, Leipz. 1867, 2 Bde.; 2. Aufl.
1875-76), und seine "Gesammelten Werke" (hrsg. von
Weierstraß, Berl. 1881-82, 2 Bde.). Vgl. Geiser, Zur
Erinnerung an Jakob S. (Schaffh. 1874).

2) Jakob, Instrumentenmacher, s. Stainer.

Steiner Alpen (auch Sannthaler oder Sulzbacher Alpen),
südliche Vorlage der Karawanken zwischen Save und Sann, im
südlichen Steiermark und dem angrenzenden Krain, erreichen mit
der Oistritza 2350 m Höhe. Östlich davon das Cillier
Bergland, vom Drann durchschnitten, reich an Mineralquellen. Vgl.
Frischauf, Die Sannthaler Alpen (Wien 1877).

Steinernes Meer, s. Salzburger Alpen.

Steinfrucht, s. Steinbeere.

Steinfurt, ehemals (seit 1495) reichsunmittelbare
Grafschaft im westfäl. Kreis, jetzt zum preußischen
Regierungsbezirk Münster und zum Kreise S. gehörig,
standesherrliche Besitzung der Grafen von Bentheim-S., mit dem
Hauptort Burgsteinfurt.

Steingallen (blaue Mäler), die durch Quetschung und
Entzündung der Hufsohle, namentlich in den Eckstrebenwinkeln
bei Pferden entstehenden roten, resp. geröteten Flecke. Die
Ursachen der S. beruhen in abnormem Druck auf die Sohlenschenkel
durch die übergewachsene Horn- und Eckstrebenwand oder durch
unzweckmäßigen Beschlag. Am meisten wird das Übel
bei sonst gesunden Hufen durch zu kurze Huf-

267

Steingang - Steinhuhn.

eisen veranlaßt. Bei länger anhaltendem und starkem
Druck auf die Eckstrebenpartie der Hufe entsteht Eiterung (feuchte
oder eiternde S. im Gegensatz zu den trocknen S.). Die Behandlung
wird durch zweckmäßige Beschneidung und Erweichung der
Hufe sowie durch Regelung des Hufbeschlags bewirkt. In letzterer
Hinsicht bedient man sich meist eines langen und starken oder eines
geschlossenen oder auch eines Dreiviertelhufeisens. Die Entstehung
von Eiter in einer Steingalle erfordert eine frühzeitige
Öffnung in dem Sohlenschenkel und Erweichung der Hufe durch
Umschläge von schleimigen und fetthaltigen Mitteln.

Steingang (Allée couverte), s. Dolmen.

Steingeier, s. Adler, S. 122.

Steingrün, s. Grünerde.

Steingut, s. Thonwaren.

Steinh., bei botan. Namen Abkürzung für A.
Steinheil, geb. 1810 zu Straßburg, Pharmazeut, bereiste
Algerien; starb 1839 auf der Überfahrt von Martinique nach
Caracas.

Steinhäger, Branntweinsorte, s. Genever.

Steinharz, s. Dammaraharz.

Steinhausen, Heinrich, Schriftsteller, geb. 27. Juli 1836
zu Sorau in der Niederlausitz, studierte zu Berlin Theologie und
Philologie, bekleidete darauf Lehrerstellen an den
Kadettenanstalten in Potsdam und Berlin, trat 1868 in den
Kirchendienst über und wirkt seit 1883 als Prediger zu Beetz
bei Kremmen im Regierungsbezirk Potsdam. Außer kritischen und
andern Beiträgen zum "Reichsboten" veröffentlichte er:
"Irmela. Eine Geschichte aus alter Zeit" (Leipz. 1881 , 10. Aufl.
1887); "Gevatter Tod. Im Armenhaus. Mr. Bob Jenkins' Abenteuer",
Novellen (2. Aufl., Barmen 1884); "Markus Zeisleins großer
Tag", Novelle (das. 1883); "Der Korrektor. Szenen aus dem
Schattenspiel des Lebens" (1.-4. Aufl., Leipz. 1885) u. a. Aufsehen
erregte seine gegen G. Ebers' Romane gerichtete kritische Schrift
"Memphis in Leipzig" (Frankf. a. M. 1880).

Steinhäuser, Karl, Bildhauer, geb. 3. Juli 1813 zu
Bremen, bildete sich an der Berliner Akademie, besonders unter
Rauchs Leitung, lebte seit 1836 längere Zeit in Rom und seit
1863 als Lehrer an der Kunstschule zu Karlsruhe, wo er 9. Dez. 1879
starb. Mehrere seiner zahlreichen Statuen zählen zu den
vorzüglichsten Schöpfungen der neuern deutschen Plastik,
so die von Olbers, Schmidt und dem heil. Ansgar in Bremen, Goethe
mit der Psyche in Weimar, die Gruppe von Hermann und Dorothea in
Karlsruhe. Er war ein Vertreter der antikisierenden Richtung,
wußte aber die Strenge der Behandlung durch Anmut zu mildern,
was sich besonders in seinen weiblichen Figuren (Mädchen mit
der Muschel, Deborah, Judith) kundgibt.

Steinheid, Dorf im sachsen-meining. Kreise Sonneberg, auf
der Grenzscheide zwischen Thüringer und Frankenwald, 813 m
ü. M., hat eine evang. Kirche, Kaolingruben, Fabrikation von
Glasperlen, Porzellan und Holzschachteln und (1885) 1522 Einw.
Nördlich dabei das Kieferle, 868 m hoch.

Steinheil, Karl August, Physiker, geb. 12. Okt. 1801 zu
Rappoltsweiler im Elsaß, studierte seit 1821 zu Erlangen die
Rechte, hierauf zu Göttingen und Königsberg Astronomie,
lebte seit 1825 auf dem väterlichen Gut zu Perlachseck, mit
astronomischen und physikalischen Arbeiten beschäftigt, und
ward 1832 Professor der Physik und Mathematik an der
Universität München. 1846 ward er von der
neapolitanischen Regierung zur Regulierung des Maß- und
Gewichtssystems berufen. 1849 trat er als Vorstand des Departements
für Telegraphie im Handelsministerium in österreichische
Dienste, richtete ein fast vollständiges Telegraphensystem
für alle Kronländer ein und beteiligte sich 1850 auch an
der Gründung des Deutsch-Österreichischen
Telegraphenvereins. 1851 folgte er einem Ruf der Schweizer
Regierung zur Einrichtung des Telegraphenwesens in diesem Land, und
1852 kehrte er als Konservator der mathematisch-physikalischen
Sammlungen und Ministerialrat im Handelsministerium nach
München zurück; auch gründete er daselbst 1854 eine
optisch-astronomische Anstalt, aus welcher ausgezeichnete
Instrumente hervorgingen. S. gilt als der wissenschaftliche
Begründer der elektromagnetischen Telegraphie, entdeckte die
Bodenleitung, konstruierte den ersten Drucktelegraphen, der indes
keinen Eingang in die Praxis fand, erfand die elektrischen Uhren,
konstruierte ein sinnreiches Pyroskop, fertigte das erste
Daguerreotypbild in Deutschland, vervollständigte und
begründete die Gesetze der Galvanoplastik, konstruierte ein
Zentrifugalwurfgeschütz, mehrere optische Instrumente etc.
Auch bei der Feststellung der bayrischen Maße und Gewichte
und durch Verbesserung der Bier- und Spirituswagen erwarb er sich
Verdienste. Er starb 12. Sept. 1870 in München. Die optische
Werkstätte wird seit 1862 von den Söhnen Steinheils
weitergeführt. Vgl. Marggraff, Karl August S. (Münch.
1888).

Steinheim, Stadt im preuß. Regierungsbezirk Minden,
Kreis Höxter, an der Emmer und der Linie Hannover-Altenbeken
der Preußischen Staatsbahn, 135 m ü. M., hat eine
evangelische und eine kath. Kirche, eine Synagoge, ein Amtsgericht,
Maschinenfabrikation, Holzschleiferei, 3 Mahlmühlen,
Steinbrüche und (1885) 2660 meist kath. Einwohner.

Steinhirse, s. Lithospermum.

Steinhorst, Gutsbezirk in der preuß. Provinz
Schleswig-Holstein, Kreis Herzogtum Lauenburg, hat ein Amtsgericht
und (1885) 295 Einw.

Steinhuder Meer, Binnensee in Schaumburg-Lippe und der
preuß. Provinz Hannover, ist 8 km lang, 5 km breit, 41 m
tief, sehr fischreich und fließt durch die Meerbeke zur Weser
ab. Daran der lippesche Flecken Steinhude mit 1400 Einw.; im See
selbst auf einer künstlichen Insel das 1761-65, vom Grafen
Wilhelm von der Lippe als Musterfestung angelegte kleine Fort
Wilhelmsstein (ehemals mit Kriegsschule, in der auch der
preußische General v. Scharnhorst seine erste
militärische Bildung erhielt), jetzt Gefängnis.

Steinhuhn (Caccabis Kp.), Gattung aus der Qrdnung der
Scharrvögel, der Familie der Waldhühner (Tetraonidae) und
der Unterfamilie der Feldhühner (Perdicinae), kräftig
gebaute Vögel mit kurzem Hals, großem Kopf, kurzem, auf
der Firste gewölbtem Schnabel, mittelhohem Fuß mit
stumpfem Sporn oder mit einer den Sporn andeutenden Hornwarze,
mittellangem Flügel und ziemlich langem Schwanz. Das S. (C.
saxatilis Briss.), 35 cm lang, 50-55 cm breit, an der Oberseite und
Brust blaugrau, Kehle weiß, mit schwarzem Kehl- und
Stirnband, die Federn der Weichen gelbrotbraun und schwarz
gebändert, an der Unterseite rostgelb, die Schwingen
schwärzlichbraun mit gelblichweißen Schäften und
rostgelblich gekantet, die äußern Steuerfedern rostrot;
das Auge ist rotbraun, der Schnabel rot, der Fuß
blaßrot; lebte im 16. Jahrh. am Rhein, gegenwärtig in
den Alpen, Italien, der Türkei, Griechenland und Vorderasien,
eine Varietät lebt in ganz Nordasien. Es bewohnt sonnige,
etwas begraste Schutthalden zwischen Holz- und Schneegrenze, im
Süden auch die Ebene aus felsigem

268

Steinhund - Steinkohle.

Boden, zeichnet sich durch Behendigkeit, Klugheit und Kampflust
aus, läuft und klettert sehr gut, fliegt leicht und schnell,
bäumt nur im Notfall, nährt sich von allerlei
Pflanzenstoffen und kleinen Tieren und frißt auch die Spitzen
von jungem Getreide. Im Winter lebt es in größern
Gesellschaften, im Frühjahr isolieren sich die Paare, und das
Weibchen legt in den Alpen im Juni oder Juli in einer Mulde unter
Gesträuch oder überhängendem Fels 12-15
gelblichweiße, braun gestrichelte Eier, welche es in 26 Tagen
ausbrütet. Man jagt das S. des sehr wohlschmeckenden Fleisches
halber. Es kann auch leicht gezähmt werden, bleibt aber sehr
kampflustig, und schon die Alten ließen Steinhühner
miteinander kämpfen. In Indien und China sind Steinhühner
halbe Haustiere geworden, werden gezüchtet, auf die Weide
getrieben, laufen frei im Haus umher und werden auch hier zu
Kampfspielen benutzt. In Griechenland glaubt man, daß sie
Schutz gegen Bezauberung gewähren, und hält sie in sehr
engen, kegelförmigen Käfigen.

Steinhund, s. Nörz.

Steinicht, s. Vogtländische Schweiz.

Steinigtwolmsdorf, Pfarrdorf in der sächs. Kreis-
und Amtshauptmannschaft Bautzen, an der Wesenitz, hat eine evang.
Kirche, Lein- und Damastweberei, Bierbrauerei, Steinbrüche und
(1885) 2529 Einw.

Steinigung (Lapidatio), Tötung mit Steinwürfen,
gesetzliche Strafe bei den Römern, Juden und andern
Völkern, besonders aber Akt der Volksjustiz.

Steinigwerden, eine Krankheit der saftigen Früchte
mancher Pomaceen, besonders der Birnen, Quitten und Mispeln, wobei
der größere Teil des saftigen Fruchtfleisches in meist
isolierte steinharte Körner sich verwandelt und dabei an
Süßigkeit verliert. Die Körner bestehen aus Zellen
mit außerordentlich stark verdickten und von
Porenkanälen durchzogenen Wänden (Steinzellen).
Anfänglich sind diese Zellen gleich den andern dünnwandig
und stärkemehlführend; erst beim Reifen bilden sich aus
der Stärke die Verdickungsschichten, anstatt daß
dieselbe sich in Zucker umwandelt. Die Steinzellen fehlen auch in
normalen, guten Früchten nicht ganz; ihre Menge ist in den
wilden Birnen am größten, übrigens nach Sorten
verschieden. Ihre reichlichere Bildung wird durch magern, trocknen
Boden begünstigt, aus welchem oft die saftigsten Sorten
steinig werden. Ähnliche Bildungen (Steinkonkretionen) treten
auch in fleischigen Wurzelknollen, bei Päonien, Georginen, im
Mark von Hoya und besonders in der Rinde vieler Bäume auf.

Steiningwer, s. Löß.

Steinig, Wilhelm, Schachspieler, geb. 18. Mai 1837 zu
Prag, galt schon als Knabe für den besten Schachkämpen
seiner Vaterstadt, erhielt aber die eigentliche Ausbildung darin
erst bei Hamppe in Wien, wohin er sich 1858 als Student der
Mathematik begab. In dem großen internationalen Wettstreit zu
London (mit Anderssen, Paulsen u. a.) gewann er 1862 den letzten
der sechs Preise, blieb in London und machte das Schach zu seinem
Hauptberuf. 1865 gewann er auf dem Kongreß der Dubliner
Ausstellung den ersten Preis, 1866 siegte er im Wettkampf (match)
mit acht zu sechs Spielen gegen Anderssen. Im Pariser Turnier 1867
erhielt er den zweiten Preis, im Baden-Badener 1870 gleichfalls; im
Londoner 1872 wurde er Hauptsieger, ohne eine einzige Partie zu
verlieren, und in Wien erstritt er 1873 den großen
Kaiserpreis von 2000 Gulden. Nachdem er dann noch den
Engländer Blackburne, den Gewinner des zweiten Wiener Preises,
im Einzelkampf besiegt, beteiligte er sich längere Zeit nicht
mehr an Turnieren. Auf den Schachkongressen zu Paris 1878 und zu
Wiesbaden 1880 war er als Berichterstatter für die englische
Zeitung "The Field" erschienen, deren Schachrubrik er damals
leitete. Der Tod Anderssens und die großen Erfolge Zukertorts
(s. d.), den er 1872 in einem Match leicht geschlagen, spornten S.
indessen zu neuer Thätigkeit an, doch mußte er sich,
obwohl er im Wiener Turnier 1882 die beiden ersten Preise mit
Winawer geteilt hatte, 1883 in London, wo Zukertort Erster blieb,
mit der zweiten Stelle begnügen. Seitdem betrieb S.
höchst eifrig einen neuen Einzelwettkampf mit Zukertort, der
nach langen Verhandlungen in den ersten Monaten 1886 in Amerika
ausgefochten wurde, und in welchem S. schließlich mit 10
gegen 5 Gewinn- bei 5 Remisspielen siegte. In jüngster Zeit
stellte sich S., nunmehr der erste Schachspieler der Gegenwart, dem
Russen Tschigorin auf Cuba, der eine Minderheit der Gewinnpartien
erzielte.

Steinkauz, s. Eulen, S. 906.

Steinkern, in der Botanik s. Steinbeere; in der
Petrefaktenkunde s. Abdruck.

Steinkind (Steinfrucht, Lithopaedion), eine unreife
Leibesfrucht, welche abgestorben in der Bauchhöhle liegt,
eingekapselt, verschrumpft und durch Aufnahme von Kalksalzen
steinhart geworden ist. Das S. verursacht der Mutter bisweilen
allerhand Beschwerden; manchmal aber bleibt sie von solchen ganz
verschont, kann sogar schwanger werden und normal gebären.
Derartige Bildungen sind bei Menschen äußerst selten,
bei Schafen häufiger.

Steinkirche, s. Dolmen.

Steinklee, s. Melilotus und Medicago.

Steinkochen, s. Kochkunst (in prähistorischer
Zeit).

Steinkohle (Schwarzkohle), im petrographisch-technischen
Sinn die schwarzen, kohlenstoffreichen, an Wasserstoff und
Sauerstoff armen Kohlen; im geologischen Sinn die Kohlen der
ältern Formationen vom Silur bis einschließlich der
Kreideformation, vorzüglich diejenigen der Steinkohlenperiode.
Beide Begriffe decken sich meist insofern, als die ältern
Kohlen der Regel nach auch die kohlenstoffreichern sind; indes
tragen eine Reihe jüngerer (tertiärer) Kohlen den
petrographischen Charakter der S. an sich, während umgekehrt
Kohlen, welche nachweisbar der Steinkohlenformation angehören,
Braunkohlen zum Verwechseln ähnlich sehen. Die S. im
petrographisch-technischen Sinn des Wortes ist eine dunkel
gefärbte, undurchsichtige, höchstens in kleinen Splittern
durchscheinende amorphe Masse von Glas- und Fettglanz; Härte
2-2,5, spez. Gew. 1,2-1,7; sie färbt heiße Kalilauge im
Gegensatz zur Braunkohle nicht oder unbedeutend; an der offenen
Flamme verbrennt sie unter brenzligem Geruch (Unterschied von
Anthracit). Die Hauptbestandteile sind: Kohlenstoff (C), Sauerstoff
(O) und Wasserstoff(H), daneben etwas Stickstoff (N), Schwefel (S),
Bitumen und Asche (in reinen Kohlen unter 0,5 Proz.). Die
quantitative Zusammensetzung der S. zeigt bedeutende Schwankungen,
und an verschiedenen Stellen desselben Flözes entnommene
Proben zeigen kaum je gleiche Zusammensetzung. Von den
Aschebestandteilen abgesehen, kann man folgende Grenzwerte
annehmen: 55-98 Proz. Kohlenstoff, 1,75-7,85 Proz. Wasserstoff,
0-38 Proz. Sauerstoff, Spuren bis 2,0 Proz. Stickstoff. Bei
Abschluß der Luft erhitzt, liefern die Kohlen je nach ihrer
chemischen Zusammensetzung und der Temperatur in sehr verschiedenen
Mengen: Kohlenwasserstoffgase (namentlich Methan und Äthylen),
Wasserstoff, Kohlensäure, Kohlenoxyd, Stickstoff,
Schwefelwasserstoff, Teerdämpfe (bestehend aus
Kohlenwasserstoffen, Phenolen und

269

Steinkohle (chemische Zusammensetzung, Grubenbrände,
Varietäten).

Basen), Ammoniak und Wasserdämpfe. Als accessorische
Begleiter der Kohle finden sich: Schieferthon, Kalkspat, Gips,
Nakrit, Quarz, Eisenspat, Eisenkies, Bleiglanz, Kupferkies. Von
diesen Beimengungen verringert der Eisenkies den Wert der Kohle als
Brennmaterial, und wo er in größern Mengen auftritt,
zwingt er zu einem Abschwefeln der Kohlen; er kann aber auch durch
die mit seiner Zersetzung verbundene Temperaturerhöhung zu
Selbstentzündungen der Kohle führen. Es wird deshalb in
den Kohlengruben auf das möglichst sorgsame Fördern des
sogen. Grubenkleins Gewicht gelegt. Kohlenbrände entstehen, da
sie die Mitwirkung der Atmosphäre voraussetzen, meist in dem
Abbau unterworfenen (verritzten) Flözen, während
unverritzte Flöze, namentlich an ihrem Ausgehenden
(Kohlenausstrichen), derselben Gefahr ausgesetzt sind. Bei den
Kohlenbränden wird die Kohle teils vollkommen verbrannt, teils
in Koks umgewandelt; die begleitenden Schieferthone werden
gefrittet (Kohlenbrandgesteine, Porzellanjaspis) und eine Reihe von
Sublimationsprodukten (Salmiak, Schwefel, Alaun) gebildet. Die
Bekämpfung einmal ausgebrochener Kohlenbrände muß
sich auf Isolierung der entzündeten Partien durch Abbau der
benachbarten Flözteile und Errichtung trennender Mauern
beschränken. - Nach äußern mineralogischen
Merkmalen unterscheidet man unter den Steinkohlen schieferige
Varietäten (Schieferkohle), dünnblätterige
(Blätterkohle), zu unregelmäßigen
parallelepipedischen Formen zerfallende (Grobkohle), faserige
(Faserkohle), erdige, stark abfärbende (Rußkohle),
pechschwarze, lebhaft fettglänzende von muscheligem Bruch
(Pechkohle). Weitere Abarten sind: die Kannelkohle (Cannel Coal,
Candle Coal), eine schwer zersprengbare, gräulichschwarze
Kohle; Glanzkohle mit muscheligem Bruch und stark glänzenden,
öfters regenbogenartig angelaufenen Absonderungsflächen.
In der Technik unterscheidet man nach dem Verhalten der Kohle im
Feuer: Backkohlen, Sinterkohlen und Sandkohlen, zu welchen Arten
noch die Gaskohlen, bald den einen, bald den andern nahestehend,
als reichlich Leuchtgas liefernde hinzukommen. Das Pulver der
Backkohlen (fette Kohlen) liefert beim Erhitzen eine
gleichmäßig zusammengeschmolzene Masse (Koks), die
Sinterkohlen eine weniger gleichmäßige und weniger
feste, nicht eigentlich geschmolzene, sondern nur
"zusammengesinterte" Masse; die Sandkohlen (magere Kohlen) endlich
liefern ein Pulver ohne Zusammenhang. Fleck versuchte dieser rein
empirischen Einteilung einen wissenschaftlichen Hintergrund zu
geben. Er unterschied den Wasserstoff in der S. als gebundenen und
als disponibeln, von welchen der erstere denjenigen Bruchteil des
Gesamtgehalts darstellt, der mit dem gleichzeitig vorhandenen
Stickstoff und Sauerstoff zu Ammoniak und Wasser verbunden gedacht
werden kann, während der Überschuß an Wasserstoff
"disponibel" bleibt. Nach Fleck sind alle Kohlen, welche auf 1000
Gewichtsteile Kohlenstoff über 40 Teile disponibel und unter
20 Teile gebundenen Wasserstoff enthalten, verkohlbar und bilden
die Backkohlen. 40 Teile disponibler und über 20 Teile
gebundener Wasserstoff geben Back- und Gaskohle; weniger als 40
Teile disponibler und mehr als 20 Teile gebundener Wasserstoff sind
in Gas- und Sinterkohlen enthalten; Sinterkohlen und Anthracite
enthalten weniger als 40 Gewichtsteile disponibeln und weniger als
20 Teile gebundenen Wasserstoff. Da diese Unterschiede nicht
hinreichend scharf durchführbar sind, so hat Gruner eine neue
Klassifikation gegeben, indem er fünf Typen unterscheidet,
deren Zusammensetzung und Verhalten in folgender Tabelle angegeben
sind; an den Grenzen gehen dieselben ineinander über.

Klassen Zusammensetzung (C,H,O) O:H Spezifisches Gewicht
Wärmeeffekt Wärmeeinheiten Wasserverdampfung Kilogr.
Flüchtige Bestandteile Verhalten bei der Destillation (Koks,
Beschaffenheit der Koks, Gas, Ammoniak Wasser, Teer)

1) Trockne Kohlen mit langer Flamme (Sandkohlen) 75-80 5,5-4,5
19,5-15 4-3 1,25 8000-8500 6,7-7,5 45-40 50-60 pulverförmig
od. höchstens gefrittet 20-30 12-5 18-15

2) Fette Kohlen mit langer Flamme (Gaskohlen, Sinterkohlen)
80-85 5,8-5 14,2-10 3-2 1,28-1,30 8500-8800 7,6-8,3 40-32 60-68
geflossen, aber sehr aufgebläht 20-17 5-3 15-12

3) Fette oder Schmiedekohlen (Backkohlen) 84-89 5-5,5 11,5-5,5
2-1 1,30 8800-9300 8,4-9,2 32-26 68-74 geflossen, mitteldicht 16-15
3-1 13-10

4) Fette Kohlen mit kurzer Flamme (Verkokungs-K.) 88-91 5,5-4,5
6,5-5,5 1 1,30-1,35 9300-9600 9,2-10 26-18 74-82 geflossen, sehr
kompakt, wenig blasig 15-12 1-1 10-5

5) Magere Kohlen od.Anthracite mit kurzer Flamme 90-93 4,5-4
5,5-3 1 1,35-1,4 9200-9500 9-9,5 18-10 82-90 gefrittet oder
pulverförmig 12-8 l-0 5-2

Diese fünf Typen charakterisieren sich schon durch
äußere Kennzeichen, welche aber durch Erhitzen bei
Abschluß der Luft (trockne Destillation) kontrolliert werden
müssen. Die den Braunkohlen sich nähernden Steinkohlen
mit langer Flamme sind verhältnismäßig hart, beim
Anschlagen klingend, zäh, von unebenem Bruch, matt schwarz und
von mehr braunem als schwarzem Strich. Mit abnehmendem Sauerstoff
und damit abnehmender Produktion von Wasser beim Destillieren wird
die Kohle zerreiblicher, weniger klingend, schwärzer und
dichter. Der Glanz nimmt mit dem Wasserstoffgehalt und damit auch
das Agglomerationsvermögen zu. Die den Anthraciten sich
nähernden Kohlen sind rein schwarz und im allgemeinen ein
wenig mürber als fette Kohlen mit kurzer Flamme. Die
Eigenschaften werden indes durch erdige Beimengungen alteriert.
Dichtigkeit und Härte wachsen mit dem Aschengehalt,
während der Glanz sich vermindert. Die Brennbarkeit und die
Länge der Flamme hängen von der Gegenwart flüchtiger
Elemente ab. Die den Braunkohlen sich nähernden Steinkohlen
entzünden sich leicht und brennen mit langer, rußiger
Flamme. Die an flüchtigen Bestandteilen ärmern,
namentlich wasserstoffarmen, Kohlen

270

Steinkohle (Vorkommen, Entstehung).

entzünden sich, verbrennen weniger leicht und halten lange
an. Die Flamme ist kurz und wenig rauchig. Die Steinkohlen finden
sich, soweit es sich um größere, technisch wichtige
Massen handelt, in Schichten (Flözen), häufig in
mehrfachem Wechsel, zwischen andern Gesteinen (Schieferthonen und
Sandsteinen). Das ganze Schichtensystem ist ältern Gesteinen
gewöhnlich muldenförmig eingelagert (Steinkohlenbecken,
Steinkohlenmulden). Ein Kohlenfeld ist die Gesamtheit
bauwürdiger Flöze in horizontal ununterbrochenem
Zusammenhang oder doch nur durch Verwerfungen getrennt, welche den
ursprünglichen Zusammenhang trotz der Trennungen erkennen
lassen. Untergeordnete, technisch gewöhnlich wertlose
Vorkommnisse sind die in Form kleiner Lager, Nester, Schmitzchen,
als einzelne Stämme und Stammfragmente. Die Flöze eines
Kohlenfeldes sind nach Lage und Mächtigkeit
außerordentlich verschieden. Als unterste Grenze der
Bauwürdigkeit wird gewöhnlich 0,6 m Mächtigkeit
angegeben, aber auch hier kann das Auftreten mehrerer Flöze
übereinander die Verhältnisse ändern. Es sind bis 30
m mächtige Kohlenflöze bekannt, doch treten die
bedeutendern Mächtigkeiten mehr bei lager- oder
stockförmigen Einlagerungen als bei eigentlichen Flözen
auf. Häufig stören Verwerfungen die ursprüngliche
Lage und unterbrechen den Zusammenhang der Flöze. Solche
Faltungen, Knickungen, Überkippungen und Verschiebungen der
Flöze bereiten dem Abbau oft enorme Schwierigkeiten.
Erfahrungsmäßig gehören die meisten und wichtigsten
Steinkohlen dem Alter nach der Steinkohlenformation (s. d.) an,
obgleich sie den andern Formationen nicht fehlen und hier
wenigstens lokal ebenfalls Wichtigkeit erhalten können. So
führen das Silur und Devon mitunter anthracitische Flöze;
im Rotliegenden, namentlich dem untern, tritt bauwürdige Kohle
in der Saargegend, in Sachsen etc. auf; ein Teil der ostindischen
und chinesischen Kohlenschätze und einige nordamerikanische
Flöze sind triasisch, in Deutschland gehört dem untern
Keuper die meist unbauwürdige sogen. Lettenkohle an. In Polen
sind Keuperkohlen bauwürdig. Der Liasformation gehören
die für Ungarn sehr wichtigen Ablagerungen von Steyerdorf und
Fünfkirchen an. England, Polen, Rußland und Persien
besitzen ebenfalls jurassische Kohlen. Eine für
Norddeutschland sehr wichtige Kohle liegt in den Grenzschichten
zwischen Jura und Kreide, in der Wealdenformation im Teutoburger
Wald, Wesergebirge und links der Weser und im Deister. In der noch
jüngern Kreideformation sind bauwürdige Kohlen sehr
selten. In Deutschland sind als abbauwürdig nur ein paar
dünne Flöze am Altenberg bei Quedlinburg sowie an einigen
Orten (besonders bei Ottendorf) im Regierungsbezirk Liegnitz zu
nennen. Österreich gewinnt aus der der gleichen Formation
angehörigen Mulde der Neuen Welt bei Wiener-Neustadt
jährlich gegen ½ Mill. Ztr. Noch jüngere Kohlen,
welche nach ihren petrographischen Eigenschaften ebenfalls als
Steinkohlen (Pechkohlen) bezeichnet werden müssen,
während sie im geologischen Sinn Braunkohlen darstellen,
finden sich als lokale Abänderungen typischer Braunkohlen in
vielen Tertiärbecken, so unter andern Orten in Böhmen und
Oberbayern. Die Steinkohlen stammen ohne Zweifel von pflanzlichen
(nur selten und untergeordnet von tierischen) Organismen ab, welche
einem langsamen Verkohlungsprozeß unterlegen sind. Dieser
Prozeß verlief unter Entwickelung von wasserstoff- und
sauerstoffreichen Gasen und mußte mithin einen
kohlenstoffreichen Rückstand, die S., liefern. Am
frühsten ist der Zusammenhang zwischen Kohlen und Pflanzen
wohl von Scheuchzer (gest. 1733) betont worden; bestimmter und den
heutigen Ansichten sich vollkommen anschmiegend, betonte v.
Beroldingen 1778 den Zusammenhang zwischen Torf, Braunkohle und S.,
Hutton (1785) und Williams (1798) stellten für die englische
Kohle gleiche Hypothesen auf. Das meiste Beweismaterial zur
Stützung der jetzt herrschenden Ansicht brachte aber
Göppert bei. Ein Vergleich der mittlern chemischen
Zusammensetzung der Holzfaser, des Torfs, der Braunkohle, der S.
und des Anthracits zeigt, daß diese fünf Körper in
der genannten Folge eine Reihe bilden, in welcher ein an
Kohlenstoff relativ armer, an Wasserstoff und Sauerstoff reicher
Körper allmählich andern Substanzen weicht, die immer
reicher an Kohlenstoff, ärmer an Sauerstoff und Wasserstoff
sind. Es ist nämlich die mittlere prozentige Zusammensetzung
der genannten Körper:

C H O N

Holzfaser 50 6,0 43,0 1,0

Torf 59 6,0 33,0 2,0

Braunkohle 69 5,5 25,0 0,8

Steinkohle 82 5,0 13,0 0,8

Anthracit 95 2,5 2,5 Spur

Führt man statt Gewichtsprozente Atome ein und berechnet
unter Vernachlässigung des Gehalts an Stickstoff den
Wasserstoff- und Sauerstoffgehalt auf je 100 Atome Kohlenstoff, so
erhält man:

C H O

Holzfaser 100 150 65

Torf 100 115 40

Braunkohle 100 96 27

Steinkohle 100 80 12

Anthracit 100 27 2

welche Zahlen die Abnahme des Wasserstoffs und Sauerstoffs noch
deutlicher zeigen. Erfahrungsmäßig entwickeln sich in
Torfmooren, in Braunkohlen- und Steinkohlengruben Gase und
Dämpfe, welche, wie das Grubengas (CH4) Kohlensäure (CO2)
und Wasser (H2O), Wasserstoff und Sauerstoff neben Kohlenstoff
enthalten. Es sind dies jene Gase, welche als schlagende und
stickende Wetter in erster Linie den Steinkohlenbergbau so
gefährlich machen, daß im Durchschnitt jährlich 3-4
pro Mille aller Bergleute das Leben einbüßen, und
daß für jede 1½ Mill. Ztr. geförderter S.
ein Menschenleben geopfert werden muß. Diese Gase entziehen
aber, wie ihre chemische Formel zeigt, bei ihrer Bildung dem
Mutterkörper mehr Wasserstoff und Sauerstoff als Kohlenstoff,
so daß der letzte Rest eines solchen Verkohlungsprozesses ein
nur aus Kohlenstoff bestehender Körper sein muß. Erhitzt
man Holz in verschlossenen Röhren, so erhält man bei
200-280° eine der Holzkohle, bei 300° eine der S.
ähnliche Masse, die bei 400° anthracitartig wird. Hierher
gehören auch die vielfältigen Beobachtungen, nach welchen
das Holz der Grubenzimmerung in mitunter überraschend kurzer
Zeit in eine der Braunkohle ähnliche Masse umgewandelt wird.
Einem gleichen Prozeß unterliegen Stämme, welche in
Torfmoore geraten sind, und die tiefsten Schichten der Moore selbst
liefern den Speck- oder Pechtorf, eine an Braunkohle oder noch mehr
an S. erinnernde Masse. Den vollgültigsten Beweis gibt endlich
das Mikroskop, indem es an zahlreichen Präparaten nicht nur
die pflanzliche Natur der Kohlen im allgemeinen zeigt, sondern auch
die systematische Stellung der kohlebildenden Pflanzen bestimmen
läßt. Diese Pflan-

271

Steinkohle (Verbreitung in einzelnen Ländern).

zen sind aber in den verschiedenen Formationen sehr verschieden,
und nur der Umstand, daß erfahrungsmäßig die
Holzfaser systematisch weit voneinander entfernter Pflanzenarten
doch annähernd gleiche Zusammensetzung hat, erlaubte in der
oben angenommenen Allgemeinheit von einem alle mineralischen
Brennstoffe umfassenden Verkohlungsprozeß zu sprechen. Die
Kohlen des Silurs sind bei dem Fehlen sonstiger Pflanzenreste in
dieser Formation vermutlich auf Algen zurückzuführen,
während im Devon schon einige der in der Steinkohlenformation
ihre Hauptentwickelung findenden Pflanzen kohlebildend auftreten.
In den jüngern Formationen wurden Farne, Cykadeen und
Koniferen aufgehäuft, und die letztere Klasse hat neben
Dikotyledonen fast ausschließlich das Material der
steinkohlenartigen Tertiärkohlen geliefert. Den Konsequenzen
aus der Annahme eines langsamen Verkohlungsprozesses entsprechend,
sind die Steinkohlen im allgemeinen ältere Kohlen als die
Braunkohlen und werden ihrerseits durch Anthracit an Alter
übertroffen. Abweichungen von dieser Regel lassen sich auf
besondere Umstände zurückführen, welche bald
beschleunigend, bald verlangsamend auf den Verlauf des Prozesses
einwirken mußten. So verschafften starke
Schichtenstörungen den sich entwickelnden Gasen durch
Spaltenbildungen einen Ausweg; ein Gehalt an vitriolisierendem
Eisenkies bildet neben Eisenvitriol freie Schwefelsäure,
welche verkohlend auf die pflanzliche Substanz einwirkt, und in
demselben Sinn unterstützt eine Erhöhung der Temperatur,
wie sie eruptierendes Gestein hervorbringen kann, den Prozeß.
So ist am Meißner in Hessen Braunkohle durch einen
bedeckenden Basalt stellenweise in einen stängelig
abgesonderten Anthracit (Stangenkohle) umgewandelt, und
ähnliche Erscheinungen sind von Salesl bei Aussig in
Böhmen, von Mährisch-Ostrau u. a. O. bekannt. Wurden
dagegen die Schichten der betreffenden Formation nicht von
jüngern bedeckt, so fehlte ein Haupterfordernis der Einleitung
des Verkohlungsprozesses, der hohe Druck. So kommen in den
Gouvernements Tula und Kaluga Kohlen vor, welche nach ihren
organischen Resten (Stigmaria, Lepidodendron) zweifellos der
Steinkohlenformation angehören, während sie der
Braunkohle durchaus ähnlich geblieben sind. Die die Kohlen
begleitenden Gesteine sind in einem ähnlichen unreifen
Zustand: statt der Schieferthone sind plastische Thone und Letten
entwickelt; die Sandsteine sind locker, fast lose Sande.

Verbreitung. Produktion. Verbrauch

Die wichtigsten Kohlenfelder (soweit sie der
Steinkohlenformation angehören, der übrigen wurde schon
oben Erwähnung gethan) sind in Deutschland, von W. nach O.
geordnet. 1) das Aachener Becken oder das Doppelbecken an der Worm
und Inde, nach Deutschland hereinragende Teile des großen
belgischen Beckens; 2) das Saarbecken oder Saarbrückener
Becken, an welchem außer Preußen auch Bayern und
Lothringen partizipieren; 3) das westfälische oder Ruhrbecken,
zu welchem als äußerste Vorposten nach N. die
Kohlenfelder von Ibbenbüren und Piesberg bei Osnabrück
gehören; 4) und 5) die beiden unbedeutenden Kohlenvorkommnisse
von St. Bilt im Elsaß und Berghaupten in Baden; 6)-10) die
ebenfalls nur kleinen Becken von Ilfeld bei Nordhausen,
Wettin-Löbejün in der Provinz Sachsen,
Manebach-Kammerberg in Thüringen, Stockheim bei Koburg und
Erbendorf in Oberfranken; 11) und 12) im Königreich Sachsen
das größere Zwickau-Chemnitzer und das kleinere
Plauensche Becken; 13) und 14) die beiden schlesischen Becken, das
von Waldenburg und das oberschlesische, in dessen Zentrum
Königshütte gelegen ist. Die relative Wichtigkeit der
Kohlenfelder Deutschlands erhellt aus der folgenden, aus die
Produktion des Jahrs 1873 bezüglichen Tabelle, welche für
die Vergleichszwecke auch gegenwärtig noch ausreicht:

Steinkohlenbecken Zahl der Gruben Prozent der Gesamtzahl
Produktion in Zentnern Prozent der Gesamtproduktion Wert in
Mark Prozent des Gesamtwerts Arbeiter Prozent der Gesamtzahl

Westfälisches Becken 230 42,4 328161620 45,9 180227595 45,8
80281 46,0

Qberschlesisches Becken 132 24,3 155380208 21,8 62077491 15,8
32621 18,8

Saarbecken 38 7,0 96851737 13,6 79696177 20,2 24469 14,1

Zwickau - Plauen 73 13,5 63 321 518 8,938109831 9,7 16429
9,5

Waldenbura 35 6,5 45876197 6,4 1042384 5,7 12298 7,5

Aachener Becken 18 3,3 21037039 3,0 10788069 2,7 6078

Stockheim 6 1,1 1311879 0,2 745863 0,2 683 0,4

Wettin und Lödejün 3 0,5 1045137 0,1 681429 0,2 400
0,3

Ilfeld 3 0,5 501095 0,1 262086 0,1 215 0,2

Berghaupten 3 0,5 253883 0,0 192024 0,0 142 0,1

Manebach und Kammerberg 2 0,4 19831 0,0 12981 0,0 36 0,0

Zusammen: 543 100,0 713760144 100,0 394035930 100,0 173652
100,0

Während unter den außerdeutschen Ländern
Belgien reiche Kohlenlager im Zusammenhang mit dem Aachener
Becken besitzt, sind die französischen Becken (St.-Etienne,
Creusot, Autun, Alais etc.) unbedeutender. Spanien und Portugal
scheinen große Vorräte an Steinkohlen zu bergen, wogegen
Italien und die Schweiz nur wenige und kleine Partien der
produktiven Steinkohlenformation aufzuweisen haben. Im O.
Deutschlands sind in Böhmen mehrere Becken (Kladno, Rakonitz,
Pilsen) zu verzeichnen, ferner das Ostrauer in Mähren und
Österreichisch-Schlesien. Rußland besitzt außer
den oben erwähnten Kohlen der Gouvernements Kaluga und Tula
solche am Donez im Süden, am Ural und hoch im N. auf den
Bäreninseln und Spitzbergen. Das großbritannische
Inselreich hat relativ zu seinem Gesamtgebiet das größte
Areal Kohlenfelder. Es verteilen sich dieselben auf eine Anzahl
isolierter Becken, unter denen die von Northumberland, Yorkshire,
Derbyshire, Südwales und Schottland die wichtigsten sind.
Unter den übrigen Erdteilen der Alten Welt ist besonders Asien
und hier wiederum China, wo die Kohlenlager über ein Areal von
200,000 QM. verbreitet sind (s. China, S. 4), sehr reich an Kohlen,
die zum größten Teil der Steinkohlenformation
angehören. Als unermeßlich werden die Kohlenschätze
Nordamerikas geschildert, die sich über sechs große
Territorien verbreiten: 1) das appalachische Kohlenfeld, an welchem
die Staaten Pennsylvanien, Ohio, Virginia, Kentucky, Tennessee und
Alabama partizipieren; 2) das Illinois-Missouri-Kohlenfeld, von dem
außer auf die benennenden Staaten Teile auf Indiana,
Kentucky, Iowa, Kansas

272

Steinkohle - Steinkohlensormation.

und Arkansas entfallen; 3) das Kohlenfeld in Michigan; 4) das in
Texas; 5) Rhode-Island und endlich 6) das Doppelfeld von
Neuschottland und Neubraunschweig. Die Ausdehnung der Kohlenfelder
in englischen Quadratmeilen wird veranschlagt für China auf
mehr als 200,000, Nordamerika auf 193,870, Ostindien 35,500,
Neusüdwales 24,000, Großbritannien 9000, Deutschland
3600, Spanien 3500, Frankreich 1800, Belgien 900. Die
Kohlenproduktion hat in verhältnismäßig kurzer Zeit
einen rapiden Aufschwung genommen. Sie betrug 1860 in England,
Deutschland, den Vereinigten Staaten von Nordamerika, in
Frankreich, Belgien und Österreich 124 Mill. metr. Tonnen. Die
Gesamtproduktion (zu 1000 kg) betrug nach Neumann Spallart
("Übersichten der Weltwirtschaft") 1884: 409,381,515 Ton.
(à 1000 kg), die sich auf die einzelnen Länder
folgendermaßen verteilen: Großbritannien 163,329,904,
Deutschlands 121,000, Frankreich 20,023,504, Belgien 18,051,499,
Österreich 17,199,518, Rußland 3,500,000, Ungarn
2,525,056, Spanien 979,350, Schweden 196,831, Italien 164,737,
Niederlande 49,554, Portugal 17,000, Schweiz 5800, Europa
298,163,753. Vereinigte Staaten 100,268,109, China 3,000,000,
Neusüdwales 2,793,086, Britisch-Nordamerika 1,673,000,
Ostindien 1,420,183, Japan 755,800, Chile 490,000, Neuseeland
488,524. Die Steinkohlenproduktion im Deutschen Reich betrug 1887
über 60 Mill. Ton. und verteilte sich wie folgt:

Westfalen 21528741

Schlesien 16187078

Rheinland 16127350

Hannover 581546

Königr. Preußen 54548283

Königreich Sachsen 4293417

- Bayern 683619

Baden 6006

Elsaß-Lothringen 693 679

Deutsches Reich 60333984

Der Kohlenverbrauch gibt einen Maßstab für die
materielle Kultur. Er betrug in metr. Tonnen in:

Absoluter Verbrauch Auf den Kopf der Bevölkerung

1865 1884 1865 1884

Großbritannien 90404000 140135000 3,092 3,900

Belgien 7 631 000 13483000 1,577 2,331

Vereinigte Staaten 18825000 98109000 0,598 1,766

Deutschland 26680000 69001000 0,730 1,505

Frankreich 8522000 30941000 0.470 0,816

Osterreich 5050000 18132000 0,139 0,464

Rußland 1085000 5200000 0,015 0,066

Die Frage nach der Möglichkeit einer Erschöpfung der
S. hat namentlich für England größeres Interesse.
Man nimmt an, daß das Land noch einen Vorrat von ca. 146
Milliarden Ton. innerhalb der Tiefe von 4000 Fuß besitze;
davon sind 90 Milliarden Ton. aufgeschlossen, während man 56
Milliarden auf voraussichtlich zu erschließende Flöze
(?) rechnet. Nimmt man an, daß sich der Kohlenverbrauch in
bisheriger Weise weiter steigern werde, so würden diese
Schätze noch für 250 Jahre ausreichen. Auch Deutschland
kann seinen Bedarf noch für Jahrhunderte decken, dann aber
bieten Rußland und andre Länder reichlichen Ersatz, der
voraussichtlich durch Herabsetzung der Transportkosten für die
europäischen Länder erreichbar werden wird. Nicht vor
einer geologischen oder technischen, sondern vor einer
ökonomischen Frage werden also die folgenden Generationen
hinsichtlich des Kohlenbedarfs stehen. - Die Benutzung der S. ist
wesentlich eine doppelte: die als Brennmaterial und die der
Gewinnung der Destillate, welch letztere sich in
Leuchtgasfabrikation, Gewinnung des Teers und seiner Derivate etc.
gliedert. Untergeordnet ist die Verwendung politurfähiger
Kohlen zu Schmuckgegenständen (Gagat in England und
Württemberg), an Eisenkies und Asche reicher Abarten zur
Alaungewinnung, der Steinkohlenasche als Dünger und als Zusatz
zum Mörtel.

Die Benutzung der S. reicht bei einigen Völkern weit
zurück. So sollen die Chinesen schon frühzeitig ihren
Wert erkannt haben, und in einigen englischen Gruben hat man
Steinwerkzeuge vorgefunden, so daß die Kenntnis der Kohle
älter als die des Eisens sein würde. Die alten Deutschen
scheinen neben Holz nur den Torf als Brennmaterial verwendet zu
haben; es finden sich auch alte Schlackenhalden an der Ruhr, also
in kohlenreicher Gegend, nicht im Thal, sondern offenbar wegen der
bequemen Nähe der Wälder auf Bergesrücken. Daß
die Römer, als sie als Eroberer England betraten, die Kohlen
wenigstens an den Ausstrichen benutzt haben, ist durch Funde auf
dem Herd eines römischen Bades bewiesen. In Deutschland
scheint das Zwickauer Becken schon von den bergbautreibenden Sorben
benutzt worden zu sein, während die Ausbeutung des belgischen
und Aachener Beckens sich rückwärts bis ins 11., des
Ruhrbeckens bis ins 14. Jahrh. verfolgen läßt. In
England werden schon im 9. Jahrh. Kohlen als Brennmaterial
urkundlich erwähnt; im 12. Jahrh. sind sie bereits ein
wichtiger Handelsartikel, der sich nicht mehr vom Markt
verdrängen ließ, obgleich mehrere Edikte ihre Benutzung
als luftverpestend verboten. Vgl. Geinitz, Fleck und Hartig, Die
Steinkohlen Deutschlands und andrer Länder Europas
(Münch. 1865); v. Dechen, Die nutzbaren Mineralien und
Gebirgsarten im Deutschen Reich (Berl. 1873); Hull The coalfields
of Great Britain (4. Aufl., Lond. 1880); Mac Farlane, The
coalregions of the United States (New York 1873), Mietzsch,
Geologie der Kohlenlager (Leipz. 1875); Pechar, Kohle und Eisen in
allen Ländern der Erde (Stuttg. 1878); Höfer, Die Kohlen-
und Eisenerzlagerstätten Nordamerikas (Wien 1878,
Ausstellungsbericht); Muck, Grundzüge und Zieleder
Steinkohlenchemie (Bonn 1881); Derselbe, Chemisches
Steinkohlenbüchlein (das. 1882); Toula, Die Steinkohlen (Wien
1888); Demanet, Betrieb der Steinkohlenbergwerke (deutsch,
Braunschw. 1886).

Steinkohleformation (Kohlenformation, karbonische
Formation; hierzu die Tafeln "Steinkohlenformation I-III"), ein
vorwaltend aus Kalksteinen, Konglomeraten, Grauwacken, Sandsteinen
und Schieferthonen, untergeordnet aus Steinkohle,
Sphärosideriten und Kieselschiefern bestehendes
paläozoisches Schichtensystem, das bei vollkommener
Entwickelung der Systemreihe der devonischen Formation aufgelagert
ist und seinerseits vom Rotliegenden überlagert wird. Die
Trennung von den beiden benachbarten Formationen wird häufig
durch vollkommene Konkordanz und petrographische Ähnlichkeit
der betreffenden Grenzschichten, namentlich gegen das Rotliegende
hin, erschwert. Paläontologisch wird die S. charakterisiert
durch die in keiner andern Periode erreichte Üppigkeit der
Kryptogamenflora und durch das erstmalige Auftretenvon Reptilien
und luftatmenden Tieren. Sehr häufig ist die mitunter bis zu
7000 m Mächtigkeit anschwellende Schichtenfolge den
ältern Formationen in Form flach tellerartiger Mulden, Becken
oder Bassins aufgelagert, deren Zusammenhang und ursprüngliche
Lage allerdings oft durch sekundäre Störungen
(Verwerfungen) unterbrochen und verändert worden sind. Das
beigegebene Profil (s. Tafel III) durch einen Teil des Kohlenfeldes
von Zwickau (Sachsen) soll ein Bild der allgemeinen
Lagerungsverhältnisse geben. Es ist der südwestliche
Flügel einer Mulde mit einer Mehrzahl

Steinkohlenformation I.

Säulenglieder (Entrochiten) von Rhodocrinus verus. (Art.
Krinoideen.)

Palaeocidaris clliptica, ganze Schale. (Art. Echinoideen.)

Kinnlade von Cochliodus contortus. (Art. Selachier.)

Rückenstachel von Orodus cinctus.

(Art. Selachier.)

Geöffnet, mit : aufgerollte Armgerüst.

Rückenstachel von

Tristychius arcuatus.

(Art. Selachier.)

Spirifer hystericus. (Art. Brachiopoden.)

Platycrinus triacanmodactylus. (Art. Krinoideen.)

Vorderansicht. Seitenansicht. Conocardium fusiforme. (Art.
Muscheln.)

Einzelner Arm mit den Ranken.

ChoilCtes Dalmanni. (Art. Brachiopoden.)

Von oben. Von der Seite. [Von unten. Pentremites
florßalis. (Art. Krinoideen.)

Innere Seiten-Kammern, ansieht.

Chaetetes radians. (Art. Koranen.)

Nat. Vorder-Gr. ansieht.

Fusulina cylindrica. (Art. Rhizopoden.)

Oyclophthalmus Bucklandi, daneben -lie Flügeldecken eines
Käfers.

(Art. Spinneniere.)

Goniatites sphaericus. (Art. Tintenschnecken.)

Meyers Konv. - Lexikon, 4. Aufl.

Bibliographisches Institut in Leipzig.

Goniatites Jossae (Art. Tintenschnecken.)

Zum Artikel »Steinkohlenformation«

Steinkohlenformation II.

1. Zahnfarn (Odontopteris). - 2. Schuppenbaum (Lepidodendron).
-

3. Cordaites borassifolia. - 4.Pecopteris cyathea. - 5.
Kalamiten. -

6. Sigillaria. - 7. Stigmarienform einer Sigillarie mit Wurzeln
im

Wasser. - 8. Blattstern von Annularien.

Steinkohlenformation III.

GEOLOGISCHES PROFIL DURCH DAS KOHLENFELD VON ZWICKAU.

Von der Cainsdorfer Kirche nach Morgensternschacht II (Nach
Mietzsch).

273

Steinkohlenformation (Abteilungen, Flora).

von Kohlenflözen und zeigt neben dem allgemeinen Einfallen
der Schichten nach Nordosten die Störungen dieser
Gesetzmäßigkeit durch die Verwerfungen, welche einzelne
Abschnitte der Kohlenflöze und der übrige Schichten
losgetrennt und, relativ zu ihrer Umgebung, in eine
größere Tiefe versetzt haben.

Wo immer alle Glieder der S. entwickelt sind, läßt
sich eine Zweiteilung der Formation nach petrographischen u.
paläontologischen Unterschieden nachweisen, deren unteres
Glied zur Bildung von Facies neigt, für welche es aber an
Übergängen ineinander nicht mangelt. In Amerika, den
meisten Becken Englands, in Frankreich, Belgien, am Niederrhein, in
Schlesien und Rußland wird die unterste Abteilung von einem
gewöhnlich festen und dichten, mitunter (Rußland)
kreideartigen Kalkstein (Bergkalk, Mountain limestone, Kohlenkalk,
metallführender Kalk) gebildet, der reich an organischen
Resten meerischen Ursprungs ist. Untergeordnet kommen mit dem
Bergkalk Dolomit, Anhydrit, Gips, Steinsalz (Westvirginia, Durham,
Bristol) vor. In Devonshire, Irland, Nassau, am Harz, in Schlesien,
Mähren und den Alpen (Gailthaler Schichten) bilden dagegen
Thonschiefer, Sandsteine, Grauwacken und Kieselschiefer ein als
Kulm bezeichnetes Äquivalent des Kohlenkalks. Ärmer an
Versteinerungen als der Kohlenkalk, führt der Kulm immerhin
noch genug Arten (Posidonomya Becheri, Goniatites sphaericus etc.)
gemeinsam mit dem Kalk, um ihn als bloße Facies desselben
aufzufassen. Während die Thonschiefer oft sehr reich an
Posidonomya Becheri sind (Posidonomyenschiefer), stellen sich in
den Grauwacken und Sandsteinen Pflanzenreste ein (die im Kohlenkalk
nur als äußerste Seltenheiten bekannt sind), mitunter
sogar zu kleinen Flözen angehäuft (Calamites
transitionis, Sagenaria, Stigmaria). Man betrachtet diese Facies
als eine Bildung innerhalb flacher Meeresbuchten, während der
Kohlenkalk einen Absatz des hohen Meers darstellen würde. Eine
dritte Facies dieser untersten Abteilung ist endlich die von sehr
groben Konglomeraten mit untergeordneten Sandsteinen und
Schieferthonen, an einigen Punkten Sachsens flözführend,
in mehreren Becken durch auskeilende Wechsellagerung mit Kohlenkalk
verknüpft. Es würde sich diese Art der Entwickelung als
eine Uferbildung deuten lassen. - Über jeder dieser Facies ist
als zweites Glied der S. ein Sandstein mit untergeordneten
Konglomeraten entwickelt, der nur selten und dann gewöhnlich
unbauwürdige Flöze enthält. Dieser flözleere
Sandstein (obere Kulmgrauwacke, Millstone grit) wird häufig
dem Kohlenkalk und Kulm noch beigezählt und mit diesem
zusammen als subkarbonische Formation der obern Abteilung, der
produktiven Kohlenformation (Hauptsteinkohlenformation),
entgegengestellt. Diese besteht an den meisten Orten aus
Sandsteinen und Schieferthonen, aus Steinkohlen, thonigen
Sphärosideriten, bald in einzelnen Konkretionen in den
Schieferthonen eingeschlossen, bald zusammenhängende Lagen
bildend, und Kohleneisenstein (s. Spateisenstein). Die Kohle
ebensowohl als die Eisenerze sind lediglich gelegentliche Begleiter
der übrigen Gesteine und, selbst wo sie vorhanden sind, in so
geringer Mächtigkeit gegenüber den Sandsteinen und
Schieferthonen entwickelt, daß sie trotz ihrer großen
technischen Wichtigkeit nur als untergeordnete Glieder der
produktiven S. bezeichnet werden können. Es ist deshalb die
Benennung "produktiv" für die obere Abteilung keine
glückliche, um so weniger, als neuere Untersuchungen zu
beweisen scheinen, daß die nach dieser Bezeichnung
vorausgesetzte ungefähre Gleichalterigkeit für die
wichtigsten Kohlenvorkommnisse nicht besteht, daß vielmehr
einige englische sowie die von Ostrau und Waldenburg dem Kulm, die
westfälischen, belgischen, nordfranzösischen und viele
englische einer untern Stufe der obern Abteilung zugerechnet werden
müssen, während die Flöze von Pilsen und
Zentralfrankreich eine jüngere Periode derselben Abteilung
repräsentieren. Aber auch diese Abteilung führt an
manchen Orten, z. B. Yorkshire, Kentucky, Öberschlesien und
namentlich in Rußland (Fusulinenkalk), Kalksteine mit reichen
Resten marinen Charakters. Das Hangende der produktiven S. wird in
einigen Gegenden (z. B. im Saargebiet) von einer Schichtenfolge
(Ottweiler Schichten) gebildet, deren innige Verwandtschaft mit
höher gelegenen (Cuseler Schichten, s. Dyasformation) die oben
erwähnte Schwierigkeit der Abgrenzung gegen das Rotliegende
bedingt. Die für die Kohle der S. gegebene geographische
Verbreitung (s. Steinkohle) stellt natürlich nur einen kleinen
Teil derjenigen der S. dar, insofern als namentlich der Bergkalk
über große Horizontalstrecken hin als anstehendes
Gestein dominiert. So nimmt derselbe einen großen Teil des
südlichen und mittlern England ein und bildet im Innern
mitunter groteske Bergpartien, an der Küste von Südwales
steile Klippen. In Schottland und in einigen Gegenden Englands sind
die Facies der Konglomerate und des Kulms die Unterlage der
produktiven S., in Irland fehlt die jüngere Abteilung
gänzlich. In Deutschland tritt Kohlenkalk als unterstes Glied
des Aachener (und belgischen) sowie des westfälischen Beckens
auf, weniger und meist durch Kulm vertreten in Schlesien,
während in Hessen-Nassau nur die untere Abteilung (Kulm), bei
Saarbrücken lediglich die obere Abteilung vorkommt. In
Böhmen fehlt ebenfalls die subkarbonische Formation; dagegen
sind in Mähren, besonders aber in Rußland, auf
Spitzbergen, auf den Bäreninseln und in Nordamerika
Kohlenkalke in großer Verbreitung bekannt.

Die pflanzlichen und tierischen Reste der S. unterliegen einer
ähnlichen Trennung wie das Gesteinsmaterial. Die erstern sind
wesentlich auf die Steinkohlenflöze und die sie begleitenden
Schieferthone beschränkt, die tierischen Reste an den
Kohlenkalk und den Kulm geknüpft. Die Flora der S. war trotz
aller Üppigkeit, wie sie sich in der großartigen
Aufhäufung zu mächtigen Kohlenflözen ausspricht,
eine formenarme: es fehlen die höhern Dikotyledonen
vollständig, und auch Koniferen, Palmen und Cykadeen spielen
eine untergeordnete Rolle. Der Schwerpunkt des pflanzlichen Lebens
lag in den Kryptogamen, von denen einige Geschlechter in
größter Anzahl der Individuen und in später nie
wieder erreichten Dimensionen auftreten. Die Kalamiten (s. Tafel
"Steinkohlenformation II", Fig. 5) haben unter der Flora der
Jetztwelt die Schafthalme (Equiseten) zu nächsten Verwandten,
und in die gleiche Klasse dürften auch die zierlichen Rosetten
der Annularien (Fig. 8 und Sphenophyllen gehören. Zu den
Lykopodiaceen zählen die Siegelbäume (Sigillarien, Fig.
6), die Schuppenbäume (Lepidodendren, Fig. 2) und vielleicht
auch die Cordaites-Arten (Fig. 3), die jedoch von andern mit mehr
Wahrscheinlichkeit den Cykadeen zugezählt werden. Besonders
die erstgenannten Angehörigen einer Familie, welche jetzt fast
ausschließlich niedrige, krautartige Pflanzen ausweist,
mögen als baumartige Formen mit ihren Stämmen, welche
deutliche, im Quincunx gestellte, bald rhombische, bald
sechsseitige Blattnarben tragen, den Wäldern der S.

274

Steinkohlenformation (Tierreste).

den typischen Charakter aufgeprägt haben. Die Stigmarien
(Tafel II, Fig. 7) gehören zu ihnen als die Wurzelstöcke
mit weithin verzweigten Wurzeln, während die Lücken
zwischen den Stämmen durch zahlreiche krautartige Farne (man
kennt über 200 Arten), zum Teil noch jetzt lebenden
engverwandt, ausgefüllt waren (z. B. Odontopteris, Fig. I).
Außer diesen niedrigen farnformen kamen aber auch Baumfarne
vor (z. B. Pecopteris, Fig. 4). Neben den
Gefäßkryptogamen treten die Cykadeen (Noeggerathia,
Pterophyllum) und die Koniferen (aus der Abteilung der Araukarien)
nach Arten- und Individuenzahl weit zurück. Die meisten gut
erkennbaren Pflanzenreste sind den die Kohlenflöze
begleitenden Schieferthonen eingelagert; es unterliegt aber keinem
Zweifel und ist durch viele mikroskopische Untersuchungen
dargethan, daß die Kohlenflöze selbst aus dem Detritus
derselben Pflanzen bestehen, deren einzelne Fragmente in den
benachbarten Thon eingeschlossen wurden. Sigillarien, ihre
Wurzelstöcke, die Stigmarien, und Lepidodendren sind
nachweisbar die Hauptkohlenpflanzen, schon der Masse nach
untergeordnet die Kalamiten (manche Rußkohle) und Araukarien,
noch seltener Farne. Das Gesamtbild der Flora der S. ist das einer
üppigen tropischen Sumpfflora; aber trotzdem ist die in den
Kohlenflözen aufgehäufte Pflanzenmenge eine erstaunliche:
hat doch Chevandier berechnet, daß ein 100jähriger
Buchenwald beim Verkohlen ein Schichtchen von nur 2 cm Kohle
liefern würde. Man hat deshalb geglaubt, lokale
Aufhäufungen der Pflanzenleichen durch Anschwemmungen annehmen
zu müssen. Aber das Vorkommen aufrecht stehender Stämme,
die große Reinheit des kohligen Materials, die
ununterbrochene Verbreitung eines und desselben Kohlenflözes
über mitunter große Horizontalstrecken widersprechen
einer solchen Anschwemmungshypothese und lassen sie höchstens
für kleinere Kohlenschmitzchen oder stockartige, in
horizontaler Richtung unbedeutend entwickelte Vorkommnisse gelten.
Man hat ferner (Mohr) das eigentliche kohlenbildende Material nicht
in den oben beschriebenen Pflanzen, sondern vielmehr in Seetangen
gesucht, welche, wie die heutigen Sargassomeere (deren Ausdehnung
übrigens nach neuern Forschungen auch nicht so bedeutend ist,
als man bislang annahm), in großen Bänken aufgetreten
und nach dem Absterben in geschlossenen Massen auf den Boden
gesunken seien. Aber die mikroskopische Untersuchung der
Steinkohlen widerspricht dieser Auffassung vollständig. So
bleibt nichts übrig, als Sümpfe und Moräste auf
flachen Ufern des Meeresstrandes, den Dschangeln (s. d.)
vergleichbar, anzunehmen, in denen unter tropischer Sonne eine die
unsrige an Üppigkeit weit übertreffende Pflanzenwelt sich
entwickelte. Periodische Einbrüche des Meers vernichteten
vorübergehend dieses Leben und führten Schlamm und Sand,
das jetzt als Schieferthon und Sandstein die einzelnen
Kohlenflöze trennende Material, herbei, welches nach
Rückzug des Meers für eine neue Vegetation den Boden
darbot. Ob sich von diesen pelagischen oder paralischen
Kohlenbecken einige kleinere als limnische abtrennen lassen, die
sich an und in Süßwasserseen gebildet haben würden,
diese Ansicht steht und fällt mit der Deutung gewisser
Molluskenreste (Anthracosia) in der Unterlage der betreffenden
Flöze als Süßwasser- oder Seeformen (vgl.
Süßwasserformationen). - Der Typus der Kohlenpflanzen
weist auf eine mittlere Temperatur von 20-25° hin, und der
Umstand, daß selbst hochnordische Kohlenbecken eine
tropischen Charakter tragende Flora geliefert haben, scheint die
Annahme zu rechtfertigen, es sei diese hohe Mitteltemperatur damals
eine allgemein herrschende gewesen. Auf den Zustand der
Atmosphäre während der S. lassen die großartigen
Kohlenschätze insofern schließen, als die
aufgehäuften Pflanzen zum Aufbau ihrer Körper der
Atmosphäre den in ihr als Kohlensäure enthaltenen
Kohlenstoff entzogen. Vor und während der S. mußte
demnach die Luft viel reicher als heute an Kohlensäure sein.
Man hat auf Grund einer Schätzung der Menge der Kohlen den
damaligen Gehalt auf 0,06 Proz. berechnet, also auf das 150fache
des heutigen. Die Tierreste der S. widersprechen der Annahme einer
kohlensäurereichen Atmosphäre nicht: fehlen doch alle
warmblütigen Tiere, während die Reptilien
erfahrungsmäßig in kohlensäurereicher Luft leben
können. In der obern Abteilung der S. war das tierische Leben
auf ein Minimum beschränkt, ähnlich wie heute in unsern
Urwäldern. Interesse erregen einige Landschnecken, Skorpione
(z. B. Cyclophthalmus Bucklandi, s. Tafel I), Spinnen,
Tausendfüße, Heuschrecken, Schaben und Käfer (s.
die Flügeldecke auf derselben Platte). Die Wassertümpel
waren von kleinen Schalenkrebsen (Leaia, Leperditia, Estheria)
bevölkert, während als höchst organisierte Tiere
Amphibien auftreten. Die meisten derselben gehören
Mittelformen zwischen den Echsen und Batrachiern an, den
großschädeligen Labyrinthodonten. Weit
größern Reichtum an tierischen Resten, unzweifelhaften
Meeresbewohnern, birgt der Bergkalk. Von Protozoen kommt eine
weizenkorngroße Foraminifere, Fusulina cylindrica (s. Tafel
I), namentlich in Rußland und Amerika in zahllosen Exemplaren
vor, bestimmte Lagen des Kalks (Fusulinenkalk) fast
ausschließlich zusammensetzend. Die Korallen (Chaetetes, s.
Tafel I), welche ebenfalls mitunter in gesteinsbildender Fülle
auftreten, gehören denselben Ordnungen wie die des Silurs und
der Devonischen Formation (s. d.) an. Die Krinoideen sind zahlreich
nach Formen und Individuen; zu der Krinoideenabteilung der
Blastoideen gehört das Genus Pentremites (s. Tafel I), welches
zwar schon im Silur und Devon auftritt, in der Steinkohle aber
seine zahlreichsten Vertreter besitzt. Aus der Ordnung der
Seelilien stellt die Tafel die Stielglieder (Entrochiten) von
Rhodocrinus Verus dar, welche sich schichtenweise ebenso
aufgehäuft vorfinden wie die Säulenglieder von Encrinus
im Muschelkalk oder von Pentacrinus im Lias sowie Platycrinus
triacanthodactylus. Seeigel, aus 30-35 Reihen sechsseitiger Platten
zusammengesetzt, sind durch mehrere Genera (darunter Palaeocidaris,
s. Tafel I) vertreten. Unter den Mollusken sind die Ordnungen der
Brachiopoden und Cephalopoden, wenn auch noch artenreich, doch
nicht mehr so vorwaltend wie in den noch ältern Formationen
(Chonetes Dalmanni, Spirifer hystericus, Goniatites Jossae und G.
sphaericus, s. Tafel I). Zu den Pelekypoden zählen die im Kulm
häufige Posidonomya Becheri, die Anthracosia und das nach vorn
abgestutzte, nach hinten schnabelförmig ausgezogene und
klaffende Conocardium fusiforme (s. Tafel I). Die Gastropoden
gehören fast ausnahmslos denselben Genera wie die der
devonischen Formation an. Die Trilobiten klingen in der S. aus und
sind nur noch durch die kleinen und seltenen Arten der Gattung
Phillipsia vertreten; daneben sind, wenn auch selten,
Molukkenkrebse (Limulus) beobachtet worden. Von Fischen der S.
findet man Zähne und Rückenstacheln besonders
häufig. Sie gehören Haien an, wenn auch Abteilungen,
welche in der Jetztwelt teils ganz erloschen, teils nur durch
wenige Formen vertreten sind (Orodus. Tristychius

275

Steinkohlengas - Steinla.

und Cochliodus, s. Tafel I). Die Ganoidengeschlechter
Palaeoniscus und Amblypterus kommen in sehr zahlreichen
vollständigen Exemplaren in Schichten (Lehbach im Saarbecken)
vor, welche jetzt dem Rotliegenden beigezählt werden. - Die
vulkanische Thätigkeit lieferte während der
Steinkohlenperiode Diabase (in Schottland, England, Frankreich, an
einzelnen Punkten Deutschlands), Felsitporphyre (Sachsen,
Niederschlesien, Frankreich), seltener Diorite, Pechsteine und
Melaphyre, während die eigentliche Eruptionszeit der zuletzt
genannten erst in die Dyasperiode fällt. Namentlich die
Diabase sind durch Decken und Tuffe, welche sich zwischen die
karbonischen Gesteine einschalten, besonders häufig als
zweifellos gleichzeitige Bildungen charakterisiert. Es mögen
diese sowie jüngere Eruptivgesteine zum Teil auch die
zahlreichen Schichtenstörungen (s. Verwerfungen), welchen die
Gesteine der S. unterworfen sind, verursacht haben. - An technisch
wichtigen Materialien liefert die S. in erster Linie Kohlen und
Eisenerze, außerdem wichtige Erze besonders auf
gangförmigen Lagerstätten. So gehört ein Teil der
Oberharzer Gänge von silberhaltigem Bleiglanz dem Kulm an;
Englands und Amerikas Kohlenkalk birgt ebenfalls
Bleiglanzgänge. Von den Aachener und belgischen
Zinkerzlagerstätten bilden einige Gänge, andre Nester und
Lager, teils in karbonischen Gesteinen, teils an der Grenze
zwischen diesen und devonischen Schichten, teils innerhalb des
devonischen Systems. Der Bergkalk selbst endlich dient hin und
wieder als Marmor und als Zuschlag beim Hochofenbetrieb, gewisse
Varietäten des flözleeren Sandsteins als Mühlstein
(woher der englische Name: Millstone grit), andre als feuerfestes
Material. Vgl. die bei Art. Steinkohle (S. 272) angeführten
Werke, außerdem: Weiß, Das Steinkohlengebirge an der
Saar (Berl. 1875); Lottner, Das westfälische
Steinkohlengebirge (2. Ausg., Iserl. 1868); Geinitz, Geognostische
Darstellung der S. in Sachsen (Leipz. 1856); Römer, Geologie
von Oberschlesien (Bresl. 1870); Geinitz, Die Versteinerungen der
S. in Sachsen (Leipz. 1855); Andrae, Vorweltliche Pflanzen aus dem
Steinkohlengebirge der preußischen Rheinlande und Westfalens
(Bonn 1865-69); Stur, Beiträge zur Kenntnis der Flora der
Vorwelt (Wien 1875-83).

Steinkohlengas, s. Leuchtgas.

Steinkohlenkreosot, s. Phenol.

Steinkohlenpech, pechartige Masse, welche aus
Steinkohlenteer gewonnen wird. Destilliert man aus letzterm die
flüchtigern Öle ab, so erhält man als Rückstand
Asphalt, etwa 80 Proz. vom Gewicht des Teers; destilliert man etwa
10 Proz. mehr ab, so bildet der Rückstand weiches und bei noch
weiter fortgesetzter Destillation mittelhartes und hartes Pech.
Seit Begründung der Anthracenindustrie destilliert man
allgemein bis zur Bildung von hartem Pech, pumpt dann wieder
schweres Teeröl in die Blase und erhält, je nach der
Menge des letztern, weiches Pech, Asphalt, präparierten Teer
oder künstlichen Stockholmer Teer. Weiches Pech erweicht bei
40° und schmilzt bei 60°, mittelhartes erweicht bei 60°
und schmilzt bei 100°, hartes erweicht bei 100° und
schmilzt bei 150-200°.

Steinkohlenasphalt dient als Surrogat des natürlichen
Asphalts und wird zu diesem Zweck mit Sand, Kies, Asche,
Ziegelmehl, Kalkstein, Kreide etc. gemischt. Sehr verbessert wird
er durch Erhitzen mit Schwefel, und ein derartiges Präparat
bildet, vielleicht noch mit Zusatz von indifferenten erdigen
Bestandteilen, den Häuslerschen Holzzement. Hartes Pech wird
in weiches verwandelt (wiederbelebt), indem man es in Teer, Asphalt
oder Schweröl schmelzt und mit Hilfe einer Schraube ohne Ende
bis zu völliger Homogenität knetet. Das S. dient
besonders zur Brikettfabrikation, eignet sich aber auch
vortrefflich zur Darstellung von Ruß, als Reduktionsmittel
bei chemischen Prozessen und zur Zementstahlfabrikation. Wird das
Pech noch in der Blase mit sehr viel Schweröl verdünnt,
so erhält man den präparierten Teer, der viel billiger
ist als roher Teer, dabei aber für Anstriche, zur
Dachpappenfabrikation, in der Seilerei etc. ungleich wertvoller als
letzterer. Er dringt schneller und tiefer in Holz und Stein ein,
trocknet schneller und ohne Risse (in 12-24 Stunden) und gibt einen
schönen glänzenden Überzug. Als Surrogat des
Holzteers (Stockholmer Teer) führt er den Namen
künstlicher Stockholmer Teer. Einen feinern, noch schneller
(in 4-6 Stunden) trocknenden Firnis für feinere Eisenwaren
erhält man auf gleiche Weise aus Pech und Leichtöl, und
endlich wird dieser noch mit Naphtha oder Petroleumäther u.
dgl. gemischt, in welchem Fall der Lack in einer Stunde, ja in
einer Viertelstunde trocknet. Alle drei Firnisse haften ungemein
fest am Eisen und geben einen ziemlich harten, stark
glänzenden und sehr glatten überzug. Diese
Verwendungsarten des Steinkohlenpechs konsumieren nur sehr wenig
von der großen produzierten Menge, und man treibt deshalb die
Destillation noch weiter, um schließlich nur Koks als
Rückstand zu erhalten, für welche stets Absatz gefunden
werden kann. Bei der Anwendung gußeiserner Retorten und eines
Exhaustors, welcher zur Beförderung der Dampfentwickelung ein
teilweises Vakuum in der Retorte erzeugt, erhält man zwischen
260 und 315° meist Naphthalin, dann bis 370° ein
anthracenreiches Produkt und bei höherer Temperatur minder
flüchtige Körper. Die Destillate geben beim Stehen einen
Absatz, aus welchem Rohanthracen gewonnen wird, und das
übrigbleibende Öl dient zum Schmieren. Der
Ausführung der Pechdestillation im größern Umfang
steht bis jetzt noch die Schwierigkeit entgegen, ein passendes
Retortenmaterial zu finden. Vgl. Lunge, Die Industrie der
Steinkohlenteer-Destillation etc. (2. Aufl., Braunschw. 1888).

Steinkohlensystem, s. v. w. Steinkohlenformation.

Steinkohlenteerkampfer, s. v. w. Naphthalin.

Steinkolik, s. Harnsteine, S. 175.

Steinkonkretionen, s. Steinigwerden.

Steinkrankheit, die durch Harnsteine (s. d.)
hervorgerufenen Beschwerden.

Steinkraut, s. Alyssum.

Steinkreise, s. Steinsetzungen.

Steinkresse, s. Chrysospienium.

Steinkultus, s. Steindienst.

Steinla, Moritz, eigentlich Müller, Kupferstecher,
geb. 1791 zu Steinla bei Hildesheim, bildete sich an der Akademie
in Dresden, dann in Florenz unter Morghens und in Mailand unter
Longhis Leitung. In Florenz vollendete er 1829 einen
ausgezeichneten Stich nach Tizians Zinsgroschen. Nach seiner
Rückkehr aus Italien ließ er sich in Dresden nieder, wo
er später Professor der Kupferstecherkunst an der Akademie
wurde und 1830 die Pietà nach Fra Bartolommeo, 1836 den
Kindermord nach Raffael, 1838 die Madonna della Misericordia nach
Fra Bartolommeo, 1841 die Madonna des Bürgermeisters Meyer
nach Holbein stach, welche ihm von der Pariser Akademie die
große goldene Preismedaille erwarb. Seine letzten Hauptwerke
waren die Stiche nach der Sixtinischen Madonna (1848) und der
Madonna mit dem Fisch von Raffael. Er starb 21. Sept. 1858.

276

Steinle - Steinmine.

Steinle, Eduard Jakob von, Maler, geb. 2. Juli 1810 zu
Wien, war Schüler der Akademie daselbst und von Kupelwieser
und ging 1828 nach Rom, wo er sich eng an Overbeck und Ph. Veit
anschloß und bis 1834 blieb. In die Heimat
zurückgekehrt, lebte er mit einigen Unterbrechungen, unter
andern veranlaßt durch einen Aufenthalt in München zur
Erlernung der Freskotechnik bei Cornelius, in Frankfurt a. M. und
wurde dort 1850 erster Professor am Städelschen Institut. 1838
führte er in der Kapelle des Bethmann-Hollwegschen Schlosses
Rheineck seine ersten Fresken aus. Dann begann er im Domchor zu
Köln Freskogemälde, die Engelchöre auf Goldgrund
darstellend, Schöpfungen von großartiger Wirkung. 1844
malte er für den Kaisersaal zu Frankfurt das Urteil Salomos.
1857 begann die Ausmalung der Ägidienkirche in Münster.
Von 1860 bis 1863 beschäftigten ihn die vier großen, die
Kulturentwickelung der Rheinlande schildernden Fresken im
Treppenhaus des Museums Wallraf-Richartz in Köln. Dann malte
er von 1865 bis 1866 die sieben Chornischen der Marienkirche in
Aachen aus. Nach Beendigung der Ausschmückung der
fürstlich Löwenstein-Wertheimschen Kapelle zu Heubach mit
Fresken und Ornamenten wurde ihm 1875 die Ausmalung des Chors im
Münster zu Straßburg übertragen, und 1880 erhielt
er vom Frankfurter Dombauverein den Auftrag, das Innere des Doms
vollständig auszumalen, wozu er einen umfangreichen Entwurf im
Verein mit dem Architekten Linnemann aufstellte. S. hat auch eine
große Anzahl von meist religiösen Staffeleibildern
geschaffen, aber auch Porträte und romantisch gehaltene
Genrebilder von feiner Färbung (der Türmer und der
Violinspieler in der Galerie Schack zu München); ferner eine
Menge von Zeichnungen und Aquarellen, teils religiösen
Inhalts, teils nach Shakespeareschen und andern Dichtungen. Diese
Aquarelle haben meist einen romantischen Zug, den er schon
frühzeitig durch den Verkehr mit Klemens Brentano angenommen
hatte, dessen Dichtungen ihm ebenfalls mehrere Motive geboten
haben. Seine Hauptwerke dieser Gattung sind: Rheinmärchen und
die mehreren Wehmüller nach Brentano, die Beichte in St. Peter
zu Rom, Szene aus "Was ihr wollt" von Shakespeare (in der Berliner
Nationalgalerie), Schneeweißchen und Rosenrot und der
Parzival-Cyklus, sämtlich Aquarelle. S. starb 19. Sept. 1886.
Vgl. v. Wurzbach, Ein Madonnenmaler unsrer Zeit (Wien 1879);
Valentin, Ed. Jak. v. S. (Leipz. 1887).

Steinlerche, s. Pieper und Flüevogel.

Steinlorbeer, s. Viburnum.

Steinmannit, s. Bleiglanz.

Steinmark, Sammelname für eine Reihe derber,
dichter, weißer, gelblicher oder rötlicher,
undurchsichtiger, matter, fettig anzufühlender,
thonerdehaltiger Silikate, die als Zersetzungsprodukte feldspatiger
Mineralien in ihrer Zusammensetzung schwanken und sich zum Teil vom
Kaolin, zum Teil vom Nakrit nicht trennen lassen. Als typisches S.
wird das aus dem Porphyr von Rochlitz in Sachsen aufgeführt
und in Carnat und Myelin getrennt. Beide scheinen sich vom Kaolin
nur in Bezug auf den Gehalt an Wasser zu unterscheiden,
während die Varietäten aus dem Melaphyr von Kainsdorf bei
Zwickau und diejenige, welche den Topas am Schneckenstein in
Sachsen begleitet, dem Nakrit zuzuzählen sind.

Steinmasse, s. Steine, künstliche.

Steinmerle, s. Steindrossel.

Steinmetz, Karl Friedrich von, preuß.
Generalfeldmarschall, geb. 27. Dez. 1796 zu Eisenach, ward im
Kadettenhaus erzogen, trat 1813 als Leutnant in das 1. Regiment,
mit dem er fast alle Gefechte und Schlachten des Yorkschen Korps
1813-14 mitmachte, ward mehrere Male verwundet und erwarb sich das
Eiserne Kreuz. 1818 wurde er in das 2. Garderegiment versetzt, 1820
zur Kriegsschule, 1824 zum topographischen Büreau kommandiert,
1829 Hauptmann, erhielt 1839 als Major das Düsseldorfer
Gardelandwehrbataillon und 1841 ein Bataillon Gardereserve in
Spandau. Während des Barrikadenkampfs in Berlin 18. März
1848 befehligte er das 2. Infanterieregiment, mit welchem er auch
nach Schleswig ging. Im Oktober ward er Kommandeur des 32.
Infanterieregiments, 1849 Oberstleutnant, 1851 Oberst und
Kommandeur des Kadettenkorps, 1854 Kommandant von Magdeburg und
Generalmajor, 1857 Kommandeur der 3. Gardeinfanteriebrigade, im
Oktober der 1. Division in Königsberg, 1858 Generalleutnant,
1862 kommandierender General des 2., 1864 des 5. Korps und General
der Infanterie. An der Spitze des 5. Korps, das zur zweiten Armee
gehörte, siegte er 27. Juni 1866 bei Nachod, am 28. bei
Skalitz und am 29. bei Schweinschädel nacheinander über
drei österreichische Korps und nahm denselben 2 Fahnen, 2
Standarten, 11 Geschütze und gegen 6000 Gefangene ab. Für
diese großartigen Leistungen, welche wesentlich zu der
Durchführung des ganzen Operationsplans beitrugen, erhielt S.
den Schwarzen Adlerorden sowie eine Dotation und ward auch 1867 in
den norddeutschen Reichstag gewählt. 1870 erhielt er das
Oberkommando der ersten Armee, welche den rechten Flügel des
deutschen Aufmarsches bildete. In dieser Stellung entsprach er
jedoch den Erwartungen nicht. Sein durch seine großen Erfolge
von 1866 gesteigerter Eigensinn wirkte höchst nachteilig und
störend ein. Mit der zweiten Armee hatte er fortwährend
Streitigkeiten über Quartiere und Marschrouten, mit Moltke
über die Operationen seiner Armee. In der Schlacht bei
Gravelotte griff er bei St.-Hubert mit einem Kavallerieangriff so
zur Unzeit ein, daß die Schlacht nahe daran war, verloren zu
werden. Infolge hiervon wurde S. nach der Schlacht bei Gravelotte
dem Prinzen Friedrich Karl unterstellt und, da er sich diesem nicht
fügte, zum Generalgouverneur der Provinzen Posen und Schlesien
ernannt, aber 8. April 1871 zum charakterisierten
Generalfeldmarschall ernannt und zu den Offizieren von der Armee
versetzt. S. lebte darauf zu Görlitz und starb 4. Aug. 1877 im
Bad Landeck. S. war ein rauher und herber Vorgesetzter, aber ein
diensteifriger Offizier von spartanischer Strenge gegen sich selbst
und ein tüchtiger Korpskommandeur.

Steinmeyer, Franz Ludwig, protest. Theolog, geb. 15. Nov.
1812 zu Beeskow in der Mittelmark, war Prediger zu Kulm und Berlin,
dann ordentlicher Professor der Theologie 1852 in Berlin, 1854 in
Bonn, 1858 in Berlin. Von ihm erschienen: "Beiträge zum
Schriftverständnis in Predigten" (2. Aufl., Berl. 1859-66, 4
Bde.); "Apologetische Beiträge" (das. 1866-73, 4 Bde.);
"Beiträge zur praktischen Theologie" (das. 1874-79, 5 Bde.);
"Beiträge zur Christologie" (das. 1880-82, 3 Bde.);
"Geschichte der Passion des Herrn" (2. Aufl., das. 1882); "Die
Wunderthaten des Herrn" (das. 1884); "Die Parabeln des Herrn" (das.
1884); "Die Rede des Herrn auf dem Berge" (das. 1885); "Das
hohepriesterliche Gebet" (das. 1886); "Beiträge zum
Verständnis des Johanneischen Evangeliums" (das. 1886-89, 4
Bde.).

Steinmine (Erdwurf, Erdmörser), unter 45° in die
Erde gegrabene und an den Seitenwänden

277

Steinmispel - Steinschnitt.

mit Brettern bekleidete Gruben, die, mit Pulver und Steinen
gefüllt, demnächst mit Erde verdämmt, durch
Zündschnur entzündet, zur Sperrung von Engwegen oder in
den letzten Stadien des Festungskriegs angewandt worden sind. Bei
den Savartinen sind Cylinder aus Eisenblech in die Gruben
gesetzt.

Steinmispel, s. Cotoneaster.

Steinnuß, s. Elfenbein (Surrogat).

Steinobstgehölze, s. Amygdaleen.

Steinöl, s. Erdöl.

Steinoperationen, s. Steinschnitt.

Steinpappe, s. v. w. Dachpappe; auch eine Masse aus
aufgeweichtem und zerkleinertem Papier, angemacht mit Leimwasser
und versetzt mit Thon und Kreide (auch Leinöl), dient zu
Reliefornamenten.

Steinpfeffer, s. Sedum.

Steinpicker, s. Steinschmätzer.

Steinpilz, s. Boletus.

Steinpitzger, s. Schmerle.

Steinpleis, Dorf in der sächs. Kreis- und
Amtshauptmannschaft Zwickau, an der Pleiße, hat eine evang.
Kirche, Vigognespinnerei, Kunstwollfabrikation, Färberei, eine
Dampfmahlmühle und (1885) 2769 Einwohner.

Steinringe, s. Steinsetzungen.

Steinröschen, s. Daphne.

Steinrötel, s. Steindrossel.

Steinsalz, s. Salz, S. 236.

Steinsame, s. Lithospermum.

Steinsänger, s. v. w. Steinschmätzer.

Steinschmätzer (Saxicola Bechst.), Gattung aus der
Ordnung der Sperlingsvögel, der Familie der Drosseln
(Turdidae) und der Unterfamilie der S. (Saxicolinae), schlanke
Vögel mit pfriemenförmigem Schnabel, welcher an der
Wurzel breiter als hoch, auf der Firste kantig und an der Spitze
etwas abgebogen ist, etwas stumpfen Flügeln, in welchen die
dritte und vierte Schwinge am längsten sind, ziemlich kurzem
und breitem, gerade abgeschnittenem Schwanz und hohen und
dünnen Füßen mit mittellangen Zehen. Der S.
(Steinsänger, Steinpicker, Steinbeißer, S. oenanthe
Bechst.), 16 cm lang, 29 cm breit, oberseits hellgrau, an der Brust
rostgelblich, auf dem Bürzel, an der Unterseite und an der
Stirn weiß, mit weißem Augenstreifen, um die Augen, an
den Flügeln und den beiden mittlern Schwanzfedern schwarz; die
übrigen Schwanzfedern sind am Grund weiß, an der Spitze
schwarz; das Auge ist braun, Schnabel und Fuß schwarz. Er
bewohnt Mittel- und Nordeuropa, die asiatischen Länder
gleicher Breite und den hohen Norden Amerikas. Bei uns weilt er vom
März bis September. Er findet sich in steinreichen Gegenden
und geht in der Schweiz bis über den Gürtel des
Holzwuchses empor. Sehr gewandt, munter, ungesellig, vorsichtig,
lebt er einsam, läuft ungemein schnell, fliegt ausgezeichnet,
aber nicht hoch und macht, auf einem Felsen sitzend, wiederholt
Bücklinge. Sein Gesang ist unbedeutend. Er nährt sich von
Insekten, nistet in Felsritzen und Baumlöchern und legt im Mai
5-7 bläuliche oder grünlichweiße Eier (s. Tafel
"Eier I"), welche das Weibchen allein ausbrütet. In der
Gefangenschaft geht er durch seine Wildheit bald zu Grunde.

Steinschneidekunst (Glyptik, Lithoglyptik), die Kunst,
Gegenstände aus Edel- und Halbedelsteinen reliefartig erhaben
(Kameen, s. d.) oder vertieft (Gemmen, Intaglien) in dieselben
eingegraben darzustellen, sowie überhaupt die Kunst,
Edelsteine und Halbedelsteine zu bearbeiten, d. h. ihnen durch
Schleifen die verlangte Gestalt zu geben und sie zu polieren.
Ersteres geschieht auf der Schleifmaschine und vermittelst der
Steinzeiger, letzteres auf bleiernen und hölzernen Scheiben,
erst mit Schmirgel und Bimsstein, dann mit Tripel und Wasser.
Über die Geschichte der S. s. Gemmen nebst Tafel.

Steinschneider, Moritz, jüd. Gelehrter, geb. 30.
März 1816 zu Proßnitz in Mähren, studierte
Philologie und Pädagogik an der Universität Prag, darauf
Orientalia in Wien und wandte sich hier der jüdischen
Theologie und Litteratur zu. Nachdem er seine Studien seit 1839
noch in Leipzig, später in Berlin und 1842 in Prag
fortgesetzt, wurde er hier Lehrer an einer höhern
Töchterschule und ging 1845 nach Berlin, wo er seit 1859 an
der Veitel-Heine-Ephraimschen Lehranstalt Vorlesungen hält und
seit 1869 auch als Direktor der Töchterschule der Berliner
jüdischen Gemeinde thätig ist. Unter seinen
wissenschaftlichen Arbeiten stehen obenan seine an
Forschungsergebnissen reichen Kataloge, von denen wir den
"Catalogus librorum hebraeorum in bibliotheca Bodlejana" (Berl.
1852-60), den dazu gehörigen "Conspectus codicum manuscr.
hebraic. in bibl. Bodl." (das. 1857), "Die hebräischen
Handschriften der königlichen Hof- und Staatsbibliothek in
München" (Münch. 1875), den "Katalog der hebräischen
Handschriften in der Stadtbibliothek zu Hamburg" (Hamb. 1878) und
den "Katalog der hebräischen Handschriften der
königlichen Bibliothek zu Berlin" (Berl. 1878) hervorheben.
Steinschneiders Artikel "Jüdische Litteratur" in Ersch und
Grubers "Encyklopädie" (2. Sekt., 27. Bd.; englisch, Lond.
1857) ist die erste vollständige Darstellung des Gegenstandes
in größerm Umfang. Seine sonstigen Arbeiten sind meist
in der von ihm herausgegebenen "Hebräischen Bibliographie"
(Berl. 1859-64, 1869-81) veröffentlicht. Auf dem Gebiet der
arabischen Litteratur beleuchten seine Abhandlungen
hauptsächlich Philosophie ("Alfarabi", 1869), Medizin
("Donnolo. Pharmakologische Fragmente aus dem 10. Jahrhundert",
Berl. 1868; toxikologische Schriften u. a. in Virchows "Archiv"
1871, 1873) und Mathematik ("Baldi, Vite di matematici arabi", Rom
1874; "Abraham ibn Esra", Leipz. 1880, u. a. in Zeitschriften).

Steinschnitt, ein Teil der Stereometrie, s.
Stereotomie.

Steinschnitt (Blasensteinschnitt, Lithotomie), die
kunstmäßige Eröffnung der Harnblase oder ihres
Halses an irgend einer Stelle und in einem solchen Umfang,
daß ein darin befindlicher Harnstein (s. Harnsteine) entfernt
werden kann. Es gibt fünf verschiedene Methoden des
Steinschnitts beim Mann. Der S. mit der kleinen Gerätschaft,
von Celsus zuerst beschrieben, besteht darin, daß man am Damm
und am Blasenhals einen Einschnitt nach dem Stein zu macht und
denselben mit dem Steinlöffel heraushebt. Beim S. mit der
großen Gerätschaft, von Joh. de Romanis im 16. Jahrh.
erfunden, wird zuerst eine gefurchte Leitungssonde in die Blase
gebracht, an dem Damm die Harnröhre in ihrem schwammigen Teil
durch einen Einschnitt geöffnet und der Blasenhals mittels
besonderer Instrumente in dem Grad erweitert, daß der Stein
herausgenommen werden kann. Diese Methode hat zwar unbestreitbar
Vorzüge vor der erstern, doch sind dabei ebenfalls
Zerreißung und Quetschung leicht möglich und
außerdem die Ausziehung des Steins mit bedeutenden
Beschwerden für den Kranken verbunden. Der hohe Apparat oder
Bauchblasenschnitt, von Franco 1561 erfunden, besteht in der
Eröffnung der Blase zwischen dem obern Rande der

278

Steinschönau - Steinthal.

Schambeine und der Falte des die Blase überziehenden
Bauchfells. Üble Umstände während dieser Operation
und nach derselben sind besonders: Verletzung und heftige
Entzündung des Bauchfells, Infiltration des Harns in das
Zellgewebe, Abscesse, Brand. Ausgeführt wird derselbe
besonders bei Knaben und bei sehr großen Steinen, die sich
auf den andern Wegen nicht herausbefördern lassen. Der
Seitensteinschnitt, ebenfalls von Franco erfunden und
gegenwärtig am meisten üblich, charakterisiert sich im
allgemeinen dadurch, daß im Damm ein Einschnitt gemacht wird,
welcher sich von der linken Seite der Naht des Hodensackes gegen
das Sitzbein herzieht, darauf der häutige Teil der
Harnröhre geöffnet und der Blasenhals, die Prostata und
selbst ein Teil des Blasenkörpers eingeschnitten werden. Die
Methode des Steinschnitts durch den Mastdarm, von L. Hoffmann
vorgeschlagen, besteht darin, daß ein Bistouri durch den
Mastdarm eingeführt, die vordere Wand des Mastdarms und der
äußere Sphinkter des Afters sowie dann auf der
eingeführten Steinsonde der Blasenhals und die Prostata
eingeschnitten und der Stein durch die Zange entfernt wird.
Geringere Lebensgefahr, nicht gefährliche Blutung,
Möglichkeit der Entfernung großer Steine gelten als
Vorzüge, das Zurückbleiben einer Kot- und Urinfistel und
Impotenz als Nachteile dieser Methode. Der S. kommt bei Weibern
ungemein viel seltener vor als bei Männern; einmal, weil
Steine bei jenen überhaupt viel seltener sind, anderseits,
weil nicht zu große Steine bei ihnen durch die kurze, gerade
und sehr dehnbare Harnröhre leicht abgehen oder doch
ausgezogen oder zerstückelt (s. unten) werden können.
Beim Weib wird der Schnitt entweder unterhalb des Schoßbogens
mit Einschneidung der Harnröhre und des Blasenhalses oder
unterhalb der Schoßfuge ohne Verletzung der Harnröhre
geführt, oder es wird die Harnblase von der Scheide aus oder
endlich oberhalb des Schoßbodens, wie beim Mann,
geöffnet. - Denselben Zweck wie mit dem S. sucht man mit der
Steinzermalmung (Steinzertrümmerung, Lithotritie,
Lithotripsie) zu erreichen. Hierbei werden mittels in die Harnblase
eingebrachter Werkzeuge die Steine zerstückelt, so daß
sie mit dem Urin abgehen. Dieses Verfahren, schon früher
vorgeschlagen, wurde von Gruithuisen (1813), Amussat (1821),
Civiale (1824), Heurteloup (1832) und Charrière durch
Erfindung passender Instrumente in Aufnahme gebracht. Hauptmethoden
sind: die jetzt obsolete Perforation oder Anbohrung des Steins
mittels eines in die Harnröhre einzuführenden, aus drei
ineinander passenden Teilen bestehenden Instruments (Lithotritor),
die lithoklastische Methode (Lithotripsie), welche bloß
zerdrückend und zermalmend wirkt und bei nicht sehr harten
Steinen angewendet wird, und die Perkussion, die durch Stoß
und Schlag wirkt, indem man mit einem zweiarmigen Instrument,
welches geschlossen in die Harnröhre eingeführt, durch
Zurückziehen des einen Arms geöffnet und dann wieder
vermittelst eines Hammers geschlossen wird, den Stein faßt
und zu zerdrücken sucht. Die Lithotritie ist zwar nicht so
verletzend wie der S., befreit aber den Kranken meist erst nach
mehreren Operationsversuchen von seinem Übel. Sie ist daher zu
beschränken auf weichere und namentlich kleinere Blasensteine
bei jüngern Individuen mit sonst gesunden Harnorganen,
während große und harte Steine bei ältern Personen
und sonstigen, die an Blasenkatarrh, Nierenreizung etc. leiden, dem
S. anheimfallen.

Steinschönau, Marktflecken in der böhm.
Bezirkshauptmannschaft Tetschen, an der Flügelbahn
Böhmisch-Kamnitz-S. der Böhmischen Nordbahn, ein
Hauptsitz der böhmischen Glasindustrie, mit Fachschule,
zahlreichen Glasraffinerien, bedeutendem Export, Möbelfabrik
und (1880) 4410 Einw.

Steinsetzungen, aus einzelnen oder mehreren Steinen
bestehende Denkmäler, die in vorgeschichtlicher, zum Teil auch
noch in geschichtlicher Zeit zur Erinnerung an gewisse Ereignisse
oder zum Gedächtnis der Toten errichtet wurden. Man
unterscheidet Menhirs (maen, men, keltisch = Stein, hir = lang) und
Cromlechs (crom, keltisch = gekrümmt, lech = Stein) oder
Steinkreise, Steinringe. Die Menhirs sind einzelne, senkrecht
gestellte, meist sehr große (bis 19 m), nicht oder grob
behauene Monolithen. Bisweilen finden sich mehrere Menhirs auf
beschränktem Raum und in geordneter Stellung, wie auf dem
Heerberg bei Beckum in Westfalen und bei Carnac in der Bretagne, wo
sich eine Gruppe aus unbehauenen Steinen, von denen der
größte 7,5 m hoch ist, in elf Reihen etwa 3 km weit
hinzieht. Die Menhirs bezeichnen oft die Stelle eines Grabes oder
einer gemeinsamen Begräbnisstätte der Vorzeit; sie werden
in der Ilias und in der Bibel erwähnt, manche aber
gehören der historischen Zeit an, wie das Denkmal an die
Schlacht bei Largs in Schottland dem 13. Jahrh. Häufig bilden
Reihen von Menhirs die Seitenwände von Gängen, welche zur
Grabkammer der Dolmen oder in das Innere prähistorischer
Grabhügel führen. Über die Steinkreise s. Cromlech.
Auf den Menhirs wie auf den Felsblöcken der Cromlechs finden
sich hier und da Inschriften (Striche, Kreise, Spiralen etc.), von
denen aber nur sehr wenige entziffert werden konnten; auch ist
zweifelhaft, ob diese Inschriften mit den S. gleichaltrig sind oder
einer spätern Zeit angehören. Ausgrabungen in
unmittelbarer Nähe der S. haben Stein-, Bronze-, Eisen-,
Knochen- und Horngeräte, Thonscherben, Münzen aus
frühgeschichtlicher Zeit zu Tage gefördert. Mit den
Menhirs und Cromlechs werden die Dolmen (s. d.) als megalithische
Denkmäler zusammengefaßt. S. Tafel "Kultur der
Steinzeit".

Steintanz, s. Gräber, prähistorische.

Steinthal, Landstrich im Unterelsaß, Kreis
Molsheim, in den Vogesen zu beiden Seiten der Breusch, mit den
Orten Rothau, Waldersbach und Fouday, ehedem eine unfruchtbare,
öde und arme Gegend, jetzt durch die Bemühungen des
Pfarrers Oberlin (s. d.) in einen gewerbthätigen und
wohlhabenden Distrikt umgewandelt.

Steinthal, Heymann, Sprachphilosoph und Linguist, geb.
16. Mai 1823 zu Gröbzig im Anhaltischen, studierte in Berlin
seit 1843 Philologie und Philosophie und habilitierte sich 1850 an
der dortigen Universität, wo er über allgemeine
Sprachwissenschaft und Mythologie Vorträge hielt. 1852-55
verweilte er zum Behuf chinesischer Sprach- und Litteraturstudien
in Paris; seit 1863 ist er außerordentlicher Professor der
allgemeinen Sprachwissenschaft zu Berlin, wo er seit 1872 auch an
der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums
Religionsphilosophie und Religionsgeschichte lehrt. Von Steinthals
sprachwissenschaftlichen Werken, die sich im allgemeinen an die von
W. v. Humboldt begründete philosophische Behandlung der
Sprache anschließen, sind als die bedeutendsten zu nennen:
"Der Ursprung der Sprache im Zusammenhang mit den letzten Fragen
alles Wissens" (Berl. 1851, 4. erweiterte Aufl. 1888); die
"Klassifikation der Sprachen, dargestellt als die Entwicke-

279

Steintisch - Steinverband.

lung der Sprachidee" (das. 1850), welches Werk später
neubearbeitet unter dem Titel: "Charakteristik der
hauptsächlichsten Typen des Sprachbaues" (das. 1860) erschien
und sehr anregend gewirkt hat; ferner "Die Entwickelung der
Schrift" (das. 1852); "Grammatik, Logik, Psychologie, ihre
Prinzipien und ihre Verhältnisse zu einander" (das. 1855);
"Geschichte der Sprachwissenschaft bei den Griechen und
Römern" (das. 1863); "Die Mande-Negersprachen, psychologisch
und phonetisch betrachtet" (das. 1867); "Abriß der
Sprachwissenschaft" (Bd. 1: "Einleitung in die Psychologie und
Sprachwissenschaft", 2. Aufl. 1881). Von kleinern Arbeiten sind zu
nennen: "Die Sprachwissenschaft W. v. Humboldts und die Hegelsche
Philosophie" (Berl. 1848); "Philologie, Geschichte und Psychologie
in ihren gegenseitigen Beziehungen" (das. 1864);
"Gedächtnisrede auf W. v. Humboldt" (das. 1867) u. a. Von
einer Sammlung seiner "Kleinen Schriften" erschien der 1. Band
(Berl. 1880). Mit Lazarus gibt S. die "Zeitschrift für
Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft" (Berl. 1860 ff.)
heraus, die von ihm namentlich kritische Aufsätze
enthält. Auch besorgte er eine Ausgabe der
"Sprachwissenschaftlichen Werke W. von Humboldts, mit Benutzung
seines handschriftlichen Nachlasses" (Berl. 1884). Seine neueste
Veröffentlichung ist "Allgemeine Ethik" (Berl. 1885).

Steintisch, s. Dolmen.

Steinverband, diejenige Anordnung der Mauersteine, durch
welche auch ohne Bindemittel ein möglichst fester Zusammenhang
unter denselben hergestellt wird. Als Hauptregeln gelten: a) die
Lagerfugen der Mauersteine müssen möglichst horizontale
Ebenen bilden; b) die Stoßfugen der Mauersteine dürfen
in unmittelbar aufeinander folgenden Schichten nicht aufeinander
treffen. Je nach der Gattung der Mauersteine unterscheidet man den
Verband mit künstlichen Steinen (Backsteinen, Mauerziegeln),
mit regelmäßig bearbeiteten natürlichen Steinen
(Quadern, Hausteinen, Werksteinen), mit roh bearbeiteten
natürlichen Steinen (Bruchsteinen) und den gemischten
Verband.

I. S. künstlicher Steine. Die deutschen Normalziegel sind
25 cm lang, 12 cm breit und 6,5 cm dick, wobei zwei Steinbreiten,
vermehrt um eine Stoßfuge von 1 cm, einer Steinlänge
gleich sind (2 x 12 + 1 = 25 cm). Man vermauert ganze Steine, halbe
Steine von der halben Länge ganzer Steine, Dreiviertelsteine
(Dreiquartierstücke) von ¾ der Länge ganzer Steine
und Riem- oder Kopfstücke von der halben Breite und der vollen
Länge ganzer Steine. Steine, welche der Länge nach
parallel und normal zur Mauerflucht liegen, heißen bez.
Läufer und Binder (Strecker) und die aus solchen Steinen
hergestellten Mauerschichten bez. Läuferschichten und
Binderschichten (Streckerschichten). Man unterscheidet folgende
Hauptsteinverbände: 1) Den Schornsteinverband (Fig. 1), so
genannt, weil er für die meist ½ Stein starken Wangen
der Schornsteine verwendet wird, entsteht durch die
regelmäßige Versetzung der Stoßfugen von
Läufern um je ½ Stein und liefert also an den beiden
Enden eine regelmäßige Abtreppung (Fig. 1, rechts) und
eine regelmäßige Verzahnung (Fig. 1, links). 2) Der
Blockverband (Fig. 2-4) entsteht durch regelmäßige
Abwechselung von Binder- und Läuferschichten, wenn deren
Stoßfugen in der Mauerflucht um je ¼ Stein versetzt
werden. In der Ansicht bilden sich hierdurch die durch
Schraffierung (in Fig. 2) hervorgehobenen, zusammenhängenden
Kreuze. Fig. 2 zeigt eine 1 Stein starke Mauer, deren Abtreppung
rechts durch je zwei Stufen von ¾ und ¼ Stein, und
deren Verzahnung links durch Vor- oder Rücksprünge von je
¼ Stein gebildet wird. Aus Fig. 3 u. 4 ergeben sich die
Blockverbände für 1½ Stein u. 2 Steine starke
Mauern mit ihren natürlichen Abtreppungen rechts und
Verzahnungen links. 3) Der Kreuzverband (Fig. 5) entsteht aus dem
Blockverband, wenn die Stoßfugen der 3., 7., 11. etc.
Läuferschicht in der Mauerflucht um ½ Stein verschoben
werden. In der Ansicht bilden sich hierdurch die durch
Schraffierung hervorgehobenen unzusammenhängenden Kreuze,
während die Abtreppung rechts durch Stufen von je ¼
Stein und deren Verzahnung links durch Vor- oder
Rücksprünge von je 2¼ Stein gebildet wird. 4) Der
polnische oder gotische Verband (Fig. 6 u. 7) entsteht, wenn in
einer und derselben Schicht Läufer und Binder abwechseln,
wobei sich in der Ansicht das in Fig. 6 durch Schraffierung
hervorgehobene Muster ergibt. Dieser Verband verstößt
gegen die unter b) gegebene Hauptreael, indem stellenweise Fuge auf
Fuge trifft. Fig. 6 zeigt eine 1 Stein, Fig. 7 eine 1½ Stein
starke Mauer, wobei diejenigen Fugen, welche aufeinander treffen,
markiert sind, mit ihren Abtreppungen rechts und Verzahnungen
links. 5) Der holländische Verband (Fig. 8) vermeidet zwar den
eben angegebenen Fehler des polnischen Verbandes, findet aber
trotzdem nur beschränkte Verwendung. In der Ansicht bildet

Fig. 1. Schronsteinverband.

Fig. 2. Blockverband.

Fig. 3. und 4. Blockverband für 1½ und 2 Steine
starke Mauern.

Fig. 5. Kreuzverband.

Fig. 6. Polnischer Verband (1 Stein).

Fig. 7. Polnischer Verband (1½ Stein).

Fig. 9. Haustein-Eckverband.

Fig. 8. Holländischer Verband.

Fig. 10. Haustein-Eckverband.

280

Steinwald - Steinzeit.

sich das in der Figur durch Schraffierung hervorgehobene Muster,
welche zugleich die Abtreppung links und die Verzahnung links
darstellt. Verbände für Pfeiler und Säulen aus
künstlichen Steinen sowie für Ecken und Kreuzungen von
Mauern sind mit deren Stärke sehr verschieden und in den unten
bezeichneten Werken mehr oder minder ausführlich
dargestellt.

II. S. regelmäßig bearbeiteter natürlicher
Steine. Bei schwächern Mauern wird dieser Verband dem in Fig.
1 dargestellten Schornsteinverband nachgebildet. Bei stärkern
Mauern weicht man von dem Ziegelverband ab und zieht vor, nur
Läufer von verschiedener Breite zu verwenden (Fig. 9 u. 10).
Bei Mauerecken läßt man die in beiden Figuren durch
Schraffierung hervorgehobenen sogen. Flügelsteine in beide
Mauern eingreifen, um hierdurch den beiden Schenkeln der Ecke mehr
Zusammenhang zu geben.

III. S. roh bearbeiteter natürlicher Steine. Da die Steine
hierbei verwendet werden, wie sie aus dem Bruch kommen, und nur mit
dem Mauerhammer etwas zugerichtet werden, so kann von einem
regelmäßigen S. nicht mehr die Rede sein. Immerhin sucht
man den Hauptregeln desselben möglichst zu entsprechen und
möglichst ebene und horizontale Lagerfugen wenigstens in
gewissen, nicht zu hohen Schichten herzustellen, wobei man die
Unebenheiten durch passende Steinstücke ausfüllt, um das
Aufeinandertreffen der Stoßfugen möglichst zu
vermeiden.

IV. Gemischter S. Derselbe entsteht, wenn Bruchsteinmauern in
den Außenflächen mit Quadern oder auch Backsteinen oder
Ziegelmauern mit Quadern verkleidet (verblendet) werden, weshalb
dieses Mauerwerk auch Blendmauerwerk heißt. Gewöhnlich
wechseln hierbei Läufer und Binder der regelmäßigen
Steine in einer und derselben Schicht miteinander ab, während
deren Zwischenräume durch Bruchsteine ausgefüllt
werden.

Steinwald, s. Fichtelgebirge, S. 239.

Steinwärder, Vorort von Hamburg, auf einer Elbinsel
im Freihafengebiet, hat große Schiffswerften,
Maschinenfabrikation, Kesselschmiederei und (1885) 4039
Einwohner.

Steinweg, Heinrich, Pianofortebauer, geb. 15. Febr. 1797
zu Seesen, begann in Braunschweig mit dem Bau von Guitarren und
Zithern und ging dann zum Bau von Tafelklavieren, Pianinos und
Flügeln über. Erlernt hatte er nur die Tischlerei und den
Orgelbau zu Goslar. 1850 übergab er das Braunschweiger
Geschäft seinem Sohn Theodor und ging mit vier andern
Söhnen nach New York, wo sie zunächst in mehreren
Klavierfabriken arbeiteten, 1853 aber sich selbständig unter
der Firma Steinway and Sons etablierten. Das Geschäft nahm
schnell einen enormen Aufschwung, nachdem es 1855 auf der New
Yorker Industrieausstellung den ersten Preis für seine
kreuzsaitigen Pianofortes erhalten. Es liefert jetzt
wöchentlich ca. 60 Instrumente, und das Magazin der Firma ist
eins der schönsten Gebäude der Stadt New York sowie der
Musiksaal "Steinway-Hall" einer ihrer größten
Konzertsäle. Heinrich S. starb 7. Febr. 1871 in New York. Von
den übrigen Begründern der New Yorker Firma lebt nur noch
Wilhelm, der vierte Sohn. Theodor S. gab 1865 das Braunschweiger
Geschäft auf (jetzt: Theodor Steinweg Nachfolger, Helferich,
Grotrian u. Komp.) und trat in das New Yorker ein, nachdem seine
Brüder Heinrich 11. März 1865 in New York und Karl 31.
März 1865 in Braunschweig gestorben waren; er selbst starb 26.
März 1889 in Braunschweig; Albert S. war bereits 1876 in New
York gestorben. Von den patentierten Verbesserungen der Firma seien
erwähnt: die Patent-Agraffeneinrichtung (1855), welche die
Widerstandsfähigkeit des Rahmens gegen die Saiten erhöht;
die Patentkonstruktion in Flügeln von kreuzsaitiger Mensur
(1859), deren Vorteile der Hauptsache nach in den verlängerten
Stegen und deren Verschiebung von den Rändern ab nach der
Mitte des Resonanzbodens zu suchen sind, wodurch größere
Räume zwischen den Chören der Saiten entstehen und somit
größere Resonanzflächen in Bewegung gesetzt werden;
der vibrierende Resonanzbodensteg mit akustischen Klangpfosten
(1869), beruhend auf der Tonleitung durch Stäbe und besonders
bei Pianinos und Flügeln von kleinerer Dimension angewendet;
der Patentringsteg am Resonanzboden (1869), wodurch eine bis dahin
unerreichte Gleichheit der Klangfarbe im Übergang von den
glatten zu den übersponnenen Saiten erzielt wird; die
Doppelmensur (1872); das Patent-Tonhaltungspedal (1874); die neue
Metallrahmenkonstruktion (1875) u. a.

Steinweichsel, s. Kirschbaum, S. 789.

Steinwein, s. Frankenweine.

Steinwurz, s. Agrimonia.

Steinzeit (Steinzeitalter, hierzu Tafel "Kultur der
Steinzeit"), der erste große Abschnitt der Prähistorie,
in welchem der auf niedriger Kulturstufe befindliche Mensch den
Gebrauch der Metalle noch nicht kannte und seine Geräte,
Werkzeuge und Waffen aus Holz, Knochen, Horn, besonders aber aus
Stein herstellte. Solche Steingeräte wurden früher als
vom Himmel herabgefallene Blitzsteine oder Donnerkeile betrachtet,
auch wegen ihrer Form Katzenzungen genannt. Im Gegensatz zur
Metallzeit (s. d.) umfaßt die S. außerordentlich lange
Zeiträume, innerhalb deren der Kulturfortschritt durch
allmähliche Vervollkommnung der besagten Geräte sich zu
erkennen gibt. Man unterscheidet die ältere S. oder
paläolithische Periode und die jüngere S. oder
neolithische Periode. In der ältern wurden die im allgemeinen
sehr primitiven Steingeräte durch Zuhauen, bez. vermittelst
des durch Schläge bewirkten Absplitterns geeigneter
Stücke von größern Steinklumpen hergestellt,
während Waffen und Geräte der jüngern S. durch
Schleifen und Polieren ihre Form erhalten haben. Eine scharfe
Grenze zwischen beiden Perioden läßt sich
selbstverständlich nicht ziehen, und bezüglich einzelner
Funde, wie der dänischen Küchenabfälle, ist es
zweifelhaft, ob sie der paläo- oder der neolithischen Periode
oder einer Übergangszeit angehören. Die ältere S.
fällt im allgemeinen zusammen mit der diluvialen und
eiszeitlichen Existenz des Menschengeschlechts, die jüngere S.
mit der alluvialen und nacheiszeitlichen Existenz des Menschen. Das
Zusammenfallen der ältern S. in Deutschland mit der
Diluvialperiode erklärt sich nach Penck aus dem gegen Ende der
Diluvialzeit stattgehabten klimatischen Wechsel (Abschmelzen der
Gletscher), welcher Veränderungen in der Bewohnbarkeit
gewisser Länderstrecken hervorrief, die ihrerseits wieder zu
Wanderungen des vorgeschichtlichen Menschen Anstoß gaben, bei
welchen im Besitz der neolithischen Kultur befindliche
Volksstämme nach Europa gelangten und der paläolithischen
Kultur den Untergang bereiteten. Die Fundstätten, welche
über die Existenzbedingungen und Lebensweise des Menschen der
ältern S. Aufschlüsse liefern, liegen in diluvialen
Ablagerungen der Flußthäler und in den Kalkhöhlen
Deutschlands, Belgiens, Frankreichs und Englands. Knochen des
Höhlenbären und Höhlenlöwen, des Mammuts,
Auerochsen, Hippopotamus, mehrerer Rhinozerosarten, des irischen
Riesenhirsches u. a. werden mit körperlichen Überresten,
Geräten und sonstigen

Kultur der Steinzeit.

(Shurb Hill.) (Poiton.) Paläolithische
Feuersteingeräte.

(Rügen.) (Irland.) (Schonen.)

_ (Dänemark.) (Dänemark.)

Feuersteinäxte und Schleifsteine.

(Rügen.) (Rügen.) (Schonen.) (Danemark.)
Feuersteinnucleus, Messer, Pfeilspitzen und Schaber.

chönow.) (Lübben.) (Hadersleben.) (Tondern.)
Brandenburg. Schleswig:.

(Schleswig.! (Rügen.)

Feuersteindolche, Lanzenspitze und Säge.

Meyers Konv. - Lexikon, 4. Aufl.

Tumulus mit Grabkammern.

Bibliographisches Institut in Leipzig.

(Waaren.) (Köthen.) (Asmusstadt.)

Mecklenburg. Anhalt.

Durchbohrte Steinhämmer.

Zum Artikel »Steinzeit«.

281

Steinzeit.

Spuren des paläolithischen Menschen auf gemeinschaftlicher
Lagerstätte angetroffen. Im Rheinthal und in Frankreich
aufgefundene Moschusochsenschädel, die hin und wieder die
Spuren menschlicher Thätigkeit erkennen lassen, sowie die in
den Höhlen des Perigord, im Keßlerloch bei Thayingen
(Kanton Schaffhausen) und anderwärts aufgefundenen
bearbeiteten Renntiergeweihe beweisen, daß der
paläolithische Mensch diese Gegenden zu einer Zeit bewohnt
hat, wo das Klima Nord- und Mitteleuropas ein kälteres gewesen
ist als heutzutage. Während die Funde von Taubach (unweit
Weimar) andeuten, daß der Mensch der ältern S. das
heutige Thüringen während der der letzten Vergletscherung
vorausgehenden Interglazialepoche (zwischen zwei Vergletscherungen
fallende wärmere Zwischenperiode) bewohnt hat, zeigen die
Funde von der Schussenquelle (Oberschwaben), bestehend in einer
nordische Moose enthaltenden, unmittelbar auf der
Rheingletschermoräne gelegenen Kulturschicht, daß der
Mensch hier während der letzten Vergletscherungsepoche lebte.
Die Nahrung des paläolithischen Menschen bestand aus dem
Fleisch der erwähnten Tiere und aus Fischen; auch das
diluviale Pferd hat, wie die Funde zahlreicher, zur Gewinnung des
Knochenmarks aufgeschlagener Pferdeknochen beweisen, als
Nahrungsmittel des Menschen der ältern S. eine wichtige Rolle
gespielt. Außer den Höhlen dienten ihm Erdgruben und aus
Fellen hergerichtete Zelte als Wohnungen. Daß er die Felle
des erlegten Wildes mit Hilfe von Tiersehnen zur Kleidung
aneinander nähte, deuten die in diluvialen Höhlen
gefundenen Knochennadeln an, welche durch langen Gebrauch abgenutzt
sind. Man fand auch Stücke farbiger Erde zum Bemalen des
Körpers und zum Teil höchst primitive
Schmuckgegenstände (durchbohrte Tierzähne, welche, mit
Darmsaiten zur Kette aneinander gereiht, getragen wurden, Knochen
kleiner Tiere, Schneckengehäuse und Muscheln, Stücke Jet,
Plättchen von Renntierhorn u. dgl.). Die in französischen
Höhlen, im Keßlerloch und anderwärts aufgefundenen
Gravierungen in Renntierhorn u. Mammutelfenbein und die aus diesem
Material hergestellten Schnitzereien beweisen eine gewisse Begabung
für bildnerische Thätigkeit. Als Material für die
primitiven Geräte, welche in paläolithischen
Fundstätten angetroffen werden, dienten vorzugsweise
Feuersteinknollen, die den Gegenstand eines ausgedehnten
Handelsverkehrs bildeten und zum Teil durch primitiven Bergbau (s.
Schmutzgruben) gewonnen wurden. In der Nachbarschaft der
Feuersteinlager entstanden auch jene Feuersteinwerkstätten,
von wo aus die Umgebung mit Werkzeugen und Waffen versehen wurde.
Solche Werkstätten wurden in Frankreich zu Pressigny le Grand,
in Belgien auf dem rechten Ufer der Trouille, unweit Spiennes,
aufgedeckt. Während für schneidende oder stechende
Werkzeuge und Waffen Gesteinsarten, welche beim Behauen eine
scharfe Kante liefern, wie Feuerstein, Jaspis, Quarz, Achat,
Obsidian u. dgl., vorzugsweise Verwendung fanden, wurden
Hämmer und Äxte aus Diorit, Porphyr, Basalt u. dgl.
angefertigt. Daß die Bearbeitung des Rohmaterials in der
nämlichen Weise stattfand, wie noch heutzutage die Eingebornen
Australiens ihr Steingerät herstellen, indem sie nämlich
gegen den zwischen den Füßen festgehaltenen Steinblock
rasch aufeinander folgende Schläge führen, dies beweisen
die an der Mehrzahl der paläolithischen Geräte und Waffen
nachweisbaren Schlagmarken. Letztere lassen die von Menschenhand
hergestellten Steinobjekte sicher von jenen Steinfragmenten
unterscheiden, welche durch zufällige Zersplitterung ohne
Mitwirkung des Menschen entstehen. Indem von den Feuersteinknollen
messerförmige Späne oder Splitter abgesprengt werden,
bleiben in der Regel jene charakteristisch geformten Steinkerne
(nuclei, s. Tafel "Kultur der Steinzeit") übrig.
Arbeitssteine, ovale Steine mit Aushöhlungen an einer oder
beiden Oberflächen, dienten als Hämmer oder Schnitzer.
Die Schlagsteine (Schlagkugeln) zeigen auf den Rändern die
Spuren der mit ihnen ausgeführten Schläge. Die
Steinmesser (s. Tafel) sind dünne, zweischneidige, einer
Barbierlanzette ähnelnde, länglich-ovale Splitter, die
Schabsteine (s. Tafel) im allgemeinen von mehr
unregelmäßiger Form. Sehr häufig finden sich in den
ältern paläolithischen Fundstätten
mandelförmige Steinäxte (s. Tafel), die wahrscheinlich
vermittelst Tiersehnen an einem Holzstiel befestigt, aber auch als
Meißel oder Pfrieme verwendet wurden. Steinobjekte von drei-
oder viereckiger Form, die auf der einen Seite flach, auf der
andern mehr oder weniger gewölbt, 2½-5½ Zoll
lang, 1½ bis 2½ Zoll breit sind, und die eine wenn
auch nicht scharfe, doch sehr starke Schneide besitzen, werden
vorzugsweise in den Küchenabfallhaufen Dänemarks
angetroffen und in der Regel als kleine Steinbeile bezeichnet, von
Steenstrup aber als Angelschnurgewichte gedeutet. Von
Schleudersteinen unterscheidet man einfache, roh bearbeitete
Feuersteinstücke und runde, etwas abgeflachte, zierlich
gearbeitete Scheiben. Aus Feuerstein hergestellte Sägen (s.
Tafel) gehören in paläolithischen Fundstätten
ebenfalls nicht zu den Seltenheiten. Die Pfeilspitzen (s. Tafel)
der ältern Stadien der paläolithischen Zeit sind von
plumper, dreieckiger Gestalt, später finden sich leichter und
besser gearbeitete, rautenförmige, blattförmige oder mit
Widerhaken versehene Stücke, und daß gegen das Ende der
ältern S. eine bedeutende Vervollkommnung in der Herstellung
der Geräte und Waffen stattgefunden hat, beweisen die
kunstvoll gearbeiteten, meist lorbeerblattförmigen Dolch- und
Speerspitzen (s. Tafel), wie sie in jüngern
paläolithischen Fundstätten wiederholt angetroffen
wurden. Ferner finden sich Speerspitzen und Harpunen aus Knochen,
Renntier- und Hirschgeweih sowie eigentümlich geformte, aus
dem nämlichen Material hergestellte und mit Gravierungen
versehene Objekte, welche als Kommandostäbe (Abzeichen des
Häuptlings etc.) bezeichnet werden. In Gemeinschaft mit
paläolithischen Geräten werden in Deutschland und
Belgien, aber nicht in Frankreich und England Scherben irdenen
Geschirrs, die, mit der Hand geformt und an der Sonne getrocknet,
nur geringe Kunstfertigkeit verraten, nicht selten angetroffen.

Die relativ hohe Entwicklungsstufe, welche der Mensch der
jüngern S. im Vergleich zum paläolithischen Menschen
einnimmt, äußert sich zunächst in der
außerordentlich sorgfältigen und stellenweise einen
nicht geringen Geschmack bekundenden Herstellung der Waffen und
Werkzeuge, die zum Teil auch bedeutende Dimensionen aufweisen. So
fanden sich z. B. in Skandinavien sorgfältig gearbeitete
Steinäxte, welche 33 cm lang sind und in der Mitte eine Breite
von 55-57 mm und eine Dicke von 35-38 mm aufweisen. Die
neolithischen Feuersteingeräte sind nicht von Knollen
abgeschlagene Steinsplitter, sondern von allen Seiten bearbeitete
Steinstücke. Dieselben sind geschliffen oder mehr oder weniger
sorgfältig gemuschelt, d. h. es sind aus dem Feuerstein
Teilchen in muschelförmigem Bruch herausgehoben. Neben
einfachen, beiderseits zur Schneide konvex sich zuschärfenden
Axtblättern finden sich Steincelte,

282

Steinzellen - Steißfuß

d. h. von der Schneide nach hinten zu schmäler werdende
Geräte, die als Messer, Hacken und Streitäxte dienten,
sowie lange und schmale Instrumente mit einseitig flacher Schneide,
die als Meißel oder Hobel bezeichnet werden; auch
Hohlmeißel wurden angetroffen. Ferner finden sich steinerne
Mörser und Handmühlen zum Zerreiben von
Getreidekörnern. Die Schleifsteine (s. Tafel) bestehen
gewöhnlich aus feinkörnigem Sandstein mit einer oder
mehreren Schliffflächen. Als Hämmer (s. Tafel) werden
Äxte bezeichnet, die statt der Schneide eine mehr oder weniger
abgestumpfte Fläche tragen, während Hammeräxte an
einem Ende die Schneide der Axt, am andern die Fläche des
Hammers besitzen. Zur Befestigung des keilförmigen Steinbeils
am hölzernen Stiel wurde es in einen Einschnitt an dem
umgebogenen Ende eines krummen Holzgriffs gesteckt und mit
kreuzweise umgelegten Riemen oder mit einer Schnur befestigt, oder
man höhlte ein Stück Hirschhorn oder Renntiergeweih zu
einer das Steingerät teilweise umfassenden Hülse aus,
welche dann am dicken Ende einer Holzkeule oder eines Stockes
befestigt wurde. Anderseits wurden die Steinäxte, um einen
hölzernen Stiel hindurchzustecken, durchbohrt. Rau hat
nachgewiesen, daß man das härteste Gestein mit einem
hölzernen Stab oder einem cylinderförmigen Knochen, den
man in schnelle Umdrehung versetzt, unter Anwendung von Sand und
Wasser durchbohren kann. Auch ein zugespitztes Hirschhornstück
oder ein an einem Holzstab angebrachter spitzer Feuerstein, der mit
Hilfe einer an einem Bogen befestigten, sich auf- und abwickelnden
Schnur in schnelle Umdrehung versetzt wurde, fand vielfach
Verwendung. Zur Zerteilung eines großen Steinblocks bediente
man sich einer an einem hin- und herschwingenden Baumast
befestigten Feuersteinsäge, mit der man den Block von
verschiedenen Seiten ansägte, während die
übrigbleibende Verbindung mit dem Meißel durchgesprengt
wurde. Besonderes Interesse knüpft sich an die aus Nephrit und
Jadeit hergestellten Geräte, da die Herkunft des Materials
mehr oder weniger zweifelhaft ist (vgl. Nephrit). Die aus Knochen
und Horn hergestellten Objekte der jüngern S. bekunden zum
Teil hervorragende technische Fertigkeit. Aus diesen Materialien
hergestellte Angel-haken, Harpunen und Stechspeere für den
Fischfang, ferner knöcherne Pfrieme, Meißel, Dolche,
Pfeil- und Lanzenspitzen, aus Rippen des Hirsches oder der Kuh
hergestellte Kämme zum Flachshecheln und ähnliche Objekte
gehören nicht zu den Seltenheiten. Aus Holz gefertigte
Gegenstände, wie Speerstangen, Bogen, Kämme aus
Buchsbaumholz, aus einem Baumstamm ausgehöhlte Kähne u.
dgl., haben sich ebenfalls hier und da erhalten. Die neolithischen
Schmuckgegenstände zeichnen sich vor den paläolithischen
durch größere Mannigfaltigkeit aus.

Die Fundstätten der jüngern S. sind über ganz
Europa zerstreut, und auch außerhalb Europas werden dieselben
häufig angetroffen; ganz besonders reich aber hat sich
Skandinavien erwiesen. Außer den gewöhnlichen
neolithischen Objekten finden sich im N. und O. Schwedens aus
Schiefer hergestellte Altertümer, die man für
Überreste der S. der Lappen hält und als arktische
Steinkultur bezeichnet. Außerordentlich reich an
neolithischen Fundstücken ist Rügen, von wo aus in
prähistorischer Zeit ein großartiger Export von
Feuersteingeräten stattfand. Außer in Höhlen,
wohnte der neolithische Mensch auf im Wasser errichteten
Pfahlgerüsten (s. Pfahlbauten). Im nördlichen Europa
dienten ihm wohl während des Sommers aus Fellen hergestellte
Zelte, im Winter vermutlich niedrige Hütten aus einem
Gerüst von Walfischrippen und Holz, das mit Rasenstücken
oder mit einer Lage Torf und darübergeschütteter Erde
bedeckt wurde, als Wohnungen. Die Form der letzterwähnten
Behausungen ist nach Sven Nilsson in den skandinavischen
Ganggräbern nachgeahmt. Das Andenken seiner Toten ehrte der
neolithische Mensch durch Aufwerfen von Grabhügeln (s.
Gräber u. Tafel) sowie durch Errichtung von Dolmen und
Steinsetzungen (s. d.). Ein besonders wichtiges Kennzeichen der
neolithischen Kultur besteht darin, daß während dieses
Abschnitts der Prähistorie der Mensch zuerst Tiere zähmt,
daß ebensowohl die Anfänge der Viehzucht als diejenigen
des Ackerbaues dieser Epoche angehören, daß der
neolithische Mensch aus Pflanzenfasern rohe Gewebe und Gespinste
herstellt, und daß derselbe, wie die Funde an
Gefäßen und Gefäßscherben beweisen, in der
Thonbildekunst bereits erhebliche Fortschritte gemacht hat. Vgl.
Joly, Der Mensch vor der Zeit der Metalle (Leipz. 1880); de
Nadaillac, Die ersten Menschen und die prähistorischen Zeiten
(deutsch, Stuttg. 1884); Kinkelin, Die Urbewohner Deutschlands
(Lindau 1882); Fischer, Betrachtungen über die Form der
Steinbeile auf der ganzen Erde ("Kosmos", Bd. 10,S. 117); Tischler,
Beiträge zur Kenntnis der S. in Ostpreußen etc.
(Königsb. 1882-83, 2 Hefte); Montelius, Die Kultur Schwedens
in vorchristlicher Zeit (deutsch, Berl. 1885); Maska, Der diluviale
Mensch in Mähren (Neutitschein 1886); Rau, Drilling in stone
without the use of metals (Washington 1869); Baier, Die Insel
Rügen nach ihrer archäologischen Bedeutung (Strals.
1886).

Steinzellen, s. Steinigwerden.

Steinzeug, s. Thonwaren.

Steiß, das hintere Rumpfende der Wirbeltiere,
besonders wenn es, wie bei den Vögeln, über den Rumpf
hinausragt.

Steißbein (Os coccygis, Schwanzbein), der
Endabschnitt der Wirbelsäule (s. d.) nach hinten vom
Kreuzbein. Während der Schwanzteil derselben bei den mit einem
deutlichen Schwanz versehenen Wirbeltieren oft aus sehr vielen und
beweglichen Wirbeln besteht, sind beim Menschen 4, seltener 5, bei
andern Säugetieren noch weniger, bei den Vögeln 4-6, bei
den Fröschen ebenfalls einige wenige Wirbel zu einem
Knochenstück, dem sogen. S., verschmolzen. Die Wirbel, in der
menschlichen Anatomie als falsche Wirbel (vertebrae spuriae)
bezeichnet, entbehren des dorsalen Bogens, so daß das
Rückenmark hier nicht in einem Kanal, sondern frei liegt, was
auch schon am letzten Kreuzbeinwirbel der Fall ist (s. Tafeln
"Nerven II", "Skelett II" und "Bänder"). In abnormen
Fällen, bei den sogen. geschwänzten Menschen, ist das S.
nicht nach dem Innern des Körpers zu, sondern nach außen
zu gekrümmt und bildet dann ein ordentliches Schwänzchen,
das übrigens regelmäßig beim Embryo (s. d.)
vorhanden ist.

Steißdrüse, ein kleiner, unpaarer,
drüsenartiger Körper von unbekannter Bedeutung in der
Gegend des Steißbeins.

Steißfuß (Lappentaucher, Podiceps Lath.),
Gattung aus der Ordnung der Taucher und der Familie der Seetaucher
(Colymbidae), Vögel mit breitem, platt gedrücktem Leib,
langem, ziemlich dünnem Hals, kleinem, gestrecktem Kopf,
langem, schlankem, seitlich zusammengedrücktem, zugespitztem,
an den Schneiden sehr scharfem Schnabel, am Ende des Leibes
eingelenkten, nicht sehr hohen, seitlich stark
zusammengedrückten Füßen, mit Schwimmlappen be-

283

Steißfußhuhn - Stellvertretung.

setzten Vorderzehen mit breiten, platten Nägeln,
stummelartiger Hinterzehe, kurzen, schmalen Flügeln und statt
des Schwanzes mit einem Büschel zerschlissener Federn. Die
Steißfüße sind vollkommene Wasservögel,
welche ausgezeichnet tauchen, unter Wasser sich sehr schnell
fortbewegen, auch auf dem Wasser ruhen und in einem schwimmenden
Nest aus nassen Stoffen brüten. Das Gelege besteht aus 3-6
Eiern, welche von beiden Eltern gezeitigt werden. Sie nähren
sich von Fischen, Insekten, Fröschen, verschlucken auch
Pflanzenteile und ihre eignen Federn, welche sie sich aus der Brust
rupfen. Der Haubensteißfuß (Haubentaucher, Blitzvogel,
Seedrache, Fluder, P. cristatus L.), 66 cm lang, 95 cm breit,
oberseits schwarzbraun, mit weißem Spiegel an den
Flügeln, weißen Wangen und weißer Kehle,
unterseits weiß, seitlich dunkel gefleckt, im Hochzeitskleid
mit zweihörnigem Federbusch auf dem Kopf und aus langen,
zerschlissenen Federn gebildetem rostroten, schwarz
geränderten Kragen; die Augen sind karminrot, Zügel und
Schnabel blaßrot, die Füße hornfarben. Er bewohnt
die Seen und Gewässer Europas bis 60° nördl. Br.,
weilt in Deutschland von April bis November, überwintert auf
dem Meer, in Südeuropa oder Nordafrika und findet sich auch in
Asien und Nordamerika. Er lebt paarweise an größern
bewachsenen Teichen oder Seen, hält sich sehr viel auf dem
Wasser auf, ist auf dem Land sehr unbehilflich, fliegt aber
verhältnismäßig schnell und schwimmt und taucht
vortrefflich. Er ist sehr vorsichtig und sucht sich bei Gefahr
stets durch Tauchen zu retten. Das Nest steht in der Nähe von
Schilf auf dem Wasser, und das Weibchen legt drei weiße Eier.
Die Jungen werden von der Mutter beim Schwimmen oft auf dem
Rücken, beim Fluge nicht selten zwischen den Brustfedern
versteckt getragen. Man jagt ihn des kostbaren Federpelzes halber.
Der Zwergsteißfuß (P. minor L.), 25 cm lang, 43 cm
breit, oberseits glänzend schwarz, unterseits grauweiß,
dunkler gewölkt, an der Kehle schwärzlich, an Kopf-,
Halsseiten und der Gurgel braunrot; das Auge ist braun, der
Zügel gelbgrün, der Schnabel an der Wurzel gelbgrün,
an der Spitze schwarz, der Fuß schwärzlich. Er ist wie
der vorige weit verbreitet, weilt in Deutschland vom März, bis
die Gewässer sich mit Eis bedecken, und überwintert in
Südeuropa. Man findet ihn an bewachsenen Teichen, in
Brüchern und Morästen, er lebt wie der vorige, fliegt
aber schlecht und deshalb sehr ungern, nährt sich
hauptsächlich von Insekten, nistet im Schilf und legt 3-6
weiße, schwach gefleckte Eier (s. Tafel "Eier II"), welche in
20 Tagen ausgebrütet werden. Der Ohrensteißfuß (P.
auritus L.), 33 cm lang, 60 cm breit, an Kopf, Hals und Oberteilen
schwarz, mit breitem, goldgelbem Zügel, an Oberbrust und
Seiten lebhaft braunrot, an Brust und Bauchmitte weiß, das
Auge ist rot, der Schnabel schwärzlich, der Fuß
graugrün, bewohnt den gemäßigten Gürtel der
Alten Welt. Die Eier (s. Taf. "Eier II") sind weiß, lehmgelb
gefleckt.

Steißfußhuhn (Megapodius Quoi et Gai.),
Gattung aus der Ordnung der Hühnervögel und der Familie
der Wallnister (Megapodiidae). Das Großfußhuhn (M.
tumulus Less.), von der Größe des Fasans, oberseits
braun, unterseits grau, mit rötlich-braunem Auge und Schnabel
und orangefarbigem Fuß, lebt auf den Philippinen und
Neuguinea im Gestrüpp an der Küste paarweise oder
einzeln, ist sehr scheu, fliegt schwerfällig und nährt
sich von Wurzeln, Sämereien und Insekten. Es erbaut aus Sand
und Muscheln große Haufen, welche, von mehreren Geschlechtern
benutzt und vergrößert, 5 m Höhe und einen Umfang
von 50 m erreichen, und legt in diese sein weißes Ei, welches
es tief vergräbt.

Steißhühner, s. Hühnervögel.

Steißtier, s. Aguti.

Stele (griech.), Grabstein, gewöhnlich ein
viereckiger, nach oben sich etwas verjüngender und mit
Blätter- oder Blumenverzierungen (Anthemien) gekrönter
Pfeiler, welcher den Namen des Verstorbenen trägt (s.
Abbildung). Mitunter finden sich auch auf der S.
Reliefdarstellungen, die sich auf das Leben des Geschiedenen
beziehen. In makedonischer und römischer Zeit wird die S.
niedriger und breiter und meist mit einem Giebel besetzt. Vgl.
Brückner, Ornament und Form der attischen Grabstele
(Straßb. 1886).

Stell., bei naturwissenschaftl. Namen Abkürzung
für G. W. Steller, geb. 1709 zu Windsheim, Arzt in Petersburg,
starb 1745 (Seetiere).

Stella (lat.), Stern.

Stella, 1) Pseudonym, s. Lewis 2);

2) s. Swift.

Stellage (französiert, spr. -lahsche), Gestell,
Gerüst; auch s. v. w. Stellgeschäft (s. Börse, S.
238).

Stellaland, s. Westbetschuanen.

Stellaria L. (Sternkraut, Sternmiere), Gattung aus der
Familie der Karyophyllaceen, kleine, einjährige oder
ausdauernde Kräuter mit weißen Blüten in allen
Klimaten, doch meist auf der nördlichen Erdhälfte. S.
Holostea L. (Augentrostgras, Jungferngras), in ganz Europa,
ausdauernd, mit aufsteigendem, vierkantigem Stengel, sitzenden,
lanzettlichen, lang zugespitzten, am Rand und auf dem Kiel scharfen
Blättern, ward früher medizinisch benutzt; S. media Vill.
(Vogelmiere, Hühnerdarm), sehr gemein, wird allgemein als
Vogelfutter benutzt.

Stellaten, s. Rubiaceen.

Stellbrief, s. Engagementsbrief.

Stelldichein, s. Rendezvous.

Stellenvermittelungsbüreaus, s.
Adreßbüreaus.

Stelleriden, s. Asteroideen.

Stellgeschäft, s. Börse, S. 238.

Stellio, Dorneidechse (s. d.). Der S. der Alten ist der
Gecko (s. Geckonen).

Stellionat (Crimen stellionatus), im römischen
Strafrecht die Verletzung und Unterdrückung der Wahrheit zur
Gewinnung unrechtmäßiger Vorteile durch Täuschung,
d. h. durch vorsätzliche Erweckung einer unrichtigen
Vorstellung bei andern. Der Name ist von der Behendigkeit der
Eidechse (stellio) im Entschlüpfen hergenommen.

Stellknorpel, s. Kehlkopf.

Stellmacher (Wagner), ehemals zünftige Handwerker,
die das Holzwerk für Fuhrwerke, Kutschen, Schlitten,
Pflüge etc. verfertigen. An manchen Orten fertigen die
Radmacher die Räder allein.

Stellung, s. Attitüde und Position.

Stellvertretung, das Rechtsverhältnis, in welchem
eine Person die Geschäfte einer andern ausführt, sei es,
daß es sich dabei um einzelne Geschäfte, sei es,
daß es sich um eine Summe von Geschäften handelt. Im

284

Stellvertretung, militärische - Stelzhamer.

privatrechtlichen Verkehr setzt die S. in der Regel einen
Auftrag seitens der zu vertretenden Person voraus (s. Mandat).
Handelt es sich dagegen um die Vertretung eines öffentlichen
Beamten, so wird der Stellvertreter oder Vikar (s. d.) in der Regel
von der vorgesetzten Dienstbehörde bestellt. Dem als
Volksvertreter gewählten Beamten fallen die Kosten der S.
nicht zur Last. Die S. des deutschen Reichskanzlers
(Generalstellvertretung durch einen Vizekanzler oder
Spezialvertretung durch die Chefs der Reichsämter) ist durch
Reichsgesetz vom 17. März 1878 geordnet. Bei gekrönten
Häuptern wird zwischen S. und Regentschaft unterschieden.
Letztere ist auf die Dauer berechnet und tritt kraft gesetzlicher
Bestimmung ein, während man unter S. die auf Anordnung des
Monarchen selbst eintretende vorübergehende Vertretung
versteht.

Stellvertretung, militärische, früher
Ableistung der Dienstpflicht im Kriegsheer durch und für einen
andern, wofür der Stellvertreter (Einsteher, Remplacant) eine
meist gesetzlich geregelte Abfindungssumme erhielt. Nach
Deutschlands Vorgang bis auf Belgien und Niederlande, wo die m. S.
noch heute besteht, nach dem Krieg 1870/71 überall
abgeschafft. S. Loskauf.

Stelter, Karl, lyr. Dichter, geb. 25. Dez. 1823 zu
Elberfeld, widmete sich in einer Seidenweberei daselbst dem
kaufmännischen Beruf, zu dem er auch nach einem kurzen
Versuch, als Schauspieler eine künstlerische Zukunft zu
gewinnen, zurückkehrte und bis 1880 (in den letzten 30 Jahren
als Prokurist) thätig war. Seitdem lebt er in Wiesbaden. S.
gehört als Dichter zu der kleinen Gruppe der "Wupperthaler
Poeten", welche im materiellen Treiben ideale Gesinnungen zu wecken
und zu erhalten bemüht waren und eine freisinnige und freudige
Auffassung des Daseins dem trüben Wupperthaler Pietismus
entgegensetzten. Er veröffentlichte: "Gedichte" (Elberf. 1858,
3. Aufl. 1880); "Die Braut der Kirche", lyrisch-epische Dichtung
(Bresl. 1858); "Aus Geschichte und Sage", erzählende
Dichtungen (Elberf. 1866, 2. Aufl. 1882); die Anthologie
"Kompaß auf dem Meer des Lebens" (4. Aufl., Berl. 1884);
"Kompendium der schönen Künste" (Düsseld. 1869);
"Gedichte", 2. Band (Elberf. 1869); "Novellen" (das. 1882); "Neue
Gedichte" (das. 1886) u. a.

Stelvio, Monte, s. Stilfser Joch.

Stelzen, hohe Stäbe, an welchen in bestimmter
Höhe Trittklötze angebracht sind, auf denen man, sich an
den Stangen selbst festhaltend, stehen und gehen kann. Sie sind ein
gymnastisches Belustigungsmittel, während eine andre Art
Stelzen, die ungefähr eine Elle hoch und oben so breit sind,
daß sie an die Fußsohle festgeschnallt oder gebunden
werden können, besonders von den Äquilibristen zum
Stelzentanz benutzt werden. Beide Arten sind übrigens in
Marschländern sehr gebräuchlich, um sumpfige oder
überschwemmte Stellen zu durchschreiten, namentlich im franz.
Departement des Landes, woselbst die Schäfer sich den ganzen
Tag auf ihren S. bewegen. Zu Namur fand früher
alljährlich zum Karneval ein zweistündiger Kampf zwischen
zwei Armeen auf S. statt.

Stelzengeier (Kranichgeier, Sekretär, Gypogeranus
serpentarius Ill.), Vogel aus der Ordnung der Raubvögel und
der Familie der Kranichgeier (Gypogeranidae), 125 cm lang, sehr
schlank gebaut, mit langem Hals, ziemlich kleinem, breitem, flachem
Kopf, kurzem, dickem, starkem, vom Grund an gebogenem, fast zur
Hälfte von der Wachshaut bedecktem Schnabel mit sehr spitzigem
Haken, langen Flügeln, in welchen die ersten fünf
Schwingen gleich lang sind, auffallend langem, aber sehr stark
abgestuftem Schwanz, unverhältnismäßig langen
Läufen und kurzen Zehen mit wenig gekrümmten,
kräftigen, stumpfen Krallen. Das Gefieder ist am Hinterkopf zu
einem Schopfe verlängert, oberseits hell aschgrau, am
Hinterhals gräulichfahl, an den Halsseiten u. Unterteilen
schmutzig graugelb, Nackenschopf, Schwingen, Bürzel und
Unterschenkel schwarz, die Steuerfedern weiß, graubraun,
schwarz, an der Spitze wieder weiß; das Auge ist graubraun,
der Schnabel dunkel hornfarben, an der Spitze schwarz, Wachshaut
und Lauf gelb. Er bewohnt die steppenartigen Ebenen Afrikas vom Kap
bis 16° nördl. Br., lebt meist paarweise, läuft und
fliegt vortrefflich und ist berühmt als Schlangenvertilger. Er
nistet auf Büschen oder Bäumen und legt 2-3 weiße
oder rötlich getüpfelte Eier, welche das Weibchen in
sechs Wochen ausbrütet. Die Tötung des Stelzengeiers ist
am Kap streng verboten. In der Gefangenschaft hält er sich
gut, wird auch recht zahm.

Stelzenschuhe kamen im 15. Jahrh., wie es scheint zuerst
in Spanien, auf, wo sich diese Mode eine Zeitlang mit der der
Schnabelschuhe vereinigte. Schon in der ersten Hälfte des 16.
Jahrh. kam sie hier wieder in Abnahme, wogegen sie erst jetzt in
England, Italien und besonders in Frankreich (unter dem Namen
patins) Verbreitung fand. Allerdings gewannen sie im Norden
insofern praktische Bedeutung, als der Straßenschmutz zur
Benutzung hölzerner Unterschuhe zwang, die im Haus abgelegt
wurden. Sie wurde hier in dem Maß übertrieben, daß
man sie, nach Art eines förmlichen Piedestals, bis zu 2
Fuß hoch trug und auch durch die Farbe derselben die
Aufmerksamkeit zu erregen suchte. In Deutschland fand diese Mode
weniger Anklang. Trotz häufiger Verbote kam man, wenn auch in
mäßigerer Anwendung, immer wieder auf sie zurück S.
die Abbildungen.

^[Stelzenschuhe.]

Stelzfuß, s. Bockhuf.

Stelzhamer, Franz, ausgezeichneter österreich.
Dialektdichter, geb. 29. Nov. 1802 zu Großpiesenham bei Ried
in Oberösterreich als der Sohn eines Bauern, besuchte,
für den geistlichen Stand bestimmt, die Gymnasien zu Salzburg
und Graz und sollte im Seminar zu Linz die Weihen empfangen,
verließ aber, weltlich gesinnt, das Berufsstudium und ging
nach Wien, wo er sich erst als Jurist, dann als Malerakademiker
versuchte, bis er sich einer wandernden Schauspielertruppe
anschloß. In dieser Laufbahn lernte er Sophie Schröder
kennen, die ihn in der Deklamation unterrichtete. Nach
Auflösung der Truppe kehrte der mehr als 30jährige Sohn,
von der Bäuerin-Mutter geholt, in die heimatliche Hütte
zurück, wo er nun seine zerstreuten Dialektgedichte ordnete
und herausgab ("Lieder in obderennsscher Mundart", Wien 1836; 2.
Aufl. 1844), die einen durchschlagenden Erfolg hatten. Es folgten
"Neue Gesänge" (Wien 1841, 2. Aufl. 1844)

285

Stelzvögel - Stempelsteuern.

von gleichem Wert nach, und nun gehörte S. ganz dem
dichterischen Beruf an, indem er als wandernder Sänger, seine
eignen Gedichte vortrefflich vortragend, Österreich und Bayern
jahrelang durchzog. Weiter veröffentlichte er drei Bände
Erzählungen ("Prosa", Regensb. 1845); "Neue Gedichte" (das.
1846); ferner "Heimgarten" (Pest 1846, 2 Bde.);
"Liebesgürtel", in hochdeutscher Sprache (2. Aufl.,
Preßb. 1876); endlich "D'Ahnl", ein Dialektepos in Hexametern
(Wien 1851, 2. Aufl. 1855). S. starb zu Henndorf bei Salzburg 14.
Juli 1874. Aus seinem Nachlaß erschienen: "Aus meiner
Studienzeit" (Salzb. 1875); "Die Dorfschule" (Wien 1877).
"Ausgewählte Dichtungen" Stelzhamers gab Rosegger heraus (Wien
1884, 4 Bde.).

Stelzvögel, s. v. w. Watvögel (s. d.).

Stemma (griech.), Kranz, besonders als Schmuck der
Ahnenbilder; Stammbaum. Stemmatographie, Genealogie.

Stemm- und Stechzeug, Meißel zur Bearbeitung des
Holzes, haben eine gerade, einseitig oder zweiseitig
zugeschärfte oder eine bogen- oder winkelförmige
Schneide. Zu der ersten Klasse gehört der 3-50 mm breite
Stechbeitel, dessen Zuschärfungsfläche mit der
gegenüberstehenden Fläche einen Winkel von 8-30°
bildet. Der englische Lochbeitel ist sehr viel dicker, 1,5-25 mm
breit und hat einen Zuschärfungswinkel von 25-35°. Die
Kantbeitel sind lange und starke Stechbeitel für Wagner mit
einer niedrigen Rippe auf der Seite, wo die Zuschärfung liegt,
so daß der Querschnitt ein gedrücktes Fünfeck
bildet. Zur zweiten Klasse gehört das Stemmeisen mit
dünner Klinge und 12-36 mm breit. Zur dritten Klasse
gehören die Hohleisen mit rinnenartiger Klinge und ein- oder
zweiseitig zugeschärfter Schneide, deren Mitte bei den
Hohleisen der Zimmerleute weit vorsteht. Der Geißfuß
hat zwei gleichlange, geradlinige Schneiden, welche unter einem
Winkel von 45-90° zusammenstoßen. Stemm- und Stechzeuge
dienen zum Wegnehmen von Holzteilen, zur Bildung von Einschnitten,
Ausarbeitung von Vertiefungen und Löchern etc. Stemmmaschinen
zum Ausstemmen von Zapfen und durch Langlochbohrmaschinen erzeugten
Nuten besitzen einseitig scharf geschliffene Meißel, die sich
hin und her, resp. auf und ab bewegen und dabei in das auf dem
Arbeitstisch liegende Holz einschneiden, welches nach jedem Schnitt
um die Stärke eines Spans vorrückt.

Stempel, Werkzeug, welches auf der einen Fläche mit
erhabenen oder vertieften Figuren, Buchstaben u. dgl. versehen ist,
um mittels aufgetragener Farbe diese Figur abzudrücken oder
vermittelst eines Drucks diese Figuren in eine etwas weichere Masse
einzudrücken, wie namentlich die S. zur Verfertigung der
Münzen und Medaillen; auch das mit einem solchen Werkzeug
aufgedrückte Zeichen, welches als Merkmal der erprobten
Güte einer Ware, des Ursprungs (von woher) oder einer
bezahlten Abgabe dient. - Im Staatshaushalt wird der S.
(eigentlich: die Stempelung) als Mittel benutzt, um auf bequemem
und nicht kostspieligem Wege Gebühren und Steuern
(Verkehrssteuern) zu erheben (Gebührenstempel, Steuerstempel).
Derselbe soll wegen seiner finanziellen Ergiebigkeit zuerst im
verkehrsreichen Holland (seit 1624) in Gebrauch gekommen sein. Er
ist überall da anwendbar, wo einer zu belastenden Leistung
eine Schriftlichkeit zu Grunde liegt, die der Zahlungspflichtige
überreicht oder empfängt. In diesen Fällen
können sowohl Stempelbogen (gestempeltes Papier) als
aufzuklebende, für den Gebrauch bequemere Stempelmarken
benutzt werden, in andern bedient man sich auch wohl gestempelter
Umschläge (Banderollen, z. B. beim Tabak), die bei dem
Gebrauch zerrissen werden, während der Stempelbogen durch das
Beschreiben, die Stempelmarke durch Durchstreichen oder
Ausdrücken eines Zeichens für weitere Verwendungen
unbrauchbar gemacht (nullifiziert, kassiert) wird. Endlich kann
auch ein Gegenstand (z. B. Edelmetall, Zeitung, Kartenspiel)
unmittelbar durch Aufdrücken des Stempels gestempelt und damit
der Beweis der Steuer- oder Gebührenzahlung geliefert werden.
Zu unterscheiden sind: 1) der Fixstempel, welcher mit einem festen
Geldbetrag für die einzelne in Anspruch genommene
öffentliche Leistung heute meist in der Form der Stempelmarke
eintritt; 2) der Klassenstempel, bei welchem nach gewissen
Merkmalen (Bedeutung des Gegenstandes, verursachte Kosten) die
verschiedenen Fälle in Klassen eingeteilt werden und innerhalb
der einzelnen Klassen Festempel zur Anwendung kommen; 3) der
Dimensionsstempel, dessen Höhe sich nach der Ausdehnung des
Gegenstandes (Zeitung, Prozeßakten) richtet, an welchen der
S. angeknüpft wird; 4) der Wert- (Gradations-, Proportional-)
S., welcher sich nach dem durch die steuerpflichtige Urkunde
repräsentierten Wert richtet und in Prozenten des letztern
oder auch mit Abrundung der Prozenthöhe in festen
Beträgen für gewisse Klassen (klassifizierter
Wertstempel) erhoben wird. Gegen Stempelfälschungen
schützt man sich durch künstliche Herstellung der
Stempelzeichen (geschöpftes Papier, Wasserzeichen etc.), gegen
Umgehungen dienen Kontrolle und Strafe. Die Strafe kann dadurch
verschärft werden, daß das vorgenommene
Rechtsgeschäft für nichtig erklärt wird. Da
hierdurch jedoch auch leicht Unschuldige getroffen werden, so
begnügt sich die Stempelgesetzgebung meist mit Geldstrafen,
während die Gültigkeit des Rechtsgeschäfts nicht
weiter angefochten wird. Vgl. Stempelsteuern.

Stempel (Pistill), das weibliche Organ in den
Blüten, s. Blüte, S. 67 f.

Stempelakte, brit. Gesetz, 22. März 1765 für
die nordamerikanischen Kolonien gegeben, angeblich behufs
Aufbringung einer Summe zur Verteidigung der Kolonien gegen
feindliche Angriffe und zwar durch Auflegung einer Stempeltaxe auf
alles bei Geschäften zu verwendende Schreibpapier, steigerte
die Unzufriedenheit, ward zwar 18. März 1766 wieder
aufgehoben, trug aber zum Abfall der Kolonien von England mit bei.
S. Großbritannien, S. 806.

Stempelbogen, Stempelmarke etc., s. Stempel.

Stempelschneidekunst, die Kunst, Figuren und Buchstaben
in Stempel von Metall je nach Erfordernis des Abdrucks vertieft
oder erhaben darzustellen. Zu den Stempelschneidern gehören
daher auch die Petschaftstecher und die Schriftschneider, doch
findet die eigentliche Anwendung der S. besonders für
Münzen und Medaillen statt. Zahlen und sich oft wiederholende
kleine Zeichen (Sternchen, Kreuze etc.) werden mit besondern Bunzen
eingeschlagen. Über die geschichtliche Entwickelung und das
Künstlerische der S. vgl. Denkmünze und Münzwesen,
S. 897.

Stempelsteuern, eine Reihe von Staatsabgaben (Steuern wie
Gebühren), welchen der Stempel (s. d.) als Erhebungsform
gemeinsam ist. Im wesentlichen decken sie sich mit den
Verkehrssteuern (s. d.). Das Deutsche Reich besitzt an solchen S.
die Wechselstempelsteuer (s. d.), den Spielkartenstempel (s. d.)
und die Börsensteuer (s. d.). Die Gliederstaaten haben
mannigfaltige Urkundenstempel, Erbschaftsstempel und
Gebührenstempel. Die französischen S. sind teils

286

Stempelzeichen - Stengel.

Verbrauchsstempel (Dimensionsstempel von Zeitschriften,
öffentlichen Ankündigungen etc.), teils Urkundenstempel
(als Dimensions- oder als Wertstempel auf alle Akte der
öffentlichen Agenten, der Gerichte und
Verwaltungsbehörden etc.). Der englische Stempel ist meist
Fixstempel. Proportionell abgestuft sind hauptsächlich nur die
Wechselstempelsteuern, die Erbschaftssteuern (s. d.), die Stempel
auf Übertragung von Grundeigentum und von gewissen
Wertpapieren.

Stempelzeichen (Kontermarke), Zeichen, welches in die
Münzen eingeschlagen wurde, um anzuzeigen, daß eine
bisher ungültige Münze Geltung erhält, oder
daß der Wert einer bisher kursierenden Münze
verändert worden ist. Dergleichen S. finden sich schon auf den
Münzen der alten Griechen und Römer. In Frankreich wurden
früher bei jedem Regierungswechsel die Münzen
gestempelt.

Stenamma, s. Ameisen, S. 452.

Stenay (spr. stönä), Stadt im franz.
Departement Maas, Arrondissement Montmédy, an der Maas und
der Eisenbahn Sedan-Verdun, mit Eisenhütte und (1881) 2794
Einw.

Stenbock, Magnus, Graf, schwed. Feldmarschall, geb. 12.
Mai 1664 zu Stockholm, studierte in Upsala, trat dann in
holländische Dienste und focht seit 1688 unter dem Markgrafen
von Baden und dem Grafen Waldeck mit Auszeichnung am Rhein. Nachdem
er 1697 als Oberst eines deutschen Regiments in die Dienste seines
Vaterlandes getreten, begleitete er Karl XII. auf dessen meisten
Feldzügen und wirkte namentlich bei Narwa bedeutend zum Sieg
mit. 1707 wurde er zum Statthalter von Schonen ernannt; als
Friedrich IV. von Dänemark 1709 in Schonen landete, siegte S.,
von der Regentschaft jenem entgegengestellt, 28. Febr. 1710 bei
Helsingborg, setzte 1712 nach Pommern über und schlug die
Dänen 20. Dez. d. J. bei Gadebusch, wendete sich hierauf nach
Holstein, wo er 9. Jan. 1713 Altona in Asche legen ließ,
mußte sich aber 6. Mai bei Tönning, von den
dänischen, russischen und sächsischen Truppen
eingeschlossen, mit 12,000 Mann kriegsgefangen ergeben und ward
nach Kopenhagen gebracht, wo er 23. Febr. 1717 im Kerker starb.
Seine "Mémoires" erschienen Frankfurt 1745; seine Biographie
gab Laenborn heraus (Stockh. 1757-65, 4 Bde.).

Stendal, Kreisstadt im preuß. Regierungsbezirk
Magdeburg, an der Uchte, Knotenpunkt der Linien
Leipzig-Wittenberge, Berlin-Lehrte und S.-Langwedel der
Preußischen Staatsbahn sowie der Eisenbahn
S.-Tangermünde, 33 m ü. M., ist die ehemalige Hauptstadt
der Altmark, hat 5 evang. Kirchen (darunter die spätgotische
Domkirche), eine kath. Kirche, eine Synagoge, 2 alte interessante
Stadtthore, schöne Anlagen an Stelle der alten Festungswerke,
eine Rolandsäule, ein Denkmal des hier gebornen
Archäologen Winckelmann (von K. Wichmann), ein
öffentliches Schlachthaus und (1885) mit der Garnison (1 Reg.
Husaren Nr.10) 16,184 meist evang. Einwohner, die Wollspinnerei,
Tuch-, Öfen-, Maschinen- u. Goldleistenfabrikation,
Kunstgärtnerei, Bierbrauerei etc. betreiben. Auch befindet
sich hier eine Eisenbahnhauptwerkstatt und werden Pferde-, Vieh- u.
Getreidemärkte abgehalten. S. hat ein Landgericht, ein
Hauptsteueramt, ein Gymnasium, ein Johanniterkrankenhaus etc. Zum
Landgerichtsbezirk S. gehören die 16 Amtsgerichte zu Arendsee,
Beetzendorf, Bismark, Gardelegen, Genthin, Jerichow, Kalbe a. M.,
Klötze, Öbisfelde, Österburg, Salzwedel, Sandau,
Seehausen i. A., S., Tangermünde und Weferlingen. - S. ward
1151 von Albrecht dem Bären gegründet, erhielt, wie die
meisten Städte im Slawenland, das Magdeburger Recht und gewann
unter den folgenden Markgrafen mancherlei Privilegien, so 1215 die
Befreiung vom Gericht des Burggrafen, obwohl es mit der ganzen
Nordmark 1196 unter die Lehnshoheit des Erzstifts Magdeburg geraten
war. Bei der Teilung der Mark unter die Brüder Johann I. und
Otto IV. 1258 ward S. Sitz der ältern (Stendalschen) Linie des
Hauses Askanien, die 1320 mit Heinrich von Landsberg erlosch.
Damals war S. eine der bedeutendsten Städte der Mark, trat
auch der Hansa bei und stand im 15. Jahrh. an der Spitze eines
Bundes der Städte der Altmark. 1530 fand hier die evangelische
Lehre Eingang, wurde aber von Joachim I. mit Gewalt
unterdrückt; erst unter Joachim II. wurde dann die Reformation
in S. durchgeführt. Vgl. Götze, Urkundliche Geschichte
der Stadt S. (Stend. 1871).

^[Wappen von Stendal.]

Stendhal (spr. stangdall), Pseudonym, s. Beyle.

Stenge, auf größern Schiffen die erste
Verlängerung des Mastes über dem Mars, mittels des sogen.
Eselshaupts, eines starken Blocks von hartem Holz, mit dem
Untermast verbunden; s. Takelung.

Stengel (Caulis, Kaulom, Stamm, Achse), eins der
morphologischen Grundorgane der Pflanzen, in der Fähigkeit
dauernder Verjüngung an seiner Spitze mit der Wurzel
übereinstimmend, aber durch den Besitz von Blättern
wesentlich verschieden. Man beschränkt gewöhnlich das
Vorkommen des Stengels im Pflanzenreich auf die deshalb so
genannten stammbildenden Pflanzen (Kormophyten), welche, alle
Gewächse von den Moosen an aufwärts umfassend, den
Thallophyten gegenübergestellt sind, denen man den S.
abspricht und einen Thallus beilegt.

Der S. ist an den Seiten immer mit Blättern besetzt; beim
sogen. blattlosen S. sind in Wahrheit die Blätter entweder nur
auf ganz unscheinbare Rudimente reduziert, oder umfassen ihn als
bloße Scheiden nur am Grund, oder der vermeintlich blattlose
S. ist nur das zu ungewöhnlicher Länge gestreckte
Zwischenstück zwischen je zwei einander folgenden
Blättern. Die Stellen des Stengels, an welchen ein Blatt
sitzt, die Knoten (nodus), sind nicht selten durch eine
knotenartige Verdickung und oft auch durch andre anatomische
Beschaffenheit ausgezeichnet, insbesondere bei hohlen Stengeln mit
Mark erfüllt. Das zwischen je zwei aufeinander folgenden
Knoten liegende Stück heißt Stengelglied (Internodium).
Das aus dem Blatt in den S. übertretende
Gefäßbündel wird als Blattspur bezeichnet. Die im
jugendlichen Zustand an der Stengelspitze dicht
zusammengedrängten Blätterrücken erst bei der
weitern Ausbildung in der Regel mehr auseinander, indem die
Stengelglieder sich strecken. Bei Stengeln, deren Internodien
unentwickelt bleiben, stehen alle Laubblätter unmittelbar
über der Wurzel und heißen deshalb Wurzel- oder
Grundblätter, während man solche Pflanzen ungenau
stengellose Pflanzen (plantae acaules) nennt. Auch die Knospen, die
Köpfchen, die Blüten sind Beispiele für S. mit
verkürzten Internodien. Einen sehr hohen Grad erreicht die
Streckung der Stengelglieder z. B. bei den Pflanzen mit windenden
Stengeln, bei den fadendünnen Ausläufern und beim Schaft
(scapus), welcher ein einziges, ungemein gestrecktes Internodium
eines aus der Achsel

287

Stengel (botanisch).

von Wurzelblättern entspringenden, eine Blüte oder
einen Blütenstand tragenden Sprosses darstellt.

Der S. ist in Bezug auf seine Seitenorgane (Blätter, Haare)
das Primäre; jene entstehen erst auf diesem. Wenn man die in
der Fortbildung begriffene Spitze des Stengels der Länge nach
durchschneidet, so sieht man, daß der S. in eine halbkugel-
bis schlank kegelförmige Kuppe endigt (Fig. 1), auf deren
Oberfläche noch keinerlei seitliche Organe vorhanden sind.
Dieser Vegetationspunkt (punctum vegetationis) bewirkt durch seine
zellenbildende Thätigkeit die Fortbildung des Stengels in die
Länge. Erst ein mehr oder minder großes Stück
unterhalb des Scheitels (Fig. 1 ss) desselben zeigen sich auf
seiner Oberfläche sanfte Höcker, die wir, nach
rückwärts verfolgend, bald in größere Gebilde
übergehen sehen und als die ersten Anlagen der Blätter
erkennen. Die ganze fortbildungsfähige Spitze eines Stengels
samt den daran sitzenden, den Vegetationspunkt bedeckenden jungen
Blättern (Fig. 1 pb) nennt man Knospe (s. d.). Der
Vegetationspunkt ist aus lauter gleichartigen, sehr kleinen,
polyedrischen, dünnwandigen, reichlich mit Protoplasma
erfüllten, sämtlich in Teilung begriffenen Zellen
zusammengesetzt, welche das sogen. Urparenchym oder -Meristem
darstellen, aus welchem allmählich die Gewebe (Fig. 1 m) durch
entsprechende Ausbildung der Zellen hervorgehen. Bei den
Gefäßkryptogamen und einigen Phanerogamen gibt es im
Scheitel des Vegetationspunkts eine Scheitelzelle, welche durch
regelmäßige Teilungen stetig Zellen bildet, und von
welcher alle Zellen des Meristems und somit des ganzen Stengels
abstammen. Bei andern Phanerogamen bilden sich dagegen im
Vegetationspunkt gewisse Gewebe selbständig und
unabhängig voneinander fort, so daß keine Scheitelzelle
anzunehmen ist.

Bei den meisten Pflanzen verzweigt sich der S., d. h. er erzeugt
an seiner Seite neue Vegetationspunkte, die sich fortentwickeln zu
einer neuen, der ersten gleichen und am Grund mit ihr
zusammenhängenden Achse, welche in Bezug auf jene den Zweig
oder Ast (ramus) bildet. Bei der normalen Verzweigung des Stengels
bilden sich die Vegetationspunkte der Zweige frühzeitig, schon
in der Nähe der Spitze des Stengels und meist in
regelmäßiger Stellung. Von dieser Verzweigung, auf
welcher hauptsächlich die Architektonik der ganzen Pflanze
beruht, muß man diejenigen Zweige unterscheiden, welche aus
Adventivknospen (s. Knospe) hervorgehen, da diese fern von der
Spitze des Stengels, an ältern Teilen, ohne bestimmte Ordnung
und oft durch zufällige äußere Einflüsse
veranlaßt entstehen. Bei jeder normalen Verzweigung treten
die neuen Vegetationspunkte meist in der Achsel der Blätter
auf, und zwar an der Oberfläche des Stengels (Fig. 1 k). Daher
ist die Stellung der Zweige von der Blattstellung abhängig und
zeigt dieselbe Regelmäßigkeit wie diese. Indessen
erzeugen meist nicht alle Blätter in ihrer Achsel eine Knospe,
und noch weniger oft bilden sich alle angelegten Knospen zu
wirklichen Zweigen aus. Die Verzweigung des Stengels erfordert die
Unterscheidung von Hauptachse und Seiten- oder Nebenachsen oder, da
man jede einzelne Achse samt allen ihren Blättern Sproß
nennt, von Haupt- und Seitensprossen. Insofern aber die Nebenachsen
sich abermals verzweigen u. s. f., spricht man von Nebenachsen
erster, zweiter etc. Ordnung. Nach dem Ursprung der Achsen und nach
dem Grad ihrer Erstarkung unterscheidet man folgende Arten der
Verzweigung: 1) Wenn die Hauptachse in gleicher Richtung sich
fortbildet und stärker bleibt als alle ihre Nebenachsen, so
nennt man ein solches Verzweigungssystem monopodial oder ein
Monopodium; es ist die gewöhnlichste Form. 2) Wenn der S. aber
an einem Punkt endigt und daselbst in zwei ihm und einander nahezu
gleich starke, in der Richtung divergierende Zweige sich teilt, so
heißt er gabelig verzweigt oder dichotom (cauli dichotomus),
die Verzweigungsform Dichotomie. Dieses Verhältnis kann auf
dreierlei Weise zu stande kommen. Entweder beruht es nur auf einer
Modifikation der monopodialen Verzweigung und wird dann falsche
Dichotomie genannt, wenn nämlich eine Nebenachse sich ebenso
stark entwickelt wie die Hauptachse und die letztere in ihrer
Richtung etwas zur Seite drängt (Fig. 2 C, wo aaa die
Hauptachse, bb die Nebenachsen), oder wenn unter der Spitze der
Hauptachse, deren Gipfelknospe entweder sich nicht ausbildet, oder
welche durch eine Blüte abgeschlossen ist, zwei
gegenüberstehende Seitensprosse sich entwickeln und in
demselben Grad wie der Hauptsproß erstarken (Fig. 2 B,
Mistel). Oder aber es liegt eine echte Dichotomie vor, ein seltener
bei den Selaginellen und Lykopodiaceen vorkommender Fall, der gar
nicht auf der Bildung von Nebenachsen, sondern darauf beruht,
daß das Wachstum am Scheitel des

288

Stengelbrand - Stenograph.

Stengels in der bisherigen Richtung aufhört und daneben in
zwei divergierenden Richtungen sich fortsetzt, indem der
Vegetationspunkt selbst in zwei neue sich teilt (Fig. 2 A,
Bärlapp). 3) Die Scheinachse (sympodium), wenn der S. in
seiner Fortbildung an der Spitze unterbrochen wird, dafür aber
die der Spitze nächste Seitenachse das Wachstum in gleicher
Richtung fortsetzt und dies nach einem oder einer Reihe von
Internodien sich wiederholt (Fig. 2 D, wo a die Hauptachse, bb' die
aufeinander folgenden Nebenachsen), so daß der scheinbar
Einer Achse angehörige Sproß aus successiven Nebenachsen
verschiedenen Grades zusammengesetzt ist.

Der Grad der Verzweigung und die Ausbildungsform der einzelnen
Sprosse, die Sproßfolge, beginnen in ihrer Entwickelung bei
phanerogamen Pflanzen an dem Keimling. Das Stengelchen desselben
erwächst zur Hauptachse. In seltenen Fällen
schließt schon diese mit einer Blüte ab, und der S. kann
dabei einfach bleiben, so daß die Pflanze nur aus einer
einzigen Achse besteht und als einachsige bezeichnet wird.
Zweiachsige Pflanzen sind dagegen diejenigen, bei denen erst an den
Nebenachsen erster Ordnung Blütenentwickelung eintritt, also
z. B. wenn die Hauptachse aufrecht steht und Laubblätter
trägt, aus deren Achseln Blütenstiele entspringen, oder
an der Spitze zu einer Traube, Dolde oder Ähre wird, denn auch
jede Blüte dieser Infloreszenzen ist ein Sproß für
sich; aber auch der Fall gehört hierher, wo die Hauptachse
unterirdisch als Rhizom wächst und einfache Nebenachsen
über den Boden treibt, die mit einer einzelnen Blüte
abschließen, wie z. B. bei Paris quadrifolia. Man kann
hiernach leicht selbst finden, was unter drei-, vierachsigen etc.
Pflanzen zu verstehen ist. Sehr häufig sind bei mehrachsigen
Pflanzen die successiven Achsen nicht bloß dem Grad nach,
sondern auch hinsichtlich der Ausbildung der Blätter, die sie
tragen, voneinander unterschieden. Durch die Metamorphose der
Blätter werden nämlich bei fast allen Phanerogamen
bestimmte Blattformationen bedingt, die man als Nieder-, Laub- u.
Hochblätter charakterisiert (s. Blatt, S. 1016), und nach
deren Auftreten am S. man eine Niederblattregion, Laubblattregion
und Hochblattregion zu unterscheiden hat. Bei einachsigen Pflanzen
folgen diese drei Regionen an Einer Achse aufeinander, bei
mehrachsigen sind sie in der Regel auf die einzelnen Achsen
verteilt, so daß man diese selbst als Niederblattstengel etc.
unterscheiden kann. Diese Verhältnisse, von denen
hauptsächlich mit das äußere Ansehen (Habitus) der
Pflanze abhängt, zeigen wiederum große
Mannigfaltigkeiten.

Für die S. gewisser Pflanzen sind besondere Namen
üblich. Bei den Kräutern redet man schlechthin vom S.
oder Krautstengel, bei den grasartigen Monokotyledonen wird er Halm
(culmus) genannt. Der hohe, meist einfache, an der Spitze mit einer
einzigen großen Gipfelknospe endigende S. der Palmen und
Baumfarne heißt Stock (caudex). Der holzige, lang dauernde,
in Äste und Zweige sich teilende S. der Dikotyledonen und
Nadelhölzer wird Stamm (truncus) genannt (vgl. Baum).
Abweichende, für besondere Lebenszwecke eingerichtete
Stengelformen sind die Knollen, Ranken und Dornen (s. d.). Bei
manchen Pflanzen ist der S. fleischig verdickt und dann knollig,
wie bei dem Kohlrabi (Fig. 3), nahezu kugelig, wie bei Melocactus
(Fig. 4), aus ovalen, zusammengedrückten Gliedern
zusammengesetzt, wie bei den Opuntien (Fig. 5). Ja, es gibt auch
S., welche der Gestalt nach mit Blättern übereinstimmen,
wie z. B. die Zweige von Ruscus aculeatus (Fig. 6), welche
flächenartig ausgebreitet sind und ein beschränktes
Längenwachstum besitzen, daher sie eine begrenzte
blattähnliche Form haben. Solche Blattzweige (phyllocladia)
unterscheiden sich von wahren Blättern leicht dadurch,
daß sie aus den Achseln kleiner, schuppenförmiger
Blätter entspringen und auf ihrer Fläche selbst kleine
Blättchen tragen, aus deren Achsel sie eine Blüte
hervorbringen. Über den innern Bau des Stengels vgl. die
Artikel Gefäßbündel, Holz, Rinde, Kambium.

^[Fig. 5. Stengel von Opuutia.]

^[Fig. 6. Phyllokladien von Ruscus aculeatus.]

^[Fig 3. Kohlrabi.]

^[Fig. 4. Stengel von Melocactus.]

Stengelbrand, s. Brandpilze III.

Stengelgläser, venezian. Gläser mit
dünnem, stengelartigem Fuß (s. Tafel
"Glaskunstindustrie", Fig. 8).

Stenochromie (griech.), Verfahren gleichzeitigen Druckes
einer beliebigen Anzahl von Farben, dessen Erfindung von Radde in
Hamburg und von dessen Kompagnon Greth beansprucht wird. Aus eigens
präparierten Farbentäfelchen werden der zu bedruckenden
Bildfläche entsprechende Teile mittels der Laubsäge
herausgeschnitten, welche man, gleich den Teilen der
Zusammensetzspiele der Kinder, sodann zu einer Platte vereinigt, in
eine besonders konstruierte Presse bringt, wo der Druck mit
chemisch gefeuchtetem Papier derart erfolgt, daß das Papier
die zur Herstellung des Bildes erforderliche Farbenschicht von der
Farbenplatte aufsaugt. Wird über solcherweise erzeugte Grund-
oder Tonplatten eine denselben entsprechende, das Bild selbst als
photographisches Positiv tragende Gelatinehaut gelegt, so
können damit überraschend schöne Resultate erzielt
werden.

Stenograph (griech.), im weitern Sinn jeder, der sich ein
System der Stenographie (s. d.) zu eigen

289

Stenographie (Wesen und Zweck).

gemacht hat; im engern einer, dessen Beruf das
geschwindschriftliche Aufnehmen von Reden u. dgl. ist.

Stenographie (griech., "Engschrift", auch Tachygraphie,
"Schnellschrift", engl. Shorthand. "Kurzhand", deutsch am
treffendsten Kurzschrift genannt), eine Schriftart, welche
vermittelst eines einfachen, von den gewöhnlichen Buchstaben
abweichenden Alphabets, ferner durch eigne Grundsätze
über deren Zusammenfügung und meist auch durch
Aufstellung besonderer Kürzungen zu ihrer Ausführung nur
ein Viertel der sonst nötigen Zeit erfordert und dazu bestimmt
ist, bei schreiblicher Thätigkeit als zeitersparendes
Erleichterungsmittel verwandt zu werden. Da die S. nicht
beabsichtigt, die gewöhnliche Schrift zu verdrängen,
sondern nur neben derselben hergehen will, so nimmt sie in der
Lautbezeichnung hauptsächlich die gangbare Schrift zum
Vorbild; doch werden auch aus orthographischen Vereinfachungen
Kürzungsvorteile gern benutzt. Phonetische Stenographien (s.
Phonographie), wie sie in England (s. Pitman) und Frankreich (s.
Duployé) vorhanden sind, lassen sich in Deutschland bei dem
Mangel einer Behörde zur Entscheidung über die
Richtigkeit der provinziell verschiedenen Aussprache gewisser Laute
vorläufig nicht durchführen. Hinsichtlich der
Zeichenauswahl für das Alphabet unterscheidet man zwei Arten
von Systemen der S.: geometrische, d. h. solche, welche nur die
einfachsten geometrischen Elemente (Punkt, gerade Linie, Kreis und
Kreisteile) verwenden, und graphische, d. h. solche, die ihre
Zeichen aus Teilen der gewöhnlichen Buchstaben bilden und
dadurch im Gegensatz zu den erstern geläufige, der Richtung
der schreibenden Hand entsprechende Züge erzielen.
Geometrische wie graphische Systeme vervielfältigen die
geringe Menge der verfügbaren Urzeichen durch allerhand
Auskunftsmittel, wie Höhenwert, Neigungswert, Stellenwert,
Schattierungswert etc., die zur Erreichung der verschiedensten
Zwecke benutzt werden. An einer Klassifikation der Systeme nach
diesen Gesichtspunkten mangelt es noch vollständig. Zu der
graphischen Art gehören außer der altrömischen
Tachygraphie fast nur die modernen deutschen Systeme und deren
Übertragungen, während die übrigen meist auf
geometrischer Grundlage beruhen. In den Regeln über die
Zeichenzusammenfügung herrscht außerordentliche
Mannigfaltigkeit. Das Gleiche gilt von den Kürzungsregeln,
doch ist fast allen Systemen gemeinsam die Anwendung von Siglen (s.
d.). Schreibkürzungsmethoden, welche sich der
gewöhnlichen Buchstaben, allenfalls mit einigen Signaturen,
bedienen, fallen, auch wenn sie die angegebene Kürze erreichen
sollten, nicht unter den Begriff der S., ebensowenig Systeme,
welche zwar eigne Zeichen verwenden, aber hinter dem Maß von
ein Viertel der sonstigen Schreibzeit erheblich zurückbleiben.
Die Veranlagung, schnelle Reden wörtlich nachzuschreiben,
gehört nicht zu den Bedingnissen einer S., obgleich die
meisten Systeme dazu befähigen oder wenigstens sich dessen
rühmen. Oft aber ist es dieses Bedürfnis, Reden
nachzuschreiben, gewesen, welches den Anstoß zur Aufstellung
einer Kurzschrift gegeben hat. Daher sehen die ersten Systeme mehr
auf Kürze als auf genügende Bürgschaft für
richtiges Wiederlesen des Geschriebenen. Sobald die S. die engen
Grenzen der Redezeichenschrift verläßt, um ihre
umfassendere und höhere Bestimmung zu erfüllen, muß
das Streben nach Kürze durch die Rücksicht auf
Deutlichkeit, Zuverlässigkeit, Lesbarkeit und
Formenschönheit eingeschränkt werden; auch darf die Zeit
und Mühe, welche zur Erlernung eines solchen mechanischen
Erleichterungsmittels aufgewandt wird, nicht zu groß sein
oder gar den Charakter eines förmlichen Studiums annehmen. Je
mehr ein System bei theoretischer Konsequenz und ästhetischem
Äußern Zuverlässigkeit mit Kürze vereinigt,
ohne an leichter Erlernbarkeit zu verlieren, desto höher steht
es an Brauchbarkeit und Güte. Denn die S. ist für alle
bestimmt, welche viel zu schreiben oder Geschriebenes zu lesen
haben, nicht bloß für Gelehrte, Schriftsteller,
höhere Beamte, Kaufleute, Studenten, Gymnasiasten etc.,
sondern auch für Subalternbeamte, Sekretäre, Kanzlisten,
Schreiber, Schriftsetzer etc., bei deren gegenseitigem
Zusammenwirken (ein einheitliches Stenographiesystem vorausgesetzt)
sie erst ihren vollen Wert zeigen kann. Als rein mechanisches
Hilfsmittel für so verschiedene zum Teil wenig gebildete
Kreise besitzt die S. keinerlei Anrecht auf die Bezeichnungen
"Wissenschaft" oder "Kunst"; höchstens im uneigentlichen Sinn,
wie man von Buchdrucker- oder Schreibkunst spricht, könnte die
S. eine Kunst heißen. Aus der Verwertung
sprachlich-etymologischer und lautlich-physiologischer
Forschungsergebnisse vermag die Kurzschrift wohl Vorteile zu
ziehen, aber nur Schwärmer reden von hoher
Wissenschaftlichkeit und zahlreichen bildenden Elementen der S. Die
Kurzschrift hat ihren wissenschaftlichen Gehalt in der Konsequenz,
in rationeller Ökonomie und einem systematischen Aufbau zu
suchen; ihre wissenschaftliche Bedeutung liegt in den Diensten, die
sie der Wissenschaft leistet. Eine kritisch-forschende
Beschäftigung mit Geschichte, Wesen und Wert der S. ist
dagegen sehr wohl als wissenschaftliche Thätigkeit zu denken.
Zur Ausübung der redennachschreibenden Praxis bedarf es neben
stenographischer Virtuosität insbesondere scharfer Sinne,
schneller Auffassung und fester Nerven. Wissenschaftliche Bildung
ist dafür nicht durchaus erforderlich, indessen gewährt
dieselbe größere Bürgschaft für
zuverlässige und von Verständnis getragene Leistungen;
darum verlangt gewöhnlich der Staat von seinen amtlichen
Stenographen außer der technischen Fertigkeit bestimmte
Bildungsnachweise. In den größern deutschen Staaten und
in Österreich werden z. B. fast nur akademisch gebildete
Männer als Kammerstenographen zugelassen. Gegenwärtig
dient die S. ihrem umfassendern, höhern Zweck umfänglich
in Großbritannien, einem Teil des englisch sprechenden
Nordamerika, in Frankreich, Deutschland, der Schweiz,
Österreich-Ungarn und langsam beginnend auch in Italien; in
den übrigen europäischen und einigen überseeischen
Ländern erfährt sie fast nur in dem beschränkten
Sinn Anwendung zum Nachschreiben von Reden. Die Pflege der
Kurzschrift ruht zumeist in den Händen der stenographischen
Vereine, die zuerst in England aufgekommen sind. Ebenda entstand
1842 die stenographische Presse, welche jetzt über fast 150
Fachzeitschriften verfügt. Versuche zur Aufstellung einer
stenographischen Tonschrift an Stelle des gewöhnlichen
Notensystems sind von einigen Franzosen, Deutschen und
Engländern gemacht worden, haben aber eine praktische
Verwertung ebensowenig gefunden wie die Entwürfe zu
"Blindenstenographien". Vgl. Steinbrink, Über den Begriff der
Wissenschaftlichkeit auf dem Gebiet der S. (Berl. 1879); Hasemann,
Prüfung der wichtigsten Kurzschriften (Trarbach 1883);
Morgenstern, Wissenschaftliche Grundsätze zur Beurteilung
stenographischer Systeme (im "Magazin für S." 1884); Brauns,
Welche Anforderungen sind an eine Schulkurzschrift zu stellen?
(Hamb. 1888); Hüeblin, Stimmen über die Bedeutung der S.
(Wetzikon 1888).

290

Stenographie (Geschichtliches, Verbreitung).

Geschichtliches. Verbreitung.

Den ersten Ansatz zu einer S. finden wir in Griechenland. Eine
Marmorinschrift von etwa 350 v. Chr., welche vor wenigen Jahren auf
der Akropolis von Athen ausgegraben ward und im dortigen
Zentralmuseum aufgestellt ist, gibt Anweisungen einer
gekürzten Schriftart, mit welcher allerdings nur die
Hälfte der Zeit erspart wird. Der frühsten Erwähnung
einer griechischen S. begegnet man erst ums Jahr 164 n. Chr. bei
Galenos. Aus Zeugniffen späterer Schriftsteller geht hervor,
daß die wörtliche Aufnahme einer griechischen Rede durch
S. möglich war. Von der Beschaffenheit des dabei angewendeten
Systems können wir uns keine rechte Vorstellung bilden, denn
die Schriftproben, welche unter dem Namen griechische Tachygraphie
gehen, repräsentieren nur eine ganz späte und entartete
Gestalt, in der das System an Kürze sich wenig über die
gewohnliche griechische Schrift erhebt und nicht mehr S., sondern
nur noch Geheimschrift ist. Vgl. Gomperz, Über ein
griechisches Schriftsystem aus der Mitte des 4. vorchristlichen
Jahrhunderts (Wien 1884); Mitzschke, Eine griechische Kurzschrift
aus dem 4. vorchristlichen Jahrhundert (Leipz. 1885); Gitlbauer,
Überreste griechischer Tachygraphie im "Codex Vaticanus
graecus 1809" (Wien 1878); Wessely, Wiener Papyrus Nr. 26 und die
Überreste griechischer Tachygraphie in den Papyri von Wien,
Paris und Leiden (in den "Wiener Studien" 1881, Bd. 3, S. 1-21);
Rueß, Über griechische Tachygraphie (Neuburg a. D.
1882). Reichlicher fließen die Quellen über die
altrömische S., deren Wesen und Geschichte vom Beginn bis zum
Untergang sich verfolgen läßt. Nach ihrem Erfinder Tiro
führt diese Kurzschrift den Namen Tironische Noten (weiteres
s. Tiro). Aus dem Mittelalter verdient nur hervorgehoben zu werden,
daß ein Mönch, Johannes von Tilbury, den Versuch machte,
durch eine Nova notaria die Tironischen Noten zu ersetzen (vgl.
Rose, Ars notaria, im "Hermes", Bd. 8, S. 303 ff.). Die Nation, bei
welcher die Kurzschrift in neuer Zeit zuerst wieder erwachte, und
von wo der zündende Funke fast in alle Länder Europas und
über den Ozean übersprang, war die englische. Die
frühsten Spuren stenographischer Systeme zeigen sich in
England schon zu Ende des 16. Jahrh. in den Schriften von Bright
und Bales. Der erste aber, der hier von Bedeutung ward, ist John
Willis ("The art of stenography, or short-writing", Lond. 1602).
Von diesem Anfangspunkt an bis zur jüngsten Vergangenheit ist
das stenographische Schrifttum Englands ein außerordentlich
fruchtbares gewesen. Als besonders hervorragend sind zu nennen
Samuel Taylors "Essay intended to establish a standard for an
universal system of stenography" (Lond. 1786), wovon
Übertragungen auf viele andre europäische Sprachen
gemacht wurden, und Isaak Pitmans "Phonographie" (1837). Dieselbe
hat nach dem Taylorschen System die weiteste Verbreitung und
praktische Verwertung unter den Volksstämmen englischer Zunge
gefunden (näheres s. Pitman). In Frankreich blieben die ersten
von Cossard 1651 und dem Schotten Ramsay 1681 veröffentlichten
Systeme ohne Erfolg. Erst einer von Bertin verfaßten
Übertragung des Taylorschen Systems, die 1792 unter dem Titel:
"Système universel et complet de sténographie"
erschien, gelang es, Anerkennung und praktische Verwendung zu
finden. Noch heute besitzt dieselbe namentlich in den
Überarbeitungen von Prévost und Delaunay in den
franzöfischen und belgischen Kammern als Redezeichenkunst das
Übergewicht, auch sonst einige Verbreitung im täglichen
Schriftverkehr und eine Zeitschrift zur Vertretung ihrer
Interefsen. Hinsichtlich der allgemeinen Ausbreitung und Benutzung
bei schriftlichen Arbeiten hat aber neuerdings die S.
Duployé (s. d.) alle andern französischen Methoden weit
überflügelt. In Italien ist der erste nachweisbare
Versuch, zu einer Kurzschrift zu gelangen, der von Molina 1797. Ihm
folgte eine von Amanti 1809 bewirkte Übertragung des
Taylorschen Systems ("Sistema universale e completo di
stenografia"), die mit einigen Modifikationen beim italienischen
Parlament Verwendung findet, sonst aber hinter einer von Noe
bewirkten Übertragung der deutschen Redezeichenkunst von
Gabelsberger zurücktritt, welche bereits anfängt, in
weitern Kreisen als Gebrauchsschrift sich Geltung zu verschaffen
("Manuale di stenografia italiana", 9. Aufl., Dresd. 1887). In
Spanien war es Marti, der, auf englischen Grundlagen bauend, durch
seine "Tachigrafia castellana" (Madr. 1803) die Kurzschrift in
seinem Vaterland einbürgerte und eine Stenographenschule
gründete, deren Anhänger auch in Mexiko, Carácas,
Buenos Ayres als Schnellschreiber der dortigen Gesetzgebenden
Körper thätig sind. Ihr ist in neuester Zeit die
"Taquigrafia sistematica" (Barcel. 1864) des Garriga y Marill mit
Erfolg an die Seite getreten; ein thätiger und tüchtiger
Verein in Barcelona wirkt für dieses System. Ein Sohn des
vorgenannten Marti führte seines Vaters System, indem er es
auf das Portugiesische übertrug, in Portugal ein ("Tachigrafia
portugueza", Lissab. 1828). In Brasilien kommt ein nach
englisch-französischen Mustern von Pereira da Silva Velho
geschaffenes System (Rio de Jan. 1844) im Parlament zur Verwendung.
In Rumänien tauchte die Kurzschrift 1848 auf, als Rosetti die
Taylorsche S. seiner Muttersprache anzupassen suchte. Von einigem
Erfolg begleitet war erst Winterhalders 1861 bewirkte
Übertragung des französischen Systems von Tondeur. Auch
in Schweden, Norwegen, Dänemark, den Niederlanden,
Rußland, Polen, Böhmen und den übrigen slawischen
Ländern, Ungarn, Finnland, der Türkei, Griechenland,
Armenien, Madagaskar, Japan trägt die S. das Gepräge
fremder Herkunft. Es gibt in diesen Ländern keine
national-eigentümlichen Stenographien, sondern nur
Übertragungen ausländischer Methoden, besonders der
deutschen von Gabelsberger und Stolze oder
englisch-französischer. Erst 1888 hat sich bei den Tschechen
eine Richtung auf Nationalisierung der S. bemerkbar gemacht. Auch
auf Schleyers Volapük sind schon mehrere Systeme der S.
übertragen worden. In Deutschland begegnen uns
merkwürdige Beispiele großer Schreibgeschwindigkeit
während der Reformationszeit, wo Luthers Freunde und Gehilfen
(Cruciger, Dietrich und Röhrer) Predigten, Reden,
Verhandlungen u. dgl. wörtlich nachgeschrieben haben sollen.
Da jedoch nähere Angaben nicht erhalten sind, muß es
unentschieden bleiben, welcher Hilfsmittel sich diese Männer
bedient haben. Der Versuch des Schotten Ramsay, 1679 das englische
System von Shelton in Deutschland einzuführen, blieb ohne
Erfolg. Gegen Ende des vorigen Jahrhunderts lenkte Buschendorf in
seinem "Journal für Fabrik, Manufaktur etc." 1796 die
Aufmerksamkeit der Deutschen auf die stenographischen Systeme
Englands und Frankreichs und wies auf die Wichtigkeit dieser
Kunstfertigkeit hin. Noch in demselben Jahr erschienen Mosengeils
"Anleitung zur S. nach Tay-

291

Stenographiermaschine - Stenotelegraph.

lor" und 1797 Horstigs "Erleichterte deutsche S.", beide ebenso
wie das vom Hauptmann Danzer in Wien 1800 veröffentlichte
"Allgemeine System der S. des Herrn Sam. Taylor" nach englischem
Muster gearbeitet. Seit jener Zeit ist in Deutschland eine
außerordentlich große Anzahl stenographischer Systeme
aufgetaucht, unter denen aber nur die Methoden von Gabelsberger (s.
d., 1834), Stolze (s. d., 1841) und Arends (s. d., 1850) in den
Vordergrund getreten sind. Gabelsberger schuf in seiner
Redezeichenkunst das erste deutsche Nationalsystem und eroberte der
graphischen Richtung das Feld. Stolze hob die S. zur Bedeutung
eines allgemeinen Hilfsmittels, brachte strengere Grundsätze
zur Anwendung und belebte den früher toten Bindestrich. Arends
ist darüber nicht hinausgekommen. Die Pflege dieser drei
Hauptsysteme nebst Übertragungen stellt sich nach der neuesten
Statistik folgendermaßen:

Gabelsberger 660 Vereine mit 17000 Mitgliedern,

Stolze 450 - - 10500

Arends 120 - - 2600

Erst in neuester Zeit hat der stenographische Gedanke wieder
eine wirkliche Förderung erfahren durch Brauns, der in seinem
"Entwurf eines Schulkurzschriftsystems" (Hamb. 1888) auf Grund
eingehender Untersuchungen über die Häufigkeit der
Lautgruppen einerseits und die Schreibflüchtigkeit der
verfügbaren Zeichen anderseits die Bahnen für eine
rationelle Ökonomie in der Kurzschrift vorgezeichnet hat.
Diejenigen Systeme der S., welche in der Zwischenzeit
veröffentlicht worden sind, haben wohl diesen oder jenen neuen
Einzelvorteil sich zu nutze gemacht, für den
Allgemeinfortschritt der S. aber nichts geleistet. Faulmanns
Phonographie, die zuerst von Braut 1875 herausgegeben ward, hebt
sich durch ihre Einfachheit hervor. Das sogen.
"Dreimännersystem" von Schrey, Johnen und Socin (1888),
gewöhnlich nach dem Hauptautor Schrey allein benannt, versucht
eine Vermittelung zwischen Gabelsberger, Stolze und Faulmann. Durch
Vereine sind folgende kleinere Systeme vertreten:

Roller (1875) 105 1450

Faulmann (1875) 25 1000

Lehmanns "Stenotachygraphie" (1875) 40 860

Schrey (1888) 30 450

Merkes (1880) 15 150

Velten (1876) 10 150

Ganz vereinzelt bestehen auch Vereine nach den Systemen von
Adler (1877), Herzog (1884) und einigen andern, wie denn das
stenographische Vereinswesen in Deutschland, dem gegenwärtigen
Hauptsitz stenographischer Thätigkeit, am meisten entwickelt
ist. Ein regelmäßiger Gedankenaustausch zwischen den
Stenographen aller Länder ist von Großbritannien aus
durch die Einführung internationaler Stenographenkongresse
geschaffen worden. Die erste Zusammenkunft dieser Art fand 1887 in
London statt (vgl. "Transactions of the first international
short-hand congress", Lond. u. Bath 1888). Einen Einblick in acht
bedeutende Systeme der S. gewährt beifolgende Tafel
"Stenographie". Für die umfängliche stenographische
Litteratur besteht bei J. H. Robolsky in Leipzig eine besondere
buchhändlerische Zentralstelle; Bücher von wirklichem
Wert sind seltene Erscheinungen. Vgl. Pitman, A historv of
short-hand (Lond. 1852); Anderson, History of short-hand (das.
1882) ; Rockwell, The teaching, practice and literature of
short-hand (2. Aufl., Washingt. 1885); Scott de Martinville,
Histoire de la sténographie (Par. 1849); Guénin,
Recherches sur l'histoire, la pratique et l'enseignement de la
sténographie (das. 1880); Depoin, Annuaire
sténographique international (das. 1887); Gabelsberger,
Anleitung zur deutschen Redezeichenkunst oder S. (Münch.
1834); Anders, Entwurf einer allgemeinen Geschichte und Litteratur
der S. (Köslin 1855); Erkmann, Geschichte der S. im
Grundriß (Görl.1875); Mitzschke, Beiträge zur
Geschichte der Kurzschrift (Berl. 1876); Zeibig, Geschichte und
Literatur der Geschwindschreibkunst (2. Aufl., Dresd. 1878) ;
Blenck, Die geschichtliche Entwickelung etc. der S. (Berl. 1887);
Krieg, Katechismus der S. (2. Aufl., Leipz. 1888); Moser,
Allgemeine Geschichte der S. (das. 1889, Bd. 1.);
"Panstenographikon" (Dresd. 1869-74); Faulmann, Historische
Grammatik der S. (Wien 1887); Keil und Hödel, Verzeichnis der
stenographischen Litteratur Deutschlands etc. (Leipz. 1880 u.
1888); Westby-Gibson, The bibliography of short-hand (Lond. u. Bath
1887).

Stenographiermaschine, ein neuerdings konstruierter
Apparat, auf gleicher Idee beruhend und von ähnlicher
Einrichtung wie die Schreibmaschine (s. d.), der indessen mit
solcher Schnelligkeit arbeiten soll, daß er gehaltenen Reden
wörtlich zu folgen vermag. Dieses Ziel ist aber unerreichbar,
und die unter dem Namen S. gehenden Apparate sind in der That nur
Schreibmaschinen von größerer Leistungsfähigkeit.
Am meisten hat die S. des Italieners Michela von sich reden
gemacht. Vgl. Petrie, Reporting and transcribing machines (Lond.
1882); Guénin, Les machines à écrire (in Nr. 4
des "Bulletin de l'Association des sténographes de Paris"
vom 1. Febr. 1883). Vgl. Stenotelegraph.

Stenokardie (griech.), Herz- oder Brustkrampf.

Stenokephalen, s. v. w. Dolichokephalen, s.
Menschenrassen, S. 475, und Schädellehre.

Stenopäisch (griech.), Bezeichnung für Brillen
und andre optische Apparate, welche dem Licht nur durch eine enge
Öffnung Zutritt zum Auge gestatten (z. B. zur Verkleinerung
von Zerstreuungskreisen).

Stenops, Lori.

Stenosis (griech.), Verengerung oder auch
Verschließung von Gefäßen oder Kanälen,
wodurch die normale Zirkulation des Inhalts verhindert wird, so z.
B. S. der Herzöffnungen, der Luftröhre etc.

Stenotachygraphie (griech., "Engschnellschrift"), Name
der Kurzschrift von A. Lehmann; s. Stenographie, S. 291.

Stenotelegraph (griech.), von Cassagnes in Paris
angegebener elektromagnetischer Druckapparat für
stenographische Zeichen, der die gewöhnlichen
Telegraphenapparate an Geschwindigkeit weit übertreffen soll.
Als Geber dient der mechanische Stenograph von Michela, welcher
seit 1880 im italienischen Senat benutzt wird (vgl.
Stenographiermaschine). Michela zerlegt die Wörter in ihre
phonetischen Elemente und verwendet zu deren Wiedergabe 20
Schriftzeichen, welche mittels einer Klaviatur auf mechanischem Weg
hervorgebracht werden. Bei Cassagnes ist jede Taste mit einem Pol
einer Linienbatterie verbunden, deren andrer Pol an der Erde liegt,
und zwar sind zwei Batterien vorhanden, welche mit
entgegengesetzten Polen so an den Geber geführt werden,
daß die Polarität von Taste zu Taste wechselt. Die
Tasten stehen mit den Kontaktplatten einer sehr
gleichmäßig wirkenden Verteilerscheibe in Verbindung;
über dieser Scheibe dreht sich eine metallische Bürste,
welche die Leitung in jeder Sekunde mehrmals mit jeder
Kontaktplatte in Berührung bringt. Auf der Empfangsstelle ist
eine gleichartige Verteilerscheibe mit

292

Stenschewo - Stephan.

völlig übereinstimmend sich drehender Bürste
aufgestellt; letztere teilt jeden aus der Leitung kommenden
Stromstoß einem der 20 mit den Kontaktplatten verbundenen
Elektromagnete mit, welcher sodann die Wiedergabe des
entsprechenden Zeichens auf dem Papierstreifen unter Zuhilfenahme
einer Lokalbatterie durch eine einfache Druckvorrichtung
herbeiführt. Nach jeder Zeichengebung tritt ein 21.
Elektromagnet in Thätigkeit, dessen Anker beim Abfallen
mittels eines Sperrrades den Papierstreifen um die Breite eines
Zeichens vorschiebt. Neuerdings hat Cassagnes die Anzahl der
Kontaktplatten in der Verteilerscheibe vergrößert, um
bei jedem Umlauf mehr als ein stenographisches Zeichen
telegraphieren zu können; statt einer einzigen Klaviatur
treten dann 2 oder 3 gleichzeitig in Thätigkeit, wobei auf
jeder Klaviatur ein andres Telegramm übermittelt wird.
Außerdem hat der Erfinder seinen Stenotelegraphen noch zur
automatischen Beförderung eingerichtet, indem er denselben mit
einem mechanischen Lochapparat verbindet und den gelochten Streifen
durch das Laufwerk der Verteilerscheibe hindurchgehen
läßt, wobei eine Anzahl von Kontaktstiften durch die
Löcher des Streifens die zum Abdruck der Schriftzeichen
dienenden Ströme entsenden. Mit diesem Apparat sollen von
Paris aus Versuche auf Entfernungen zwischen 200 und 920 km
angestellt und Leistungen von 12,000-24,000 Wörtern in der
Stunde erreicht worden sein.

Steuschéwo, Stadt im preuß. Regierungsbezirk
Posen, Kreis Posen (West-), hat eine kath. Kirche und (1885) 1506
Einw.

Stentando (ital.), musikal. Bezeichnung, s. v. w.
hemmend, zögernd. Stentato, s. v. w. ritenuto, aber mit dem
Ausdruck des Gehemmten, Mühevollen; in der Malerei s. v. w.
gezwungen, steif.

Stentor, bei Homer ein Thraker (oder Arkadier) mit
eiserner Stimme, dessen Ruf so laut tönte wie der 50 andrer
Männer; daher Stentorstimme.

Stenzel, Gustav Adolf Harald, deutscher
Geschichtsforscher, geb. 21. März 1792 zu Zerbst, studierte in
Leipzig Theologie und Geschichte, habilitierte sich, nachdem er als
freiwilliger Jäger den Befreiungskrieg von 1813 mitgemacht, zu
Leipzig, 1817 zu Berlin, folgte 1820 einem Ruf als Professor der
Geschichte nach Breslau und ward 1821 Archivar des schlesischen
Provinzialarchivs. 1848 war er Abgeordneter zur deutschen
Nationalversammlung in Frankfurt, später Mitglied der
preußischen Zweiten Kammer. Er starb 2. Jan. 1854. Von seinen
Arbeiten sind hervorzuheben: "Geschichte Deutschlands unter den
fränkischen Kaisern" (Leipz. 1827, 2 Bde.); "Geschichte des
preußischen Staats" (Hamb. u. Gotha 1830-54, 5 Bde.) und
"Geschichte Schlesiens" (Bresl. 1853, Bd. 1). Auch besorgte er die
Herausgabe der "Scriptores rerum silesiacarum" (Bresl. 1835-1851, 5
Bde.) und der "Urkunden zur Geschichte Breslaus im Mittelalter"
(das. 1845).

Stenzler, Adolf Friedrich, namhafter Sanskritist, geb. 9.
Juli 1807 zu Wolgast, studierte 1826-1829 in Greifswald, Berlin und
Bonn orientalische Sprachen, ging, nachdem er 1829 in Berlin
promoviert, nach Paris, wo er die Vorlesungen von Chezy, S. de Sacy
und A. Remusat besuchte, arbeitete dann bis 1833 in der Bibliothek
des East-India House in London und erhielt noch im genannten Jahr
die Professur der orientalischen Sprachen an der Universität
Breslau, wo er bis 1872 zugleich als Kustos und zweiter
Bibliothekar an der Universitätsbibliothek thätig war.
Seine Hauptwerke sind: "Raghuvansa, Kâlidâsae carmen"
(sanskr. u. lat., Lond. 1832); "Kumâra Sambhava,
Kâlidâsae carmen" (sanskr. u. lat., das. 1838);
"Mricchakatika. i. e. Curriculum figlinum, Sûdrakae regis
fabula" (sanskr., Bonn 1847); "Yâjnavalkyas Gesetzbuch"
(sanskr. u. deutsch, Berl. 1849); "Indische Hausregeln" (sanskr u.
deutsch, 1. Teil: "Acvalâyana" . Leipz. 1864-65, 2 Bde.; 2.
Teil: "Pâraskara", das. 1876-78, 2 Bde.); "Elementarbuch der
Sanskritsprache" (Bresl. 1868, 5. Aufl. 1885); "Meghadûta,
der Wolkenbote, Gedicht von Kalidasa" (mit Anmerkungen und
Wörterbuch, das. 1874); "The Institutes of Gautama" (sanskr.,
Lond. 1876); außerdem Abhandlungen in Webers "Indischen
Studien" und in der "Zeitschrift der Deutschen
Morgenländischen Gesellschaft" (z. B. über die indischen
Gottesurteile, im 9. Band) und Gelegenheitsschriften. S. starb 27.
Febr. 1887 in Breslau.

Stepenitz, rechter Nebenfluß der Elbe im
preuß. Regierungsbezirk Potsdam, entspringt bei Meyenburg,
fließt in südwestlicher Richtung und mündet nach 75
km langem Lauf bei Wittenberge.

Stepenitz (Groß- S.), Flecken im preuß.
Regierungsbezirk Stettin, Kreis Kammin, am Einfluß des
Gubenbachs in das Papenwasser, hat eine evang. Kirche, ein
Amtsgericht, eine Oberförsterei, Sägemühlen,
Fischerei, Dampfschiffahrt nach Stettin und (1885) 1572 Einw.

Stephan, Name von zehn Päpsten: 1) S. I., ein
Römer, folgte 253 Lucius als Bischof von Rom und entschied den
Streit über die Ketzertaufe dahin, daß auch eine solche
gültig sei; er starb 2. Aug. 257, nach der Sage als
Märtyrer, und ward später kanonisiert. Sein Tag ist der
2. August. -

2) S. (II.), gewählt 27. März 752, starb zwei Tage
nach der Wahl; wird daher gewöhnlich nicht gezählt. -

3) S. II. (III.) bestieg den päpstlichen Stuhl 752. Als er
den Kaiser Konstantin Kopronymos gegen den Langobardenkönig
Aistulf, welcher das Exarchat eroberte, vergebens um Schutz
angefleht hatte, rief er die Hilfe des Königs der Franken,
Pippin, an und erhielt 755 von diesem das wiedereroberte Exarchat
nebst der Pentapolis geschenkt, wodurch der Grund zum Kirchenstaat
gelegt ward. S. starb 26. April 757. -

4) S. III. (IV.), ein Sizilier, folgte auf Paul I. nach
Abfetzung des Gegenpapstes Konstantin 768 und bestimmte, daß
keiner, der nicht durch alle niedern Stufen der Geistlichkeit bis
zur Würde eines Kardinaldiakonus gestiegen sei, auf den
päpstlichen Stuhl erhoben werden sollte. Von dem
Langobardenkönig Desiderius bedrängt, suchte er bei den
Frankenkönigen Karl und Karlmann Hilfe. Er starb 772. -

5) S. IV. (V.), erst Diakonus zu Rom, Nachfolger Leos III. seit
816, krönte den Kaiser Ludwig den Frommen; starb 817. -

6) S. V. (VI.), ein Römer, solgte auf Hadrian III. 885,
krönte den Herzog Guido von Spoleto zum Kaiser; starb 891.
-

7) S. VI. (VII.) bestieg 896 den römischen Stuhl,
ließ den ausgegrabenen Leichnam seines Vorgängers
Formosus in den Tiber werfen, wurde aber selbst schon 897 im Kerker
erdrosselt. -

8) S. VII. (VIII.), ein Römer, Nachfolger Leos VI. seit
929, stand ganz unter dem Weiberregiment der Theodora und Marozia;
starb 931. -

9) S. VIII. (IX.), Verwandter des Kaisers Otto, folgte 939 Leo
VII., ward aber von den Römern gefangen gesetzt und starb 942.
-

10) S. IX. (X.) hieß früher Friedrich und war Bruder
des Herzogs Gottfried von Lothringen, ward vom Papst als Gesandter
nach Konstantinopel geschickt, blieb dann als Mönch in Monte
Cassino, ward Kardinal und nach Viktors II. Tod 1057 zum Papst
gewählt. Als solcher stand er ganz unter dem Ein-

293

Stephan (Fürsten) - Stephan (Zuname).

fluß Hildebrands. Er starb bereits 29. März 1058 in
Florenz. Vgl. Wattendorf, Papst S. IX. (Münster 1883).

Stephan, Name mehrerer Fürsten. Bemerkenswert
sind:

1) S. von Blois, König von England, ward nach dem Tod
König Heinrichs I., dessen Schwester Adele seine Mutter war,
1135 von den normännischen Großen an Stelle von
Heinrichs Tochter Mathilde als König anerkannt, wofür er
den Prälaten und Baronen einen umfassenden Freibrief
gewährte. Die Widersetzlichkeit der Großen suchte er
nicht immer mit Erfolg durch vlämische und französische
Söldner niederzuhalten. Mit Schottland kämpfte er
glücklich, als aber 1139 die von der Thronfolge
ausgeschlossene Mathilde in England landete, fiel S. 1141 selbst in
ihre Gewalt, ward 1142 zwar befreit, behauptete sich aber nur unter
fortwährenden Kämpfen im Besitz der Herrschaft und starb
25. Okt. 1154, nachdem er Mathildens Sohn Heinrich Plantagenet als
Erben anerkannt hatte.

2) Erzherzog von Österreich, Sohn des Erzherzogs Joseph
(gest. 1847) und dessen zweiter Gemahlin, Hermine, gebornen
Prinzessin von Anhalt-Bernburg-Schaumburg, geb. 14. Sept. 1817,
wurde im Dezember 1843 Zivilgouverneur von Böhmen, 1847 nach
dem Tod seines Vaters zum stellvertretenden Palatin von Ungarn
ernannt und im November d. J. durch die Wahl des Reichstags und die
Bestätigung des Kaisers definitiv mit dieser Würde
betraut. Infolge der Märzereignisse 1848 wurde seine Stellung
sowohl der nationalen Partei als auch der österreichischen
Regierung gegenüber eine unhaltbare, namentlich als er im
September vom Reichstag zum Oberbefehlshaber der ungarischen Armee
gegen Jellachich ernannt worden war; er entsagte daher 24. Sept.
dem Palatinat, zog sich 1850 auf seine Besitzungen in Nassau
(Grafschaft Holzappel und Schaumburg) zurück und starb 19.
Febr. 1867 in Mentone. Vgl. "Erzherzog S. Viktor von
Österreich, sein Leben, Wirken etc." (Wiesb. 1868).

3) Bathori, König von Polen, geb. 1532 aus einer vornehmen
ungarischen Familie (s. Bathori), ward 1571 von den
siebenbürgischen Ständen zum Großfürsten von
Siebenbürgen und 1575, nachdem er die Jagellonische Prinzessin
Anna geheiratet, vom polnischen Reichstag zum König von Polen
erwählt. Er verbesserte die Rechtspflege, suchte dem
Jesuitenorden gegenüber die Gewissensfreiheit der Protestanten
zu schützen, kämpfte im Bund mit Schweden glücklich
gegen die Russen (1578-82) und eroberte einen Teil Livlands,
versuchte aber mit seinem Günstling Zamojski vergeblich, ein
starkes nationales Königtum in Polen zu schaffen und die Krone
in seinem Geschlecht erblich zu machen. Er starb 12. Dez. 1586 in
Grodno.

4) S. I., der Heilige, erster König von Ungarn, 997-1038,
war der Sohn des Herzogs Geisa, Urenkels des Großfürsten
Arpad (s. d.), hieß ursprünglich Wajk, ward 995 in
seinem 20. Lebensjahr angeblich durch den Bischof Adalbert von Prag
zum Christentum bekehrt und nahm in der Taufe den Namen Stephanus
an. Mit der bayrischen Herzogstochter Gisela vermählt, zog er
zahlreiche Deutsche nach Ungarn und rottete, zur Regierung gelangt,
das Heidentum mit Feuer und Schwert in seinem Land aus. Er nahm den
Königstitel an, ließ sich mit der vom Papst Silvester
II. ihm gesandten Krone 1001 krönen und gab dem Land eine
Verfassung, durch welche die Krone im Geschlecht Arpads für
erblich erklärt und eine geregelte politische Verwaltung
eingeführt wurde. Die widerspenstigen Stammeshäuptlinge
im Süden und Osten seines Landes zwang er in siegreichen
Kämpfen zur Anerkennung seiner Herrschaft. Er starb 1038 und
ward 1087 heiliggesprochen (sein Tag der 20. August). Nach ihm
werden Ungarn und seine Teile die "Länder der Stephanskrone"
genannt. - S. II.-V., s. Ungarn (Geschichte).

Stephan, 1) Martin, Stifter einer nach ihm benannten
Sekte, geb. 13. Aug. 1777 zu Stramberg in Mähren, machte, seit
1810 Pfarrer der böhmischen Gemeinde in Dresden, hier, im
Muldenthal und im Altenburgischen Propaganda für ein
starkgläubiges Altluthertum. Seine Veranstaltung von
nächtlichen Erbauungs- und Erholungsstunden veranlagte endlich
die Einleitung einer Untersuchung gegen ihn; er entzog sich jedoch
derselben, indem er im Oktober 1838 sich von Bremen mit 700 seiner
Anhänger nach Amerika einschiffte, wo er bereits zu Wittenberg
am Mississippi Ländereien hatte ankaufen lassen. Er ließ
sich dort zum Bischof ernennen, ward aber schon 30. Mat 1839 wegen
Unzucht und Veruntreuung von seiner Gemeinde abgesetzt und nach
Illinois gebracht, wo er 21. Febr. 1846 starb. Über S. und
seine Sekte schrieben unter andern v. Polenz (Dresd. 1840) und
Vehse (das. 1842).

2) Heinrich von, Staatssekretär des deutschen
Reichspostamtes, geb. 7. Jan. 1831 zu Stolp in Pommern, trat 1848
in das Postfach ein, wurde 1856 als Geheimer expedierender
Sekretär ins Generalpostamt nach Berlin berufen, 1858 zum
Postrat, 1865 zum Geheimen Postrat und vortragenden Rat ernannt. In
dieser Zeit war er in besonders hervorragender Weise auf dem Gebiet
der internationalen Postreform thätig, indem er den
Abschluß von Postverträgen mit fast allen
europäischen Staaten bewirkte. Daneben fand er Gelegenheit,
sich reiche Sprachkenntnisse zu erwerben und durch weite Reisen die
internationalen Kulturhebel des Postwesens näher kennen zu
lernen. Nachdem S. 1866 und 1867 die Verhandlungen zur Beseitigung
der Thurn und Taxisschen Lehnspostwesens beendet und die taxissche
Post durch einen Staatsvertrag vom 28. Jan. 1867 an die Krone
Preußen übereignet hatte, wurde er im April 1870 zum
Generalpostdirektor und obersten Chef des Postwesens des
Norddeutschen Bundes ernannt. Gleich in den ersten Monaten seiner
Verwaltung trat die große Aufgabe der Entwickelung der
deutschen Feldpost im deutsch-französischen Krieg an ihn
heran, welche von ihm in vollendeter Weise gelöst wurde. 1871
wurde S. zum kaiserlichen Generalpostdirektor, 1876 nach erfolgter
Verschmelzung der Telegraphenverwaltung mit der Post zum
Generalpostmeister und 1879 zum Staatssekretär des deutschen
Reichspostamtes ernannt. Nach der Errichtung des Reichspostwesens
begann S. das Werk des innern Ausbaues, welches eine neue Epoche
für das Postwesen eröffnete und die deutsche Reichspost
zu mustergültiger Höhe erhoben hat. Er schuf eine
einheitliche Postgesetzgebung, führte den einheitlichen Tarif
für Pakete durch, führte das von ihm erfundene neue
Verkehrsmittel der Postkarten ein, rief den Postanweisungs- und
Postauftragsverkehr sowie die für den litterarischen Verkehr
wichtige Bücherpost ins Leben und führte eine Reihe
erheblicher Erleichterungen bei Benutzung der Postanstalt ein. Dann
folgte 1875 die auf Stephans Veranlagung eingeleitete Vereinigung
der Telegraphie mit der Reichspost, welche zur Folge hatte,
daß die Zahl der deutschen Telegraphenanstalten sich seitdem
von 1700 auf 13,000 gehoben hat. Das bedeutendste Werk Stephans
aber war die Gründung

294

Stephani - Stephansorden.

des Weltpostvereins. Er hat diese Bildung zuerst angeregt und
sie mit umsichtiger und kräftiger Hand gefördert, so
daß dieser Gemeinschaft jetzt mit geringen Ausnahmen alle
zivilisierten Staaten der Erde angehören. Daneben hat S. in
umfassendster Weise für Hebung der materiellen Lage und des
geistigen Wohls der Post- und Telegraphenbeamten (Kaiser
Wilhelm-Stiftung für die Post- und Telegraphenbeamten,
Bewilligung von Stipendien für Studienreisen, Einrichtung der
Postspar- und Vorschußvereine, deren Vereinsvermögen
jetzt 14 Mill. Mk. beträgt, Errichtung der Post- und
Telegraphenschule in Berlin mit akademischem Lehrkursus, Errichtung
des Reichspostmuseums, Gründung von Amtsbibliotheken,
Sonntagsruhe etc.) gesorgt. Bis in die neueste Zeit hinein hat S.
die umfassendsten Umgestaltungen sowohl bei der Post als bei der
Telegraphie durchgeführt; die Zahl der Postanstalten wurde von
5400 im J. 1871 auf 18,000 im J. 1888 erhöht. Das flache Land
ist mit einem dichten Netz von Landbriefträgerverbindungen zu
Fuß und zu Wagen durchzogen (Verstärkung der Zahl der
Landbriefträger im Reichspostgebiet von 10,000 auf über
20,000), in den Städten machen die Fernsprecheinrichtungen
zusehends Fortschritte; unterirdische Telegraphenleitungen sorgen
für eine von atmosphärischen Störungen
unabhängige Zuverlässigkeit des Verkehrs;
überseeische Kabel und Postverbindungen haben sich von Jahr zu
Jahr vermehrt, und seit 1886 haben die auf Stephans Initiative ins
Leben gerufenen deutschen subventionierten Postdampfschiffe ihre
Fahrten eröffnet. In den ersten zehn Jahren nach Gründung
des Weltpostvereins lieferte die Verwaltung unter Stephans Leitung
180 Mill. Überschuß an das Reich ab. S. gründete im
Verein mit Werner Siemens den Elektrotechnischen Verein in Berlin,
welchem er seit seiner Errichtung als Ehrenpräsident vorsteht.
Er ist Mitglied des preußischen Herrenhauses (seit 1872) und
des preußischen Staatsrats, Ehrendoktor der Universität
Halle und Ehrenbürger der Städte Stolp und Bremerhaven.
Auch als Schriftsteller zeichnete sich S. aus. Außer einem
"Leitfaden zur Anfertigung schriftlicher Arbeiten für junge
Postbeamte" schrieb er: "Geschichte der preußischen Post"
(Berl. 1859), "Das heutige Ägypten" (Leipz. 1872), "Weltpost
und Luftschiffahrt" (Berl. 1874) sowie zahlreiche kleinere Essays.
Er begründete das "Archiv für Post und Telegraphie" und
gab das "Poststammbuch" (3. Aufl., Berl. 1877) heraus.

3) (Meister Stephan), s. Lochener.

Stephani, 1) Heinrich, verdienter Pädagog der
Aufklärungszeit, geb. 1. April 1761 zu Gemünden im
Würzburgischen, studierte zu Erlangen, ward 1808 bayrischer
Kirchen- und Schulrat und 1818 Dekan in Gunzenhausen, trat aber
1834 infolge von theologischen Streitigkeiten vom geistlichen Amt
zurück und starb 24. Dez. 1850 zu Gorkau in Schlesien. Er
veröffentlichte zahlreiche ihrer Zeit angesehene theologische,
kirchenrechtliche, pädagogische und methodologische Schriften.
Sein bleibendes Verdienst besteht in der Ausbildung und
Einführung der Lautiermethode beim ersten Leseunterricht,
welche vom Lautwert der Buchstaben ausgeht, statt, wie die
ältere Buchstabiermethode, von den Lautzeichen und Namen der
Buchstaben.

2) Ludolf, Philolog und Archäolog, geb. 29. März 1816
zu Beucha bei Leipzig, studierte hier, erhielt auf Grund seiner
kunstgeschichtlichen Schrift "Der Kampf zwischen Theseus und
Minotaurus" (Leipz. 1842) durch Gottfr. Hermanns Empfehlung eine
Hauslehrerstelle in Athen, gab diese aber bald auf, um zu
wissenschaftlichen Forschungen eine Reise durch Nordgriechenland
und Kleinasien zu unternehmen, die sich schließlich bis
Unteritalien und Sizilien erstreckte. Nach seiner Rückkehr
folgte er 1846 einem Ruf als Professor der Philologie an die
Universität Dorpat und siedelte von da 1850 nach Petersburg
über, wo er als Mitglied der Akademie der Wissenschaften und
Konservator der klassischen Altertümer eine große und
erfolgreiche Thätigkeit entwickelte. Er starb 11. Jun. 1887 in
Pawlowsk. Seine Hauptwerke sind: "Reise durch einige Gegenden des
nördlichen Griechenland" (Leipz. 1843); "Über einige
angebliche Steinschneider des Altertums" (das. 1851); "Der
ausruhende Herakles" (das. 1854); "Antiquités du Bosphore
Cimmérien" (Petersb. 1854, Prachtwerk mit Bilderatlas);
"Nimbus und Strahlenkranz in den Werken der alten Kunst" (das.
1859); "Die Vasensammlung der kaiserlichen Eremitage" (das. 1869, 2
Bde); "Die Antikensammlung zu Pawlowsk" (das. 1872) etc. Zahlreiche
Abhandlungen von S. enthalten die "Comptes rendus" der kaiserlichen
Archäologischen Kommission.

Stéphanie, Louise Adrienne Napoléone,
Großherzogin von Baden, Tochter des Grafen Claude de
Beauharnais (s. Beauharnais 1) und Nichte der Kaiserin Josephine,
geb. 28. Aug. 1789, war 1806 von Napoleon I. adoptiert, zur Fille
de France und kaiserlichen Hoheit erklärt und 8. April mit
Karl Ludwig Friedrich, Erbgroßherzog von Baden,
vermählt, welcher ihr aber mehrere Jahre lang entschiedene
Abneigung zu erkennen gab, da er nur gezwungen die Ehe eingegangen
war. Seit 1811 Großherzogin, aber seit 1818 verwitwet,
residierte sie in Mannheim und starb 29. Jan. 1860 in Nizza. Sie
hinterließ zwei Töchter, Josephine, geb. 21. Okt. 1813,
Witwe des Fürsten Karl Anton von Hohenzollern-Sigmaringen, und
Maria, geb. 11. Okt. 1817, seit 1863 verwitwete Herzogin von
Hamilton, gest. 18. Okt. 1888; ihre Söhne waren kurz nach der
Geburt gestorben.

Stephanit, s. Sprödglaserz.

Stephanos, röm. Bildhauer zur Zeit Cäsars,
durch eine Knabenstatue in Villa Albani bekannt, Schüler des
Pasiteles (s. d.).

Stephanos von Byzanz, griech. Grammatiker, lebte in der
ersten Hälfte des 6. Jahrh. n. Chr. und ward bekannt als
Verfasser eines umfangreichen geographischen Wörterbuchs
("Ethnica"), das uns aber nur noch in einem Auszug des Grammatikers
Hermolaos erhalten ist. Die besten Ausgaben sind die von Westermann
(Leipz. 1839) und Meineke (Berl. 1849).

Stephansfeld, Irrenanstalt, s. Brumath.

Stephanskörner, Stephanskraut, s. Delphinium.

Stephauskrone, s. Stephan 4).

Stephansorden. 1) Königlich ungarischer
Zivilverdienstorden, von Maria Theresia als Pendant des
Militär-Maria-Theresienordens 5. Mai 1764 gestiftet und unter
den Schutz des heil. Stephan gestellt. Großmeister ist der
König von Ungarn. Der Orden soll 100 Ritter und drei Grade
haben. Die Dekoration besteht in einem achteckigen, grün
emaillierten, goldgeränderten Kreuz mit der Stephanskrone; im
rot emaillierten Mittelschild steht auf einer goldenen, auf einen
grünen Berg gestellten Krone ein silbernes apostolisches Kreuz
und zu beiden Seiten M. T. mit der Umschrift: "Publicum meritorum
praemium"; auf dem Revers, umgeben von einem Eichenkranz: "STO.
ST.R.I.AP." Das große

295

Stephansstein - Stephenson.

Kreuz tragen die Ritter erster Klasse und Kommandeure, das
kleine die Ritter, sämtlich am grünen Band mit rotem
Streifen in der Mitte in der üblichen Weise. Die
Großkreuze tragen dazu einen brillantierten Silberstern, in
dessen Mitte das Ordensmedaillon angebracht ist, und außerdem
noch eine Kette aus S S und M T, der Königskrone und einem
Wolkenkranz, in dem ein Band die Inschrift: "Stringit amore"
trägt, und zwischen dem ein Adler schwebt.

Auch hat der Orden, der nur dem Adel zugänglich, eine
besondere Ordenskleidung, Beamte und seinen Ordenstag an St.
Stephan. Die Großkreuze heißen Kousins des Königs.
Vgl. Dominus, Der S. und

seine Geschichte (Wien 1873). - 2) Toscanischer
Militärorden, gestiftet 1562 von Cosimo de Me-

dici zur Bekämpfung der Seeräuberei und Verteidigung
des Glaubens, mit religiöser Observanz, wurde 22. Dez. 1817
vom Großherzog Ferdinand III. erneuert und in vier Grade:
Prioren- Großkreuze, Bali-Großkreuze, Kommendatoren und
Ritter (di giustizia und di grazia), eingeteilt. Jeder Adlige von
vier Ahnen, mit freiem Einkommen von 300 Skudi aus seinem Besitz,
hat Anspruch auf den Orden, der in der Familie erblich ist, wenn
der Ritter eine Kommende als Majorat stiftet. Die Cavalieri di
grazia erhalten solche Kommende für ihre Verdienste. Die
Dekoration besteht in einem achtspitzigen, rot emaillierten Kreuz
mit Krone und goldenen Lilien in den Winkeln, das an rotem Band von
den drei ersten Klassen am Hals, von den Rittern im Knopfloch
getragen wird. Die Plaque wird auf der Brust getragen. Viktor
Emanuel hob den Orden 16. Nov. 1859 auf.

Stephansstein, s. Chalcedon.

Stephanus, Name zahlreicher Heiligen der
römisch-katholischen Kirche, von denen besonders zu nennen
sind : 1) Einer der sieben Armenpfleger der Christengemeinde zu
Jerusalem, der, ein eifriger Verkündiger des Evangeliums, vom
fanatischen Pöbel als Gotteslästerer 36 oder 37
gesteinigt wurde und deshalb für den ersten Märtyrer gilt
(Apostelgesch. 6 und 7); sein Tag ist der 26. Dezember. Die
Steinigung des S. wurde in der bildenden Kunst häufig
dargestellt, namentlich von Raffael (in den Teppichen des
Vatikans), von Giulio Romano (in Santo Stefano zu Genua) u. a. 2)
Erster König von Ungarn, s. Stephan 4).

Stephanus, Gelehrtenfamilie, s. Estienne.

Stephens, 1) Alexander Hamilton, amerikan. Politiker,
geb. 11. Febr. 1812 zu Taliafero in Georgia, ward im Franklin
College erzogen und studierte die Rechte, worauf er sich 1834 zu
Crawfordsville in Georgia als Advokat niederließ,
gleichzeitig aber sich der Politik widmete. Schon 1836 wurde er in
die Legislatur, 1842 in den Senat von Georgia gewählt und 1843
zum Mitglied des Repräsentantenhauses ernannt, welchem er bis
1859 angehörte. Er schloß sich zuerst der Partei der
Whigs, dann der demokratischen an, stimmte 1854 für die
Kansas- und Nebraskabill und betrieb 1856 mit Eifer die Wahl
Buchanans zum Präsidenten. 1859 schied er aus dem
Kongreß, weil er die extremen Ansichten der
Sklavenhalterpartei nicht billigte, wie er 1861 auch anfangs

gegen die Sezession war. Dennoch ließ er sich zum
Vizepräsidenten der südlichen Konföderation
wählen und bekleidete diesen Posten bis zu deren Untergang
1865. Er wurde auf Befehl der Unionsregierung verhaftet und nach
Fort Warren bei Boston gebracht, im Oktober 1865 aber freigelassen.
1872-77 wieder demokratisches Mitglied des Kongresses, bemühte
er sich um die Versöhnung der Parteien. Seit 1882 Gouverneur
von Georgia, starb er 4. März 1883. Er veröffentlichte:
"A constitutional view of the late war between the states" (Philad.
1869, 2 Bde.); "Compendium of the history of the U.S. (neue Ausg.,
New York 1883). Ein Teil seiner Reden und Briefe wurde von
Cleveland ("A. H. S.. in public and private life", Philad. 1867)
herausgegeben.

2) George, Archäolog und Philolog, geb. 13. Dez. 1813 zu
Liverpool, kam mit 20 Jahren nach Schweden, dessen Bibliotheken er
behufs altnordischer Studien eifrig durchforschte, wurde 1851 an
der Universität zu Kopenhagen angestellt und 1855 zum
Professor ernannt. Sein Hauptwerk ist: "The old-northern Runic
monuments of ScandinaVia and England" (Lond. u. Kopenh. 1866-84, 3
Bde.; abgekürzte Ausg. 1884). Von seinen übrigen
Schriften sind zu ermähnen: "Bihang till Frithiofs saga"
(1841); "Svenska folksagor och afventyr" (1844) und "Sveriges
historiska och politiska visor" (1853); die beiden letztern
Schriften sind im Verein mit G.O. Hylten-Cavallius
herausgegeben.

Stephenson (spr. stihwensson), 1) George, der
Hauptbegründer des Eisenbahnwesens, geb. 8. Juni 1781 zu Wylam
bei Newcastle als Sohn eines Kohlenarbeiters, arbeitete sich von
einem gewöhnlichen Maschinisten zum Direktor der großen
Kohlenwerke des Lord Ravensworth bei Darlington empor und baute
1812 die erste Lokomotive fürdas Kohlenwerk Killingworth. 1824
gründete er in Newcastle eine Maschinenfabrik, und im
folgenden Jahr wurde nach seinem Prinzip die erste Eisenbahn zur
Beförderung von Personen zwischen Stockton und Darlington
angelegt. Er gehörte zu den ersten, welche hierbei die
Anwendung glatter walzeiserner Schienen befürworteten und
deren Konstruktion verbesserten. Die Erbauung der
Liverpool-Manchester-Eisenbahn 1829 begründete seinen Ruf
für immer. Bei der berühmten Preisausschreibung für
die beste und schnellste Lokomotive dieser Bahn, welche ihr
dreifaches Gewicht mit 10 engl. Meilen Geschwindigkeit in der
Stunde ziehen sollte,

ohne Rauch zu erzeugen, errang Stephensons Rocket den Preis,
indem sie ihr fünffaches Gewicht zog und 14-20 engl. Meilen in
der Stunde zurücklegte, also die gestellten Bedingungen weit
übertraf. Dieser Erfolg war hauptsächlich der
Einführung des eine lebhaftere Verbrennung erzeugenden
Blasrohrs sowie des nach einer Idee Booths, des
Generalsekretärs der Gesellschaft, zu einer größern
Dampfentwickelungsfähigkeit geeigneten Röhrenkessels
zuzuschreiben. Von da an leitete S. den Bau der bedeutendsten
Eisenbahnen in England oder baute Maschinen für dieselben und
wurde zu gleichem Zweck nach Belgien, Holland, Frankreich,
Deutschland, Italien und Spanien berufen. Er war zuletzt auch
Eigentümer mehrerer Kohlengruben und der großen
Eisenwerke von Claycroß und starb 12. Aug. 1848 in Tapton
House bei Chesterfield. Seine Statue ward in Newcastle auf der
Stephensonbrücke aufgestellt. Vgl. Smiles, The life of George
S. (Lond. 1884).

2) Robert, Baumeister, Sohn des vorigen, geb. 16. Dez. 1803 zu
Wilmington, studierte in Edinburg,

unterstützte seinen Vater bei dessen Unternehmungen,
leitete den Bau mehrerer Eisenbahnlinien, verbesserte die
Lokomotive, erbaute die unter dem Namen High Lewel Bridge bekannte
eiserne Bogenhängwerkbrücke bei Newcastle, welche in
sechs Öffnungen von je 37,5 m Weite und 25,8 m Höhe den
Tyne überspannt, und erfand unter andern die sogen. Tubular-
oder Röhrenbrücken, welche aus Blech zusammengesetzt und
so weit sind, daß sie einem Eisenbahnzug die Durchfahrt
gestatten. Eine Riesenbrücke dieser Art,

296

Steppe - Sterblichkeit.

die bekannte Britanniabrücke (s. d.), erbaute er von 1847
bis 1850 über den Menaikanal, indem er deren Röhren an
dem Ufer zusammensetzte, auf Pontons zwischen die Pfeiler
flößte und mittels hydraulischer Pressen bis zu dem Orte
ihrer Bestimmung aufzog. Das bedeutendste Beispiel dieser
Brückengattung ist die von S. entworfene, 3 km lange
Viktoriabrücke bei Montreal in Kanada, welche den St.
Lorenzstrom in 25 Öffnungen überspannt, deren mittlere
eine Weite von 100,58 m besitzt. S. starb 12. Okt. 1859. Sein
"Report on the atmospheric railway-system" wurde von Weber (Berl.
1845) deutsch bearbeitet. Vgl. Smiles, Lives of George and Robert
S. (8. Aufl., Lond. 1868); Jeaffreson und Pole, Life of Robert S.
(das. 1864, 2 Bde.).

Steppe (v. russ. stepj, "flaches, dürres Land"), in
der Erdkunde Bezeichnung für ausgedehnte Ebenen, die nur mit
Gras und Kräutern bewachsen sind, auch wegen Mangels an
Bewässerung keinen Anbau gestatten, in ihrem sonstigen
physiognomischen Charakter aber von der geognostischen
Beschaffenheit des Bodens und dem Klima abhängig sind (vgl.
Ebene). Die Steppen stellen mannigfaltige Übergänge zu
den Wüsten dar und sind entweder Salzsteppen, deren kahler
Boden effloreszierendes Salz und magere Vegetation von Salzpflanzen
trägt, oder mit Gerölle bedeckte Steinsteppen oder
eigentliche Grassteppen, die sich nach dem Regen mit einem dichten
und einförmigen Pflanzenteppich überziehen, deren
Ackerkrume aber nicht tief genug ist, als daß Bäume
darin Wurzel schlagen könnten; auch die mit Flechten und
Moosen überzogenen Sumpfsteppen (Tundren) sind hierher zu
rechnen. Die Steppen kommen unter verschiedenen Namen in allen
Kontinenten vor; sie heißen im südlichen Rußland
und in Westasien Steppen, im nordwestlichen Deutschland Heiden, im
südwestlichen Frankreich Landes, in Ungarn Pußten, in
Nordamerika Savannen und Prärien, in Südamerika Llanos
und Pampas etc. Vgl. Humboldt, Über die Steppen und
Wüsten (in den "Ansichten der Natur", zuletzt Stuttg.
1871).

Steppenhuhn (Syrrhaptes Ill.), Gattung aus der Ordnung
der Scharrvögel und der Familie der Flughühner
(Pteroclidae), gedrungen gebaute Vögel mit kleinem Kopf,
kurzem, seitlich wenig komprimiertem, auf der Firste leicht
gebogenem Schnabel, sehr spitzen Flügeln, in welchen die erste
Schwinge am längsten, nach der Spitze hin verschmälert
und fast borstenartig ist, bis zur Spitze der Zehen mit
zerschlissenen, daunenartigen Federn bekleideten, kleinen
Füßen, fehlender Hinterzehe, durch eine Haut verbundenen
Vorderzehen und breiten, kräftigen Nägeln. Das S.
(Fausthuhn, S. paradoxus Ill.), ohne die verlängerten
Mittelschwanzfedern 39 cm lang und ohne die verlängerten
Schwingenspitzen 60 cm breit, am Kopf und Hals aschgrau, Kehle,
Stirn und ein Streif über dem Auge lehmgelb, mit schwarzem und
weißem Brustband, an der Brust grau isabellfarben, am
Öberbauch schwarzbraun, Unterbauch hell aschgrau, Rücken
lehmgelb, dunkel gefleckt und quergestreift, Schwingen aschgrau,
die vorderste schwarz gesäumt, Schwanzfedern gelb, dunkel
gebändert. Es bewohnt die Steppe östlich vom Kaspischen
Meer bis zur Dsungarei, im W. nördlich bis 46°, im O. noch
die Hochsteppen des südlichen Altai, geht im Winter
südlich bis zum Südrand der Gobi, lebt im Frühjahr
in kleinen Trupps, im Herbst in größern Flügen, in
welchen aber die Paare stets beisammen bleiben. Sie laufen rasch,
aber nicht anhaltend, fliegen schneller und schneidender als Tauben
und nisten in kleinen Gesellschaften. Das Gelege besteht aus vier
hell grünlichgrauen bis schmutzig bräunlichgrauen Eiern.
1860 zeigten sich Fausthühner in Holland und England, 1861 in
Norwegen und Nordchina, 1863 aber erfolgte eine große
Einwanderung, welche sich von Galizien bis Island, von
Südfrankreich bis zu den Färöerinseln ausdehnte. Auf
Borkum verschwanden die letzten im Oktober. Aber noch im folgenden
Jahr wurden sie in Deutschland mehrfach beobachtet, und in
Jütland und auf mehreren dänischen Inseln haben sie auch
gebrütet. Eine ähnliche Einwanderung erfolgte 1888, blieb
indes ebenfalls ohne weitere Folgen; nur im SO. Europas hat sich
das S. seßhaft gemacht. In der Gefangenschaft hält es
sich recht gut. Vgl. Holtz, Über das S. (Greifsw. 1888).

Steppenhund, s. Hyänenhund.

Steppenkuh, s. Antilopen, S. 640.

Steppstich, s. Nähen.

Ster (franz. stere, v. griech. stereos, starr, fest),
Körpermaß (besonders Holzmaß), = 1 cbm, und zwar
entweder Festmeter (fm) = 1 cbm fester Masse, oder Raummeter (rm) =
1 cbm Schichtmaß.

Sterbekassen (Grabe-, Leichenkassen, Totenladen,
Sterbeladen, Begräbniskassen) sind kleine, im wesentlichen die
Deckung der Beerdigungskosten bezweckende genossenschaftliche, oft
zweckmäßig mit Krankenkassen verbundene
Lebensversicherungsanstalten, welche im Todesfall das Sterbegeld an
die Erben auszahlen oder, wenn solche nicht vorhanden, auch wohl
die Beerdigung selbst besorgen. Es gab solche nachweisbar schon in
Rom und bei den alten germanischen Völkern. Sie sind in
Deutschland sehr verbreitet und werden namentlich von den untern
Klassen benutzt, ohne daß es jedoch möglich wäre,
genauere Zahlenangaben über dieselben zu machen. S. bestehen
auch als Nebenzweige von etwa zehn deutschen großen
Lebensversicherungsanstalten, meistens aber sind sie kleinere
Privatvereine, an welchen die Beteiligung entweder nur einer
bestimmten Zahl von Personen (geschlossene Kassen) oder einer nicht
festgesetzten Zahl von Mitgliedern, entweder nur Personen
bestimmter Kategorien (z. B. Beamten derselben Behörde,
Arbeitern derselben Fabrik, Personen bestimmten Berufs etc.) oder
jedem Beitrittswilligen offen steht. Viele derselben werden in
alter unrationeller Weise ohne genügende Abstufung der
Prämien (hier oft Totenopfer genannt) und ohne richtige
Bemessung der Prämienreserven verwaltet und sind deshalb zum
Teil wenig lebensfähig, doch haben es manche bereits zu hohem
Alter gebracht. In England gehören viele S. zu den
hauptsächlichsten Einrichtungen der Friendly Societies (s.
d.), welchen gesetzlich verboten ist, für den Sterbefall von
Frau und Kind mehr als die Begräbniskosten zu versichern. Vgl.
Lebensversicherung und Krankenkassen; Hattendorf, Über S.
(Götting. 1867); Heym, Die Grabekassen (Leipz. 1850);
Fleischhauer, Die Sterbekassenvereine (Weim. 1882).

Sterbelehen, Abgabe, welche bei einem durch den Tod
herbeigeführten Wechsel in der Person des Lehnsherrn oder des
Beliehenen entrichtet werden mußte.

Sterbender Fechter, s. Gallierstatuen.

Sterbequartal, s. v. w. Gnadenquartal (s. Pension, S.
832). Vgl. Deservitenjahr.

Sterbethaler, s. Begräbnismünzen.

Sterbevogel, s. Seidenschwanz.

Sterbfall, s. Bauer, S. 464.

Sterblichkeit (Sterblichkeitsziffer, Mortalität),
das Verhältnis der Zahl der Gestorbenen einer Zeiteinheit
(gewöhnlich das Jahr) zur Zahl derjeni-

297

Sterblichkeit (statistisch).

gen, welche vorher am Leben waren. Dagegen versteht man unter
Intensität der S. den Bruch, welchen man erhält durch
Division einer Anzahl Gestorbener durch die Zeit, welche die
Personen, aus denen jene weggestorben sind, während der Dauer
des Absterbens zusammen durchlebt haben. Zu unterscheiden ist die
S. einer gesamten Bevölkerung und diejenige einer Gruppe,
insbesondere von gleichaltrigen Personen. So kamen im Deutschen
Reich im Durchschnitt der Jahre 1841-85 je auf 10,000 Köpfe
der mittlern Bevölkerung 281,6 Todesfälle, die S. stellte
sich demnach rund auf 0,028, dagegen findet man andre Zahlen
für verschiedene Altersklassen. Die Feststellung der S. ist
nicht allein für die Wissenschaft, sondern auch für die
Praxis (Lebensversicherung, Gesundheitspflege etc.) von hoher
Wichtigkeit. Eine Tausende von Jahren umfassende Erfahrung hat zu
dem bekannten Satz geführt, daß jeder Mensch einmal
stirbt. Wenn man auch das höchste überhaupt nur
erreichbare Alter nicht kennt, so hat man doch beobachtet,
daß die Zahl derjenigen, welche die Grenze von 90 und 100
Jahren überschreiten, außerordentlich klein ist. Man
fand ferner, daß die S. verschiedener Altersklassen, sobald
sie nur für genügend große Zahlen ermittelt wird,
gewisse Regelmäßigkeiten aufweist. Diese Thatsache gab
dazu Veranlassung, an der Hand von Volkszählungen Geburts-,
Sterbelisten etc., Sterblichkeit (Überlebens-,
Mortalitäts-) Tafeln oder Absterbelisten aufzustellen (die
ersten von den Engländern Graunt 1661 und Halley 1691, vom
Holländer Kerseboom 1742, vom Franzosen Deparcieux 1746, vom
Schweden Wargentin 1766). Aus denselben ist die Absterbeordnung, d.
h. die Art zu ersehen, wie eine Anzahl Gleichalteriger
(Neugeborner) sich durch Absterben von Jahr zu Jahr mindert. Diese
Tafeln haben nur dann eine Bedeutung, wenn sie aus großen
Zahlen gewonnen werden. Sie geben alsdann die Wahrscheinlichkeit
des Sterbens an, ihreZahlen werden darum in Wirklichkeit um so mehr
zutreffen, auf eine je größere Zahl von Personen sie
angewandt werden. So wird die Zahl derjenigen, welche von 1 Mill.
30jährigen Männern in den nächsten zwölf
Monaten sterben werden, nicht viel von 0,928 Proz. abweichen,
während der Prozentsatz, welcher von einer gegebenen kleinen
Anzahl wirklich sterben wird, erheblich größer oder
kleiner sein kann. Dann dürfen die Tafeln nur auf solche
Bevölkerungsmassen angewandt werden, welche denen gleichartig
sind, die Gegenstand der Erhebung waren. Denn die S. ist
verschieden je nach Wohnort (Stadt, Land, Gegend), Geschlecht (im
allgemeinen geringere S. des weiblichen Geschlechts), Beruf (Gefahr
für Gesundheit, Anstrengung, Aufregung), Zivilstand,
Lebensweise, Gesundheitspflege, Wohlstand etc. So wird die
Sterblichkeitstafel einer Versicherungsanstalt, welche nur
genügend gesunde Personen aufnimmt, andre Zahlen aufweisen als
diejenige, welche für die Gesamtbevölkerung eines Landes
aufgestellt wurde. Aus den Sterblichkeitstafeln ist zunächst
die Sterbenswahrscheinlichkeit für jedes Lebensalter zu
ersehen. Ist die Zahl der $n+1$-und die der $n$-jährigen
Personen $m_{n+1}$ und $m_n$, so ist die Sterbenswahrscheinlichkeit
der $n$-jährigen (für das nächste Jahr) gleich
$\frac{m_{n+1}}{m_n}$, die Wahrscheinlichkeit des Gegenteils
(Überlebenswahrscheinlichkeit) ist gleich
$1-\frac{m_{n+1}}{m_n}$. Die Wahrscheinlichkeit eines
$n$-jährigen, in einem der nächsten vier Jahre zu
sterben, ist $\frac{m_{n+4}}{m_n}$, wenn $m_{n+4}$ die Zahl der
übriggebliebenen $n+4$jährigen bedeutet. Dieselbe Zahl
erhält man, wenn man die Wahrscheinlichkeiten der einzelnen
Jahre miteinander multipliziert. Denn es ist
$\frac{m_{n+4}}{m_n}=\frac{m_{n+1}}{m_n}\frac{m_{n+2}}{m_{n+1}}\frac{m_{n+3}}{m_{n+2}}\frac{m_{n+4}}{m_{n+3}}$.

Das mittlere Lebensalter (Durchschnittsalter, vie moyenne) einer
Anzahl Personen (gleichzeitig Lebender oder Gestorbener
verschiedenen Alters) ist gleich der Summe der Jahre, welche alle
zusammen durchlebt haben, dividiert durch die Anzahl der Personen.
Von demselben ist zu unterscheiden die nur an der Hand von
Sterblichkeitstafeln als eine Wahrscheinlichkeit zu berechnende
mittlere Lebenserwartung (auch mittlere Lebensdauer oder
Vitalität genannt), dieselbe ist gleich der Summe der nach
Maßgabe der Tafel noch zu verlebenden Jahre, dividiert durch
die Zahl der Personen. Die wahrscheinliche Lebensdauer oder
Lebenserwartung (vie probable) ist gleich der Anzahl von Jahren,
nach deren Verlauf gerade die Hälfte einer gegebenen Anzahl
(wahrscheinlich) gestorben sein wird. Für diese Zeit sind also
Sterbens- und Überlebenswahrscheinlichkeit einander gleich (je
gleich 1/2). Nach der vom kaiserlichen Statistischen Amt
aufgestellten deutschen

Sterbetafel (1871-81) ist die S.:

Eben vollendetes Alter

Zahl der Überlebenden

Sterbenswahrscheinlichkeit für das nächste Jahr

Mittlere (durchschnittliche) Lebenserwartung

Wahrscheinliche Lebenserwartung

männl. weibl. männl. weibl. männl. weibl.
männl. weibl.

0^1 104520 103692 0,2850 0,2453 34,0 37,1 34,2 39,6

0 100000 100000 0,2527 0,2174 35,6 38,5 38,1 42,5

1 74727 78260 0,0649 0,0636 46,5 48,1 53,2 56,3

2 69876 73280 0,0332 0,0326 48,7 50,3 54,6 57,7

3 67997 70892 0,0231 0,0225 49,4 51,0 54,6 57,7

13 61320 64390 0,0035 0,0039 44,1 45,8 47,4 50,2

20 59287 62324 0,0075 0,0061 38,5 40,2 41,2 44,0

30 54454 57566 0,0093 0,0097 31,4 33,1 33,2 35,6

40 48775 51576 0,0136 0.0122 24,5 26,3 25^3 27,6

50 41228 45245 0,0215 0,0160 18,0 19,3 18,0 19,6

60 31124 36293 0,0382 0,0329 12,1 12,7 11,5 12,3

70 17750 21901 0,0811 0,0747 7,3 7,6 6,5 6,7

80 5035 6570 0,1745 0,1683 4,1 4,2 3,3 3,4

90 330 471 0,3190 0,3138 2,3 2,4 1,8 1,8

100 2 3 0,5193 0,5180 1,4 1,2 1,0 0,9

1 Einschließlich der Totgebornen, die Zahl 100,000
bedeutet die Lebendgebornen.

Die S. (Sterbenswahrscheinlichkeit) nimmt von Geburt an bis zum
13. Lebensjahr beim männlichen wie beim weiblichen Geschlecht
ab; dann steigt sie mit einer kurzen Unterbrechung zuerst langsam,
dann immer rascher bis zum höchsten Alter. Die S. des
weiblichen Geschlechts bleibt mit Ausnahme der Zeit vom 9. bis 15.,
dann vom 27. bis zum 35. Lebensjahr stets hinter derjenigen des
männlichen zurück. Die mittlere Lebenserwartung ist beim
männlichen Geschlecht bis zum 50., bei dem weiblichen bis zum
54. Jahr kleiner und dann größer als die
wahrscheinliche. Der Umstand, daß ermittelte
Absterbeordnungen einen regelmäßigen Verlauf aufweisen,
gab zur Aufstellung von Formeln Veranlassung, welche das
Sterblichkeitsgesetz darstellen sollten, und aus denen die S., bez.
die Zahl der Überlebenden für jedes Alter zu ermitteln
sei (bereits Lambert für die Londoner Bevölkerung 1776,
Th. Young 1826, Gompertz 1825 mit Erweiterungen von Makeham und
Lazarus 1867, ferner Littrow 1832, Moser 1839,

298

Sterculia - Stereometer.

endlich Kaiser 1884), und zwar gelangte man, da die
Sterbenswahrscheinlichkeit für kleine Zeitteilchen gleich dem
Bruch aus dem Differential der jeweilig Lebenden und diesen
letztern selbst ist, zu Exponentialfunktionen, deren Konstante
durch Ausgleichungsrechnung an der Hand wirklicher Beobachtungen zu
ermitteln sind; doch führen derartige Formeln nur für
gewisse Zeitstrecken zu genügend genauen Ergebnissen.
Vgl.Wappäus, Allgemeine Bevölkerungsstatistik (Leipz.
1859-61, 2 Bde.); Quételet, Sur l'homme (Par. 1835, 2 Bde.;
deutsch, Stuttg. 1835); Derselbe, Physique sociale (Par. 1869, 2
Bde.); Moser, Die Gesetze der Lebensdauer (Berl. 1839); Casper, Die
wahrscheinliche Lebensdauer der Menschen (das. 1843);
Österlen, Handbuch der medizinischen Statistik (Tübing.
1865); Kolb, Handbuch der vergleichenden Statistik (8. Aufl.,
Leipz. 1879); Beneke, Vorlagen zur Organisation der
Mortalitätsstatistik in Deutschland (Marb. 1875); die
Veröffentlichungen des königlich preußischen
Statistischen Büreaus: "Deutsche Sterblichkeitstafeln aus den
Erfahrungen von 23 Lebensversicherungsgesellschaften" (Berl. 1883),
nicht zu verwechseln mit der für die

ganze deutsche Bevölkerung aufgestellten Tafel
(Novemberheft der "Statistik des Deutschen Reichs" von

1887); Oldendorff, Der Einfluß der Beschäftigung auf
die Lebensdauer des Menschen (das. 1877-78, 2 Tle.); Westergaard,
Die Lehre von der Mortalität etc. (Iena 1882).

Sterculia L. (Stinkbaum), Gattung aus der Familie der
Sterkuliaceen, meist große Bäume mit
wechselständigen, einfachen oder gelappten Blättern und
filzigen Blüten in Rispen, sämtlich in heißen

Ländern. S. foetida L. (Stinkmalve) ist ein großer
Baum in Ostindien und auf den Molukken mit großen,
gefingerten Blättern und dunkel karminroten, orangegelb
gescheckten, sehr stark und unangenehm, dem Menschenkot
ähnlich riechenden Blüten, von welchem die jüngern,
schleimigen Blätter nach Art der Malvenblätter benutzt,
die haselnußgroßen Samen aber geröstet gegessen
werden und ein gutes Öl liefern. Einige andre Arten werden in
Gewächshäusern kultiviert. S. acuminata Beauv., welche
die Kolanüsse liefert, s. v. w. Cola acuminata (s. Cola).

Stereiden, in der Pflanzenanatomie die einzelnen
Bestandteile des Stereoms (s. d.).

Stereobat (griech.), der massive, abgestufte Unterbau der
griechischen Tempel. Weiteres s. Säule (S.

350) und Tempel.

Stereochromie (griech.), eine 1846 in München von
Schlotthauer (s.d.) und Oberbergrat Fuchs erfundene Art Malerei,
welche eine Zeitlang angewendet wurde, um Wandflächen
unmittelbar mit Gemälden, nach Art der Freskomalerei, zu
bedecken. Es wurde dabei ein Malgrund hergerichtet, der bei
Gemälden auf Leinwand in einer leichten Bindung, womit
dieselbe gesättigt wurde, bei Wänden mit Stein oder
Mörtel

aus einem wenige Linien dicken Bewurf bestand, der mit der
Steinunterlage zu einer mechanisch völlig untrennbaren Masse
sich verbindet. Auf diesem Grund wurde mit eigens präparierten
Wasserfarben gemalt, und da diese sich mit dem Grund vereinigen und
die Bildfläche schließlich durch Aufspritzen von
Wasserglas steinhart gemacht wurde, so glaubte man in diesem
Verfahren eine Technik gefunden zu haben, welche besonders
Wandgemälde in großen Räumen gegen die nachteiligen
Einflüsse des Temperaturwechsels, der Feuchtigkeit etc.
unempfindlich machen würde. Doch hat auch die von Seibertz
erfundene Vervollkommnung der S. durch Anwendung von trocknen
Farben die Erwartungen, welche man von der S. hegte, nicht
gerechtfertigt. Der von Kaulbach im Treppenhaus des Neuen Museums
zu Berlin in großem Maßstab mit der S. gemachte Versuch
hat vielmehr gezeigt, daß die Bildflächen über und
über mit störenden Riffen überzogen werden, weshalb
man die S. wieder aufgegeben hat.

Stereograph (griech.), eine von Liwtschack zu Wilna
erfundene Maschine zur Anfertigung von Stereotypmatrizen ohne
vorgängigen Schriftsatz. Die Herstellung der letztern erfolgt
durch Einschlagen von Typen, eine nach der andern, in eine
präparierte, halbweiche Platte, welche stets um die Breite der
eingeschlagenen Type durch den Mechanismus der Maschine weiter
geschoben wird, wobei der Arbeiter den Wortlaut des Manuskripts auf
einer Tastatur, wie bei den meisten Setzmaschinen, abspielt. Bis
jetzt sind technisch befriedigende Resultate mit dem Stereographen
nicht erzielt worden.

Stereographie (griech.), perspektivische Zeichnung von
Körpern auf einer Fläche.

Stereom (griech.), in der Pflanzenanatomie die Gesamtheit
der Gewebe, welche die mechanische Festigkeit eines Pflanzenteils
bedingen, nämlich die Bastzellen, das Kollenchym und das
Libriform, im

Gegensatz zu dem Mestom (s.d.) oder dem Füllgewebe ohne
mechanische Bedeutung.

Stereometer (griech.), Apparat zur Bestimmung des von
fester Substanz ausgefüllten Volumens pulverförmiger
Körper. Das S. von Say (s. Figur) besteht aus einem
Glasgefäß A, dessen eben geschliffener Rand durch eine
Glasplatte luftdicht verschlossen werden kann; nach unten setzt
sich dasselbe in eine offene, mit einer Teilung versehene
Glasröhre fort, deren zwischen zwei Teilstrichen enthaltener
Rauminhalt genau bekannt ist. Wird die Röhre, während A
offen ist, in ein mit Quecksilber gefülltes
Standgefäßbis zum Nullpunkt o der Teilung eingetaucht
und die Glasplatte aufgelegt, so ist ein bestimmtes Luftvolumen v
abgesperrt, dessen Druck durch den herrschenden Barometerstand b
angegeben wird. Zieht man nun das Gefäß A in die
Höhe, so dehnt sich die in ihr enthaltene Luft um das an der
Teilung abzulesende Volumen w aus, ihr Druck wird geringer, u. der
äußere hebt eine Quecksilbersäule h in die
Röhre. Nach dem Mariotteschen Gesetz hat man nun die
Proportion v+w:v=b:b-h, aus welcher, da w, b und h bekannt sind, v
berechnet werden kann. Wiederholt man denselben Versuch, nachdem
der pulverförmige Körper, dessen Volumen x bestimmt
werden soll, in das Gefäß A gebracht ist, so ist das
Volumen der abgesperrten Luft, wenn die Röhre bis zum
Nullpunkt eingetaucht ist, v-x. Erhebt man nun die Röhre
wieder, bis das Volumen um w zugenommen hat, und wird dabei die
Quecksilbersäule h' gehoben, so kann man aus der Proportion
v-x+w: v-x=b : b-h' das Volumen x finden. Mittels Division des
absoluten Gewichts des Pulvers (in Grammen) durch sein Volumen (in
Kubikzentimetern)ergibt sich das spezifische Gewicht desselben. Die
Volumenometer von Kopp und Regnault gründen sich auf dasselbe
Prinzip und haben dieselbe Bestimmung wie das S.

299

Stereometrie - Stereoskop.

Stereometrie (griech., "Körpermessung"), eigentlich
die Lehre von der Ermittelung des Inhalts und der Oberfläche
der Körper; im weitern Sinn der Teil der Geometrie, welcher
sich mit den Gebilden beschäftigt, zu deren Konstruktion alle
drei Dimensionen des Raums erforderlich sind, im Gegensatz zur
Planimetrie. Vgl. Geometrie.

Stereoskop (griech.), optisches Instrument, welches dazu
dient, zwei ebene Bilder desselben Gegenstandes derart zu
kombinieren, daß der Beschauer den Eindruck eines
körperlichen Gegenstandes erhält. Beim Betrachten naher
Gegenstände bietet das Sehen mit zwei Augen ein wesentliches
Mittel zur richtigen Schätzung der Entfernungen. Mit dem
rechten Auge sehen wir einen nahen Gegenstand auf einen andern
Punkt des Hintergrundes projiziert als mit dem linken, und dieser
Unterschied wird um so bedeutender, je näher der Gegenstand
rückt. Richten wir beide Augen auf einen nicht allzu weit
entfernten Punkt, so machen die beiden Augenachsen einen Winkel
(Gesichtswinkel) miteinander, der um so kleiner wird, je weiter
sich der Gegenstand entfernt. Die Größe

dieses Winkels gibt uns daher ein Maß für die
Entfernung der Gegenstände. Wir unterscheiden also beim Sehen
mit zwei Augen deutlich, welche Punkte mehr vortreten, und welche
mehr zurückliegen. Dazu kommt noch, daß wir nahe
Gegenstände mit dem rechten Auge etwas mehr von der einen, mit
dem linken Auge etwas mehr von der andern Seite sehen, und
daß gerade die Kombination dieser etwas ungleichen Bilder zu
einem Totaleindruck wesentlich

dazu beiträgt, die flächenhafte Anschauung des
einzelnen Auges zu einer körperlichen, einer plastischen zu
erheben. Eine auf einer Fläche ausgeführte Zeichnung oder
ein Gemälde kann immer nur die Anschauung eines einzelnen
Auges wiedergeben; bietet

man aber jedem Auge das passend gezeichnete Bild eines
Gegenstandes dar, so werden sich beide Bilder zu einem einzigen
Totaleindruck vereinigen. Wheatstone erreichte diese Vereinigung
durch sein Spiegelstereoskop^ (Figur 1). Dasselbe besteht

aus zwei rechtwinkelig gegeneinandergeneigten Spiegeln ab u. a
c, deren Ebenen vertikal stehen. Der Beobachter schaut mit dem
linken Auge l in den linken, mit dem rechten Auge r in den rechten
Spiegel. Seitlich von den Spiegeln find zwei vorschiebbare
Brettchen angebracht, welche die umgekehrten perspektivischen
Zeichnungen d und e eines Objekts aufnehmen. Durch die Spiegel
werden nun die von entsprechenden Punkten der beiden Zeichnungen
ausgehenden Strahlen so reflektiert, daß sie von einem
einzigen hinter den Spiegeln gelegenen Punkt m zu kommen scheinen.
Jedes Auge sieht also das ihm zugehörige Bild an demselben
Orte des Raums, und der Beobachter erhält daher den Eindruck,
als ob sich daselbst der Gegenstand körperlich befände.
Brewster hat die Spiegel dieses Instruments durch linsenartig
gebogene Prismen ersetzt, und diese Stereoskope (Fig. 2) sind jetzt
allgemein im Gebrauch.

Fig. 1. Wheatstones Spiegelstereoskop.

^ Fig. 2. Brewster Linsenstereoskop.

Eine Sammellinse von etwa 18 cm Brennweite ist
durchschnitten; die beiden Hälften A und B sind, mit ihren
scharfen Kanten gegeneinander gerichtet, in einem

Gestell befestigt, und am Boden desselben wird das

Blatt, welches die beiden Zeichnungen aa' und bb'
(gewöhnlich

photographische Bilder) enthält,

eingeschoben. Durch die Anwendung der Linsenstücke ist es
zunächst möglich, die Bilder dem

Auge näher zu bringen; dann aber wirken sie auch wie
Prismen, indem die Linsenhälfte vor dem rechten Auge das Bild
etwas nach dem linken schiebt, während das Bild der mit dem
linken Auge betrachteten Zeichnung etwas nach rechts gerückt
erscheint. Auf diese Weise wird das vollständige
Zusammenfallen der beiden Bilder bei CC' hervorgebracht. Wenn man
durch eine zwischen den Bildern befindliche senkrechte Scheidewand
dafür sorgt, daß

jedes Auge nur das ihm zugehörige, nicht aber das für
das andre

bestimmte Bild sieht, so ist eine besondere Vorrichtung, um die
Bilder zur Deckung zubringen, gar nicht nötig

(S. von Frick). Im S. von Steinhauser mit konkaven Halblinsen
muß das für das rechte Auge bestimmte Bild links, das
für das linke bestimmte rechts liegen;

die Bilder des Brewsterschen Stereoskops würden darin mit
verkehrtem Relief erscheinen. Die Bedeutung der Stereoskope, welche
durch die Photographie eine so wesentliche Förderung gefunden
haben, ist bekannt; man benutzt sie außer zur Unterhaltung
auch zur Veranschaulichung trigonometrischer und stereometrischer
Lehrsätze und zum Studium der Gesetze des binokularen Sehens.
Dove demonstrierte mit Hilfe des Stereoskops die Entstehung des
Glanzes. Ist nämlich die Fläche einer Zeichnung blau und
die entsprechende der andern gelb angestrichen, so sieht man sie,
wenn man sie im S. durch ein violettes Glas

betrachtet, metallisch glänzend. Weiß und Schwarz

führen zu einem noch lebhaftern Bilde der Art. Auch zur
Unterscheidung echter Wertpapiere von unechten hat Dove das S.
benutzt. Betrachtet man nämlich die zu vergleichenden Papiere
mit dem Instrument, so werden sofort die kleinsten Unterschiede
bemerkbar. Die einzelnen Zeichen, die nicht genau mit dem Original
übereinstimmen, decken sich nicht und befinden sich
anscheinend in verschiedenen Ebenen. Es wurde schon erwähnt,
daß der Gesichtswinkel sehr klein wird, wenn wir beide Augen
auf einen weit entfernten Punkt richten. Darum vermindern sich die
Vorteile des Sehens mit zwei Augen in dem Maß, als die zu
beschauenden Gegenstände weiter weg liegen, und verschwinden
bereits völlig beim Betrachten einer landschaftlichen Ferne.
Die Augen liegen zu nahe, als daß sich einem jeden derselben
ein merklich verschiedenes

Bild darstellen könnte. Helmholtz hat deshalb das

Telestereoskop konstruiert, welches dem Beschauer zwei sich
deckende Bilder einer Landschaft darbietet, gleich als ob das eine
Auge von dem andern mehrere Fuß abstände. Das Instrument
besteht aus vier Planspiegeln, welche senkrecht in einem
hölzernen Kasten und unter 45° gegen die längsten
Kanten desselben geneigt befestigt sind. Das von dem fernen Objekt
kommende Licht fällt auf die zwei äußern
großen Spiegel, wird von diesen rechtwinkelig auf die
beiden

300

Stereotomie - Sterigmen.

innern reflektiert und gelangt, nachdem es auch von den kleinen
innern Spiegeln rechtwinkelig reflektiert wurde, in die Augen des
Beobachters. Jedes Auge erblickt in den kleinen Spiegeln das von
den großen Spiegeln reflektierte Bild der Landschaft in einer
solchen perspektivischen Projektion, wie sie von den beiden
großen Spiegeln aus erscheint. Will man das Bild
vergrößern, so kann man die Lichtstrahlen, ehe sie in
die Augen gelangen, auch noch durch kleine Fernrohre gehen lassen.
Wie man mikroskopische Bilder körperhaft erscheinen lassen
kann, ist unter Mikroskop, S. 602, angegeben worden. Vgl. Brewster,
The stereoscope (Lond. 1856); Ruete, Das S. (2. Aufl., Leipz.
1867); Steinhauser, Über die geometrische Konstruktion der
Stereoskopbilder (Graz 1870).

Stereotomie (griech.), der Teil der Stereometrie, welcher
die Durchschnitte der Oberflächen der Körper behandelt,
insbesondere der sogen. Steinschnitt, welcher bei
Gewölbekonstruktionen in Anwendung kommt. Ihre Darstellungen
werden durch die beschreibende Geometrie zur Anschauung
gebracht.

Stereotypie (griech.), das Verfahren, von aus beweglichen
Lettern gesetzten Druckseiten vertiefte Formen abzunehmen und
vermittelst derselben erhöhte, den Satzseiten genau
entsprechende Druckplatten zu gewinnen. Die S. bietet sehr
große Vorteile dar; ohne sie würde die Schnellpresse bei
weitem nicht ihren jetzigen hohen Wert erlangt haben, und das
Zeitungswesen hätte nicht annähernd seine
gegenwärtige Entwickelung gewinnen können. Die S.
ermöglicht jederzeit den Druck neuer Auflagen von den durch
sie erzeugten Platten; das Papierstereotypieverfahren bietet sogar
die Möglichkeit der Aufbewahrung billiger Matrizen, aus denen
bei Bedarf Platten gegossen werden können, reduziert somit
ganz außerordentlich die Anlagekosten für Druckwerke.
Als erste Erzeugnisse der S. können betrachtet werden die
Reproduktionen von Holzschnitten in einem 1483 zu Ulm von Konrad
Dinkmut gedruckten Buch: "Der Seele Wurzgarten". Van der Mey und
Johann Müller zu Leiden (1700-1716), Ged in Edinburg
(1725-49), Valeyre in Paris (1735), Alexander Tilloch und Foulis zu
Glasgow (um 1775), F. J. Joseph Hoffmann zu Schlettstadt im
Elsaß (1783), der eine Anzahl experimentierender Nachfolger
(unter andern Carez in Toul) erhielt, sind nacheinander als
Erfinder der S. bezeichnet worden; zu dauernder Verbreitung aber
wurde das Verfahren erst gebracht durch Earl Stanhope (s. d. 2) in
London (1800) sowie um dieselbe Zeit durch Pierre und Firmin Didot
und Herhan in Paris. Zu ihrer heutigen großen Bedeutung
gelangte die S. durch die Erfindung von Genoux (1829), welcher die
Matrize aus Lagen von Seidenpapier mit einem dazwischengestrichenen
Gemisch von Kleister und Schlämmkreide etc. bildete. Bei dem
Stanhopeschen oder Gipsverfahren wird die Satzform in einem
eisernen Rahmen festgeschlossen (eingespannt) und leicht
geölt, worauf der Gips als dünnflüssiger Brei
über den Typensatz gegossen und mit Bürste oder Pinsel
gehörig eingearbeitet wird. Die Gipsmatrize erstarrt in 15-20
Minuten; sie wird dann abgehoben und in einen Trockenofen gebracht.
Der Guß geschieht in sargähnlichen eisernen
verschließbaren Pfannen. Auf den Boden der Pfanne wird zuerst
eine abgedrehte Eisenplatte gelegt, hierauf die erhitzte Gipsform
mit der Bildfläche nach unten und nun der ebenfalls abgedrehte
Pfannendeckel, welcher an allen vier Ecken abgestumpft ist, um dem
Metall den Einlauf zu gestatten. Das Ganze wird durch einen
Bügel geschlossen und mittels eines Krans in den mit
flüssigem Metall versehenen Schmelzkessel versenkt; nach
erfolgtem Guß wird die Pfanne aufgewunden und auf ein mit
nassem Kies angefülltes Kühlfaß abgesetzt. Nach dem
völligen Erstarren des Metalls wird die Stereotypplatte
gerichtet, auf der Rückseite abgeebnet und an den Rändern
bestoßen. Bei dem von Daulé in Paris um 1830
erfundenen Flaschenguß bleibt die Gipsmater in dem nach innen
mit einem Vorstoß versehenen Rahmen, welcher hinlänglich
groß ist, um noch Raum für einen Nachdruck gebenden
Anguß zu gewähren. Nach dem Trocknen bringt man diesen
Matrizenrahmen in die Gießflasche, die aus zwei abgeebneten
Eisenplatten besteht, von denen die der Bildfläche zugekehrte
mit Papier beklebt ist, um das Metall beim Eingießen weniger
abzuschrecken. Beide Platten sind unten durch ein Scharnier
verbunden und während des Gusses durch einen
Schraubenbügel zusammengehalten. Bei dem
Papierstereotypieverfahren wird die Matrize aus Seiden- und
Schreibpapier angefertigt; zwischen die einzelnen Bogen kommen
dünne, gleichmäßig ausgestrichene Schichten eines
Breies, der aus gekochter, mit Schlämmkreide oder Magnesia,
wohl auch mit Asbest oder China Clay, versetzter Weizenstärke
besteht. Auf die mit einem zarten Pinsel oder auch mittels einer
mit Flanell bezogenen Walze leicht geölte Form wird dann das
Matrizenpapier gelegt und entweder mit einer Bürste
gleichmäßig in den Schriftsatz eingeklopft, oder die
Form wird mit der Matrize unter eine feststehende Walze geschoben,
mit Filzen bedeckt und unter derselben durchgedreht; sodann schiebt
man dieselbe mit der darauf befindlichen Papiermatrize in eine
erhitzte Trockenpresse und bedeckt sie reichlich mit Filz und
Fließpapier zum Aufsaugen der Feuchtigkeit; schon nach 6-8
Minuten ist die Matrize trocken und kann abgenommen werden. Nachdem
sie beschnitten, in größern, beim Druck weiß
bleibenden Stellen durch Hinterkleben von Pappstückchen oder
auch durch Ausfüllen mit einer aus in dünner
Gummiarabikumlösung verrührter Schlämmkreide
erzeugten, leicht trocknenden Masse verstärkt und ein
Eingußstreifen angeklebt worden, kommt sie mit dem Gesicht
nach oben in das Gießinstrument, das dem beim
Dauléschen Verfahren gebräuchlichen sehr ähnlich
ist; ein verstellbarer eiserner Rahmen, Gießwinkel genannt,
hält sie glatt und gibt das Maß ab für ihre Dicke,
und der Guß kann erfolgen. Das Abschneiden des Angusses, das
Anhobeln von Facetten an den Rändern der Platten geschieht in
Zeitungsdruckereien mit eigens dafür hergerichteten Maschinen,
wodurch eine große Betriebsbeschleunigung ermöglicht
wird, so daß z. B. in der Londoner "Times" bei deren
Morgenausgabe die letzte Druckplatte innerhalb 8 Minuten, vom
Empfang der Satzform seitens des Stereotypeurs ab gerechnet, fertig
gestellt werden kann. Für den Kleinbetrieb der Buchdruckereien
hat man die S. durch Konstruktion kleiner, kompendiöser
Stereotypie-Einrichtungen nutzbar gemacht; diese ermöglichen
die Herstellung von Platten bis zu einer gegebenen Größe
schon nach kurzer Übung bei geringen Anlagekosten. Vgl.
außer den ältern Werken von Camus (Par. 1802) und
Westreenen de Tiellandt (Haag 1833): H. Meyer, Handbuch der S.
(Braunschw. 1838); Isermann, Anleitung zum Stereotypengießen
(Lpz. 1869); Archimowitz, Die Papierstereotypie (Karlsr. 1862);
Böck, Die Papierstereotypie (Leipz. 1885); Kempe, Wegweiser
durch die S. und Galvanoplastik (das. 1888).

Sterigmen, s. Basidien.

301

Steril - Stern.

Steril (lat.), unfruchtbar, dürr; Sterilität,
Unfruchtbarkeit; sterilisieren, unfruchtbar machen, in der
Bakteriologie von entwicklungsfähigen Keimen befreien ; s.
Bakterioskopische Untersuchungen.

Sterkoral (lat.), kotig.

Sterkrade, Dorf im preuß. Regierungsbezirk
Düsseldorf, Kreis Ruhrort, Knotenpunkt der Linien
Oberhausen-Emmerich und Ruhrort-Wanne (Emscherthalbahn) der
Preußischen Staatsbahn, 41 m ü. M., hat eine
evangelische und eine kath. Kirche, ein großes
Eisenhüttenwerk, Maschinenfabrikation, Kettenschmiederei und
(1885) 7164 meist kath. Einwohner.

Sterkuliaceen, dikotyle, etwa 500 Arten umfassende, der
Tropenzone eigentümliche Familie aus der Ordnung der
Kolumniferen, meist Bäume, deren grüne Teile mit
sternförmigen Haaren bekleidet sind. Die

Blätter sind wechselständig, meist an der Basis des
Blattstiels mit abfallenden Nebenblättern versehen. Die
regelmäßigen, meist zwitterigen,
fünfzähligen

Blüten haben einen verwachsenblätterigen, in der
Knospe klappigen Kelch, eine gedrehte, selten verkümmerte,
fünfblätterige Blumenkrone, einen doppelten
Staubblattkreis mit mehr oder weniger verwachsenen, zum Teil durch
Spaltung vermehrten oder auch zu Staminodien verkümmerten
Gliedern und einen

oberständigen, aus meist fünf Fruchtblättern
gebildeten Fruchtknoten. Die Frucht ist entweder eine
fünffächerige Kapsel und springt meist fachspaltig mit
fünf Klappen auf, welche auf ihrer Mitte die von der
Mittelsäule sich lösenden Scheidewände tragen, oder
sie ist eine Steinbeere oder Beere mit 5, 3, 2 oder einem Fach,
oder sie besteht aus mehreren freien, holzigen, krustigen oder
häutigen Balgfrüchten, welche an der Bauchnaht aufgehen
und innen häufig dicht wollig behaart sind. Die Samen haben
ein fleischiges oder kein Endosperm und einen geraden oder
gekrümmten Keimling mit faltigen, blattartigen oder
fleischigen Kotyledonen. Die mit den Malvaceen verwandte Familie,
zu welcher man auch die Bombaceen und Büttneriaceen (s. d.)
rechnet, waren schon in der Tertiärzeit durch eine Anzahl von
Arten aus den Gattungen Sterculia L. und Bombax L. vertreten.

Sterlett, s. Stör.

Sterling, im Mittelalter engl. Silbermünze,
welche

um 1190 aufkam, jetzt englische Währung, die seit

1816 in dem in Gold ausgeprägten Sovereign ihre

Einheit findet. Ein Pfund S. in Gold wiegt gesetzlich 7,9881 g,
enthält 7,3224 g fein Gold, ist 11/12 fein und hat einen Wert
von 20,4295 deutschen Goldmark.

Das Pfund S. (meist geschrieben L oder l.) zerfällt

in 20 Schillinge (s.) à 12 Pence (d.). Der Ursprung des
Namens S. ist von den Osterlingen (Easterlings) abzuleiten,
worunter die Normannen diejenigen deutschen Stämme verstanden,
die den Dänen nahe wohnten. Ein damaliger Penny Easterling wog
24 Gran, 240 machten 1 Pound Easterling (= 12 Unzen) aus, aus dem
das neuere Pfund S. entstand.

Sterling, Stadt im nordamerikan. Staat Illinois, am Rock
River, 170 km westlich von Chicago, hat lebhaften Handel und (1880)
5087 Einw.

Sterling, John, engl. Dichter und Schriftsteller, geb.
20. Juli 1806 zu Kaimes-Castle auf der Insel Bute, Sohn des
Kapitäns Edward S. (geb. 1773, gest. 1847), eines eifrigen und
angesehenen Mitarbeiters an der "Times" (genannt "the thunderer of
the Times"), studierte in Glasgow und Cambridge, ging dann nach
London, wo er für Zeitschriften thätig war und den Roman
"Arthur Coningsby" (1833) veröffentlichte, ließ sich
1834 zum Geistlichen ordinieren und erhielt das Pfarrverweseramt zu
Hurstmonceaux, das er indessen bald wieder aufgab. Er lebte nun
wieder litterarischen Beschäftigungen meist

im Süden Englands und starb 18. Sept. 1844 in

Ventor auf der Insel Wight. Seine übrigen Werke sind:
"Poems" (1839); "The election", ein satirisches Gedicht in 7
Büchern (1841), und das Trauer-

spiel "Stafford" (1843). Seine gesammelten Prosawerke: "Essays
and tales" gab Hare (1848, 2 Bde.) heraus; aus seinem Nachlaß
erschienen: "Twelve letters by John S." (1851) und "The onyx
ring"

(hrsg. von Hale, Boston 1856). Seine Biographie schrieb sein
Freund Carlyle (Lond. 1851).

Sterlitamak, Kreisstadt im russ. Gouvernement Ufa, am
Flüßchen Sterleja, das in die Bjelaja mündet, hat 2
Kirchen, eine Moschee, bedeutende Gerbereien und (1886) 9447
Einw.

Stern, leuchtender Himmelskörper, s. Fixsterne,
Planeten, Kometen; heraldische Figur, Symbol des Glücks und
des Ruhms; in der Nautik (unrich-

tig) das Hinterteil des Schiffs (vgl. Heck); als kriti-

sches Zeichen, s. Asteriskos.

Stern, 1) Julius, Komponist und Dirigent, geb.

8. Aug. 1820 zu Breslau, trat schon mit zwölf Jahren als
Violinspieler öffentlich auf, ward 1834 auf

der Akademie der Künste zu Berlin Rungenhagens und Bachs
Schüler in der Komposition und empfing 1843 auf zwei Jahre ein
Staatsstipendium, das er zunächst zu einem längern
Aufenthalt in Dresden benutzte, um bei Mieksch gründliche
Studien im Gesang zu machen. Von hier begab er sich nach Paris, wo
er als Dirigent des Deutschen Männergesangvereins
glänzende Erfolge hatte. 1847 nach Berlin

zurückgekehrt, gründete er hier seinen später
berühmt gewordenen Chorgesangverein, dessen Direktion 1873

Stockhausen, 1878 M. Bruch, 1880 E. Rudorff übernahm. 1850
begründete er gemeinschaftlich mit Kullak und Marx das
Konservatorium der Musik, welches er, nachdem 1855 Kullak und zwei
Jahre später auch Marx ausgeschieden waren, allein
übernahm und bis an seinen Tod mit ungewöhnlichem
Geschick geleitet hat. Geringern Erfolg hatte seine Wirksamkeit als
Orchesterdirigent 1869-71 an der Spitze der Berliner
Symphoniekapelle sowie 1873-75 an der von ihm organisierten Kapelle
der Reichshallen, wiewohl seine Leistungen auch auf diesem Gebiet
hervorragend waren. Er starb 27. Febr. 1883. Von seinen
Kompositionen haben namentlich die Lieder und
Gesangunterrichtswerke vielen Beifall gefunden. Vgl. R. Stern,
Erinnerungsblätter an J. S. (Leipz. 1886).

2) Adolf, Dichter und Literarhistoriker, geb. 14. Juni 1835 zu
Leipzig, trat, nachdem er seine Bildung in bedrängten
Jugendjahren auf selbständigem Wege gewonnen, sehr früh
in die Litteratur ein, indem er

mit "Sangkönig Hiarne" (Leipz. 1853, 2. Aufl. 1857),

einer nordischen Sage, debütierte, der die Dichtungen:
"Zwei Frauenbilder" (das. 1856) und "Jerusalem"

(das. 1858, 2. Aufl. 1866) folgten. Nachdem S. 1852

bis 1853 in Leipzig philosophischen und historischen Studien
obgelegen, lebte er in den folgenden Iahren teils in Weimar, teils
in Chemnitz und Zittau litterarischen Studien und ging 1859,
nachdem er die

philosophische Doktorwürde erworben, als Lehrer der
Geschichte und deutschen Litteratur nach Dresden, wo der Roman "Bis
zum Abgrund" (Leipz. 1861, 2 Bde.) und das Lustspiel "Brouwer und
Rubens" (das. 1861) entstanden. Im Herbst 1861 siedelte er dann zu
erneuten sprachwissenschaftlichen und historischen Studien nach
Jena über, ließ sich 1863 in

Schandau nieder und kehrte 1865 nach Dresden zurück, wo er
1868 zum außerordentlichen, 1869 zum

302

Sterna - Sternberg.

ordentlichen Professor der Litteratur und Kulturgeschichte am
Polytechnikum ernannt ward. Als Resultate dieser Jahre traten seine
"Gedichte" (Leipz. 1860, 3. Aufl. 1882), die Novellen: "Am
Königssee" (das. 1863) und "Historische Novellen" (das. 1866)
hervor, welche einen bedeutenden Fortschritt bekundeten. Als
Litterarhistoriker veröffentlichte er die Anthologie:
"Fünfzig Jahre deutscher Dichtung" (Leipz. 1871, 2. Aufl.
1877); "Katechismus der allgemeinen Litteraturgeschichte" (das.
1874, 2. Aufl. 1876); "Aus dem 18. Jahrhundert", Essays (das.
1874); "Zur Litteratur der Gegenwart", Studien und Bilder (das.
1880); "Lexikon der deutschen Nationallitteratur" (das. 1882);
"Geschichte der neuern Litteratur" (das. 1883-85, 7 Bde.);
"Geschichte der Weltlitteratur" (Stuttg. 1887-88) sowie mehrere
litterar-historische Monographien in Riehls "Historischem
Taschenbuch", Arbeiten, von denen namentlich der "Geschichte der
neuern Litteratur" umfassendes Wissen, Sicherheit des Urteils,
Geschmack in der Darstellung und Größe der historischen
Auffassung zugestanden werden. Spätere poetische Werke sind:
"Das Fräulein von Augsburg", Roman (Leipz. 1867); "Neue
Novellen" (das. 1875); die Tragödie "Die Deutschherren"
(Dresd. 1878); die epische Dichtung "Johannes Gutenberg" (Leipz.
1873, 2. Aufl. 1889); das Novellenbuch "Ans dunklen Tagen" (das.
1879, 2. Aufl. 1880); die Romane: "Die letzten Humanisten" (3.
Aufl., das. 1889), "Ohne Ideale" (das. 1881, .2 Bde.) und "Camoens"
(das. 1887); "Drei venezianische Novellen" (das. 1886), Werke,
welche uns S. als einen Dichter von reicher Phantasie und
künstlerischer Darstellung erkennen lassen. Er schrieb noch:
"Wanderbuch", Bilder und Skizzen (Leipz. 1877, 2. Aufl. 1886),
"Hermann Hettner", Lebensbild (das. 1885), "Die Musik in der
deutschen Dichtung" (das. 1888) und gab "W. Hauffs sämtliche
Werke" (Berl. 1879, 4 Bde.), "Herders ausgewählte Schriften"
(Leipz. 1881, 3 Bde.), "Chr. Gottfr. Körners gesammelte
Schriften" (das. 1882) und die 22. Auflage von Vilmars "Geschichte
der deutschen Nationallitteratur" mit Fortsetzung (1887, 23. Aufl.
1889) heraus. - Seine Gattin Margarete, geborne Herr, geb. 25. Nov.
1857 zu Dresden, Schülerin Liszts, ist eine namhafte, durch
echt musikalische Natur und Poesie der Auffassung hervorragende
Klavierspielerin.

3) Alfred, Historiker, geb. 22. Nov. 1846 zu Göttingen,
studierte in Heidelberg, Göttingen und Berlin, erhielt darauf
eine Anstellung im badischen Generallandesarchiv zu Karlsruhe,
habilitierte sich, nachdem er 1871 eine Studienreise nach England
unternommen, 1872 für Geschichte in Göttingen und wurde
1873 Professor der Geschichte in Bern, 1888 am Polytechnikum in
Zürich. Er schrieb: "Über die zwölf Artikel der
Bauern und einige andre Aktenstücke aus der Bewegung von 1525"
(Leipz. 1868), wozu sich Ergänzungen in den "Forschungen zur
deutschen Geschichte" (Bd. 12, 1872) befinden; "Milton und seine
Zeit" (das. 1877-79, 2 Bde.); "Geschichte der Revolution in
England" (in Onckens Geschichtswerk, Berl. 1881); "Briefe
englischer Flüchtlinge in der Schweiz", herausgegeben und
erläutert (Götting. 1874); "Abhandlungen und
Aktenstücke zur Geschichte der preußischen Reformzeit
1807-15" (Leipz. 1885). Gemeinsam mit W. Vischer gab er den 1. Band
der "Baseler Chroniken" (Leipz. 1872) heraus.

4) Daniel, Pseudonym, s. Agoult.

Sterna, Seeschwalbe.

Sternanis, Pflanzengattung, s. Illicium.

Sternapfel, s. Chrysophyllum.

Sternb., bei naturwissenschaftl. Namen Abkürzung
für Kaspar Maria v. Sternberg (s. d. 1).

Sternbedeckugen, s. Bedeckung.

Sternberg, alte Landschaft im preuß.
Regierungsbezirk Frankfurt, im O. von der Oder und im Süden
von der Warthe, bildet jetzt die beiden Kreise Oststernberg
(Landratsamt in Zielenzig) und Weststernberg mit der Hauptstadt
Drossen. Vgl. Freier, Geschichte des Landes S. (Zielenzig
1887).

Sternberg, 1) Stadt in Mähren, an der
Ferdinands-Nordbahn (Linie Olmütz-S.) und der Mährischen
Grenzbahn (S.-Grulich), Sitz einer Bezirkshauptmannschaft und eines
Bezirksgerichts, hat 9 Vorstädte, eine Landes-Unterrealschule,
eine Webschule, Tabaksfabrik, sehr starke Leinen- und
Baumwollwarenfabrikation, Obstbau (besonders Kirschen), Handel mit
diesen Erzeugnissen und (1880) 14,243 Einw. S. ist im 13. Jahrh.
von Jaroslaw von Sternberg gegründet worden, der hier 1241 die
Mongolen geschlagen hatte. Seit Ende des 17. Jahrh. bildet S. eine
Domäne des Hauses Liechtenstein. -

2) Stadt im preuß. Regierungsbezirk Frankfurt, Kreis
Oststernberg, an der Linie Frankfurt-Posen der Preußischen
Staatsbahn, 91 m ü. M., hat eine evang. Kirche und (1885) 1568
Einw. -

3) Stadt im Großherzogtum Mecklenburg-Schwerin, Kreis
Mecklenburg, an einem See, hat eine evang. Kirche, ein Amtsgericht,
eine Forstinspektion, (1885) 2646 Einw. und ist abwechselnd mit
Malchin Sitz der mecklenburgischen Stände. Nach S. benannt
sind die sogen. Sternberger Kuchen, Reste der Tertiärformation
innerhalb der Diluvialschichten.

Sternberg, 1) altes freiherrliches, später
reichsgräfliches Geschlecht aus Franken, das in
Österreich, Böhmen und Mähren begütert ist, in
Böhmen seit dem 13. Jahrh. urkundlich auftaucht und 1663 von
Kaiser Leopold I. in den Reichsgrafenstand erhoben ward. Die
böhmische Linie teilte sich Anfang des 18. Jahrh. in eine
ältere und jüngere. Jene erwarb durch Heirat 1762 die
reichsunmittelbaren, in der Eifel gelegenen Herrschaften der Grafen
Manderscheid mit Sitz und Stimme im westfälischen
Grafenkollegium, nannte sich seitdem S.-Manderscheid und ward
für den Verlust jener Besitzungen im Lüneviller Frieden
mit den vormaligen Abteien Schussenried und Weißenau
entschädigt, die jetzt eine Standesherrschaft unter
württembergischer Oberhoheit bilden. Die Linie starb 1843 im
Mannesstamm aus. Die jüngere Linie, S.-Serowitz, in
Böhmen begütert, hat zum Haupte den Reichsgrafen Leopold
von S., geb. 22. Dez. 1811, erbliches Mitglied des Herrenhauses des
Reichsrats. Aus dieser Linie stammte auch Kaspar Maria von S., geb.
6. Jan. 1761 zu Prag, anfänglich für den geistlichen
Stand bestimmt, sonders dem Studium der Kunst ergeben, 1748 im
Regensburger, 1788 im Freisinger Kapitel, seit 1795 der Botanik und
den Naturwissenschaften überhaupt ergeben und seit 1809
für Böhmens geistige Kultur rastlos thätig; gest.
20. Dez. 1838 zu Brzesina als Präsident des böhmischen
Nationalmuseums in Prag, dem er seine sämtlichen reichen
naturwissenschaftlichen Sammlungen, darunter eine nach
geognostische Zeitperioden geordnete Petrefaktensammlung,
vermachte. Man verdankt ihm die ersten tüchtigen Arbeiten
über gewisse Gruppen vorweltlicher Pflanzen; sein Hauptwerk
ist der "Versuch einer geognostisch-botanischen Darstellung der
Flora der Vorwelt" (Prag 1820-32, 2 Bde. mit 160 Tafeln). Auch
lieferte S. eine Monographie über die Saxifrageen und mehrere
Arbeiten über die böhmische Flora etc. Seinen
Briefwechfel mit Goethe aus den Jahren 1820-32 gab Bratranek

303

Sternberger Kuchen - Sternkarten.

(Leipz. 1866) heraus. Vgl. Palacky, Leben des Grafen Kaspar S.
(Prag 1868).

2) Alexander von, Schriftsteller, s. Ungern-Sternberg.

Sternberger Kuchen, s. Tertiärformation.

Sternbilder (Konstellationen), Gruppen von Fixsternen zu
leichterer Übersicht und Bezeichnung, wurden schon von den
alten Ägyptern aufgestellt und mit zum Teil noch jetzt
gültigen Namen belegt; die Griechen führten viele
mythologische Bezeichnungen ein. Nähere Angaben sowie ein
Verzeichnis der S. enthält das Textblatt der Karte
"Fixsterne".

Sternblume, s. Aster und Narcissus.

Sterndeutekunst, s. Astrologie.

Sterndienst (Sternanbetung), s. Sabäismus.

Sterndolde, s. Astrantia.

Sterne, 1) (spr. stern) Lawrence, berühmter engl.
Humorist, geb. 24. Nov. 1713 zu Clonmel in Irland, widmete sich zu
Cambridge theologischen Studien und wurde 1720 Pfarrer in Sutton,
siedelte 1760 nach London über, bereiste dann Frankreich und
Italien und starb 18. März 1768 in London. Sein Hauptwerk ist
: "The life and opinions of Tristram Shandy" (Lond. 1759-67, 9
Bde., oft aufgelegt; deutsch von Gelbke, Hildburgh. 1869), von dem
die beiden ersten Bände ihn bereits auf den Gipfel der
Popularität erhoben. Die Neuheit und Seltsamkeit seines Stils
erregte allgemeines Aufsehen; er wurde der verzogene Liebling der
feinen Gesellschaft Londons. "Tristram Shandy" ist eine
Erzählung, die aus einer Reihe von Skizzen besteht und teils
unter der Maske des Yorick (S. selbst), eines Geistlichen und
Humoristen, teils unter derjenigen des phantastischen Tristram
vorgetragen wird. Das Ganze ist, ähnlich wie bei unserm Jean
Paul, mit wunderlicher Gelehrsamkeit verquickt und mehr ein buntes
Durcheinander als ein planvolles Kunstwerk. Viel lesbarer als
"Tristram Shandy" ist Sternes "Sentimental journey through France
and Italy" (Lond. 1768 u. öfter; deutsch von Böttger,
Berl. 1856; von Eitner, Hildburgh. 1868) geblieben. Der geistvolle,
scharf beobachtende, tief empfindende Reisende, hinter dessen
leicht hingeworfenen Liebesabenteuern man übrigens kaum einen
Geistlichen vermutet, ist eins der frischesten und
unvergänglichsten Charakterbilder des 18. Jahrh. Außer
den genannten Schriften erschienen von S. mehrere Bände
"Sermons" (1760 ff.), die nicht minder den Humoristen verraten,
sowie nach seinem Tod "Letters to his most intimate friends" (1775,
3 Bde.) und sein Briefwechsel mit Elisa (Elizabeth Draper), einer
indischen Lady, zu der er eine Zeitlang in einem
Liebesverhältnis stand (1775). Von den vielen Gesamtausgaben
der Sterneschen Werke ist die neueste, mit Sternes
Selbstbiographie, von Browne besorgt (1884, 2 Bde.). Vgl. Ferriax,
Illustrations of S. (Lond. 1798); Traill, L. S. (das. 1882);
Fitzgerald, Life of L. S. (das. 1864, 2 Bde.), worin auch Sternes
merkwürdiges Schicksal nach dem Tod mitgeteilt ist, indem sein
Leichnam von den Wiederauferstehungsmännern nach Cambridge auf
die Anatomie verkauft wurde.

2) Carus, Pseudonym, s. Krause 5).

Sterneichuugen, das von William Herschel angewandte
Verfahren, um die Verteilung der Sterne im Weltraum zu ermitteln:
ein Fernrohr wird nach und nach auf verschiedene Punkte des Himmels
eingestellt und die Zahl der gleichzeitig im Gesichtsfeld
erscheinenden Sterne abgezählt, worauf aus mehreren
benachbarten Zählungen unter Berücksichtigung der
Größe des Gesichtsfeldes ein Schluß auf die Dichte
der Sterne an der betreffenden Stelle des Himmels gemacht werden
kann. Herschel kam 1785 auf dieses Verfahren und durchmusterte nach
demselben mit seinem 20füßigen Spiegelteleskop, dessen
Gesichtsfeld ungefähr 1/833000 des ganzen Himmels betrug, die
Zone vom 45.° nördl. bis 15.° südl. Deklination,
in welcher er 3400 Felder abzählte.

Sterngewölbe, s. Gewölbe, S. 312 (mit
Abbild.).

Sterngucker, s. Dummkoller.

Sternhaufen, s. Fixsterne, S. 322, und Nebel
(Nebelflecke).

Sternhaufen, s. Stör.

Sternjahr, s. Jahr.

Sternkammer (lat. Camera stellata, engl. Star Chamber),
engl. Gerichtshof, von König Heinrich VII. eingesetzt,
welcher, aus dem Lord-Kanzler und aus königlichen Räten
bestehend, über Staats- und Majestätsverbrechen urteilte
und unter den letzten Stuarts durch Härte und Willkür
sich sehr verhaßt machte. Sterne zierten die Decke des
Sitzungssaals, daher der Name. Sie ward 1641 aufgehoben (s.
Großbritannien, S. 797).

Sternkarten, Darstellung der Himmelskugel mit den Sternen
auf einer ebenen Fläche, gewöhnlich in stereographischer
oder zentraler Projektton (vgl. Landkarten). Die älteste
bemerkenswerte Sammlung von S. ist Bayers "Uranometria" (Augsb.
1603), 51 Blätter nebst einem Katalog von 1706 Sternen;
gleichfalls aus dem 17. Jahrh. ist Schillers "Coelum stellatum
christianum" (das. 1627) in 55 Blättern, worin an die Stelle
der alten Sternbilder die Apostel, Propheten und Heiligen gesetzt
waren, sowie Hevels "Firmamentum Sobiescianum" (Danz. 1690), 54
Blätter mit 1900 Sternen. Verdrängt wurden diese Atlanten
durch Flamsteeds "Atlas coelestis britannicus" (Lond. 1729, 28 Bl.;
kleinere Ausg. von Fortin, Par. 1776, und neu aufgelegt 1796),
welcher 2919 Sterne enthält und von Bode in Berlin 1782
verbessert in 34 Blättern herausgegeben wurde. 1782 erschien
Bodes "Représentation des astres" (Stralsund), auf 34
Blättern gegen 5000 Sterne enthaltend, worauf seine 20
großen Himmelskarten in der "Uranographia" (Berl. 1802; 2.
Aufl., das. 1819) mit 17,240 Sternen folgten. Diese ältern
Karten, auf denen überdies die ausführliche Zeichnung der
Sternbilder sehr störend wirkt, konnten dem Bedürfnis der
Astronomen nicht mehr genügen, seitdem man das Kreismikrometer
zur Beobachtung der Kometen anwandte; es kam jetzt darauf an,
möglichst viel Sterne, auch schwächere, in der Karte zu
haben. Hardings "Atlas novus coelestis" (Götting. 1822; neue
Ausg., Halle 1856), der auf 27 Tafeln 120,000 Sterne enthält,
war in dieser Hinsicht epochemachend. Aus späterer Zeit sind
zu nennen: Argelanders "Neue Uranometrie" (Berl. 1843), welche ein
getreues Bild des gestirnten Himmels gibt, wie er sich im mittlern
Europa dem bloßen Auge darstellt; dessen "Atlas des
nördlichen gestirnten Himmels" (Bonn 1857-63, 40 Karten) und
Schwincks "Mappa coelestis" (Leipz. 1843), welche in 5
Blättern den nördlichen gestirnten Himmel bis zu 30°
südl. Deklination darstellt. Eine bis dahin unbekannte
Ausführlichkeit zeigen die "Akademischen S.", welche auf
Bessels Anregung und auf Kosten der Berliner Akademie der
Wissenschaften 1830-59 von Argelander, Bremiker, Harding,
Göbel, Hussey, Inghirami, d'Arrest, Boguslawski, Fellecker,
Hencke, Knorre, Morstadt, Bluffen, Steinheil und Wolfers
veröffentlicht worden sind und alle Sterne zwischen 15°
nördlicher und südl. Deklination bis herab zur neunten
und teilweise bis zur zehnten Größe enthalten. Diese

304

Sternkataloge - Sternschnuppen.

Karten haben bei der ersten Aufsuchung des Planeten Neptun und
bei der Entdeckung der Planetoiden wesentliche Dienste geleistet.
Für derartige Zwecke genügt es aber, alle Fixsterne in
der Nähe der Ekliptik genau zu verzeichnen, da jeder Planet
zweimal bei seinem Umlauf die Ekliptik schneidet; dies gab den
Anlaß zur Entwerfung der "Ekliptischen Atlanten" von Hind und
Chacornac, welcher letztere von der Pariser Sternwarte vollendet
wird und die Sterne bis herab zur 13. Größe und bis auf
2 1/2° Abstand von der Ekliptik auf mehr als 72 Karten
darstellen wird. Für Laien sind geeignet: Littrow, Atlas des
gestirnten Himmels (3. Aufl., Stuttg. 1866); Dieu, Atlas celeste
(Par. 1865); Proctor, A star atlas showing all the stars visible to
the naked eye and 1500 objects of interest in 12 circular maps
(Lond. 1870); Heis, Neuer Himmelsatlas (Köln 1872), welcher
auf 12 Karten alle im mittlern Europa am Himmel sichtbaren Objekte
darstellt und namentlich auch durch sehr genaue Zeichnung der
Milchstraße sich auszeichnet; etwas Ähnliches leistet
für den südlichen Himmel Gould, Uranometria Argentina
(1879), und für beide Hemisphären Houzeau,
Uranométrie générale (Brüssel 1878);
Klein, Sternatlas (Köln 1887); Schurig, Himmelsatlas (Leipz.
1886); Messer, Sternatlas für Himmelsbeobachtungen (Petersb.
1888).

Sternkataloge, Verzeichnisse der Örter von
Fixsternen für einen bestimmten Zeitpunkt mit Angabe
derjenigen Größen, welche notwendig sind, um die
Örter zu andern Zeiten zu berechnen. Der älteste, von
Hipparch entworfene enthielt 1080 Sternpositionen für das Jahr
128 v. Chr.; ihm ist wahrscheinlich der im "Almagest" des
Ptolemäos enthaltene mit 1025 Sternen nachgebildet. Aus dem
Mittelalter sind zu nennen die S. des Abd al Rahmân al
Sûfi (903-986): "Description des étoiles fixes,
composée au milieu du X. siècle de notre ère
par l'astronome persan Abd al Rahmân al Sûfi, par
Schjellerup" (Petersb. 1874) und der des Herrschers von Samarkand,
Ulugh Beigh, mit 1019 Sternpositionen für 1437: "Ulugh Beigh,
tabulae astronomicae, ed. Th. Hyde" (Oxf. 1665) und das Sammelwerk
von Baily: "The catalogues of Ptolemy, Ulugh Beigh. Tycho Brahe,
Halley, Hevelius" (Lond. 1843). Im christlichen Abendland entwarf
zuerst Tycho Brahe (1600) ein Verzeichnis von 777 Sternen, sodann
(1660) Hevel eins von 1564 Sternen. Leider konnte der letztere sich
nicht zum Gebrauch des Fernrohrs bei seinen Beobachtungen
entschließen, weshalb auch sein Katalog rasch verdrängt
wurde durch den von Flamsteed in der "Historia coelestis
britannica" (Lond. 1712; 2. Ausg. von Halley, 1725)
veröffentlichten, welcher 2866 Sterne zählt. Lalandes
"Histoire celeste" (Par. 1801) enthält die Örter von
47,390 Sternen, die später von Baily mit Hilfe der von
Schumacher gegebenen Reduktionstafeln auf die Epoche 1800 reduziert
wurden (Lond. 1847), und Piazzi veröffentlichte (1803) ein
Verzeichnis von 6748 Sternen, welche Zahl in der spätern
Ausgabe ("Praecipuarum stellarum inerrantium positiones mediae
ineuntesaeculo XIX., ed. altera", Pal. 1814) auf 7646 vermehrt ist.
Epochemachend sind Bessels "Fundamentaastronomiae" (Königsb.
1818), welche auf den Beobachtungen Bradleys fußen; daran
reiht sich Argelanders "Bonner Durchmusterung" ("Bonner
Beobachtungen", Bd. 3-5, 1859-62), welche 324,198 am
nördlichen Himmel bis zu 2° südl. Br. sichtbare
Sterne aufzählt (von Schönfeld bis 10° südl. Br.
fortgesetzt). Ferner sind zu nennen: Baily, "The catalogue of stars
of the British Association" (Lond. 1845, 8377 Sternpositionen
für 1850); von Airy eine Reihe von Katalogen nach Greenwicher
Beobachtungen von 1836-41 (das. 1843), 1836-47 (das. 1849), 1848-53
(das. 1856), 1854-60 (das. 1862), 1861-67 (das. 1868); von
Groombridge "Catalogue of circumpolar stars"; Weißes
"Positiones mediae stellarum tixarum in zonis Regiomontanis a
Besselio observatarum" (Petersb. 1846 u. 1863, gegen 70,000
Sterne); Argelanders "Zonenbeobachtungen" (geordnet von W.
Öltzen, Wien 1851, 1852, 1857); Lamonts in den Annalen der
Münchener Sternwarte erschienene Verzeichnisse von Sternen
zwischen 15° nördlicher und südlicher Deklination
(34,634 Sterne, darunter an 12,000 zum erstenmal bestimmte); das
Verzeichnis von Sternen in der Nähe der Ekliptik, die Cooper
und Graham zu Markree Castle in Irland beobachteten, u. a. Von der
südlichen Halbkugel hat zuerst Halley einen Sternkatalog
geliefert, ferner im vorigen Jahrhundert Lacaille ("Coelum australe
stelliferum", Par. 1763; neue engl. Ausg., Lond. 1847); in unserm
Jahrhundert haben Henderson, Fallows, Brisbane, Maclear u. a.
solche S. geliefert, der neueste ist Ellerys "Melbourne catalogue".
Kataloge von Doppelsternen haben hauptsächlich W. Herschel, W.
Struve und I. Herschel geliefert; den des letztern (mit 10,300
Doppel- und vielfachen Sternen) haben Main und Pritchard im 40.
Bande der "Memoiren der Londoner Astronomischen Gesellschaft"
(Lond. 1874) veröffentlicht. Kataloge der veränderlichen
Sterne haben Schönfeld (1866 u. 1874), Dreyer (1888) und
Chandler (1889) geliefert.

Sternkegel, s. Globus, S. 436.

Sternkrant, s. Stellaria.

Sternkreuzorden, österreich. Frauenorden, 18. Sept.
1668 von der Kaiserin Eleonore, zur Erinnerung an ein verlornes und
wiedergefundenes Reliquienkreuz, für adlige Damen zur
Förderung der Andacht zum heiligen Kreuz, des tugendhaften
Lebens und wohlthätiger Handlungen gestiftet. Die Zahl der
Damen ist unbeschränkt, alter Adel unbedingt erforderlich. Die
Ernennungen gehen von der Großmeisterin des Ordens, "der
höchsten Ordensschutzfrau", immer einer österreichischen
Erzherzogin, aus. Die Dekoration, welche viermal geändert
wurde, besteht jetzt in einem kaiserlichen Adler, auf welchem ein
achteckiges rotes Kreuz auf einem blauen liegt; das Ganze ist
medaillonartig gefaßt, und an dem obern Rand zieht sich ein
weiß emailliertes Band mit der Devise: "Salus et gloria" hin.
Das Band ist schwarz. Ordensfesttage sind der 3. Mai und 14.
September.

Sternkunde, s. Astronomie.

Sternmiere, s. Stellaria.

Sternocleidomastoideus (Musculus s.),
Kopfnickermuskel.

Sternsaphir, s. Korund.

Sternschanze, Schanze mit sternförmigem
Grundriß.

Sternschnuppen, Lichtpunkte, die in heitern Nächten
plötzlich am Himmel aufleuchten, rasch eine meist scheinbar
geradlinige, mehr oder minder ausgedehnte Bahn beschreiben und dann
erlöschen, öfters einen leuchtenden Schweif
hinterlassend. Größere derartige Erscheinungen nennt man
Feuerkugeln (s. d.). Während man sie früher für
entzündete, von der Erde aufgestiegene Gase hielt, hat sich
seit Chladni die Überzeugung Bahn gebrochen, daß diese
Erscheinungen herrühren von Körpern, die aus dem Weltraum
zu uns kommen und in den obern Schichten unsrer Atmosphäre zum
Leuchten erhitzt werden. Die

305

Sternschnuppen.

Helligkeit der S. ist sehr verschieden, im Mittel gleich
derjenigen von Fixsternen 4. Größe. Die Farbe ist meist
weiß, ins Gelbe oder Blaue spielend. Nach Schmidt steht
dieselbe im Zusammenhang mit der mittlern Dauer der sichtbaren
Bewegung; er findet dieselbe nämlich für weiße S.
0,75 Sekunden (886 Beobachtungen), für gelbe 0,98 Sek. (400
Beob.), für rote 1,63 Sek. (188 Beob.) und für grüne
1,97 Sek. (125 Beob.). Beim Erlöschen mancher S. beobachtet
man, wie bei den Feuerkugeln, Funkensprühen, auch bisweilen
ein erneutes Aufleuchten. Der leuchtende Schweif, den viele
hinterlassen, dauert häufig mehrere Minuten lang. Diese
Schweife zeigen oft merkwürdige Formverändernngen,
namentlich sieht man bei teleskopischer Beobachtung in den ersten
Sekunden starke wellenförmige Krümmungen; auch haben sie
nach Heis eine seitliche Bewegung. Das Spektrum der S. hat Konkoly
kontinuierlich von vorherrschend gelber oder grüner Farbe, je
nach der Färbung der S., gefunden; Indigo wurde selten, Rot
nur bei roten S., Violett nie beobachtet. Im Spektrum des Schweifs
wurde bei gelben S. Natrium, bei grünen Magnesium, bei roten
Strontium gefunden ; bei einem 156 Sekunden nachleuchtenden Schweif
einer Sternschnuppe, welche die Venus an Helligkeit übertraf,
zeigten sich außer den Natrium- und Magnesiumlinien noch
helle Banden in Grün und Blau. Coulvier-Gravier hat zuerst
darauf aufmerksam gemacht, daß die Zahl der S., die ein
Beobachter stündlich zählt, im allgemeinen im Lauf der
Nacht von den Abendstunden an zunimmt, und Schiaparelli hat dies
dadurch erklärt, daß ein Beobachter um so mehr S. sehen
werde, je höher über dem Horizont der Punkt des Himmels
steht, nach welchem hin die Bewegung der Erde gerichtet ist. Dieser
Punkt, der sogen. Apex, ist aber um einen Vierteltreis nach W. von
der Sonne aus ; er hat also seinen höchsten Stand um
Sonnenaufgang. Nach Schmidt fällt die größte
stündliche Zahl auf die Stunde von früh 2 1/2-3 1/2 Uhr.
Die stündliche Häufigkeit der S. ist auch nicht das ganze
Jahr hindurch gleich; nach Schmidt fällt der kleinste Wert auf
den Februar, der größte auf den August, wenn man absieht
von den gleich zu erwähnenden großen
Novemberströmen. Durch außerordentliche Häufigkeit
der S. sind nämlich die Nächte um den 12. Nov.
ausgezeichnet; insonderheit beobachtete man 12. Nov. 1799, 1833,
1866 und 1867 förmliche Sternschnuppenregen. Es erreicht
dieses Phänomen, wie H. A. Newton bis 902 zurück
dargethan hat, alle 33 Jahre seinen Höhepunkt. Weniger dicht,
aber gleichmäßiger wiederkehrend sind die
Sternschnuppenregen in den Nächten um den 10. Aug.
(Laurentiustag). deren schon in altenglischen Kirchenkalendern
unter dem Namen der "feurigen Thränen des heil. Laurentius"
gedacht wird. Außerdem sind auch die Nächte des 18.-20.
April, 26.-30. Juni, 9.-12. Dez. u. a. durch größere
Häufigkeit der S. ausgezeichnet. Bei den
Sternschnuppenfällen in diesen Nächten bewegt sich die
Mehrzahl der S. in parallelen Bahnen; sie scheinen von einem und
demselben Punkte des Himmels ausgestreut zu werden, wie es sein
muß, wenn diese Körper in größern
Schwärmen Bahnen um die Sonne beschreiben. Dieser
Ausstreuungspunkt oder Radiant liegt für die
Novembersternschnuppen im Sternbild des Löwen (10 Stund.
Rektaszension und 23° nördl. Deklination) , für die
Laurentius-S. im Perseus (2,9 Stund. Rektaszension und 56°
nördl. Deklination), weshalb man jene auch Leoniden, diese
Perseiden nennt. Doch gibt es in diesen Nächten nicht
bloß einen, sondern immer mehrere Radianten, so beim
Novemberphänomen nach Heis 5; derselbe Beobachter hat am
nördlichen Himmel über 80 Radianten bestimmt. Im
allgemeinen unterscheidet man die in bestimmten Nächten in
größerer Häufigkeit fallenden S. als periodische
von den sporadischen, die unregelmäßig aus den
verschiedensten Gegenden des Himmels kommen. Die Höhe, in
welcher die S. aufleuchten und verlöschen, läßt
sich aus korrespondierenden Beobachtungen von verschiedenen Punkten
aus ermitteln. Sie ist sehr verschieden; so fand Heis beim
Augustphänomen 1867 Höhen zwischen 20 1/2 und 4 geogr.
Meilen (im Mittel 13 1/2 Meilen) für das Aufblitzen, solche
zwischen 11 1/2 und 3 Meilen (im Mittel 7 1/2) für das
Verlöschen; doch sind auch noch größere Höhen
bis zu 40 Meilen und darüber beobachtet worden. Die
Geschwindigkeiten, mit welchen sich die S. bewegen, sind solche,
wie wir sie nur bei selbständig um die Sonne laufenden
Weltkörpern antreffen, 3 und mehr, selbst 10-20 Meilen in der
Sekunde. Die kosmische Natur dieser Erscheinungen ist namentlich
seit dem bereits erwähnen glänzenden Sternschnuppenfall
im November 1866 außer Zweifel gestellt; derselbe hat uns
auch noch weitere Aufschlüsse über dieselben gegeben.
Schon früher hat man einen Zusammenhang zwischen den
Sternschnuppenschwärmen und den Kometen geahnt, und namentlich
hat Chladni bereits 1819 sich für einen solchen ausgesprochen.
Aber erst 1866 wurde es durch Schiaparelli fast außer Zweifel
gesetzt, daß manche Kometen, wenn auch nicht alle, zu den
Erscheinungen der periodischen Sternschnuppenfälle beitragen.
Insbesondere glaubte Schiaparelli aus der großen
Ähnlichkeit der Bahn des August- oder Laurentiusstroms mit
derjenigen des Kometen III des Jahrs 1862 auf eine Identität
beider Erscheinungen schließen zu müssen. Diese Meinung
fand rasch eine Bestätigung durch die von Leverrier
ausgeführte Berechnung der Bahn des großen
Novemberschwarms von 1866. Es machte nämlich sehr bald Peters
in Altona auf die auffallende Übereinstimmung dieser Bahn mit
derjenigen des Tempelschen Kometen I von 1866 aufmerksam. Seitdem
hat die Idee, daß die periodisch erscheinenden
Sternschnuppenschwärme Teile von Kometen seien, die, durch die
Anziehung der Erde aus ihrer Bahn abgelenkt, durch die obern
Regionen unsrer Atmosphäre schießen und hier infolge
ihrer raschen Bewegung durch die Luft ins Glühen geraten,
immer mehr Anklang gefunden. Insbesondere führt man auch die
glänzenden Sternschnuppenregen vom 27. Nov. 1872 und 1885 auf
kleine kosmische Körper zurück, die der zerfallende
Bielasche Komet längs seiner Bahn ausgestreut hat.
Während aus den größern Feuerkugeln nicht selten
Meteorsteine zur Erde niederfallen, ist bei den S. bis jetzt noch
nichts Ähnliches nachgewiesen. Ob die eisenhaltigen
Staubmassen, welche Nordenskjöld auf den Schneeflächen
Skandinaviens, Gaston Tissandier in Paris und Umgegend gesammelt
und untersucht haben, wirklich von den Schweifen der S. und
Feuerkugeln herrühren, wie letzterer glaubt, ist noch
zweifelhaft. Die gallertigen, frischem Eiweiß oder
Stärkekleister ähnlichen, oft tellergroßen Massen,
die man hin und wieder am Boden findet, und welche die Volksmeinung
in Europa und Nordamerika als Sternschnuppensubstanz bezeichnet,
sind nach Cohn aufgequollene Frosch-Eileiter, welche wahrscheinlich
von Nachtvögeln ausgeleert werden. Vgl. Schiaparelli, Entwurf
einer astronomischen Theorie der S. (deutsch, Stett. 1871);
Boguslawski, Die S. und ihre Beziehungen zu den Kometen (Berl
1874).

306

Sternschnuppengallerte - Sternwarte.

Steruschnuppengallerte, s. Nostoc.

Sterusingen, der in der Weihnachtszeit bis zum
Dreikönigsabend ehedem weit und breit übliche Brauch, mit
einem an einer Stange befestigten goldpapiernen Stern herumzuziehen
und Weihnachts- oder Dreikönigslieder zu singen, um dafür
eine Gabe zu erhalten. Bald sind es Erwachsene, bald Kinder,
welche, meist als die drei Könige aus dem Morgenland
verkleidet, von Haus zu Haus ziehen, um ihre Lieder vorzutragen und
den Stern oder statt dessen auch einen Kasten mit Puppen zu
zeigen.

Sterustein, s. Korund.

Sterntag, s. Tag.

Sterntypen, s. Fixsterne, S. 325.

Sternum (lat.), Brustbein.

Sternutatio (lat.), das Niesen (s. d.).

Stern von Indien, großbrit. Orden, gestiftet 26.
Juni 1861 von der Königin Viktoria für das indische
Reich. Der Orden besteht aus dem Souverän, dem
Großmeister, welcher der Vizekönig von Indien ist, und
246 ordentlichen Genossen sowie einer unbegrenzten Zahl
Ehrenmitglieder. Die Genossen teilen sich in drei Klassen:
Großkommandeure (30), Kommandeure (72) und Genossen (144).
Die Dekoration besteht in einer Kette aus Lotus, Palmzweigen und
roten und weißen Rosen, in der Mitte die königliche
Krone, an welcher das Ordenszeichen hängt, ein kameenartig in
Onyx geschnittenes Brustbild der Königin in einem
durchbrochenen Oval, mit der Devise: "Heaven's light our guide",
überragt von einem Stern aus Diamanten. Der Ordensstern
besteht in einem Mittelschild mit Diamantstern, von welchem
Goldstrahlen ausgehen, und der auf einem blau und weiß
geränderten Band ruht, welches die Devise in Diamanten
zeigt.

Stern von Rumänien, fürstlich rumän.
Zivil- und Militärverdienstorden, gestiftet 10. Mai 1877 vom
Fürsten Karl I. Der Orden hat fünf Klassen:
Großkreuze, Großoffiziere, Kommandeure, Offiziere und
Ritter, deren Zahl festgestellt ist. Die Dekoration besteht in
einem blau emaillierten Kreuz, das, mit Strahlen verziert, die
goldene Fürstenkrone trägt. Militärverdienst wird
durch gekreuzte Schwerter gekennzeichnet. Der Mittelschild des
Kreuzes zeigt in rotem Email vorn einen Adler mit der Devise: "In
fide salus" in grünem Randreif, hinten die fürstliche
Chiffer. Die Ritter tragen das Kreuz in Silber, die andern von
Gold; die Großkreuze und Großoffiziere außerdem
einen diamantierten Silberstern mit darauf liegendem Kreuz. Das
Band ist rot mit dunkel-blauen Randstreifen.

Sternwarte (Observatorium, hierzu Taf. "Sternwarte"), ein
zu astronomischen Beobachtungen und Messungen bestimmtes
Gebäude. Während man früher die Sternwarten der
bessern Umsicht halber gern auf Türmen einrichtete, hat man,
namentlich im vorigen Jahrhundert, eingesehen, daß so hohe
Gebäude einen für Erschütterungen sehr empfindlichen
und infolge der ungleichen Erwärmung durch die Sonne sehr
schwankenden Standort gewähren, weshalb sich auf ihnen genaue,
der gegenwärtigen Vollendung der Instrumente und der
Ausbildung der Beobachtungskunst entsprechende Beobachtungen gar
nicht ausführen lassen. Man baut daher die Sternwarten
heutzutage niedrig und stellt die größern Instrumente
auf steinerne Pfeiler, die mit den übrigen Fundamenten
außer Zusammenhang stehen. Im Meridian, auch im ersten
Vertikal (s. d.), müssen Einschnitte für das
Passageinstrument vorhanden sein. Ferner baut man für die
größern Äquatoriale Türme mit drehbarem Dach,
die Beobachtungen nach den verschiedensten Richtungen gestatten;
auch sorgt man für eine Terrasse od. dgl. zu Beobachtungen im
Freien. Die ganzen Baulichkeiten, mit den Wohnräumen für
das Personal, sollen an einem ruhigen, nicht zu nahe an frequenten
Straßen gelegenen Platz, nicht im Innern größerer
Städte, gelegen sein; die freie Umsicht am Horizont ist nicht
nötig, wenn nur in größerer Höhe der Himmel
frei ist, denn Beobachtungen dicht am Horizont sind wenig
zuverlässig. Zur Ausstattung einer S. gehören:
Meridiankreis, Mittagsrohr, Äquatorial, Vertikalkreis,
Heliometer, kleinere Fernrohre, gute Uhren, elektrische
Registrierapparate und meteorologische Instrumente, zunächst
zur Reduktion der astronomischen Beobachtungen. Neuerdings sind
aber viele Sternwarten auch zugleich meteorologische
Beobachtungsstationen. Die erste nach neuern Grundsätzen
erbaute S. ist die von Greenwich, 1672 errichtet; die noch
ältere, 1664-72 erbaute Pariser S. ist den Ansprüchen der
Gegenwart nicht mehr ganz entsprechend. Ein großartiges
Institut ist die 1833-39 auf dem Pulkowaberg bei Petersburg
errichtete Nikolai-Zentralsternwarte. Auch die Vereinigten Staaten
von Nordamerika besitzen eine Anzahl sehr gut eingerichteter
Sternwarten, unter denen namentlich die Marinesternwarte in
Washington sich durch ihre Leistungen hervorgethan hat und das
Lick-Observatorium auf dem 1400 m hohen Mount Hamilton in
Kalifornien durch seine Lage und Ausstattung außerordentlich
begünstigt ist. Ebenso sind in Südamerika,
Südafrika, Ostindien und Australien einzelne Sternwarten
thätig. Die Gesamtzahl aller Observatorien übersteigt
jetzt 200, während sie Ende des vorigen Jahrhunderts nur 130
betrug. Auf dem Kontinent von Europa sind die meisten Sternwarten
Staatsanstalten, in Großbritannien aber haben sich viele
Privatsternwarten durch ihre Leistungen einen Namen erworben. Als
Beispiel einer allen Anforderungen der Neuzeit, sowohl für die
Zwecke des Unterrichts als der wissenschaftlichen Forschung,
entsprechenden S. dient uns die auf beifolgender Tafel dargestellte
neue S. zu Straßburg (die Beschreibung derselben siehe auf
der Textbeilage zur Tafel, wo sich auch eine Übersicht der
bedeutendsten Sternwarten befindet). Seitdem in den letzten
Jahrzehnten Physik und Chemie insbesondere in der Photographie und
Spektralanalyse neue Hilfsmittel dargeboten haben, welche den
Untersuchungen über die physische Beschaffenheit der
Himmelskörper einen früher ungeahnten Grad von
Genauigkeit und Zuverlässigkeit verleihen, bilden derartige,
ehemals nur einzelnen Liebhabern überlassene Forschungen eine
wesentliche Aufgabe des Astronomen von Fach. Indessen sind die
ältern Sternwarten neben ihren sonstigen, vorzugsweise auf
Erforschung der Bewegung der Himmelskörper gerichteten
Arbeiten nur unvollkommen im stande, sich dieser Aufgabe zu widmen;
denn dieselbe stellt nicht nur an die Ausbildung und Arbeitskraft
der Beobachter Forderungen besonderer Art, sondern sie verlangt
auch bedeutende instrumentelle Hilfsmittel und macht physikalische
und chemische Arbeiten nötig, für welche die ältern
Sternwarten nicht eingerichtet sind. So wie man daher früher
einzelne Sternwarten speziell zur Beobachtung der Erscheinungen auf
der Sonne eingerichtet hat, so ist man in der neuesten Zeit an die
Errichtung von Observatorien gegangen, welche der Pflege der
verschiedensten Zweige der Astrophysik dienen sollen, so in
Frankreich das Observatorium zu Meudon und in Deutschland das
astrophysikalische Observatorium auf dem Telegraphenberg bei
Potsdam, das 1879 seiner Bestimmung übergeben wurde.

STERNWARTE DER KAISER WILHELMS-UNIVERSITÄT ZU
STRASSBURG.

Grosser Refraktorbau. (Ansicht.)

Grosser Refraktorbau. (Durchschnitt von A nach B.)

Grosser Refraktorbau.

a. Grosser Refraktor,

b. Raum für konstante Temperatur,

c. Halle.

d. Boden.

e. Gang.

f. Hörsaal.

g. Keller.

h. Vestibül.

i. Bibliothek

k. Direktionszimmer

Gemeinschaftliches Observatoriengebäude.

a. Treppenhaus.

b. Rechenzimmer.

c. Treppengang zum Instrument

d. Instrumente.

e. Eingang zum Meridiansaal.

f. Passageninstrument.

g. Meridiankreis.

Beamtenwohnhaus.

Situationsplan der Sternwarte

Gemeinschaftliches Observatoriengebäude. (Meridianbau.)
(Durchschnitt von A nach B.)

Turm des Altazimuth

Turm des Bahnsuchers.

[Zu Artikel und Tafel Sternwarte.]

Die Sternwarte der Kaiser Wilhelms-Universität zu
Straßburg.

Die im Sommer 1881 ihrer Bestimmung übergebene Sternwarte
der Kaiser Wilhelms-Universität zu Straßburg besteht aus
drei Gebäuden, von denen das eine Wohnungen, die andern beiden
die zur Aufstellung der Instrumente nötigen Räume
enthalten. Der Refraktorbau für das Hauptinstrument der
Sternwarte (s. Tafel) ist ein von einer mächtigen Kuppel
gekrönter Turm, der sich 24 m über den Boden erhebt. Die
Mitte des aus Sandstein aufgeführten Unterbaues, dessen
Querschnitt die Form eines gleicharmigen Kreuzes zeigt, nimmt eine
Halle ein, um welche sich eine Anzahl verschiedenen Zwecken
dienender Räume gruppieren. Die diese Halle
einschließenden sehr starken Mauerpfeiler tragen ein
mehrfaches Gewölbe, auf welchem die den großen Refraktor
tragende Säule ruht. Dieses Gewölbe ist von der obern,
die Kuppel tragenden Umfassungswand des Turms und von dem
Fußboden des Kuppelraums isoliert, so daß sich
Erschütterungen dieser Teile nicht direkt auf das Instrument
übertragen können; es umschließt einen Hohlraum,
der im Innern des ganzen Mauerwerks zu allen Tages- und
Jahreszeiten sehr nahe dieselbe Temperatur behält, und in
welchem daher die Normaluhren des Observatoriums ihre Aufstellung
gefunden haben. Ein zweiter Raum mit konstanter Temperatur ist noch
inmitten des Kellergeschosses gelegen. Die halbkugelförmige
Kuppel des Turms (vgl. den Durchschnitt auf der Tafel) von 11 m
Durchmesser ist aus eisernen Bogenträgern konstruiert, die
eine außen mit Zink verkleidete Holzverschalung tragen, und
an der Innenfläche zum Schutz gegen die sich hier leicht
ansetzende Feuchtigkeit mit Tuch ausgeschlagen. Ein Spalt von 2 m
Breite, vom Horizont durch den Scheitel bis wieder zum Horizont
gehend, ermöglicht den Ausblick auf den Himmel; bei
ungünstigem Wetter wird derselbe durch zwei halbcylindrische
Stücke geschlossen, die sich beim Öffnen symmetrisch
voneinander entfernen. Die Kuppel ist drehbar und läuft auf
dem obern Rande der Turmwand vermittelst an ihr befestigter
Räder von 1 m Durchmesser. Sie ist mit einem Zahnkranz
versehen, in den eine Transmission eingreift, welche durch ca. 1000
kg schwere, in tiefen, zu diesem Zweck im Mauerwerk ausgesparten
Schächten niedersteigende Gewichte getrieben wird. Durch
Umschaltung einer Welle in dieser Transmission kann man die Drehung
rechts- oder linksherum vor sich gehen lassen, und dieses
Umschalten ebenso wie das Auslösen der Gewichte erfolgt, indem
man durch Schluß eines am Okularende des Fernrohrs
angebrachten Kontakts einen Elektromagnet wirken läßt,
so daß also der Beobachter, ohne seinen Platz zu verlassen
und ohne alle Mühe den Spalt der ca. 34,000 kg schweren Kuppel
auf die gerade zu beobachtende Himmelsgegend richten kann. Eine
breite Terrasse um die Kuppel ist bestimmt für die mit
bloßem Auge oder mit kleinem transportabeln Instrumenten
anzustellenden Beobachtungen. Auf ihr befindet sich auch ein
großer Kometensucher von 16,2 cm Öffnung und 1,3 m
Brennweite, welchen der auf einem Drehstuhl sitzende Beobachter auf
jede Gegend des Himmels richten kann, ohne dabei die Lage seines
Kopfes verändern zu müssen. Derselbe dient außerdem
zur fortlaufenden Beobachtung des Lichtwechsels der in ihrem Glanz
veränderlichen Fixsterne. Unter der Kuppel ruht auf einer 4 m
hohen gußeisernen Säule der große parallaktisch
montierte Refraktor, dessen Objektiv einen freien Durchmesser von
48,7 cm und 7 m Brennweite hat (vgl. Äquatorial).
Bemerkenswert sind noch die an der großen Drehkuppel
angebrachten Vorrichtungen, um dieselbe auf ihrer
Außenfläche vollständig mit Wasser zu berieseln und
so im heißen Sommer vor Beginn der Beobachtungen eine
raschere Abkühlung derselben zu bewirken. In den ersten
Abendstunden würden sonst die das Instrument zunächst
umgebenden Luftschichten eine bedeutend höhere Temperatur als
die äußere Luft zeigen, was eine Störung der
durchgehenden Lichtstrahlen und ein verwaschenes und zitterndes
Ausheben der im Fernrohr beobachteten Gestirne zur Folge haben
müßte. Der Meridianbau (s. Tafel) enthält in seinem
Ostflügel den Meridiansaal, dessen Längsachse in der
Richtung OW. liegt; er wird in nordsüdlicher Richtung von zwei
je 1 m breiten, durch Klappen verschließbaren Spalten
durchschnitten, unter denen der Meridiankreis von 16,2 cm
Öffnung und 1,9 m Brennweite und das Passageinstrument
aufgestellt sind. Diese Instrumente ruhen, um ihnen eine feste und
unveränderliche Aufstellung zu geben, auf starken Pfeilern,
die frei aus dem Boden aufsteigen und vom ganzen übrigen
Gebäude isoliert sind. Die äußern Grundmauern des
Gebäudes sind gleichfalls sehr stark und mit zwischenliegenden
Luftschichten aufgeführt, um die Instrumentenpfeiler
möglichst vor Temperaturschwankungen, welche Verziehungen
derselben zur Folge haben könnten, zu sichern; sie tragen ein
flaches Bogengewölbe, durch das jene Pfeiler frei
hindurchgehen. Der Fußboden ist in der
verhältnismäßig beträchtlichen Höhe von
fast 5 m über der Erde angelegt, um die Gesichtslinien der
Instrumente auch bei nahezu horizontaler Stellung des Fernrohrs aus
dem Bereich der an der Erdoberfläche stattfindenden
unregelmäßigen Strahlungen zu bringen. Der Oberbau des
Meridiansaals ist aus Eisen konstruiert; Wandung und Dach sind aus
verzinntem Wellenblech hergestellt und außen mit einer
jalousieartigen Holzverkleidung versehen, um die Innentemperatur
des Raums möglichst gleich der äußern
Schattentemperatur zu machen und auf diese Weise sowohl alle
störenden Luftströmungen durch die geöffneten
Spalten zu vermeiden als auch namentlich die Bildung von nach oben
wärmer werdenden Luftschichten zu verhindern, wodurch auch die
obern und untern Teile der Instrumente sich ungleich erwärmen
und infolgedessen ihre genaue Gestalt verlieren würden. Der
Westflügel des Meridianbaues wird im N. und S. von zwei mit
Drehkuppeln versehenen Türmen begrenzt, die sich bis zur
Höhe von 20 m erheben. In dem südlichen Turm ist
aufgestellt der Bahnsucher, in dem nördlichen das Altazimut
mit einem Fernrohr von 13,6 cm Öffnung und 1,5 m Brennweite,
welche Instrumente auf sehr starken, vom übrigen Gebäude
völlig getrennten Pfeilern ruhen. Diese verjüngen sich
nach oben, sind im Innern bis auf radiale Versteifungen hohl und
werden zum Schutz gegen Wärmeänderungen, welche leicht
merkliche Schwankungen der 16 m hohen Pfeiler verursachen
könnten, von einem Hohlcylinder aus Backsteinen
eingeschlossen. Um diesen windet sich dann die Wendeltreppe, die
von der äußern Turmwand getragen wird. Die beiden
drehbaren Kuppeln haben einen Durchmesser von 5,5 m; die
südliche ist ganz ähnlich der des Refraktorbaues, die
nördliche dagegen ist, weil das unter ihr befindliche
Altazimut eine besonders große Öffnung derselben bei der
Beobachtung erforderte, durch einen senkrecht durch ihren Scheitel
gelegten Schnitt in zwei gleiche Hälften geteilt, die sich
durch einen Bewegungsmechanismus bis zum Abstand von 2,5 m
voneinander entfernen lassen. Die Galerien und Terrassen, welche
die beiden Kuppeln umgeben, können ebenfalls mit Wasser
berieselt werden. Außer den erwähnten
Meßwerkzeugen besitzt die Sternwarte noch eine Anzahl
kleinerer Instrumente, ein Heliometer, ein transportables
Passageinstrument, welche im Freien unter Bedachung ihre
Aufstellung gefunden haben, etc.

Übersicht der bedeutendsten Sternwarten.

Sternwarte Länge in Bogen von Greenwich Breite

Deutschland.

Berlin ö. 13° 23' 43" +52° 30' 16,7"

Bonn ö. 7 5 58 +50 43 45,0

Bothkamp b. Kiel (Priv.) ö. 10 7 42 +54 12 9,6

Breslau ö. 17 2 16 +51 6 56,5

Danzig ö. 18 39 51 +54 21 18,0

Düsseldorf (Bilk) ö. 6 46 13 +51 12 25,0

Gotha ö. 10 42 37 +50 56 37,5

Göttingen ö. 9 56 33 +51 31 47,9

Hamburg ö. 9 58 25 +53 33 7,0

Kiel ö. 10 8 52 +54 20 29,7

Königsberg ö. 20 29 43 +54 42 50,6

Leipzig ö. 12 23 30 +51 20 6,3

Lübeck ö. 10 41 24 +53 51 31,2

Mannheim ö. 8 27 41 +49 29 11,0

Marburg ö. 8 46 15 +50 48 46,9

München (Bogenhausen) ö. 11 36 28 +48 8 45,5

Straßburg ö. 7 45 35 +48 34 55,0

Wilhelmshaven ö. 8 8 48 +53 31 57,0

Österreich.

Krakau ö. 19 57 37 +50 3 50,0

Kremsmünster ö. 14 8 3 +48 3 23,7

Pola ö. 13 50 52 +44 51 49,0

Prag ö. 14 25 19 +50 5 18,5

Wien ö. 16 22 55 +48 12 35,5

Wien (Josephstadt) ö. 16 21 19 +48 12 53,8

Schweiz.

Bern ö. 7 26 24 +46 57 6,0

Genf ö. 6 9 16 +46 11 58,8

Neuchâtel ö. 6 57 31 +47 0 1,2

Zürich ö. 8 32 58 +47 22 42,1

Niederlande u. Belgien.

Leiden ö. 4 29 3 +52 9 20,3

Utrecht ö. 5 8 1 +52 5 10,5

Brüssel ö. 4 22 8 +50 51 10,7

Großbritannien.

Armagh w. 6 38 53 +54 21 12,7

Birr Castle w. 7 55 14 +53 5 47,0

Cambridge ö. 0 5 40 +52 12 51,6

Dublin w. 6 20 31 +53 23 13,0

Durham w. 1 34 57 +54 46 6,2

Edinburg w. 3 10 54 +55 57 23,2

Glasgow w. 4 17 39 +55 52 42,6

Greenwich 0 0 0 +51 28 38,4

Liverpool w. 3 4 17 +53 24 3,8

Markree w. 8 27 2 +54 10 31,8

Oxford w. 1 15 39 +51 45 36,0

Portsmouth w. 1 5 55 +50 48 3,0

Tulse Hill w. 0 6 56 +51 26 47,0

Rußland.

Abo (aufgelöst) ö. 22 17 2 +60 26 56,8

Charkow ö. 36 13 40 +50 0 10,2

Dorpat ö. 26 43 22 +58 22 47,1

Helsingfors ö. 24 57 16 +60 9 42,3

Kasan ö. 49 7 13 +55 47 24,2

Kiew ö. 30 30 16 +50 27 12,5

Moskau ö. 37 34 13 +55 45 19,8

Nikolajew ö. 31 58 31 +46 58 20,6

Odessa ö. 30 45 35 +46 28 36,2

Petersburg ö. 30 18 22 +59 56 29,7

Pulkowa ö. 30 19 38 +59 46 18,7

Warschau ö. 21 1 50 +52 13 5,7

Wilna ö. 25 17 58 +54 41 0,0

Schweden u. Norwegen.

Lund ö. 13° 11' 15" +55° 41' 54,0"

Stockholm ö. 18 3 32 +59 20 34,0

Upsala ö. 17 37 30 +59 51 31,5

Christiania ö. 10 43 32 +59 54 43,7

Dänemark.

Kopenhagen ö. 12 34 47 +55 41 13,6

Italien.

Bologna ö. 11 21 9 +44 29 47,0

Florenz ö. 11 15 22 +43 46 4,1

Mailand ö. 9 11 31 +45 28 0,7

Modena ö. 10 55 42 +44 38 52,8

Neapel ö. 14 14 42 +40 51 45,4

Padua ö. 11 52 14 +45 24 2,5

Palermo ö. 13 21 1 +38 6 44,0

Rom ö. 12 28 50 +41 53 53,7

Turin ö. 7 42 5 +45 4 6,0

Venedig ö. 12 21 11 +45 25 49,5

Frankreich.

Marseille ö. 5 23 50 +43 18 19,1

Paris ö. 2 20 13 +48 50 11,2

Toulouse ö. 1 27 44 +43 36 47,0

Spanien.

Madrid w. 3 41 18 +40 24 29,7

San Fernande w. 6 12 33 +36 27 40,4

Portugal.

Lissabon w. 9 6 15 +38 42 15,2

Griechenland.

Athen ö. 23 43 55 +37 58 20,0

Vereinigte Staaten von Nordamerika.

Albany w. 73 44 35 +42 39 49,6

Alfred Centre w. 77 46 46 +42 15 19,8

Alleghany-City w. 80 0 49 +40 27 36,0

Ann Arbor w. 83 43 44 +42 16 48,0

Cambridge w. 71 7 41 +42 22 48,0

Chicago w. 87 36 38 +41 50 1,0

Cincinnatiw. 84 29 41 +39 6 26,5

Clinton w. 75 24 18 +43 3 16,5

Georgetown w. 77 4 30 +38 54 26,1

Licks Sternwarte w. 98 54 34 +19 25 17,0

Mew York w. 73 59 12 +40 43 48,5

Philadelphia w. 75 9 37 +39 57 7,5

Washington w. 77 3 2 +38 53 38,8

Südamerika

Cordova w. 64 11 15 -31 25 15,0

Rio de Janeiro w. 43 8 56 -22 53 51,0

Santiago de Chile w. 70 40 34 -33 26 42,0

Ostindien.

Madras ö. 80 14 19 +13 4 8,1

Australien.

Melbourne ö. 144 58 34 -37 49 53,4

Sydney ö. 151 11 27 -33 51 41,1

Williamstown ö. 144 54 38 -37 52 7,2

Windsor ö. 150 48 50 -33 36 29,2

Kapland.

Kap der Guten Hoffnung ö. 18 28 44 -33 56 3,0

1 1825—63 unter dem Direktorat von J. F. Encke. — 2
Bonn: Argelander, von 1837—75 Direktor, bearbeitete daselbst
seine ausgezeichneten Sternkarten. — 3 Gotha: Encke begann
hier seine astronomische Thätigkeit; ihm folgte 1825 im
Direktorat P. A Hansen — 4 Göttingen: K F Gauß
1807—55 Direktor. — 6 Königsberg: 1810—46 F.
W. Bessel Direktor. — 6 Prag: Tycho Brahe und Kepler haben
daselbst gewirkt. - 7 Greenwich: Halley beschloß hierselbst
als Direktor der Sternwarte seine ruhmreiche Thätigkeit; ihm
folgte 1725 Bradley. — 8 Abo: Argelanders
Fixsternbeobachtungen. — 9 Dorpat: W. Struves Untersuchungen
über Doppelsterne. 1840—66 J. H. Mädler Direktor. -
10 Pulkowa: 1839 — 65 W. Struve Direktor. — 11 Bologna:
Cassinis erste Beobachtungen. — 12 Palermo: Piazzi entdeckte
daselbst den ersten kleinen Planeten. — 13 Rom: Pater Secchis
(gest. 1878) spektralanalytische Untersuchungen. — 14 Paris:
Cassini erster Direktor 1669; spätere: Bouvard, Arago,
Leverrier.

307

Sternweite - Stettin.

Sternweite, Entfernung eines Fixsterns von der Sonne,
wenn seine jährliche Parallaxe (s. d.) eine Bogensekunde
beträgt, gleich 206,264,8 Erdbahnhalbmessern oder
ungefähr 30 2/3 Bill. km.

Sternwürmer, s. Gephyreen.

Sternzeit, die durch die scheinbare tägliche
Bewegung der Fixsterne bestimmte Zeit; vgl. Sonnenzeit und Tag.

Sterrometall, Legierung aus 55 Kupfer, 41 Zink und 4
Eisen, von großer Festigkeit und Zähigkeit, dient zu
Blech- und Gußwaren, Achsenlagern etc.

Stertmorchel, s. Phallus.

Stertor (lat.), das Röcheln (s. d.).

Stertz, ein steir. Nationalgericht, bestehend aus einem
aus Buchweizenmehl bereiteten großen Kloß, welcher mit
Speckgriefen und Milch genossen wird.

Sterzing, Stadt in Tirol, Bezirkshauptmannschaft Brixen,
am Eisack und an der Brennerbahn, 947 m ü. M.,
altertümlich gebaut, mit gotischer Pfarrkirche, schönem
gotischen Rathaus, einem Deutschordenshaus (1263 gestiftet),
Kapuzinerkloster, einem Bezirksgericht, Fabrikation von Sensen,
Sicheln, Beinlöffeln etc. und (1880) 1528 Einw.
Südöstlich das nunmehr ausgetrocknete Sterzinger Moos. S.
hieß zur Römerzeit Vipitenum. Gegenwärtig ist es
ein beliebtes Standquartier der Touristen. Vgl. Fischnaler S. am
Eisack (2. Aufl., Innsbr. 1885).

Stesichoros, der bedeutendste Vertreter der ältern
dorischen Lyrik, der "lyrische Homer" genannt, geb. um 630 v. Chr.
zu Himera in Sizilien, starb erblindet 556 in Catana. Von ihm
rührt die Einteilung der chorischen Lieder in Strophe,
Gegenstrophe und Epode her, auch galt er für den
Begründer des höhern frischen Stils. Seine von
Spätern in 26 Bücher eingeteilten Festgesänge
behandelten in prächtiger Darstellung vorwiegend epische
Stoffe; ebenso standen die einfachen metrischen Formen der epischen
nahe, wie auch der Dialekt der mit wenigen Dorismen gemischte
epische war. Wir besitzen von ihm nur Bruchstücke (in
Schneidewins "Delectus poesis Graecorum" , Götting. 1839, und
Bergks "Poetae lyrici graeci" , Bd. 3, 4. Aufl., Leipz. 1882).

Stethograph (griech.), ein Apparat, welcher die
Atmungsbewegungen einzelner Punkte des Brustkorbes in Form von
Kurven graphisch darstellt.

Stethoskop (griech.), s. Auskultation.

Stetig, fest, unbeweglich; ununterbrochen, fortdauernd.
Eine stetige (kontinuierliche) Größe ist eine solche,
deren Teile keine Unterbrechung zeigen, z. B. eine Linie im
Gegensatz zu einer Reihe voneinander getrennter (diskreter)
Punkte.

Stetigkeit, s. v. w. Kontinuität (s. d.).

Stetten, 1) (S. am Kalten Markt) Flecken im bad. Kreis
Konstanz, in rauher Gegend auf der Hardt, hat eine kath. Kirche,
Weißstickerei, Korsettnäherei und (1885) 1037 Einw.
-

2) Dorf im bad. Kreis Lörrach, im Wiesenthal, an der Linie
Basel-Zell i. W. der Badischen Staatsbahn, hat eine kath. Kirche,
Weinbau, Eisengießerei, Baumwollweberei,
Gewehrschäftefabrikation und (1885) 2186 Einw.

Stettenheim, Julius, humorist. Schriftsteller, geb. 2.
Nov. 1831 zu Hamburg, Sohn eines Kunsthändlers, verließ
1857 das väterliche Geschäft, in das er eingetreten war,
und begab sich nach Berlin, wo er studierte und gleichzeitig als
Schriftsteller auftrat. Unter den von ihm um jene Zeit
veröffentlichten Humoresken, Singspielen, Possen etc.
verdienen der "Almanach zum Lachen" (Berl. 1858-63) und das oft
gegebene Liederspiel "Die letzte Fahrt" (das. 1861) besondere
Hervorhebung. Nach vollendetem dreijährigen
Universitätskurs kehrte er nach Hamburg zurück und
gründete hier die bekannte humoristisch-satirische Zeitschrift
"Die Wespen", die jedoch erst eigentlichen Erfolg hatte, nachdem er
mit derselben Ende 1867 nach Berlin übergesiedelt war, wo im
Januar 1868 zuerst die "Berliner Wespen" erschienen, die er noch
gegenwärtig redigiert. S. ist einer der glänzendsten
Vertreter des satirischen Wortwitzes. Von seinen
Veröffentlichungen erwähnen wir noch: "Lohengrin",
humoristische Albumblätter (Berl. 1859); "Die Hamburger Wespen
auf der internationalen landwirtschaftlichen Ausstellung" (das.
1863); "Die Hamburger Wespen im zoologischen Garten" (das. 1863);
"Satirisch-humoristischer Volkskalender" (das. 1863); "Die Berliner
Wespen im Aquarium" (das. 1869); "Ungebetene Gäste", Posse
(das. 1869); "Berliner Blaubuch aus dem Archiv der Komik" (das.
1869-70, 2 Bde.); "Ein gefälliger Mensch", Posse (das. 1872);
"Wippchens sämtliche Berichte" (das. 1878-86, 5 Bde.);
"Muckenichs Reden und Thaten" (das. 1885); "Unter vier Augen" (das.
1885) u. a. Seit 1885 gibt er die illustrierte Monatsschrift "Das
humoristische Deutschland" (Bresl.) heraus.

Stettin (hierzu der Stadtplan), Hauptstadt der
preuß. Provinz Pommern und des gleichnamigen
Regierungsbezirks, Stadtkreis, an der Oder, Knotenpunkt der Linien
Berlin-Stargard, Breslau-S. und S.-Mecklenburgische Grenze, 7 m
ü. M., besteht aus der eigentlichen Stadt am linken
Flußufer mit ausgedehnten neuen Stadtteilen und
Vorstädten, welch letztere wegen der bis 1873 vorhandenen
Befestigung der innern Stadt zum Teil in großer Entfernung
von derselben angelegt sind, und aus der Lastadie und den
zugehörigen Anlagen am rechten User. Beide Ufer der Oder sind
für den allgemeinen Verkehr durch drei Brücken
(Baumbrücke, Lange Brücke und Neue Brücke)
verbunden; für den Eisenbahnverkehr sind über die Oder
und ihre Nebenströme besondere Überbrückungen
hergestellt. Die innere Stadt enthält acht Plätze: den
Paradeplatz, den Königsplatz mit den Statuen Friedrichs d. Gr.
(von Schadow) und Friedrich Wilhelms III. (von Drake), den
Roßmarkt mit monumentaler Fontäne, den Heumarkt und den
Neuen Markt, zwischen denen das alte Rathaus steht, den Marktplatz
und den Viktoriaplatz, durch das neue Rathaus getrennt, und den mit
Anlagen gezierten Kirchplatz. S. hat 6 evang. Kirchen, unter
welchen die in ihrer jetzigen Gestalt spätgotische Petrikirche
(1124 gegründet) als die erste christliche Kirche in Pommern
und die Jakobikirche (aus der zweiten Hälfte des 14. Jahrh.)
wegen ihrer Größe etc. bemerkenswert sind;
außerdem eine kath. Kirche (im Schloß), eine
Baptistenkapelle, eine Kirche der Altlutherischen, eine der
apostolischen Gemeinde und eine neue Synagoge. Andre hervorragende
Gebäude sind: das königliche Schloß (1575 erbaut),
jetzt Sitz der Regierung und des Oberlandesgerichts, das
Militärkasino, das Schauspielhaus, die Börse, das
Vereins- und Konzerthaus, der Zirkus, das neue großartige
Krankenhaus (auf einer Anhöhe vor der Stadt, vgl. den Plan bei
Art. "Krankenhaus") etc. Bemerkenswert sind ferner zwei von
Friedrich Wilhelm I. erbaute monumentale Thorgebäude
(Königsthor und Berliner Thor), welche, seit Abtragung der
Wälle freigelegt und von der Stadt

Wappen von Stettin.

STETTIN.

Albrecht-Straße

Arndt-Platz

Arndt-Straße

Artillerie-Kaserne

Artillerie-Straße

Artillerie-Zeughaus

Augusta-Straße

Bäckerberg-Straße

Badeanstalt

Bahnhof

Barnim-Straße

Baum-Brücke

Baum-Straße

Bellevue

Bellevue-Straße

Berg-Straße

Berliner Thor, Am

Birken-Allee

Bismarck-Platz

Bismarck-Straße

Bleichholm

Blumen-Straße

Bollwerk

Börse

Breite-Straße

Buggenhagen-Straße

Bürger-Ressource

Burg-Straße

Charlotten-Straße

Deutsche-Straße

Dom Straße, Große

Dom Straße, Kleine

Elisabeth-Straße

Exerzierplatz

Falkenwalder Straße

Fischer-Straße

Fort Preußen

Frauen-Straße

Friedrich-Karl-Straße

Friedrich-Straße

Friedrichs II. Denkmal

Friedrichs Wilhelms III. Denkmal

Fuhr-Straße

Furage-Magazin

Galg-Wiese

Garnison-Lazarett

Garten-Straße

General-Kommando

Gertruden-Kirche

Giesebrecht-Straße

Grabow

Grabower Straße

Grüner Graben

Grüne Schanze

Grünhof

Gastav-Adolf-Straße

Gutenberg- Straße

Güter-Bahnhof

Gymnasium, Kaiser-Wilhelm

Gymnasium, Marienstifts-

Gymnasium, Stadt-

Hauptwache

Heilige Geist-Straße

Heilige Geist-Thor

Heumarkt

Hohenzollern-Platz

Hohenzollern-Straße

Holzmarkt

Holz-Straße

Hühnerbeiner Straße

In den Anlagen

Jageteufel-Straße

Jakobi-Kirche

Johannes-Kirche

Johannis-Kloster

Johannis-Straße

Kaiser-Wilhelm-Platz

Kaiser-Wilhelm-Straße

Karl-Straße

Kirchen-Straße

Kirchplalz

Kohlmarkt

Kommandantur

König-Albert Straße

Königs-Platz

Königs-Straße

Königsthor, Am

Krankenhaus

Krautmarkt

Kronenhof-Straße

Kronprinzen-Straße

Kurfürsten-Straße

Landgericht

Lange Brücke

Lastadie

Linden-Straße

Loge

Logen-Garten.

Löwe-Straße

Luisen-Straße

Lutherischer Kirchhof

Marien-Platz

Marktplatz

Masches Insel

Militär-Kirchhof, Alter

Militär-Kirchhof, Neuer

Mittwoch-Straße

Moltke-Straße

Mönchen-Straße

Münz-Straße

Museum

Neue Brücke

Neuer Markt

Ober-Wick

Oder-Straße, Große

Oder-Straße, Kleine

Offizier-Kasino

Papen-Straße

Parade-Platz

Parnitzer Bollwerk

Passauer Straße

Pelzer Straße

Pölitzer Straße

Polizei-Direktion

Post

Preußische Straße

Prutz-Straße

Rahms Insel

Rathaus

Realschule

Reformierter Kirchhof

Reichsbank

Reifschläger-Straße

Rosengarten-Straße

Roßmarkt

Roßmarkt-Straße

Sankt Petri-Kirche

Sanne-Straße

Schiller-Straße

Schloßkirche

Schloß, Königliches

Schuh-Straße

Schulzen-Straße

Schützengarten

Schwerin-Straße

Schwimm-Anstalt

Sellhaus-Bollwerk

Silberwiese

Speicher-Straße

Synagoge

Tattersall

Theater

Töpfers Park

Töpfers Park-Straße

Turner-Straße

Unter-Wick

Viktoria-Platz

Wall-Straße

Westend

Wilhelm-Straße

Wollweher-Straße, Große

Wrangel-Straße

Zeughaus

Zirkus

Zum. Artikel "Stettin".

308

Stettiner Haff - Steub.

entsprechend ausgebaut, den Mittelpunkt breiter, mit Anlagen
versehener Passagen bilden. Die Zahl der Einwohner belief sich 1885
mit der Garnison (ein Grenadierregiment Nr. 2, 2 Füsilierbat.
Nr. 34 und 2 Abteilungen Feldartillerie Nr. 2) auf 99,543 Seelen,
darunter 2881 Katholiken, 923 sonstige Christen und 2501 Juden. Die
Industrie ist bedeutend. S. hat große Eisengießereien
und Maschinenfabriken, darunter die große Maschinenfabrik und
Schiffbauanstalt "Vulkan" in Bredow (s. d.) mit 4-5000 Arbeitern,
Fabrikation von chemischen Produkten (in Pommerensdorf) mit 800-900
Arbeitern, Zementfabriken (in Züllchow, Bredow und Podejuch)
mit 300-600 Arbeitern, große Mühlenetablissements (in
Züllchow), ferner Fabriken für Zucker, Zichorie,
Parfümerien, Seife, Stearin, Öl, feuerfeste
Geldschränke, Kartonagen, Dachpappe etc., Gartenbau,
Bierbrauerei und Branntweinbrennerei. Für den Handel, der
durch eine Handelskammer, eine Börse, eine Reichsbankstelle
(Gesamtumsatz 1887: 756 Mill. Mk.) und andre große
Geldinstitute unterstützt wird, ist S. der erste Seeplatz des
preußischen Staats. Ausgeführt werden vorzüglich:
Getreide, Mehl, Sprit, Ölfrüchte, Holz, Chemikalien,
Kartoffeln, Heringe, Zichorie, Zucker, Steinkohlen, Zink etc.,
dagegen werden eingeführt: Eisen und Eisenwaren, Erden und
Erze, Getreide, Mehl, Bau- und Nutzholz, Heringe, Reis, Fettwaren,
Petroleum, Steine, Schiefer, Steinkohlen etc. Der Wert der 1887
eingeführten Waren betrug 16,760,036 Mk., der
ausgeführten Waren 17,019,190 Mk. Die Stettiner Reederei
zählte 1887: 193 Schiffe, darunter 58 Seedampfer, mit zusammen
44,259 Registertonnen Raumgehalt. In den Hafen liefen ein 1887:
3826 Schiffe zu 1,116,438 Registertonnen, es liefen aus: 3884
Schiffe zu 1,142,427 Registertonnen. Regelmäßige
Dampferverbindungen unterhält S. mit den wichtigsten
Häfen der Ostsee, mit London und New York. An Bildungs- und
andern ähnlichen Anstalten besitzt S. 3 Gymnasien, 2
Realgymnasien, eine Handelsschule, ein Lehrerinnenseminar, eine
Taubstummen- und eine Blindenanstalt, ein Stadt-, ein pommersches
und ein antiquarisches Museum, einen Verein für
Altertumskunde, einen Kunstverein, mehrere Theater etc.; ferner:
eine Hebammenlehranstalt, ein Johanniskloster,
Diakonissenanstalten, ein Mädchenrettungshaus u. a. m. S. ist
Sitz eines Oberpräsidiums, einer königlichen Regierung,
eines Konsistoriums, eines Medizinal- und eines
Provinzial-Schulkollegiums und einer Provinzial-Steuerdirektion,
der Provinzialverwaltung , der pommerschen
Generallandschaftsdirektion, einer Rentenbank für die
Provinzen Pommern und Schleswig-Holstein, eines Oberlandes- und
eines Landgerichts, einer Oberpostdirektion, eines Seeamtes, eines
Landratsamtes (für den Kreis Randow) etc.; ferner: des
Generalkommandos des 2. Armeekorps, des Kommandos der 3. Division,
der 5. und 6. Infanterie-, der 3. Kavallerie- und der 2.
Feldartilleriebrigade. - Zum Landgerichtsbezirk S. gehören die
14 Amtsgerichte zu Altdamm, Bahn, Gartz a. O., Greifenhagen,
Kammin, Neuwarp, Pasewalk, Penkun, Pölitz, Stepenitz, S.,
Swinemünde, Ückermünde und Wollin. Geschichte. S.
ist schon im 11. Jahrh. gegründet worden, erscheint aber erst
im 12. Jahrh., seit der Zerstörung von Jumne durch die
Dänen, als der erste Seehandelsplatz an der Oder. Von Herzog
Barnim I. erhielt es 1243 Stadtrecht. Seit 1107 war es Sitz eines
pommerschen Fürstenhauses und blieb es, den Zeitraum von 1464
bis 1532 abgerechnet, bis zum Aussterben der einheimischen
Dynastie. 1360 trat es dem Hansabund bei und nahm 1522 die
Reformation an. Hier wurde im Dezember 1570 ein Friede zwischen
Schweden und Dänemark unter Vermittelung des Kaisers
geschlossen. Am 11. Juli 1630 wurde S. Gustav Adolf
eingeräumt, der große Verbesserungen an der Befestigung
vornahm. Im Westfälischen Frieden nebst Vorpommern an Schweden
abgetreten, ward die Stadt 6. Jan. 1678 von dem Kurfürsten von
Brandenburg durch Kapitulation eingenommen, aber schon 1679 an
Schweden zurückgegeben. Eine abermalige Belagerung hatte sie
1713 im Nordischen Krieg von den verbündeten Russen und
Sachsen auszuhalten, wurde infolge einer Übereinkunft (29.
Sept.) von Preußen und Holstein besetzt und erst im Frieden
von Stockholm 1720 nebst Vorpommern an Preußen abgetreten.
Nach der Katastrophe von 1806 ward die Festung 29. Okt. vom General
v. Romberg ohne Widerstand den Franzosen übergeben, die sie
bis 5. Dez. 1813 besetzt hielten. Durch das Reichsgesetz über
den Umbau der deutschen Festungen (19. Mai 1873) ist die Festung S.
aufgehoben. Vgl. Thiede, Chronik von S. (Stett. 1849); Berghaus,
Geschichte der Stadt S. (Wriezen 1875-76, 2 Bde.); Th. Schmidt, Zur
Geschichte des Handels und der Schiffahrt Stettins 1786-1846
(Stett. 1875); K. F. Meyer, S. zur Schwedenzeit (das. 1886); W. H.
Meyer, S. in alter und neuer Zeit (das. 1887). Der Regierungsbezirk
S. (s. Karte "Pommern") umfaßt 12,074 qkm (219,29 QM.) mit
(1885) 728,046 Einw. (darunter 709,671 Evangelische, 8871
Katholiken und 6832 Juden) und 13 Kreise:

Kreise QKilom. QMeil. Einwohner Einw. auf 1 qkm

Anklam 648 11,77 31088 48

Demmin 984 17,87 46464 47

Greifenberg 764 13,88 36257 47

Greifenhagen 964 17,51 52158 54

Kammin 1135 20,63 43626 38

Naugard 1228 22,30 55208 45

Pyritz 1045 18,98 43968 42

Randow 1316 23,90 109462 83

Regenwalde 1190 21,61 46036 40

Saatzig 1220 22,16 66688 55

Stettin (Stadt) 60 1,09 99543 -

Ückermünde 831 15,09 48693 59

Usedom- Wollin 689 12,51 48855 71

Stettiner Haff, s. Pommersches Haff.

Steub, Ludwig, Schriftsteller, geb. 20. Febr. 1812 zu
Aichach in Oberbayern, siedelte mit seinen Eltern später nach
München über und studierte daselbst erst Philologie, dann
aber Rechtswissenschaft. 1834 ging er nach Griechenland, wo er erst
eine Stelle im Büreau der Regentschaft zu Nauplia, dann auf
dem Staatskanzleramt zu Athen bekleidete und bis 1836 blieb. Nach
seiner Rückkehr, die ihn über Rom, Florenz und Venedig
führte, ließ er sich in München nieder, wurde hier
1845 zum Anwalt, 1863 zum Notar ernannt und starb 16. März
1888. Steubs Schriften behandeln vorzugsweise die ethnographischen
und kulturhistorischen Verhältnisse der Alpenländer;
hierher gehören zunächst: "Über die Urbewohner
Rätiens und ihren Zufammenhang mit den Etruskern" (Münch.
1843); "Zur rätischen Ethnologie" (Stuttg. 1854); "Die
oberdeutschen Familiennamen" (Münch. 1870); "Onomatologische
Belustigungen aus Tirol" (Innsbr. 1879); "Zur Namens- und
Landeskunde der Deutschen Alpen" (Nord l. 1885) und "Zur Ethnologie
der Deutschen Alpen" (Salzb. 1887). Mit vielem Glück hat S.
sodann die

309

Steuben - Steuerbewilligung.

Ergebnisse strenger Forschung in das Gewand des gefällig
unterhaltenden Reisebildes zu kleiden gewußt, so in: "Drei
Sommer in Tirol" (Münch. 1846; 2. Aufl., Stuttg. 1871, 3
Bde.); "Aus dem bayrischen Hochland" (das. 1850); "Das bayrische
Hochland" (Münch. 1860); "Wanderungen im bayrischen Gebirge"
(das. 1862); "Herbsttage in Tirol" (das. 1867); "Altbayrische
Kulturbilder" (Leipz. 1869); "Lyrische Reisen" (Stuttg. 1878) und
"Aus Tirol" (das. 1880). Eine Frucht seines Aufenthalts in
Griechenland waren die "Bilder aus Griechenland "(Leipz. 1841, 2.
Ausg. 1885). Außerdem veröffentlichte er
Belletristisches, wie: "Novellen und Schilderungen" (Stuttg. 1853),
"Deutsche Träume", Roman (Braunschweig 1858, 3 Bde.), die
Erzählungen: "Der schwarze Gast" (Münch. 1863), "Die Rose
der Sewi" (Stuttg. 1879), die Lustspiele: "Das Seefräulein"
und "D1e Römer in Deutschland" (1873), "Sängerkrieg in
Tirol", Erinnerungen aus den Jahren 1842-44 (Stuttg. 1882), u. a.
Seine "Kleinern Schriften" erschienen gesammelt Stuttgart 1873-75,
4 Bde.; seine "Gesammelten Novellen" daselbst 1881 (2. Aufl. 1883).
In der "Deutschen Bücherei" erschien von ihm: "Mein Leben"
(mit Anhang von Felix Dahn: "Über Ludwig S.", Bresl.
1883).

Steuben, 1) Friedrich Wilhelm von, amerikan. General,
geb. 15. Nov. 1730 zu Magdeburg, wo sein Vater preußischer
Ingenieurhauptmann war, trat 1747 als Fahnenjunker in das
preußische Infanterieregiment Lestwitz, ward 1753 Leutnant,
machte den Siebenjährigen Krieg meist als Adjutant mit
Auszeichnung mit, nahm nach dem Ende desselben als Kapitän
seinen Abschied, ward Hofmarschall des Fürsten von
Hohenzollern-Hechingen und trat 1775 als Oberst in badische
Dienste. Er begab sich 1777 auf Veranlassung des französischen
Ministers Saint-Germain und Beaumarchais' nach Nordamerika, wo er
1778 als Generalmajor und Generalinspektor der Armee in die Dienste
der Vereinigten Staaten trat, erwarb sich um die Disziplinierung,
die Organisation und die Einübung der Truppen große
Verdienste, war auch zeitweilig Generalstabschef Washingtons, der
ihn besonders hochschätzte, und beteiligte sich in
hervorragender Weise am Entwerfen der Operationspläne. 1780
ward er Greenes Generalquartiermeister in Virginia, wo er auch
selbständig operierte und mit kleinen Mitteln bedeutende
Erfolge errang. Trotz seiner Verdienste mußte er nach
Beendigung des Kriegs sieben Jahre warten, ehe der Kongreß
seinen Ansprüchen auf Entschädigung seiner Verluste und
eine Pension einigermaßen gerecht wurde; doch machten ihm
einige Staaten Landschenkungen. S. lebte nach seiner Verabschiedung
teils in New York, teils aus seiner Farm in Oneida County, wo er
28. Nov. 1794 starb. Vgl. F. Kapp, Leben des amerikanischen
Generals F. W. v. S. (Berl. 1858).

2) Karl von, franz. Maler, geb. 19. April 1788 zu Bauerbach in
Baden, bildete sich in Paris unter David und Gros und malte nach
dem Vorbild dieser Meister eine große Zahl von
Geschichtsbildern von theatralischer Haltung, darunter Peter d. Gr.
in einem Sturm auf dem Ladogasee (1813), der Schwur auf dem
Rütli, Tell den Nachen von sich stoßend, Peter d. Gr.
als Kind durch seine Mutter vor den aufständischen Strelitzen
gerettet, Napoleons I. Rückkehr von Elba und Napoleons I. Tod,
die Schlachten von Tours, Poitiers und Waterloo (im Museum zu
Versailles) u. a. Er starb 21. Nov. 1856 in Paris.

Steubenville (spr. stuhbenwill), nach Steuben 1) benannte
Stadt im nordamerikan. Staat Ohio, am Ohio, hat lebhaften Verkehr,
eine höhere Schule, ein sehr geschätztes Seminar für
Mädchen und (1880) 12,097 Einw. In der Nähe sind
Kohlengruben.

Steud., bei botan. Namen Abkürzung für H.
Steudner (s. d.).

Steudner, Hermann, Naturforscher und Afrikareisender,
geb. 1832 zu Greiffenberg in Schlesien, studierte in Berlin und
Würzburg Botanik und Mineralogie und ließ sich dann
durch Barth zur Teilnahme an der deutschen Expedition nach den
Nilländern unter Heuglin gewinnen. Er begleitete denselben
1861 über Massaua und Keren (im Lande der Bogos) nach Adoa,
Gondar und südlich davon über Magdala hinaus bis zum
Kriegslager des Kaisers Theodoros bei Edschebet. Die Rückreise
erfolgte vom Tsanasee ab in nordwestlicher Richtung zum Blauen Nil
und nach Chartum. 1863 reiste er wieder mit Heuglin und im
Anschluß an die Tinnésche Expedition von Chartum nach
dem Bahr el Ghasal und zum See Reck; bei seinem weitern Vorgehen
aber nach Westen über den Djurfluß erlag er in dem Dorf
Wau 1863 einer Krankheit. Seine sorgfältigen Berichte (in der
"Zeitschrift für allgemeine Erdkunde" 1862-64) sind um so
wichtiger, als weite von ihm bereiste Strecken vorher von einem
Botaniker von Fach noch nicht durchforscht waren.

Steuer, s. Steuerruder.

Steuerabwälzuug, s. Steuer, S. 312.

Steuerbewilliguug und Steuerverweigerung ist als Recht der
Volksvertretung nicht erst mit der konstitutionellen Staatsform
anerkannt worden. Die Entstehung dieser Befugnis reicht vielmehr
viel weiter zurück. Den mittelalterlichen Ständen in den
einzelnen deutschen Territorien, welche allerdings nicht die
Gesamtheit des Volkes, sondern nur gewisse bevorzugte Klassen
desselben vertraten, stand sie unbestritten zu. Aus dem Recht,
Steuern zu bewilligen, d. h. ihre Erhebung zuzulassen, entwickelte
sich aber auch ein Recht der Mitwirkung bei ihrer Verwendung, und
so entstand das parlamentarische Budgetrecht. In England
unterscheidet man dabei einen festen und einen beweglichen Teil des
Staatshaushalts. Zu dem festen Teil gehören alle diejenigen
Einnahmen, welche durch Gesetz auf unbestimmte Zeit, d. h. auf so
lange bewilligt sind, bis sie durch ein andres Gesetz aufgehoben
werden, und alle diejenigen Ausgaben, welchedem Betrag nach
gesetzlich feststehen. Von den Ausgaben für das Heer
abgesehen, welche in England alljährlich neu bewilligt werden
müssen, gehören die meisten Staatsausgaben dem festen
Teil des Budgets an. Dieser feste Teil unterliegt der
jährlichen Bewilligung nicht. Das Recht des Unterhauses bei
Feststellung des Staatshaushalts besteht nur in folgenden
Befugnissen: jeder neuen von der Regierung geforderten Steuer,
jeder Verlängerung einer nur periodisch oder auf einen
bestimmten Zeitraum eingeführten Steuer, jeder Erhöhung
oder Abänderung bestehender Steuern die Zustimmung versagen zu
können und in dem beweglichen Teil der Staatsausgaben die von
der Regierung geforderten Beträge im einzelnen abzusetzen oder
zu streichen. Je nach der Richtung, in welcher diese Befugnisse
ausgeübt werden, spricht man von einer Bewilligung oder
Verweigerung der Steuern. Diese beiden Rechte sind offenbar
Korrelate: man kann nur bewilligen, was man auch verweigern
dürfte. Die meisten Verfassungen enthalten gegenwärtig
die Bestimmung, daß alle Einnahmen und Ausgaben des Staats
jährlich auf den Staatshaushaltsetat gebracht und dort
bewilligt werden müssen. Infolgedessen kann ein

310

Steuerbord - Steuern.

Widerspruch zwischen einem Gesetz und einem
Geldbewilligungsbeschluß entstehen und damit ein Konflikt,
dessen Lösung nicht durch eine Interpretation des geltenden
Rechts herbeigeführt, sondern der als eine Machtfrage
behandelt wird. Ein solcher Konflikt war der preußische
"Militärkonflikt", der von 1862 bis 1866 währte.
übrigens bleiben Steuergesetze, welche auf die Dauer erlassen
sind, so lange wirksam , bis sie auf verfassungsmäßigem
Weg wieder aufgehoben werden; gleichviel ob das Budget zu stande
kommt oder nicht. Dies ist z. B. in der preußischen
Verfassungsurkunde (Artikel 109) ausdrücklich anerkannt. Um
der Volksvertretung ein wirksames Recht der S. u. S. zu geben, ist
notwendig, daß wenigstens Eine periodische und bewegliche
Steuer vorhanden sei, durch deren Bewilligung oder Verweigerung die
Volksvertretung einen Einfluß auf die beweglichen Ausgaben
gewinnt. Im Deutschen Reich ersetzen die Matrikularbeiträge
diese periodische, bewegliche Steuer, und durch sie übt der
Reichstag ein Recht der S. u. S. Vgl. Gneist, Budget und Gesetz
(Berl. 1867); Laband, Das Budgetrecht (das. 1871).

Steuerbord, die rechte Seite des Schiffs, wenn man in der
Richtung von hinten nach vorn sieht. Der Ausdruck stammt daher,
daß der Steuermann eines mit einem Riemen oder losen Ruder
gesteuerten Fahrzeugs seinen Platz an dessen hinterm Ende auf
dieser Seite hatte. Vgl. Bord.

Steuerbuch, s. v. w. Kataster (s. d.).

Steuereinheit, die Maßeinheit der Gegenstände,
für welche die Steuer ausgeworfen ist; dieselbe kann, wie bei
spezifischen Zöllen, in Stückzahl, Maß oder Gewicht
(100 kg) oder, wie bei Wertzöllen und den meisten Steuern, in
einer Geldsumme angegeben sein. Auch ist S. s. v. w. einfacher
Steuersatz oder Simplum, d. h. gleich der Summe, welche als normale
Steuerhöhe für die Einheit der Steuerbemessungsgrundlage
angegeben ist und je nach Bedarf des Staats in einem mehrfachen
Betrag zur Erhebung gelangt. Das Steuersimplum hat besonders seine
Bedeutung für die Fälle, in welchen ein eignes
Steuerkapital (s. d.) berechnet oder überhaupt eine Steuer als
bewegliche in der Art benutzt wird, daß dieselbe eine
Ergänzung der übrigen Steuern bildet. Letzteres ist der
Fall bei der englischen Einkommensteuer, welche vorzüglich zur
Deckung von etwanigem Mehrbedarf bestimmt ist, während die
preußische Einkommensteuer in einem festen Prozentsatz vom
Einkommen erhoben wird.

Steuerfundation, Steuerdeckung, die Sicherung, welche
gegen Entwertung von Staatspapiergeld dadurch geboten wird,
daß dasselbe an öffentlichen Kassen an Zahlungs Statt
angenommen wird, allenfalls in Verbindung mit dem Zwang, daß
bei Meidung eines Strafagios wenigstens ein Teil der Steuern in
Papiergeld (s. d.) entrichtet werden muß.

Steuerfuß, das Verhältnis der Steuer zu
derjenigen Summe, von welcher sie erhoben wird. So ist, wenn von
einem Einkommen von 4-5000 Mk. 100 Mk. entrichtet werden, der S.
gleich 0,020-0,025 oder, auf 100 als Einheit bezogen, gleich 2-2,5
Proz. Auch wird die Summe, welche von der Einheit der
Bemessungsgrundlage, mag dieselbe in einer Geldsumme bestehen oder
nicht, als S. bezeichnet. Insofern wird auch von einem S. bei dem
Dimensionsstempel (s. Stempel) oder bei Zöllen gesprochen,
welche nach Maß, Gewicht oder Stückzahl erhoben
werden.

Steuergemeinschaft nennt man zum Zweck einer
gleichmäßigen Besteuerung geschlossene
Staatenverbindungen. So bilden die norddeutschen Gliederstaaten mit
Elsaß-Lothringen eine S. für Erhebung wichtiger
Verbrauchssteuern.

Steuerkapital, bei verschiedenen direkten Steuern die
Summe, für welche die Steuer als ein Bruchteil in der Art
ausgeworfen ist, daß die relative Steuerhöhe
(Steuerfuß) für alle steuerpflichtigen Personen oder
Gegenstände als gleich erscheint. Ein S. wird vorzüglich
zu dem Zweck berechnet, um in Fällen, in welchen es an einem
Vergleichsmaßstab für verschiedene Steuern fehlt, eine
Einheit zu schaffen und dann nach Bedarf für alle
gleichmäßig die Steuer in einem Ansatz erhöhen oder
herabsetzen zu können. Die Einkommensteuer kann in der Art
ausgeworfen werden, daß in einer Tabelle die Summen
(Prozente) angegeben sind, welche von den verschiedenen
Einkommenshöhen erhoben werden. Nach Bedarf könnte ein
Mehrfaches aller Prozente einverlangt werden. Zahlt man z. B. von
6000 Mk. 3 Proz., von 1000 Mk. 1 Proz., und muß die Einnahme
auf das Doppelte gesteigert werden, so erhebt man einfach im einen
Fall 6, im andern 2 Proz. Statt dessen kann aber auch der
Prozentsatz scheinbar gleich gemacht werden. So könnte, wenn
1000 Mk. das niedrigste noch zu besteuernde Einkommen ist, die
Summe als Einheit angenommen werden, von welcher 10 Mk. als
Steuersimplum (1 Proz.) zu erheben sind. Von 6000 Mk. wären
für gewöhnlich 3 Simpeln zu bezahlen. Um aber auch hier
auf 1 Simpel zu kommen, beziffert man das S. für ein Einkommen
von 6000 Mk. auf 18,000 Mk., von welchen ein Simplum sich auf 180
Mk. stellt. Seine eigentliche Bedeutung gewinnt aber die
Aufstellung eines Steuerkapitals für diejenigen Steuern,
welche nach äußern Merkmalen gemessen werden; so
insbesondere für die Gewerbesteuer, zumal wenn diese Steuern
mit progressivem Steuerfuß angelegt sind. Man bestimmt dann
Steuerkapitalien für gewerbliche Unternehmungen, Grund und
Boden, Gebäude, ferner für andre Einkommensquellen mit
genau bestimmbaren Erträgen und erhält eine Gesamtsumme
für das ganze Staatsgebiet, von welcher der Normalbedarf das
Simplum (berechnet für 100 oder 1000) ausmacht. Ist der Bedarf
m-mal so groß, so werden m Simpla ausgeschrieben und
erhoben.

Steuerkontingent, der bestimmte von einer Gesamtheit von
Pflichtigen und auf die letztern zu verteilende Steuerbetrag, s.
Kontingentierung der Steuern.

Steuerkredit, s.Steuern, S. 313, vgl. auch
Zölle.

Steuermann, auf Kriegsschiffen der Deckoffizier, welcher
unter Verantwortlichkeit des wachthabenden Offiziers die
Navigierung des Schiffs leitet, das Steuern beaufsichtigt, loggt
und den Wachthabenden bei Beobachtungen unterstützt. Auf
Handelsschiffen steht der S. zunächst unter dem Kapitän,
beaufsichtigt das Steuern, die Takelung, das Ankergerät etc.
Er muß im Stande sein, alle Instrumente und die Seekarten
richtig zu benutzen und das Schiff bei jedem Wetter zu
manövrieren; im Notfall vertritt er den Kapitän. Er
erwirbt seine Qualifikation durch eine reichsgesetzlich geregelte
Prüfung für große oder kleine Fahrt. Vgl. Marine,
S. 252.

Steuern im weitern Sinn sind alle nicht auf privatrechtlichem
Titel beruhenden Abgaben, welche die Angehörigen einer
öffentlich-rechtlichen Gemeinschaft an die letztere
entrichten. Sie umfassen somit auch Gebühren, Strafgelder etc.
sowie solche Abgaben, deren Zweck keineswegs eine
Einnahmebeschaffung ist (sogen. Polizeisteuern, echte Luxussteuern,
welche den Luxus hindern sollen, etc.). Heute versteht man unter
denselben Beiträge, welche zum Zweck allgemeiner Ko-

311

Steuern (Allgemeines, Steuerpolitik).

stendeckung der Staats- oder Gemeindewirtschaft von Staats- oder
Gemeinde- (Kreis- etc.) Angehörigen sowie von im Staatsgebiet
sich aufhaltenden Ausländern zwangsweise erhoben werden.
Dadurch, daß die S. nicht zur Vergütung eines durch den
Zahlenden veranlaßten Aufwandes dienen sollen, unterscheiden
sich dieselben von den Gebühren. Bisweilen wird verlangt, die
Besteuerung solle auch als Mittel benutzt werden, um eine für
die untern Klassen günstigere Verteilung des Einkommens zu
bewirken (sogen. sozialpolitische Seite der S.). Während heute
der Zwang ein Merkmal der Steuerbegriffs bildet, war derselbe dem
letztern früher in Deutschland so fremd, daß V. L. v.
Seckendorff in seinem "Deutschen Fürstenstaat" von 1656 die S.
als "Extraordinar Anlagen" bezeichnete, welche "freywillig und als
guthertzige Beysteuern gereichet, und dahero auch in etlichen Orten
Bethen (nach andrer Schreibweise Beden oder Beeden), das ist
erbetene Einkünffte, anderswo auch Hülffen und Praesente
genennet werden". Diese Beden (petitiones, precariae, Heischungen)
wurden in Geld oder Naturalien entrichtet. Ritter und Geistliche
waren davon meist befreit. In außerordentlichen Fällen
wurden sogen. Notbeden gefordert. Auch Städte zahlten oft
Beden (Orbede) an den Landesherrn.

Auferlegte S. (Auflagen) wurden von den Germanen früher als
ein Zeichen der Unfreiheit betrachtet; noch in den ersten Zeiten
des Mittelalters durften die auf dem Reichstag bewilligten S. nur
von denen erhoben werden, die sie bewilligt hatten. Übrigens
waren die S. auch in der ältern germanischen Zeit durch die
Sitte mehr oder weniger gebotene Beiträge, welche in der Zeit,
als der Staatsgedanke mehr von privatrechtlichen Elementen
durchsetzt war, vertragsmäßig geregelt wurden
(Ordinarsteuern). Bei außerordentlichen Beihilfen
(Extraordinarsteuern) ließen sich die Landstände
landesfürstliche Reversbriefe ausstellen, "daß solche
Bewilligungen künfftig zu keiner ordentlichen Beschwerung oder
Aufflage gereichen sollten". Die Einnahmen aus S. flossen in die
der Aufsicht und Kontrolle der Landstände unterstellte
Steuerkasse, während die von den Landständen
unabhängige Kammerkasse die Einnahmen aus Domänen und
Regalien aufnahm. In den modernen Kulturstaaten unterliegt die
Besteuerung und die Verwendung der S. verfassungsmäßiger
Regelung und Bewilligung. Die durch Geburt, Ernennung und Wahl
bestimmten gesetzgebenden Gewalten ordnen die S. an, während
der einzelne Staatsangehörige sich solcher Anordnung zu
fügen hat (Steuerrecht des Staats, Steuerpflicht des
Staatsangehörigen). Vertritt hierbei die Regierung mit ihren
Anforderungen das Interesse der Verwaltung, so wahrt die
Volksvertretung mit ihrem Steuerbewilligungsrecht dasjenige der
Steuerzahler. Dem Steuerbewilligungsrecht entspricht das nicht dem
einzelnen Steuerzahler, sondern der Volksvertretung zustehende
Recht der Steuerverweigerung. Doch wird dies Recht nicht allein
durch die gesetzlich feststehenden Ausgaben, sondern überhaupt
durch die Notwendigkeit der Staatserhaltung praktisch
beschränkt. Die Praxis (in England) und das formale Recht (in
Deutschland) fassen das Steuerbewilligungsrecht auch nur in diesem
Sinn auf. Darum bleiben Steuergesetze, welche nicht für einen
bestimmten Zeitraum erlassen werden, so lange bestehen, als sie
nicht auf verfassungsmäßigem Weg (Übereinstimmung
der gesetzgebenden Gewalten) aufgehoben werden, während
für Einführung neuer S. die Bewilligung der
Volksvertretung erforderlich ist (vgl. Budget).

Steuerpolitik

Eine gute Steuerpolitik stellt folgende Anforderungen: I. Im
Interesse einer geordneten, echt staatswirtschaftlichen
Bedarfsdeckung soll 1) die Steuer sich als ausreichend erweisen. 2)
Ihr Ertrag soll genügend genau voraus bestimmbar sein und auch
pünktlich und sicher eingehen. 3) Die S. müssen
fähig sein, sich dem wechselnden Bedarf des Staats anzupassen,
ohne daß ihre Erhöhung oder Erniedrigung anderweite
Nachteile (z. B. Störungen der Verkehrs- und Erwerbsordnung)
im Gefolge hat.

II. Im Interesse der Steuerzahler liegt es, daß 1) die
Gesamtlast der Steuer richtig verteilt ist. Es soll
demgemäß sein a) die Steuerpflicht eine allgemeine und
zwar als subjektive, indem sie alle steuerpflichtigen Personen, als
objektive, indem sie alle pflichtigen Gegenstände
erfaßt. Steuerfreiheiten (Exemtionen, Steuerprivilegien)
widersprechen dem herrschenden Gerechtigkeitsgefühl.
Früher vielfach von privilegierten Ständen nicht allein
für ihren Grundbesitz, sondern auch für indirekte Abgaben
in Anspruch genommen, sind die Steuerfreiheiten in der neuern Zeit
meist (bei Grundsteuern in der Regel gegen Gewährung von
Entschädigung) aufgehoben worden. Dauernde Freiheiten von
direkten S. (allen, bez. einzelnen) genießen heute meist das
Staatsoberhaupt (in Preußen auch die 1866 depossedierten
Fürstenhäuser), ehemals reichsunmittelbare Standesherren
(in Preußen nur für ihre Domanialgrundstücke),
Gesandte fremder Mächte, Offiziere für den Fall der
Mobilmachung, Beamte für einen Teil der Gemeindesteuer. Dann
wird freigelassen nicht allein der Arme, sondern auch von der
Einkommensteuer das sogen. Existenzminimum in England bis zu 150
Pfd. Sterl., in Preußen bis zu 900 Mk. Vorübergehende
Befreiungen, insbesondere von Ertragssteuern, treten oft ein, wo
sie durch die persönliche Lage (thatsächlich mangelnde
Steuerfähigkeit), Elementarereignisse, Meliorationen mit
zeitweiliger Ertragslosigkeit auch wirklich geboten ist. Aber auch
Doppelbesteuerungen sind zu meiden. Aus diesen Grundsätzen
ergibt sich bei Beachtung eines gegebenen Steuersystems, wer als
pflichtiges Steuersubjekt (Inländer gegenüber
Ausländern, die Frage des abgeleiteten Einkommens, der
Besteuerung von Gesellschaften, Stiftungen, Gemeinden etc.) durch
die Steuer zu erfassen ist. b) Die Steuer soll
gleichmäßig verteilt und gerecht sein. Die ältere
Vergeltungstheorie betrachtete die Besteuerung als eine gerechte,
wenn sie dem Vorteil entspreche, den der Steuerzahler von der
Staatsverbindung habe (Leistung gleich der Gegenleistung). Dabei
nahm man meist an, daß der Staat dem Reichen nach
Maßgabe seines Reichtums mehr Vorteile biete als dem Armen.
So gelangen wir praktisch zu dem meist vertretenen Steuerprinzip,
welches die Steuerfähigkeit als richtigen Maßstab
für die Steuerverteilung betrachtet. Meist wird jetzt
verlangt, daß der Unkräftige freibleibe (Freilassung des
Existenzminimums, die nicht bei allen S. möglich, bei
Aufwandssteuern durch Wahl der Objekte angestrebt werden kann).
Dann sollen die Steuerkräftigen
verhältnismäßig stärker belastet werden,
indem, wenigstens bei kleinem und mittlerm Einkommen, individuelle
Verhältnisse (Krankheit, Stärke der Familie etc.)
berücksichtigt werden, das fundierte Einkommen höher
belastet wird. Streitig ist die Frage des Steuerfußes, d. h.
hier des Verhältnisses von Gesamtsteuer des Pflichtigen zu
dessen Gesamteinkommen. Von der einen Seite wird diejenige Steuer
als gerecht bezeichnet, welche vom Einkommen einen gleichbleibenden
Prozentsatz wegnehme

312

Steuern (Steuersysteme).

(konstanter Steuerfuß), von der andern diejenige, welche
das höhere Einkommen auch mit einem höhern Prozentsatz
belaste (progressiver Steuerfuß, progressive Steuer). Die
Idee der Progression findet mehrfach praktische Anwendung in der
Einkommensteuer. Doch kann dieselbe immer nur darin bestehen,
daß der Steuerfuß, wenn auch steigend, eine gewisse
Höhe nicht überschreitet. weil sonst die bald
übermäßig hoch werdende Steuer schädlich
wirken würde. Infolgedessen wird sich bei großer
Verschiedenheit des Einkommens die Steuer immer nur derart
gestalten können, daß der Steuerfuß von unten auf
steigend bei einer gewissen Einkommenshöhe einen
gleichbleibenden Satz erreicht (degressiver Steuerfuß,
degressive Steuer). Bei der Aufwandsteuer läßt sich die
Progression durch entsprechende Auswahl der Steuerobjekte,
höhere Belastung der bessern Qualitäten anstreben. Ob sie
im ganzen verwirklicht wird, hängt von der Gestaltung des
Steuersystems ab. c)Die Steuer soll den Pflichtigen richtig
erfassen. Viele

S. werden in der Absicht aufgelegt, daß dieselben vom
Zahler auf eine dritte Person übergewälzt werden (durch
Abzug von Zahlungen, Erhöhung des Kaufpreises). Nicht immer
sind solche überwälzungen möglich, auch können
sie vorkommen, wo sie der Absicht des Gesetzgebers widersprechen.
Die dadurch entstehenden Steuerprägravationen (einseitigen
Steuerüberbürdungen), bez. Steuerfreiheiten sind
möglichst durch richtige Wahl der S. und
zweckmäßige Ausführung der Besteuerung zu mindern.
Von der Steuerüberwälzung (als Rückwälzung vom
Käufer auf den Verkäufer als Fortwälzung von diesem
auf jenen) ist die sogen. Steuerabwälzung zu unterscheiden,
welche darin besteht, daß der Steuerzahler die Steuer durch
wirtschaftliche Verbesserungen ausgleicht.

2) Die Steuer soll ferner die wirtschaftliche Lage von
Steuerzahler und Steuerträger, Erwerb und Verkehr nicht
verkümmern. Dem entsprechend sind einseitige
Steuerüberlastungen zu meiden und geeignete Besteuerungsformen
anzuwenden.

III. Bezüglich der Erhebung ist endlich im Interesse von
Verwaltung und Steuerzahler zu fordern: I) Einfachheit und
Bestimmtheit der Steuer. Viele Steuervergehen werden unbewußt
begangen, weil die S. und die Steuerbestimmungen zu verwickelt und
unklar sind. 2) Möglichste Bequemlichkeit in Bezug auf Ort,
Zeit und Art der Entrichtung. Der Zahlungsort soll dem Wohnort des
Pflichtigen nicht zu entlegen sein. Die Steuer soll möglichst
in der Zeit der Zahlungsfähigkeit erhoben werden, darum
richtige Einteilung der Steuertermine, Zulassung von
Steuerkrediten, wenn ohnedies die frühere Erhebung nur der
formellen, nicht der tatsächlichen

Fälligkeit der Steuer entspricht (Rohstoffbesteuerung),
ferner von Vorauszahlungen und Teilzahlungen. Die Erhebungsform
soll mit ihrer Aufsicht, ihren Kontrollen und Vorschriften
möglichst wenig lästig fallen.

3) Die Erhebungskosten sollen möglichst niedrig sein.

4) Die Steuer soll dem Reize zu Umgehungen (Ersatz besteuerter
Verbrauchsgegenstände, Handlungen etc. durch unbesteuerte),
Hinterziehungen (milder Ausdruck für zu niedrige
Steuerfassion), Unterschleif, Schmuggel, Bestechung keinen
Spielraum gewähren. Es gibt nun keine Steuer, welche allen
diesen Anforderungen gleich vollkommen entspricht. Die gesamte
Leistungsfähigkeit läßt sich nicht direkt voll
erfassen, weil dieselbe für Dritte nicht genau erforschbar
ist, vom Steuerpflichtigen aber richtige Angaben nicht zu erwarten
sind. Die Besteuerung von Einkommen, bez. Ertrag würde weder
zureichen, den gesamten Staatsbedarf ohne einseitigen Druck
zudecken, noch eine gleichmäßige Verteilung der gesamten
Steuerlast zu bewirken. Diese Steuer darf demnach eine gewisse
Grenze nicht überschreiten und muß eine Ergänzung
in der indirekten Steuer finden.

Steuersysteme.

Als indirekte Steuer (Aufschlag, in Österreich auch
Steuergefälle genannt) wird meist eine solche verstanden,
welche dem Steuerzahler in der Absicht aufgelegt wird, daß
derselbe sie auf eine dritte Person, den Steuerträger,
überwälze, während bei der direkten Steuer
(Schatzungen) Zahler und Träger eine und dieselbe Person ist.
Da die Erhebungsform der Aufwandsteuern vorwiegend eine indirekte
ist, so bezeichnet man dieselben meist schlechthin als die
indirekten S. und rechnet denselben vielfach noch die Gebühren
und Verkehrssteuern hinzu, während die Ertragssteuern, die
Personal- und Einkommensteuern und die allgemeinen
Vermögenssteuern als direkte S. zusammengefaßt werden.
Von dieser Auffassung weichen andre wesentlich ab. Hoffmann("Lehre
von den S.") bezeichnete als direkte S. solche, die auf den Besitz,
als indirekte solche, die auf eine Handlung gelegt werden; Conrad
nennt indirekte S. diejenigen, bei denen man von den Ausgaben auf
die Einnahmen und somit indirekt auf die Leistungsfähigkeit
schließt, während bei direkten S. vom Besitz oder von
den Einnahmen unmittelbar die Leistungsfähigkeit
geschätzt wird.

Aus dem genannten Grund war man von jeher dazu gezwungen,
mehrere S. miteinander zu verbinden, von denen eine die andre zu
ergänzen bestimmt ist. Entspricht die Gesamtwirkung derselben
den Grundsätzen der Besteuerung, so bilden die S. ein
einheitliches organisches Steuersystem. Im praktischen Leben kommen
folgende S. nebeneinander vor:

1) S., welche auf Produktions- und Erwerbsquellen gelegt werden,
deren Erträge zu treffen bestimmt sind und demgemäß
Ertragsteuern (s. d.) genannt werden. Dieselben sind echte
Realsteuern, wenn sie auf die persönlichen Beziehungen des
Besitzers zur Steuerquelle (Schulden, Möglichkeit einer sehr
vorteilhaften Ausnutzung infolge persönlicher
Tüchtigkeit, günstiger sozialer Stellung u. dgl., oder
Schwierigkeit einer vorteilhaften Benutzung wegen Krankheit,
Überbürdung mit andern Aufgaben, große Entfernung
vom Wohnsitz etc.) gar keine Rücksicht nehmen. Eine
folgerichtig durchgeführte Ertragsbesteuerung würde die
gesamten Reinerträge, welche ein Volk zieht, und damit im
wesentlichen auch das gesamte Einkommen desselben treffen. In der
Praxis freilich kommt eine derartige Besteuerung nicht vor. Werden
doch in den meisten Ländern wichtige Produktionsquellen von
einer Ertragssteuer nicht belastet. Dann kommen bei Ertragssteuern
leicht Doppelbesteuerungen vor, wenn bei denselben nicht scharf
zwischen Real- und Personalsteuer unterschieden wird. Erträge
werfen nun ab das Kapital und die Arbeitskraft. Bei jeder
Unternehmung wären zu treffen alle Bezüge, welche den an
der Unternehmung beteiligten Personen zufließen können,
also der Unterschied zwischen dem gesamten Rohertrag und denjenigen
Aufwendungen, welche für den Zweck der Produktion gemacht
werden, ohne jenen Personen einen Genuß zu ermöglichen
(Rohstoffe, Heizstoffe, Saatfrucht, Dünger etc.). Dieser
Unterschied umfaßt die für die Arbeit gezahlten und
berechneten Löhne, die gezahlten und zu berechnenden
Kapitalzinsen und den dem Unternehmer verbleibenden
Überschuß. Trifft man

313

Steuern (Veranlagung und Erhebung).

denselben mit einer Art Unternehmungssteuer voll bei jedem
Unternehmer, so brauchen die Löhne und die Zinsen der
Leihkapitalien nicht noch besonders belastet zu werden. Kommen
dagegen die Löhne in Abzug, so ist die Arbeitskraft als
Ertragsquelle noch für sich zu besteuern. Ein
vollständiges Ertragssteuersystem müßte alsdann
treffen die Erträge: a) aus Grund und Boden (s. Grundsteuer);
b) von Häusern (s. Gebäudesteuer); c) aus allen sonstigen
gewerblichen und industriellen Unternehmungen (s. Gewerbesteuer);
d) aus der Arbeit (s. Lohnsteuer). Wird unter diesem Titel nur die
vermietete Arbeitskraft besteuert, so sind die aus der eignen
Unternehmung gezogenen Arbeitserträge unter den Titeln von
Grund-, Gebäude- und Gewerbesteuer zu treffen. Mehrere
Länder besteuern nun noch besonders e) die aus Leihkapitalien
fließenden Zinsen (s. Kapitalrentensteuer). Voraussetzung
hierfür aber ist, daß bei den Ertragsstenern die
Verschuldung berücksichtigt wird. Je mehr nun die S., welche
die Reinerträge eines ganzen Erwerbskörpers (Fabrik,
Landgut) treffen sollen, auf die einzelnen Personen gelegt werden,
auf welche sich jene Erträge verteilen, desto mehr nimmt die
Realsteuer den Charakter einer Personalsteuer an. Ganz
vorzüglich ist dies der Fall, wenn die Steuer außerdem
nicht nach den allgemein möglichen, sondern nach den
wirklichen Erträgen bemessen wird.

2) S. auf persönliches Einkommen. Dieselben sind
Personalsteuern, weil sie die Leistungsfähigkeit der einzelnen
Personen treffen. Ist die Steuer auf das Gesamteinkommen gelegt, so
nennt man sie allgemeine Einkommensteuer. (s. d.). Eine Abart
derselben ist die Rang- oder Klassensteuer (s. d.), bei welcher
nicht direkt das wirkliche Einzeleinkommen ermittelt, sondern aus
äußern Merkmalen, welche zu Gruppenbildungen
Veranlassung geben, auf die persönliche
Leistungsfähigkeit geschlossen wird. Hierher wird auch
vielfach die Kopfsteuer (s. d.) gerechnet. Dieselbe haftet
allerdings an einer Person, ist jedoch mit der Realsteuer insofern
verwandt, als sie einen allgemein möglichen Erwerb
voraussetzt, ohne die wirkliche Höhe desselben zu
berücksichtigen. Die Einkommensteuer kann jedoch auch in der
Art aufgelegt werden, daß man die einzelnen Quellen desselben
trifft, wie Einkommensbezüge aus Arbeit (Dienstleistungen,
Hilfe bei der Produktion) und aus Besitz (Grundeigentum,
Gebäude, flüssiges Kapital) und aus Verbindung von Arbeit
mit Besitz (eigne Bewirtschaftung landwirtschaftlichen
Geländes, Betrieb industrieller Unternehmungen etc.). Diese
"partiellen Einkommensteuern" fallen mit denjenigen Ertragssteuern
zusammen, welche die Erträge der Steuerquellen bei ihrer
Verteilung auf die einzelnen an denselben bezugsberechtigten
Personen erfassen.

3) S., welche nach Maßgabe des Aufwandes erhoben werden,
welchen ein Steuerpflichtiger macht. Die wichtigsten derselben sind
diejenigen, welche den Verbrauch von Sachgütern, wie Lebens-
und Genußmittel (vgl. Zölle und Aufwandsteuern),
treffen. Andre werden von Gebrauchsgegenständen erhoben, wie
Häusern, Pferden, Hunden etc. Dann gehört hierher die
Besteuerung der Ausgaben, welche für persönliche
Dienstleistungen und Vergnügungen (Schaustellungen,
Tanzvergnügen etc.) gemacht werden.

4) S. vom Vermögen, welche in der Wirklichkeit jedoch meist
Aufwand- oder Einkommensteuern sind (vgl.
Vermögenssteuern).

5) S., welche bei Gelegenheit von Handlungen und Ereignissen
erhoben werden. Hierher gehören die Gebührensteuern (s.
Gebühren), die Verkehrssteuern (s. d.), einschließlich
der Erbschaftssteuern (s. d.).

6) S., welche ganz oder teilweise die Stelle anderweiter dem
Staat schuldiger Leistungen vertreten. Dazu gehört
insbesondere die Wehrsteuer (s. d.).

Veranlagung und Erhebung. Die Ausführung der Besteuerung
(Veranlagung, Feststellung der Steuergrundlagen und Erhebung) ist
bei vielen S., zumal bei denjenigen, bei welchen sich keine
bleibenden Merkmale bieten, um Steuerpflicht und Steuerschuldigkeit
zu erkennen und zu bemessen, mit großen Schwierigkeiten
verknüpft. Zunächst handelt es sich um Feststellung des
Steuersubjekts, bez. des für dasselbe haftpflichtigen
Stellvertreters. Dieselbe ist einfach bei den meisten direkten S.,
bei welchen amtliche Nachforschung, Grundbücher, Meldezwang
des Pflichtigen zur Aufstellung von Steuerlisten führen,
ebenso bei vielen indirekten Verbrauchssteuern, bei welchen
äußere Thatsachen und gewerbepolizeiliche Listen die
Ermittelung erleichtern. Bei Zöllen und Accisen ist der
Frachtführer, bez. (besonders bei dem Begleitscheinverfahren)
der Eigentümer zahlungspflichtig. Bei vielen Verkehrssteuern
ist durch Gesetz zu bestimmen, wer von beiden Parteien die Steuer
zu entrichten hat. Bei mehreren S. fällt die Ermittelung der
Steuersubjekte mit derjenigen der Steuerobjekte zusammen, von
welchen S. zu entrichten sind. Großen Schwierigkeiten
begegnet meist die Bewertung der Objekte, zumal wo es an
äußerlich leicht erkennbaren Merkmalen und an objektiven
Maßstäben fehlte. Die Bemessung kann erfolgen durch die
Pflichtigen selbst (Fassion, Steuerbekenntnis bei der
Einkommensteuer, der Kapitalrentensteuer, Deklaration), durch
Steuergesellschaften, d. h. eine Gruppe von Steuerpflichtigen,
welche eine ihr auferlegte Gesamtsumme auf die einzelnen Mitglieder
verteilt, durch besondere Steuerkommissionen oder
Steuerausschüsse, welche auf Grund äußerer
Merkmale, von Personal- und Sachkenntnis die Einschätzung
vornehmen, durch die Steuerbehörde (Steuerkommissar,
Steuerperäquator etc.) selbst, bei einigen S. unter Zuziehung
von Sachverständigen etc. (vgl. Kataster). Die Steuereinhebung
wurde früher oft verpachtet, so in Rom, wo die Ritter
gewerbsmäßig als publicani (Steuerpachter) auftraten, in
Frankreich, wo die fermiers généraux (Generalpachter)
die S. der Regierung vorstreckten. Doch kommt die Verpachtung heute
nur noch selten vor. In manchen Fällen besorgt die Gemeinde
die Erhebung, bald als einfaches Erhebungsorgan, bald mit voller
Steuerhaftung, indem sie in diesem Fall oft eine Aversalsumme zahlt
und diese auf ihre Mitglieder verteilt. Ebenso können dritte
Personen, bei welchen sich viele Steuerschuldigkeiten
konzentrieren, die Einhebung übernehmen (bei verschiedenen
Gebühren und Verkehrssteuern). Meist besorgt heute der Staat
die Erhebung in Regie durch eigne Steuerbeamte (Steuereinnehmer,
Steuerempfänger, Steuerperzeptor etc.), insbesondere beim
Zollwesen, bei verschiedenen direkten Steuern etc. Bisweilen wird
hierbei unter Ersparung spezieller Berechnungen und lästiger
Einzelkontrollen die Erhebung dadurch vereinfacht, daß der
Steuerpflichtige eine vertragsmäßig festgesetzte Summe
für eine bestimmte Periode als Steuerabfindung (Fixation)
entrichtet. Im Interesse der Pflichtigen und des richtigen
Steuereingangs sind nötig die amtliche Benachrichtigung und
Steueransage (Zustellung von Steuerzetteln), Festsetzung von
Steuerterminen und Steuerfristen, die Gewährung von
Steuerkrediten (Gestattung der Zahlung zu späterer Zeit als
der gesetzlich bestimmten, wenn letztere

314

Steuerrepartition - Steuerung.

eigentlich zu früh angesetzt ist) unter
Sicherheitsleistung, die Einräumung des Reklamations-,
Beschwerde-, Steuerklagerechts gegenüber der Einschätzung
und Erhebung und die Steuerrestitution (Rückersatz, auch als
Exportbonifikation) bei Zahlungen, welche über die Grenze der
Steuerschuldigkeit hinausgehen. Bei ausbleibender Zahlung tritt
Mahnung und Pfändung (Steuerexekution) ein, allenfalls bei
augenblicklicher Zahlungsunfähigkeit die Steuerstundung, bei
Uneinbringlichkeit die Niederschlagung (Steuererlaß) oder
Steuerabschreibung (der Steuerrückstände oder
Steuerreste), ohne solche aber auch nach bestimmter Frist die
Steuerverjährung. Mittel zur richtigen Durchführung
gegenüber Steuerhinterziehungen, Defraudationen etc. sind die
Steuerkontrolle, die Steuerstrafe, der Steuereid, die
Denunziantengebühr, die Öffentlichkeit des
Steuerverfahrens, Begehung von gegensätzlichen Interessenten
bei der Einsteuerung etc. Mitte der 80er Jahre waren die
Einnahmen

an direkten Steuern Mill. Mk. %

an indirekten Steuern Mill. Mk. %

aus andern Quellen Mill. Mk. %

pro Kopf d. Bevöl-kerung Mark

Deutsches Reich nebst Gliederstaaten 260 13 600 29 1240 59 30 70
19,40

Österr.-Ungarn 280 21 670 49 410 31 30 70 26,00

Rußland 250 19 780 60 270 30 25 75 11,00

Italien 310 25 590 44 410 21 36 64 29,80

Frankreich 340 14 1800 74 290 18 15 85 56,80

Großbritannien. 270 15 1170 67 310 12 21 79 41,00

Vgl. Gebühren, Zölle, Aufwandsteuern sowie die
verschiedenen Artikel über die einzelnen S.

[Litteratur.] Außer den unter "Finanzwesen" angegebenen
Werken vgl. Hofmann, Die Lehre von den S. (Berl. 1840); v. Hock,
Die öffentlichen Abgaben und Schulden (Stuttg. 1863);
Förstemann, Die direkten und indirekten S. (Nordh. 1868);
Schäffle, Die Grundsätze der Steuerpolitik (Tübing.
1880); Roscher, System der Finanzwissenschaft (Stuttg. 1886);
Kaizl, Die Lehre von der Überwälzung der S. (Leipz.
1882); v. Falck, Rückblicke auf die Entwickelung der Lehre von
der Steuerüberwälzung (Dorp. 1882); R. Meyer, Die
Prinzipien der gerechten Besteuerung (Berl. 1884); Fr. J. Neumann,
Die Steuer (Leipz. 1887, Bd. 1); Holzer, Historische Darstellung
der indirekten S. (Wien 1888) ; Mangoldt, Das deutsche Zoll- u.
Steuerstrafrecht (Leipz. 1886) ; Vocke, Die Abgaben, Auflagen und
die Steuer vom Standpunkt der Geschichte etc. (Stuttg. 1887);
Rousset, Histoire des impôts indirects (Par. 1883).

Steuerrepartition, s. v. w. Steuerverteilung, Umlegung
einer bestimmten Summe auf die einzelnen steuerpflichtigen Personen
oder Gegenstände. Vgl. Repartitionssteuern und
Kontingentierung der Steuern.

Steuerrollen, s. Heberolle n.

Steuerruder (Ruder), Vorrichtung zum Lenken des Schiffs,
bestehend aus einem hölzernen oder eisernen Blatt, welches in
vertikaler Ebene, drehbar am Hintersteven des Schiffs, ähnlich
wie eine Thür in ihren Angeln, befestigt ist. Man
unterscheidet am S. das Ruderblatt, welches sich ganz oder zum
größten Teil unter Wasser befindet, und den Ruderhals
mit dem Ruderkopf, welche, wenn erforderlich, wasserdicht durch die
Schiffswand geführt, in den innern Schiffsraum hineinragen. Am
Ruderkopf greift die Ruderpinne an, ein hölzerner oder
eiserner einarmiger Hebel, oder das Ruderjoch, ein eiserner
zweiarmiger Hebel. Während die Pinne gewöhnlich mit dem
Ruderblatt in einer Ebene liegt, steht das Ruderjoch im allgemeinen
querschiffs. Durch Drehung der Pinne oder des Jochs wird das Ruder
um einen ebenso großen Winkel aus der Symmetrieebene des
Schiffs herausgedreht und dadurch die Symmetrie des den
Schiffskörper umgebenden Wasserstroms gestört,
vorausgesetzt, daß ein solcher infolge der bis dahin
geradlinigen Bewegung des Schiffs vorhanden ist. Das Schiff wird
dadurch gezwungen, von seiner bisherigen Bahn in der Weise
abzuweichen, daß der Mittelpunkt der vom Schwerpunkt des
Schiffs beschriebenen Bahnlinie auf derjenigen Seite des Schiffs
liegt, nach welcher das Ruderblatt gedreht wurde. In neuerer Zeit
ist bei einzelnen größern Schiffen (König Wilhelm)
das Balanceruder zur Anwendung gekommen, ein Ruder, dessen
Drehachse die Fläche des Ruderblattes ungefähr in dem
Verhältnis von 1:2 teilt, so daß ein Drittel des
Flächeninhalts des Blattes vor der Drehachse liegt. Ein
Balanceruder bedarf einer kleinern Kraft zum Drehen als ein ebenso
großes gewöhnliches Ruder und kann infolgedessen
schneller gedreht werden. Anderseits kehrt es nicht so schnell in
seine neutrale Lage zurück wie dieses. Die Bewegung der Pinne
ersolgt bei kleinern Schiffen direkt mit der Hand, bei
größern Schiffen durch Flaschenzüge,
Zahnradübersetzungen, Schraubenräder, hydraulische
Pressen etc. Die Kraft wird am Steuerrad eingeleitet, einem mit
Griffen versehenen, um eine horizontale Achse drehbaren
Speichenrad, welches eventuell in mehrfacher Ausführung
vorhanden sein muß, um eine größere Anzahl von
Leuten zum Drehen des Ruders verwenden zu können. Der
Widerstand des um einen gewissen Winkel gedrehten Ruders ist unter
sonst gleichen Umständen proportional mit dem Quadrat der
Schiffsgeschwindigkeit; steigert man diese auf das Doppelte, so
wächst dadurch der Widerstand des Ruders auf die vierfache
Größe. Es ist daher erklärlich, daß bei den
neuesten Schiffen mit Geschwindigkeiten bis zu 20 Knoten und
darüber zur Bewegung des Ruders Menschenkraft nicht mehr
ausreicht, um das Schiff Bahnlinien von starker Krümmung
beschreiben zu lassen. Dies ist die Veranlassung zur
Einführung des Dampfsteuerapparats, einer kleinen,
zweicylindrischen Dampfmaschine, welche die Achse der bisherigen
Steuerräder nach Steuerbord oder Backbord in Rotation
versetzt. Die Verrichtung des Mannes am Ruder beschränkt sich
alsdann auf das Anlassen dieser Maschine in der einen oder andern
Richtung und deren rechtzeitige Arretierung.

Steuerüberwälzuug, s. Steuern, S. 312.

Steuer- und Wirtschaftsreformer, s. Agrarier.

Steuerung, Vorrichtung, mittels deren der Zufluß
einer gepreßten Flüssigkeit oder Luftart zu einer
Kraftmaschine und der Abfluß derselben nach ihrer Wirksamkeit
so geregelt wird, daß der Gang der Maschine zu stande kommt.
Die einer solchen S. benötigten Kraftmaschinen, mit Ausnahme
der nur ganz vereinzelt vorkommenden sogen. rotierenden
Dampfmaschinen, nehmen den Druck der Flüssigkeiten, Gase oder
Dämpfe mittels eines Kolbens auf, welcher in einem Cylinder
durch ebendiesen Druck hin- und hergetrieben wird. Um dies letztere
zu ermöglichen, muß man den arbeitenden Dampf etc.
abwechselnd gegen die eine oder andre Seite des Cylinders
drücken und den verbrauchten Dampf etc. auf der der
jedesmaligen Druckrichtung entgegengesetzten

315

Steuerverein - Stewarton.

Seite wieder austreten lassen. Dazu dient die S., welche in der
Regel von der Maschine aus selbstthätig bewegt, seltener von
Menschenhand bedient wird (z. B. bei Hebemaschinen mit direkt
wirkendem hydraulischen oder Dampfcylinder, bei Dampfbremsen etc.).
Man unterscheidet bei jeder S. eine innere und eine
äußere S.: erstere bestehend aus irgend einer oder
mehreren Absperrvorrichtungen (Ventilen, Schiebern, Hähnen,
Kolben), letztere aus Exzentriks, Daumen, Wellen, Stangen, Hebeln
etc. oder auch aus kleinen Cylindern mit Kolben etc.,
überhaupt aus Mechanismen, mittels welcher die erstern in
passender Weise geöffnet oder geschlossen werden. Schieber-,
Ventil- und Hahnsteuerungen werden besonders bei Dampfmaschinen und
ähnlichen Umtriebsmaschinen, Kolbensteuerungen namentlich bei
den Wassersäulenmaschinen verwendet. Die Einrichtungen der
äußern Steuerungen sind außerordentlich
mannigfaltig; man unterscheidet Einrichtungen für die eine
Rotation hervorbringenden Maschinen, welche ihre Bewegung meist von
einer rotierenden Welle (Schwungradwelle) aus erhalten, und solche
für die sogen. direkt wirkenden, d. h. ohne Rotation, nur hin-
und hergehend arbeitenden Motoren, welche von einem hin und her
bewegten Maschinenteil bethätigt werden. Hierher gehören
die Steuerungen von Dampfhämmern, Gesteinsbohrmaschinen,
direkt wirkenden Dampfpumpen, Wasserhaltungsmaschinen etc. Sehr
ausgebildet sind die Steuerungen der Dampfmaschinen und besonders
die Expansionssteuerungen mit durch den Regulator verstellbarem
Expansionsgrad oder Präzisionssteuerungen (s.Dampfmaschine, S.
464 f.). Umsteuerungen bewirken bei Maschinen mit rotierender
Bewegung eine Richtungsänderung der Rotation, z. B. bei
Lokomotiven, Dampfschiffen, Fördermaschinen, Walzwerken etc.
Hierher gehören die Kulissensteuerungen (erfunden von
Stephenson, abgeändert von Gooch, Allan u. a.), bestehend aus
einer geschlitzten Schiene (Kulisse), deren Enden von zwei auf der
Kurbelwelle der Lokomotive etc. um 180° versetzten Exzentriks
so bewegt werden, daß sie abwechselnd vor- und
rückwärts gehen. In dem Schlitz der Kulisse
läßt sich ein Gleitstück (Stein) auf- und
niederschieben, welches mit einer die Bewegung des Schiebers, der
Ventile oder Hähne der S. vermittelnden Stange verbunden ist,
so daß die betreffenden Absperrungsorgane bald von dem einen,
bald von dem andern Exzenter ihre Bewegung erhalten oder in Ruhe
bleiben, je nachdem die Maschine vorwärts oder
rückwärts gehen oder stillstehen soll. Steuerungen kommen
auch bei manchen Arbeitsmaschinen vor, so z. B. bei den
Schiebergebläsen und Schieberpumpen zur Bewegung ihrer
Schieber. Die S. der Metallhobelmaschine erzeugt selbstthätig
den regelmäßigen Wechsel der Bewegungsrichtung der das
Arbeitsstück tragenden Platte (Tisch).

Steuerverein, s. Zollverein.

Steuerverweigerung, s. Steuerbewilligung etc.

Steuervorschuß, s. Antizipation.

Steuerzölle, s. Zölle.

Steuerzuschläge, die Abgaben, welche Gemeinden zur
Deckung ihres Bedarfs als Zuschläge zu bestehenden (direkten)
Staatssteuern erheben. Vgl. Gemeindehaushalt.

Stev., bei botan. Namen Abkürzung für Ch.
Steven, geb. 1781 zu Fredriksham, bereiste Taurien und den
Kaukasus, gest. 1863 in Simferopol.

Steven, die das Schiff vorn (Vordersteven) und hinten
(Achtersteven) begrenzenden, mehr oder weniger senkrecht
aufsteigenden Hölzer; s. Schiff, S. 455.

Stevens, Alfred, belg. Maler, geb. 11. Mai 1828 zu
Brüssel, besuchte das Atelier von Navez in Brüssel und
später das von Roqueplan in Paris und malte anfangs kleine
Historienbilder, wandte sich aber bald der Schilderung des
eleganten Pariser Lebens der Gegenwart zu. S. schildert mit
Vorliebe das Pariser Damenboudoir mit seinen Bewohnerinnen mit
außerordentlicher koloristischer Zartheit, seinem Geschmack
des Arrangements u. pikanter Charakteristik. Seine sehr zahlreichen
Bilder sind meist im Privatbesitz. Das Museum zu Brüssel
besitzt : die Allegorie des Frühlings, der Besuch; das zu
Marseille: ausgelassene Maskengruppe am Aschermittwochsmorgen; die
Ravené-Galerie in Berlin: die Tröstung. Von seinen
übrigen Bildern sind hervorzuheben: die Unschuld, das
Neujahrsgeschenk, der Morgen auf dem Lande, die japanisierte
Pariserin, die Dame im Atelier, der Frühling des Lebens.
Für den König der Belgier malte er in Fresko die vier
Jahreszeiten als Frauengestalten in moderner Tracht (auch als
Ölbilder wiederholt). Er lebt in Paris. Vgl. Lemonnier in der
"Gazette des beaux-arts" 1878. -

Sein Bruder Joseph S. (geb. 1822 zu Brüssel) hat sich
ebenfalls in der Pariser Schule gebildet und ist als Tiermaler in
Brüssel thätig. Seine Hauptwerke sind: der Hund des
Gefangenen, eine Episode auf dem Hundemarkt in Paris, und eine
Brüsseler Straße am Morgen (beide im Museum zu
Brüssel), der naschende Affe und der Hund mit der Fliege.

Stevens Point (spr. stihwens peunt), Stadt im
nordamerikan. Staat Wisconsin, am obern Wisconsinfluß, mit
Sägemühlen, Holzhandel und (1885) 6510 Einw.

Steward (engl., spr. stjuh-erd), Verwalter, Ordner,
Rentmeister; auf Schiffen s. v. w. Oberkellner. Vgl. High
Steward.

Stewart (spr. stjuh-ert), 1) Dugald, schott. Philo-soph,
geb. 22. Nov. 1753 zu Edinburg, erhielt schon 1775 die Professur
der Mathematik an der dortigen Universität als Nachfolger
seines Vaters, 1780 die der Moralphilosophie und starb, seit 1810
in den Ruhestand versetzt, 11. Juni 1828 in Edinburg. Von seinen
oft ausgelegten Schriften, die ihn als einen der Hauptvertreter der
sogen. schottischen Schule kennzeichnen, sind hervorzuheben:
"Elements of the philosophy of the human mind" (Edinb. 1792-1827, 3
Bde.); "Outlines of moral philosophy" (das. 1793); "Philosophical
essays" (das. 1810); "Philosophy of the active and moral powers"
(das. 1828). Eine Gesamtausgabe seiner Werke besorgte Hamilton
(Edinb. 1854-58, 10 Bde.).

2) Balfour, Physiker, geb. 1. Nov. 1828 zu Edinburg, studierte
daselbst und in St. Andrews, wurde 1859 Direktor des Observatoriums
in Kew, 1867 Sekretär des meteorologischen Komitees, 1870
Professor der Physik am Owen's College in Manchester und starb 21.
Dez. 1887. Er lieferte mit De la Rue und Loewy sehr bedeutende
Untersuchungen über die Physik der Sonne und mit Tait
über die Erzeugung von Wärme bei der Rotation der
Körper im luftleeren Raum; auch lieferte er mehrere Arbeiten
über Magnetismus und Meteorologie und schrieb: "Elementary
treatise on heat" (5. Aufl. 1888); "Lessons in elementary physics"
(1871; erweiterte Ausg. 1888; deutsch, Braunschw. 1872); "Physics"
(7. Aufl. 1878); "The conservation of energy" (4. Aufl. 1878;
deutsch, Leipz. 1875); "The unseen universe" (mit Tait, 6. Aufl.
1876); "Lessons in elementary practical physics" (mit Glee,
1885-87, 2 Bde.).

Stewarton (spr. stjúh-ert'n), Binnenstadt im
nördlichen Ayrshire (Schottland), mit Woll- und
Kappenfabrikation und (1881) 3130 Einw.

316

Steyermark - Stickerei.

Steyermark, s. Steiermark.

Steyr, Stadt mit eignem Statut in Oberösterreich, an
der Mündung des Flusses S. in die Enns und an der Bahnlinie
St. Valentin-Pontafel, ist Sitz einer Bezirkshauptmannschaft
(für die Umgebung von S.) und eines Kreisgerichts, hat eine
1443 vollendete gotische Stadtpfarrklrche, eine 980 erbaute, jetzt
fürstlich Lambergsche Burg, ein Rathaus, eine Oberrealschule,
Handelsschule, Fachschule für Eisen- und Stahlindustrie, eine
bedeutende Sparkasse (Einlagen 10 Mill. Guld.), eine
Pfandleihanstalt und (1880) mit den Vorstädten 17,199 Einw. S.
ist ein Hauptsitz der österreichischen Eisenindustrie und des
Eisenhandels. Es bestehen daselbst: eine große Waffenfabrik,
welche hauptsächlich Armeegewehre verfertigt, außerdem
Maschinenfabriken, Unternehmungen für Messerschmiedewaren,
Ahlen, Feilen, Nägel, Bohrer, Ring- u. Kettenschmiedewaren;
ferner Bierbrauereien, Druckereien und Färbereien, Gerbereien
und Papiermühlen. S. war ehemals Hauptort einer
Markgrafschaft, welche dem Land Steiermark den Namen gab.
Südlich von S. liegt das Dorf Garsten mit
Männerstrafanstalt (ehemals Benediktinerstift). Vgl. Widmann,
Fremdenführer für S. (Steyr 1884).

Stheino (Stheno), eine der Gorgonen (s. d.).

Sthelenos, nach griech. Mythus Sohn des Kapaneus und der
Euadne, war Teilnehmer am Epigonenzug und am Trojanischen Krieg, wo
er als treuer Gefährte und Wagenlenker des Diomedes tapfer
mitkämpfte. Auch ein Sohn des Perseus und der Andromeda,
welcher den König Amphitryon (s. d.) von Tiryns vertrieb,
hieß S.; er war Vater des Eurystheus.

Sthenie (griech.), strotzende Kraftfülle (vgl.
Asthenie); sthenisch, vollkräftig; sthenisieren,
kräftigen, die Wirkung der Lebenskraft erhöhen.

St. Hil., bei botan. Namen Abkürzung für A. F.
C. Prouvensal de Saint-Hilaire (s. d.).

Stibine (Antimonbasen), s. Basen.

Stibio-Kali tartaricum, s. v. w. Brechweinstein.

Stibium, Antimon; S. chloratum, muriaticum,
Antimonchlorid; S. sulfuratum aurantiacum, s. Antimonsulfide; S.
sulfuratum nigrum, Spießglanz, s. Antimonsulfide; S.
sulfuratum rubrum, Mineralkermes, s. Antimonsulfide.

Stich, Bertha und Klara, Schauspielerinnen, s.
Crelinger.

Stichblatt, an Schwertern und Degen die über dem
Griff zum Schutz der Hand angebrachte Platte, welche oft
künstlerisch verziert ist. Besonders von Sammlern gesucht sind
die in Eisen geschnittenen, mit Bronze, Silber und Gold
tauschierten japanischen Schwertstichblätter.

Stiche, s. Seitenstechen und Bruststiche.

Stichel, s. v. w. Grabstichel.

Stichkappe, eine dreieckige gewölbte Fläche,
welche an den Stirnseiten eines Tonnengewölbes in die
Fläche desselben einschneidet. Vgl. Gewölbe, S. 312.

Stichkoupon, s. Koupon.

Stichling (Gasterosteus Art.), Gattung aus der Ordnung
der Stachelflosser und der Familie der Stichlinge (Gasterostoidei),
Fische mit spindelförmigem, seitlich zusammengedrücktem
Körper, spitziger Schnauze, sehr dünnem Schwanzteil,
Bürstenzähnen, freien Rückenstacheln vor der
Rückenflosse, bauchständigen, fast nur aus einem
Stachelstrahl bestehenden Bauchflossen und bisweilen mit 4-5 Reihen
kleiner Schilder an den Seiten. Der gemeine S. (Stechbüttel,
G. trachurus L., s. Tafel "Fische II", Fig. 16), 8 cm lang, mit
drei Stachelstrahlen vor der Rückenflosse, oberseits
grünlichbraun oder schwarzblau, an den Seiten und am Bauch
silberfarben, an der Kehle und Brust blaßrot, variiert
vielfach in der Färbung, findet sich in ganz Europa, mit
Ausnahme des Donaugebiets, und ebenso häufig im
süßen Wasser wie im Meer. Er ist lebhaft,
räuberisch und streitsüchtig, kämpft tapfer mit
seinen Stacheln und ändert in der Erregung seine Färbung;
er jagt auf alle Tiere, welche er zu überwältigen vermag,
besonders auf Fischbrut, und ist äußerst
gefräßig. Er laicht in seichtem Wasser auf kiesigem oder
sandigem Grund und baut aus Wurzelfasern, Halmen etc., die er mit
einem eigentümlichen Klebstoff verbindet, ein
faustgroßes, länglichrundes Nest mit einem seitlichen
Eingang, welches er freischwebend zwischen Wasserpflanzen befestigt
oder halb im Sand vergräbt. In dieses Nest legt das Weibchen
seine Eier und bohrt dann auf der dem Eingang entgegengesetzten
Seite ein Loch in das Nest, um sich zu entfernen. Das Männchen
schafft noch mehrere Weibchen herbei, befruchtet die Eier, bewacht
und verteidigt dann das Nest und sorgt durch Bewegung seiner
Flossen für die nötige Strömung in demselben. Auch
die Jungen überwacht er und führt entweichende im Maul
zum Nest zurück. Auch in der Gefangenschaft baut er Nester und
pflanzt sich fort. Der S. soll nur drei Jahre alt werden. In der
Teichwirtschaft ist der S. nicht zu dulden; an der Nordsee
fängt man ihn oft in großer Menge und benutzt ihn als
Dünger, Schweinefutter und zum Thransieden.

Stichomantie (griech.), eine Art Wahrsagung aus Zeilen
oder Versen (stichos), welche bei den Römern darin bestand,
daß Stellen aus Dichtern (namentlich aus Vergil, auch aus den
Sibyllinischen Büchern) auf Zettel geschrieben und diese,
nachdem man sie in einer Urne gemischt hatte, gezogen wurden. Aus
dem zufällig gezogenen Los weissagte man sich Gutes oder
Schlimmes. Außer andern Büchern wurde später
besonders die Bibel zu ähnlichem Zweck benutzt.

Stichometrie (griech.), bei den Alten übliches
Abmessen oder Zählen der Zeilen (stichos) in den
Handschriften, um den ungefähren Umfang einer Schrift
bestimmen zu können (vgl. Ritschl, De stichometria veterum,
Bonn 1840); in der Rhetorik eine Antithese, welche im Dialog durch
Behauptung und Entgegnung entsteht, wie z. B. in der ersten Szene
von Schillers "Maria Stuart".

Stichtag, bei Zeitgeschäften der Tag der
Erfüllung; s. Börse, S. 236.

Stichwahl, s. Wahl.

Stichwort (Schlag- oder Merkwort), in der
Bühnensprache diejenigen Worte eines Darstellers, nach welchen
ein andrer aufzutreten oder seine Rede anzufangen hat. Ebenso gibt
das S. das Signal zu gewissen in der Handlung des Stücks
bedingten szenischen Vorgängen.

Stickerei, eine Kunst, durch welche verzierende
Darstellungen auf schmiegsamen, Falten werfenden Stoffen, also auf
Geweben, Gewändern, Leder etc., mit der Nadel hergestellt
werden. Von den Chinesen von alters her gepflegt, war die S. auch
den alten Indern und Ägyptern bekannt. Diese gingen in ihren
verzierenden Zeichnungen noch nicht über geometrische Figuren
hinaus, wogegen die Assyrer zuerst Tier- und Menschengestalten auf
ihren glatt anschließenden Kleidern und Vorhängen zur
Darstellung brachten. Von ihnen lernten die Griechen und von diesen
die Römer, welche die S. phrygische Arbeit nannten. Im
Mittelalter wurde sie in den Klöstern im Dienste des Kultus
für geistliche Gewänder und Altarbekleidung (Paramente)
gepflegt. Ihre Arbeiten wurden vom 11. Jahrh. an von arabischen
Kunstanstalten

317

Stickertressen - Stickmaschine.

übertroffen. Seltene Beispiele, wie ein deutscher
Kaiserkrönungsmantel, zeugen noch heute von der Höhe der
damaligen S. Mit der geistigen Bildung kam auch die Kunst des
Stickens in weltliche Hände. Erst in England, später aber
in Burgund erreichte sie im 14. Jahrh. die höchste Ausbildung
und ist seitdem langsam bis auf unsre Zeit ganz in Verfall geraten,
wo auch sie an der allgemeinen Hebung des Kunstgewerbes ihren
Anteil erhielt und jetzt eine verständnisvolle Pflege, zum
Teil durch größere Ateliers (Bessert-Nettelbeck in
Berlin), findet. Die S. verziert nicht nur, sondern sie bedeckt oft
den ihr zu Grunde gelegten Stoff ganz; man könnte danach
Weiß- und Buntstickerei unterscheiden, wenngleich auch bei
der letztern zuweilen der Grund frei stehen bleibt. Die
Buntstickerei kann entweder auf einen dichten Grund, auf Leinwand,
Tuch, Seide, Leder, oder auf einen eigens dazu gefertigten,
siebartig durchlöcherten Stoff, Kanevas, aus Hanf, Leinen,
Baumwolle, auch Seide aufgesetzt sein. Auf Kanevas werden
hauptsächlich der gewöhnliche Kreuzstich und seine
Abarten (Gobelinstich, Webstich) ausgeführt sowie der sehr
feine Petitpoint-Stich, welcher sehr zarte, mosaikartige Bildnerei
ermöglicht. Weniger mühsam als der letztere, aber besser
als der Kreuzstich zur figürlichen Darstellung geeignet ist
der Plattstich, mit dem die mittelalterlichen Arbeiten fast
durchgängig auf dichtem Grund gefertigt sind. Während der
Petitpoint-Stich nur mit Seidenfäden hergestellt wird,
verwendet man für die andern Sticharten gewöhnlich
gefärbte Wolle, wenn auch bei ihnen Seide, Goldfäden und
sogar zeitweise mit eingenähte Perlen nicht ausgeschlossen
sind. Andre Arten der S. sind: der Kettenstich, bei welchem jeder
Stich doppelt gemacht wird, indem der Faden von unten nach oben und
durch dasselbe Loch wieder zurückgeht, so eine Schleife
bildend, durch welche er, nachdem er durch ein neues Loch wieder
nach oben gekommen, gezogen wird; der Steppstich, bei welchem auf
der untern Seite des Stoffes ein langer Stich gemacht wird, auf der
obern Seite um die Hälfte der Ausdehnung desselben wieder
zurückgegriffen wird, so daß auf der untern Seite jeder
Stich doppelt so lang ist wie oben; in umgekehrter Anwendung
entsteht der Stielstich. Noch andre Arten des Stichs
(Flechtenstich, Doppelstich, Gitterstich, maurischer, spanischer
Stich) sind bei Lipperheide, Muster altitalienischer
Leinenstickerei (Berl. 1881-85, 2 Bde.), beschrieben. Die Art der
im Mittelalter hochberühmten Goldstickerei, die so wunderbare
Wirkung hervorbrachte, wie man sie noch an den in Wien aufbewahrten
sogen. burgundischen Gewändern aus dem 15. Jahrh. sieht, ist
technisch sehr von der unsrigen verschieden. Während jetzt die
Goldfäden wie andre Fäden behandelt werden, legte man sie
früher parallel nebeneinander und nähte sie mit
Überfangstichen fest. Auf den so erst gebildeten Grund wurde
nun mit Plattstich die eigentliche S. gesetzt, durch welche das
Gold hindurchschimmerte (Reliefstickerei). Die heutige Gold- und
Silber-Kannetillestickerei nähert sich schon der
Perlenstickerei. Dieses reihenweise Aufnähen billiger
Glasperlen hat dadurch, daß es den Grundstoff schwer und
unbiegsam macht, viel zum Verfall der Kunst beigetragen. Für
den künstlerischen Wert ist allemal die Vorzeichnung des
Musters wichtig, die jetzt selten die Erfindung des Verfertigers
einer S. ist. Die Herstellung der Muster ist dagegen zum besondern
Industriezweig der Dessinateure oder Musterzeichner geworden. Eine
eigne Art der S. ist noch das Tamburieren, das nicht mit der
Nähnadel, sondern mit dem Häkelhaken geschieht, wie auf
den Handrücken feiner Glaceehandschuhe. Ferner werden jetzt
feine Lederwaren, namentlich in Amerika, sehr zart durch auf der
Nähmaschine hergestellten Steppstich verziert. Die
Weißstickerei, abgesehen von der Namenstickerei, dem Zeichnen
der Wäsche, beschränkt sich auf Verzierung der
Wäsche und des Tischzeugs in Leinwand oder Baumwolle (deshalb
auch Leinenstickerei genannt). In der sogen. französischen
Weißstickerei herrscht mehr der Plattstich, in der englischen
der durchbrochene Arbeit liefernde Bindlochstich vor; doch kommen
bei beiden noch der Languettenstich und verschiedene
Phantasiestiche zur Anwendung. Die venezianische
Weißstickerei, bei der stellenweise der Grund nach der Arbeit
entfernt wird, so daß die durchbrochenen Stellen durch feine
Fadenverschlingungen gefüllt werden, streift schon nahe an die
Spitzennäherei. Die Weißstickerei ist im westlichen
Europa mehr Sache der Industrie; in Deutschland wird sie im
sächsischen Vogtland, namentlich in Plauen, und den
angrenzenden Gegenden des Erzgebirges und des bayrischen
Oberfranken und zwar in ausgedehntester Weise mit Stickmaschinen
(s. d.) betrieben. Vgl. die bei den Artikeln Handarbeiten und
Spitzen angeführte Litteratur, insbesondere die
Musterbücher von H. Sibmacher (dazu noch: Kreuzstichmuster, 36
Tafeln der Ausgabe von 1604, Berl. 1885), und Drahan, Stickmuster
(Wien 1873); "Original-Stickmuster der Renaissance" (2. Aufl., daf.
1880); Lessing, Muster altdeutscher Leinenstickerei (3 Sammlungen,
Berl.); Teschendorff, Kreuzstichmuster für Leinenstickerei
(das. 1878-83, 2 Hefte); Wendler, Stickmuster nach Motiven aus dem
16. Jahrhundert in Farben gesetzt (das. 1881); H. Schulze,
Mustersammlung alter Leinenstickerei (Leipz. 1887); Fröhlich:
Neue farbige Kreuzstichmuster (Berl. 1888), Neue Borden (das.
1888), Allerlei Gedanken in Vorlagen für das Besticken und
Bemalen unsrer Geräte (das. l888).

Stickertressen, s. Bortenweberei.

Stickftuß, s. Lungenödem.

Stickgas, s. v. w. Stickstoff.

Stickhusten, s. Keuchhusten.

Stickmaschine, von Josua Heilmann 1829 erfundene
Vorrichtung zur Herstellung von Stickereien auf Geweben. Die
Figuren entstehen hierbei dadurch, daß die Fäden an den
Figurenrändern mittels Nadeln so durch das Gewebe gesteckt und
durchgezogen werden, daß sie nach und nach auf der
Fläche das Muster erhaben bilden, z. B. indem (Fig. 1) der
Faden den durch die Zahlen 1-10 angedeuteten Verlauf nimmt, 1-2
oben, 2-3 unten, 3-4 oben u. s. f. Die Heilmannsche S., welche bis
heute keine wesentliche Abänderung erfahren hat, ahmt die
Handarbeit genau nach und besteht in der Hauptsache aus drei
Teilen, nämlich einem Rahmen, an welchem das mit Stickerei zu
versehende Zeug ausgespannt wird, den Nadeln und einem Apparat,
welcher die Nadel ergreift, durchs Zeug sticht und mit dem Faden
durchzieht, also die Hand des Arbeiters ersetzt. Bei der S. ist nun
aber der Rahmen nicht, wie beim Handsticken, horizontal
feststehend, sondern beweglich und zwar so, daß das Zeug
immer in einer vertikalen Ebene bleibt, während die Nadeln nur
eine horizontale Bewegung machen. Wenn also eine Nadel durch das
Zeug an einer Stelle, z. B. Punkt 1 der Fig. 1, durchgegangen ist,
so wird der Rahmen so bewegt, daß die Nadel beim
Zurückstechen den nächsten Punkt, z. B. Punkt 2 der Fig.
1,

[Fig 1.]

318

Stickmaschine.

trifft. Die S. arbeitet mit einer großen Anzahl Nadeln,
welche in zwei horizontale Reihen so verteilt sind, daß auf
dem Zeuge gleichzeitig zwei kongruente Stickereien an zwei
verschiedenen Stellen gebildet werden. Dazu ist es nötig,
daß der Rahmen stets parallel verschoben wird. Zu dem Zweck
liegt der vertikale Stickrahmen A (Fig. 2) mit zwei runden Schienen
a auf Rollen b, welche wieder in einem Rahmen c sitzen, der sich
mit Schneiden auf das gegabelte Ende eines Hebels d stützt,
welcher in Fig. 2 abgebrochen gezeichnet ist, jedoch sich in
Wirklichkeit über den Drehpunkt d' fortsetzt und am Ende ein
Gegengewicht trägt. Die Gegengewichte beider Hebel halten dem
Rahmen mit den darauf befindlichen Walzen e, e1, e2, e3 und dem
aufgespannten Zeug das Gleichgewicht. Da nun außerdem der
Rahmen unten an zwei Stellen durch vertikale Schlitze f
geführt und oben durch zwei Zapfen g des Gestells, welche
zwischen Gleitschienen h des Rahmens stecken, gehalten wird, so
läßt sich derselbe in horizontaler und vertikaler
Richtung so verschieben, daß er in einer vertikalen Ebene
bleibt, und daß auch jede in ihm liegende Linie ihrer
ursprünglichen Lage parallel bleibt. An dem Rahmen sind nun
vier Walzen e, e1, e2, e3 in Zapfen drehbar angebracht, wovon jede
mit einem Sperrrad versehen ist, in welches je eine Sperrklinke (e'
e1', e2', e3') eingreift. Je zwei Walzen (e und e1, e2 und e3)
dienen zur Aufspannung je eines Zeugstücks kk' parallel zu dem
Rahmen, während die Sperrklinken die Rückdrehung
verhindern. Ist auf jedem Stück eine horizontale Reihe
nebeneinander liegender Figuren fertig gestickt, so zieht man das
Zeug von e auf e1 und von e2 auf e3 ein Stück weiter. Die
Bewegung zwischen je zwei Nadelstichen wird dem Rahmen nicht
direkt, sondern mit Hilfe eines sogen. Storchschnabels
(Pantographen) übertragen. Fig. 3 zeigt denselben mit dem
Rahmen A in verkleinertem Maßstab. I II III IV ist ein in
seinen Ecken in Scharnieren drehbares Parallelogramm. Die Seite II
III ist bis zum Punkt V, die Seite III bis zum Punkt VI
verlängert, wobei die Dimensionen I VI und III V so
gewählt sind, daß die Punkte V, IV und VI auf einer
Geraden liegen. Wenn man daher den Punkt V festhält und den
Punkt VI die Kontur irgend einer Figur umfahren läßt, so
wird dabei Punkt IV eine dieser ähnliche Figur verkleinert
beschreiben. Der Punkt V ist nun an dem Gestell der S. drehbar
befestigt, während im Punkt IV ein am Rahmen A befindlicher
Zapfen angebracht ist. Da sich aber der Rahmen A so verschiebt,
daß jede Linie in ihm ihrer ursprunglichen Lage parallel
bleibt, so wird, wenn Punkt VI an einer vergrößerten
Figur des Stickmusters entlang geführt wird, jeder Punkt des
Rahmens, also auch des aufgespannten Zeugs, dieselbe Figur in
(gewöhnlich sechsfach) verkleinertem Maßstab
beschreiben. An dem Stickmuster sind die einzeln Fadenlagen durch
Linien, die Nadelstiche durch Punkte angedeutet, der Arbeiter
rückt einen in VI befestigten spitzen Stift zwischen je zwei
Nadelstichen von einem Punkt auf den nächstfolgenden, so
daß jeder Punkt des Zeugs in derselben Richtung um eine
verkleinerte Strebe verschoben wird, die der wirklichen
Größe des Musters entspricht. Die Nadeln werden durch
jedes der beiden Zeugstücke in je einer horizontalen Reihe von
50-75 Stück hin- und hergestochen. Dazu sind sie mit zwei
Spitzen und einem in der Mitte sitzenden Öhr durch das der
Faden gezogen ist, versehen und werden auf jeder Seite von Zangen
erfaßt, durchgezogen, dann wieder nach Verschiebung des
Rahmens rückwärts eingestochen, losgelassen und von der
auf der andern Seite dagegen geführten Zange ergriffen und
durchgezogen etc. Diese Zangen sitzen auf jeder Seite in zwei
horizontalen Reihen an je einem mit Rollen ll' auf Schienen m m des
Untergestells C gegen das Zeug zu bewegenden Gestell B B'. Dasselbe
besteht aus einem Wagen n n' von der Breite des Zeugs mit Schildern
o o', welche oben und unten prismatische Schienen p p' tragen. An
diesen sind die Zeuge mit ihren festliegenden Schenkeln q q'
befestigt, welche an ihrer dem Zeug zugekehrten Seite eine kleine
Platte mit einem konischen Loch zum Einführen der Nadeln
haben. Die Nadel wird so weit eingeschoben, daß sie gegen
einen kleien Vorsprung stößt. Während sie nun in
einer kleinen Rille liegt, wird der bewegliche Backen r r' der
Zange dagegen gedrückt. Dies geschieht in folgender Weise: Der
Schwanz der beweglichen Zangenschenkel steht fortwährend
unter

Fig. 2. Stickmaschine (Querschnitt)

Fig. 3. Storchschnabel

319

Sticknähmaschine - Stickstoffoxyd.

dem Druck einer auf Schließung der Zange wirkenden Feder s
s'. Gegen die andre Seite des Schwanzes legt sich jedoch eine
über sämtliche Zangen einer Reihe fortgehende Welle t t',
welche im allgemeinen von rundem Querschnitt und nur von einer
Seite abgeflacht ist. Liegt diese Welle mit ihren runden Teilen auf
den Zangen, so sind dieselben geöffnet; ist sie dagegen so
gedreht, daß sie ihre flache Seite den Zangen zukehrt, so
geben die Schwänze dem Druck der Federn nach und
schließen sich. Zur Drehung dieser Wellen dient der
Zahnsektor u u', in welchen die Zähne einer durch einen
besondern Mechanismus bewegten Zahnstange v v' eingreifen. An den
Stützen o' sind nun noch kleine durchgehende Wellen w w'
gelagert, an deren beiden Enden die Hebelchen x x' und y y'
befestigt sind. Die Enden der erstern sind durch je eine parallel
zum Zeug liegende dünne Stange z z' verbunden, dieselben legen
sich unter der Einwirkung der Gewichte ß ß' auf die von
dem Gewebe zu den Nadeln geführten Stickfäden und geben
ihnen eine gleichmäßige Spannung, werden aber
aufgehoben, sobald sich die Zangen dem Zeug so weit nähern,
daß die Hebel y y' gegen kleine am Maschinengestell
befestigte Zapfen $\zeta\zeta'$ stoßen. Die Bewegung der
Wagen n n' mit den daran befindlichen Zangen erfolgt durch einen
Arbeiter von einer Seite der Maschine aus mittels Mechanismen,
welche in der Figur fortgelassen sind. Die Maschine arbeitet nun in
folgender Weise: Die einen Enden der Fäden mögen im Zeug
befestigt sein, während die andern in die Nadeln
eingefädelt sind. Ist der linke Wagen eben gegen das Zeug
gefahren, und sind dabei die Nadeln mit ihren aus den Zangen
herausstehenden Spitzen durchgestochen, dann muß der rechte
Wagen mit geöffneten Zangen vor dem Zeug stehen, um die Nadeln
zu fassen. Darauf werden zugleich durch Verschiebung der
Zahnstangen v und v' unter Vermittelung der Zahnsegmente u u' und
der Wellen t t' die linken Zangen geöffnet und die rechten
geschlossen, so daß die Nadeln nunmehr in den rechten Zangen
festgehalten werden. Während nun der linke Wagen in seiner
Stellung verbleibt, entfernt sich der rechte vom Zeug und nimmt
dabei die Nadeln mit. Nachdem der Wagen einen kleinen Weg
zurückgelegt hat, sind die an w drehbaren kleinen Stangen v an
den Zapfen $\zeta$ so weit zurückgeglitten, daß sie sich
zugleich mit den Hebeln x und den daran befestigten Querstangen z
unter der Einwirkung des Gewichtshebels ß gesenkt haben, so
daß die Stangen z sich auf die durch das Zeug
hindurchgezogenen Fadenenden legen. Der Wagen wird so weit
geführt, bis die Fäden ganz ausgezogen sind, wobei sie
durch die aufgelegte Stange z eine gleichmäßige schwache
Spannung erhalten, welche genügt, die eben auf der linken
Seite des Zeugs entstandene Lage von Fadenschleifen gehörig
anzuziehen. Nun wird der Rahmen A mit Hilfe des Storchschnabels
verschoben, dann der Wagen B zurückgeführt, damit z
gehoben und die Nadeln von rechts nach links durchgesteckt, worauf
sich der beschriebene Vorgang abwechselnd von links und rechts
wiederholt. In neuester Zeit ist für die S. eine neue
Grundlage dadurch gewonnen, daß man, wie bei den
Nähmaschinen, Nadeln mit dem Öhr an der Spitze und kleine
Schiffchen zum Durchbringen eines zweiten Fadens anwendet, also die
Sticknähmaschine nachahmt. Vgl. Jäck, Die rationelle
Behandlung der S. (3. Aufl., Leipz. 1886).

Sticknähmaschine, zum Sticken kleiner Muster
eingerichtete Nähmaschine, besteht aus einer gewöhnlichen
Nähmaschine, auf deren Nähplatte der Stoff, in einen
Stickrahmen eingespannt, durch Führung des letztern
vermittelst eines Storchschnabels, wie bei den Stickmaschinen,
unter der Nadel hin- und hergeschoben wird, so daß die
Figuren durch Plattstich entstehen.

Stickoxyd und Stickoxydul, s. v. w. Stickstoffoxyd, resp.
Stickstoffoxydul.

Stickseide, s. v. w. Plattseide.

Stickstoff (Stickgas, Azot, Luftgas, Nitrogenium) N,
chemisch einfacher Körper, findet sich in der Atmosphäre
(79 Volumprozent), mit Sauerstoff und Wasserstoff verbunden als
salpetrige Säure und namentlich als Salpetersäure, mit
Wasserstoff verbunden als Ammoniak weitverbreitet, mit Kohlenstoff,
Wasserstoff und Sauerstoff verbunden in vielen Tier- und
Pflanzenstoffen, namentlich in den Proteinkörpern. Zur
Darstellung von S. entzieht man der Luft den Sauerstoff durch
Eisen- oder Manganhydroxydul, alkalische Pyrogallussäure oder
alkalische Kupferchlorürlösung, durch Phosphor,
glühende oder mit Salzsäure befeuchtete
Kupferdrehspäne etc., oder man erhitzt eine Lösung von
salpetrigsaurem Ammoniak (NH4NO2), welches dabei in S. und Wasser
(H2O) zerfällt, oder man leitet Chlor in stets
überschüssiges Ammoniak, wobei Salmiak (NH4Cl) und S.
entstehen; auch kann man saures chromsaures Ammoniak (oder ein
Gemisch von saurem chromsaurem Kali mit Salmiak) erhitzen, welches
sich zu Wasser, Chromoxyd und S. zersetzt. S. ist ein farb-,
geruch- und geschmackloses Gas, welches unter einem Druck von 200
Atmosphären und bei sehr niedriger Temperatur zu einer
farblosen Flüssigkeit verdichtet werden kann. Es besitzt ein
spezifisches Gewicht von 0,971 (1 Lit. wiegt bei 0° und 760 mm
Barometerstand 1,256 g); das Atomgewicht ist 14,01, 100 Volumen
Wasser lösen bei 0°: 2,035, bei 15°: 1,478 Vol. S.,
Alkohol löst etwas mehr. S. ist sehr indifferent,
unterhält weder die Verbrennung noch die Atmung, ist auch
selbst nicht brennbar und verbindet sich direkt nur mit wenigen
Elementen; aus indirektem Weg aber bildet er eine Reihe von
Verbindungen, die meist durch sehr charakteristische Eigenschaften
ausgezeichnet sind: manche von ihnen sind sehr beständig,
andre höchst wandelbar, zum Teil explosiv, wie der
Chlorstickstoff, manche Nitrokörper etc. S. tritt
gewöhnlich dreiwertig, in manchen Verbindungen aber auch
fünfwertig auf. Er bildet mit Sauerstoff fünf
Verbindungen: Stickstoffoxydul N2O, Stickstoffoxyd NO,
Stickstofftrioxyd (Anhydrid der salpetrigen Säure) N2O3,
Stickstoffperoxyd NO2 und Stickstoffpentoxyd (Anhydrid der
Salpetersäure) N3O5. Er wurde von Rutherford 1772 entdeckt,
insofern dieser zeigte, daß die Luft, in welcher Tiere
geatmet hatten, auch nach Beseitigung der ausgeatmeten
Kohlensäure die Verbrennung einer Kerze nicht mehr
unterhält. Scheele sprach 1777 bestimmt von zwei Bestandteilen
der Luft, und Lavoisier erkannte den S. als einfachen Körper
und nannte ihn Azot, weil er das Leben nicht unterhält,
während Chaptal den Namen Nitrogène vorschlug, weil er
in Salpeter enthalten sei. Vgl. König, Der Kreislauf des
Stickstoffs und seine Bedeutung für die Landwirtschaft
(Münst. 1878); Frank, über die Ernährung der Pflanze
mit S. etc. (Berl. 1888).

Stickstoffbor, s. Borstickstoff.

Stickstoffdioxyd, s. v. w. Stickstoffoxyd.

Stickstoffmonoxyd, s. v. w. Stickstoffoxydul.

Stickstoffoxyd (Stickstoffdioxyd, Stickoxyd) NO entsteht
bei Einwirkung vieler Metalle (Kupfer, Silber, Quecksilber etc.),
des Phosphors und andrer leicht oxydierbarer Körper auf
Salpetersäure und beim Erwärmen von Eisenchlorür mit
salpetersaurem Kali und Salzsäure. Es ist ein farbloses Gas
und wird

320

Stickstoffoxydul - Sticta.

bei sehr niedriger Temperatur unter einem Druck von 104
Atmosphären zu einer farblosen Flüssigkeit verdichtet.
Das spezifische Gewicht ist 1,039, es verbindet sich mit dem
Sauerstoff der Luft direkt unter Bildung roter Dämpfe von
Stickstoffperoxyd, löst sich bei mittlerer Temperatur in 20
Volumen Wasser, erträgt hohe Temperatur, ist nicht atembar,
unterhält die Verbrennung von erhitztem Eisen und Phosphor,
während eine Kerze darin erlischt; eine Mischung von
Schwefelkohlenstoffdampf und Stickstoffoxyd verbrennt mit einer
blauen, an chemisch wirksamen Strahlen sehr reichen Flamme, welche
zum Photographieren bei Ausschluß des Tageslichts dienen kann
(Sellsche Lampe). Feuchte Zink- und Eisenfeilspäne,
Schwefelleber etc. reduzieren S. zu Oxydul; Kalium und
glühendes Kupfer reduzieren es vollständig.
Eisennitriollösung absorbiert es reichlich und färbt sich
dabei fast schwarz, auch Salpetersäure nimmt es auf und bildet
eine blaue, grüne oder braune Flüssigkeit. Es wurde schon
von van Helmont beobachtet, aber erst von Priestley näher
untersucht und von ihm Salpetergas genannt.

Stickstoffoxydul (Stickstoffmonoxyd, Stickoxydul,
Lustgas, Lachgas) N2O entsteht bei vorsichtigem Erhitzen von
salpetersaurem Ammoniak, bei Einwirkung sehr verdünnter kalter
Salpetersäure auf Zink- oder feuchter Eisen- oder Zinkfeile,
Schwefelleber oder schwefliger Säure auf Stickstoffoxyd und
bei Einwirkung von schwefliger Säure auf heiße
verdünnte Salpetersäure. Dargestellt wird es stets durch
Erhitzen von salpetersaurem Ammoniak und Waschen des Gases mit
Eisenvitriollösung und Kalilauge; 1 kg des Salzes liefert 182
Lit. Gas. Ein kontinuierlich arbeitender Apparat zur Darstellung
des Gases besteht aus einer mit gereinigtem groben Sand
gefüllten, entsprechend erhitzten eisernen Röhre, in
welcher das geschmolzene salpetersaure Ammoniak, während es
durch den Sand sickert, vollständig zersetzt wird. Man
versendet das Gas im flüssigen Zustand in starkwandigen
eisernen oder kupfernen Flaschen. Es bildet ein farbloses Gas,
riecht und schmeckt schwach süßlich, spez. Gew. 1,52;
100 Volum. Wasser lösen bei 0°: 130,5, bei 15°: 77,8
Vol. In Alkohol ist es noch leichter löslich; bei 0° und
unter einem Druck von 30 Atmosphären wird es zu einer
farblosen Flüssigkeit kondensiert, welche bei -88° siedet,
bei -115° erstarrt und, mit Schwefelkohlenstoff gemischt, beim
Verdampfen im luftleeren Raum eine Temperatur von -140°
erzeugt. Das Gas kann geatmet werden, unterhält den Atmungs-
und Verbrennungsprozeß, und ein glimmender Holzspan
entzündet sich darin fast wie in Sauerstoff. Ein Gemisch von 4
Vol. S. mit 1 Vol. Sauerstoff erzeugt beim Einatmen nach 1 1/2-2
Minuten Rausch und Heiterkeit (daher Lustgas). Bei längerm
Einatmen erzeugt es Ohrensausen, Rausch, Bewußtlosigkeit und
tötet endlich durch Erstickung. Unterbricht man aber die
Einatmung, sobald die Bewußtlosigkeit eingetreten ist, so
verschwinden alle Erscheinungen schnell und ohne bleibenden
Nachteil. Deshalb benutzt man das Gas als anästhetisches
Mittel bei kleinen Operationen. S. wurde 1772 von Priestley
entdeckt, Davy beobachtete 1799 seine eigentümliche Wirkung
auf den Organismus, und Wells zu Hartford in Connecticut benutzte
es zur Hervorbringung einer schnell vorübergehenden Narkose.
Es blieb indes ohne praktischen Wert, bis Colton und Porter 1863
von neuem darauf aufmerksam machten. Letzterer führte es in
England ein, und 1867 brachte es Evans in Paris zur eigentlich
wissenschaftlichen Verwertung. Das S. erleidet bei der Einatmung
durchaus keine Veränderung, und dies Verhalten erschwert eine
genügende Erklärung seiner Wirkung. Zur Hervorbringung
einer vollständigen Narkose sind im Durchschnitt 22-26 Lit.
Gas erforderlich. Gewöhnlich währt dieselbe nur 30-90
Sekunden, reicht also nur für kurze Operationen, wie das
Ausziehen von Zähnen; doch hat man durch geschickte Leitung
des abwechselnden Einatmens von S. und Luft die Narkose auch schon
auf 50-90 Minuten ausgedehnt. Unterbricht man die Zufuhr des
Stickstoffoxyduls vollständig, so tritt schon nach 1-2 Minuten
der normale Zustand wieder ein, ohne daß sich die mindeste
Nachwirkung bemerkbar macht. Lange fortgesetztes Einatmen von S.
behufs Herbeiführung einer vollkommen und lange andauernden
Empfindungslosigkeit erfordert immerhin große Umsicht des
Operateurs, weil in solchem Falle leicht bedenkliche
Erstickungszufälle eintreten können. Nun hat aber Bert
das gleichzeitige Einatmen von S. und Luft ohne Abschwächung
der Wirkung des erstern dadurch ermöglicht, daß er
gleiche Volumen dieser Gase mischt und sie unter doppeltem
Atmosphärendruck einatmen läßt. In gleicher Zeit
wird dann dieselbe Menge S. den Lungen zugeführt wie beim
Einatmen des reinen Gases unter gewöhnlichem Druck, nebenbei
aber erhält die Lunge die für eine normale Respiration
erforderliche Menge Sauerstoff. Auf solche Weise vermochte Bert bei
Versuchen an Tieren eine volle Stunde hindurch gänzliche
Empfindungslosigkeit zu unterhalten und in dieser Zeit große
Operationen schmerzlos vorzunehmen. Nach 2-3 Atemzügen reiner
Luft trat der normale Zustand wieder ein, ohne daß sich
irgend welche Nachwirkungen gezeigt hätten. Vgl. Goltstein,
Die physiologischen Wirkungen des Stickstoffoxydulgases (Bonn
1878); Schrauth, Das Lustgas und seine Verwendbarkeit in der
Chirurgie (Bonn 1889).

Stickstoffpentoxyd, s. Salpetersäure, S. 226.

Stickstoffperoxyd (Stickstofftetroxyd) NO2 entsteht bei
Berührung von Stickstoffoxyd mit Luft, beim Erhitzen
verschiedener Salpetersäuresalze (wie Bleinitrat) und, mit
Stickstofftrioxyd gemischt, bei Einwirkung von Salpetersäure
auf Stärkemehl, Zucker etc.; es bildet bei -9° farblose
Kristalle und schmilzt leicht zu einer farblosen Flüssigkeit,
die sich bei höherer Temperatur gelb färbt, bei 15°
orangerot ist, bei 22° siedet und einen braunroten, erstickend
riechenden Dampf bildet, welcher bei stärkerm Erhitzen immer
dunkler, fast schwarz wird. In Form dieses Dampfes beobachtet man
es am häufigsten. Mit wenig eiskaltem Wasser zersetzt sich das
Peroxyd in salpetrige Säure und Salpetersäure, mit Wasser
von gewöhnlicher Temperatur (wegen Zersetzung der salpetrigen
Säure) in Salpetersäure und Stickstoffoxyd und bei
Gegenwart von Sauerstoff zuletzt vollständig in
Salpetersäure. Wegen der schnell eintretenden sauren Reaktion
des feuchten Peroxyds nannte man dasselbe früher
Untersalpetersäure.

Stickstofftetroxyd, s. v. w. Stickstoffperoxyd.

Stickstofftheorie, s. Agrikulturchemie und
Landwirtschaft, S. 478.

Sticta Schreb. (Grubenflechte), Laubflechten mit
weißen, becherartig vertieften Flecken (Cyphellen) auf der
Unterseite des Thallus, meist am Rande des letztern befindlichen
Apothecien und mit der Markschicht aufsitzender Apothecienscheibe.
S. pulmonacea Ach. (Lungenflechte), mit lederartigem, buchtig
gelapptem, netzförmig grubigem, grünem, trocken
bräunlichem Thallus mit weißen Flecken und rotbraunen
Apothecien, wächst am Fuß alter Buchen und Eichen und
war früher als Lungenmoos offizinell.

321

Stiefel - Stiehle.

Stiefel, Fußbekleidung, s. Schuh.

Stiefel, altdeutsches gläsernes
Trinkgefäß in Form eines Stiefels, zum Willkomm oder
Rundtrunk benutzt, oft von bedeutender Größe; daher die
Redensart "einen S. vertragen". In der Technik heißt S. der
Cylinder, worin der Kolben einer Pumpe sich bewegt.

Stieffel, Michael, s. Stifel.

Stiefgeschwister, s. Halbgeschwister.

Stiefmütterchen, s. v. w. Viola tricolor.

Stiefverwandtschaft, s. Schwägerschaft.

Stiege, eine Anzahl von 20 Stück.

Stieglitz (Distelfink, Goldfink, Jupitersfink, Fringilla
[Carduelis] elegans Cuv.), Sperlingsvogel aus der Gattung Fink, 13
cm lang, 22 cm breit, mit langem, kegelförmigem, an der
dünnen Spitze etwas gebogenem Schnabel, spitzigen
Flügeln, mittellangem Schwanz, kurzen, starken, langzehigen,
mit wenig gebogenen Nägeln bewehrten Füßen und sehr
buntem Gefieder. Den Schnabel umgibt ein schwarzer und diesen ein
breiter, karminroter Kreis; der Hinterkopf ist schwarz, die Wangen
und der Unterkörper sind weiß, der Rücken ist
braun; Flügel und Schwanz sind schwarz mit weißem
Spiegel, die Schwingen an der Wurzelhälfte goldgelb. Beide
Geschlechter ähneln sich täuschend. Der S. findet sich
fast in ganz Europa, auf den Kanaren, Madeira, in Nordwestafrika,
weitverbreitet in Asien, verwildert auf Cuba, überall in baum-
und obstreichen Gegenden. Im Herbst zieht er in Scharen weit umher,
und im Winter trifft man ihn in kleinern Trupps. Er ist
hauptsächlich Baum-, aber nicht eigentlich Waldvogel, sehr
lebhaft und gewandt, fliegt leicht und schnell, klettert wie eine
Meise, nährt sich von allerlei Samen, besonders von Birken,
Erlen, Disteln, frißt auch viele Kerbtiere, nistet auf
Bäumen und legt im Mai 4-5 weiße oder
blaugrünliche, sparsam violettgrau punktierte, am stumpfen
Ende kranzartig gezeichnete Eier, welche das Weibchen 13-14 Tage
bebrütet. Wegen seines anmutigen Gesangs wird er viel in der
Gefangenschaft gehalten; er erzeugt leicht mit dem Kanarienvogel
eigentümlich gefärbte Bastarde.

Stieglitz, 1) Ludwig, Baron von, Gründer des
berühmten Handels- und Wechselhauses seines Namens in
Petersburg, geb. 1778 zu Arolsen, ging früh nach
Rußland, erwarb sich dort durch sein kommerzielles Genie und
seine rastlose Thätigkeit ein bedeutendes Vermögen,
übte auf Rußlands Handel und Industrie einen
weitgreifenden förderlichen Einfluß aus und war an allen
größern Kredit- und Finanzoperationen der russischen
Regierung beteiligt. Seiner Bemühung hauptsächlich
verdankt Rußland unter anderm die Einführung der
Dampfschiffahrt zwischen Petersburg und Lübeck. Dabei war sein
Haus in Petersburg der Sammelplatz der geistreichsten
Notabilitäten. Der Kaiser ernannte ihn 1825 zum Reichsbaron.
Er starb 18. März 1843 in Petersburg. Nach seinem Tod
führte sein Sohn Alexander das Geschäft fort und wahrte
ihm als tüchtiger Finanzmann seinen alten Ruhm, doch
löste er 1863 die Firma auf. Er starb 24. Okt. 1884.

2) Heinrich, Dichter, geb. 22. Febr. 1803 zu Arolsen, studierte
in Göttingen und Leipzig , ward 1828 in Berlin Gymnasiallehrer
und Kustos an der königlichen Bibliothek und verheiratete sich
in demselben Jahr mit Charlotte Sophie Willhöft (geb. 1806 zu
Hamburg). Ein Nervenleiden veranlaßte ihn jedoch bald, seine
Stellen niederzulegen; eine Reise nach Petersburg hatte nicht den
gewünschten Erfolg der Heilung. Ein anempfindendes Talent, dem
Stärke und Konzentration fehlten, fühlte S. diesen Mangel
aufs tiefste; die Sehnsucht nach einer höchsten Leistung
erfüllte und verzehrte ihn krankhaft. Seine
schwärmerische Gattin nährte den unseligen Gedanken,
daß ein großer Schmerz den Geliebten zum ganzen Mann
und Dichter reifen würde, und gab sich deshalb 29. Dez. 1834
durch einen Dolchstich den Tod (vgl. Mundt, Charlotte S., ein
Denkmal, Berl. 1835). Die That dieser opferfreudigen Verirrung
konnte indessen den geträumten Erfolg nicht haben, S. brach
beinahe völlig zusammen. Er lebte fortan meist zu Venedig und
starb daselbst 24. Aug. 1849 an der Cholera. Seine bedeutendsten
dichterischen Arbeiten sind: "Bilder des Orients" (Leipz. 1831-33,
4 Bde.) mit der Tragödie "Sultan Selim III." Ihnen
schließen sich die "Stimmen der Zeit in Liedern" (2. Aufl.,
Leipz. 1834) an. Von seinen spätern Leistungen sind nur die
"Bergesgrüße" (Münch. 1839) hervorzuheben. Vgl. die
von H. Curtze herausgegebenen Schriften: "H. S., eine
Selbstbiographie" (Gotha 1865), "Briefe von S. an seine Braut
Charlotte" (Leipz. 1859, 2 Bde.) und "Erinnerungen an Charlotte"
(Marb. 1865).

Stiehl, Ferdinand, preuß. Schulmann, namentlich
bekannt als Verfasser der "Regulative für das Volksschul-,
Präparanden- und Seminarwesen" vom 1., 2. u. 3. Okt. 1854,
wurde 12. April 1812 zu Freusburg (Kreis Altenkirchen) geboren,
studierte in Bonn und Halle Theologie, kam 1835 als erster Lehrer
an das Seminar zu Neuwied und wurde 1839 zum Direktor ernannt. Der
Minister Eichhorn berief ihn 1844 als Hilfsarbeiter in das
Kultusministerium, 1845 ward er Regierungs- und Schulrat, 1848
Geheimer Regierungs- und vortragender Rat, 1855 Geheimer
Oberregierungsrat. Um die Entwickelung des Seminarwesens in jenen
Jahrzehnten hat er sich bei aller Einseitigkeit seiner
konservativen Richtung unleugbare Verdienste erworben und die
Einfügung des Volksschul- und Seminarwesens der neuen
Provinzen in die preußische Ordnung nach 1866 mit kundiger,
sicherer, wenn auch bisweilen rauher Hand vollzogen. Kurz nach
Falks Antritt des Kultusministeriums und nach dem Erlaß der
"Allgemeinen Bestimmungen" vom 15. Okt. 1872 am 1. Jan. 1873 trat
S. als Wirklicher Geheimer Oberregierungsrat in den Ruhestand und
starb 16. Sept. 1878 in Freiburg i. Br. Er veröffentlichte:
"Der vaterländische Geschichtsunterricht" (Kobl. 1842);
"Aktenstücke zur Geschichte und zum Verständnis der drei
preußischen Regulative" (Berl. 1855); "Die Weiterentwickelung
der Regulative" (das. 1861); "Meine Stellung zu den drei
preußischen Regulativen" (das. 1872). Auch begründete er
1859 das "Zentralblatt für die gesamte Unterrichtsverwaltung
in Preußen".

Stiehle, Gustav von, preuß. General, geb. 14. Aug.
1823 zu Erfurt, trat 1840 in das 4. pommersche Infanterieregiment
Nr. 21, ward 1841 Offizier, 1845 bis 1847 zur Kriegsakademie und
1852-55 zur trigonometrischen Abteilung des Großen
Generalstabs kommandiert. 1858 als Hauptmann in das
Königsgrenadierregiment versetzt, trat er 1859 als Major in
den Generalstab zurück und ward Direktor der neuerrichteten
Kriegsschule zu Potsdam, dann zu Neiße. 1860 erhielt er die
Leitung der historischen Abteilung des Generalstabs und hielt
zugleich Vorlesungen an der Kriegsakademie. 1864 nahm er im Stab
des Feldmarschalls v. Wrangel am Feldzug gegen Dänemark teil,
wurde geadelt, zum Oberstleutnant und Flügeladjutanten des
Königs ernannt und dann als Militärattaché den
Gesandtschaften in London und Wien zugeteilt. Den Feldzug von 1866
machte er im großen Hauptquartier des Königs mit; er
erwarb sich hier den Orden pour le mérite, nahm an den
Nikolsburger

322

Stielbrand - Stiergefechte.

Verhandlungen teil u. leitete die militärischen
Schlußverhandlungen, welche dem Prager Frieden folgten. 1868
ward er zum Kommandeur des Gardegrenadierregiments Königin
Augusta in Koblenz ernannt, 1869 jedoch in den Großen
Generalstab zurückgerufen. 1870 wurde er Chef des Generalstabs
der zweiten Armee und nahm an allen kriegerischen Thaten dieser
Armee in einflußreichster Weise teil. S. war es, der am 27.
Okt. mit dem französischen General Jarras die Kapitulation von
Metz abschloß. Nach dem Friedensschluß trat er als
Abteilungschef in den Generalstab zurück, wurde 1871 Direktor
des allgemeinen Kriegsdepartements und Mitglied des Bundesrats,
1873 Generalleutnant à la suite und Inspekteur der
Jäger und Schützen, 1875 Kommandeur der 7. Division in
Magdeburg, 1881 kommandierender General des 5. Armeekorps in Posen
und 1886 Chef des Ingenieur- und Pionierkorps und Generalinspekteur
der Festungen; im September 1888 nahm er seinen Abschied.

Stielbrand (Stengelbrand), s. Brandpilze III.

Stieler, 1) Adolf, Kartograph, geb. 26. Febr. 1775 zu
Gotha, studierte die Rechte, erhielt 1797 eine Anstellung beim
Ministerialdepartement in Gotha, ward 1813 zum Legationsrat und
1829 zum Geheimen Regierungsrat befördert und starb 13.
März 1836. S. hat sich um die Geographie besonders durch
gründliche und geschmackvolle Behandlung des Kartenwesens
verdient gemacht. Sein Hauptwerk ist der bekannte "Handatlas", den
er unter Mitwirkung von Reichard (Gotha 1817-23) in 75
Blättern herausgab, und der in neuester Bearbeitung seit 1888
(in 90 Bl.) erscheint. Auch sein "Schulatlas" und seine "Karte von
Deutschland" in 25 Sektionen fanden weite Verbreitung.

2) Karl Joseph, Maler, geb. 1. Nov. 1781 zu Mainz, bildete sich
als Autodidakt zum Pastell- und Miniaturmaler, widmete sich dann
seit 1805 als Schüler Fügers in Wien der Ölmalerei
und eröffnete sich hier eine glänzende Thätigkeit
als Porträtmaler. Sein Ruf führte ihn von da nach Ungarn
und Polen, wo er zahlreiche Bildnisse malte, dann nach Paris, wo er
zwei Jahre verweilte und sich weiter bei Gerard ausbildete, dessen
elegante und anmutige, aber oberflächliche und charakterlose
Art für ihn maßgebend blieb. Nach einem Besuch Roms, wo
er das jetzt in der Leonhardskirche zu Frankfurt a. M. befindliche
große Altarblatt malte, ließ er sich 1812 in
München nieder. 1816 nach Wien gerufen, um den Kaiser Franz zu
malen, verweilte er dort bis 1820 und kehrte dann nach München
zurück, wo er 9. April 1858 starb. Von seinen Arbeiten sind
noch hervorzuheben: die Bildnisse Goethes (1828), Schellings,
Tiecks, A. v. Humboldts, Beethovens, der Familie des Königs
Maximilian von Bayern und die Galerie weiblicher Schönheiten
in der königlichen Residenz zu München.

3) Karl, Dichter und Schriftsteller, Sohn des vorigen, geb. 15.
Dez. 1842 zu München, studierte auf der Universität
daselbst die Rechte und promovierte, unternahm dann Reisen nach
England, Frankreich, der Schweiz, Belgien, Italien, Ungarn und
Norddeutschland, über die er meist in der "Allgemeinen
Zeitung" berichtete, und übernahm endlich eine Beamtenstelle
im bayrischen Staatsarchiv zu München, wo er 12. April 1885
starb. Sein Ruf als Dichter gründet sich auf seine
volkstümlich frischen und von köstlichem Humor
gewürzten Dichtungen in oberbayrischer Mundart, von denen
mehrere Sammlungen vorliegen, wie: "Bergbleameln" (Münch.
1865), "Weil's mi freut!" (Stuttg. 1876), "Habt's a Schneid'?!"
(das. 1877), "Um Sunnawend" (das. 1878), "In der Sommerfrisch"
(das. 1883) und "A Hochzeit in die Berg" (das. 1884), letztere
beiden mit Zeichnungen von H. Kauffmann. Alle diese (meist in
wiederholten Auflagen erschienenen) Bücher fanden, wie auch
seine hochdeutschen "Hochlandlieder" (Stuttg. 1879), "Neue
Hochlandlieder" (das. 1883) und das Liederbuch "Wanderzeit" (das.
1882), allgemein die günstigste Aufnahme. Außerdem
beteiligte sich S. an der Herausgabe mehrerer illustrierter
Prachtwerke, so: "Aus deutschen Bergen" (mit H. Schmid, Stuttg.
1871); "Weidmanns-Erinnerungen" (Münch. 1874); "Italien" (mit
E. Paulus und W. Kaden, Stuttg. 1875); "Rheinfahrt" (mit H.
Wachenhusen und Fr. W. Hackländer, das. 1877) und
"Elsaß-Lothringen" (das. 1877). Nach sei- nem Tod erschienen
noch: "Ein Winteridyll" (Stuttg. 1885); "Kulturbilder aus Bayern"
(das. 1885); "Natur- und Lebensbilder aus den Alpen" (das. 1886);
"Aus Fremde und Heimat", vermischte Aufsätze (das. 1886);
"Durch Krieg zum Frieden. Stimmungsbilder aus den Jahren 1870/71"
(das. 1886).

Stielstich, s. Stickerei.

Stier, 1) das zweite Zeichen des Tierkreises (*);

2) ein Sternbild zwischen 46-87° Rektaszension und 0-28
1/2° nördl. Deklination, nach Heis mit 188 dem
bloßen Auge sichtbaren Sternen, darunter der Aldebaran von
erster Größe sowie die Plejaden und Hyaden. Der
Poniatowskische S. ward 1777 vom Abt Poczobut zu Wilna als ein
eignes Sternbild aus Sternen gebildet, die zwischen der
östlichen Schulter des Ophiuchus und dem Adler sich befinden
und größtenteils zum Ophiuchus gehören.

Stier, Ewald Rudolf, protestant. Theolog, geb. 17.
März 1800 zu Fraustadt in Posen, studierte erst Jura, dann
Theologie, war bis 1819 Vorsteher der Halleschen Burschenschaft,
hielt sich hierauf an verschiedenen Orten auf, teils lernend, teils
lehrend, wurde, ohne eine Prüfung absolviert zu haben, 1829
Pfarrer zu Frankleben bei Merseburg, 1838 in Wichlinghausen bei
Barmen; 1846-50 privatisierte er in Wittenberg , dann wurde er zum
Superintendenten ernannt zuerst 1850 in Schkeuditz, 1859 in
Eisleben, wo er 16. Dez. 1862 starb. Unter seinen zahlreichen
exegetischen Werken nennen wir: "Siebzig ausgewählte Psalmen"
(Braunschw. 1834-36, 2 Bde.); "Die Reden des Herrn Jesu" (3. Aufl.,
Leipz. 1865 bis 1874, 7 Bde.); "Die Reden der Engel" (das. 1860);
"Die Reden der Apostel" (2. Aufl., das. 1861); "Jesaias, nicht
Pseudo-Jesaias" (Barm. 1851). Auch beteiligte er sich am Streit
über die Apokryphen (zu gunsten derselben), über die
Union, an der Revision der deutschen Bibel etc. Sehr verbreitet war
"Luthers Katechismus als Grundlage des Konfirmandenunterrichts" (6.
Aufl., Berl. 1855). Seine Auslegung ist mehr von einem kraftvollen
Inspirationsglauben, den er von J. F. v. Meyer übernommen
hatte, als vonwissenschaftlichen Gesichtspunkten bestimmt. Auch war
er Mitherausgeber der "Polyglotten-Bibel" (mit Theile, 4. Aufl.,
Bielef. 1875). Sein Leben beschrieben seine Söhne G. und F. S.
(Wittenb. 1868).

Stiergefechte (Corridas ["Rennen"] oder Fiestas ["Feste"]
de Toros), Kämpfe von Menschen zu Fuß und zu Pferd mit
Stieren, eine spezisisch spanische Volksbelustigung, die,
wahrscheinlich durch die Mauren in Spanien eingeführt, auch in
den spanischen Kolonien (nur schwach in Portugal) sich erhalten
hat. Als ritterliches Vergnügen, ähnlich dem Turnier und
den Eberhetzen, waren sie nachweislich schon im Anfang des 12.
Jahrh. in Spanien üblich, wie denn auch der Cid Campeador als
glänzender echter gerühmt wird, und unter Philipp IV.

323

Stieringen-Wendel - Stift.

erreichten die S. den Höhepunkt ihres Glanzes. Erst Philipp
V. trat, wenn auch ohne Erfolg, als offener Gegner der S. auf,
welche von nun an gewerbsmäßig von bezahlten
Stierkämpfern (Toreros) betrieben wurden, die heute in ganz
Spanien der Gegenstand allgemeinster Popularität und der
übertriebensten Huldigungen sowohl innerhalb als
außerhalb der Arena sind. Fast jede irgend bedeutende Stadt
hat ihre in Form eines Amphitheaters errichtete Plaza de Toros. Die
größten finden sich in Valencia (16,000 Plätze) und
Madrid (14,000). In Madrid finden, mit einer kurzen Unterbrechung
im Sommer, von Ostern bis Allerheiligen jeden Sonntag und
Donnerstag, oft auch häufiger, S. statt, so im J. 1887 deren
34 mit 217 Stieren und 372 Pferden als Opfer; in den
Provinzialstädten nicht so oft, dennoch kann man 200 S.
jährlich in Spanien annehmen. Das moderne Stiergefecht besteht
aus drei Akten, in welchen die vier Gruppen der Cuadrilla (alle
Toreros, welche irgendwie am Gefecht teilnehmen) nacheinander ihre
Geschicklichkeit entfalten. Die Picadores (Lanzenreiter) auf
elenden Kleppern reizen zunächst den auf den Kampfplatz
gelassenen Stier durch Lanzenstiche in den Nacken; seine Wut wird
gesteigert durch die Banderilleros, welche zu Fuß dem Stier
mit Widerhaken versehene aufgeputzte Stäbe (Banderillas,
Fähnlein) ins Fleisch stoßen. Die Chulos (auch
Capeadores, von Capa, Mantel, genannt) unterstützen die
andern, indem sie durch geschicktes Schwingen roter Mäntel die
Aufmerksamkeit des Stiers von seinen Verfolgern, sobald diese in
Gefahr schweben, ablenken. Die Hauptperson aber ist der Espada
(Degen), der dem Stier mit der blanken Waffe, einem ca. 90 cm
langen, starken Stoßdegen (Espada), den Todesstoß in
eine bestimmte Stelle des Nackens zu versetzen hat. Der Espada (der
Ausdruck Matador [Töter] ist in Spanien weniger üblich)
reizt den Stier durch die Muleta, ein an einem Stock befestigtes
Stück roten Tuches, das er mit der Linken vor sich flattern
läßt, und stößt dann dem angreifenden Stier
den Degen zwischen den Hörnern hindurch bis ans Heft in den
Leib. Berühmte Espadas erhalten 6-8000 Frank für jedes
Stiergefecht. Feige Stiere werden erst gebrannt und dann durch
Hunde zerrissen, oder man durchschneidet ihnen von hinten die
Fesseln, und der Cachetero, der auch die andern Stiere, die nicht
tödlich getroffen sind, abfängt, tötet sie durch
einen Dolchstoß ins Genick. Jeder einzelne Stierkampf dauert
ungefähr eine halbe Stunde; meist kommen bei einer Vorstellung
sechs Stiere und ungefähr doppelt so viel Pferde ums Leben.
Man kann heute die Opfer auf jährlich 1000 Stiere und
mindestens 3500 getötete Pferde berechnen. Die jährlichen
Ausgaben für S. betragen viele Millionen Frank. In Spanien wie
in den südamerikanischen Republiken widmen sich zahllose
Zeitschriften dem nationalen Sport der S., und die Litteratur
über dieselbe ist eine sehr reichhaltige. Vgl. Joest,
Spanische S. (Berl. 1889).

Stieringen-Wendel, Gemeinde im deutschen Bezirk
Lothringen, Kreis Forbach, an der Eisenbahn S. (Preußische
Grenze)-Novéant, hat ein bedeutendes Eisenhüttenwerk
mit 1250 Arbeitern (Fabrikation von Trägern, Eisenbahnschienen
etc.), eine Glashütte und (1885) 3854 meist kath.
Einwohner.

Stiersucht, s. Brüllerkrankheit.

Stier von Uri, im Mittelalter der Hürner (Hornist)
der Männer von Uri, so benannt, weil er die Mannschaft durch
das Blasen eines Auerochsenhorns zusammenrief.

Stieve, Felix, Geschichtsforscher, geb. 9. März 1845
zu Münster in Westfalen als Sohn des damaligen
Gymnasialdirektors, spätern vortragenden Rats im
preußischen Unterrichtsministerium, Friedrich S. (gest.
1878), studierte in Breslau, Innsbruck, Berlin und München
Geschichte und erlangte mit einer Dissertation: "De Francisco
Lamberto Avenionensi". 1867 zu Breslau die philosophische
Doktorwürde. Hierauf trat er im Herbst 1867 bei der
Historischen Kommission in München als Mitarbeiter an den
"Wittelsbacher Korrespondenzen zur Geschichte des
Dreißigjährigen Kriegs" ein, habilitierte sich 1874 als
Privatdozent der Geschichte an der Münchener Universität,
wurde 1878 Mitglied der königlich bayrischen Akademie der
Wissenschaften und 1886 Professor der Geschichte am Polytechnikum
in München. Er veröffentlichte: "Die Reichsstadt
Kaufbeuren und die bayrische Restaurationspolitik" (Münch.
1870); "Der Ursprung des Dreißigjährigen Kriegs 1607-19"
(Bd. 1: "Der Kampf um Donauwörth", das. 1875); "Das kirchliche
Polizeiregiment in Bayern unter Maximilian I." (das. 1876); "Zur
Geschichte der Herzogin Jakobe von Jülich" (Bonn1878); "Die
Politik Bayerns 1591-1607" (als Band 4 u. 5 der "Briefe und Akten
zur Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs", Münch.
1878-82); "Die Verhandlungen über die Nachfolge Kaiser Rudolfs
II. in den Jahren 1581-1602" (das. 1879); "Der Kalenderstreit des
16. Jahrhunderts in Deutschland" (das. 1880); "Über die
ältesten halbjährigen Zeitungen oder Meßrelationen
und insbesondere über deren Begründer Freiherrn v.
Aitzing" (das. 1881) ; "Wittelsbacher Briefe aus den Jahren
1590-1610" (das. 1885-88, 3 Tle.) u. a.

Stifel (Styfel, auch Stieffel), Michael, Algebrist, geb.
1487 zu Eßlingen, ging in das dortige Augustinerkloster, aus
dem er aber 1522 als Anhänger Luthers entfloh, worauf er als
evangelischer Prediger erst bei einem Grafen von Mansfeld, dann in
Oberösterreich, 1528-34 zu Lochau bei Torgau, hierauf bis 1547
zu Holzdorf bei Wittenberg, nachher zu Haberstrohm bei
Königsberg i. Pr. wirkte. Später scheint er in Jena
gelebt zu haben, wo er 19. April 1567 starb. Sein Hauptwerk ist die
"Arithmetica integra" (Nürnb. 1544). Vgl. Cantor in
Schlömilchs "Zeitschrift für Mathematik und Physik", Bd.
2.

Stift (das S.; Mehrzahl: die Stifter), jede mit
Vermächtnissen und Rechten ausgestattete, zu kirchlichen
Zwecken bestimmte und einer geistlichen Korporation übergebene
Anstalt mit allen dazu gehörigen Personen, Gebäuden und
Liegenschaften. Die ältesten Anstalten dieser Art sind die
Klöster, nach deren Vorbild sich später das kanonische
Leben der Geistlichen an Kathedralen und Kollegiatstiftskirchen
gestaltete. Im Gegensatz zu den mit den Kathedralkirchen
verbundenen Erz- und Hochstiftern mit je einem Erzbischof oder
Bischof an der Spitze hießen die Kollegiatkirchen, bei
welchen kein Bischof angestellt war, Kollegiatstifter. Die
Mitglieder derselben wohnten in Einem Gebäude zusammen und
wurden von dem Ertrag eines Teils der Stiftsgüter und Zehnten
unterhalten. So bildeten sich die Domkapitel, deren Glieder, die
Canonici, sich Kapitularen, Dom-, Chor- oder Stiftsherren nannten.
Infolge des häufigen Eintritts Adliger entzogen sich dieselben
schon im 11. Jahrh. der Verpflichtung des Zusammenwohnens
(Klausur), verzehrten ihre Präbenden einzeln in besondern
Amtswohnungen, bildeten jedoch fortwährend ein durch Rechte
und Einkünfte ausgezeichnetes Kollegium, welches seitdem 13.
Jahrh. über die Aufnahme neuer Kapitularen zu entscheiden, bei
Erledigung eines Bischofsitzes (Sedisvakanz) die

324

Stifte - Stigel.

provisorische Verwaltung der Diözese zu führen und den
neuen Bischof aus seiner Mitte zu wählen hatte. Vor der durch
den Reichsdeputationshauptschluß vom 25. Febr. 1803
verfügten Säkularisation hatten die deutschen Erz- oder
Hochstifter Mainz, Trier, Köln, Salzburg, Bamberg,
Würzburg, Worms, Eichstätt, Speier, Konstanz, Augsburg,
Hildesheim, Paderborn, Freising, Regensburg, Passau, Trient,
Brixen, Basel, Münster, Osnabrück, Lüttich,
Lübeck und Chur sowie einige Propsteien (Ellwangen,
Berchtesgaden etc.) und gefürstete Abteien (Fulda, Korvei,
Kempten etc.) Landeshoheit und Stimmrecht auf dem Reichstag, daher
sie auch reichsunmittelbare Stifter hießen und den
Fürstentümern gleich geachtet wurden. In andern
Ländern waren die Stifter niemals zu so hoher Macht gelangt.
Auch in den bei der Reformation protestantisch gewordenen
Ländern blieben meist die Stifter und die Domkapitel, jedoch
ohne einen Bischof und ohne Landeshoheit, und ihre Einkünfte
wurden als Sinekuren vergeben. Ausnahmen bildeten nur das ganz
protestantische Bistum Lübeck und das aus gemischten
Kapitularen bestehende Kapitel zu Osnabrück. Jetzt sind alle
Stifter mittelbar, d. h. der Hoheit des betreffenden Landesherrn
unterworfen. Bei den unmittelbaren Hoch- und Erzstistern
mußten die Domherren ihre Stiftsfähigkeit durch 16 Ahnen
beweisen; sie waren Versorgungsanstalten für die jüngern
Söhne des Adels geworden. Während diese adligen
Kapitularen sich den Genuß aller Rechte ihrer Kanonikate
vorbehielten, wurden die geistlichen Funktionen den regulären
Chorherren auferlegt, woher sich der Unterschied der weltlichen
Chorherren (Canonici seculares), welche die eigentlichen
Kapitularen sind, von den regulierten Chorherren (Canonici
regulares) schreibt. Die säkularisierten und protestantisch
gewordenen Stifter behielten häufig ihre eigne Verfassung und
Verwaltung; meist wurden aber ihre Präbenden in Pensionen
verwandelt, welche zuweilen mit gelehrten Stellen verbunden sind.
In Preußen sind die evangelischen Domkapitel zu Brandenburg,
Merseburg und Naumburg sowie das Kollegiatstift in Zeitz
bemerkenswert. Vgl. Schneider, Die bischöflichen Domkapitel
(Mainz 1885). Außer den Erz-, Hoch- und Kollegiatstiftern
gibt es auch noch weibliche Stifter und zwar geistliche und
weltliche. Erstere entstanden durch eine Vereinigung regulierter
Chorfrauen und glichen den Klöstern; bei den freien weltlichen
Stiftern dagegen legen die Kanonissinnen nur die Gelübde der
Keuschheit und des Gehorsams gegen ihre Obern ab, können
jedoch heiraten, wenn sie auf ihre Pfründe verzichten, und
haben die Freiheit, die ihnen vom S. zufließenden
Einkünfte zu verzehren, wo sie wollen. Nur die Pröpstin
und Vorsteherin nebst einer geringen Zahl Kanonissinnen pflegen
sich im Stiftsgebäude aufzuhalten. Auch die Pfründen
dieser Stifter wußte der stiftsfähige Adel vielfach
ausschließlich für seine Töchter zu erlangen, doch
hängt häufig die Aufnahme auch von einer Einkaufssumme
ab. Auch sind für die Töchter von verdienten Beamten
Stiftsstellen geschaffen worden. Die Kanonissinnen dieser "freien
weltadligen Damenstifter" werden jetzt gewöhnlich Stiftsdamen
genannt.

Stifte, s. Nägel, S. 977.

Stifte (Balzstifte), die kleinen hornartigen Federchen an
beiden Seiten der Zehen des Auerhahns, welche er zu Ende der Balz
verliert.

Stifter, Adalbert, Dichter und Schriftsteller, geb. 23.
Okt. 1806 zu Oberplan im südlichen Böhmen, studierte in
Wien die Rechte, daneben Philosophie und Naturwissenschaften, ward
Lehrer des Fürsten Richard Metternich und 1849 zum Schulrat
für das Volksschulwesen Oberösterreichs ernannt. Als
solcher nahm er seinen Wohnsitz in Linz, von wo aus er vielfach die
Alpen, Italien etc. bereiste, ward 1865 pensioniert und starb
daselbst 28. Jan. 1868. Seine Idylle und Novellen erschienen
gesammelt unter den Titeln: "Studien" (Pest 1844-51, 6 Bde.; 8.
Aufl. 1882, 2 Bde.) und "Bunte Steine" (das. 1852, 2 Bde.; 7. Aufl.
1884). Namentlich die "Stadien" erregten von ihrem Erscheinen an
Teilnahme und selbst Enthusiasmus. Die unbedingte Hinwegwendung von
allen Problemen und Tendenzen des Tags, der idyllische, fast
quietistische Grundzug, die meisterhaften Details, namentlich die
sinnigen Naturschilderungen, die feine, gleichmäßige
Durchführung bildeten einen so wohlthuenden Gegensatz zur
Tagesbelletristtk, daß man darüber die Mängel der
überwiegend kontemplativen, aller Leidenschaft und Thatkraft
abgewandten, zur lebendigern Menschendarstellung daher
unfähigen Natur des Autors übersah. Diese Mängel
traten namentlich in den größern Romanen Stifters: "Der
Nachsommer" (Pest 1857, 3. Aufl. 1877) und "Witiko" (das. 1864-67,
3 Bde.), hervor. Stifters Nachlaß ("Briefe", Pest 1869, 3
Bde.; "Erzählungen", das. 1869, 2 Bde.; "Vermischte
Schriften", das. 1870, 2 Bde.) gab Aprent heraus. "Ausgewählte
Werke" von ihm erschienen in 4 Bänden (Leipz. 1887). Vgl. Emil
Kuh, Adalbert S. (Wien 1868); Derselbe, Grillparzer und A. S.
(Preßb. 1872); Markus, A. Stifter (2. Aufl., Wien 1879).

Stiftsherr, s. Domherr.

Stiftshütte (Bundeshütte), das zeltartige
tragbare Heiligtum, welches Moses auf dem Zug der Israeliten durch
die Wüste zum Gottesdienst anfertigen ließ. Es ward
später in Kanaan an verschiedenen Orten, zuletzt unter David
in Jerusalem, aufgestellt und darin bis zur Erbauung des Tempels
durch Salomo der Opferkultus verrichtet. Die S. (hebr. Ohel moed,
wobei man Ohel und Mischkan unterschied) bildete ein Rechteck von
30 Ellen Länge, 10 Ellen Breite und 10 Ellen Höhe. Ihre
Wände bestanden aus 48 übergoldeten Brettern von
Akazienholz, welche durch goldene Ringe zusammengehalten wurden.
Über diesen Wänden hing ein einfacher Teppich. Die
vordere, zum Eingang dienende Seite war mit einem an fünf
Säulen befestigten Vorhang verhängt. Das Innere teilte
ein andrer Vorhang (Parochet) in eine vordere Abteilung, das
Heilige, worin der Tisch mit den Schaubroten, der goldene Leuchter
und der Räucheraltar, und in eine hintere Abteilung, das
Allerheiligste, worin die Bundeslade stand. Das Ganze war mit einem
für das Volk bestimmten Vorhof umgeben. Salomo ließ nach
Erbauung des Tempels die Überreste der S. in diesem
aufstellen. Vgl. Naumann, Die S. (Gotha 1869).

Stiftslehen, s. Kirchenlehen.

Stiftsschulen, s. Domschulen.

Stiftung, s. Milde Stiftungen.

Stigel, Johann, neulat. Dichter, geb. 13. Mai 1515 bei
Gotha, studierte in Leipzig und Wittenberg, wo er Luthers und
Melanchthons Freundschaft genoß, Humaniora, ward 1542, zu
Regensburg vom Kaiser als Dichter gekrönt, Professor der
lateinischen Sprache in Wittenberg, eröffnete 1558 als erster
Professor der Beredsamkeit die Universität Jena mit der
Weihrede und starb 11. Febr. 1562. Unter seinen Schriften sind die
"Carmina" (Jena 1660 ff., 4 Bde.) hervorzuheben. Vgl.
Göttling, Vita Joh. Stigelii (Jena 1858; abgedr. in den
"Opusc. acad.", S. 1-64).

325

Stiglmayer - Stil.

Stiglmayer, Johann Baptist, Erzgießer, Bildhauer
und Medailleur, geb. 18. Okt. 1791 zu Fürstenfeldbruck bei
München, kam zu einem Goldschmied in München in die
Lehre, ward 1810 in die Akademie der bildenden Künste
aufgenommen, 1814 als Münzgraveur angestellt und 1819 nach
Italien gesandt, um die Technik des Erzgusses kennen zu lernen. In
Rom gründete er seinen Ruf durch den Guß der Büste
des spätern Königs Ludwig I. von Bayern nach Thorwaldsens
Modell. 1822 ins Vaterland zurückgekehrt, schnitt er Stempel
zu Kurrentmünzen und Medaillen und ward dann zum Inspektor der
königlichen Erzgießerei ernannt, in welcher Stellung er
eine lebhafte Thätigkeit entfaltete. Aus seiner Werkstatt
gingen folgende Güsse hervor: der Kandelaber für das vom
Grafen von Schönborn in Gaibach errichtete
Konstitutionsdenkmal, der auf dem Karolinenplatz in München
errichtete Obelisk, Bronzethore nach Zeichnungen L. v. Klenzes
für die Glyptothek und die Walhalla, das Denkmal des
Königs Maximilian I. im Bad Kreuth, nach eignem Entwurf, das
Monument des Königs Maximilian I. auf dem Max Josephsplatz in
München, nach Rauchs Modell (1835), die Reiterstatue des
Kurfürsten Maximilian aus dem Wittelsbacher Platz daselbst,
nach Thorwaldsens Modell (1836), die zwölf kolossalen
Standbilder der Fürsten des Hauses Wittelsbach im Thronsaal
der Residenz, nach Schwanthalers Modellen, die Statue Schillers auf
dem Schloßplatz zu Stuttgart, nach Thorwaldsen, die
Standbilder Jean Pauls in Baireuth, Mozarts in Salzburg, des
Markgrafen Friedrich von Brandenburg in Erlangen, des
Großherzogs Ludwig von Hessen-Darmstadt in Darmstadt, nach
Schwanthaler. Das kolossalste Werk der Münchener
Gießerei, dessen Guß S. aber nur in seinen ersten
Teilen ausführte, war die Bavaria in München, sein
letztes die Goethestatue in Frankfurt a. M. Er starb 2. März
1844 in München.

Stigma (griech., "Stich"), bei den Griechen und
Römern ein Brandmal, das Verbrechern, namentlich diebischen
oder entlaufenen Sklaven, eingebrannt wurde (gewöhnlich auf
der Stirn); in der Botanik s. v. w. Narbe (s. Blüte, S. 69);
in der Zoologie s. v. w. Luftloch (s. Tracheen).

Stigmaria Brongn., s. Lykopodiaceen, S.6.

Stigmatisation, das angebliche freiwillige Auftreten der
fünf Wundmale Christi bei Personen, die sich in eine
schwärmerische Betrachtung seiner Leiden versenkt hatten.
Nachdem der heil. Franz von Assisi (s. Franziskaner) zuerst diese
Auszeichnung erhalten haben soll und die heil. Katharina von Siena
wenigstens einen Ansatz dazu genommen, hat sich diese Erscheinung
im Lauf der Jahrhunderte an sehr zahlreichen Personen, namentlich
weiblichen Geschlechts, wiederholt, und zwar sowohl bei Nonnen als
bei weiblichen Laien, und bei einigen blieb die S. eine dauernde,
indem die Wundmale alle Freitage und am stärksten in der
Passionszeit bluteten, was dann häufig zu Schaustellungen
Anlaß gegeben hat. Insbesondere wiederholte sich die S. in
Zeiten religiöser Aufregung, und in unserm Jahrhundert haben
Katharina Emmerich, die Freundin Klemens Brentanos, Maria v.
Mörl und insbesondere Louise Lateau in dem belgischen
Dörfchen Bois d'Haine in dieser Richtung großes Aufsehen
erregt. Diese Personen gaben bestimmten Verehrerkreisen
Schaustellungen, indem sie theatralisch die Leiden Christi,
während sie dieselben angeblich empfanden, in lebenden Bildern
durchführten; daneben bekamen sie kataleptische Zufälle
(Verzückungen), in denen sie unempfindlich gegen Schmerzen zu
sein vorgaben, und mancherlei andre Wundergaben (vollkommenes
Fasten, Empfindung der Nähe heiliger Gegenstände etc.).
Das Urteil über diese Fälle hat sich zuerst
naturgemäß nur in den beiden Gegensätzen: Wunder
oder Betrug! kundgegeben, und in der unendlichen Litteratur, die
über Louise Lateau entstand, vertrat der belgische Arzt
Professor Lefebvre ("Louise Lateau", Löwen 1873) mit aller
Entschiedenheit die Überzeugung, daß hier ein
übernatürliches Ereignis vorliege, während Virchow
u. a. es einfach als Betrug brandmarkten. In der That sind denn
auch nicht wenige Fälle von sogen. S. vor den Gerichten als
grober Betrug entlarvt worden. Bei der Bedeutung, welche von
manchen Seiten dem Fall der Louise Lateau beigelegt wurde, ernannte
die Brüsseler Akademie der Wissenschaften eine Kommission zur
Untersuchung desselben, und in dem Bericht, welchen Warlomont
über die Arbeiten dieser Kommission erstattet hat, wird nun
auf Grund sehr sorgfältiger und den Betrug
ausschließender Untersuchungen und in Übereinstimmung
mit andern belgischen und französischen Ärzten die schon
von Montaigne vertretene Meinung ausgesprochen, daß eine bis
zur Krankheit gesteigerte Einbildungskraft das wiederholte
freiwillige Bluten der irgendwie erworbenen Wunden hervorbringen
könne. Außerdem bieten viele den Stigmatisierten
eigentümliche Zufälle, wie die Katalepsie,
Unempfindlichkeit, die Nachahmungssucht u. a., eine bedeutende
Ähnlichkeit mit den neuerdings genauer untersuchten
Zuständen des Hypnotismus (s. d.), welche in ähnlicher
Weise durch Konzentration der Gedanken und Sinneseindrücke auf
bestimmte eng begrenzte Gebiete hervorgerufen werden. Danach
würde sich die S. in den Fällen, wo nicht grober Betrug
vorliegt, jenen zahlreichen Erscheinengen anreihen lassen, welche
mit hochgradiger Hysterie einhergehen, und bei denen Krankheit und
Selbstbetrug so merkwürdig miteinander verbunden sind. Diesen
Standpunkt nehmen die Schriften von Warlomont (Brüssel 1875)
und Bourneville (Par. 1875) über Louise Lateau und Charbonnier
("Maladies des mystiques", Brüssel 1875) ein; aus der
unübersehbaren fernern Litteratur vgl. Schwann. Mein Gutachten
über die Versuche etc. (Köln 1875).

Stigmatypie (griech.), ein von Fasol in Wien erfundenes
Setzverfahren zur Herstellung von Bildern durch Punkte auf
typographischem Weg.

Stikeen (spr. -kihn, Stachine), Fluß in
Nordamerika, entspringt auf dem Tafelland von Britisch-Columbia,
durchfließt in seinem untern, schiffbaren Teil das
Territorium Alaska und mündet unterm 57.° nördl. Br.
in den Stillen Ozean. An seinen Ufern wurde 1862 Golo entdeckt.
Dampsschiffe befahren ihn 320 km weit.

Stil (v. lat. stilus, "Griffel", Schreibart), bezeichnet
in der Litteratur die Art und Weise der sprachlichen Darstellung,
wie sie sowohl durch die geistige Fähigkeit und subjektive
Eigentümlichkeit des Schriftstellers als auch durch den Inhalt
und den Zweck des Dargestellten bedingt wird. Da der S. also als
die durch das Ganze der schriftlichen Darstellung herrschende Art,
einen Gegenstand aufzufassen und auszudrücken, nicht nur von
dem Inhalt des Gegenstandes, sondern auch von dem Charakter und der
Bildung des Menschen abhängig ist, so hat eigentlich jeder
Schriftsteller seinen eignen S., was Buffon meint, wenn er sagt:
"Der S. ist der Mensch selbst" ("le style c'est l'homme
même"). Die erste Forderung, die man an jede Art des Stils
macht, ist Deutlichkeit und Klarheit. Die Deutlichkeit verlangt
aber Reinheit der Sprache oder Vermeidung aller

326

Stilbit - Stilke.

Wörter, die das Bürgerrecht in der Sprache nicht
erlangt haben, z. B. aller Provinzialismen, ausländischer,
ohne Not neugeschaffener oder veralteter Wörter; treue
Beobachtung der durch die Grammatik bestimmten Gesetze;
Korrektheit, wonach man das den darzustellenden Begriff
bezeichnende und deckende Wort wählt; Präzision oder
Bestimmtheit, wonach alles Überflüssige entfernt und
nicht mehr oder weniger gegeben wird, als was zur genauen
Darstellung des Gedankens erforderlich ist. Inhalt und Zweck der
stilistischen Darstellung können verschieden sein, und man
unterscheidet insbesondere drei Kräfte, die bei derselben in
Wirksamkeit treten: Verstand, Einbildung und Gefühl, weshalb
man von einem S. des Verstandes, der Einbildung und des
Gefühls spricht. Bei dem erstern wird man sich vor allem der
Deutlichkeit, bei dem zweiten der Anschaulichkeit und bei dem
dritten der Leidenschaftlichkeit zu befleißigen haben. Zu dem
ersten gehört die prosaische Darstellung im allgemeinen, zu
dem zweiten die Epik und das Drama, zu dem dritten die Lyrik und
die Rede. Die alten Griechen und Römer unterschieden,
ungefähr dem entsprechend, aber ohne Rücksicht auf Inhalt
und Zweck der Darstellung, in der Prosa einen niedern (genus
submissum), einen mittlern (g. medium) und einen höhern S. (g.
sublime), und es sollen nach ihrer Regel z. B. in einer Rede alle
drei Stilarten miteinander abwechseln (vgl. Rede). Im übrigen
unterscheidet man mehrere stilistische Gattungen mit gewissen
feststehenden Formen, z. B. den philosophischen, den didaktischen,
den historischen, den Geschäfts- und Briefstil. Die Theorie
des Stils oder Stilistik ist die geordnete Zusammenstellung aller
Regeln des guten Stils oder der üblichen Art, sich schriftlich
auszudrücken. Vgl. Wackernagel, Poetik, Rhetorik und Stilistik
(2. Aufl., Halle 1888). - In der bildenden Kunst versteht man unter
S. einerseits die in einem Kunstwerk zur Darstellung gebrachte
formale und geistige Anschauung, wie sie bei einem Volk oder in
einer gewissen Zeit für die verschiedenen Künste als
maßgebend angesehen ward, anderseits die individuelle, sich
von der allgemeinen Richtung in Einzelheiten unterscheidende
Darstellungsweise eines Künstlers. Wenn sich dieser
individuelle S. zu einseitig ausprägt oder seinen geistigen
Inhalt verliert, nennt man diese Darstellungsweise Manier (s. d.).
Ebenso bezeichnet S. in der Musik sowohl die für eine
Kompositionsgattung oder für bestimmte Instrumente
erforderliche Schreibweise (Opernstil, Klavierstil, Kirchenstil,
Vokalstil etc.) als auch die eigentümliche Schreibweise eines
Meisters. Auch spricht man von einem strengen oder gebundenen S.
und versteht darunter die Schreibweise mit reellen Stimmen unter
Beobachtung der für den Vokalstil gültigen Gesetze, und
von einem freien oder galanten S., welcher sich nicht an eine
bestimmte Anzahl Stimmen bindet, sondern dieselben nach Belieben
vermehrt oder vermindert etc. Endlich heißt auch S. die
verschiedene Rechnungsart nach dem julianischen und gregorianischen
Kalender. Man unterscheidet alten S., nach dem julianischen (noch
jetzt bei den Russen gebräuchlich), und neuen S., nach dem
gregorianischen Kalender, die beide um zwölf Tage voneinander
abweichen; daher datiert man meist 12./24. Jan., d. h. 12. Jan.
nach dem alten und 24. Jan. nach dem neuen S.

Stilbit (Heulandit, Blätterzeolith), Mineral aus der
Ordnung der Silikate (Zeolithgruppe), kristallisiert monoklinisch,
findet sich aufgewachsen oder in Drusen (s. Tafel "Mineralien",
Fig. 7), auch derb in strahligblätterigen Aggregaten, ist
farblos, gelblich, grau, braun oder durch eingeschlossene
Schüppchen von Eisenoxyd rot, glasglänzend, durchsichtig
bis kantendurchscheinend, Härte 3,5-4, spez. Gew. 2,1-2,2,
besteht aus Thonerdekalksilikat H4CaAl2Si6O18+3H2O mit geringem
Natriumgehalt. Fundorte aus Erzlagern oder Gängen (Arendal,
Kongsberg, Andreasberg), häufig in Blasenräumen der
Basalte und Basaltmandelsteine auf den Färöern, Island,
Skye, im Fassathal und in Nordamerika. S. auch s. v. w. Desmin (s.
d.).

Stilett (ital.), Spitzdolch, ein kleiner Dolch mit
schlanker, spitzer Klinge; s. Dolch.

Stilfser Joch (Monte Stelvio, Wormser Joch), der
höchste fahrbare Alpenpaß, 2756 m ü. M., an der
Nordwestseite der Ortleralpen in Tirol, mit prachtvoller
Kunststraße, welche das Etschthal (Vintschgau) mit dem Thal
der Adda (Veltlin) verbindet. Die Straße wurde 1820-25 vom
Ingenieur Donegani angelegt, ist 53 km lang und führt von
Spondinig im Vintschgau über Gomagoi (Mündung des
Suldenthals), Trafoi und Franzenshöhe in 48 Windungen, von
denen die letzten teilweise durch Galerien gedeckt sind, bis zur
Paßhöhe und von dort in 38 Windungen in das Brauliothal
und weiter nach Bormio in der italienischen Provinz Sondrio. Die
Straße übertrifft an Großartigkeit der Umgebung
alle fahrbaren Alpenübergänge. Seinen Namen erhielt das
Joch nach dem oberhalb der Straße gelegenen Tiroler
Dörfchen Stilfs.

Stilicho, röm. Feldherr und Staatsmann, Sohn eines
im römischen Heer dienenden Vandalen, schwang sich durch Mut,
Einsicht und Treue unter Kaiser Theodosius I. zu den höchsten
Stellen empor und ward von diesem zum Gemahl seiner Nichte und
Pflegetochter Serena und zum Vormund seines Sohns Honorius, welcher
395 als elfjähriger Knabe die Herrschaft des
weströmischen Reichs antrat, erwählt. S. ließ
seinen Nebenbuhler Rufinus ermorden, zwang 396 den Gotenkönig
Alarich, das von ihm verwüstete Griechenland zu räumen,
unterdrückte 398 den Aufstand des Gildo in Afrika, brachte
Alarich, als derselbe 403 in Italien einfiel, zwei Niederlagen bei
Pollentia und Verona bei, durch die derselbe genötigt wurde,
Italien zu verlassen, und als 405 oder 406 ein großes Heer
deutscher Völker unter Radagaisus in Italien eindrang, wurde
dieses bei Fäsulä von ihm eingeschlossen und fast
völlig vernichtet. Dagegen vermochte er nicht, Gallien gegen
die Vandalen und Alanen, welche dasselbe 406 überschwemmten,
zu schützen und Britannien, wo sich Constantinus zum
Gegenkaiser erhoben hatte, wieder zu unterwerfen. Er wurde 408
durch Olympius gestürzt und in Ravenna ermordet. Vgl. Keller,
Stilicho (Berl. 1884).

Stilisieren, stilmäßig formen, besonders in
Bezug auf die Schreibweise (s. Stil); in der Zeichenkunst und
Malerei das Zurückführen der Naturformen unter
Fortlassung des Zufälligen und Willkürlichen auf
Grundformen, in welchen eine gewisse Gesetzmäßigkeit
waltet. So ist z. B. der Akanthus (s. d., mit Abbildung) am
korinthischen Kapitäl stilisiert. Über stilisierte oder
stilistische Landschaften s. Heroisch.

Stilistik (lat.), s. Stil.

Stilke, Hermann, Maler, geb. 29. Jan. 1803 zu Berlin,
studierte auf der Akademie daselbst, dann seit 1821 in München
unter Cornelius, folgte demselben nach Düsseldorf, malte mit
Stürmer gemeinsam im Assisensaal zu Koblenz das (unvollendete)
Jüngste Gericht, führte darauf mehrere Fresken in den
Arkaden zu München aus, besuchte 1827 Oberitalien und ging
1828 nach Rom. 1833 kehrte er nach Düsseldorf zurück,
stellte 1842-46 im Rittersaal des Schlosses

327

Stille - Stiller Ozean.

Stolzenfels die sechs Rittertugenden in großen Wandbildern
dar, siedelte 1850 nach Berlin über und starb daselbst 22.
Sept. 1860. Außer einigen Fresken für das
königliche Schloß in Berlin und das Schauspielhaus in
Dessau malte er dort nur Staffeleibilder. Von seinen übrigen
Werken sind hervorzuheben: Kreuzfahrerwacht (1834), St. Georg mit
dem Engel, Pilger in der Wüste (Nationalgalerie in Berlin),
die Jungfrau von Orléans, die letzten Christen in Syrien
(1841, Museum in Königsberg), Raub der Söhne Eduards
(Nationalgalerie in Berlin). - Seine Gattin Hermine S., geborne
Peipers, geb. 1808, gest. 1869, hat sich als talentvolle Zeichnerin
und Aquarellmalerin bekannt gemacht.

Stille, Karl, Pseudonym, s. Demme 1).

Stille Gesellschaft, s. Handelsgesellschaft.

Stillen der Kinder, die Ernährung der Kinder in den
ersten Lebensmonaten durch die Mutter- oder Ammenmilch. Für
das neugeborne Kind, den Säugling, ist die Milch seiner Mutter
die natürlichste und gesündeste Nahrung. Anderseits ist
das Stillen ihrer Kinder für die Mutter eine natürliche
Pflicht und für die Erhaltung ihrer eignen Gesundheit, zumal
während des Wochenbettes, erforderlich. Bleibt die Mutter
gesund, und wird die Milchabsonderung nicht gestört, so
genügt die Mutterbrust dem Kind bis zu der Zeit, wo mit dem
Durchbruch der Zähne sich der Trieb nach festen
Nahrungsmitteln äußert. Mit dem ersten Anlegen des
Kindes darf man nicht warten, bis die Brüste reichlichere und
wirkliche Milch geben. Gerade durch das Saugen des Kindes wird die
Milchabsonderung am besten befördert, und das Kolostrum,
welches vom Kind zuerst verschluckt wird, begünstigt den
Abgang des Kindspechs aus dem Darm. Schon in den ersten 24 Stunden
nach der Geburt, am besten, sobald das Kind ordentlich aufgewacht
ist, legt man dasselbe an die Brust und wiederholt dies etwa alle 3
Stunden, im allgemeinen um so häufiger, je schwächlicher
das Kind ist, und läßt es dann um so weniger auf einmal
trinken. Sonst aber läßt man es saugen, bis es satt ist,
d. h. bis es zu trinken aufhört, oder bis es einschläft.
Man läßt das Kind nun so lange schlafen, bis es von
selbst aufwacht, und gibt ihm dann wieder die Brust. Nach einigen
Monaten braucht dem Kinde die Brust nur in größern
Zwischenräumen gereicht zu werden, und es pflegt dann um so
größere Portionen auf einmal zu trinken. Wegen der
nachteiligen Wirkung auf die Milchabsonderung und somit auch auf
den Säugling darf dieser niemals gleich nach einem heftigen
Gemütsaffekt, Zorn oder Ärger, der Mutter an die Brust
gelegt werden; man kennt viele Fälle, wo Kinder unter solchen
Umständen plötzlich erkrankt und selbst gestorben sind.
Nach jedesmaligem Trinken muß der Mund des Säuglings mit
einem zarten, in Wasser getauchten Leinwandläppchen
sorgfältig gereinigt werden. Es ist dies das sicherste Mittel
gegen Schwämmchenbildung auf der kindlichen Mundschleimhaut
sowie gegen das Wundwerden der Brustwarzen. Mit der Entwickelung
der Zähne müssen dem Kind noch andre Nahrungsmittel als
Milch gereicht werden, und jetzt, wenn das Kind die Mutterbrust
beißen kann, soll es von derselben entwöhnt werden,
gewöhnlich etwa nach Vollendung des ersten Lebensjahrs, oft
aber auch erst später. Je schwächlicher und
kränklicher das Kind, je schlechter es genährt ist, um so
später ist dasselbe zu entwöhnen, desgleichen bei
bestehendem Verdacht auf erbliche Anlage zu gewissen Krankheiten.
Hier fahre man womöglich mit dem Stillen über das erste
Zahnen hinaus fort. Überhaupt warte man mit dem Entwöhnen
eine Zeit ab, wo das Kind ganz gesund ist, und nehme es
womöglich erst im Frühjahr oder Sommer vor. Immer sollte
das Kind schon vorher mit Vorsicht und allmählich an
dünnen Milchbrei, Suppen mit Zwieback, Arrowroot u. dgl.
gewöhnt werden. Dem entwöhnten Kind gibt man täglich
vier- bis fünfmal einen dünnen Brei aus feinem
Weizenmehl, fein gestoßenem Zwieback und Milch mit wenig
Zucker. Nebenher gibt man dem Kind gute, erwärmte, nicht
abgekochte Kuhmilch, unter Umständen mäßig
verdünnt, zu trinken. Wird das Kind stärker, so reicht
man ihm Kalbfleisch- und Hühnerfleischbrühe, später
auch andre Fleischbrühsuppen mit Grieß, Reis u. dgl.,
die aber durchgeseiht und einem dünnen Brei ähnlich sein
müssen, bis man endlich nach dem Zahndurchbruch zu festern
Nahrungsmitteln übergeht.

Stiller Freitag, s. Karfreitag.

Stiller Ozean (engl. Pacific Ocean, franz. Océan
Pacifique), derjenige Teil des Weltmeers, welcher sich zwischen
Amerika, Asien und Australien von der Beringsstraße bis zum
südlichen Polarkreis ausbreitet (s. Karte "Ozeanien") und
gegen den Atlantischen Ozean durch den Meridian des Kap Horn, gegen
den Indischen Ozean durch den Meridian des Kap Liuwin abgegrenzt
wird. Er überdeckt (uneingerechnet das Chinesische Meer und
die australisch-ostindischen Archipelgewässer) einen
Flächenraum von 2,926,210 QM. oder 161,125,673 qkm (nach
Krümmels Berechnung), übertrifft also an Ausdehnung die
Gesamtoberfläche der fünf Kontinente (2,441,642 QM.). Die
älteste Benennung des Stillen Ozeans war Mar del Zur, die
Südsee, weil dieses Meer bei der ersten Entdeckung 1513 von
Vasco Nunez de Balboa im Süden des Isthmus von Darien gesehen
wurde. Die Benennung Südsee ist noch jetzt für das
gesamte inselreiche Meer südlich von Japan und den
Sandwichinseln, namentlich bei den Seeleuten, allgemein in
Gebrauch. Die von Malte-Brun herrührende Bezeichnung als
Großer Ozean hat sich nicht allgemein einzubürgern
vermocht und verschwindet mehr und mehr. Die in allen Sprachen
eingebürgerte Bezeichnung Pacific oder S. O. rührt von
Magelhaens her, welcher nach stürmischer Fahrt drei Monate
lang bei beständigem stillen Wetter dieses Meer durchsegelte,
bis er die Ladronen erreichte. Die Erforschung des Stillen Ozeans
auf wissenschaftlicher Grundlage datiert von Cook und seinen
unmittelbaren Nachfolgern. Krusenstern, Dumont d'Urville, King und
Fitzroy und eine Reihe andrer hervorragender Seeoffiziere setzten
diese Arbeiten in unserm Jahrhundert fort. Die Hydrographie des
Stillen Ozeans ist so weit gefördert, daß Entdeckungen
neuer Inseln als ausgeschlossen gelten dürfen, wenn auch die
genauere Bestimmung und Kartierung der zahlreichen kleinen Inseln
(nahe 700) noch zum größern Teil der Zukunft vorbehalten
bleibt.

Die Tiefenverhältnisse des Stillen Ozeans sind durch eine
Reihe von Forschungen in den beiden letzten Jahrzehnten in
großen Zügen bestimmt worden. Danach befindet sich im
nördlichen Stillen Ozean ein großes Depressionsgebiet
von über 6000 m Tiefe (Tuscaroratiefe), dessen westlicher Teil
die größte bisher gelotete Tiefe aufweist (8513 m; vgl.
die Tabelle im Art. "Meer", S. 411). Der steile Abfall von der
Küste von Japan zu diesen großen Tiefen ist
bemerkenswert. Ein kleines tiefes Gebiet liegt in großer
Nähe des südamerikanischen Kontinents. Dagegen ist der
südliche Stille Ozean, soweit bis jetzt erforscht,
verhältnismäßig arm an großen Tiefen. Die
Tiefenverhältnisse zwischen den einzelnen Inselgruppen
sind

328

Stiller Ozean (Hydrographisches, Verkehrsverhältnisse).

noch wenig bekannt und nach den vereinzelten Lotungen als sehr
ungleichmäßig zu betrachten.

Die für den Stillen Ozean charakteristischen
Erdbebenwellen, welche von Zeit zu Zeit beobachtet worden sind,
lassen einen Schluß zu auf die mittlere Tiefe des
durchlaufenen Meeresgebiets. Die Erdbebenwellen von 1854, 1868 und
1877 sind zu solchen Berechnungen benutzt und haben für die
Richtung Kalifornien-Japan rund 4050 m, für die Richtung
Peru-Neuseeland 2750 m ergeben (Hochstetter 1869, Geinitz 1877 in
"Petermanns Geographischen Mitteilungen"). Bisher sind solche
Beobachtungen nur immer an einer Seite des Ozeans mit
selbstregistrierenden Apparaten angestellt, während die
Zeitangaben für die andre Seite schwankend waren. Die
Ergebnisse sind daher noch ungenau. Auf Grund der verschiedenen
Lotungen und Berechnungen bis zum Jahr 1878 ist die mittlere Tiefe
des Stillen Ozeans von Supan gefunden worden zu 3370 m, von
Krümmel (ohne Rücksicht auf die Wellenrechnung) zu 3912
m. Das Stromsystem an der Oberfläche des Stillen Ozeans zeigt
in seinen Hauptzügen Analogien mit dem des Atlantischen
Ozeans. Auch hier wird ein Äquatorialstrom von den Passaten zu
beiden Seiten des Äquators nach W. getrieben. Die Nordgrenze
dieser Westströmungen setzt Duperrey in 24° nördl.
Br., die Südgrenze in 26° südl. Br. In der Nähe
des Äquators findet sich ein östlich gerichteter
Äqnatorialgegenstrom, in der Regel zwischen 2 und 6°
nördl. Br. angegeben. Diese Strömungen sind bei weitem
nicht so stark und beständig wie die analogen des Atlantischen
Ozeans. Da außerdem ihre Grenzen nach N. und Süden mit
den Jahreszeiten schwanken müssen, so bedarf es einer sehr
großen Zahl von Beobachtungen, um ein zuverlässiges Bild
dieser Verhältnisse zu erlangen. Daran mangelt es so sehr,
daß die Fortführung dieser Strömungen über den
ganzen Ozean auf einer Verbindung von Einzelbeobachtungen und
Wahrscheinlichkeiten beruht, welche noch weiterer Bestätigung
bedürfen. Die weitaus größte Fläche des
Stillen Ozeans ist frei von regelmäßigen
Strömungen, an den Küsten der Kontinente dagegen finden
sich ausgeprägte Stromverhältnisse, welche denen des
Atlantischen Ozeans nahekommen. Namentlich der Kuro Siwo (Schwarzer
oder Japanischer Strom, s. Kuro Siwo), welcher warmes Wasser an der
Ostküste von Japan nach N. führt, ist stets gern mit dem
Golfstrom verglichen worden. Seine Fortsetzung macht sich an der
Westküste Nordamerikas in warmem, feuchtem Klima bemerklich.
Der Labradorströmung der Ostküste von Nordamerika
entspricht das kalte Wasser im Ochotskischen Meer und bis zur
Halbinsel von Korea. Im südlichen Stillen Ozean finden sich
ebenfalls analoge Strömungen wie im südlichen
Atlantischen Ozean. Eine nach Süden setzende australische
Strömung macht sich an der Küste von Neusüdwales
bemerklich. Im Süden von Australien herrscht ein
östlicher Strom vor, welcher den australischen Strom nach
Neuseeland hin ablenkt.

Südlich von 30° südl. Br. herrschen Westwinde und
mit ihnen laufende Ostströme vor, welche nach der
Westküste Südamerikas das Wasser hintreiben. Daraus
resultieren an dieser Küste die an der patagonischen
Küste nach Süden um das Kap Horn setzende Strömung
und nach N. die kalte Peru- oder Humboldt-Strömung, welche
sich bis über die Galapagosinseln hinaus fortsetzt und auf das
Klima der ganzen Küste einen so wohlthätigen
Einfluß ausübt. Die an der Küste von Chile und Peru
bekannten dichten Nebel werden diesem kalten Wasser zugeschrieben.
Doch wird selbst diese Strömung streckenweise durch anhaltende
Nordwinde in ihren obern Schichten zum Stillstand gebracht. Neuere
Forschungen machen es wahrscheinlich, daß das kalte Wasser an
der peruanischen Küste nicht der Strömung direkt
entstammt, sondern aus der Tiefe aufsteigt.

Die Temperaturverteilung an der Oberfläche dieses
ausgedehnten Wasserbeckens ist nur lückenhaft erforscht. Es
knüpft sich jedoch an die Kenntnis derselben das für die
Südsee so wichtige Problem von der Verbreitung der Riffe
bauenden Korallen; man hat daher aus direkten Beobachtungen, aus
den Strömungen und aus der Lage der Koralleninseln
wechselseitig Schlüsse gezogen. Danach ist die
Oberflächentemperatur zwischen 28° nördl. Br. und
28° südl. Br. im allgemeinen nicht niedriger als 20°
C., mit Ausnahme der Gewässer im Bereich der peruanischen
Strömung und der Küste von Kalifornien, während im
O. das warme Wasser noch höhere Breiten (Japan) erreicht. Im
Bereich des Äquatorialgegenstroms ist das Wasser, ebenso wie
im Atlantischen Ozean, am wärmsten. Das Gebiet, in welchem das
Wasser über 20° warm bleibt, bietet die Lebensbedingungen
für die Riffe bauenden Korallen, welche im Stillen Ozean eine
so große Verbreitung aufweisen (vgl. Dana, Corals and
coral-islands) und Inselgruppen von der Ausdehnung der Karolinen u.
der Tuamotus u.a. ganz ausschließlich aufgebaut haben. Eine
charakteristische Eigentümlichkeit des westlichen Stillen
Ozeans sind die tiefen Meeresbecken, welche von der freien
Zirkulation des Tiefenwassers durch unterseeische Bodenerhebungen
abgeschlossen werden (vgl. Tiefentemperatur im Art. "Meer", S. 413
f.). Eine solche Erhebung verbindet in ca. 2600 m Tiefe Japan mit
den Bonininseln, Marianen und Karolinen und umschließt ein
8400 m tiefes Becken. Das Korallenmeer mit Tiefen von 4900 m ist in
2500 m durch eine Bodenerhebung abgesperrt, ebenso sind die Sulusee
(4700 m), Mindorosee (4800 m), Celebessee (5150 m) in Tiefen von
600-1200 m umrandet, wie sich aus ihren warmen Bodentemperaturen
unzweifelhaft ergibt.

Die Windverhältnisse des Stillen Ozeans sind im allgemeinen
denen des Atlantischen Ozeans ähnlich. Zwischen 25°
nördl. Br. und 25° südl. Br. wehen vorherrschend
Nordost- und Südostpassate, welche jedoch hier nur durch einen
schmalen, im mittlern Teil sogar überhaupt nicht durch einen
Stillengürtel voneinander getrennt sind. An der Westküste
von Nordamerika sind nördliche, an der von Südamerika
sehr beständige, aber schwache südliche Winde das ganze
Jahr hindurch vorherrschend. Die Westseite des Stillen Ozeans,
namentlich die oben genannten, durch ihre Tiefentemperaturen
merkwürdigen Meeresteile liegen im Gebiet der Monsune, welche
sie mit dem Indischen Ozean (s. d.) gemeinsam haben. Die
höhern Breiten beider Hemisphären weisen, ähnlich
wie im Atlantischen Ozean, vorherrschend Westwinde auf, welche
namentlich im Süden sehr kräftig und beständig
angetroffen werden.

Verkehrsverhältnisse des Stillen Ozeans.

Der Stille Ozean ist erst sehr spät dem Weltverkehr
eröffnet worden. Seine nordwestliche Küste wurde
allerdings schon in früher Zeit befahren, ohne daß man
aber eine Ahnung davon hatte, daß man sich hier in andern
Gewässern befinde als denen des Atlantischen Ozeans. Auch
Kolumbus meinte, daß letzterer bis nach Japan und China
reiche. Erst dem Vasco Nunez de Balboa verdanken wir die Entdeckung
der Existenz einer zwischen der Westküste Amerikas und Asien
sich hinziehenden Meeresfläche. Als der

329

Stillfried-Rattonitz - Stillleben.

eigentliche Entdecker des Stillen Ozeans muß aber
Magelhaens gelten, welcher ihn in seiner ganzen Ausdehnung von SO.
nach NW. durchquerte. Aber erst 44 Jahre später (1565) gelang
dem Mönch und Seefahrer Urbaneta der oft gemachte, stets
mißglückte Versuch, den Stillen Ozean von W. nach O. zu
durchmessen. Doch bot trotz mancher neuen Unternehmungen noch 250
Jahre nach Magelhaens der Stille Ozean noch immer ein ungeheures
Feld für Entdeckungen; der Ruhm, nicht nur die in ihm
verstreuten Archipele und einzelnen Inseln, auch seine
Tiefenverhältnisse und Riffe näher bekannt gemacht zu
haben, gebührt unbestritten Cook, und wenn auch nach ihm noch
viel gethan wurde, die Hauptarbeit hatte er doch geleistet.
Indessen eine Verkehrsstraße wurde der Stille Ozean erst viel
später. Seine Ränder freilich wurden an den asiatischen
und den australischen Küsten sowie entlang der Westseite
Amerikas mit dem wirtschaftlichen Aufschwung, bez. der
Erschließung derselben für den europäischen Handel
mit jedem Jahr belebter; allein ein Bedürfnis, durch die ganze
weite Fläche des Ozeans einen regelmäßigen Verkehr
hindurchzuleiten, stellte sich erst weit später ein. Dies fand
erst nach dem Aufblühen der australischen Kolonien und nach
der regern Anteilnahme Nordamerikas an dem Handel mit Ostasien
statt. Die Vollendung der Eisenbahn über den Isthmus von
Panama führte zur Errichtung einer Dampferlinie von Panama
nach Sydney als Fortsetzung einer in Aspinwall endigenden
englischen Linie, aber die Pacificbahn von New York nach San
Francisco gab dem Verkehr sofort eine andre Bahn. Die Dampfer
verließen in Zukunft San Francisco, um über Honolulu und
Auckland nach Sydney zu gelangen, und kehrten auf demselben Weg zu
ihrem Ausgangspunkt zurück. Eine Linie von Segelschiffen
stellte regelmäßige Verbindung zwischen San Francisco
und den französischen Markesas und Tahiti her. Eine bessere
Kenntnis der Winde und Meeresströmungen bestimmte viele
Segler, den Weg von Australien nach Europa um die Südspitze
Amerikas zu nehmen. Die zunehmende volkswirtschaftliche Bedeutung
der australischen Kolonien führte Hand in Hand mit einem
schnell wachsenden Handelsverkehr zu einer Vermehrung der zwischen
Europa und dem fünften Weltteil fahrenden Postdampferlinien.
Zu den Linien, welche um die Südküste des
Australkontinents dessen Ostküste erreichen, traten solche,
welche die Torresstraße durchziehen, kamen
Anschlußlinien in Sydney nach Neukaledonien, dem
Fidschiarchipel, der Samoa- und Tongagruppe sowie nach Neuguinea.
Englische, französische und deutsche Dampfer traten hier in
Konkurrenz. Den nördlichen Stillen Ozean durchziehen zwei von
Hongkong über Jokohama gehende Dampferlinien, deren eine in
San Francisco, deren andre in Vancouver endet. Ein
größerer Verkehr mit und zwischen den einzelnen Inseln
wurde erst dann zum Bedürfnis, als man auf denselben oder in
deren Gewässern Waren entdeckte, deren der Welthandel
benötigt, wie Kopra und Kokosnußkerne, Perlen und
Perlmutter, Trepang, Schildkrötenschalen, und als die von
europäischen Unternehmern in Ostaustralien und auf mehreren
Inselgruppen begonnene Plantagenwirtschaft eine Nachfrage nach
Arbeitern erzeugte, die nur durch Herbeiziehung von Bewohnern
gewisser Inselgruppen befriedigt werden konnte. Daß das
Telegraphenkabel hier noch einen wenig bedeutenden Platz einnimmt,
ist bei der ungeheuern Ausdehnung des Stillen Meers
erklärlich. Doch haben bereits seit längerer Zeit
Tasmania und Neuseeland Anschluß an den Australkontinent
gefunden, der wiederum durch Kabel und Landlinien mit der
übrigen Welt in Verbindung steht.

Stillfried-Rattonitz, Rudolf Maria Bernhard, Graf von,
preuß. Geschichtsforscher, geb. 14. Aug. 1804 zu Hirschberg
aus einem alten, ursprünglich böhmischen, jetzt auch in
Schlesien verzweigten Geschlecht, studierte zu Breslau die Rechte,
trat für kurze Zeit in den Staatsverwaltungsdienst und widmete
sich dann historisch-antiquarischen Studien. Er begründete,
von Friedrich Wilhelm IV. an den Hof gezogen und 1840 zum
Zeremonienmeister ernannt, das königliche Hausarchiv und ward
1856 Direktor desselben. Seit 1853 Oberzeremonienmeister und 1856
Wirklicher Geheimer Rat, ward er 1858 in Lissabon zum Granden
erster Klasse mit dem Titel eines Grafen von Alcantara und 1861 zum
preußischen Grafen ernannt. Auch ward er zum Ehrenmitglied
der Akademie der Wissenschaften gewählt. Er starb 9. Aug.
1882. S. machte sich unter anderm durch folgende Arbeiten bekannt:
"Altertümer und Kunstdenkmale des Hauses Hohenzollern" (Berl.
1838-67, 2 Foliobände), "Geschichte der Burggrafen von
Nürnberg" (Görl. 1843), "Monumenta Zollerana" (Berl.
1843-62, 7 Bde.), "Der Schwanenorden" (Halle 1845), "Beiträge
zur Geschichte des schlesischen Adels" (Berl. 1860-64, 2 Hefte),
"Stammtafel des Gesamthauses Hohenzollern" (das. 1869; neue Ausg.
1879, 6 Blatt), "Hohenzollern. Beschreibung u. Geschichte der Burg"
(Nürnb. 1871), "Friedrich Wilhelm III. und seine Söhne"
(Berl. 1874), "Die Attribute des neuen Deutschen Reichs" (3. Aufl.,
das. 1882), "Die Titel und Wappen des preußischen
Königshauses" (das. 1875), "Kloster Heilsbronn" (das. 1877)
und gab mit Kugler das Prachtwerk "Die Hohenzollern und das
deutsche Vaterland" (3. Aufl., Münch. 1884, 2 Bde.) sowie mit
Hänle "Das Buch vom Schwanenorden" (das. 1881) heraus. Auch
leitete er den Bau der Burg Hohenzollern und die Wiederherstellung
der Klosterkirche zu Heilsbronn.

Stillgericht, s. Femgerichte.

Stilling, Schriftsteller, s. Jung 2).

Stillingia L. (Talgbaum), Gattung aus der Familie der
Euphorbiaceen, meist Sträucher mit wechselständigen,
ganzen Blättern, endständigen Blütenähren und
dreisamigen Kapseln. S. sebifera Michx. (Exoecaria sebifera J.
Müll., s. Tafel "Öle und Fette liefernde Pflanzen"), ein
kleiner Baum mit langgestielten, breit rhombisch-eiförmigen,
ganzrandigen Blättern und großer, kugelig-elliptischer
Kapsel, besitzt haselnußgroße, schwarze Samen, welche
mit talgartigem Fett umgeben sind. Er ist in China und Japan
heimisch, wird dort sowie in Ost- und Westindien, Nordamerika,
Algerien und Südfrankreich kultiviert und liefert den
chinesischen Talg. Durch Pressen der von der Fetthülle
befreiten Samen erhält man fettes Öl. S. silvatica J.
Müll., ein Strauch mit fast sitzenden und linealischen bis
elliptisch lanzettlichen Blättern, im südlichen
Nordamerika, liefert eine purgierend wirkende Wurzel.

Stillkoller, s. Dummkoller.

Stillleben (holländ. Stilleven, engl. Still-life,
franz. Nature morte, ital. Riposo), ein Zweig der Malerei, welcher
die Darstellung lebloser Gegenstände, wie toter Tiere (Wild,
Geflügel und Fische), Haus-, Küchen- und
Tischgeräte, Früchte, Blumen, Kostbarkeiten,
Raritäten etc., zum Gegenstand hat und besonders durch ein
geschicktes Arrangement, durch koloristische Reize und feine
Beleuchtung zu wirken sucht. Schon im Altertum entwickelte sich das
S. seit

330

Stillwater - Stimme.

der alexandrinischen Zeit zu größter Blüte,
wofür die pompejanischen Wandbilder noch zahlreiche Beispiele
liefern. Die Malerei der Renaissance behandelte das S. nicht als
eine selbständige Gattung der Malerei. Seit dem Anfang des 17.
Jahrh. wurde es jedoch von den niederländischen Malern in
großem Umfang kultiviert und zur höchsten
Virtuosität entwickelt, wobei man zwei Richtungen zu
unterscheiden hat, deren eine nach glänzender koloristischer
Wirkung bei einer mehr aufs Ganze gerichteten dekorativen
Behandlung strebte, während die andre mehr auf peinliche,
miniaturartige Wiedergabe der Einzelheiten sah. Die Hauptvertreter
der niederländischen Stilllebenmalerei sind: J. Brueghel der
ältere, Snyders, Seghers, die Familie de Heem, A. van
Beijeren, W. Kalf, Heda, W. van Aelst, Dou, Fyt, Weenix, R. Ruysch,
van Huysum u. a. m. Im 19. Jahrh. ist das S. wieder sehr in
Aufnahme gekommen, in Frankreich besonders durch Robie, Vollon und
Ph. Rousseau, in Deutschland durch Preyer (Düsseldorf), die
Berliner Hoguet, P. Meyerheim, Hertel, Th. und R. Grönland,
Heimerdinger (Hamburg), namentlich aber durch die Malerinnen
Begas-Parmentier, H. v. Preuschen, Hormuth-Kallmorgan, Hedinger u.
a. Vgl. Blumen- und Früchtemalerei.

Stillwater, Stadt im nordamerikan. Staat Minnesota, 25 km
nordöstlich von St. Paul, am schiffbaren St. Croix, hat ein
Staatsgefängnis, bedeutenden Holzhandel und (1885) 16,437
Einw.

Stilo (ital.), Stil; S. osservato, der "hergebrachte",
strenge Stil, besonders der reine Vokalstil, a cappella-Stil,
Palestrinastil; S. rappresentativo, der für die szenische
Darstellung geeignete, dramatische Stil, die um 1600 zu Florenz
erfundene begleitete Monodie (s. Oper, S. 398).

Stilo, Stadt in der ital. Provinz Reggio di Calabria,
Kreis Gerace, am Stillaro, hat ein merkwürdiges altes
Kirchlein, Seidenzucht, Weinbau und (1881) 2655 Einw. Das
südöstlich davon gelegene Kap S. schließt
südlich den Golf von Squillace.

Stilpnosiderit (Eisenpecherz, Pecheisenstein), Mineral
aus der Ordnung der Hydroxyde, tritt gewöhnlich gleichzeitig
mit Brauneisenstein in nierenförmigen oder stalaktitischen,
amorphen, pechschwarzen oder schwärzlichbraunen Massen mit
starkem Fettglanz auf; Härte 4,5-5, spez. Gew. 3,6-3,8. S.
enthält Eisenoxyd und Wasser und nähert sich bald dem
Brauneisenerz (14 Proz. Wasser), bald dem Goethit (10 Proz.
Wasser); er findet sich bei Siegen, Sayn, Amberg, in Böhmen
und Mähren und wird mit Brauneisenstein verhüttet.

Stilpon, griech. Philosoph, aus Megara, blühte um
300 v. Chr. und erhob, durch Ernst und Reinheit seiner Ethik, in
welcher er ein Vorläufer der Stoiker war, sowie durch
Schärfe seiner Dialektik ausgezeichnet, die megarische Schule
zu großem Ansehen. Von seinen Schriften hat sich nichts
erhalten.

Stilton, Dorf in Huntingdonshire (England), mit (1881)
645 Einw., hat seinen Namen einer berühmten Sorte Käse
gegeben, der hier zuerst verkauft wurde, indes meist aus
Leicestershire kommt.

Stimmbänder, s. Kehlkopf.

Stimmbildung. Die verschiedenen, bei der Ausbildung der
Singstimmen (s. Stimme, S. 321) in Betracht zu ziehenden Momente
sind: 1) Bildung des richtigen Ansatzes (s. d.) der für den
Gesang geeigneten Resonanz der Vokale; 2) Schulung des Atemholens
und Atemausgebens (mittels des messa di voce), also Kräftigung
der Respirationsorgane, welche die erste Vorbedingung einer
Kräftigung der Stimme ist; 3) Übung im Festhalten der
Tonhöhe (zugleich eine Übung der beteiligten Muskeln und
Bänder und des Gehörs, ebenfalls mittels des Messa di
voce); 4) Ausgleichung der Klangfarbe der Töne (wobei zu
beachten ist, daß manchmal ein einzelner Ton schlecht
anspricht); 5) Erweiterung des Stimmumfanges (durch Übung der
Töne, welche dem Sänger bequem zu Gebote stehen); 6)
Übung der Biegsamkeit der Stimme (zunächst langsame
Tonverbindung in engen und weiten Intervallen, später
Läuferübungen, Triller, Mordente etc.); 7) Ausbildung des
Gehörs (systematische Treffübungen, Musikdiktat); 8)
Übungen in der richtigen Aussprache (am besten durch
Liederstudium) ; 9) Übungen im Vortrag (durch geschickte
Auswahl von Werken verschiedenartigen Charakters für das
Studium). Vgl. Gesang.

Stimmbruch, s. Mutation.

Stimme (Vox), im physiologischen Sinn der Inbegriff der
Töne, welche im tierischen Organismus beim Durchgang des Atems
durch den Kehlkopf willkürlich erzeugt werden. Das menschliche
Stimmorgan zerfällt in das Windrohr, das Zungenwerk und in das
Ansatzrohr. Der Kehlkopf ist ein Zungenwerk mit membranösen
Zungen (den Stimmbändern). Als Windrohr dienen die
Luftröhre und deren Verästelungen, als Zungen die beiden
untern Stimmbänder, und das Ansatzrohr wird gebildet von den
obern Teilen des Kehlkopfes (den Morgagnischen Taschen und den
sogen. obern Stimmbändern) sowie von der Schlund-, Mund- und
Nasenhöhle. Der Vorgang bei der Stimmbildung, welche auf
regelmäßigen periodischen Explosionen der durch die enge
Stimmritze tretenden Luft beruht, ist nun folgender: Die
Luftröhre leitet die unter einem gewissen Druck stehende
Ausatmungsluft gegen die mehr oder weniger gespannten und also
schwingungsfähigen Stimmbänder, die jedoch für sich
keine oder nur ganz schwache Töne geben. Die beiden untern
Stimmbänder treten von den Seiten her einander entgegen und
verwandeln die zwischen ihnen liegende Stimmritze in eine feine
Spalte, welche dem Luftaustritt ein gewisses Hindernis
entgegensetzt. Dadurch wird eine zu schnelle Entleerung des in den
Lungen vorhandenen Luftvorrats verhindert, und es wird
möglich, einmal den Ton längere Zeit hindurch auszuhalten
und das andre Mal die Luft des Windrohrs durch den Druck der
Ausatmungsmuskeln in eine bestimmte Spannung zu versetzen. Der
Luftstoß drängt die Stimmbänder in die Höhe
und etwas auseinander; sofort aber schwingen die Bänder
zurück, und die Stimmritze wird dadurch wieder verengert.
Dieses Schwingen der Stimmbänder mit abwechselnder minimaler
Verengerung und Erweiterung der Stimmritze wiederholt sich oft und
in rhythmischer Weise, d. h. die Schwingungen sind
regelmäßige. Dadurch wird auch die Luft des Ansatzrohrs
in regelmäßige, stehende, also tönende Schwingungen
versetzt. Zur Hervorbringung selbst der schwächsten Töne
ist eine gewisse Stärke des Anblasens nötig, d. h. es
muß die Luft im Windrohr eine gewisse Spannung haben, welche
wir ihr durch Zusammendrücken des Brustkorbes, d. h. durch die
Ausatmung, geben. Bei großer Kraftlosigkeit der
Atmungsmuskeln und bei einer Öffnung in der Luftröhre
(Wunde) geht daher die S. verloren. Übrigens dienen die
Wandungen der Luftröhre und der Bronchien sowie die in ihnen
eingeschlossenen Luftmassen als Resonanzapparate, denn sie
verstärken durch ihr Mitschwingen die Töne. Menschen mit
entwickeltem Brustkorb haben darum eine kräftige S.; der
Brustkorb selbst wird durch die

331

Stimme (des Menschen).

S. in Schwingungen versetzt, welche die auf den Brustkorb
aufgelegte Hand wahrzunehmen vermag (Stimmvibration des Thorax).
Selbst beim heftigsten und schnellsten Ausatmen entstehen keine
Töne, welche der S. irgendwie vergleichbar wären, sondern
nur blasende oder keuchende Geräusche infolge der Reibung der
Luft im Kehlkopf und an andern Stellen der Luftwege. Tonbildung ist
immer nur möglich, wenn der Luftstrom regelmäßig
unterbrochen wird durch die gespannten Stimmbänder. Aus diesem
Grund muß eine feine Stimmritze vorhanden sein, wenn es zur
Tonbildung kommen soll, denn die weite Stimmritze gibt kein
hinreichendes Hemmnis für den Luftstrom ab. Diese Stimmritze
wird ausschließlich durch die untern Stimmbänder
gebildet, denn wenn man am toten Kehlkopf die untern
Stimmbänder abträgt, so bekommt man mittels der obern
Stimmbänder allein keine Töne mehr. Bei höhern
Tönen näherten sich zwar auch die obern Bänder
einander, doch nie in dem Grade, daß dadurch ein zur
Tonbildung hinreichendes Lufthindernis gebildet wurde. Entfernt man
aber am toten Kehlkopf die obern Bänder, so erlangt man durch
die untern Bänder immer noch mit Leichtigkeit Töne, nur
von etwas anderm Klang als bei unversehrtem Kehlkopf. Ebensowenig
wird durch Verstümmelung der obern Bänder die
Tonhöhe verändert. Die untern Bänder sind demnach
unentbehrlich zur Tonerzeugung, und sie allein verdienen daher den
Namen der Stimmbänder. Die Bildung der engen Stimmritze wird
dadurch bewirkt, daß die Gießkannenknorpel aneinander
rücken und somit den freien Rand der Stimmbänder einander
nähern. Mit zunehmender Tonhöhe wird die Stimmritze enger
und kürzer. Ganz unentbehrlich für die Stimmbildung ist
die gehörige Spannung und Elastizität der
Stimmbänder. Ist der Schleimüberzug derselben
entzündlich geschwollen, mit zähem und dickem Schleim
belegt, oder sind die Stimmbänder durch andre krankhafte
Prozesse, Neubildungen etc., verdickt, so sind sie unfähig, in
gehöriger Weise zu schwingen. Die Tongebung ist dann mehr oder
weniger gehindert, die Töne werden rauh, unangenehmer und
tiefer; in höherm Grade tritt völlige Stimmlosigkeit ein.
Außerdem ist zum Hervorbringen eines Tons von bestimmter
Höhe erforderlich, daß Länge und Spannung der
Stimmbänder unverändert bleiben. Die Bildung und
Öffnung der Stimmritze ist an die Ortsbewegungen gebunden,
welche die beiden Gießkannenknorpel ausführen. Durch das
Auseinanderrücken letzterer wird die Stimmritze gebildet
(geschlossen), durch die Rückwärtsbewegung derselben
werden die Stimmbänder gespannt und umgekehrt. Die
Tonhöhe ist abhängig von der Länge und der Spannung
der Stimmbänder. Die Länge der Stimmbänder ist von
großem Einfluß auf die Stimmlage in der Art, daß
mit langen Stimmbändern (beim Mann) eine tiefe, mit kurzen
Stimmbändern (beim Kind und Weib) eine hohe Stimmlage
verbunden ist. Für jedes einzelne Stimmorgan ist die Spannung
der Bänder das Hauptveränderungsmittel der Tonhöhe:
je größer die Spannung, um so höher der betreffende
Ton. Die Spannung der Stimmbänder erfolgt durch Muskelwirkung
, wobei ihr hinterer Insertionspunkt sich von dem vordern entfernt.
Für alle die Formveränderungen, welche mit der Stimmritze
bei der Tonbildung vor sich gehen, sind besondere Muskeln am
Kehlkopf angebracht. Die Tonhöhe steigt jedoch nicht
bloß mit zunehmender Spannung der Stimmbänder, sondern
auch mit zunehmender Stärke des Luftstroms, welcher durch die
Stimmritze geht. Eine und dieselbe Tonhöhe ist also erreichbar
entweder durch stärkere Bänderspannung bei zugleich
ruhigem Ausatmungsstrom oder mittels schwächerer Spannung der
Bänder bei stärkerm Luftstrom. Im erstern Fall hat der
Ton einen angenehmern Klang, aber beide Faktoren sind wichtige
Kompensationsmittel der Tonhöhe. Auch erklärt sich
hieraus, daß die höchsten Töne niemals schwach, die
niedrigsten niemals sehr stark gegeben werden können. Obschon
während des Ausatmens mit Abnahme des Luftvorrats auch die
Kraft des Anblasens abnimmt, so kann der Ton trotzdem auf gleicher
Höhe erhalten werden durch zunehmende Spannung der
Stimmbänder. Das Ansatzrohr der musikalischen Zungenwerke wird
am menschlichen Stimmorgan mit mannigfachen, der S. zu gute
kommenden Modifikationen durch diejenigen Abschnitte der Luftwege
vertreten, welche oberhalb der untern Stimmbänder liegen, also
durch die Rachen-, Mund- und Nasenhöhle. Dieses Ansatzrohr
verändert zwar nicht wesentlich die Tonhöhe, wohl aber
den Klang und besonders die Stärke des Tons. Zuhalten der
Nase, Schließen oder Öffnen des Mundes z. B.
verändern in der That niemals die Höhe, wohl aber den
Klang und die Stärke der Töne. Ein Verschluß der
Nase ändert, wenn der Ausatmungsstrom schwach und der Mund
weit geöffnet ist, den Klang der Töne
verhältnismäßig nur wenig; bei starkem Luftstrom
aber wird der Klang näselnd, indem die Wände der
Nasenhöhle die Schallwellen nicht bloß reflektieren,
sondern auch selbst in stärkere, den Klang modifizierende
Schwingungen geraten. Zunehmende Räumlichkeit der Mund- und
Nasenhöhle begünstigt, umfängliche
Verknöcherung der Kehlkopfknorpel vermindert die
Tonstärke.

Nach dem Umfang der menschlichen S. unterscheidet man den Sopran
oder die höhere Frauenstimme, den Alt oder die tiefere
Frauenstimme, den Tenor oder die hohe Männerstimme und den
Baß oder die tiefe Männerstimme. Der Sopran liegt
ungefähr eine Oktave höher als der Tenor, der Alt um
ebensoviel höher als der Baß. Zwischen dem tiefsten
Baß- und höchsten Sopranton liegen etwas über 3 1/2
Oktaven. Rechnet man die Stimmen von seltener Tiefe und Höhe
dazu, so beträgt der ganze Umfang der Menschenstimme sogar 5
Oktaven; ihr tiefster Ton hat 80, ihr höchster 1024
Schwingungen in der Sekunde. Eine gute Einzelstimme umfaßt 2
Oktaven (und etwas darüber) musikalisch verwendbarer
Töne. Stimmen von größerm Umfang sind nicht so
selten, ja selbst ein Gebiet von 3 1/2 Oktaven wurde schon
beobachtet. Der Baß erreicht ausnahmsweise f1, Kinderstimmen
und der Frauensopran manchmal f3, ja selbst a3. Nur wenige
Töne, nämlich von c1-f1, sind allen Stimmlagen gemein.
Die Menschenstimme zeigt unendlich viele individuelle
Modifikationen oder Klangarten. Hierfür sind außer der
Regelmäßigkeit, d. h. der gleichen Dauer, der
Schwingungen der Stimmbänder, wodurch die Reinheit der S.
vorzugsweise bedingt wird, namentlich die Teile des Ansatzrohrs,
deren Form, Größe, Elastizität etc.
maßgebend. Abgesehen von den individuellen Klangarten,
unterscheidet man zwei Hauptregister von Tönen: Brusttöne
und Falsetttöne. Der Klang der erstern ist voll und stark, die
auf die Brust gelegte Hand fühlt deutliche Vibrationen; die
Falsett- oder Fisteltöne (s. Falsett) dagegen sind weicher.
Weiteres s. unter Stimmbildung.

Vgl. v. Kempelen, Der Mechanismus der menschlichen Sprache nebst
der Beschreibung einer sprechenden Maschine (Wien 1791); Joh.
Müller, über die

332

Stimmer - Stimmführung.

Kompensation der physischen Kräfte am menschlichen
Stimmorgan (Berl. 1839); Liskovius, Physiologie der menschlichen S.
(Leipz. 1846); Merkel, Anthropophonik (das. 1857); Derselbe, Die
Funktionen des menschlichen Schlund- und Kehlkopfes (das. 1862);
Roßbach, Physiologie der menschlichen S. (Würzb. 1869);
Luschka, Der Kehlkopf des Menschen (Tübingen 1871);
Fournié, Physiologie des sons de la voix et de la parole
(Par. 1877); Helmholtz, Lehre von den Tonempfindungen (4. Aufl.,
Braunschw. 1876); Grützner, Physiologie der S. und Sprache (in
Hermanns "Handbuch der Physiologie", Bd. 1, Tl. 2, Leipz. 1879);
Mandl, Die Gesundheitslehre der S. in Sprache und Gesang
(Braunschw. 1876).

Die Stimmen der Tiere.

Mit Ausnahme der walfischartigen Tiere und des Stachelschweins,
die weder Stimmbänder noch Morgagnische Taschen besitzen,
treffen wir bei sämtlichen Säugetieren stimmbildende
Apparate an, die dem beschriebenen des Menschen ganz ähnlich
sind. Oftmals finden sich große resonatorische Nebenapparate
vor, welche die S. zu verstärken und in ihrer Klangfarbe zu
beeinflussen berufen sind. Je umfangreicher der Kehlkopf und die
Stimmbänder, desto lauter ist die S. Die S. der meisten Tiere
ist nicht sehr umfangreich; bei den meisten Wiederkäuern
bewegt sie sich nur innerhalb ein bis zwei Tonstufen. Oftmals
bringen Tiere Töne hervor, die in ihrer Höhe sehr weit
auseinander liegen, ohne daß sie zur Erzeugung der
zwischenliegenden Töne befähigt wären. Bei einigen
Tieren dient nicht allein der Ausatmungs-, sondern auch der
Einatmungsluftstrom der Stimmbildung; in diesen Fällen ist
meistens der Kehlkopf mit besondern Apparaten ausgestattet, z. B.
beim Esel. Bei der Erzeugung hoher Töne bedienen sich die
Tiere oftmals der Fistelstimme, z. B. der Hund, wenn er sich nach
etwas sehnt, oder wenn er Schmerzen empfindet. Die S. der
Vögel, namentlich der Männchen, ist ungemein entwickelt.
Obenan stehen hier die Singvögel und die Papageien. Mit
Ausnahme einiger straußartiger Vögel und Geier haben
sämtliche Vögel einen doppelten Kehlkopf. Der eine davon
entspricht vollständig dem Kehlkopf der Säugetiere, hat
aber mit der eigentlichen Stimmbildung gar nichts zu thun und
besitzt keine knorpelige, sondern eine knöcherne Grundlage.
Der andre liegt im Brustraum an der Vereinigungsstelle der
Luftröhrenzweige und stellt den eigentlichen stimmbildenden
Apparat dar. Derselbe ist entweder einfach oder doppelt vorhanden
und liegt im erstern Fall entweder im Anfangsteil der
Luftröhre oder an der Übergangsstelle in die Bronchien;
im andern Fall befindet sich in jedem der beiden Bronchien ein
Stimmapparat. Schon Cuvier und Johannes Müller konnten
experimentell nachweisen, daß die S. der Vögel in dem
untern Kehlkopf gebildet wird; letzterm gelang es auch, durch
Anblasen des ausgeschnittenen untern Kehlkopfes der S.
ähnliche Töne zu erzeugen. Die Stimmbildung beruht bei
den Vögeln im wesentlichen auf demselben Prinzip wie beiden
Säugetieren, da wir es auch hier mit membranösen
Zungenpfeifen zu thun haben. Die S. der Amphibien ist nur von
untergeordnetem Interesse. Die Krokodile haben eine durchdringende
und schreiende S., die allerdings in der Gefangenschaft kaum
beobachtet wird. Bei den Lurchen, besonders bei den
ungeschwänzten, findet man neben den stimmbildenden Apparaten
vielfach noch resonatorische Einrichtungen, die wesentlich zur
Verstärkung der S. dienen (z. B. die Luftsäcke der Kehle
bei den Fröschen). Sind auch die meisten Fische stumm, so
wußte doch schon Aristoteles, daß manche Fische
brummende, singende Töne zu erzeugen im stande sind.
Allerdings kann man hier von einer S. nur dann sprechen, wenn man
unter letzterer die Fähigkeit eines Tiers versteht, Töne
als Mittel zur gegenseitigen Verständigung zu benutzen. Auch
nur im letztern Sinn können wir von einer S. der Insekten
sprechen; hierbei kommen die durch den Flügelschlag erzeugten
Töne kaum in Rechnung. über die Einrichtung der
Stimmapparate s. Insekten, S. 978.

Stimmer, Tobias, Maler und Zeichner für den
Holzschnitt, geb. 1539 zu Schaffhausen, war dort, in
Straßburg und Frankfurt a. M. als Fassaden- und
Porträtmaler thätig und hat besonders eine große
Anzahl von Zeichnungen für den Holzschnitt (biblische
Darstellungen, Allegorien, Embleme, Genrebilder etc.) gefertigt,
welche von dem Buchdrucker S. Feierabend in Frankfurt a. M.
herausgegeben wurden. Er starb 1582 in Straßburg. S.
schloß sich an H. Holbein den jüngern an, verfiel aber
zuletzt in leere Manier. Von seinen Fassadenmalereien hat sich die
des Hauses zum Ritter in Schaffhausen erhalten. Bildnisse von ihm
befinden sich im Museum zu Basel.

Stimmfehler (Vitia vocis), organische oder funktionelle
Affektionen des Kehlkopfes und des oberhalb desselben gelegenen
Teils des Respirationsorgans, bei welchen entweder die Erzeugung
der tongebenden Schwingungen der Stimmbänder mehr oder weniger
aufgehoben, oder die willkürliche Modifizierung derselben
unmöglich gemacht worden, oder die Klangfarbe der im Kehlkopf
erzeugten Töne eine abnorme geworden ist. Die wichtigsten S.
sind Heiserkeit und Aphonie. Häufig, namentlich beim
Stimmwechsel und männlichen Geschlecht, ist auch das
Überschnappen der Stimme (Hyperphonie), wobei die Töne
der Stimme leicht aus dem Brustregister in das Falsettregister
umschlagen.

Stimmführung nennt man den musikalischen Satz in Bezug
auf die Behandlung der einzelnen denselben hervorbringenden
Stimmen. Das Wichtigste der Lehre von der S. läßt sich
in wenige Worte zusammenfassen. Die Seele der S. ist die
Sekundfortschreitung. Der Satz erscheint um so glatter,
vollkommener, je mehr die Akkordfolgen durch Sekundschritte der
einzelnen Stimmen bewerkstelligt werden. Selbst harmonisch sehr
schwer verständliche Folgen geben sich mit einer gewissen
Ungezwungenheit, wenn alle oder die meisten Stimmen Sekundschritte
machen, seien diese Ganztonschritte, Leitton- oder chromatische
Halbtonschritte (s. Beispiel). Ein vorzügliches Bindemittel
einander folgender Akkorde ist ferner das Liegenbleiben gemeinsamer
Töne. Eine Ausnahme macht die Führung der
Baßstimme, welche gern von Grundton zu Grundton der Harmonien
fortschreitet und wesentlich der Förderung des harmonischen
Verständnisses dient; auch von Hauptton zu Terzton und von
Terzton zu Terzton oder Hauptton geht der Baß gern, dagegen
ist der Sprung der Baßstimme zum Quintton mit Vorsicht zu
behandeln (s. Quartsextakkord und Konsonanz). Überhaupt aber
ist die Sekundbewegung zwar erstrebenswert, jedoch keineswegs immer
erreichbar, und gerade die Stimme, welche zumeist frei und zuerst
erfunden wird, die eigentliche Melodiestimme (in der neuern Musik
gewöhnlich die Oberstimme), unterbricht die Sekundbewegung
gern durch größere, sogen. harmonische Schritte. Da
solche Schritte, wie bereits bemerkt, den Effekt der
Mehrstimmigkeit durch Brechung machen, so sind sie

333

Stimmgabel - Stimmung.

eine Bereicherung des Satzes; es blüht sozusagen eine
zweite Stimme aus der einen heraus (im Orchester- und Klaviersatz
geschieht das oft genug wirklich). Von solchem Gesichtspunkt aus
erscheint das Abweichen von der Sekundbewegung auch für die
Mittelstimmen oft als ein Vorzug, indem dieselben sich dadurch
selbständiger herausheben. Gewisse Stimmschritte, die
harmonisch schwer verständlich und darum schwer rein zu
treffen sind, vermeidet der Vokalsatz gern (der "strenge" Stil
vermeidet sie ganz), nämlich die übermäßigen
Schritte (Tritonus, übermäßiger Sekundschritt etc.)
und den verminderten Terzschritt (cis-es). Die in allen
Lehrbüchern der Harmonie zu findenden Regeln, daß der
Leitton einen kleinen Sekundschritt nach oben mache und die Septime
nach unten fortschreiten müsse, sind nur bedingungsweise
richtig. Wo der Leitton in Dominantenakkord auftritt und dieser
schließend sich zur Tonika fortbewegt, wird natürlich
der Leittonschritt gemacht werden, weil überhaupt
Halbtonfortschreitungen überall zu machen sind, wo sich
Gelegenheit bietet und dadurch nicht gegen eine andre Satzregel
verstoßen wird; deshalb wird auch die Septime in den
Fällen gern nach unten fortschreiten, wo sie einen fallenden
Leittonschritt ausführen kann, z. B. wo sich der
Dominantseptimenakkord in die Durtonika auflöst (s. das
Beispiel). In diesem Fall ist sowohl der steigende Leittonschritt
h'-c'' als der fallende f'-e' obligatorisch und wird nur in
Ausnahmefällen von einem von beiden abzusehen sein. Dagegen
ist kein Grund abzusehen, warum in Akkorden wie h:d:f:a oder
c:e:g:h die Septime sich abwärts bewegen sollte, wenn nicht
Gefahr der Quintenparallelen od. dgl. dazu zwingt. Es wird immer
darauf ankommen, was für eine Harmonie folgt; enthält
dieselbe die Oktave des Grundtons, so wird die Septime häufig
steigen. Die Regel der abwärts zu führenden Septime wie
des aufwärts zu führenden Leittons ist also nichts andres
als ein praktischer Fingerzeig, weil bei den gewöhnlichsten
Akkordfolgen sich diese S. als eine bequeme ergibt. Dagegen sind
von höchster Bedeutung für die S. die negativen Gesetze:
das Quintenverbot und Oktavenverbot (s. Parallelen), da falsche
Parallelen dem Grundprinzip des mehrstimmigen Satzes, eine
Vereinigung mehrerer sich selbständig und wohl unterscheidbar
bewegender Stimmen zu sein, widersprechen.

Stimmgabel, ein nach Gerber im 18. Jahrh. von dem
englischen Musiker John Shore erfundenes, aus Stahl gabelartig
zweizinkig gearbeitetes, unten mit einem Stiel von gleicher Masse
versehenes Instrument, das, wenn seine beiden Zinken durch
Anschlagen in Vibration gesetzt werden, einen sanften, einfachen
Ton von bestimmter Tonhöhe gibt. Die S. ist in den meisten
Fällen auf das eingestrichene a (Kammerton) gestimmt und dient
zur Bewahrung einer absolut gleichen Tonhöhe. S. Schall, S.
392.

Stimmrecht, allgemeines, s. Allgemeines S.

Stimmritze, s. Kehlkopf.

Stimmritzenkrampf (Laryngospasmus infantilis, Asthma
laryngeum, Laryngismus stridulus), krampfhafte Zusammenziehung
derjenigen Muskeln, welche die Stimmritze verschließen,
beruht auf einem krampfhaften Erregungszustand der Nerven, welche
jene Muskeln innervieren. In manchen Fällen scheint die Anlage
zum S. angeboren zu sein, da in einzelnen Familien fast alle Kinder
daran erkranken. Der S. tritt in Anfällen auf, zwischen
welchen freie Pausen liegen. Der Anfall ist charakterisiert durch
eine plötzliche gewaltsame Unterbrechung des Atmens, welche
mehrere Minuten lang andauern kann, wenn die Stimmritze nicht
gänzlich verschlossen, sondern nur stark verengert ist. Das
Atmen ist dabei mit einem pfeifenden langgezogenen Geräusch
verbunden. Das Kind ist voll der höchsten Angst und Unruhe,
wird blau im Gesicht und macht angestrengte Bewegungen, um zu
atmen. Husten, Heiserkeit und Fieber fehlen dabei. Ist der Krampf
vorüber, und hat das Kind seine Angst vergessen, so ist wieder
vollständiges Wohlbefinden da. Manchmal sind krampfhafte
Bewegungen der Finger und Zehen, der Arme und Beine mit den
Anfällen von S. verbunden oder wechseln mit ihnen ab. Die
Anfälle treten in verschiedenen Zeiträumen auf; oft
wiederholen sie sich erst nach acht und mehr Tagen, in schlimmen
Fällen folgen sie schneller aufeinander. Immer bleibt
große Neigung zu Rückfällen zurück, welche man
selbst dann noch zu fürchten hat, wenn das Kind monatelang
frei geblieben ist. In seltenen Fällen trat der S. nur in
Einem Anfall auf und kehrte nie wieder. Der Krankheitsanfall geht
meist binnen wenigen Sekunden oder Minuten vorüber, endet aber
auch manchmal mit dem plötzlichen Tode der Kinder durch
Erstickung. Sobald sich ein Anfall einstellt, soll man das Kind
aufrichten, ihm Wasser in das Gesicht spritzen, kühle Luft
zufächeln, den Rücken reiben und ein Klystier von
Kamillen-oder Baldrianthee setzen. Auch ist es gut, einen Senfteig
vorrätig zu halten, um denselben, sobald der Anfall eintritt,
in die Magengrube zu legen. In der freien Zwischenzeit muß
man alle Unregelmäßigkeiten in der Verdauung beseitigen,
den Stuhlgang regulieren und für eine möglichst
zweckmäßige Ernährung des Kindes sorgen.

Stimmung, in der Musik s. v. w. Feststellung der
Tonhöhe und zwar 1) Feststellung der absoluten Tonhöhe,
d.h. der Schwingungszahl eines Tons, nachdem die übrigen
gestimmt werden. In ältern Zeiten hatte man verschiedene
Stimmungen für verschiedene Instrumente: die einen waren in
den Chorton (s. d.), die andern in den Kammerton (s. d.) gestimmt;
in der neuern Zeit bediente man sich allgemein des Kammertons (vgl.
A). Indessen war nicht nur die Tonhöhe des letztern an
verschiedenen Orten eine verschiedene, so daß man von einer
Pariser, Wiener, Berliner, Petersburger S. etc. spricht, sondern es
hat sich außerdem in den letzten anderthalb Jahrhunderten ein
stetiges Hinauftreiben der S. herausgestellt. Zu Lullys Zeiten
(1633-87) war dieselbe fast anderthalb Töne tiefer als jetzt;
seit Händel und Gluck ist sie um einen ganzen Ton gestiegen,
seit Mozart um einen halben. Nach der Pariser S. von 1788 zeigte
das eingestrichene a 409 (Doppel-) Schwingungen in der Sekunde,
nach der ältern Mozart-Stimmung etwas über 421, nach der
Pariser S. von 1835: 449, nach der Wiener und Berliner S. von etwa
1850: 442. Um diesem fortdauernden Schwanken des Kammertons Einhalt
zu thun und die Einführung einer allgemein gültigen S.
anzubahnen, nahm man in Deutschland in Übereinstimmung mit der
Deutschen Naturforschergesellschaft (1834) Scheiblers Bestimmung
als für den Kammerton maßgebend an, nach welcher dem
eingestrichenen a in der Sekunde 440 Schwingungen zukommen,
während man 1858 zu Paris auf Anlaß Napoleons III. durch
eine Kommission von Sachverständigen einen neuen Kammerton
(diapason normal) feststellte, welcher zunächst für
Frankreich die normale Tonhöhe auf 870 einfache (= 435
Doppel-) Schwingungen bestimmte. Dieselbe kam bald auch auf
mehreren deutschen Bühnen (z. B. der Wiener, Dresdener und
Ber-

334

Stimmungsbild - Stinktier.

liner) zur Geltung und wurde auf der 16.-19. Nov. 1885 in Wien
tagenden internationalen Konferenz zur Feststellung eines
einheitlichen Stimmtons endlich einstimmig angenommen. - 2)
Theoretische Bestimmung der relativen Tonhöhen, der
Verhältnisse (Intervalle) der Töne untereinander, welche
wieder auf zweierlei Weise möglich ist: a) abstrakt
theoretisch als mathematisch-physikalische Tonbestimmung (s. d.),
und b) für die Praxis berechnet, welche statt der zahllosen
theoretisch definierten Tonwerte nur wenige substituieren
muß, wenn sie einen sichern Anhalt für die Intonation
gewinnen will, als Temperatur (s. d.). - 3) Die praktische
Ausführung der Temperatur, welche jetzt für Orgel wie
Klavier allgemein die gleichschwebende zwölfstufige ist. Exakt
durchführbar ist dieselbe nicht, doch erreicht die Routine
befriedigende Resultate. Was mit der Undurchführbarkeit der
gleichschwebenden Temperatur versöhnen kann, ist der Umstand,
daß diese selbst keine exakten Werte vorstellt, sondern nur
Näherungswerte, Mittelwerte, und daß eine etwanige
Abweichung ein Intervall schlechter, dafür aber ein andres
besser macht. Das einzige Intervall, das absolut rein gestimmt
werden muß, ist die Oktave; die Quinte muß ein wenig
tiefer sein, und zwar beträgt die Differenz in der
eingestrichenen Oktave etwa eine Schwingung, d.h. wenn man jede
Quinte so viel tiefer stimmt, daß sie gegen die reine Quinte
eine Schwebung in der Sekunde macht, und jede Quarte um ebensoviel
höher, so wird man ungefähr genau auskommen. Von
Schriften, welche die S. der Klavierinstrumente behandeln, seien
besonders die von Werkmeister (1691 und 1715), Sinn (1717), Sorge
(1744, 1748, 1754, 1758), Kirnberger (1760), Marpurg (1776 und
1790), Schröter (1747 und 1782), Wiese (1791, 1792, 1793),
Türk (1806), Abt Vogler (1807) und Scheibler (1834, 1835 und
1838) erwähnt. Die Mehrzahl der ältern Stimmmethoden sind
gemischte, ungleich schwebend temperierte, d.h. sie bewahren einer
Anzahl Intervallen ihre akustische Reinheit, während andre
dafür desto schlechter ausfallen. - Im geistigen Sinn
bezeichnet S. einen bestimmten Gemütszustand, den in aller
Reinheit zum Ausdruck zu bringen eine der Hauptaufgaben der Musik
wie jeder andern Kunst ist.

Stimmungsbild, s. Landschaftsmalerei.

Stimmwechsel, s. Mutation.

Stimulieren (lat.), anreizen; Stimulantia, Reizmittel (s.
Erregende Mittel); Stimulation, Reizung, Anregung.

Stinde, Julius, Schriftsteller, geb. 28. Aug. 1841 zu
Kirch-Nüchel in Holstein, studierte Chemie und
Naturwissenschaften, war, nachdem er 1863 promoviert, in Hamburg
mehrere Jahre als Fabrikchemiker thätig, übernahm aber
schließlich die Redaktion des "Hamburger Gewerbeblatts" und
widmete sich ganz der Schriftstellerei, insbesondere dem
naturwissenschaftlichen Feuilleton. Außer zahlreichen
Aufsätzen in Fachzeitschriften veröffentlichte er:
"Blicke durch das Mikroskop" (Hamb. 1869); "Alltagsmärchen",
Novelletten (2. Aufl., das. 1873, 2 Bde.); "Naturwissenschaftliche
Plaudereien" (das. 1873); "Die Opfer der Wissenschaft" (unter dem
Pseudonym Alfred de Valmy, 2. Aufl., Leipz. 1879); "Aus der
Werkstatt der Natur" (das. 1880, 3 Bde.) u. a. Für die
Bühne schrieb S. eine Anzahl mit großem Erfolg
aufgeführter plattdeutscher Komödien, wie: "Hamburger
Leiden", "Tante Lotte", "Die Familie Karstens", "Eine Hamburger
Köchin", "Die Blumenhändlerin" u. a.; ferner das
Lustspiel "Das letzte Kapitel", die beiden Weihnachtsmärchen:
"Prinzeß Tausendschön" und "Prinz Unart" sowie
gemeinschaftlich mit G. Engels das Volksstück "Ihre Familie".
Seit 1876 in Berlin lebend, schrieb er noch: "Waldnovellen" (Berl.
1881, 2. Aufl. 1885); "Das Dekamerone der Verkannten" (das. 1881,
2. Aufl. 1886); "Berliner Kunstkritik und Randglossen" (das. 1883)
und seine ergötzlichen Bücher über die Familie
Buchholz: "Buchholzens in Italien" (Berl. 1883), "Die Familie
Buchholz" (das. 1884), "Der Familie Buchholz zweiter Teil" (das.
1885), "Der Familie Buchholz dritter Teil: Frau Wilhelmine" (das.
1886), welche seinen Namen am bekanntesten machten und in
zahlreichen Auflagen erschienen; endlich "Frau Buchholz im Orient"
(das. 1888); "Die Perlenschnur und andres" (das. 1887).

Stinkasant, s. Asa foetida.

Stinkasantpflaster, s. Pflaster.

Stinkbaum, s. Sterculia.

Stinkholz von Guayana, s. Gustavia.

Stinkkalk, s. Kalkspat.

Stinkkohle, s. Braunkohle, S. 356.

Stinkmalve, s. Sterculia.

Stinkmarin, s. Skink.

Stinknase (griech. Ozäna), eine krankhafte Affektion
der Nasenhöhle mit äußerst widerwärtigem,
manchmal direkt fauligem Geruch der ausströmenden Luft.
Derselbe rührt in vielen Fällen von einer fauligen
Zersetzung des zurückgehaltenen Schleimhautsekrets her,
besonders bei engen und verbogenen Nasenkanälen und
Krankheiten der Nebenhöhlen der Nase. In andern Fällen
ist ein wirklich jauchiger Ausfluß vorhanden, herstammend von
wirklichen Nasengeschwüren und am häufigsten durch
syphilitische oder skrofulöse Verschwärung der
Schleimhaut und der Nasenknochen bedingt. Die Behandlung kann nur
auf Grund sorgfältiger ärztlicher Untersuchung erfolgen
und hat das Grundübel sowie das Symptom selbst zu
bekämpfen. Letzteres geschieht durch Ausspülen der Nase
mit schwachem Salzwasser, Lösungen von Alaun, Tannin,
übermangansaurem Kali etc. mit Hilfe der Nasendouche, deren
ungeschickter Gebrauch aber böse Entzündungen des
Mittelohrs veranlassen kann.

Stinkspat (Stinkstein), s. Kalkspat.

Stinktier (Mephitis Cuv.), Raubtiergattung aus der
Familie der Marder (Mustelida), dem Dachs ähnlich, nur
schlanker gebaute Tiere mit kleinem, zugespitztem Kopf,
aufgetriebener, kahler Nase, kleinen Augen, kurzen, abgerundeten
Ohren, kurzen Beinen, mäßig großen Pfoten,
fünf fast ganz miteinander verwachsenen Zehen, ziemlich
langen, schwach gekrümmten Nägeln, mindestens auf den
Ballen nackten Sohlen und langem, dicht behaartem Schwanz. Sie
besitzen zwei haselnußgroße Stinkdrüsen, welche
sich innen in den Mastdarm öffnen und eine gelbe,
ölähnliche Flüssigkeit von furchtbarem Gestank
absondern, die das Tier zur Verteidigung mehrere Meter weit
fortspritzen kann. Die Stinktiere leben in Amerika und Afrika,
besonders in steppenartigen Gegenden, liegen am Tag in hohlen
Bäumen, Felsspalten oder selbstgegrabenen Erdhöhlen und
jagen nachts auf kleine Wirbeltiere und niedere Tiere, fressen aber
auch Beeren und Wurzeln. Die Chinga (M. varians Gray), 40 cm lang,
mit fast ebenso langem Schwanz, ist schwarz, mit zwei weißen
Streifen auf dem Rücken und Schwanz, und bewohnt Nordamerika,
besonders die Hudsonbailänder. Sie lebt in Gehölzen
längs der Flußufer und in Felsengegenden, ist in ihren
Bewegungen langsam und unbeholfen, verteidigt sich lediglich durch
Ausspritzen des stinkenden Sekrets, gerät aber leicht in Zorn
und greift dann auch an.

335

Stint - Stirling-Maxwell

In der Gefangenschaft wird sie sehr zahm und entleert ihre
Drüse nur, wenn sie stark gereizt wird. Man benutzt das Fell
als Pelzwerk (s. Skunks), den Drüseninhalt als
nervenstärkendes Mittel.

Stint (Osmerus Cuv.), Gattung aus der Ordnung der
Edelfische und der Familie der Lachse (Salmonoidei), gestreckt
gebaute Fische mit starker, von der der Lachse bedeutend
abweichender Bezahnung und mittelgroßen Schuppen. Der gemeine
S. (Alander, O. eperlanus Lac.), 13-20 und 30 cm lang, auf dem
Rücken grau, an den Seiten silberfarben, bläulich oder
grünlich schimmernd, am Bauch rötlich, lebt in der Nord-
und Ostsee, auch in Haffen und größern
Süßwasserseen Norddeutschlands, bildet stets
größere Gesellschaften, hält sich im Winter in der
Tiefe verborgen, geht im Frühjahr weit in die Flüsse
hinauf (bis Anhalt, Sachsen, Minden) und legt seine kleinen, gelben
Eier aus sandigen Stellen ab. Die Jungen gehen im August ins Meer.
Das Auftreten des Stints ist sehr schwankend: während er in
manchen Jahren in unschätzbarer Menge erscheint, findet er
sich in andern Jahren nur spärlich, ohne daß sich
hierfür bestimmte Gründe angeben ließen. Man
fängt den S. während des Aufsteigens in großen
Massen; er riecht zwar unangenehm, schmeckt aber trefflich.
Vorteilhaft wird er auch als Nahrung für wertvollere Fische in
Teiche gesetzt. Bisweilen benutzt man ihn als Dünger.

Stintzing, Johann August Roderich von, namhafter Romanist
und Literarhistoriker, geb. 8. Febr. 1825 zu Altona, studierte in
Jena, Heidelberg, Berlin und Kiel die Rechte, bestand 1848, nachdem
er sich an der Erhebung der Herzogtümer gegen Dänemark
beteiligt, das Amtsexamen und ließ sich als Advokat in
Plön nieder, siedelte 1851 nach Heidelberg über, wo er
sich 1852 mit der Schrift "Das Wesen von bona fides und titulus in
der römischen Usukapionslehre" (Heidelb. 1852) als
Privatdozent in der juristischen Fakultät habilitierte. 1854
ging er als ordentlicher Prosessor der Rechte nach Basel, 1857 nach
Erlangen, wo ihm der persönliche Adel verliehen ward, 1870 mit
dem Charakter eines Geheimen Justizrats nach Bonn. Er starb 13.
Sept. 1883 durch einen Sturz von einem Berghang in Oberstdorf bei
Sonthofen (Bayern). Seine bedeutendsten Werke sind
litterargeschichtlichen Inhalts, wie: "Ulrich Zasius" (Basel 1857);
"Geschichte der populären Litteratur des
römisch-kanonischen Rechts in Deutschland" (Leipz. 1867);
"Hugo Donellus in Altdorf" (Erlang. 1869); "Geschichte der
deutschen Rechtswissenschaft" (Münch. u. Leipz. 1880-84, 2
Abtlgn.). Auch gab er J. de Wals "Beiträge zur
Litteraturgeschichte des Zivilprozesses" (Erlang. 1866) heraus.
Außerdem erwähnen wir: "Über das Verhältnis
der Legis actio sacramento zu dem Verfahren durch Sponsio
praejudicialis" (Heidelb. 1853); "Friedrich Karl v. Savigny" (Berl.
1862); "Macht und Recht" (Bonn 1876); "Georg Tanners Briefe an
Bonifacius und Basilius Amerbach" (das. 1879).

Stinzomarin, s. Skink.

Stipa L. (Pfriemengras), Gattung aus der Familie der
Gramineen, weitverbreitete, zierliche, ausdauernde Gräser mit
einblütigen, großen Grasährchen, grannenartig
gespitzten Hüllspelzen und lang begrannten, zusammengerollten
Deckspelzen. S. pennata L. (Federgras, Marienflachs, Reihergras),
30-90 cm hoch, mit steifem, hartem Halm, borstenartigen
Blättern, sparsam verästelter Rispe und 30 cm langen,
geknieten, federigen Grannen, wächst auf dürrem Boden,
wird zu Winterbouketts benutzt; ebenso S. capillata L.
(Federhaargras), mit sehr langen, geknieten, kahlen Grannen. S.
tenacissima L. (Macrochloa tenacissima Kunth), mit 90 cm langen,
cylindrischen, halmähnlichen Blättern, wächst in
Spanien und Nordafrika und findet als Esparto (s. d.) ausgedehnte
Verwendung.

Stipendium (lat.), Geldunterstützung, welche
namentlich Studierende auf eine bestimmte Zeit erhalten. Die
Stipendien werden entweder ganz im allgemeinen für Studierende
oder für ein besonderes Fachstudium oder mit
Berücksichtigung eines bestimmten Landes, Ortes, eines Standes
(Adelsstipendien) oder auch der Familienherkunft
(Familienstipendien) vergeben und zwar nach Maßgabe
ausdrücklicher Verfügungen der Stifter, wo solche
vorhanden sind. Vgl. Baumgart, Die Stipendien und Stiftungen an
allen Universitäten des Deutschen Reichs (Berl. 1885). Die
sogen. Reisestipendien werden jungen Gelehrten oder Künstlern
nach Vollendung ihrer Studien zu weiterer Ausbildung auf Reisen
verliehen.

Stipes (Mehrzahl: Stipites, lat.), Stiel, Stengel;
Stipites Dulcamarae, Bittersüßstengel.

Stipula (lat.), Nebenblatt (s. Blatt, S. 1015).

Stipulation (lat.), vertragsmäßige Festsetzung
zwischen zwei oder mehreren Personen, s. Vertrag.

Stirbey (Stirbei, Kalarasch), Hauptstadt des Kreises
Jalomitza in der Walachei, an dem Donauarm Bortscha, nahe dem
großen See von Kalarasch, Silistria gegenüber, Sitz des
Präfekten und eines Tribunals, mit 3 Kirchen, einem Gymnasium
und 7734 Einw. Hier hatten 1854 die Russen sich verschanzt und
schlugen 4. März d. J. einen Angriff der Türken
zurück.

Stirling, Hauptstadt der nach ihr benannten schott.
Grafschaft, am schiffbaren Forth und am Abhang eines steilen
Hügels (mit dem altberühmten S. Castle) gelegen, hat ein
altertümliches Gepräge, eine Kirche aus dem 15. Jahrh.,
ein Militärhospital (in dem ehemaligen Palais der Grafen von
Argyll), eine Kornbörse, ein Versorgungshaus, ein
Athenäum, landwirtschaftliches Museum, Latein- und
Kunstschule, Fabrikation von Wollwaren (Tartans), Gerberei,
Malzdarren, Ölmühlen und (1881) 12,194 Einw. Südlich
davon liegt das Dorf St. Ninian's, mit Nagelschmieden. - Als
"Schlüssel der schottischen Hochlande" spielte das in
unbekannter Zeit erstandene Schloß eine große Rolle. In
der benachbarten Ebene schlug Wallace 1297 die Engländer,
welchen Sieg ein Denkmal verherrlicht. 1304 bemächtigten sich
die Engländer des Schlosses, mußten es aber nach der
Schlacht von Bannockburn (1314) wieder räumen. An diesen Sieg
der Schotten erinnert eine 1877 vor dem Schloß errichtete
Statue von Robert Bruce. 1651 nahm der englische General Monk das
Schloß, und 1745 wurde es von den Hochländern vergeblich
belagert.

Stirling-Maxwell, Sir William, engl. Gelehrter, geb. 1818
zu Kenmure bei Glasgow, ward im Trinity College zu Cambridge
gebildet, lebte längere Zeit in Frankreich und Spanien, ward
1866 durch den Tod seines Onkels John Maxwell Baronet, 1872 Rektor
der Universität Edinburg, 1875 Kanzler der Universität
Glasgow sowie Kommissar am Britischen Museum und an der
National-Porträtgalerie. Er starb 15. Jan. 1878 in Venedig. S.
schrieb: "The annals of the artists of Spain" (1848, 3 Bde.; 2.
Aufl. 1853); "Cloister-life of Charles V." (1852; deutsch, Leipz.
1853) und "Velasquez and his works" (1855; deutsch, Berl.
1856).

336

Stirlingshire - Stöber.

Stirlingshire, Grafschaft im südlichen Schottland,
westlich am Forthbusen der Nordsee, umfaßt 1195 qkm (21,7
QM.) mit (1881) 112,443 Einw. und bildet im NW. ein kahles
Gebirgsland (Ben Lomond 973 m), das ein Strich Moorlandes von den
Campsie Fells (577 m) im Süden trennt, während der
östliche Teil eine Ebene mit fruchtbarem Ackerland darstellt.
Die bedeutendsten Flüsse sind: der Forth, Carron und Endrick.
Die Grafschaft enthält großen Mineralreichtum, besonders
an Steinkohlen und Eisen. Nur 24,9 Proz. der Oberfläche
bestehen aus Ackerland, 14,8 Proz. aus Wiesen, 1,8 Proz. aus Wald.
Die Viehzucht ist von Bedeutung (17,575 Schafe, 28,052 Rinder). Die
Industrie beschäftigt sich mit Wollweberei, Kattundruckerei,
Hüttenbetrieb und Eisengießerei. Der Südosten der
Grafschaft wird von dem Forth-Clydekanal durchzogen, welcher die
Nordsee mit dem Irischen Meer verbindet. - Geschichtlich
merkwürdig ist S. als der Schauplatz heftiger Kämpfe der
Römer mit den Kaledoniern, gegen welche jene den
berühmten Pikten- oder Hadrianswall (s. d.) zwischen dem
Forthbusen und dem Clydebusen errichteten.

Stirm, Karl Heinrich, protest. Theolog, geb. 22. Sept.
1799 zu Schorndorf, ward 1828 Landgeistlicher und 1835 Hofkaplan
und Mitglied des Konsistoriums in Stuttgart. In dieser Eigenschaft
entfaltete er eine einflußreiche Thätigkeit im Kirchen-
und Schulwesen seines Vaterlandes und starb als Prälat und
Oberkonsistorialrat 24. April 1873. Sein bekanntestes Werk ist die
"Apologie des Christentums in Briefen für gebildete Leser" (2.
Aufl., Stuttg. 1856).

Stirn (Frons), bei den Wirbeltieren diejenige Gegend des
Kopfes, welche die Stirnbeine zur knöchernen Grundlage hat,
beim Menschen also der vorderste unterste Teil des Vorderkopfes. Im
gewöhnlichen Leben wird sie mit zum Gesicht gerechnet, das
jedoch für den Anatomen erst unterhalb derselben anfängt.
Beim Menschen ist sie haarlos und ragt weit hervor, während
sie bei den übrigen Säugetieren gewöhnlich behaart
ist und stark hinter dem Mundteil zurücktritt. Bei den
Gliedertieren (Insekten, Krebsen etc.) wird der zwischen den Augen
liegende Teil des Kopfes gleichfalls S. genannt.

Stirnbein, s. Schädel, S. 373.

Stirner, Max, s. Schmidt 4).

Stirngrübler, Schafbremse, s. Bremen, S. 384.

Stirnhöhlen, s. Schädel, S. 373.

Stirnmauer, s. Gewölbe, S. 311.

Stirnnaht, s. Schädel, S. 373.

Stirnrad, Zahnrad, dessen Zähne auf einer
cylindrischen Fläche radial angebracht sind.

Stirnzapfen, am Ende einer Welle etc. befindliche Zapfen,
bei welchen der Druck rechtwinkelig gegen ihre Achse wirkt. Vgl.
Zapfen.

Stirnziegel, in der antiken Baukunst aufrecht stehende
Ziegel in Form von Palmetten und Köpfen, welche an der Ecke
eines Daches angebracht wurden. Vgl. Akroterien.

Stirps (lat.), Stamm.

Stirum, Ort, s. Styrum.

Stitny, Thomas von, Philosoph aus altem böhmischen
Geschlecht, lebte im 14. Jahrh., wahrscheinlich von 1325 bis 1410,
und hat sich als einer der ersten Zöglinge der von Kaiser Karl
IV. 1348 gegründeten Universität zu Prag durch
zahlreiche, meist auf seiner Burg Stitné bei Pilgram
verfaßte philosophische Schriften, die zu den besten
Prosawerken der böhmischen Litteratur gerechnet werden,
bekannt gemacht. Die darin niedergelegte Weltanschauung stimmt mit
der christlich-scholastischen, insbesondere des von ihm als
Autorität verehrten Thomas von Aquino, dem Inhalt nach
überein, unterscheidet sich von derselben jedoch sehr
wesentlich der Form nach, welche vielmehr homiletisch als
syllogistisch ist. Nähert er sich hierin den eifrigen
Predigern seines Zeitalters, den Vorläufern des spätern
Hussitentums, so entfernt er sich anderseits von deren fanatischem
Vernunfthaß, indem er die Vernunft als höchste
Autorität aufstellt. Sein Hauptwerk sind die bisher nur
teilweise veröffentlichten "Gespräche" (hrsg. von Erben,
Prag 1850; von Vrtátko, das. 1873). Vgl. Wenzig, Studien
über Ritter Thomas von S. (Leipz. 1856).

Stoa (griech.), s. v. w. Portikus (s. Halle); auch
gebraucht für die Lehre der Stoiker (s. d.), weil Zenon, der
Stifter dieser Philosophie, seine Vorträge in der S. Poikile
zu Athen zu halten pflegte.

Stobäos, Joannes, aus Stobi in Makedonien, um 500 n.
Chr., ist Verfasser einer philosophischen Blumenlese aus mehr als
500 griechischen Dichtern und Prosaikern, der wir die Erhaltung
zahlreicher Bruchstücke aus jetzt verlornen Schriften
verdanken. Ursprünglich ein Ganzes bildend, ist die Sammlung
im Lauf der Zeit in zwei besondere Werke von je zwei Büchern
getrennt worden: "Eclogae physicae et ethicae" (hrsg. von Gaisford,
Oxf. 1850, 2 Bde.; von Meineke, Leipz. 1860-64, 2 Bde., und
Wachsmuth, Berl. 1884, 2 Bde.) und "Anthologion" oder "Florilegium"
(hrsg. von Gaisford, Oxf. 1822-25, 4 Bde., und Meineke, Leipz.
1856-57, 4 Bde.).

Stobbe, Johann Ernst Otto, angesehener Germanist, geb.
28. Juni 1831 zu Königsberg i. Pr., widmete sich daselbst
zuerst philologischen und historischen Studien, dann der
Rechtswissenschaft und promovierte 1853 mit der Differtation "De
lege Romana Utinensi" (Königsb. 1853), worauf er seine
germanistischen Studien zu Leipzig im nahen Anschluß an
Albrecht und in Göttingen fortsetzte. Nachdem er sich 1855 in
Königsberg als Privatdozent für deutsches Recht
habilitiert hatte, wurde er 1856 zum außerordentlichen und
noch in demselben Jahr zum ordentlichen Professor ernannt. 1859 in
gleicher Eigenschaft nach Breslau versetzt, folgte er 1872 einer
Berufung nach Leipzig an v. Gerbers Stelle. 1880 wurde er zum
Geheimen Hofrat ernannt. Er starb 19. Mai 1887. Seine
hervorragendsten Schriften, sämtlich durch Klarheit und
Gründlichkeit ausgezeichnet, sind: "Zur Geschichte des
deutschen Vertragsrechts" (Leipz. 1855); "Geschichte der deutschen
Rechtsquellen" (Braunschw. 1860-64, 2 Bde.); "Beiträge zur
Geschichte des deutschen Rechts" (das. 1865); "Die Juden in
Deutschland während des Mittelalters" (das. 1866) ; "Hermann
Conring, der Begründer der deutschen Rechtsgeschichte" (Berl.
1870); "Handbuch des deutschen Privatrechts" (das. 1871-85, 5 Bde.;
2. Aufl., Bd. 1 u. 2, 1882-83). Aus seinem Nachlaß erschien
noch "Zur Geschichte des ältern deutschen Konkursprozesses"
(Berl. 1888). Seit 1857 beteiligte er sich an der Redaktion der
"Zeitschrift für deutsches Recht", seit 1862 an der Herausgabe
des "Jahrbuchs des gemeinen deutschen Rechts" von Bekker und
Muther. Vgl. E. Friedberg, O. S. (Berl. 1887).

Stober, rechter Nebenfluß der Oder in Schlesien,
entspringt in der Nähe von Rosenberg, mündet bei
Stoberau; 98 km lang und flößbar.

Stöber, 1) Daniel Ehrenfried, elsäss. Dichter
und Schriftsteller, geb. 9. März 1779 zu Straßburg,
studierte hier und später in Erlangen Rechtswissenschaft und
wurde 1806 zu Straßburg Lizentiat der Rechte. Hier gab er das
"Alsatische Taschenbuch" (1806-1809) heraus, übersetzte
französische Dramen

337

Stobi - Stöcker.

und veröffentlichte nach Pfeffels Tode die "Blätter,
dem Andenken K. G. Pfeffels gewidmet" (Straßb. 1810). Unter
der Restauration gehörte S. zur liberalen Opposition; er
übersetzte die Schriften des Generals Foy, gab politische
Broschüren in Form von Dialogen ("Gradaus") heraus und
veröffentlichte: "Gedichte" (Basel 1814; 3. Aufl., Stuttg.
1821) sowie das volkstümliche "Neujahrsbüchlein vom
Vetter Daniel" (das. 1818) und eine Biographie Oberlins ("Vie de
Frédéric Oberlin", Straßb. 1821), der er seine
"Kurze Geschichte und Charakteristik der schönen Litteratur
der Deutschen" (das. 1826) nachfolgen ließ. Sein letztes
größeres Werk war die Übersetzung von Lamennais'
"Paroles d'un croyant". S. starb 28. Dez. 1835. Seine
"Sämtlichen Gedichte und kleinen prosaischen Schriften"
erschienen in 4 Bänden (Straßb. 1835-36). Zu seinen
besten poetischen Leistungen gehören seine in
elsässischer Mundart geschriebenen Gedichte, die voller Witz
und Humor sind.

2) August, Sohn des vorigen, geb. 8. Juli 1808 zu
Straßburg, studierte 1826-32 Theologie, wirkte 1838-41 als
Lehrer der deutschen Sprache und Litteratur am Kollegium zu
Buchsweiler, 1841-71 als Professor am Kollegium zu Mülhausen
und ward 1864 zugleich zum Oberstadtbibliothekar, 1874 zum
Konservator des von ihm mitbegründeten historischen Museums
ernannt. Er starb daselbst 19. März 1884. Gleich seinem Vater
und Bruder trug er durch seine litterarische Thätigkeit viel
zur Erhaltung des deutschen Wesens im Elsaß bei. Er
veröffentlichte: "Alsabilder", vaterländische Sagen und
Geschichten (mit seinem Bruder Adolf, Straßb. 1836);
"Gedichte" (das. 1842; neue Aufl., Basel 1873); "Oberrheinisches
Sagenbuch", Gedichte (Straßb. 1842); "Elsässisches
Volksbüchlein", Kinder- und Volkslieder, Märchen etc.
(das. 1842; 2. Aufl., Mülh. 1859); "Der Dichter Lenz und
Friederike von Sesenheim" (Basel 1842); "Geschichte der
schönen Litteratur der Deutschen" (Straßb. 1843); "Die
Sagen des Elsasses" (St. Gallen 1852, 2. Aufl. 1858); "Der Aktuar
Salzmann, Goethes Freund" (Mülh. 1855); "Zur Geschichte des
Volksaberglaubens im 16. Jahrhundert" (Basel 1856); "Chr. Fr.
Pfeffel" (daf. 1859); "E Firobe (ein Feierabend) im e Sundgauer
Wirtshaus" , Volksszene in zwei Abteilungen (Musik von Heyberger,
Mülh. 1865, 2. Aufl. 1868); "Jörg Wickram,
Volksschriftsteller und Stifter der Kolmarer
Meistersängerschule" (das. 1866); "Aus alten Zeiten. Allerlei
über Land und Leute im Elsaß" (2. Aufl., das. 1872);
"Erzählungen, Märchen, Humoresken etc." (das. 1873);
"Drei-Ähren", Gedichte (das. 1873, 2. Aufl. 1877); "J. S.
Röderer und seine Freunde" (2. Aufl., Kolm. 1874). Auch gab er
"Elsässische Neujahrsblätter" (mit Otte, Straßb.
1843-48, 6 Bde.), "Erwinia", belletristische Wochenschrift (daf.
1838-39), und "Alsatia", Jahrbuch für elsässische
Geschichte etc. (Mülh. 1850-75, 10 Bde.), zu denen nach
Stöbers Tod noch ein Band "Neue Alsatia" (das. 1885) erschien,
heraus.

3) Adolf, Bruder des vorigen, geb. 7. Juli 1810, studierte
1826-31 in Straßburg Theologie, wurde 1839 Lehrer am
Kollegium zu Mülhausen, 1840 Pfarrer daselbst und ist seit
1860 Präsident des reformierten Konsistoriums und Oberschulrat
zu Mülhausen. Außer den mit dem vorigen herausgegebenen
"Alsabildern" veröffentlichte er: "Gedichte" (Hannov. 1845);
"Reisebilder aus der Schweiz" (St. Gallen 1850, neue Folge 1857);
"Reformatorenbilder" (Basel 1857); "Einfache Fragen eines
elsässischen Volksfreundes" (Mülh. 1872) und einiges
Theologische.

Stobi (Stoboi), Stadt im alten Päonien (Makedonien),
westlich vom Axios (Wardar), bei der Mündung des Erigon, nach
der Diokletianischen Einteilung Hauptstadt der nordwestlichen
Hälfte Makedoniens, wurde 479 von den Ostgoten zerstört,
wird aber in den Kämpfen zwifchen Bulgaren und Byzantinern
noch 1014 erwähnt. Ruinen bei Gradsko.

Stöchaden, s. v. w. Hyèrische Inseln, s.
Hyères.

Stochasmus (griech.), veraltete Bezeichnung für
Wahrscheinlichkeitsberechnung; Stochastik, Lehre von der
Wahrscheinlichkeit.

Stöchiometrie (griech.), chemische Meßkunst,
die Lehre von den Gewichts- und Raumverhältnissen, nach
welchen sich ungleichartige Materien zu neuen gleichartigen
Körpern chemisch verbinden, und die Anwendung derselben zu
chemischen Berechnungen (vgl. Atom und Äquivalent). Die S.
wurde von J. B. Richter gegen Ende des 18. Jahrh. begründet
und seitdem vielfach, unter andern von Meineke, Bischof,
Döbereiner, Gay-Lussac, Berzelius, Liebig, Dumas, Laurent,
Gerhardt u. a. bearbeitet. Vgl. Rammelsberg, Lehrbuch der S. (Berl.
1842); Frickhinger, Katechismus der S. (5. Aufl., Nördling.
1873).

Stock (Caudex), bei den Pflanzen im allgemeinen der mit
Blättern besetzte Stengel; dann der einfache, am Grund nur
durch Nebenwurzeln befestigte, am obern Ende mit einer einzigen
großen Gipfelknospe abschließende, holzige Stamm der
Baumfarne, Cykadeen und baumartigen Monokotyledonen, besonders der
Palmen und Drachenbäume. - Über S. in der Geologie s.
Lagerung der Gesteine.

Stock (engl.), Stamm, Grundlage; übertragen:
Grundkapital von Aktiengesellschaften, dessen einzelne Teile
(Aktien) shares heißen. S.-exchange, "Aktienbörse",
thatsächlich Effektenbörfe, da an derselben auch
Obligationen (bonds), Staatspapiere (funds) und andre Wertpapiere
gehandelt werden; S.-holder, Eigentümer von Stocks; S.-broker,
Makler für Wertpapiere, S.-jobber. Spekulant in Wertpapieren
(vgl. Jobber).

Stockach, Stadt im bad. Kreis Konstanz, an der Stockach
und der Linie Radolfzell-Mengen der Badischen Staatsbahn, 494 m
ü. M., hat eine evangelische und eine kath. Kirche, ein
Bezirksamt, ein Amtsgericht, eine Bezirksforstei, Spinnerei,
Weberei, Teigwarenfabrikation, 3 Kunstmühlen und (1885) 2065
meist kath. Einwohner. - S. war ehedem Hauptstadt der
Landgrafschaft Nellenburg-Thengen, mit welcher es 1645 an
Österreich, 1805 an Württemberg und 1810 an Baden
überging. Hier siegte 25. März 1799 Erzherzog Karl
über die Franzosen unter Jourdan (s. Liptingen).

Stockausschlag, s. Knospe.

Stockbörse, s. Stock.

Stockbücher, s. Grundbücher.

Stöckke und Stockwerke, s. Bergbau, S. 722,
Erzlagerstätten und Lagerung der Gesteine.

Stößer, Adolf, preuß. Hofprediger, geb.
11. Dez. 1835 zu Halberstadt, studierte in Halle und Berlin
Theologie und Philologie, wurde 1863 Pfarrer in Seggerde bei
Halberstadt und 1866 in Hamersleben. 1871 ging er als
Divisionspfarrer nach Metz und 1874 als Hof- und Domprediger nach
Berlin. Das dreiste Auftreten der Sozialdemokratie und ihre
offenkundigen revolutionären Bestrebungen veranlagen S., 1877
in öffentlichen Versammlungen gegen die Führer der
Sozialdemokraten aufzutreten und durch Stiftung einer
christlich-sozialen Partei die Arbeiter für christliche und
patriotische Anschauungen wiederzugewinnen, zugleich aber ihre
Forderungen des Schutzes gegen die Ausbeutung des Kapitals und

338

Stockerau - Stockhausen.

einer bessern sozialen Lage zu unterstützen. Die neue
Partei gewann aber nur an wenigen Orten zahlreichere Anhänger,
da S. durch seinen fanatischen Eifer gegen alles, was liberal
hieß, besonders in kirchlicher Beziehung die Opposition der
öffentlichen Meinung gegen sich herausforderte. Auch ging er
in seinen Agitationen gegen das Judentum oft weiter, als es sich
mit seiner Stellung vertrug. 1879 wurde er von einem
westfälischen Wahlkreis in das Abgeordnetenhaus und 1880 auch
in den Reichstag gewählt, wo er sich der streng konservativen
Partei anschloß. Da S. durch seine sozialpolitische
Thätigkeit die auf der Mitwirkung der
Mittel-(Kartell-)Parteien beruhende Politik der Regierung
störte, so mußte er 1889 versprechen, ferner auf
politische Agitationen zu verzichten. Er veröffentlichte
mehrere Jahrgänge "Volkspredigten" und eine Sammlung seiner
Reden und Aufsätze: "Christlich-sozial" (Berl. 1885).

Stockerau, Marktflecken in der niederösterreich.
Bezirkshauptmannschaft Korneuburg, am Göllersbach und an der
Österreichifchen Nordwestbahn, Sitz eines Bezirksgerichts, mit
Pfarrkirche, Kavalleriekaserne, Realgymnasium, Fabriken für
Ceresin, Kerzen u. Seifen, Farben, Posamentierwaren u. (1880) 5955
Einw.

Stockfagott, f. Rackett.

Stockfalke, s. Habicht.

Stockfäule, f. Rotfäule.

Stockfisch, f. Schellfisch.

Stockfleth, Niels Joachim Christian Vibe, Apostel der
Lappländer, geb. 11. Jan. 1787 zu Christiania, stand erst in
schleswigschen und norwegischen Militärdiensten, studierte
dann Theologie in Christiania und ward 1825 Prediger zu Vadsöe
in Ostfinnmarken, in der Nähe des Nordkaps. Hier sowie in
Lebesby, ebenfalls in Ostfinnmarken, wohin er dann
übersiedelte, war sein Streben auf Herstellung einer
volkstümlichen lappländischen Litteratur gerichtet. Es
erschienen von ihm in lappländischer Sprache eine Fibel, eine
Übersetzung von Luthers "Kleinem Katechismus", eine
lappländische Grammatik (1840) und ein Neues Testament (1850).
Seit 1839 seines Predigerdienstes enthoben, um ungestörter
seinen Studien obliegen zu können, veröffentlichte er
noch : "Lappisk Sproglære" (Christ. 1850) ; "Norsklappisk
Ordbog" (das. 1852); eine Untersuchung "Om de finske Sprogforholde
in Finmarkens og Nordlandenes Amter" (das. 1851) und "Dagbog over
mine Missionsreiser i Finmarken" (das. 1860). Er starb 26. April
1866 in dem Städtchen Sandefjord.

Stockgetriebe, s. Trilling.

Stöckhardt, 1) Julius Adolf, Chemiker, geb. 4. Jan.
1809 zu Röhrsdorf bei Meißen, erlernte die Pharmazie in
Liebenwerda, studierte dann in Berlin, arbeitete nach einer Reise
nach England und Frankreich bei Struve in Dresden, ward 1838 Lehrer
der Naturwissenschaft daselbst, 1839 Lehrer der Chemie und Physik
an der Gewerbeschule in Chemnitz und 1847 Professor der
Agrikulturchemie an der Akademie zu Tharandt, wo er 1. Juni 1886
starb. Früherhin besonders der gewerblichen Chemie, namentlich
in Bezug auf Farbenfabrikation, beflissen, wandte er sich seitdem
vornehmlich der Agrikulturchemie zu und erwarb sich namhafte
Verdienste um dieselbe, besonders auch durch seine zahlreichen
Vorträge in Vereinen und Versammlungen. Er schuf das Institut
der agrikulturchemischen Versuchsstationen, welche sich in der
Folge zu landwirtschaftlichen Stationen erweiterten und für
den Fortschritt der Landwirtschaft höchst bedeutend wurden.
Von seinen Schriften sind hervorzuheben: "Schule der Chemie"
(Braunschw. 1846, 19. Aufl. 1881); "Chemische Feldpredigten
für deutsche Landwirte" (4. Aufl., Leipz. 1857);
"Guanobüchlein" (4. Aufl., das. 1856). Seit 1840 gab er mit
Schober die "Zeitschrift für deutsche Landwirtschaft" heraus
und seit 1855 als Fortsetzung der "Chemischen Feldpredigten" den
"Chemischen Ackersmann" (Lpz.).

2) Ernst Theodor, Landwirt, geb. 4. Jan. 1816 zu Bautzen,
widmete sich der Landwirtschaft und errichtete auf dem von ihm
gepachteten Rittergut Brösa bei Bautzen eine
landwirtschaftliche Lehranstalt, welche bald bedeutenden Ruf
erlangte. 1850 ward er Professor der landwirtschaftlichen
Disziplinen an der höhern Gewerbeschule zu Chemnitz und wirkte
hier sehr wesentlich für die Hebung der Landwirtschaft. 1861
folgte er einem Ruf nach Jena als Professor der Landwirtschaft und
Direktor einer landwirtschaftlichen Lehranstalt. 1862 übernahm
er auch die Direktion der Ackerbauschule zu Zwätzen, und
gleichzeitig war er als Vorsitzender der landwirtschaftlichen
Zentralstelle, der Thüringer Wanderversammlung etc.
thätig. 1872 ward er als Ministerialrat nach Weimar berufen
und gleichzeitig zum Kommissar der landwirtschaftlichen
Zentralstelle, der Gewerbekammer für das Großherzogtum
und zum Immediat-Finanzkommissar der Universität Jena ernannt.
Dem deutschen Landwirtschaftsrat gehört er seit dessen
Gründung an. Er schrieb: "Bemerkungen über das
landwirtschaftliche Unterrichtswesen" (Chemn. 1851); "Die Drainage"
(Leipz. 1852); "Der angehende Pachter" (mit A. Stöckhardt, 2.
Aufl., Braunschw. 1869); "Die Entwickelung der landwirtschaftlichen
Lehranstalt zu Jena 1861-67". Auch redigierte er 1855-66 die
"Zeitschrift für deutsche Landwirte" und 1863-1872 die
"Landwirtschaftliche Zeitung für Thüringen".

Stockhausen, Julius, Konzertsänger (Bariton), geb. 22. Juli
1826 zu Paris als Sohn des Harfenspielers Franz S. aus Köln,
wurde am Pariser Konservatorium gebildet und zeichnete sich schon
während seiner Lehrzeit so vorteilhaft aus, daß ihm von
Habeneck die Leitung der Proben zu den musikalisch-dramatischen
Übungen der Schüler übertragen wurde. Seine
höhere Ausbildung als Sänger erhielt er von Manuel Garcia
in London, woselbst er auch 1848 am Italienischen Theater mit
Glück debütierte. Später wirkte er mit gutem Erfolg
als Bühnensänger in Mannheim und an der Opéra
Comique in Paris. Seine Haupttriumphe feierte S. aber als
Konzertsänger, namentlich steht er als Liedersänger
einzig in seiner Art da. 1862 übernahm er die Direktion der
Hamburger philharmonischen Konzerte, nachdem er das Jahr zuvor in
Gebweiler im Elsaß seine Kräfte als Chor- und
Orchesterdirigent erprobt hatte. Sieben Jahre später folgte er
einem Ruf nach Stuttgart, wo er zum Kammersänger und
Gesangsinspektor ernannt war, gab jedoch diese Stelle im folgenden
Jahr wieder auf, um längere Konzertreisen zu unternehmen. Von
1874 bis 1878 wirkte er in Berlin als Direktor des Sternschen
Gesangvereins und entwickelte zugleich eine ungemein fruchtbare
Lehrthätigkeit. Dann nahm er ein Engagement als erster
Gesanglehrer am Hochschen Konservatorium in Frankfurt a. M. an,
legte indessen 1880 dies Amt nieder und gründete daselbst eine
eigne Schule. S. verdankt seine außerordentlichen Erfolge als
Sänger nicht so sehr seinen natürlichen Stimmmitteln als
vielmehr dem vollendeten Kunstgeschmack, mit welchem er seine
lyrischen Gebilde zu beleben weiß, wobei die tadellose
Reinheit seiner Textesausspache wesentlich mitwirkte. Seine
"Gesangsmethode" erschien in der Edition Peters (Leipz. 1885).

339

Stockholm (Län) - Stockholm (Stadt).

Stockholm, schwed. Län, begreift den östlichen
Teil von Upland und den nordöstlichen Teil von
Södermanland, grenzt im W. an das Län Upsala, im SW. an
Södermanland, ist zu fast 4/5 des Umfanges von der Ostsee und
dem Mälar umgeben und hat (mit der Stadt S.) ein Areal von
7643,7 qkm (138,6 QM.). Die Küstenlandschaften sind bergig und
bewaldet, während weiter im Innern offene Ebenen mit Seen und
Wäldern und größere oder kleinere Bodenerhebungen
abwechseln. Die Bevölkerung zählt ohne die Stadt S.
(1888) 152,160 Seelen. Von der uralten Kultur Uplands zeugen unter
anderm zahlreiche Runensteine. Der Boden ist im ganzen fruchtbar,
doch nimmt das Ackerland nur 14,5 Proz. der Bodenfläche ein,
während auf natürliche Wiesen 9 und auf Wald 51 Proz.
entfallen. Angebaut werden vornehmlich Hafer (1886: 744,000 hl
geerntet), Roggen (353,000 hl), Mengkorn, Gerste und Weizen. 1884
zählte man 21,397 Pferde, 84,389 Stück Rindvieh, 39,823
Schafe, 16,441 Schweine. Von großer Bedeutung sind Fischerei,
Schiffahrt und Handel.

Stockholm (hierzu der Stadtplan, mit Karte der Umgebung
von S.), Haupt- und Residenzstadt des Königreichs Schweden,
liegt am Ausfluß des Mälar in die Ostsee (Salzsee
genannt), welche einen insel- und schärenreichen Busen bildet,
und ist durch Eisenbahnen mit Malmö, Gotenburg, Christiania
und Drontheim verbunden. Die einzelnen Teile der Stadt sind:
Staden, die eigentliche Stadt, in der Mitte des Ganzen auf einer
Insel gelegen, mit den dazu gehörigen kleinern Inseln
Riddarholm und Helgeandsholm; Södermalm ("Südvorstadt")
im Süden, groß und regelmäßig gebaut, aber
sehr uneben, durch zwei Zugbrücken mit der eigentlichen Stadt
verbunden; Norrmalm ("Nordvorstadt") im N., durch die aus
Granitquadern erbaute neunbogige Nordbrücke und seit 1878
durch die westlich davon belegene Wasabrücke mit der Stadt und
durch eine 1861 vollendete eiserne Brücke mit dem Skeppsholm
("Schiffsinsel") verbunden, von wo eine hölzerne Brücke
nach dem Kastellholm führt, welche beide Inseln die
Marineetablissements enthalten; Kungsholm ("Königsinsel") im
W. von Norrmalm; Ladugårdslandet ("Meiereiland") im NO. von
Norrmalm, jetzt Östermalm genannt, die Kasernen enthaltend.
Hierzu kommt noch die mit dem vorigen Stadtteil
zusammenhängende Tiergartenstadt mit Beckholm. Außerdem
liegen bei Södermalm im Mälar die beiden Inseln
Langholmen, mit Straf- und Besserungsanstalt, und Reimersholmen.
Die Stadt enthält 40 öffentliche Plätze und ca. 300
Straßen und Gassen. Die Eisenbahn, welche über den
Mälar mittels einer großen Brücke geführt ist,
durchschneidet einen großen Teil der Stadt. Die eigentliche
Stadt ist an der Salzsee und am Mälar mit einem Kai von Granit
umgeben, welcher sich auch jenseit der Nordbrücke am Norrmalm
noch eine gute Strecke fortsetzt und den Hafen begrenzt. An der
Salzsee zieht sich eine breite Straße, die Schiffbrücke,
hin, an der Westseite mit ansehnlichen Häusern besetzt
(darunter die Bank und das Pack- oder Zollhaus). Am Fuß des
mit einem hohen Obelisken von Granit gezierten Schloßbergs
steht die Statue Gustavs III. (von Sergel) sowie zwischen dem
Mälarsee und der Salzsee die Reiterstatue von Karl XIV. Johann
(von Fogelberg). Plätze am Mälar sind: der
Ritterhausplatz (mit der Statue Gustav Wasas), von wo man über
eine Brücke auf den Riddarholm gelangt, welcher außer
der als Königsgruft benutzten Riddarholmskirche (mit 90 m
hohem Turm, zum Teil Gußeisen, seit 1839) mit fast lauter
öffentlichen Gebäuden (Haus des Reichstags, Hofgericht
etc.) besetzt und mit der Statue des Birger Jarl, des Gründers
der Stadt, geziert ist. Für den täglichen Verkehr
bestimmt sind die Plätze: Mönchsbrücke, Fleischmarkt
und Kornhafen. Unter den Plätzen der innern Stadt ist nur der
Große Markt bemerkenswert wegen des Stockholmer Blutbades vom
8. Nov. 1520, mit dem schönen Börsengebäude. Auf
Norrmalm sind der Gustav Adolfsplatz, mit der Reiterstatue des
Helden und dem königlichen Theater, sodann der
Brunkebergsplatz, der Heumarkt und der Platz Karls XIII. an der
Salzsee (mit der Statue des Königs), endlich auf Blasiiholm
der Berzeliusplatz, mit der Statue des berühmten Chemikers
(von Quarnström), zu bemerken. Die schönsten
Straßen hat Norrmalm, darunter die Regierungs-(Regeringsgata)
u. Königinstraße (Drottninggata). Unter den Kirchen ist
keine von besonderer architektonischer Bedeutung. Die Hauptkirche
St. Nikolai (aus dem 13. Jahrh., 1736-43 umgebaut) wird als
Krönungskirche benutzt. Unter den weltlichen Gebäuden
nimmt das königliche Schloß, am nördlichen Ende der
eigentlichen Stadt, den ersten Rang ein. Es wurde 1697-1753 nach
Nik. Tessins Plänen im edelsten neuitalienischen Stil
aufgeführt und bildet ein großes Viereck mit vier
niedrigern Flügeln an den Ecken und zwei halbrunden, frei
stehenden Flügelgebäuden an der Westseite. Sonst sind von
Gebäuden noch zu nennen: der Palast des Oberstatthalters; in
Norrmalm der Palast des Erbprinzen (gegenwärtig unbewohnt),
die Akademie der Wissenschaften, das Observatorium, das
Nationalmuseum (1850-65 nach Stülers Zeichnungen
aufgeführt), der große Zentralbahnhof, das Gebäude
der Reichsbibliothek (ca. 250,000 Bände) u. a.; auf Kungsholm
die Krankenhäuser und außerhalb der Stadt die
Kriegshochschule Marieberg u. a. Die Stadt besitzt seit 1861 eine
treffliche Wasserleitung. Promenaden sind: das Stromparterre, der
Humlegarten, besonders aber der Tiergarten im O. der Stadt, mit
Villen, Wirtshäusern, Theater, dem königlichen
Lustschloß Rosendal etc. Die Bevölkerung der Stadt
betrug Ende 1887: 227,964 Seelen, meist Lutheraner (1880 nur 577
Römisch-Katholische und 1259 Juden). Die Industrie ist
lebhaft. Die meisten Gewerbe werden fabrikmäßig
betrieben; außerdem gibt es mehrere Zuckerraffinerien,
Tabaks-, Seiden- und Bandfabriken, mechanische Werkstätten
(darunter 3 große), Stearin- und Talgfabriken, Lein- und
Baumwollzeugwebereien, Lederfabriken, Eisengießereien etc.
1883 besaß die Stadt 292 Fabriken, deren Fabrikate einen Wert
von 33 1/2 Mill. Kronen hatten. Der Handel, durch die Lage der
Stadt und gute Häfen sehr begünstigt, ist zwar noch sehr
lebhaft; doch beginnen andre Städte des Landes, namentlich
Gotenburg, mit S. erfolgreich zu rivalisieren. Drei Wasserwege
führen durch die Schären zur Stadt: im N. bei Furusund,
im O. bei Sandhamn und im Süden bei Landsort an Dalarö
vorbei. Da aber diese Wege lang und schwierig sind und der Hafen
jährlich 3-5 Monate lang durch Eis gesperrt ist, so ist die
Anlage eines äußern Hafens bei dem Gut Nynäs, etwa
50 km von der Stadt, projektiert, welcher durch Eisenbahn mit S. in
Verbindung gesetzt werden soll. Die Stockholmer Schiffsdocks sind
neuerdings sehr erweitert worden. Die Stadt be-

Wappen von Stockholm.

UMGEBUNG VON STOCKHOLM. 1 : 15OOOO.

339b

STOCKHOLM

Adolf Fredriks-Kyrka BC1

Arfprinsens-Pal. C3

Baptist-K. C2

Bibliotheket D4

Blasiholmen D3

Bernharden B3

Börsen CD4

Djurgarden F3,4

Dramat. Teater

Drottninggatan D3

Gustav-Adolfs-Torg C3

Helgeandsholm C3

Hötorget C2

Hundegarden D1

Jakobs-K. C3

Johiannis-K. C1

Kanzli C3,4

Karl Johanns-K. E4

Karl XIII Torg CD2,3

Kastellholmen E4

Katharina-K. D5

Konigl. Slottet D3,4

Konigl. Stora Teater C3

Konst. Akademi C3

Kungsholms Kyrka A3

Lodugardslands-K. D2

Lif Gardets-Kas. E2

Mosebacke D5

Musik Akademi B3

National-Museum D3

Nia. Teater D3

Nikolai-K. CD4

Nord. Museum B2

Norrbro C3

Norska Statsmin. Höt. D3

Posthuset C3

Radhuset C4

Regeringsgatan C1-3

Riddarholmen C4

Riddarholms-K. C4

Riddarhuset C4

Riksbanken D4

Serafaner Laz. B3

Skeppsbron D3,4

Skeppsholmen E4

Slöjdskolan C2

Slussen D5

Stortorget CD4

Strömparterren CD3

Sven Lif-Gardets-Kas. F2

Synagoge D2,3

Trädgardsgatan CD2,3

Tyska Kyrka D4

Vetenskaps-Akad. BC4

Wasabro C3

Westerlängatan CD4

Wasagatan BC2,3

Meyers Konv.-Lexikon, 4. Aufl. Bibliographisches Institut in
Leipzig. Zum Artikel »Stockholm«.

340

Stockhorn - Stockport.

saß 1883 eine Handelsflotte von 277 Schiffen, davon 192
Dampfschiffe von 21,184 Ton. Die innere Kommunikation der Stadt
wird durch viele kleine Dampfschiffe sowie Omnibusse und
Pferdebahnen besorgt. Als Beförderungsmittel des Handels sind
zu nennen: die Reichsbank, die Stockholmer Privatbank, die
Börse, die Seeassekuranz etc. Die Einfuhr besteht vornehmlich
in Getreide (Roggen, Weizen), Mehl, Wein, Reis, Heringen, Ölen
und Ölkuchen, Kupfer, Zink, Baumwolle, Korkrinde, die Ausfuhr
in Eisen und Stahl, Hafer, Teer, Thran, Asphalt. Im
ausländischen Verkehr kamen 1886: 1769 Schiffe von 598,889
Ton. an, 1790 Schiffe von 605,572 Ton. gingen ab. Von
Wohlthätigkeitsanstalten sind das große und das
Freimaurerwaisenhaus, die Murbeksche Erziehungsanstalt, ein
großes Entbindungshaus (auf Kungsholm), ein Taubstummen- und
Blindeninstitut, das Irrenhaus auf Konradsberg zu bemerken. Von
wissenschaftlichen Anstalten hat die Stadt eine Akademie der
Wissenschaften mit Sternwarte und das naturhistorische Relchsmuseum
sowie Akademien der Geschichte und Altertumskunde, der freien
Künste, der Musik, der Kriegswissenschaften, des Landbaues
(mit Versuchsstation). S. besitzt zahlreiche öffentliche
Lehranstalten, darunter zwei für Ausbildung von Lehrerinnen,
und gelehrte Schulen. Fachschulen sind außer der genannten
Kriegshochschule: eine Artillerie- und eine Seekriegsschule, das
Karolinische medizinisch-chirurgische Institut, das gymnastische
Zentralinstitut, eine technische Hochschule, eine Gewerbeschule,
Navigationsschule, Veterinärschule, ein pharmazeutisches und
ein Forstinstitut. Eine Universität ist in der Bildung
begriffen. Von Kunstinstituten verdienen Erwähnung das
Nationalmuseum, welches Sammlungen ägyptischer und
vorhistorischer Altertümer, von Skulpturen, Gemälden und
Kupferstichen enthält, und das für die Völkerkunde
des skandinavischen Nordens wichtige Nordische Museum. Von den
fünf Theatern sind am bedeutendsten das Opernhaus, das Neue
Theater und das Dramatische Theater. S. ist Sitz der
sämtlichen höchsten Reichskollegien u.
Regierungsdepartements sowie zahlreicher auswärtiger
Gesandtschaften und Konsuln (darunter auch ein deutscher
Berufskonsul). Die Ausgaben der Stadt beliefen sich 1884 auf 16,6
Mill. Kronen, das Vermögen auf 43,2 Mill. Kr., die Schulden
auf 41,3 Mill. Kr. In der Umgebung Stockholms liegen das
Lustschloß Haga mit Park, Ulriksdal und auf der
Mälarinsel Lofö Drottningholm, das schönste der
königlichen Lustschlösser, mit herrlichen Parkanlagen.
Die Stadt S. ist wahrscheinlich aus einem Fischerdorf entstanden,
das auf einer der zahlreichen Inseln lag. Als 1187 die Esthen in
Schweden einfielen, erbaute der König Knut Erikson, um die
Räuber abzuhalten, an der Stelle, wo jetzt S. liegt, ein
Schloß, um welches sich nach und nach ein Flecken bildete,
den König Birger 1255 zur Stadt erhob. 1389 wurde S. von der
Königin Margarete von Dänemark belagert und auf Befehl
des gefangenen Königs Albrecht (von Mecklenburg)
übergeben. In der Nähe erfochten 14. Okt. 1471 die
Schweden unter Sten Sture jenen glänzenden Sieg über die
Dänen, welcher der dänischen Herrschaft über
Schweden ein Ende machte. 1497 ward hier von den Schweden ein
abermaliger Sieg über die Dänen erfochten. Christian II.
belagerte die Stadt 1518 vergebens, nahm sie aber 1520 nach einer
neuen Belagerung durch Vertrag ein, worauf im November das
berüchtigte Stockholmer Blutbad erfolgte, bei welchem
Christian, um seinen Thron zu befestigen, mehrere hundert
schwedische Edelleute und Bürger hinrichten ließ. Vgl.
Ferlin, Stockholmstad (Stockh. 1854-58, 2 Bde.); Wattenbach, S.,
ein Blick auf Schwedens Hauptstadt (Berl. 1872); Lundin und
Strindberg, Gamla S. ("Das alte S.", Stockh. 1882); Heurlin,
Illustrated guide to S. (das. 1888).

Stockhorn, s. Freiburger Alpen.

Stockkrankheit (Knoten, Kropf, Wurmkrankheit), eine durch
Älchen (Anguillula) veranlaßte Krankheit des Roggens,
bei welcher die jungen Pflanzen nach Ausgang des Winters dicht bei
einander stehende, schmale und kurze Blätter entwickeln, meist
keinen langen Halm treiben und zuletzt unter Gelbwerden absterben.
Die Parasiten leben in den Stengelgliedern des jungen Halms und im
Grunde der Blattscheiden. Nach Kühn erzeugt dieselbe
Älchenart auch die Kernfäule der Kardenköpfe
(Kardenkrankheit), bei welcher dieselben im Innern sich
bräunen und die Fruchtknoten sich zu verkümmerten
Körnern entwickeln.

Stocklack, s. Lack.

Stockloden, aus dem Stock eines abgehauenen Baumstamms
sich entwickelnde Schößlinge.

Stockmalve, Stockrose, s. Althaea.

Stolkmar, Christian Friedrich, Freiherr von, deutscher
Staatsmann, geb. 22. Aug. 1787 zu Koburg aus einer mit Gustav Adolf
nach Deutschland gekommenen schwedischen Familie, studierte 1805-10
Medizin, ließ sich darauf in Koburg als Arzt nieder, diente
1814 und 1815 als Militärarzt in den Lazaretten am Rhein, ward
1816 Leibarzt des Prinzen Leopold von Koburg, als dieser sich mit
der präsumtiven Thronerbin von England vermählte, und
blieb von da an der einsichtigste, einflußreichste und
uneigennützigste Ratgeber und Vertraute desselben. 1821 ward
er in den Adel- und 1831 in den bayrischen Freiherrenstand erhoben.
Bei den Verhandlungen über die Erhebung Leopolds auf den
griechischen und dann auf den belgischen Thron stand S. dem Prinzen
aufs treueste zur Seite, er war sein Agent bei den Londoner
Konferenzen, und während er ihm von der Annahme der
griechischen Krone abriet, beförderte er seine Wahl zum
König von Belgien und unterstützte ihn durch weise
Ratschläge. Nachdem er 1834 aus seiner Stellung bei Leopold
ausgeschieden, stand er 1837 der Königin Viktoria bei ihrer
Thronbesteigung mit seinem Rat bei, begleitete 1838-39 den Prinzen
Albert von Koburg nach Italien und blieb nach dessen
Vermählung mit der Königin Vertrauter und Hausfreund des
Königspaars. Er nahm, teils in England, teils in Koburg
lebend, an allen wichtigen Verhandlungen beratenden Anteil, war
1848 koburgischer Gesandter beim Bundestag, wo er für die
Einigung Deutschlands unter Preußens Führung zu wirken
suchte, und starb 9. Juli 1863 in Koburg. Vgl. die von seinem Sohn
Ernst von S. (geb. 7. Aug. 1823, gest. 6. Mai 1886) herausgegebenen
"Denkwürdigkeiten aus den Papieren des Freiherrn Chr. F. v.
S." (Braunschw. 1872); Juste, Le baron S. (Brüssel 1873).

Stockmorchel, s. Helvella.

Stockport, Fabrikstadt in Cheshire (England), 8 km
südöstlich von Manchester, am Mersey, über den
fünf Brücken und ein großartiger Eisenbahnviadukt
führen, alt, aber erst in neuerer Zeit infolge der
Baum-wollindustrie zu einer volkreichen Stadt herangewachsen. Sie
ist auf unebenem Terrain unregelmäßig gebaut, hat eine
große eiserne Markthalle, ein Theater, eine Freibibliothek u.
großartige Baumwollindustrie,

341

Stockrose - Stoffwechsel.

ferner Fabriken von Hüten, Maschinen, Bürsten, Eisen-
und Messingwaren und (1881) 59,553 Einw.

Stockrose, s. Althaea.

Stockschnupfen, s. Schnupfen.

Stockschwamm, s. Agaricus V.

Stockflößer, s. Sperber.

Stockteilung, Vermehrungsmethode bei Stauden und kleinen
Sträuchern mit vielen Trieben, besteht im Zerschneiden des
Wurzelstocks in so viele Teile, als sich Triebe oder Knospen daran
befinden.

Stockton, Stadt im nordamerikan. Staat Kalifornien, am
schiffbaren San Joaquin, inmitten eines der ergiebigsten
Weizengebiete, mit 2 Irrenanstalten, bedeutendem Handel und (1880)
10,282 Einw.

Stockton on Tees (spr. tihs), Stadt in der engl.
Grafschaft Durham, am Tees, 6 km oberhalb Middlesbrough , mit South
S. (Yorkshire) durch eine Brücke verbunden. Beide zusammen
haben (1881) 41,015 Einw. S. hat Segeltuchfabriken , Seilerbahnen,
Schiffswerfte, Hochöfen, Gießereien, Glashütten
etc. Zum Hafen gehörten 1887: 26 Seeschiffe von 10,323 Ton.;
Wert der Einfuhr vom Ausland 192,923 Pfd. Sterl., der Ausfuhr
27,641 Pfd. Sterl. S. ist Sitz eines deutschen Konsulats.
Nördlich davon Wynyard, Sitz des Grafen Clarendon.

Stockwerk, in der Baukunst s. Geschoß.

Stockwerksbau, s. Bergbau, S. 725.

Stockwerksporphyr, s. Greisen.

Stoddard, Richard Henry, amerikan. Dichter und
Schriststeller, geb. 2. Juli 1825 zu Hingham (Massachusetts), kam
mit zehn Jahren nach New York, wo er bei einem Erzgießer in
die Lehre gegeben wurde, begann aber früh sich als Mitarbeiter
an Zeitschriften litterarisch zu bethätigen. Von 1853 an
bekleidete er eine Stelle beim Steueramt zu New York, bis er zu
Anfang der 70er Jahre Stadtbibliothekar von New York wurde. Als
Dichter hat S. mit besonderm Erfolg das Gebiet kleiner, sangbarer
Lieder angebaut, die nicht selten an den Ton deutscher Volkslieder
erinnern. Wir nennen von seinen zahlreichen
Veröffentlichungen, die außer poetischen Sachen
hauptsächlich populär-historische Werke umfassen:
"Footprints", Gedichte (1849); "Poems "(1850); "Adventures in
fairy-land", Kindermärchen (1853); "Songs of summer" (1857);
"Town and country" (1857); "Life, travels and books of Alexander
von Humboldt" (1859); "Loves and heroines of the poets", geistvoll
geordnete Sammlung englischer Liebesgedichte (1860); "The king's
bell" (1863); "The story of little Red Riding Hood" (1864); "Under
green leaves" (1865); "The children in the wood" (1866); "Putnam,
the brave" (1869); "The book of the East, and other poems" (1871);
schließlich das wichtige "Memoir of Edgar Allan Poe" (1875),
die "Anecdote biography of Percy B. Shelley" (1876) und "H. W.
Longfellow" (1882). Seine gesammelten "Poetical works" erschienen
1880.

Stoff, s. Materie.

Stoffdruckerei, s. Zeugdruckerei.

Stoffe, s. Gewebe.

Stoffel, Eugène Georges Henri Céleste,
Baron von, franz. Offizier, geb. 1. März 1823 zu Arbon im
Thurgau, erhielt seine Bildung auf der polytechnischen Schule zu
Paris, trat in die Artillerie und zog 1856 durch ein
"Militärisches Wörterbuch" die Aufmerksamkeit des Kaisers
Napoleon III. auf sich, der ihn zu verschiedenen Missionen
verwendete und ihn 1866 als Oberstleutnant und
Militärattaché bei der kaiserlichen Botschaft nach
Berlin schickte. Von hier erstattete er 1866 bis Juli 1870
eingehende, sehr sachkundige Berichte über das deutsche
Heerwesen nach Paris, welche den Kaiser vom Kriege gegen
Deutschland hätten abhalten müssen, wenn sie
gebührend gewürdigt worden wären. Sie wurden nach
dem 4. Sept. 1870, zum Teil noch versiegelt, in den Tuilerien
aufgefunden und 1871 veröffentlicht ("Rapport militaire
écrit de Berlin", Par. 1871; deutsch, Berl. 1872). Im Krieg
1870/71 war S. zuerst in der Operationskanzlei des Kaisers, entkam
nach der Kapitulation von Sedan, befehligte beim Ausfall von Paris
30. Nov. bis 2. Dez. 1870, dann auf dem Mont Avron mit Auszeichnung
die Artillerie, ward aber, weil er Thiers' Armeereorganisation
opponierte und eifriger Bonapartist war, nicht befördert und
nahm 1872 seinen Abschied, ja er wurde wegen Beleidigung des
Berichterstatters im Prozeß Bazaine, des Generals
Rivière, 1873 zu drei Monaten Gefängnis verurteilt. Er
setzte die Geschichte Cäsars von Napoleon III. fort ("Histoire
de Jules César: guerre civile", Par. 1887, 2 Bde.).

Stoffmühle, s. v. w. Holländer, s. Papier, S.
674.

Stoffwechsel, die Gesamtheit der chemischen Vorgänge
im Organismus, auf welchen die Lebenserscheinungen beruhen, und
durch welche der Organismus als solcher erhalten wird. Der
Organismus lebt, indem er fortwährend Stoffe aufnimmt, diese
umwandelt, assimiliert und in integrierende Teile seines
Körpers verwandelt, während andre, ältere Teile des
Körpers aus dem Verband, in welchem sie bis dahin standen,
ausscheiden, umgewandelt und aus dem Körper entfernt werden.
Unterscheidet sich das Reich der Organismen von der unbelebten
Natur wesentlich durch den S., so sind wieder Pflanzen und Tiere
durch die besondere Art des Stoffwechsels voneinander verschieden,
aber so, daß sie durch diese Verschiedenheit innig
zusammenhängen. Die Pflanzen nehmen aus Luft und Boden
anorganische Verbindungen (Kohlensäure, Wasser und Ammoniak
oder Salpetersäure und gewisse Salze) auf und bilden unter dem
Einfluß des Lichts und unter Abscheidung von Sauerstoff
organische Verbindungen von zum Teil sehr komplizierter
Zusammensetzung. Über die hierbei verlaufenden Prozesse wissen
wir sehr wenig. Aus Kohlensäure und Wasser entstehen
Kohlehydrate, Fette und andre Verbindungen, durch Einwirkung von
Ammoniak auf einige derselben wahrscheinlich die weitverbreiteten
Amidosubstanzen und aus diesen eiweißartige Körper. Die
Pflanzen atmen aber auch: sie nehmen Sauerstoff auf, und unter
dessen Einfluß wird ein Teil der gebildeten organischen
Substanz oxydiert. Immerhin tritt dieser Prozeß gegen den der
Ernährung, der Bildung organischer Substanz, stark
zurück, und so präsentiert sich der S. der Pflanze
wesentlich unter dem Bild eines Reduktionsprozesses, bei welchem
lebendige Kraft (die Wärme der Sonnenstrahlen) in Spannkraft
umgesetzt wird. Im Gegensatz zu den Pflanzen nehmen die Tiere als
Nahrungsmittel wesentlich organische Stoffe auf, direkt oder
indirekt die wichtigsten Pflanzenbestandteile; sie sind nicht im
stande, wie die Pflanzen, aus unorganischen Stoffen synthetisch
organische zu bilden, vielmehr bedürfen sie der letztern, die
nach verhältnismäßig geringer Wandlung zu
Bestandteilen des tierischen Organismus werden und dann einer
rückschreitenden Metamorphose unterliegen, unter Mitwirkung
des eingeatmeten Sauerstoffs oxydiert und in Form sehr einfacher
chemischer Verbindungen ausgeschieden werden. Der tierische S. ist
mithin im wesentlichen ein Oxydationsprozeß, als dessen
Endglieder Kohlensäure, Wasser und Ammoniak, die Nah-

342

Stoffwechsel - Stoffwechselgleichungen.

rungsstoffe der Pflanzen, auftreten. Die von den Pflanzen
aufgespeicherte Spannkraft gibt das Tier hauptsächlich in Form
von Wärme und Arbeit wieder aus. Die zum Teil sehr
verwickelten Vorgänge des tierischen Stoffwechsels sind noch
wenig bekannt. Die Nahrungsstoffe: Eiweißkörper, Fette,
Kohlehydrate, Salze, werden durch die Verdauungssäfte mehr
oder weniger verändert, die Produkte werden dem Blut und durch
dieses den Geweben zugeführt, um letztere zu ernähren.
Gleichzeitig findet eine Abnutzung der Gewebe statt, die
Abnutzungsprodukte gelangen in das Blut, unterliegen hier einer
weitern Umbildung und werden schließlich ausgeschieden: die
stickstoffhaltigen Substanzen wesentlich in der Form von Harnstoff
(der leicht in Kohlensäure und Wasser zerfällt) durch die
Nieren, die schwefelhaltigen durch die Leber, die letzten
Oxydationsprodukte, Kohlensäure und Wasser, durch Lunge und
Haut. Die Energie, mit welcher der S. verläuft, ist sehr
verschieden. Der Säugling verbraucht an Nahrungsmitteln
täglich 1/7 seines Körpergewichts, später 1/5, der
Erwachsene 1/20. Während des Schlafs ist der S. wesentlich
vermindert, bei Bewegung und Arbeit beträchtlich erhöht,
aber auch im hungernden Tier steht der S. nicht still, der
hungernde Organismus lebt von sich selbst, bis die
Möglichkeit, dies zu thun, erschöpft ist. Da das
Körpergewicht des erwachsenen und gesunden tierischen
Körpers konstant bleibt, so müssen die durchschnittlichen
täglichen Zufuhren genau die durchschnittlichen Ausgaben
decken, es muß ein Zustand des Gleichgewichts zwischen
Einnahmen und Ausgaben vorhanden sein, und in der That haben genaue
Versuche ergeben, daß bei Berechnung des Gehalts der Nahrung
und der Ausscheidungsstoffe an Kohlenstoff, Wasserstoff,
Sauerstoff, Stickstoff und Salzen im wesentlichen dieselben Zahlen
erhalten werden. Ein gut beköstigter gesunder Mensch verliert
in 24 Stunden bei mäßig bewegter Lebensweise durch die
Atmung etwa 32, die Hautausdünstung 17, den Harn 46,5, den Kot
4,5 Proz. der gesamten Exkretionsmasse, und zwar scheidet die
Atmung aus: Wasser 330, Kohlensäure 1230, die
Hautausdünstung Wasser 660, Kohlensäure 9,8, der Harn
Wasser 1700, Harnstoff 40, Salze 26 g, der Kot Wasser 128, andre,
meist organische Substanzen 53 g. Die Bilanz zwischen Einnahmen und
Ausgaben des Körpers bezieht sich auf den
Durchschnittsmenschen, der weder ungewöhnlichen
äußern Einflüssen ausgesetzt ist, noch von
einzelnen Funktionen, namentlich der Muskelthätigkeit, einen
einseitigen Gebrauch oder Nichtgebrauch macht. Derselbe vollbringt
ein bestimmtes Mittelmaß der Leistungen, d. h. von innern
Bewegungen, von nach außen übertragener mechanischer
Arbeit und von Wärmeeinheiten. Für die beiden letztern
Verausgabungen verlangt er ein bestimmtes Äquivalent an
Zufuhren. Dafür ist er im stande, diese Leistungen Tag
für Tag in derselben Größe zu wiederholen, ohne
daß sein Körpergewicht oder die proportionale Menge der
Einzelbestandteile seines Körpers wesentliche
Veränderungen erleidet. Dieses Durchschnittsverhältnis
kann aber bedeutend abgeändert werden, und zwar entweder durch
Veränderung der Zufuhren, dann ändern sich natürlich
auch die Leistungen, ja unter Umständen sogar der Körper
selbst; oder durch Veränderung der Leistungen, welche nun
wiederum eine entsprechende Modifikation der Zufuhren erheischt.
Wenn die Zufuhren steigen, so sind zwei Erfolge möglich.
Entweder nehmen die Verausgabungen in äquivalenter Weise zu,
der Körper leistet jetzt mehr (an mechanischer Arbeit und
Wärmebildung), aber er verändert sein Gewicht nicht; oder
die Verausgabungen steigen nicht oder doch nicht in gleichem Grad
mit der Zufuhr, dann vermehrt sich das Körpergewicht, es wird
mehr Stoff angesetzt. Werden die Zufuhren mäßig
gemindert, so zehrt der Körper, insoweit das Bedürfnis
nicht von außen her gedeckt wird, aus eigne Kosten, er
verliert allmählich an Gewicht. Mit Abnahme der
Körpermasse sinken auch die Umsetzung gen, überhaupt die
Leistungen; es muß aber ein Punkt kommen, wo die geminderten
Zufuhren hinreichen, die nunmehrigen Verausgabungen zu decken. Auf
diesem neuen Beharrungszustand bleibt der mager gewordene
Körper stehen, und zwar, wenn die Zufuhren nur eine
mäßige Herabsetzung erfahren haben, im Zustand relativer
Gesundheit. Werden endlich die Zufuhren bedeutend geschmälert
oder gänzlich aufgehoben, so magert der Körper ab, um so
schneller, je beträchtlicher die Nahrungsentziehung; er wird
immer leistungsunfähiger und geht endlich dem Hungertod
entgegen. Der Gesamtstoffwechsel bewegt sich auch im normalen
Zustand innerhalb einer bedeutenden Breite, das Körpergewicht
wechselt nicht unbeträchtlich. Damit gehen aber auch
Schwankungen der Funktionen Hand in Hand; doch gibt es
genügende Ausgleichungsmittel, welche das Bestehen des
Organismus sichern und ihn den jedesmaligen Verhältnissen
anpassen. Eins der wichtigsten Ausgleichungsmittel besteht darin,
daß der schlecht genährte Körper wenig, der reich
beköstigte viel verausgabt. Auch die Individualität ist
von dem verschiedensten und mannigfachsten Einfluß auf den S.
Der Einfluß des Körperzustandes auf die Intensität
und Richtung des Stoffwechsels tritt besonders hervor in gewissen
Krankheiten, wo der S. manchmal ganz sein gewohntes Geleise
verlassen hat, z. B. in der Zuckerharnruhr. Besonders interessante
Beispiele hierfür bieten die heftigern Fiebergrade. Beim
Unterleibstyphus z. B. kann die tägliche Harnstoffmenge auf
fast das Doppelte steigen, obschon der Kranke sich nicht bewegt und
die stickstoffhaltige Zufuhr so gut wie vollständig
abgeschnitten ist, er sich also unter Bedingungen befindet, unter
welchen der normale Körper nur sehr wenig Harnstoff bilden
würde. So verschieden auch der S. sich gestalten mag infolge
äußerer Verhältnisse oder im Individuum selbst
liegender Ursachen, so handelt es sich doch dabei im wesentlichen
immer um dieselben Vorgänge und zwar sogar unter der
abweichendsten Bedingungen der Ernährung. Das hungernde Tier
so gut wie das wohlgenährte scheidet Harnstoff,
Kohlensäure und Wasser aus. Das Tier mag ausschließlich
von Fleischnahrung oder von Pflanzenkost leben, der Organismus mag
gesund oder schwer erkrankt sein, er mag gemästet oder
gehörig genährt, unzureichend beköstigt oder im
Verhungern begriffen sein: er lebt zunächst immer nur auf
Kosten seiner eignen Bestandteile. Der S. wird somit zunächst
ausschließlich bestimmt durch den jedesmaligen Zustand der
Gewebe, Organe und Säfte des Körpers, und die uns noch
unbekannten vitalen Energien der Gewebe und Organe geben bei der
Bestimmung des Stoffumsatzes, der Anbildung wie der
Rückbildung, sowohl in Bezug auf Qualität als
Quantität den Hauptausschlag. Vgl. Moleschott, Der Kreislauf
des Lebens (5. Aufl., Mainz 1876-86, 2 Bde.); Voit, Physiologie des
allgemeinen Stoffwechsels und der Ernährung (Leipz. 1881);
Wilckens, Briefe über den tierischen S. (Bresl. 1879); Seegen,
Studien über S. (Berl. 1887).

Stoffwechselgleichungen, s. Respirationsapparat.

343

Stohmann - Stokes.

Stohmann, Friedrich Karl Adolf, Agrikulturchemiker und
Technolog, geb. 25. April 1832 zu Bremen, studierte in
Göttingen und London, war 1853-1855 Assistent von Graham und
arbeitete in der Folge in mehreren chemischen Fabriken. 1857 wurde
er Assistent von Henneberg erst in Celle, dann in Weende bei
Göttingen, und hier beteiligte er sich an den klassischen
Untersuchungen Hennebergs über die Ernährung der
Haustiere. 1862 begründete er die landwirtschaftliche
Versuchsstation in Braunschweig, 1865 folgte er einem Ruf nach
München, ging aber noch in demselben Jahr nach Halle und
übernahm 1871 die Leitung des
landwirtschaftlich-physiologischen Instituts in Leipzig. Er
schrieb: "Handbuch der technischen Chemie" (auf Grundlage von
Payen, Précis de chimie technique, mit Engler, Stuttg.
1870-1874, 2 Bde.); "Biologische Studien" (Braunschw. 1873);
"Handbuch der Zuckerfabrikation" (2. Aufl., Berl. 1885); "Die
Stärkefabrikation" (das. 1878); "Encyklopädisches
Handbuch der technischen Chemie" (auf Grundlage von Muspratts
"Chemie", 4. Aufl. mit Kerl, Braunschw. 1886 ff.).

Stöhrer, Emil, Mechaniker, geb. 25. Sept. 1813 zu
Delitzsch, lernte bei Wießner in Leipzig und gründete
1846 daselbst ein eignes Geschäft, welches er 1863 seinem Sohn
Emil (geb. 2. März 1840) Übergab. Er gründete darauf
in Dresden ein zweites Geschäft, speziell für
elektro-therapeutische Apparate, übergab dasselbe 1880
ebenfalls seinem Sohn, mußte aber nach dessen Tod, 26. Dez.
1882, beide Geschäfte wieder übernehmen. Er konstruierte
weitverbreitete Batterien und Induktionsapparate und 1846 den
ersten mit Wechselströmen eines Magnetinduktors betriebenen
Zeigertelegraphen, auch einen elektrochemischen und
elektromagnetischen Doppelschreiber.

Stoiker, griech. Philosophenschule, welche sich
gleichzeitig mit dem Epikureismus entwickelte und ihren Namen von
dem Säulengang (stoa) hat, wo der Gründer derselben,
Zenon aus Kittion auf Kypros, in Athen zu lehren pflegte (340-260
v. Chr.). Zenons Lehrbegriff ward zum Teil im Kampf mit der
jüngern Akademie durch seine nächsten Schüler und
Anhänger, Kleanthes aus Assos in Troas, Chrysippos aus Soli in
Kilikien (280-210), bestimmter ausgebildet, während andre, wie
Ariston aus Chios und Heryllos aus Karthago, sich ihm vorzugsweise
nur in der Strenge der sittlichen Denkart angeschlossen zu haben
scheinen. Ein allgemeines Merkmal der Lehre der S. liegt in dem
Bemühen, die Philosophie in einer einfachen und
gemeinverständlichen Form und mit vorherrschender
Rücksicht auf das praktische Leben zu entwickeln, daher die
eigentliche Bedeutung derselben in ihrer Ethik zu suchen ist,
welcher sie zwar die Physik beiordnen, weil diese die allgemeinsten
Grundbestimmungen für jene darbiete, die Logik aber
unterordnen, so daß diese ihnen mehr für ein Werkzeug
als für einen Teil der Philosophie gilt. In der Logik ward die
Erfahrung als Grundlage aller Erkenntnis statuiert, insofern alle
Vorstellungen in einem Leiden der Seele durch den Eindruck des
Vorgestellten bestehen sollen. In Übereinstimmung hiermit geht
auch ihre Physik von dem Satz aus, daß alles, was Ursache
sei, Körper sei, welcher Begriff bei ihnen wesentlich durch
den Gegensatz von Thun und Leiden bestimmt wird.
Demgemäß unterscheiden sie die Materie als das
qualitätslose leidende und Gott als das thätige und
bildende Prinzip, so jedoch, daß nicht das eine wirklich
getrennt von dem andern existiere, sondern die wirkliche Kraft in
dem Stoff selbst vorhanden sei. So wie daher die Welt
vernünftig und göttlich ist, so hat auch jeder einzelne
Teil seinen besondern Anteil an der allgemeinen Vernunft. Diese
bestimmte schon Zenon, sich an die Naturlehre des Heraklit
anschließend, als ein denkendes, lebendiges Feuer, welches
sich in stetigen Übergängen und nach einem bestimmten
unausweichlichen Gesetz in die Elemente und die daraus entstehenden
besondern Bedingungen verwandle, um nach periodischem Kreislauf
wieder in die ursprüngliche Einheit zurückzukehren
(Weltverbrennung). In genauem Zusammenhang mit dieser Physik steht
der oberste Grundsatz der Ethik, welcher für deren
höchsten Endzweck die Übereinstimmung mit der Natur
erklärt. Die Unabhängigkeit der sittlichen Gesinnung
stellten sie der äußerlich erscheinenden Handlung und
deren zufälligen Umständen gegenüber. Einer
selbständigen Fortbildung war das System an sich nicht
fähig. Die wesentlichste Umbildung erfuhr die stoische Lehre
durch Panaitios und Posidonios, welche auch hauptsächlich ihre
Verpflanzung nach Rom bewirkten. Durch Wechselwirkung der stoischen
Philosophie und des römischen Geistes aufeinander entwickelte
sich hier aus ersterer eine räsonnierende praktische
Popularphilosophie von zum Teil fromm-erbaulichem Charakter. Unter
dem Despotismus der Cäsaren erhielt der Stoizismus eine
politische Bedeutung, denn zu ihm flüchteten sich
größtenteils die Oppositionsmänner; er wurde ein
Gegenstand der Verfolgung, bis er mit Marcus Aurelius Antoninus auf
den Kaiserthron kam und kaiserliche Fürsorge demselben noch
einmal Geltung und Anhang erwarb. Nach der Zeit der Antonine
verschwindet er völlig aus der Geschichte, in dem allgemeinen
philosophischen und religiösen Synkretismus aufgehend, in
welchen die antike Weltanschauung sich auflöste. Vgl.
Tiedemann, System der stoischen Philosophie (Leipz. 1776, 3 Bde.);
Ravaisson, Essai sur le stoicisme (Par. 1856); Noack in der
Zeitschrift "Psyche", Bd. 5 (Leipz. 1862); Winckler, Der Stoizismus
(das. 1878); Weygoldt, Die Philosophie der Stoa (das. 1883) ;
Ogereau, Essai sur le système philosophique des stoiciens
(Par. 1885); L. Stein, Die Psychologie der Stoa (Berl. 1886-88, 2
Bde.); Zeller, Philosophie der Griechen, Bd. 3.

Stoische Philosophie, s. Stoiker.

Stoizismns, Lehre der Stoiker (s. d.); streng moralisches
oder vielmehr finsteres, freudenloses Leben.

Stoke Poges (spr. stohkpódschis), Dorfin
Buckinghamshire (England), bei Slough, mit Denkmal des Dichters
Gray, der hier seine Elegie schrieb, u. 109 Einw.

Stokes (spr. stohks), 1) George Gabriel, Mathematiker und
Physiker, geb. 13. Aug. 1819 zu Skreen in Irland, studierte zu
Cambridge und wurde 1849 Professor der Mathematik daselbst. Seit
1854 ist er auch Sekretär der Royal Society. S.' Arbeiten
erstrecken sich über das Gebiet der reinen Mathematik, der
Mechanik und der mathematischen und experimentellen Physik. Seine
theoretischen Untersuchungen beschäftigen sich
hauptsächlich mit Hydrodynamik, der Theorie des Lichts und der
Theorie des Schalles, seine experimentellen Arbeiten vorwiegend mit
den Erscheinungen des Lichts. Eine seiner hervorragendsten Arbeiten
ist die über die Fluoreszenz des Lichts, deren Natur er zuerst
erkannte. Die frühern Beobachter, Brewster und Herschel,
glaubten in der Erscheinung eine eigentümliche Zerstreuung des
Lichts zu erkennen; S. wies aber nach, daß die
fluoreszierenden Substanzen in der That selbst leuchtend werden,
indem sie das auf sie treffende Licht in sich aufnehmen, und indem
dadurch die Moleküle der Körper in Schwingungen geraten.
S. begründete durch diese Ar-

344

Stokessche Regel - Stolberg.

beiten gleichzeitig die richtige Theorie der Absorption des
Lichts. In der Folge beschäftigte er sich viel mitder
Absorptions-Spektralanalyse und untersuchte den ultravioletten Teil
des Spektrums. Gesammelt erschienen seine "Mathematical and
physical papers" (Cambr. 1880-83, 2 Bde.), deutsch die Vorlesungen:
"Das Licht" (Leipz. 1888).

2) Whitley, engl. Keltolog, geb. 28. Febr. 1830, studierte in
Dublin Rechtswissenschaft und Philologie, insbesondere Keltologie,
begab sich als Barrister 1862 nach Indien (Madras), wurde zwei
Jahre später zum Sekretär des Legislative Council zu
Kalkutta ernannt und war 1877-82 Law Member of the Council of the
governor general of India (s. v. w. Justizminister), in welcher
Stellung er sich um die Gesetzgebung Indiens große Verdienste
erwarb. Seine wichtigsten keltologischen Arbeiten sind: "Irish
glosses" (Dubl. 1860); "Three Irish glossaries" (Kalk. 1868);
"Goidelica", Sammlung altirischer Texte (2. Aufl., Lond. 1872);
"Fis Adamnain" (Simla 1870); "A Cornish glossary" (Lond. 1870);
"The life of Saint Meriasek, a Cornish drama" (das. 1872);
"Middle-Breton hours" (Kalk. 1876); "Three middle Irish homilies"
(das. 1879); "Togail Troi. The destruction of Troy" (das. 1881);
"On the calendar of Oengus" (Dubl. 1881); "Saltair na Rann" (Oxf.
1883). Neuerdings erschienen von ihm "The Anglo-Indian codes"
(Lond. 1887-88, 2 Bde.).

Stokessche Regel, s. Fluoreszenz.

Stoke upon Trent (spr. stóhk oponn trent),
schmutzige Stadt in Staffordshire (England), im Distrikt der
Potteries (s. d.), hat einen großartigen Bahnhof (mit den
Bildsäulen Wedgwoods und Mintons), ein Athenäum, eine
Kunstschule, Fabriken für Porzellan und Steingut (Minton,
Copeland and Sons u. a.) und (1881) 19,261 Einw.

Stola (lat.), langes, faltiges, bis auf die Knöchel
herabreichendes und unten mit einer Falbel (instita) verziertes
Kleid der römischen Frauen, das auch vom Pontifex maximus
getragen ward; jetzt Festgewand der katholischen Geistlichen, bei
denen es jedoch nur aus einer langen Binde von weißer Seide
oder Silberstoff besteht, die, mit drei Kreuzen am Ende versehen,
bei den Priestern über beide Schultern und die Brust
kreuzweise, bei den Diakonen bloß über die linke
Schulter nach der rechten Hüfte zu herabhängt (s. Alba,
Abbild.). Ein ähnliches Gewandstück trugen auch die
ältern französischen und englischen Könige.

Stolac, Bezirksstadt in Bosnien (Kreis Moftar), an der
Bregava, hat eine weitläufige, mit Türmen versehene
uralte Burg, ein Bezirksgericht, (1885) 3397 meist mohammedan.
Einwohner und Weinbau.

Stolberg (Stollberg), ehemalige Grafschaft am
südlichen Fuß des Harzes, deren Gebiet, 429 qkm (7,8
QM.) mit 33,000 Einw., seitdem die Landeshoheit auf Preußen
übergegangen ist (seit 1815), zwei Standesherrschaften,
S.-Stolberg und S.-Roßla, im Regierungsbezirk Merseburg,
Kreis Sangerhausen, bildet. - Die Stadt S. (S. am Harz), Hauptort
der Standesherrschaft S.-Stolberg, in einem engen Waldthal an der
Tyra, 297 m ü. M., hat eine evang. Kirche, ein gräfliches
Konsistorium, ein Waisenhaus, ein Amtsgericht, Bergbau auf Eisen
und Kupfer, eine Zigarren- und eine Pulverfabrik, 2
Sägemühlen und (1885) 2140 Einw. über der Stadt das
gräfliche Residenzschloß mit ansehnlicher
Bibliothek.

Stolberg (Stollberg), Stadt im preuß.
Regierungsbezirk und Landkreis Aachen, an der Vicht, Knotenpunkt
der Linien M'Gladbach-S., Langerwehe-Herbesthal, S.-Alsdorf,
Stolberger Thalbahn, Eschweiler-Velau, S.-Münsterbusch und
Morsbach-S. der Preußischen Staatsbahn, hat 2 evangelische
und 2 kath. Kirchen, ein uraltes Schloß (nach der Sage
Jagdschloß Karls d. Gr.), ein Amtsgericht, eine
Handelskammer, Sayettspinnerei, großartige Zink- und
Messingindustrie, Eisengießereien, Dampfkesselfabriken,
Bleihütten, Kupferhämmer, Glasfabriken mit
Glasschleiferei, ein Walzwerk, Fabriken für Spiegelglas,
Maschinen, Nähnadeln, Haken und Schlingen, Messing- u.
Eisendraht, ferner Gerberei, Kalkbrennerei, Seifensiederei, eine
große chemische Fabrik (Waldmeisterhütte) der
Gesellschaft Rhenania, Bergbau auf Steinkohlen, Eisen, Blei, Galmei
und Zinkblende und (1885) 11,835 meist kath. Einwohner. Die
Messingindustrie der Stadt wurde im 16. und 17. Jahrh. durch aus
Frankreich und Aachen vertriebene Protestanten begründet.

Stolberg, altadliges Geschlecht aus Thüringen,
welches bis ins 11. Jahrh. zurückreicht, und dessen Stammland
die Grafschaft S. in Thüringen ist. Schon 1412 in den
Reichsgrafenstand erhoben, vermehrte es seinen Besitz durch
Erwerbung der Grafschaften Hohnstein, Wernigerode, Königstein,
von welch letzterer jetzt nur noch Gedern und Ortenberg dem Haus
angehören, Wertheim und Rochefort in Belgien, die 1801
verloren ging, sowie des hennebergischen Fleckens Schwarza. Von den
beiden Linien, in welche sich das Geschlecht früher teilte,
der Harz- und der Rheinlinie, erlosch erstere 1631. Letztere teilte
sich 1645 in die Linien: S.-Wernigerode, S.-Stolberg und
S.-Roßla. Die erste hat außer der Grafschaft
Wernigerode im Harz nebst Schwarza noch große Besitzungen in
Schlesien, dem Großherzogtum Hessen und Hannover und wird
gegenwärtig durch Graf Otto von S., geb. 30. Okt. 1837,
repräsentiert (s. S.-Wernigerode 2). Dieser Linie
gehörten an: Graf Ferdinand von S., geb. 18. Okt. 1775, gest.
20. Mai 1854 in Peterswaldau als preußischer Geheimrat, und
Graf Anton von S., geb. 23. Okt. 1785, gest. 11. Juli 1854, der bis
1840 Oberpräsident der Provinz Sachsen und von 1842 bis 1848
zweiter Chef des Ministeriums des königlichen Hauses war.
Dessen Sohn war Graf Eberhard von S., gest. 1872 (s. S.-Wernigerode
1). Die Linie S.-Stolberg, die ein Areal von 200 qkm besitzt,
blüht in dem Hauptast, repräsentiert durch den Grafen
Alfred von S., geb. 23. Nov. 1820, preußischen Standesherrn,
und einem Nebenast, dessen Chef derzeit Graf Günther von S.,
geb. 22. Nov. 1820, ist. Ein Oheim desselben war Graf Joseph von
S., geb. 12. Aug. 1804, gest. 5. April 1859 in Mecheln, bekannt
durch die Stiftung des Bonifaciusvereins (s. d.). Der Stifter
dieses Nebenastes war Graf Christian Günther von S., gest. 22.
Juni 1765 als dänischer Geheimrat, der Vater der als Dichter
bekannten Grafen Christian und Friedrich Leopold zu S. Die Linie
S.-Roßla, deren Besitzungen in Preußen, dem
Großherzogtum Hessen und Anhalt 300 qkm betragen, wird
gegenwärtig durch Graf Botho August Karl, Standesherrn in
Preußen und Hessen, geb. 12. Juli 1850, vertreten. Vgl. Graf
Botho zu S.-Wernigerode, Geschichte des Hauses S. 1210-1511
(Magdeb. 1883) ; Derselbe, Regesta Stolbergica (das. 1886).

Stolberg, 1) Christian, Graf zu, Dichter, der Linie
S.-Stolberg angehörig, geb. 15. Okt. 1748 zu Hamburg, Sohn des
Grafen Christian Günther, studierte seit 1769 in Halle,
1772-74 in Göttingen, wo er dem Göttinger Dichterbund (s.
d.) beitrat, erhielt 1777 die Amtmannsstelle zu Tremsbüttel in
Holstein und vermählte sich hier mit der in vielen

345

Stolberger Diamanten - Stolberg-Wernigerode.

seiner Gedichte gefeierten Luise, Witwe des
Hofjägermeisters v. Gramm, einer gebornen Gräfin von
Reventlow. Nach 23jähriger musterhafter Verwaltung

seines Amtes legte er dasselbe (1800) nieder und lebte

fortan auf seinem Gut Windebye bei Eckernförde. Er

starb 18. Jan. 1821. Seine kleinern "Gedichte" (Elegien, Lieder,
Balladen etc.) sind mit denen seines Bruders zuerst 1779 in Leipzig
(neue Aufl. 1822) erschienen; ebenso die "Schauspiele mit
Chören" (1787), von

denen ihm "Belsazar" und "Otanes" angehören. Beiden
Brüdern gemeinsam waren auch die "Vaterländischen
Gedichte" (Hamb. 1810, 2. Aufl. 1815), in

welchen sie freilich an die neue Zeit einen veralteten
Maßstab legten. Christian lieferte außerdem "Gedichte
aus dem Griechischen" (Hamb. 1782) und eine

Übersetzung des Sophokles (Leipz. 1787, 2 Bde.) in

fünffüßigen Iamben, Übertragungen, die
für ihre Zeit nicht ohne Wert waren. Seine sämtlichen
poetischen Arbeiten befinden sich in der Ausgabe der

"Werke der Brüder S." (Hamb. 1820-25, 20 Bde.);

eine Auswahl aus den Gedichten beider gab Kreiten heraus
(Paderb. 1889).

2) Friedrich Leopold, Graf zu, jüngerer Bruder des vorigen,
Dichter und Schriftsteller, geb. 7.

Nov. 1750 in dem holsteinischen Flecken Bramstedt, gehörte
in Göttingen, wo er von 1772 an studierte,

gleichfalls zu dem erwähnten Dichterbund. Nach Beendigung
der Universitätsstudien wurde er als königlicher
Kammerjunker dem dänischen Hof attachiert

und bekleidete später (1777) den Posten eines Lübecker
Geschäftsträgers bei der dänischen Regierung.
Vermählt (1782) mit der mehrfach von ihm besungenen Agnes,
einer Gräfin von Witzleben, lebte er mehrere Jahre ganz seinem
häuslichen Glück und den Musen. Nach dem Tod seiner
Gattin bekleidete er den Gesandtschaftsposten in Berlin und schritt
hier 1790 zu

einer zweiten Vermählung mit der Gräfin Sophie von
Redern. Von Berlin ging er 1791 als Präsident der
fürstbischöflichen Regierung nach Eutin, wo er mit
Voß den alten Bund der Freundschaft neu knüpfte

und durch ihn wieder zu litterarischer Thätigkeit
angespornt wurde. Nach einer Reise durch die Schweiz und Italien
legte er 1800 seine sämtlichen Ämter nieder, zog nach
Münster und trat mit Weib und Kindern (die älteste,
später dem Grafen Ferdinand von S.-Wernigerode vermählte
Tochter ausgenommen) zur römisch-katholischen Kirche
über. Von Stolbergs alten Freunden machten namentlich
Voß und Jacobi ihrem Unwillen über den Abtrünnigen
durch den Druck, ersterer auf ebenso derbe und bittere wie
letzterer auf eine würdevolle Weise, Luft. Stolbergs

litterarische Thätigkeit beschränkte sich seitdem
vorzugsweise auf seine "Geschichte der Religion Jesu

Christi" (Hamb. 1807-18, 15 Bde.; fortgesetzt von Fr. v. Kerz,
Bd. 16-45, Mainz 1825-48, und von Brischar, Bd. 46-53, das.
1850-64) und ein tendenziös gefärbtes "Leben Alfreds d.
Gr." (Münst.

1815, 2. Aufl. 1837), Werke, die durchgehend von

der geistigen Befangenheit ihres Urhebers zeugen, und auf
asketische Produkte, die kein Blatt in feinen Lorbeerkranz flechten
konnten. "Gedichte", "Schauspiele mit Chören" und
"Vaterländische Gedichte"

gab er mit seinem Bruder gemeinsam heraus. Stolbergs Lyrik ist
vielfach altertümelnd, in ihrer Freiheitsbegeisterung ganz vag
und phrasenhaft, oft gesucht einfachen Gepräges; sie stand im
allgemeinen noch unter den Einwirkungen Klopstocks. Als Prosaiker
versuchte er sich auch in einem Roman: "Die Insel" (1788), und
einer weitschweifigen "Reise durch Deutschland, die Schweiz,
Italien u. Sizilien" (1794);

als Übersetzer trat er mit der ersten Übertragung der
Iliade, einer vorzüglichen Nachdichtung von vier
Tragödien des Äschylos und mehreren Schriften Platons
hervor. S. starb 5. Dez. 1819 auf dem Gut Sondermühlen bei
Osnabrück, nachdem er kurz zuvor "Ein Büchlein von der
Liebe" (Münst. 1820, 5. Aufl. 1877)

vollendet hatte. Seine Schriften nehmen den größten
Teil der "Werke der Brüder S." (Hamb. 1820-1825, 20 Bde.) ein.
Vgl. Nicolovius, F. L., Graf

zu S. (Mainz 1846), mehr apologetische Parteischrift

als Lebensbeschreibung; Menge, Graf F. L. S. und

seine Zeitgenossen (Gotha 1863, 2 Bde.): Hennes, Aus Fr. L. v.
Stolbergs Jugendjahren (das. 1876);

Janssen, F. L., Graf zu S. (3. Aufl., Freiberg 1882).

3) Auguste Luise, Gräfin zu, Schwester der vorigen, geb. 7.
Jan. 1753 zu Bramstedt, wurde durch

ihre Brüder mit Klopstock, Miller und andern Mitgliedern
des Göttinger Dichterbundes bekannt und

trat auch mit Goethe in Briefwechsel, den sie übrigens
persönlich nie kennen lernte. Sie heiratete 1783 den
dänischen Minister Grafen A. P. Bernstorff, wurde

1797 Witwe und starb 30. Juni 1835. Vgl. "Goethes Briefe an die
Gräfin Auguste zu S." (mit Einleitung von W. Arndt, 2. Aufl.,
Leipz. 1881).

Stolberger Diamanten, Bergkristalle vom Auerberg im
Unterharz.

Stolberg-Wernigerode, 1) Eberhard, Graf von,
Präsident des preuß. Herrenhauses, geb. 11. März
1810 zu Peterswaldau bei Reichenbach i. S., Sohn

des 1854 gestorbenen Generalleutnants und Ministers Grafen Anton
aus der schlesischen Seitenlinie des Hauses S., diente zuerst in
der Armee, verwaltete dann die Fideikommißherrschaft
Kreppelhof bei

Landeshut in Schlesien, ward 1853 erbliches Mitglied des
Herrenhauses, in welchem er sich durch seine schroff feudale
Gesinnung hervorthat und bald zum Präsidenten gewählt
wurde, und war 1867-69 konservatives Mitglied des norddeutschen
Reichstags.

1864 organisierte er die Johanniter-Lazarettpflege mit solchem
Eifer und Geschick, daß ihn der König

1866 zum Kommissar und Militärinspektor der freiwilligen
Krankenpflege bei der Feldarmee ernannte. In dieser Eigenschaft
gründete der Graf den "Preußischen Verein zur Pflege im
Feld verwundeter und erkrankter Krieger". 1869 zum
Oberpräsidenten von Schlesien ernannt, starb er 8. Aug. 1872
kinderlos zu Johannisbad in Böhmen.

2) Otto, Graf von, Chef des Hauses, geb. 30. Okt. 1837 zu Gedern
in Hessen, Sohn des Erbgrafen Hermann (geb. 30. Sept. 1802, gest.
24. Okt. 1841),

besuchte das Gymnasium in Duisburg und, nachdem er seinem
Großvater, Grafen Heinrich, 16. Febr. 1854

gefolgt war, die Universitäten Göttingen und
Heidelberg, diente 1859-61 als Offizier in der preußischen
Armee, ward 1867 zum Oberpräsidenten von Hannover ernannt,
welches Amt er bis 1873 mit Takt, Umsicht und großem Erfolg
verwaltete, im

März 1876 Botschafter des Deutschen Reichs zu Wien

und 1. Juni 1878 Stellvertreter des Reichskanzlers

und Vizepräsident des preußischen Staatsministeriums.
Dies Amt legte er 20. Juni 1881 nieder und ward 1884
Oberstkämmerer und stellvertreten-der Minister des
königlichen Hauses, welches letztere

Amt er 1888 aufgab. 1867-78 Mitglied des Reichstags, 1872-86
Kanzler des Johanniterordens, 1872 bis 1877 Präsident des
Herrenhauses und 1875 Vorsitzender der außerordentlichen
Generalsynode, gehört er zur gemäßigt konservativen
Partei. Er ist erster Vorsitzender des Zentralkomitees der
deutschen Vereine und des preußischen Vereins vom Roten
Kreuz.

346

Stolgebühren - Stollenschrank.

Stolgebühren (Jura stolae), die nach der Stola (s.
d.) benannten Gebühren, welche die Geistlichen für
kirchliche Handlungen, namentlich Taufen, Trauungen, Abnahme der
Beichte und Begräbnisse, beziehen. Schon zu Ende des 5. Jahrh.
war eine Taxe für alle geistlichen Verrichtungen vorhanden;
doch floß das von den Laien dafür in den Opferstock der
Kirche gelegte Geld anfangs der Kirchenkasse zu, die davon den
Pfarrern ihren Anteil gab. Erst später war jeder Parochus
befugt, die S. für sich allein einzunehmen. Auch in der
protestantischen Kirche bilden die S. (als zufällige Einnahmen
jetzt gewöhnlich Accidenzien oder Kasualien genannt) einen
Teil der Einnahmen des Pfarrers; doch sind sie in Deutschland
vielfach abgeschafft und durch festen Gehalt ersetzt worden.

Stoliczka (spr. -litschka), Ferdinand, Paläontolog,
geboren im Mai 1838 in Mähren, war nach Vollendung seiner
Studien mehrere Jahre ein thätiges Mitglied der geologischen
Reichsanstalt zu Wien und wurde 1862 als Mitarbeiter an der
Geological Survey ofIndia nach Kalkutta berufen. Seine Arbeiten
sind meist paläontologischen Inhalts. Eine Reihe von
Aufsätzen behandelt die Kreidefossilien Südindiens.
Daneben publizierte er wichtige zoologische Arbeiten in den
Schriften der Asiatic Society of Bengal, deren Sekretär er
seit 1868 war. 1864 und 1865 machte er Forschungsreisen nach dem
englischen Tibet, nahm 1873 als Geolog an der Forsythschen
Gesandtschaftsreise nach Kaschgar teil, ging dann mit Oberst Gordon
und Kapitän Trotter nach dem Tschatyrkul im Thianschan,
über die Pamirs nach Wachan und zurück, starb aber auf
dem Marsch 19. Juni 1874 in Murghi am Shayok, unfern des
Sasserpasses in Ladak. Vgl. Ball, Memoir of the life and work of F.
S. (Lond. 1886).

Stolidität (lat.), Albernheit, Dummheit.

Stoljetow, Nikolai Grigorjewitsch, russ. General, geb.
1834, trat 1855 als Offizier in ein Regiment der Kaukasusarmee,
avancierte in derselben bis zum Oberstleutnant und ward 1867 zum
Chef der Kanzlei der Militärverwaltung von Turkistan ernannt.
Kurz darauf zum Obersten befördert, erhielt er 1872 das
Kommando des uralischen Infanterieregiments. Nicht lange nachher
ward ihm die Leitung der Amu Darja-Expedition, einer
wissenschaftlichen Unternehmung und zugleich auch
militärischen Rekognoszierung, übertragen. 1875 zum
Generalmajor befördert, erhielt er 1877 den Auftrag, die
bulgarischen Druschinen (Milizbataillone) zu organisieren, und an
der Spitze von sechs bulgarischen Bataillonen nahm er an Gurkos
erstem Zug über den Balkan teil, kämpfte 31. Juli 1877
bei Eski-Sagra mit und hatte den ersten Anprall Suleiman Paschas
auf dem Schipkapaß auszuhalten. Auch beim zweiten
Balkanübergang im Winter 1877-78 befehligte er eine Brigade.
Nach dem Frieden von San Stefano ward er an der Spitze einer
großen Gesandtschaft nach Kabul zum Emir von Afghanistan
geschickt, um diesen zum Widerstand gegen die Engländer
aufzureizen, zog sich aber mit diesem nach Turkistan zurück,
als die Engländer in Afghanistan einrückten.

Stollberg, 1) Stadt in der sächs.
Kreishauptmannschaft Zwickau, Amtshauptmannschaft Chemnitz,
Knotenpunkt der Linien S.-Chemnitz und St. Egidien-Zwönitz der
Sächsischen Staatsbahn, 418 m ü. M., hat 2 Kirchen, ein
neues Rathaus, eine Realschule, ein Amtsgericht, eine bedeutende
Strumpfwarenfabrik (800 Arbeiter), Strumpfstuhl-, Zigarren-,
Metallwaren- u. Kartonagenfabrikation, Maschinenbau, mechanische
Weberei und Zwirnerei, Dampfsägewerke und (1885) 6541 fast nur
evang. Einwohner. Dabei das Dorf Hoheneck mit dem hoch gelegenen
gleichnamigen Schloß (jetzt Arbeitshaus für Männer)
und (1885) 1210 Einw. -

2) S. Stolberg.

Stollbeulen (Ellbogenbeulen), bei Pferden
Geschwülste an der hintern Seite und auf der Spitze des
Ellbogens, die infolge von Quetschungen der Haut und Unterhaut
entstehen. Diese Quetschungsentzündung wird in einzelnen
Fällen durch den Druck der Stollen des Hufeisens während
des Liegens der Pferde mit untergeschlagenen Füßen
hervorgerufen (daher der Name), kommt aber auch bei stellenlosen
Hufeifen und unbeschlagenen Pferden vor. Die Entzündung
breitet sich gewöhnlich auf das benachbarte Bindegewebe aus;
die zunächst mit Blut gefüllten Hohlräume werden
durch Wucherung und Verdichtung des Bindegewebes zum
größten Teil wieder ausgefüllt, und die Geschwulst
wird infolgedessen fest und derb (Stollschwamm). In der ersten Zeit
bildet sich in der Geschwulst nicht selten eine Eiterung. Die
Behandlung verlangt Abstellung der Ursache fortgesetzter
Quetschung; bei frischer Entzündung sind kühlende Mittel,
sonst Entleeren der Flüssigkeit, Einreibungen mit grüner
Seife und Einspritzungen von Jodtinktur angezeigt. Veraltete,
speckartige Stollschwämme können nur durch Ätzmittel
oder auf operativem Weg entfernt werden. Besonders
zweckmäßig ist das Abbinden der S., weil mit demselben
die Verheilung ohne Zurücklassung einer narbigen
Deformität erzielt wird. Übrigens stören S. den
Dienstgebrauch der Pferde wenig, beeinträchtigen aber oft das
gute Aussehen. Die alte Annahme, daß S. am häufigsten
bei lungenkranken Pferden vorkommen, ist unbegründet.

Stolle, Ludwig Ferdinand, Belletrist, geb. 28. Sept. 1806
zu Dresden, studierte in Leipzig die Rechte und
Staatswissenschaften, widmete sich dann zu Grimma und seit 1855 in
Dresden der Litteratur und starb in letzterer Stadt 29. Sept. 1872.
Durch die Herausgabe des humoristisch-politischen Volksblattes "Der
Dorfbarbier" (1844-63) in weitern Kreisen bekannt geworden, fand er
mit feinen zahlreichen historischen und humoristischen Romanen, von
denen wir nur "1813" (Leipz. 1838, 3 Bde.), "Elba und Waterloo"
(das. 1838, 3 Bde.), "Deutsche Pickwickier" (das. 1841, 3 Bde; 3.
Aufl. 1878), "Napoleon in Ägypten" (das. 1843, 3 Bde.) und
"Die Erbschaft in Kabul" (das. 1845) namentlich anführen, wie
mit seinen Erzählungen und Novellen ("Frühlingsglocken",
"Moosrosen" etc.) zahlreiche Leser. Sie wurden unter dem Titel:
"Des Dorfbarbiers ausgewählte Schriften" (2. Aufl., Leipz.
1859-64, 30 Bde.; neue Folge, Plauen 1865, 12 Bde.) gesammelt.
Außer "Gedichten" (Grimma 1847) gab er auch die lyrische
Sammlung "Palmen des Friedens" (Leipz. 1855, 5. Aufl. 1873) heraus
und schrieb zuletzt das Idyll "Ein Frühling auf dem Lande"
(das. 1867).

Stollen, ein möglichst horizontaler, vom Tag
ausgehender, nach Umständen verzweigter unterirdischer
Grubenbau, welcher verschiedenen Zwecken dient; in der Poetik ein
Teil der Strophe der alten Minnelieder (s. Aufgesang und
Abgesang).

Stollenrösche, der vom Mundloch eines Stollens bis
zum nächsten Wasserlauf geführte Graben.

Stollenschrank, ein auf Pfosten (Stollen) ruhender
Schrank mit Doppelthüren, im Mittelalter und in der
Renaissancezeit vornehmlich in den Rheinlanden verfertigt. Die
Pfosten waren meist durch eine Rückwand und unten durch ein
Querbrett verbunden. S. Tafel "Möbel", Fig. 10.

347

Stollhofen - Stolze.

Stollhofen, Dorf im bad. Kreis Baden, unweit des Rheins,
hat (1885) 1139 Einw., ehemals Mittelpunkt der Stollhofer Linien,
die, jetzt vollständig verschwunden, im spanischen
Erbfolgekrieg vom Markgrafen Lndwig von Baden bis zu seinem Tod
(1707) behauptet, nachher von den Franzosen genommen wurden.

Stolnik (russ.), Titel eines Hofbeamten im moskowitischen
Großfürsten- und Zartum; Truchseß.

Stolo(lat.), in der Botanik s. v. w. Ausläufer (s.
d.).

Stolp, Kreisstadt im preuß. Regierungsbezirk
Köslin, an der Stolpe, Knotenpunkt der Linien Stargard i.
P.-Zoppot und Neustettin-Stolpmünde der Preußischen
Staatsbahn, 35 m ü. M., hat 3 evang. Kirchen (darunter die
Marienkirche mit hohem Turm und die im 13. Jahrh. erbaute
Schloßkirche), eine altlutherische und eine kath. Kirche,
eine Synagoge, ein altes Schloß und (1885) mit der Garnison
(3 Eskadrons Husaren Nr. 5) 22,442 Einw. (darunter 542 Katholiken
und 867 Juden), welche Eisengießerei und Maschinenbau,
Tabaks-, Zigarren-, Bernsteinwaren und Lederfabrikation,
Wollspinnerei, Dampftischlerei, Ziegelbrennerei, Lachsfischerei
etc. betreiben; auch hat S. 2 große Mahl- und 5
Sägemühlen. Der Handel, unterstützt durch eine
Reichsbanknebenstelle, ist lebhaft in Getreide, Vieh, Spiritus,
Holz, Fischen und Gänsen. S. ist Sitz eines Landgerichts,
zweier Oberförstereien, einer
Mobiliar-Brandversicherungsgesellschaft und hat ein Gymnasium,
verbunden mit Realprogymnasium, ein Fräuleinstift, ein
Invalidenhaus, ein Krankenhaus, ein Militärlazarett und 2
Hofpitäler. Zum Landgerichtsbezirk S. gehören die sieben
Amtsgerichte zu Bütow, Lauenburg, Pollnow, Rügenwalde,
Rummelsburg, Schlawe und S.

Wappen von Stolp.

Stolpe, Küstenfluß in Hinterpommern,
entspringt aus dem Stolper See im Regierungsbezirk Danzig, nimmt
die Bütow, Kamenz und Schottow auf, ist flößbar und
mündet nach einem Laufe von 150 km bei Stolpmünde in die
Ostsee.

Stolpen, Stadt in der sächs. Kreishauptmannschaft
Dresden, Amtshauptmannschaft Pirna, an der Wesenitz und der Linie
Neustadt-Dürrröhrsdorf der Sächsischen Staatsbahn,
auf steilem Basaltberg, hat ein Amtsgericht, ein dreitürmiges
altes Schloß, in welchem die Gräfin Cosel (s. d.)
1716-65 gefangen saß, Messerfabrikation und (1885) 1367
Einw.

Stolpmünde, Flecken im preuß. Regierungsbezirk
Köslin, Kreis Stolp, an der Mündung der Stolpe in die
Ostsee und an der Linie Neustettin-S. der Preußischen
Staatsbahn, hat eine evang. Kirche, eine Navigationsvorschule, ein
Seebad, 2 Dampfschneidemühlen, Schiffahrt, Holz- und
Spiritushandel und (1885) 1974 fast nur evang. Einwohner. Vgl.
Zessin, Das Ostseebad S. (Stolp 1885).

Stolze, Friedrich, Frankfurter Dialektdichter, geb. 21.
Nov. 1816 zu Frankfurt a. M., ward von seinem Vater zum
Kaufmannsstand bestimmt, verließ diesen aber nach des Vaters
Tod, um sich den schönen Wissenschaften zuzuwenden, und
ließ sich nach mehrfachen Reisen als Schriftsteller in seiner
Vaterstadt nieder, wo er von 1852 an die im Dialekt geschriebene
"Frankfurter Krebbelzeitung" und daneben seit 1860 mit dem Maler
Schalk die "Frankfurter Laterne" herausgab, die beide 1866 bei der
Besetzung Frankfurts durch die Preußen unterdrückt
wurden. S. lebte seitdem in Stuttgart, dann in der Schweiz, kehrte
aber nach erfolgter Amnestie nach Frankfurt zurück, wo er die
Redaktion der "Frankfurter Laterne" von neuem übernahm. Er
veröffentlichte: "Skizzen aus der Pfalz" (Frankf. 1849);
"Gedichte in hochdeutscher Mundart" (das. 1862); "Gedichte in
Frankfurter Mundart" (das. 1865, 6. Ausl. 1883; 2. Bd., 1884);
"Novellen und Erzählungen in Frankfurter Mundart" (das.
1880-85, 2 Bde.) u. a.

Stolz kommt mit der Eitelkeit (s. d.) darin überein,
daß er, wie diese, als Wirkung des Ehrtriebs auf den Besitz
persönlicher Vorzüge Wert legt, unterscheidet sich aber
von dieser dadurch, daß dieselben nicht eben durchaus
unbedeutende oder gar nur vermeintlich besessene (wirkliche oder
vermeintliche körperliche Schönheit u. dgl.) Güter
sind, sondern wahre und tatsächlich besessene, sogar sittlich
wertvolle Güter (Charakterfestigkeit, wissenschaftliche oder
künstlerische Leistungsfähigkeit u. dgl.) sein
können. Geht derselbe so weit, daß er, um sich zu
behaupten, lieber äußere Vorteile opfert, so heißt
er edler S. Überschätzt er seinen Wert oder
läßt sich durch das Gefühl desselben zur
Geringschätzung andrer verleiten, so geht er in Hochmut (wie
die Eitelkeit in gleichem Fall in Hoffart) über.

Stolz, Alban, bekannter kathol. Theolog, geb. 8. Febr.
1808 zu Bühl im Badischen, ward 1833 zum Priester geweiht und
gab seit 1843, wo er Repetent am theologischen Konvikt zu Freiburg
i. Br. wurde, den vielgelesenen "Kalender für Zeit und
Ewigkeit" heraus. Seit 1848 war er Professor der Pastoraltheologie
und Pädagogik an der theologischen Fakultät. Mehr jedoch
wirkte er durch eine Unzahl von asketischen und kirchenpolitischen
Schriften, wie er denn überhaupt als der originellste und
fruchtbarste aller populären Vertreter des deutschen
Ultramontanismus gelten darf. Er starb 16. Okt. 1883. Von
größern Werken sind anzuführen: "Spanisches
für die gebildete Welt" (8. Aufl., Freiburg 1885); "Besuch bei
Sem, Ham und Japhet" (5. Aufl., das. 1876), beides
Reisefrüchte. Die meisten seiner zahlreichen Schriften
(gesammelt, Freiburg 1871-87, 15 Bde.) wurden in fremde Sprachen
übersetzt. Vgl. Hägele, Alban S. (3. Aufl., Freiburg
1889).

Stolze, Heinrich August Wilhelm, Begründer des nach
ihm benannten stenographischen Systems, geb. 20. Mai 1798 zu
Berlin, besuchte das Joachimsthalsche Gymnasium daselbst, um sich
zum Studium der Theologie vorzubereiten, mußte aber
beschränkter Vermögensverhältnisse wegen 1817 eine
Anstellung im Büreau der Berliner Feuerversicherungsanstalt
annehmen. Schon 1815 beim Eintritt in die Prima wurde S. auf den
Gedanken geführt, zur Erleichterung der Arbeitslast sich mit
der Kurzschrift bekannt zu machen, und der große Umfang
seiner neuen Berufsarbeiten lenkte ihn 1818 abermals und
ernstlicher auf die Stenographie. Er erlernte 1820 das
Mosengeilsche System, fand es aber feinen Erwartungen nicht
entsprechend. Von da ab versuchte er selbst neue Wege einzuschlagen
und machte die Stenographie zum Gegenstand seiner besondern
Beschäftigung, indem er alle ihm zugänglichen ältern
und neuern Systeme der Kurzschrift durcharbeitete. Das Studium der
Lautphysiologie und der damals jungen Sprachwissenschaft zeigte
ihm, welche Kürzungsvorteile eine Stenographie aus der
Beachtung des Wesens der Laute und aus dem Anschluß an die
Etymologie ziehen könne. Durch das Erscheinen von
Gabelsbergers Redezeichenkunst und W. v. Humboldts Werk über
die

348

Stolze - Stölzel.

Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues wurde S. aus die
Idee der symbolischen Vokalbezeichnung geführt. Er gab 1835
seine Stelle bei der Feuerversicherungsanstalt auf und widmete sich
ganz der Ausarbeitung seiner Stenographie, welche 1840
abgeschlossen und 1841 mit Unterstützung des preußischen
Kultusministeriums in dem "Theoretisch-praktischen Lehrbuch der
deutschen Stenographie" (Berl.) veröffentlicht ward. Weitere
Publikationen von S. sind: "Ausführlicher Lehrgang der
deutschen Stenographie" (Berl. 1852, 9. Aufl. 1886); "Anleitung zur
deutschen Stenographie" (das. 1845, 52. Aufl. 1889);
"Stenographisches Lesebuch" (das. 1852, 2. Aufl. 1861);
"Normalübertragung der Aufgaben etc." (das. 1865). Seit 1852
war S. Vorsteher des stenographischen Büreaus des Hauses der
Abgeordneten in Berlin und starb daselbst 8. Jan. 1867. Vgl.
Michaelis, Nachruf an W. S. (Berl. 1867); Derselbe, Festrede zur
Übergabe der S.-Büste etc. (das. 1882); Kreßler, W.
Stolze (das. 1884); Käding, Die Denkmäler Stolzes (das.
1889). Das Ziel, welches S. im Auge hatte, war nicht die Schaffung
eines Werkzeugs zum Redennachschreiben, sondern das höhere der
Herstellung eines allgemeinen Erleichterungsmittels bei jeder
ausgedehntern Schreibthätigkeit. Vollständigkeit und
Genauigkeit der Lautbezeichnung galten ihm ebensosehr als
Grundbedingungen wie die Kürze. Erst später, nachdem die
Stolzesche Stenographie in den preußischen Kammern Eingang
als Mittel zum Nachschreiben der Reden gefunden, fügte S.
für diesen Zweck weitere Bestimmungen hinzu, die aber nicht
erschöpfend waren und sich als hinderlich bei der Erreichung
des eigentlichen Ziels erwiesen. Systemreformen von 1868 und 1872
gingen daher wieder auf Stolzes ursprüngliches Ziel
zurück, eine weitere von 1888 schuf abermals wesentliche
Vereinfachungen. In dieser neuesten Gestalt ist das System etwa
viermal kürzer als die gewöhnliche Schrift und erfordert
ungefähr 10 Unterrichtsstunden. Seine Zeichen bildete S. nach
Gabelsbergers Vorgang aus Teilzügen der gewöhnlichen
Schrift und verteilte dieselben nach bestimmt ausgesprochenen
Grundsätzen auf das Alphabet. Die meisten Vokale bezeichnet er
symbolisch durch Stellung des Wortbildes zur Schriftlinie, durch
kurzen oder langen Bindestrich sowie durch Druck oder Nichtdruck im
begleitenden Konsonanten. In der hierbei durchgeführten Idee,
den sonst bedeutungslosen Bindestrich als Träger der
Vokalsymbolik zu verwenden, liegt neben Erhebung der Kurzschrift zu
höherer Bestimmung Stolzes Hauptverdienst um die Fortbildung
der Stenographie. Endlich werden gewisse häufig vorkommende
Wörter und Silben durch feststehende, aus Teilen des Ganzen
gebildete Abkürzungen (Siglen) bezeichnet. Das Stolzesche
System ist auf eine Reihe fremder Sprachen übertragen worden,
nämlich auf das Niederländische, Schwedische, Englische;
Lateinische, Italienische, Französische, Portugiesische,
Spanische; Russische, Serbische; Magyarische. Eine nennenswerte
staatliche Fürsorge genießt die Stolzesche Stenographie
nicht, sie verdankt ihre Ausbreitung fast allein der
Privatthätigkeit ihrer Anhänger. In einigen Lehranstalten
Preußens und der Schweiz wird sie fakultativ, in mehreren
preußischen Militärschulen obligatorisch gelehrt; die
amtliche Kommission zur Prüfung der Stenographielehrer in
Budapest prüft sowohl Kandidaten, welche das Stolzesche, als
solche, die das Gabelsbergersche System vortragen wollen. Im
deutschen, schwedischen und ungarischen Reichstag, im
preußischen, anhaltischen und württembergischen Landtag,
in mehreren preußischen Provinziallandtagen und im
Großen Rat zu Bern dient die Stolzesche Stenographie wie
deren Übertragungen teils allein, teils neben andern Systemen
zur amtlichen Aufnahme der gehaltenen Reden. Zur größten
Verbreitung als Verkehrsschrift ist das Stolzesche System in der
Schweiz gelangt; ferner besitzt es in seinem Ursprungsland
Preußen sowie in ganz Nord- und Mitteldeutschland außer
Sachsen das Übergewicht, während es in Österreich
und Süddeutschland neben der staatlich gepflegten
Redezeichenkunst Gabelsbergers nicht aufgekommen ist. Von den
Stolzeschen Lehrmitteln wurden mehr als 1/4 Mill. Exemplare
abgesetzt. Infolge der oben erwähnten Systemrevisionen von
1868, 1872 und 1888, denen sich ein Teil der Schule widersetzte,
enstand eine Spaltung in die kleine, unter sich wieder geteilte
altstolzesche und die numerisch bedeutend überwiegende
neustolzesche Richtung. Beide Richtungen zusammen zählen
gegenwärtig 450 Vereine (der älteste und zugleich erste
des europäischen Kontinents der zu Berlin seit 1844) mit
10,500 Mitgliedern und werden durch 20 Fachzeitschriften vertreten,
deren älteste, das "Archiv für Stenographie", seit 1849
erscheint. Nach Gegenden und Provinzen sind diese Vereine in
Verbänden zusammengefaßt. Jede der beiden Stolzeschen
Richtungen besitzt eine eigne Organisation; an der Spitze der
Neustolzeaner steht der Vorstand des Verbandes Stolzescher
Stenographenvereine (Sitz Berlin), während die vereinigten
altstolzeschen Körperschaften in dem Vorstand der
Verbände (Sitz Berlin) eine leitende Stelle besitzen. Aus dem
Stolzeschen System sind mehrere abgeleitete Systeme hervorgegangen,
z. B. die von Erkmann (1876), Velten (1876), Lentze (1881). Vgl.
"Systemurkunde der deutschen Kurzschrift von W. S." (Berl. 1888);
Stolze, Anleitung zur deutschen Stenographie (52. Aufl., das.
1889); Derselbe, Ausführlicher Lehrgang der deutschen
Stenographie (9. Aufl., das. 1886); Frei, Lehrbuch der deutschen
Stenographie (9. Aust., Wetzikon 1889); Käding, Der Unterricht
in der Stolzeschen Stenographie (2. Aufl., Berl. 1885);
Knövenagel und Ryssel (Altstolzeaner), Vollständiges
praktisches Lehrbuch der deutschen Stenographie (7. Aufl., Hannov.
1886); Simmerlein, Das Kürzungswesen in der stenographischen
Praxis (4. Aufl., Berl. 1887); Knövenagel, Redezeichenkunst
oder deutsche Kurzschrift? (3.Aufl., Hannover 1880); F. Stolze,
Gabelsberger oder S.? (Berl. 1864); Häpe, Die Stenographie als
Unterrichtsgegenstand (Dresd. 1863); Kaselitz, Kritische
Würdigung der deutschen Kurzschriftsysteme von S.,
Gabelsberger und Arends (Berl. 1875); Miller, Die Stenographien von
S. und Faulmann (Wien 1886); Steinbrink, Zur Entstehungsgeschichte
des Stolzeschen Systems (im "Archiv für Stenographie" 1885);
Müller, Die Organisationsbestrebungen der Stolzeschen Schule
(Berl. 1883); Krumbein, W. S. und der Entwicklungsgang seiner
Schule (Dresd. 1876); Mitzschke, Museum der Stolzeschen
Stenographie (2. Aufl., Berl. 1877); Alge, Geschichte der
Stenographie in der Schweiz (Gossau 1877); "Serapeum der
Stolzeschen Stenographie" (Berl. 1874, Nachtrag 1876).

Stölzel, 1) Karl, Technolog, geb. 17. Febr. 1826 zu
Gotha, studierte in Jena und Heidelberg Staatswirtschaftslehre,
dann Naturwissenschaft und besonders Chemie in Berlin und unter
Liebigs Leitung in Gießen. Er habilitierte sich 1849 in
Heidelberg als Privatdozent, war in der Folge Lehrer an den
Gewerbeschulen zu Kaiserslautern und Nürnberg und

349

Stolzenau - Stopfbüchse.

wurde 1868 als Professor der chemischen Technologie und
Metallurgie an die technische Hochschule in München berufen.
S. war auch bei den Weltausstellungen zu London 1851, Paris 1867
und Wien 1873 amtlich beschäftigt und an der Berichterstattung
über die letzten beiden beteiligt. Sein Hauptwerk ist die
"Metallurgie" (Braunschw. 1863-86, 2 Bde.).

2) Adolf, Rechtsgelehrter, Bruder des vorigen, geb. 28. Juni
1831 zu Gotha, studierte in Marburg und Heidelberg, war 1860-66
Richter beim Kasseler Stadtgericht und Obergericht, trat dann in
den preußischen Staatsdienst und wurde 1872 zum
Kammergerichtsrat, 1873 zum Ministerialrat in Berlin ernannt, wo er
gleichzeitig seit 1875 als Mitglied der obersten
Justizprüfungsbehörde fungiert, deren Präsident er
seit 1886 ist. Von seinen zahlreichen rechtswissenschaftlichen
Arbeiten sind hervorzuheben das im Verein mit andern anonym
herausgegebene "Handbuch des kurhessischen Zivil- und
Zivllprozeßrechts" (Kassel 1860-61, 2 Bde.); "Die Lehre von
der operis novi nunciatio und dem interdictum quod vi aut clam"
(Götting. 1863): "Kasseler Stadtrechnungen aus der Zeit von
1468 bis 1553" (Kassel 1871); "Die Entwickelung des gelehrten
Richtertums in deutschen Territorien" (Stuttg. 1872) ; "Das Recht
der väterlichen Gewalt" (Berl. 1874); "Das
Eheschließungsrecht im Geltungsbereich des preußischen
Gesetzes vom 9. März 1874" (das. 1874 u. öfter);
"Wiederverheiratung eines beständig von Tisch und Bett
getrennten Ehegatten" (das. 1876); "Deutsches
Eheschließungsrecht nach amtlichen (Ermittelungen als
Anleitung für die Standesbeamten" (das. 1876 u. öfter);
"Karl Gottlieb Svarez" (das. 1885); "Brandenburg-Preußens
Rechtsverwaltung und Rechtsverfassung, dargestellt im Wirken ihrer
Landesfürsten und obersten Justizbeamten" (das. 1888, 2 Bde.).
Schon 1872 zum Ehrendoktor der Universität Marburg promoviert,
wurde S. 1887 zum ordentlichen Honorarprofessor der
Universität Berlin ernannt.

Stolzenau, Flecken und Kreishauptort im preuß.
Regierungsbezirk Hannover, an der Weser, hat eine evang. Kirche,
ein Schloß, ein Amtsgericht, Branntweinbrennerei,
Seifenfabrikation, Lachsfischerei, Wollhandel, Schiffahrt und
(1885) 1483 Einw.

Stolzenfels, Bergschloß im preuß.
Regierungsbezirk und Kreis Koblenz, am linken Rheinufer, bei dem
Dorf Kapellen, war im Mittelalter häufig die Residenz der
Erzbischöfe von Trier und ward 1689 von den Franzosen in
Trümmer gelegt. 1836-45 ward das Schloß nach Schinkels
Plan im mittelalterlichen Stil in großartiger Weise neu
aufgeführt und im Innern mit allerlei Kunstwerken, darunter
Freskomalereien von Deger, Lasinsky, Stilke etc.,
geschmückt.

Stolzer Tritt, in der Reitkunst, s. Piaffe.

Stolzit, s. Wolframbleierz.

Stoma (griech.), Mund, Mündung.

Stomachika (lat.), die Verdauung anregende Mittel, s.
Digestivmittel.

Stomachus (lat.), der Magen.

Stomakace (griech.), Mundfäule, s.
Mundkrankheiten.

Stomatitis (griech.), Entzündung der
Mundschleimhaut, s. Mundkrankheiten.

Stomatoskop (griech.), Instrument zur Untersuchung des
Mundes, besonders der Zähne, beruht auf einer Durchleuchtung
derselben mittels galvanisch weißglühenden Drahts, der
von einem Glasmantel umgeben ist, oder mittels des Drummondschen
Kalklichts und soll die ersten Anfänge von Erkrankungen
erkennbar machen; vgl. Beleuchtungsapparate.

Stone (engl., spr. stohn, "Stein"), Handelsgewicht, s.
Avoirdupois.

Stone (spr. stohn), Stadt in Staffordshire (England), am
Trent, mit Brauereien und (1881) 5669 Einw.

Stonehaven (spr. stóhn-hewen), Hauptstadt von
Kincardineshire (Schottland), an der Mündung des Carron in die
Nordsee, hat einen kleinen Hafen, Fischerei und (1881) 3957 Einw.
Dabei das Schloß Dunnottar (s. d.).

Stonehenge (spr. stohn-hendsch, "hängender Stein"),
eins der imposantesten vorgeschichtlichen Bauwerke bei Amesbury in
der englischen Grafschaft Wilts auf der Heide von Salisbury. Der
Bau bestand einstmals aus einem kreisrunden Säulengang von ca.
88 m im Durchmesser, welcher einen Kreis von einzeln stehenden
mächtigen Steinen (Menhirs) umgab. Innerhalb dieses zweiten
Kreises folgte ein eiförmiger Ring aus Trilithen (zwei
aufrecht stehende Steine, welche eine Felsplatte tragen) und in
diesem wiederum Menhirs in gleicher Anordnung. Dieser vierfache
Ring von unbehauenen oder nur roh zugehauenen Granitblöcken
war von einem Wassergraben umgeben. Ungefähr 30 m von dem
äußern Ring entfernt ragt ein einzeln stehender
Felsblock empor; am Horizont schließt ein andrer gewaltiger
Ring von Felsblöcken dieses merkwürdige Bauwerk, welches
die meisten Archäologen als ein von einer Nekropole umgebenes
Heiligtum betrachten, ein.

Stonington, Hafenstadt im nordamerikan. Staat
Connecticut, Grafschaft New London, am Long Island-Sound, hat
Seebäder, Dampfschiffsverbindung mit New York und Boston und
(1880) 1755 Einw.

Stonsdorf (Stohnsdorf), Dorf im preuß.
Regierungsbezirk Liegnitz, Kreis Hirschberg, östlich von
Warmbrunn, hat eine evang. Kirche, ein Schloß, Bierbrauerei,
Likörfabrikation und (1885) 680 Einw.; dabei der Prudelberg,
470 m hoch, mit wunderbaren Felspartien.

Stonyhurst (spr. stóhni-hörrst),
Jesuitenseminar und Schule in Lancashire (England), in einem
Seitenthal des Ribble, 10 km nördlich von Blackburn, 1794
gegründet.

Stoof, altes Hohlmaß, besonders in den russischen
Ostseeprovinzen, =1,275-1,530 Liter.

Stoos (Stoß), Luftkurort im schweizer. Kanton
Schwyz, 1293 m ü. M., südöstlich von Brunnen, hoch
über dem Vierwaldstätter See, unterhalb der Fronalp.

Stoósz, Bergstadt im ungar. Komitat Abauj-Torna,
hat (1881) 1076 slowakische und deutsche Einwohner, Eisenwerke und
Messerfabriken. 1 km entfernt liegt (622 m ü. M.) der
klimatische Kurort S. mit Wasserheilanstalt u. eisenhaltigen
Quellen.

Stopfbüchse (Stopfbuchse), Maschinenelement, welches
eine Öffnung in einer Gefäßwand dampf-, luft- oder
wasserdicht machen soll, wenn durch dieselbe eine bewegliche
Stange, z. B. die Kolbenstange einer Dampfmaschine, hindurchgeht.
Es hat in der Regel die nebenstehende Form; a ist die
Gefäßwand mit dem Stopfbüchsenunterteil, b die
Brille, welche durch Schrauben gegen erstere angedrückt werden
kann. Der

Stopfbüchse.

350 Stopfen - Storch.

Raum c enthält das Dichtungsmaterial (Packung), aus
Hanfzöpfen mit Talg oder einer mit Talkum gefüllten
Baumwollschnur oder aus Asbest bestehend. Durch Anziehen der
Schrauben wird die vollkommene Dichtigkeit hergestellt. Die
vielfach gemachten Versuche, die bisher gebräuchlichen, oft zu
erneuernden Packungsmaterialien durch eine dauerhaftere
Metallliderung, wie bei den Kolbendichtungen, zu ersetzen, haben
bisher noch zu keinem brauchbaren Resultat geführt.

Stopfen, eine Nadelarbeit, durch welche die fehlenden oder
zerrissenen Fäden einer Strickarbeit oder eines Gewebes
ersetzt werden. Man bedient sich beim S. einer Strickarbeit
desselben Materials, aus dem das beschädigte Stück
hergestellt ist. Zum S. eines Kleiderstoffs nimmt man am besten
ausgezogene Fäden eines neuen Stücks desselben Stoffes.
Bei leinenen Geweben verwendet man Glanzgarn, bei baumwollenen
Stopfgarn (Twist). Die Stopffäden dürfen nur lose gedreht
sein, damit sie gut füllen. Die Stopfnadeln sind lang, vom
Anfang bis zum Ende fast gleich stark, haben ovales Öhr und
stumpfe Spitze. Da die Stopfe möglichst genau das Gewebe
nachahmen soll, gibt es verschiedene Stopfstiche (Leinen-,
Köper-, Damast-, Tüll-, Strickstopfstiche etc.). Die
Gewebestopfen unterscheiden sich durch die zur Herstellung des
Musters verschiedene Anzahl der aufgenommenen Fäden. Die
Strickstopfe bildet Maschen, die Tüllstopfe ahmt die
eigentümliche, aber gleichmäßige Art des Gewebes
nach. Zur Herstellung einer Gewebestopfe zieht man zuerst die
parallel nebeneinander liegenden Kettenfäden ein und danach
die quer durchlaufenden Einschlagfäden, mit welchen man das
Muster bildet. Beide müssen so weit durch den Stoff gezogen
werden, wie derselbe schadhaft ist. Alle Gewebestopfen werden auf
der linken Seite ausgeführt. Zum S. einer Strickerei verwendet
man außer der Maschen- auch die Gitterstopfe, welche
vollkommen der Leinwandstopfe gleicht. Die Fäden des
Tülls laufen in drei Richtungen. Man zieht zuerst die
schrägen, sich kreuzenden Fäden ein und dann die
wagerechten, welche die andern befestigen.

Stopfer, s. Steckling.

Stoppelrübe, s. Raps.

Stoppelschwamm, Pilz, s. v. w. Hydnum repandum.

Stoppine (ital.), ein früher zur Entzündung von
Geschützladungen dienendes Ende Zündschnur in
Papierhülse, auch die Zündschnur selbst.

Stor (schwed.), in zusammengesetzten Ortsnamen
vorkommend, bedeutet "groß".

Stör (Acipenser L.), Gattung aus der Ordnung der
Schmelzschupper und der Familie der Störe (Acipenserini),
Fische mit gestrecktem, mit fünf Reihen großer,
gekielter Knochenschilder bedecktem Körper, gestreckter,
unbeweglicher Schnauze, unten mit vier Barteln und
unterständigem, weit nach hinten gerücktem, kleinem,
zahnlosem Maul. Der Kopf ist von Knochenplatten dicht und
vollständig eingehüllt, und über dem Kiemendeckel
befindet sich jederseits ein Spritzloch. Die nicht mit Knochen
belegten Hautstellen sind durch kleinere oder größere
Knochenkerne oder Knochenspitzen rauh. Die zwei Flossenpaare sowie
die drei unpaarigen Flossen werden von gegliederten, biegsamen
Knochenstrahlen gestützt, nur die beiden Brustflossen besitzen
außerdem einen starken Knochen als ersten Flossenstrahl. Die
kurze Rückenflosse steht dicht vor der Afterflosse, das nach
aufwärts gebogene, den obern Lappen der großen
Schwanzflosse bildende Schwanzende ist sensenförmig
gekrümmt. Der gemeine Stör (A. Sturio L., s. Tafel
"Fische II", Fig. 20), bis 6, meist nur 2 m lang, mit
mäßig gestreckter Schnauze, einfachen Bartfäden,
dicht aneinander gereihten, großen Seitenschildern und vorn
und hinten niedrigen, in der Mitte hohen Rückenschildern, ist
oberseits bräunlich, unterseits weiß, bewohnt den
Atlantischen Ozean, die Nord- und Ostsee und das Mittelmeer, geht,
um zu laichen, bis Mainz, Minden, Böhmen, Galizien und liefert
viel Elbkaviar und Hausenblase. Der Sterlett (A. Ruthenus L.), 1 m
lang, bis 12 kg schwer, mit langgestreckter, dünner Schnauze,
ziemlich langen, nach innen gefransten Bartfäden, nach hinten
an Höhe zunehmenden und in eine scharfe Spitze endigenden
Rückenschildern, ist oberseits dunkelgrau, unterseits heller,
bewohnt das Kaspische und Schwarze Meer und steigt in der Donau bis
Ulm empor; er liefert Kaviar und Hausenblase. Der Scherg
(Sternhausen, Sewruga, A. stellatus Pall.), 2 m lang, bis 25 kg
schwer, mit sehr langer, schwertförmiger, spitzer Schnauze,
einfachen Bartfäden, voneinander getrennten Seiten- und nach
hinten an Höhe zunehmenden, in eine Spitze endigenden
Rückenschildern, ist auf dem Rücken rötlichbraun,
oft blauschwarz, an den Seiten und am Bauch weiß, bewohnt das
Schwarze und Kaspische Meer und liefert Kaviar und Hausenblase. Der
Osseter (Esther, Waxdick, A. Gueldenstaedtii Brandt), 2-4 m lang,
mit kurzer, stumpfer Schnauze, einfachen Bartfäden u.
sternförmigen Knochenplättchen, ist dem S. ähnlich
gefärbt, bewohnt die Flußgebiete des Schwarzen und
Kaspischen Meers, gelangt bisweilen nach Bayern, liefert Kaviar und
Hausenblase. Der Hausen (A. Huso L.), bis 8 m lang und 1600 kg
schwer, mit kurzer Schnauze, platten Bartfäden, vorn und
hinten niedrigen, in der Mitte höhern Rückenschildern und
kleinen, voneinander getrennt stehenden Seitenschildern, ist
oberseits dunkelgrau, unterseits schmutzig weiß, bewohnt das
Schwarze Meer und liefert die größte Menge des
russischen Kaviars, auch Hausenblase. Die Störe leben am
Grunde der Gewässer und bewegen sich in Sand oder Schlamm halb
eingebettet langsam fort, mit der Schnauze Nahrung suchend. Diese
besteht aus Würmern, Weichtieren und Fischen, welch letztere
sie jagend verfolgen. Sie wandern in Gesellschaften von März
bis Mai, legen ihre zahlreichen Eier am Grunde der Flüsse ab
und kehren bald ins Meer zurück, während die Jungen
lange, vielleicht zwei Jahre, in den Flüssen verweilen. Im
Spätherbst gehen sie wieder in die Flüsse, um, mit den
Köpfen in den Schlamm vergraben, Winterschlaf zu halten. Durch
die rücksichtslose Verfolgung hat die Zahl der Störe
stark abgenommen. Die großartigsten Fischereien befinden sich
in den Strömen, welche ins Schwarze und Kaspische Meer
münden, an den Mündungen der Wolga, des Dnjestr, Dnjepr,
der Donau und in der Meerenge von Jenikale oder Kaffa. Das Fleisch
aller Störe ist wohlschmeckend und kommt frisch, gesalzen und
geräuchert in den Handel. Es wurde schon von den Alten
hochgeschätzt, und in England und Frankreich gehörte es
zu den Vorrechten der Herrscher, Störe für den eignen
Bedarf zurückzuhalten.

Stör, Fluß in der preuß. Provinz
Schleswig-Holstein, entspringt südwestlich von
Neumünster, ist 75 km lang (40 km schiffbar) und mündet
rechts unterhalb Glückstadt bei Störort in die Elbe.

Storax, Storaxbalsam, s. Styrax.

Storaxbaum, Pflanzengattung, s. v. w. Styrax;
amerikanischer S., s. Liquidambar.

Storch (Ciconia L.), Gattung aus der Ordnung der Reiher-
oder Storchvögel und der Familie der Störche (Ciconiidae)
, verhältnismäßig plump ge-

351

Storch - Storchschnabel.

baute Tiere mit langem, kegelförmigem, geradem, an den
scharfen Schneiden stark eingezogenem Schnabel, hohen, weit
über die Fersengelenke hinauf unbefiederten Beinen, unten
breiten Zehen, deren äußere und mittlere bis zum ersten
Gelenk durch eine Spannhaut verbunden sind, stumpfen, glatten
Krallen, langen, breiten, ziemlich stumpfen Flügeln, in
welchen die dritte und vierte Schwinge am längsten sind,
kurzem, abgerundetem Schwanz und oft nackten Stellen an Kopf und
Hals. Sie sind über alle Erdteile verbreitet, am
häufigsten in den heißen; sie bevorzugen ebene,
wasserreiche, waldige Gegenden, ruhen nachts und nisten auf
Bäumen, einzelne aber mit Vorliebe auf Gebäuden. Sie
fliegen sehr schön, gehen schreitend, waten gern im Wasser,
schwimmen aber nur im Notfall; ihre Stimme besteht nur in Zischen,
dafür klappern sie mit dem Schnabel besonders in der Erregung
sehr laut. Sie leben gesellig, manche als halbe Haustiere, ohne
indes jemals ihre Selbständigkeit aufzugeben. Sie stellen
allen Tieren nach, welche sie bewältigen können, und sind
sehr raubgierig; einzelne fressen auch Aas. Der weiße S.
(Adebar, Ebeher, Honoter, Haus-, Klapperstorch, C. alba L.), 110 cm
lang, 225 cm breit, ist weiß mit Ausnahme der schwarzen
Schwingen und längsten Deckfedern; die Augen sind braun, der
kahle Fleck um dieselben grauschwarz, Schnabel und Füße
sind rot. Er bewohnt Europa mit Ausnahme des höchsten Nordens,
auch Vorderasien, Persien, Japan, die Atlasländer und die
Kanaren, ist aber höchst selten in England, in fast ganz
Griechenland seit dem Unabhängigkeitskrieg ausgerottet;
häufig findet er sich in Norddeutschland und Westfalen; im
Gebirge ist er unbekannt. Im Winter durchschweift er ganz Afrika
und Indien. In Norddeutschland erscheint er etwa Mitte März
und weilt bis Mitte August. Er baut sein Nest aus groben Reisern
auf starken Bäumen, am liebsten auf den Dächern der
Häuser in Städten und Dörfern, und das
wiederkehrende Paar bezieht stets das alte Nest wieder. Er
nährt sich von Fröschen, Schlangen, Eidechsen, nackten
Schnecken, Fischen, Regenwürmern, Mäusen,
Maulwürfen, jungen Hasen, mancherlei Insekten (Bienen!),
plündert aber auch die Nester aller Bodenbrüter,
verschlingt die Eier und die Jungen und zeigt bisweilen große
Mordlust. Die unverdaulichen Bestandteile seiner Nahrung speit er
in Gewöllen aus. Der angeschossene S. kann Menschen und Hunden
gefährlich werden. Die Ehe des Storchenpaars wird im
allgemeinen für das ganze Leben geschlossen, doch hat man
mehrfach Fälle von Untreue beobachtet. Das einmal
begründete Nest wird von demselben Paar lange Jahre benutzt,
aber jährlich ausgebessert. Mitte oder Ende April legt das
Weibchen 2-5 weiße Eier und brütet sie in 28-31 Tagen
aus. Vor dem Abzug versammeln sich alle Störche einer Gegend,
und unter großem Geklapper bricht endlich das ganze Heer auf.
Man kann die Jungen leicht zähmen, so daß sie auf dem
Hof unter dem andern Geflügel herumlaufen. Der schwarze S. (C.
nigra Bechst.), 105 cm lang, 198 cm breit, ist schwärzlich,
mit grünem und Purpurschiller, an Brust und Bauch weiß;
das Auge ist braun, Schnabel und Fuß rot. Er bewohnt Mittel-
und Südeuropa, viele Länder Asiens, im Winter Afrika,
brütet in ruhigen Waldungen der norddeutschen Ebene, weilt bei
uns von Ende März bis August, hat die Lebensweise des
Hausstorchs, ist aber viel scheuer und wird oft der Fischerei
schädlich. Bei uns brütet er einzeln, in Ungarn aber
bildet er Siedelungen, in welchen 20 und mehr Nester in kurzen
Entfernungen voneinander stehen. Das Weibchen legt 2-5 Eier und
brütet dieselben in vier Wochen aus. Der S. ist allenthalben
ein gern gesehener Gast, der mitunter selbst abergläubische
Achtung genießt, indem sein Nest das Haus gegen Blitz und
Feuersgefahr schützen soll. Auch bei den mohammedanischen
Völkern wird er sehr respektiert, weil er zur Verminderung
schädlicher Reptilien viel beiträgt. In der Mythologie
repräsentiert der S. die regnerische winterliche Jahreszeit.
Aus der Wolke oder dem Winter kommt die junge Sonne, das
Heldenkind, heraus, daher der deutsche Kinderglaube, daß die
Störche die Kinder aus dem Wasser bringen.

Storch, Ludwig, Schriftsteller, geb. 14. April 1803 zu
Ruhla bei Eisenach, studierte in Göttingen und Leipzig
Theologie, wandte sich jedoch, von Not und Beruf getrieben,
früh der schriftstellerischen Laufbahn zu, welche sich
äußerlich zu einer vielbewegten gestaltete und ihm den
Segen einer ruhigen Existenz und eines festen Aufenthalts nicht zu
gewähren vermochte. Am längsten hielt es ihn in Leipzig
und Gotha. Seit 1866 lebte er zu Kreuzwertheim in Franken, wo er 5.
Febr. 1881 starb. Storchs Talent ist ein begrenztes; doch erfreuen
seine "Erzählungen und Novellen" (Leipz. 1853-62, 31 Bde.),
wenn sie auch des tiefern poetischen Gehalts ermangeln, ebenso wie
seine "Gedichte" (das. 1854) als der Ausdruck eines patriotisch und
freisinnig gestimmten Geistes und eines warm empfindenden
Gemüts. Die beliebtesten unter den erzählenden Schriften
waren: "Der Freiknecht" (Leipz. 1829, 3 Bde.); "Die Freibeuter"
(das. 1832, 3 Bde.); "Der Jakobsstern" (Frankf. 1836 bis 1838, 4
Bde.); "Die Heideschenke" (Bunzl. 1837, 3 Bde.); "Max von Eigl"
(Leipz. 1844, 3 Bde.); "Ein deutscher Leinweber" (das. 1846-50, 9
Bde.) und "Leute von gestern" (das. 1852, 3 Bde.). Seinen
"Poetischen Nachlaß" gab Alex. Ziegler (Eisenach 1882)
heraus.

Storchnest, Stadt im preuß. Regierungsbezirk Posen,
Kreis Lissa, hat eine evangelische und eine kath. Kirche, ein
Demeritenhaus (Disziplinarstrafanstalt für Geistliche) und
(1885) 1693 Einw.

Storchschnabel, Pflanzengattung, s. Geranium.

Storchschnabel (Pantograph, früher auch Affe), ein
zuerst von Christ. Scheiner 1635 in seiner "Pantographia seu ars
delineandires quaslibet" beschriebenes Instrument zur
Übertragung von Zeichnungen in verkleinertem oder
vergrößertem Maßstab. Die jetzt üblichste
Einrichtung zeigt die beistehende Figur. AB, BC, CD, DA sind vier
Lineale, die in den Punkten A, B, C, D drehbar miteinander
verbunden sind. Eine Ecke C, auf dem Zeichentisch befestigt, bildet
den Drehpunkt (Pivot), die diagonal gegenüberliegende Ecke A
trägt den Fahrstift, welcher mittels einer Handhabe auf der zu
reduzierenden Zeichnung geführt wird. D und B sind mit Kugeln
oder Rollen versehen. Eine fünfte, parallel AD verstellbare
Leitschiene trägt den Zeichenstift G, welcher mit AG in
gerader Linie liegt. Er wird so eingestellt, daß der Abstand
GC zu CA sich verhält wie der Maßstab der reduzierten
Zeichnung zur Originalzeichnung. Soll eine Zeichnung
vergrößert werden, so wird G der Fahrstift und A der
Zeichenstift. Die Schienen erhalten eine einfache Teilung mit
Nonien oder eine transversale Teilung. Bei den schweben-

352

Storchschnabelgewächse - Störungen.

den Pantographen fällt die Schiene AD fort, das Instrument
hängt mittels Drähte an einem kranenartigen Gestell, so
daß nur der Fahrstift auf der Zeichnung ruht. Das Instrument
ist mit einer Libelle, das Gestell mit Dosenniveau versehen.

Storchschnabelgewächse, s. Geraniaceen.

Storchvögel (Reihervögel), s. v. w.
Watvögel.

Storck, Wilhelm, Romanist und Übersetzer, geb. 5.
Juli 1829 zu Letmathe in Westfalen, studierte von 1850 an in
München, Münster und Bonn, später noch in Berlin
Philologie und wurde 1859 außerordentlicher, 1868
ordentlicher Professor der deutschen Sprache und Litteratur an der
Akademie zu Münster, wo er außer seiner Fachwissenschaft
zeitweise auch Sanskrit sowie Provencalisch, Italienisch, Spanisch
und Portugiesisch lehrt. Litterarisch hat er sich namentlich als
Übersetzer verdienten Ruf erworben. Seinem Werk "Lose Ranken.
Ein Büchlein Catullischer Lieder" (Münst. 1867) und dem
"Buch der Lieder aus der Minnezeit" (das. 1872) folgten als sein
Hauptwerk "Luis de Camoens' sämtliche Gedichte. Zum erstenmal
deutsch" (Paderb. 1880-85, 6 Bde.), denen sich "Hundert
altportugiesische Lieder" (das. 1885) und "Ausgewählte Sonette
von Anthero de Quental" (das. 1887) anschlossen. S. hat auch
Ausgaben der Gedichte von L. Ponce de Leon (Münst. 1853), Juan
de la Cruz und Teresa de Jesus (das. 1854) sowie des
Minnesängers von Sahsendorf (das. 1868) besorgt.

Store (franz., spr. stör), s. v. w. Rouleau (s.
d.).

Store (engl., spr. stohr), Vorrat, Lager.

Storfjord (auch Wijbe Jans Water), Meerbusen im
südlichen Teil von Spitzbergen, zwischen der Hauptinsel
einerseits, Barentsinsel und Edgeinsel anderseits. Zwischen den
Inseln führen die Walter Thymen-Straße und der Helissund
nach O. Im SO. liegen die Tausend Inseln.

Störkanal, s. Elde.

Storkow, Stadt im preuß. Regierungsbezirk Potsdam,
Kreis Beeskow-S., am Dolgensee und am Storkower Kanal, der, 28 km
lang, aus dem Scharmützelsee in die Dahme führt, hat eine
evang. Kirche, ein Amtsgericht, eine Dampfmahl- und
Ölmühle, Tabaksfabrikation und (1885) 2025 Einw. Die
Herrschaft S. kam 1555 durch Kauf an Brandenburg.

Storm, Theodor Woldsen, Dichter und Novellist, geb. 14.
Sept. 1817 zu Husum in Schleswig, studierte Rechtswissenschaft zu
Kiel und Berlin, wo er mit dem Brüderpaar Theodor und Tycho
Mommsen in nähere Verbindung trat, und ließ sich nach
abgelegter Staatsprüfung 1842 als Advokat in seiner Vaterstadt
nieder, verlor aber 1853 als Deutschgesinnter sein Amt und ward
hierauf erst als Gerichtsassessor zu Potsdam, dann als Landrichter
zu Heiligenstadt angestellt. Nach der Befreiung Schleswig-Holsteins
ging er 1864 nach Husum zurück, wo er zunächst zum
Landvogt, 1867 zum Amtsrichter und 1874 zum Oberamtsrichter
befördert wurde. Seit 1880 als Amtsgerichtsrat quiesziert,
siedelte er nach dem Kirchdorf Hademarschen über, wo er 3.
Juli 1888 starb. S. nimmt unter den Lyrikern, besonders aber unter
den Novellisten der Gegenwart einen vordersten Rang ein. Als
ersterer führte er sich mit dem im Verein mit den beiden
Mommsen herausgegebenen "Liederbuch dreier Freunde" (Kiel 1843) in
die Litteratur ein; "Sommergeschichten und Lieder" (Berl. 1851) und
ein Band "Gedichte" (das. 1852, 8. Aufl. 1888) folgten nach.
Besonders letztere brachten ihm stets wachsende Anerkennung ein.
Der Dichter S. erweist sich als eine tiefsinnige, dabei frische und
warmblutige Natur, welche den tausendmal besungenen uralten Themen
der Lyrik den Stempel des eigensten Empfindens und Genießens
aufdrückt. Reicher und mannigfaltiger noch sind seine Gaben
auf dem Gebiet der Novellistik. Nachdem er 1852 mit der
vielgelesenen, poetisch duftigen Novelle "Immensee" (31. Aufl.,
Berl. 1888) aufs glücklichste debütiert, ließ er
zahlreiche andre Erzählungen und Novellen erscheinen, die
sämtlich Stimmungsbilder von einer Tiefe, Zartheit und Kraft
der Empfindung sind, wie sie nur eine ursprüngliche und echte
Dichternatur schaffen kann. Der Kreis des Lebens, den er
darzustellen liebt, ist eng, aber innerhalb dieses engen Kreises
waltet Lebensfülle und Lebensglut; der norddeutsche
Menschenschlag mit seiner Eigenart, seinem tiefinnerlichen
Phantasie- und Gemütsreichtum findet sich in Storms
Geschichten in einer fast unerschöpflichen Mannigfaltigkeit
der Charaktere geschildert. Dabei ist seine Vor-tragsweise
künstlerisch fein und durchgebildet. Die Titel seiner meist
vielfach aufgelegten Novellen sind: "Im Sonnenschein", drei
Erzählungen (Berl. 1854); "Ein grünes Blatt", zwei
Erzählungen (das. 1855); "Hinzelmeier" (das. 1856); "In der
Sommermondnacht" (das. 1860); "Drei Novellen" (das. 1861); "Lenore"
(das. 1865); "Zwei Weihnachtsidyllen" (das. 1865); "Drei
Märchen" (Hamb. 1866; 3. vermehrte Aufl. u. d. T.:
"Geschichten aus der Tonne", 1888); "Von jenseit des Meers"
(Schlesw. 1867); "Zerstreute Kapitel" (Berl. 1873); "Novellen und
Gedenkblätter" (Braunschw. 1874); "Waldwinkel etc." (das.
1875); "Ein stiller Musikant. Psyche. Im Nachbarhause links" (das.
1877); "Aquis submersus" (Berl. 1877); "Carsten Curator" (das.
1878); "Neue Novellen" (das. 1878); "Drei neue Novellen"
("Eekenhof" etc., das. 1880); "Die Söhne des Senators" (das.
1881); "Der Herr Etatsrat" (das. 1881); "Schweigen" und "Hans und
Heinz Kirch" (das. 1883); "Zur Chronik von Grieshuus" (das. 1884);
"Ein Bekenntnis" (das. 1887); "Der Schimmelreiter" (das. 1888) etc.
Außerdem besitzen wir von S. eine wertvolle kritische
Anthologie: "Hausbuch aus deutschen Dichtern seit Claudius" (4.
Aufl., Braunschw. 1877). Eine Gesamtausgabe seiner Schriften
erschien in 18 Bänden (Braunschw. 1868-88). Vgl. Erich
Schmidt, Theodor S. (in "Charakteristiken", Berl. 1886), und die
Biographien von Schütze (das. 1887) und Wehl (Altona
1888).

Stormarn, Landschaft im südlichen Teil der
preuß. Provinz Schleswig-Holstein, bildet ein Dreieck,
welches im N. durch die Stör von dem eigentlichen Holstein, im
O. durch die Trave von Wagrien und durch die Bille von
Sachsen-Lauenburg, im SW. durch die Elbe von Hannover geschieden
wird. Sie war mit Holstein stets denselben Fürsten unterthan.
Ein Teil derselben bildet jetzt den Kreis S. mit Wandsbeck als
Kreisstadt.

Storno (Ritorno), s. v. w. Ristorno (s. d.).

Stornoway (spr. stórno-ue), Hafenstadt auf der
Ostküste der Hebrideninsel Lewis, mit großartigem
Fischereibetrieb (Kabeljau, Heringe und Leng) und (1881) 2627 Einw.
Zu seinem Hafengebiet gehören (1887) 695 Fischerboote. S. ist
Sitz eines deutschen Konsuls.

Storozynetz, Hauptort einer Bezirkshauptmannschaft in der
Bukowina, am Sereth, mit Bezirksgericht und (1880) 4852 Einw.

Storthing, die reichsständige Versammlung von
Norwegen (s. d., S. 250).

Störungen (Perturbationen), in der Astronomie die
durch die Anziehung der übrigen Körper des Sonnensystems
bewirkten Änderungen in der Bewegung der Planeten und Kometen
um die Sonne

353

Story - Stosch.

sowie der Monde um ihre Hauptplaneten. Gehörte nur ein
einziger Planet zur Sonne, so würde sich dieser genau nach den
beiden ersten Keplerschen Gesetzen (s. Planeten, S. 109) bewegen.
Durch die Anziehung der Massen der übrigen Planeten wird aber
der Planet gezwungen, von dieser Bewegung abzuweichen. Ein Teil
dieser Abweichungen wiederholt sich nach Verlauf eines gewissen
Zeitraums sowohl der Art als der Größe nach, es sind
dies die periodischen S.; andre, die säkularen S., gehen immer
in derselben Richtung weiter und veranlassen also dauernde
Änderungen der Planetenbahnen. Laplace hat gezeigt, daß
die großen Achsen der Planetenbahnen und daher auch die
Umlaufszeiten keinen säkularen S. unterworfen sind; auch die
Exzentrizitäten und Neigungen der Bahnen unterliegen nicht
eigentlichen säkularen, aber doch periodischen S. von so
langer Dauer, daß sie den Charakter säkularer haben.
Dagegen sind die Längen der Perihelien und der Knoten
säkularen S. unterworfen und können daher im Lauf der
Jahrtausende alle Werte von 0-360° annehmen. Die S. der
großen Planeten sind von Leverrier untersucht worden, der
auch durch eine umgekehrte Störungsrechnung den Planeten
Neptun entdeckte. Weit beträchtlicher als die S., welche die
großen Planeten erleiden, die ziemlich weit voneinander
entfernt sind und sich nahezu in derselben Ebene bewegen, sind
diejenigen, welche die kleinen Planeten und die Kometen erfahren,
weil sie nicht selten in die Nähe größerer
Planeten, namentlich des Jupiter, kommen. Die S. des Mondes
rühren fast ausschließlich von der Sonne her, die von
den Planeten verursachten sind sehr unbedeutend. Die
bemerkenswertesten S. des Mondes sind: die von Ptolemäos (130
n. Chr.) entdeckte Evektion (s. d.), die Variation, von Abul Wefa
im 10. Jahrh. und später von Tycho Brahe entdeckt, welche
ihren größten Wert, 0,65° Länge, in den vier
Oktanten, d. h. den zwischen den Syzygien und Quadraturen in der
Mitte liegenden Punkten, erreicht, in letztern aber verschwindet,
und die jährliche Gleichung, welche die Länge des Mondes
6 Monate lang vermehrt und 6 Monate lang vermindert, in der
mittlern Entfernung der Erde von der Sonne (Anfang April und
Oktober) aber verschwindet. Bemerkenswert sind noch ein paar kleine
S. des Mondes, die von der Sonnenparallaxe und der Abplattung der
Erde abhängen, so daß man umgekehrt aus der Mondbewegung
diese Größen berechnen kann (vgl. Erde und Sonne). Vgl.
Dziobek, Die mathematischen Theorien der Planetenbewegungen (Leipz.
1888).

Story, 1) Joseph, nordamerikan. Staatsmann und
Rechtsgelehrter, geb. 18. Sept. 1779 zu Marblehead bei Boston, ward
als Advokat in seiner Vaterstadt 1805 in das Unterhaus von
Massachusetts gewählt, 1811 zum Richter an dem
alljährlich sich in Washington zur Kongreßzeit
versammelnden Bundesgerichtshof berufen und 1829 zum Professor der
Rechte an der Harvard-Universität zu Cambridge bei Boston
ernannt. Als solcher hatte er über Naturrecht,
Völkerrecht, See- und Handelsrecht, Billigkeitsrecht und
Staatsrecht der Vereinigten Staaten zu lesen und verfaßte
über fast alle diese Disziplinen Lehrbücher, die auch in
England für klassisch gelten. Das für Deutschland
bedeutendste unter diesen Werken sind die "Commentaries on the
constitution of the United States" (4. Aufl., Bost. 1873, 2 Bde.;
deutsch im Auszug, Leipz. 1838). Nach diesen sind hervorzuheben
seine "Miscellaneous writings, literary, critical. juridical and
political" (Bost. 1835). S. starb 10. Sept. 1845 in Cambridge. Vgl.
W. Story, Life and letters ofJ. S. (Lond. 1851).

2) William Wetmore, nordamerikan. Bildhauer und Dichter, Sohn
des vorigen, geb. 19. Febr. 1819 zu Salem in Massachusetts,
studierte Rechtswissenschaft und war eine Zeitlang als praktischer
Jurist thätig, wandte sich dann aber ausschließlich der
Kunst und Litteratur zu und ließ sich 1848 in Rom nieder, wo
er noch lebt. S. schuf teils Idealgestalten, welche sich durch
Größe der Auffassung, geistige Vertiefung und
meisterhafte Marmorbearbeitung auszeichnen, wie z. B. Kleopatra,
Sappho, Judith, Medea, eine Sibylle, Moses, Saul, teils
Porträtstatuen, wie z. B. die seines Vaters, Peabodys
(London), E. Everetts (Boston) und das Nationaldenkmal in
Philadelphia. Von seinen poetischen Werken nennen wir: "Nature and
art" (1844); "Poems" (1847; neue Ausg. 1885, 2 Bde.); "A Roman
lawyer in Jerusalem" (1870, Versuch einer Rettung des
Verräters Judas); die "Tragedy of Nero" (1875); die
Dichtungen: "Ginevra da Siena" (1866, in "Blackwood's Magazine"),
"Vallombrosa" (1881), "He and she, or a poet's portfolio" (1883, 8.
Aufl. 1886) und "Fiammetta, a summer idyl" (1885). Außer der
Biographie seines Vaters (s. S. 1) schrieb er noch: "Roba di Roma,
or walks and talks about Rome" (Lond. l862, 7. Aufl. 1875), wozu
1877 eine Fortsetzung unter dem Titel : "Castel St. Angelo"
erschien; "Proportions of human figure; the new canon" (1866);
"Graffiti d'Italia" (1869, 2. Aufl. 1875) u. a.

Stosch, 1) Philipp, Baron von, Kunstkenner, geb. 22.
März 1691 zu Küstrin, widmete sich theologischen und
humanistischen Studien und suchte dann auf Reisen seine Kenntnis
der alten Kunstdenkmäler auszubilden. Später lebte er als
englischer Agent in Rom und seit 1731 in Florenz, wo er 7. Nov.
1757 starb. Er hinterließ einen reichen Schatz von
Kunstsachen aller Art, Landkarten, Kupferstichen, Zeichnungen (324
Folianten, jetzt in der kaiserlichen Bibliothek zu Wien), Bronzen,
Münzen, besonders aber geschnittenen Steinen, deren Katalog
Winckelmann ("Description des pierres gravées du feu baron
de S.", Flor. 1760) herausgab. Friedrich II. kaufte 1770 die
Hauptsammlung, mit Ausnahme der etrurischen Gemmen, die nach Neapel
verkauft waren, der Prinz von Wales die Sammlung von Abgüssen
neuerer Münzen. Eine Auswahl von Gemmen aus dem Stoschschen
Kabinett, das Merkwürdigste der alten Mythologie
zusammenfassend, findet sich in Schlichtegrolls "Dactyliotheca
Stoschiana" (Nürnb. 1797-1805, 2 Bde.) erläutert. Vgl.
Justi, Briefe des Barons Phil. v. S. (Marb. 1872).

2) Albrecht von, Chef der deutschen Admiralität, geb. 20.
April 1818 zu Koblenz, erhielt seine Erziehung im Kadettenkorps und
trat 1835 als Sekondeleutnant in das 29. Infanterieregiment, ward
1856 Major im Großen Generalstab, 1861 Chef des Generalstabs
des 4. Armeekorps und Oberst, 1866 Generalmajor. Im Kriege gegen
Österreich war er Oberquartiermeister der zweiten Armee, vom
Dezember 1866 bis 1870 Direktor des
Militärökonomiedepartements im Kriegsministerium, ward
1870 Generalleutnant, erhielt im Krieg 1870/71 den schwierigen
Posten eines Generalintendanten der deutschen Heere und erwarb sich
auf demselben durch seine musterhafte Leitung des
Verpflegungswesens die allergrößten Verdienste. Im
Dezember 1870 ward er zum Generalstabschef des Großherzogs
von Mecklenburg und nach dem Friedensschluß zum
Generalstabschef bei der in Frankreich bleibenden
Okkupationsarmee

354

Stoß - Stösser.

ernannt. Am 1. Jan. 1872 ward er Chef der deutschen
Admiralität und Staatsminister sowie Mitglied des Bundesrats
und 1875 zum General der Infanterie und Admiral befördert. S.
entwickelte eine große Energie und Thatkraft, indem er
wissenschaftliche Institute (Seewarte, hydrographisches Büreau
und Marineakademie) schuf, die deutsche Kriegsflotte
beträchtlich vergrößerte, den Bau der Schiffe auf
einheimischen Werften ermöglichte und die straffe Disziplin
der preußischen Landarmee auf die Marine übertrug. Das
letztere Bestreben stieß allerdings vielfach auf Widerstand
seitens der ältern Seeoffiziere. Auch für das
Unglück des Großen Kurfürsten wurde S.
verantwortlich gemacht, zumal er den Admiral Batsch (s. d.) eifrig
in Schutz nahm. Er erhielt 20. März 1883 auf sein Gesuch den
Abschied und lebt in Östrich am Rhein.

Stoß , das Zusammentreffen eines in Bewegung
befindlichen Körpers mit einem andern ebenfalls in Bewegung
oder in Ruhe befindlichen Körper. In Beziehung auf die
Richtung, in welcher beide Körper zusammentreffen, macht man
folgende Unterschiede. Man nennt den S. zentral, wenn die Richtung,
in welcher er erfolgt, mit der Verbindungslinie der Schwerpunkte
beider Körper zusammenfällt; ist diese Bedingung nicht
erfüllt, so nennt man ihn exzentrisch. Ferner nennt man den S.
gerade, wenn die Richtung, in welcher er erfolgt, auf der
Berührungsfläche beider Körper senkrecht steht; ist
dies nicht der Fall, so nennt man ihn schief. Treffen zwei Massen
(m und m'), die sich mit verschiedenen Geschwindigkeiten (v und v')
in derselben Richtung fortbewegen, in geradem, zentralem S.
zusammen, so üben sie, während sie sich berühren,
einen Druck aufeinander aus, infolge dessen die Geschwindigkeit des
vorangehenden vermehrt, die des nachfolgenden vermindert wird. Da
dieser Druck auf beide Massen während derselben Zeit wirkt, so
müssen sich die hervorgebrachten
Geschwindigkeitsveränderungen umgekehrt verhalten wie die
Massen. Sind also c und c' die Geschwindigkeiten der Körper
nach dem S., so verhält sich $c-v:v'-c'=m':m$, woraus folgt,
daß $mc+m'c'=mv+m'v'$. Das Produkt einer Masse mit ihrer
Geschwindigkeit nennt man ihre "Bewegungsgröße"; die
vorstehende Gleichung drückt also aus, daß die Summe der
Bewegungsgrößen vor und nach dem S. die nämliche
ist. Sind die beiden Körper unelastisch, so gehen sie, nachdem
jeder eine Abplattung erfahren hat, vereinigt mit
gemeinschaftlicher Geschwindigkeit weiter, d. h. es ist $c'=c$ und
folglich $(m+m')c=mv+m'v'$. Die gemeinsame Geschwindigkeit nach dem
S. ($c$) ergibt sich demnach, wenn man die Summe der
Bewegungsgrößen durch die Summe der Massen dividiert.
Bewegen sich die Körper in entgegengesetzter Richtung, so ist
die Geschwindigkeit des einen negativ zu rechnen. Mit dem S.
unelastischer Körper ist ein Verlust an lebendiger Kraft
verbunden, welcher für die Zusammendrückung der
Körper, Erzeugung von Wärme, Schall etc. verbraucht wird.
Sind die Körper dagegen vollkommen elastisch, so gleicht sich
die Formänderung sofort wieder aus, indem jeder Körper
seine ursprüngliche Gestalt wieder annimmt; ein Verlust an
lebendiger Kraft findet also hier nicht statt, sondern die Summe
der lebendigen Kräfte muß vor und nach dem S. die
nämliche sein, d. h. es muß $mc^2+m'c'^2=mv^2+m'v'^2$
sein. Diese Bedingung, mit der obigen, daß die Summe der
Bewegungsgrößen ungeändert bleibt,
zusammengenommen, erlaubt auch in diesem Fall, die
Endgeschwindigkeiten c und c' zu bestimmen. Sind z. B. die
elastischen Massen einander gleich, so geht jede nach dem S. mit
derjenigen Geschwindigkeit weiter, welche die andre vor dem S.
besaß: sie vertauschen ihre Geschwindigkeiten. Eine ruhende
Billardkugel z. B., welche von einer bewegten zentral getroffen
wird, nimmt die Geschwindigkeit der letztern an, während diese
an ihrer Stelle in Ruhe bleibt.

Stoß, in der Schweiz die Viehzahl, welche auf ein
Kuhrecht gehalten werden kann (s. Alpenwirtschaft); in der
Jägersprache der Schwanz des Auerhahns (s. Spiel, S. 142).

Stoß, 1) fahrbarer Paß der Appenzeller Alpen
(997 m), führt von Altstätten (470 m) im St. Gallischen
Rheinthal steil hinauf zur Paßhöhe und nun mit geringem
Gefälle abwärts nach Gais (934 m). Hier 17. Juni 1405
Sieg der Appenzeller über Herzog Friedrich von
Österreich. -

2) Luftkurort, s. Stoos.

Stoß, Veit, Bildhauer und -Schnitzer, geboren um
1438 oder 1440 zu Nürnberg, ging 1477 nach Krakau und war dort
bis 1496 thätig. Er schuf daselbst von 1477 bis 1484 den
Hochaltar für die Marienkirche, in dessen Mittelschrein Tod
und Himmelfahrt der Maria in überlebensgroßen,
vollrunden Figuren, auf dessen Flügeln Szenen aus dem Leben
Christi und der Maria in Reliefs dargestellt sind. Nach dem Tode
des Königs Kasimir IV. 1492 arbeitete S. dessen Grabmal aus
rotem Marmor für die Kathedrale zu Krakau. Gleichzeitig
entstand die in Marmor ausgeführte Grabplatte des Erzbischofs
Zbigniew Olesnicki im Dom zu Gnesen und bald darauf der Altar des
heil. Stanislaus für die Marienkirche zu Krakau. 1496 kehrte
S. nach Nürnberg zurück, wo er ebenfalls eine sehr
fruchtbare Thätigkeit in der Anfertigung von in Holz
geschnitzten Altären, Gruppen und Einzelfiguren entfaltete,
deren Umfang zur Zeit noch nicht festgestellt ist. Seine Hauptwerke
sind: ein Relief mit der Krönung der Madonna im Germanischen
Museum zu Nürnberg, eine Statue der Madonna in der
Frauenkirche, der Englische Gruß in der Lorenzkirche (1518
von Anton Tucher gestiftet), vom Gewölbe des Chors
herabhängend und die Figuren des Engels und der Maria in einem
mit sieben Medaillons geschmückten Kranz darstellend (von
einem der Medaillons die Figur der Maria auf Tafel "Bildhauerkunst
VI", Fig. 3), die Meisterschöpfung des Künstlers, und die
Rosenkranztafel im Germanischen Museum. In den Köpfen seiner
Figuren spricht sich innige und zarte Empfindung aus; doch ist die
Formengebung noch gebunden und der Faltenwurf von der krausen
Manier des spätgotischen Stils beherrscht. S. war ein
unruhiger Bürger, welcher dem Rat von Nürnberg viel
Verdruß bereitete. Wegen Fälschung wurde er gebrandmarkt
und beging Verrat an seiner Vaterstadt, den er mit Gefängnis
büßen mußte. Er starb 1533. Vgl. Bergau, Der
Bitdschnitzer Veit S. und seine Werke (Nürnb. 1884).

Stöße, die Wände der Stollen und
Schächte.

Stößen, Stadt im preuß. Regierungsbezirk
Merseburg, Kreis Weißenfels, hat eine evang. Kirche, eine
Zuckerfabrik und (1885) 1404 Einw.; nahebei Braunkohlengruben.

Stösser, Franz Ludwig von, bad. Staatsmann, geb. 21.
Juni 1824 zu Heidelberg aus einer alten, aus Straßburg
stammenden Beamtenfamilie, studierte in Heidelberg Rechts-, Staats-
und Finanzwissenschaft und ward 1855 als Universitätsamtmann
und Mitglied des Spruchkollegiums an der dortigen Universität
angestellt. 1859 wurde er Amtsvorstand in Eppingen und 1862 in
Konstanz, wo er als Mitbegründer des Volkswirtschaftlichen
Vereins für die

355

Stößer - Stoy.

Errichtung von Vorschußvereinen eifrig thätig war und
zu den Führern der deutschen Partei gehörte. Nachdem er
1866-69 den Posten eines Stadtdirektors von Heidelberg bekleidet
hatte, wurde er zum Rat im Ministerium des Innern und zum
Landeskommissar für die Kreise Mosheim, Heidelberg und Mosbach
befördert. Seit 1871 Mitglied der Zweiten Kammer, wurde er
1876 zum Präsidenten des Ministeriums des Innern an Jollys
Stelle ernannt. Nachdem er das Gemeindesteuerwesen zum
Abschluß gebracht hatte, legte er Anfang 1880 der Zweiten
Kammer einen Gesetzentwurf über die Prüfungen der
katholischen Geistlichen vor, der aber nicht den Beifall der
liberalen Mehrheit der Kammer fand und erst in veränderter
Gestalt angenommen wurde. Bei Gelegenheit der Vereinfachung der
badischen Staatsverwaltung ward daher S. 20. April 1881 seines
Ministerpostens enthoben u. zum Senatspräsidenten des
Oberlandesgerichts ernannt und mit der Leitung des evangelischen
Oberkirchenrats beauftragt.

Stößer, f. v. w. Habicht.

Stoßfuge, beim Vermauern von Steinen die senkrechte
Fuge im Gegensatz zur wagerechten Lagerfuge; bei Bogen die mit der
Bogenlinie konzentrische Fuge. Vgl. Gewölbe, S. 311.

Stoßheber, s. Hydraulischer Widder.

Stoßherd, s. Aufbereitung, S. 53.

Stoßmafchine, f. Hobelmaschinen, S. 588, und
Lochen.

Stoßvogel, s. v. w. Habicht.

Stoßwerk, s. v. w. Prägmaschine, s.
Münzwesen, S. 895.

Stötteritz, Dorf in der sächs. Kreis- u.
Amtshauptmannschaft Leipzig, südöstlich bei Leipzig, hat
Eisengießerei und Maschinenfabrikation, Dampfbierbrauerei,
Zigarrenfabrikation, Ziegelei u. (1885) 4980 Einw. In der Nähe
die Irrenanstalt von Thonberg (s. d.).

Stottern und Stammeln, Bezeichnung der fehlerhaften
Sprachweisen, regelwidrigen Lautbildungen und Lautverbindungen,
welche nicht auf einem Mangel in dem anatomischen Bau der
Sprachorgane, sondern lediglich auf mangelhafter Beherrschung
derselben durch den Willen beruhen. Dieser Fehler ist namentlich
bei jüngern Individuen sehr häufig. Er tritt zurück
oder verschwindet, wenn das stotternde Individuum für sich
allein spricht, wenn es singt, mit Pathos deklamiert etc. Sobald
aber diese den Stotternden unbefangen machenden Einflüsse
wegfallen, so tritt ein Mißverhältnis zwischen den
Bewegungen ein, welche zur Lautbildung, und denjenigen, welche zur
Ausatmung dienen. Der Stotternde verweilt nämlich bei seinen
Sprechversuchen unwillkürlich auf der jeweiligen Artikulation
der Sprachorgane zu lange und vermag den Vokal nicht unmittelbar
anzufügen, so daß der exspiratorische Fluß der
Sprache durch die zur Lautbildung erforderlichen Muskelaktionen
nicht momentan, wie im normalen Sprechen, sondern anhaltend
unterbrochen wird. Merkel bezeichnet daher das Stottern einfach als
einen Sprachfunktionsfehler, der darin besteht, daß die
Muskelkontraktionen, die wir zum Zweck der Lautbitdung vornehmen,
nicht von den Ausatmungsbewegungen überwunden werden
können, wie es eigentlich geschehen sollte. Das
Mißverhältnis beruht wahrscheinlich zum großen
Teil auf einem angebornen Moment, welches wir nicht näher
kennen, zum Teil aber sicher auch in einer falschen Erziehung und
Gewöhnung der für die Sprache thätigen
Muskelgruppen. Die Beseitigung des Stotterns erfordert immer
längere Zeit und Geduld, zumal wenn das Übel schon lange
gedauert hat und der Stotternde über die erste Jugend hinaus
ist. Der Stotternde muß tief einatmen, mit voller Lunge und
mit enger Stimmritze ausatmen lernen; die gewaltsame Aktion der
lautbildenden Organe muß mechanisch verhindert und der
Fluß der Rede durch rhythmische Hilfsmittel
herbeigeführt und erhalten werden. Zu diesem Zweck müssen
besondere sprachgymnastische Übungen unter der Leitung eines
mit der Natur des Stotterns vertrauten Lehrers angestellt werden.
Abgesehen von dem eigentlichen Stottern, gibt es auch noch eine
Unfähigkeit, gewisse Sprachlaute zu bilden; diesen
Sprachfehler pflegt man als Stammeln zu bezeichnen. Die Fehler,
welche man hierzu rechnen muß, sind fast so zahlreich, als es
verschiedene Buchstaben gibt. Bemerkenswert ist ein Stammeln,
welches in fehlerhafter Verbindung von Silben und Wörtern
besteht und bei Kindern, namentlich bei Mädchen von 9-10
Jahren, öfter als Symptom des Veitstanzes vorkommt.
Gebildetere Personen, welche in der Jugend an einem solchen Fehler
litten, lernen zuweilen allmählich den Fluß der Rede
dadurch herstellen, daß sie beliebige fremdartige Töne,
Silben oder selbst Wörter (in welchen besonders der Laut ng
und gn vorwaltet) stellenweise ihrer Rede beimischen und damit die
Pausen und Unterbrechungen ausfüllen, welche sonst entstehen
würden. Vgl. Merkel, Anthropophonik (Leipz. 1856);
Kußmaul, Die Störungen der Sprache (2. Aust., das.
1881); Gutzmann, Das Stottern (2. Aufl., Berl. 1887); Coen,
Therapie des Stammelns (Stuttg. 1889); Derselbe, Das
Stotterübel (das. 1889).

Stotternheim, Dorf im sachsen-weimar. Verwaltungsbezirk I
(Weimar), an der Linie Sangerhausen-Erfurt der Preußischen
Staatsbahn, hat eine evang. Kirche, eine Saline (Luisenhall) mit
Solbad und (1885) 1301 Einw.

Stou, 2239 m hoher Berggipfel der Karawanken in
Kärnten.

Stour (spr. staur), Name mehrerer Flüsse in England,
deren wichtigster bei Harwich in die Nordsee fällt.

Stourbridge (spr. staur-bridsch), Stadt im
nördlichen Worcestershire (England), südwestlich von
Dudley, am Stour, hat wichtige Fabrikation von Glas und Glaswaren,
Töpferwaren, feuerfesten Ziegeln und Schmelztiegeln,
Eisenwerke und (1885) 9757 Einw.

Stourdza, s. Sturdza.

Stourport (spr. staur-port), Fabrikstadt in
Worcestershire (England), an der Mündung des Stour in den
Severn, mit Spinnerei, Teppichweberei und (1881) 3358 Einw.

Stout (engl., spr. staut), in England gebrautes starkes,
dunkles Bier, wird vielfach gemischt mit dem hellern Ale oder
Bitter getrunken ("s. and bitter").

Stowe (spr. stoh), Harriet Eliz., s. Beecher 2).

Stowmarket (spr. stohmarket), Stadt in der engl.
Grafschaft Suffolk, am schiffbaren Gipping, hat Fabrikation von
Kunstdünger und landwirtschaftlichen Geräten und (1881)
4052 Einw.

Stoy, Karl Volkmar, namhafter Pädagog, geb. 22. Jan.
1815 zu Pegau, studierte in Leipzig und Göttingen Theologie,
habilitierte sich 1843 als Privatdozent der Philosophie in Jena, wo
er zugleich ein pädagogisches Seminar sowie eine
Erziehungsanstalt gründete, ward 1845 Professor der
Philosophie, 1857 Schulrat; 1865 folgte er einem Ruf an die
Universität zu Heidelberg, begab sich mit Urlaub 1867 nach
Bielitz, um dort ein Lehrerseminar nach seinen Grundsätzen
einzurichten, und kehrte 1868 nach Heidelberg zurück. Seit
1874 wirkte er wieder als Professor und Schulrat in Jena und starb
daselbst 23. Jan. 1885.

356

Strabane - Stradivari.

Seiner philosophischen Richtung nach gehört S. zur Schule
Herbarts. Von seinen Schriften sind hervorzuheben: "Schule und
Leben" (Jena 1844-51, 5 Hefte); "Hauspädagogik in Monologen
und Ansprachen" (Leipz. 1855); "Haus- und Schulpolizei" (Berl.
1856); "Zwei Tage in englischen Gymnasien" (Leipz. 1860);
"Encyklopädie, Methodologie und Litteratur der Pädagogik"
(2. Aufl., das. 1878); "Organisation des Lehrerseminars" (das.
1869); "Philosophische Propädeutik" (das. 1869-70, 2 Tle.) und
zahlreiche Aufsätze in der "Allgemeinen Schulzeitung", die S.
1870-82 herausgab. Vgl. Fröhlich, Stoys Leben, Lehre und
Wirken (Dresd. 1885); Bliedner, S. und das pädagogische
Universitätsseminar (Leipz. 1886).

Strabane (spr. strebänn), Stadt in der irischen
Grafschaft Tyrone, am Mourne (Lifford gegenüber), mit
Leinweberei, Flachshandel und (1881) 4196 Einw.

Strabismus (griech.), s. Schielen.

Strabon, griech. Geograph, geboren um 60 v. Chr. zu
Amasia in Kappadokien aus einer griechischen Familie, unternahm
ausgedehnte Reisen im Gebiet des Mittelmeers, östlich bis
Armenien, westlich bis Etrurien und kam 29 v. Chr. nach Italien, wo
er sich in Rom längere Zeit aufhielt. Am besten waren ihm aus
eigner Anschauung Kleinasien, Griechenland, Italien und
Ägypten bekannt. Sein Werk "Geographica" (17 Bücher) ist
neben dem des Ptolemäos die Hauptquelle der alten Geographie;
namentlich wurde die Kenntnis des westlichen und nördlichen
Europa durch S. sehr gefördert. Von den Ausgaben sind die von
Kramer(Berl. 1844-52, 3 Bde.; kleine Ausg. 1852, 2 Bde.),
Müller und Dübner (Par. 1853-56, 2 Bde.) und Meineke
(Leipz. 1852-53, 3 Bde.) hervorzuheben. Die beste Übersetzung
des Werkes ist die von Groskurd (Berl. 1831-33, 4 Bde.).

Strabotomie (griech.), Schieloperation.

Stracchino (spr. strackino), s. Käse, S. 584.

Strachwitz, Moritz Karl Wilhelm, Graf von, Dichter, geb.
13. März 1822 zu Peterwitz in Schlesien, studierte zu Breslau
und Berlin und lebte dann auf seinem Gut Schebetau in Mähren
seiner Muse. Auf einer Reise in Venedig erkrankt, starb er bereits
11. Dez. 1847 in Wien. Seine Gedichte: "Lieder eines Erwachenden"
(Bresl. 1842, 5. Aufl. 1854), "Neue Gedichte" (das. 1848, 2. Aufl.
1849) und "Gedichte" (Gesamtausg., das. 1850; 7. Aufl., Berl. 1878)
bekunden ein selbständiges, kräftiges Talent und eine
männlich starke Individualität, welche in der
Begeisterung für das Edle wie im Kampf gegen das Gemeine
gleiche Tiefe der Empfindung offenbarte, so daß sein
früher Tod einen Verlust für die deutsche Dichtung in
sich schloß. Auch nach formeller Seite reihen sich S.'
Gedichte durch ihre hohe künstlerische Durchbildung,
Prägnanz und Frische des Ausdrucks den besten lyrischen
Dichtungen der Neuzeit an.

Strack, 1) Johann Heinrich, Architekt, geb. 24. Juli 1805
zu Bückeburg, absolvierte das Feldmesserexamen und kam dann in
das Atelier Schinkels. 1834 machte er mit Ed. Meyerheim eine
Studienreise in die Altmark, als deren Ausbeute die
"Architektonischen Denkmäler der Altmark Brandenburg" mit Text
von Kugler (Berl. 1833) erschienen. 1838 wurde er Baumeister und
war nun bis 1843 als Lehrer der Architektur an der Artillerie- und
Ingenieurschule, seit 1839 als solcher an der Kunstakademie und
später in gleicher Eigenschaft an der Bauakademie zu Berlin
thätig. Studienreisen führten ihn mit Stüler nach
England und Frankreich, mit Rauch nach Dänemark. 1845 ward ihm
die Oberleitung des Baues des Schlosses Babelsberg bei Potsdam
übertragen. Im Winter 1853/54 begleitete er den Prinzen
Friedrich Wilhelm (Kaiser Friedrich) auf einer Reise durch Italien
und Sizilien und baute für denselben 1856-58 das alte Palais
König Friedrich Wilhelms III. in Berlin aus. 1862 weilte er im
Auftrag der preußischen Regierung mehrere Monate in Athen, wo
er das Dionysostheater am Abhang der Akropolis auffand; 1866-76
erbaute er die Berliner Nationalgalerie, und gleichzeitig entstand
das Siegesdenkmal auf dem Königsplatz. Von seinen weitern
Bauten sind zu nennen: die Petri- und Andreaskirche in Berlin und
Schloß Frederiksborg bei Kopenhagen. Er starb 12. Juni 1880
in Berlin. Von bleibendem Wert ist seine Schrift "Das griechische
Theater" (Berl. 1863).

2) Hermann, protestant. Theolog, geb. 6. Mai 1848 zu Berlin,
studierte daselbst und in Leipzig, wurde 1872 Lehrer in Berlin,
arbeitete 1873-76 mit Unterstützung der preußischen
Regierung in St. Petersburg und ist seit 1877
außerordentlicher Profefsor der Theologie in Berlin. Unter
seinen Schriften sind zu nennen: "Prolegomena critica in Vetus
Testamentum hebraicum" (Leipz. 1873); "Katalog der hebräischen
Bibelhandschriften in St. Petersburg" (das. 1875, zusammen mit
Harkowy); "Prophetarum posteriorum codex Babylonicus
Petropolitanus" (das. 1876); "Die Sprüche der Väter" (2.
Aufl., Berl. 1888); "Hebräische Grammatik" (2. Aufl., Karlsr.
1885); "Elementarschule und Lehrerbildung in Rußland" (in
"Rußlands Unterrichtswesen", Leipz. 1882); "Lehrbuch der
neuhebräischen Sprache und Litteratur" (mit Siegfried, das.
1884); die Streitschrift "Herr Adolf Stöcker" (das. 1886);
"Einleitung in das Alte Testament" (3. Aufl., Nördling. 1888)
und gab mit Zöckler den "Kurzgefaßten Kommentar zu den
Heiligen Schriften Alten und Neuen Testaments" (das. 1888 ff.)
heraus. 1885 begründete er die Zeitschrift für
Judenmission "Nathanael".

Strada (ital.), Straße; S. ferrata, Eisenbahn.

Stradbroke (spr. sträddbrok), große Insel an
der Südostküste der britisch-austral. Kolonie Queensland,
welche mit der Moretoninsel, von der sie durch den Rouskanal
getrennt ist, die Moretonbai (s. d.) bildet; hat einen Leuchtturm.
Beide Inseln sind auf der Westküste bewohnt.

Stradella, Stadt in der ital. Provinz Pavia. Kreis
Voghera, am Aversa und an der Eisenbahn Alessandria-Piacenza, mit
Industrie in Seide, Leder, Weinstein und Weingeist und (1881) 6344
Einw.

Stradella, Alessandro, Sänger und Komponist, geb.
1645 zu Neapel, wo er auch seine Ausbildung erhielt, begab sich
später nach Venedig und von dort, nachdem er die Geliebte
eines vornehmen Venezianers entführt hatte, nach Rom. Hier
entging er mit Glück einem von seinem Nebenbuhler gegen ihn
veranstalteten Attentat und floh nach Turin, wo er bei einem
zweiten, von Venedig aus gegen ihn unternommenen Mordversuch schwer
verwundet wurde. Ein dritter sollte für ihn
verhängnisvoll werden; denn als er 1678 einem Ruf nach Genua
gefolgt war. um für den Karneval die Oper "La forza dell' amor
paterno" in Szene zu setzen, wurde er am Tag nach seiner Ankunft
auf seinem Zimmer erdolcht gefunden. über sein Leben und seine
Werke, unter denen er selbst das Oratorium "San Giovanni Battista"
als sein vorzüglichstes bezeichnet hat, gibt P. Richards
Arbeit "S. et les Contarini" (in der Pariser Musikzeitung "Le
Menestrel" 1865, Nr. 51; 1866, Nr. 18) ausführliche und
zuverlässige Auskunft.

Stradioten, s. Stratioten.

Stradivari, Antonio, der größte Meister
des

357

Straelen - Strafe.

Violinbaues, geb. 1644 zu Cremona aus einer alten Cremoneser
Patrizierfamilie, war Schüler von Niccolo Amati, zeichnete
seine ersten, für seinen Meister gearbeiteten Violinen mit
dessen Namen, verheiratete sich 1667 und fing wohl um dieselbe Zeit
an für eigne Rechnung zu arbeiten. Von seinen Söhnen
wurden zwei ebenfalls Geigenbauer, nämlich Francesco, geb. 1.
Febr. 1671, gest. 11. Mai 1743, und Omobono, geb. 14. Nov. 1679,
gest. 8. Juli 1742. Beide arbeiteten mit dem Vater gemeinsam und
waren selbst fast schon Greise, als ihr Vater 18. Dez. 1737 starb.
S. baute eine sehr große Zahl Instrumente und zwar ebenso
vorzügliche Celli wie Violinen, Bratschen und Violen der
ältern Art (Gamben etc.), Lauten, Guitarren, Mandolinen etc. ;
seine letzte bekannte Violine ist von seiner Hand mit 1736 datiert.
Sein Sohn Francesco zeichnete von 1725 ab mit seinem Namen, Omobono
arbeitete einige Instrumente mit ihm zusammen, "sotto la disciplina
d'A. S."; er scheint mehr mit der Beschaffung des Materials und dem
Vertrieb als mit dem Bau der Instrumente zu thun gehabt zu haben.
Vater und beide Söhne ruhen in einem gemeinschaftlichen Grab.
Vgl. Fétis, Antoine S. (Par. 1856); Lombardini, Ceuni sulla
celebre scuola cremonese etc." (1872); Niederheitmann, Cremona (2.
Aufl., Leipz. 1884).

Straelen, Flecken im preuß. Regierungsbezirk
Düsseldorf, Kreis Geldern, unweit der Niers und an der Linie
Venloo-Haltern der Preußischen Staatsbahn, hat eine kath.
Kirche, Seiden- und Samtweberei, Ölmühlen und (1885) 5928
meist kath. Einwohner.

Strafabteilungen, in Preußen die durch das
Militärstrafgesetz von 1873 in Militärgefängnisse
umgewandelten Strafanstalten, in welchen an degradierten
Unteroffizieren und Gemeinen Festungs- (jetzt Gefängnis-)
Strafe vollstreckt wurde.

Strafanstalten, s. Gefängniswesen.

Strafaufschub (Aufschub des Strafverfahrens), die
vorläufige Aussetzung der Vollstreckung einer
rechtskräftig zuerkannten Strafe. Solange ein Strafurteil noch
nicht rechtskräftig ist, d. h. solange es noch durch ein
ordentliches Rechtsmittel, wie Berufung oder Revision, angefochten
werden kann, ist die Strafe nicht vollstreckbar. Wird innerhalb der
dazu gesetzten Frist ein solches Rechtsmittel eingelegt, so kann
die erkannte Strafe nicht vollstreckt werden, bis über das
Rechtsmittel entschieden ist (sogen. Suspensiveffekt des
Rechtsmittels). Ist aber eine Strafe rechtskräftig erkannt, so
ist sie zu vollstrecken, doch kann nach der deutschen
Strafprozeßordnung (§ 488) ein S. gewährt werden,
wenn durch die sofortige Vollstreckung dem Verurteilten oder seiner
Familie erhebliche, außerhalb des Strafzwecks liegende
Nachteile erwachsen würden. Der S. darf aber in solchen
Fällen den Zeitraum von vier Monaten nicht übersteigen;
er kann an eine Sicherheitsleistung oder an andre Bedingungen
geknüpft werden. In einigen andern Fällen muß ein
S. eintreten; so, wenn der Verurteilte eine Freiheitsstrafe zu
verbüßen hat und in Geisteskrankheit verfällt,
ebenso bei andern Krankheiten, wenn von der Strafvollstreckung eine
nahe Lebensgefahr für den Verurteilten zu besorgen steht, oder
wenn dieser sich in einem körperlichen Zustand befindet, bei
welchem eine sofortige Vollstreckung mit der Einrichtung der
Strafanstalt unverträglich ist (Strafprozeßordnung,
§ 487). Bei Todesurteilen tritt insofern stets ein S. ein, als
sie nicht eher vollstreckt werden dürfen, bis die
Entschließung des Staatsoberhaupts, und in denjenigen Sachen,
in denen das Reichsgericht in erster Instanz erkannt hat, die
Entschließung des Kaisers ergangen ist, von dem
Begnadigungsrecht keinen Gebrauch machen zu wollen. An schwangern
oder geisteskranken Personen dürfen Todesurteile nicht
vollstreckt werden. Durch einen Antrag auf Wiederaufnahme (s. d.)
des Verfahrens wird dle Vollstreckung des Urteils nicht gehemmt.
Das Gericht kann jedoch einen S. oder eine Unterbrechung der
Vollstreckung anordnen. Strafbefehl (Strafmandat,
Strafverfügung), bei Übertretungen und geringfügigen
Vergehen der Erlaß des Strafrichters, welcher dem
Beschuldigten ohne vorgängiges Gehör eine bestimmte
Strafe festsetzt. Diese Strafe wird vollstreckbar, wenn der
Beschuldigte nicht binnen einer Woche nach der Zustellung
Einwendung (Einspruch) dagegen erhebt. Im Fall eines Einspruchs
wird zur Hauptverhandlung geschritten. Nach der deutschen
Strafprozeßordnung darf die in dem S. angedrohte Strafe nicht
über 150 Mk. Geldstrafe oder sechs Wochen Freiheitsstrafe
hinausgehen. Bei Übertretungen können auch
Polizeibehörden Strafbefehle erlassen und Haft bis zu 14 Tagen
oder Geldstrafe verfügen. Derartige Strafbefehle heißen
Strafverfügungen im Gegensatz zum S. des Amtsrichters und zum
Strafbescheid (s. d.) der Verwaltungsbehörde. Vgl. Deutsche
Strafprozeßordnung, § 447 ff., 453 ff.;
Österreichische, § 460 ff.

Strafbescheid, die von einer Verwaltungsbehörde bei
Zuwiderhandlungen gegen die Vorschriften über die Erhebung
öffentlicher Abgaben und Gefalle erlassene Straffestsetzung.
Binnen einer Woche kann in solchen Fällen von dem
Beschuldigten auf gerichtliche Entscheidung angetragen werden. Vgl.
Deutsche Strafprozeßordnung, § 459 ff.

Strafbills, engl. Ausnahmegesetze, welche in Bezug auf
besondere Verbrechen und aufrührerische Zustände erlassen
werden.

Strafe, das wegen eines begangenen Unrechts über den
Thäter verhängte Übel oder Leiden. Unter den Begriff
der S. in diesem weitesten Sinn fällt zunächst diejenige
S., welche ein Ausfluß der Erziehungsgewalt und eines
gewissen Aufsichtsrechts ist, wie es namentlich dem Lehrer den
Schülern, dem Dienstherrn dem Gesinde, dem Lehrherrn dem
Lehrling gegenüber zusteht. Ferner gehört hierher die
eigentliche Disziplinarstrafe, welche die vorgesetzte
Dienstbehörde vermöge ihrer Disziplinargewalt (s. d.) dem
Unterbeamten gegenüber bei Ordnungswidrigkeiten auszusprechen
befugt ist; ebenso die Ordnungsstrafe, welche eine öffentliche
Behörde androhen und in Vollzug setzen kann, um die Befolgung
amtlicher Verfügungen zu erzwingen, z. B. bei Vorladungen zu
Terminen u. dgl. Auch die Konventionalstrafe, d. h. die
vertragsmäßig festgesetzte S. für den Fall der
Nichterfüllung einer übernommenen Verbindlichkeit,
fällt unter den Begriff der S. in dieser Allgemeinheit. Im
engern Sinn aber versteht man unter S. nur die sogen. Rechtsstrafe,
d. h. diejenige S., welche unmittelbar auf eine Gesetzesvorschrift
zurückzuführen und gegen den Übertreter der letztern
auszusprechen ist. Hierbei ist dann wiederum zwischen Privatstrafe
und öffentlicher S. zu unterscheiden, je nachdem die S. an den
Verletzten oder an den Staat zu verbüßen ist, und zwar
sind die Privatstrafen in der Gegenwart auf ein Minimum reduziert.
Die öffentlichen Strafen aber werden wiederum in
Polizeistrafen und Kriminalstrafen eingeteilt, je nachdem es sich
nur um die Übertretung einer polizeiltchen Vorschrift oder um
das Zuwiderhandeln gegen ein eigentliches Strafgesetz handelt. Nach
den Strafmitteln wird zwischen Todesstrafe, Frei-

358

Straferkenntnis - Strafgerichtsbarkeit.

heits- und Vermögensstrafen unterschieden. Die früher
üblichen qualifizierten Todesstrafen sind ebenso wie die
verstümmelnden und die in körperlicher Züchtigung
bestehenden Leibesstrafen, wenigstens in allen zivilisierten
Ländern, abgeschafft. Ehrenstrafen kommen nach Abschaffung
gewisser beschimpfender Strafarten, wie z. B. der Prangerstrafe,
nur noch als Nebenstrafen, d. h. als die Folgen anderweiter, in
erster Linie erkannter Strafen, vor. Das Strafensystem des
deutschen Reichsstrafgesetzbuchs (§ 13 ff.) insbesondere ist
folgendes. A. Hauptstrafen: 1) Die mittels Enthauptung zu
vollstreckende Todesstrafe (s. d.). 2) Freiheitsstrafen: a)
Zuchthausstrafe, entweder lebenslänglich oder zeitig, im
Mindestbetrag von einem und im Höchstbetrag von 15 Jahren. Die
dazu Verurteilten sind zu den in der Strafanstalt
eingeführten, nach Befinden auch zu öffentlichen Arbeiten
außerhalb der Strafanstalt anzuhalten. Die Zuchthausstrafe
zieht die dauernde Unfähigkeit zu öffentlichen
Ämtern, zum Dienst im Heer und in der Marine nach sich. b)
Gefängnisstrafe (Höchstbetrag 5 Jahre, Mindestbetrag ein
Tag). Die dazu Verurteilten können in der Gefangenanstalt auf
eine ihren Fähigkeiten und Verhältnissen angemessene
Weise, außerhalb der Anstalt jedoch nur mit ihrer Zustimmung
beschäftigt werden. Auf ihr Verlangen sind die
Gefängnissträflinge in angemessener Weise zu
beschäftigen. c) Festungshaft, lebenslänglich oder zeitig
und zwar im Mindestbetrag von einem Tag, im Höchstbetrag von
15 Jahren. Dieselbe besteht lediglich in Freiheitsentziehung mit
Beaufsichtigung der Beschäftigung und Lebensweise der
Gefangenen; sie wird in Festungen oder in andern dazu bestimmten
Räumen vollzogen (sogen. Custodia honesta). Dabei wird
achtmonatige Zuchthausstrafe einer einjährigen
Gefängnisstrafe, achtmonatige Gefängnisstrafe einer
einjährigen Festungshaft gleich geachtet. d) Haft, einfache
Freiheitsentziehung im Mindestbetrag von einem Tag, im
Höchstbetrag von 6 Wochen. 3) Geldstrafe, deren Mindestbetrag
bei Verbrechen und Vergehen auf 3 Mk., bei Übertretungen auf 1
Mk. fixiert ist. 4) Verweis, der ausnahmsweise bei jugendlichen
Personen unter 18 Jahren und nur bei besonders leichten Vergehen
und Übertretungen zulässig ist. Die Deportation (s. d.)
ist dem Strafsystem des deutschen Strafgesetzbuchs unbekannt. B.
Nebenstrafen: 1) Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte (s. d.);
2) Polizeiaufsicht (s. d.); 3) Ausweisung (s. d.) von
Ausländern; 4) Überweisung (s. d.) an die
Landespolizeibehörde; 5) Einziehung oder Konfiskation von
Verbrechensgegenständen. Gegen Militärpersonen kommen
nach dem deutschen Militärstrafgesetzbuch (§ 14 ff.)
folgende Strafen (Militärstrafen) zur Anwendung: Die
Todesstrafe, welche im Feld stets, außerdem nur dann, wenn
sie wegen eines militärischen Verbrechens erkannt worden,
durch Erschießen zu vollstrecken ist; als Freiheitsstrafen
Arrest (s. d.), Gefängnis und Festungshaft. Ist
Zuchthausstrafe verwirkt, oder wird auf Entfernung aus dem Heer
oder der Marine oder auf Dienstentlassung erkannt, oder wird das
militärische Dienstverhältnis aus einem andern Grund
aufgelöst, so geht die Strafvollstreckung auf die
bürgerlichen Behörden über. Wo die allgemeinen
Strafgesetze Geld- und Freiheitsstrafe wahlweise androhen, darf,
wenn durch die strafbare Handlung zugleich eine militärische
Dienstpflicht verletzt worden ist, auf Geldstrafe nicht erkannt
werden. Endlich kommen als besondere Ehrenstrafen gegen
Militärpersonen vor: Entfernung aus dem Heer oder der Marine,
gegen Offiziere Dienstentlassung, gegen Unteroffiziere Degradation
und gegen Unteroffiziere und Gemeine Versetzung in die zweite
Klasse des Soldatenstandes.

Straferkenntnis, s. Urteil.

Strafford, Thomas Wentworth, Graf von, engl. Staatsmann,
geb. 13. April 1593 aus einer alten Familie der Grasschaft York,
trat 1621 in das Unterhaus, wo er der Politik Jakobs I. und Karls
I. Opposition machte. Bald aber veranlaßte ihn sein Ehrgeiz,
seinen Frieden mit dem Hof zu machen; nach Buckinghams Ermordung
ernannte ihn der König 1628 zum Peer und 1629 zum Mitglied des
Geheimen Rats und Präsidenten der Regierung der Nordprovinzen.
Wentworth ward bald neben dem Bischof Laud die festeste Stütze
Karls I., dessen Bestrebungen, die Macht der Krone bis zur
Unumschränktheit zu steigern, an ihm den kräftigsten
Helfer fanden. 1632 als Statthalter nach Irland gesandt, brachte er
dort, allerdings nur durch despotische Herrschaft, das Ansehen des
Königtums zu unbedingter Anerkennung. Beim Ausbruch des
schottischen Aufstandes 1638 drängte er dem irischen Parlament
die Bewilligung reichlicher Subsidien für die
Unterdrückung der Bewegung ab und ward hierfür von Karl
I. zum Grafen von S. und Lord-Lieutenant von Irland erhoben. Nach
der Auflösung des Kurzen Parlaments von 1640 kommandierte er
während des Kampfes gegen die Schotten die königlichen
Truppen in Yorkshire. Als dann aber der König sich
genötigt sah, das Parlament wieder zu berufen, erhob 11. Nov.
1640 das Haus der Gemeinen gegen ihn die Anklage auf Hochverrat,
weil er dem König zum Kriege gegen das Volk und zur
Untergrabung der Grundgesetze des Reichs geraten habe. S.
verteidigte sich sehr geschickt, und seine Freisprechung bei den
Lords schien gesichert, als das Unterhaus auf Haslerighs Antrag den
Weg des gerichtlichen Verfahrens verließ und durch die Bill
of attainder den verhaßten Minister wegen Hochverrats zum Tod
verdammte. Die Lords, vom Volk terrorisiert, traten mit 7 Stimmen
Mehrheit diesem Beschluß bei; als der König schwankte,
denselben zu bestätigen, beschwor S. ihn in einem
großherzigen Brief, ihn um seines eignen Heils willen zu
opfern. Da unterzeichnete der Monarch 10. Mai 1641 das Urteil, und
Straffords Haupt fiel 12. Mai 1641 unter dem Schwerte des Henkers.
Nach der Restauration Karls II. wurde seine "Ehre
wiederhergestellt"; sein ältester Sohn erhielt Titel und
Peerswürde des Vaters. Seine Briefe etc. wurden 1740 in 2
Bänden veröffentlicht. Vgl. Lally-Tollendal, Vie du comte
de S. (Lond. 1795, 2 Bde.; Par. 1814); Cooper, Life of Thom.
Wentworth Earl of S. (Lond. 1874).

Strafgerichtsbarkeit (Kriminalgerichtsbarkeit, peinliche
Gerichtsbarkeit, Jurisdictio criminalis), die Befugnis zur
Ausübung der Rechtspflege auf dem Gebiet des Strafrechts. Als
Ausfluß der Staatsgewalt kann die Ausübung der S. nur
dem Staat und seinen Organen zustehen, wie dies im deutschen
Gerichtsverfassungsgesetz vom 27. Jan. 1877 (§ 15)
ausdrücklich erklärt ist. Diese Ausübung der S. ist
aber regelmäßig den ordentlichen Gerichten und nur
ausnahmsweise in leichtern Fällen den Polizeibehörden
übertragen. Nach der deutschen Strafprozeßordnung
(§ 453 ff.) darf sich die Strafgewalt der letztern nur auf
Übertretungen erstrecken, auch kann die Polizeibehörde
keine andre Strafe als Geldstrafe oder Haft bis zu 14 Tagen
aussprechen; indes ist dem Beschuldigten derartigen
Strafverfügungen der Polizeibehörde gegenüber
nachgelassen, binnen einer Woche nach der Bekanntmachung der Strafe
auf gerichtllche Entscheidung anzutragen. Wer die S. aus-

359

Strafgerichtsverfassung - Strafprozeß

zuüben hat, ist in der Gerichtsverfassung (s. Gericht), und
wie, d. h. in welcher Form, sie auszuüben ist, im
Strafprozeßrecht bestimmt (s. Strafprozeß). Die dabei
zur Anwendung kommenden Strafnormen bilden den Gegenstand des
Strafrechts (s. d.).

Strafgerichtsverfassung, s. Gericht, S. 166.

Strafgefetzbuch, umfassendes Gesetz über die von der
Staatsgewalt zu ahndenden verbrecherischen Handlungen und über
die Strafen, welche dieselben nach sich ziehen. Von den einzelnen
Verbrechen handelt der besondere Teil, während die allgemeinen
strafrechtlichen Grundsätze in dem allgemeinen Teil
dargestellt sind. Der allgemeine Teil des deutschen
Strafgesetzbuchs insbesondere handelt im ersten Abschnitt von den
Strafen, im zweiten vom verbrecherischen Versuch, im dritten von
der Teilnahme am Verbrechen und im vierten Abschnitt von den
Gründen, welche die Strafe ausschließen oder mildern. Im
besondern Teil sind dann die einzelnen Verbrechen, Vergehen und
Übertretungen sowie deren Bestrafung behandelt (s.
Strafrecht).

Strafgewalt, s. Strafrecht, S. 362.

Strafkammer, s. Landgericht.

Strafkolonien, s. Kolonien, S. 956, und Deportation.

Strafkompanie (Disziplinartruppen), in Frankreich,
Italien und Rußland Truppenteile, in welche Soldaten
strafweise versetzt werden.

Strafliste, s. Strafregister.

Strafmandat, s. Strafbefehl.

Strafpolitik, s. Strafrecht, S. 362.

Strafprozeß (Strafverfahren, Kriminalprozeß,
franz. Procédure oder Instruktion criminelle), das
gerichtliche Verfahren, welches in denjenigen Fällen Platz
greift, in denen es sich um die Untersuchung und Bestrafung von
Verbrechen handelt; auch Bezeichnung für das
Strafprozeßrecht, d. h. für die Gesamtheit der
Rechtsgrundsätze, welche jenes Verfahren normieren. Die
Zusammenstellung solcher Normen in einem ausführlichen Gesetz
wird Strafprozeßordnung genannt, so die
Strafprozeßordnung für das Deutsche Reich vom 1. Febr.
1877, die österreichische Strafprozeßordnung vom 23. Mai
1873 und der Code d'instruction criminelle Napoleons I. von 1808.
Der S. gehört im weitesten Sinn zum Strafrecht und wird
ebendeswegen auch als sogen. formales Strafrecht dem materiellen
Strafrecht (s. d.) gegenübergestellt. Während der
bürgerliche oder Zivilprozeß, in welchem über
Privatstreitigkeiten zu entscheiden ist, ursprünglich von den
Römern dem Privatrecht zugerechnet wurde und diesem jedenfalls
auch heute noch nahesteht, kann über die ausschließlich
öffentlich-rechtliche Natur des Strafprozesses ein Zweifel
nicht obwalten. Während nämlich die Mehrzahl der
Privatrechtsansprüche ohne gerichtliche Hilfe durch
freiwillige Leistung von seiten des Schuldners erfüllt wird,
kann der Strafanspruch des Staats gegen Übelthäter ohne
förmliches Verfahren niemals verwirklicht werden. Niemand kann
sich unter Verzichtleistung auf den Prozeß einer
öffentlichen Strafe freiwillig unterwerfen oder auf ein
Strafurteil des Richters verzichten, denn die Rechte, in welche die
Strafe eingreift, sind vom Standpunkt des einzelnen aus
unverzichtbar; eine Regel, die eine geringfügige Ausnahme bei
Geldbußen nur insoweit erleidet, als bei
Polizeiübertretungen der Schuldige sich einem Zahlungsbefehl
(sogen. Strafmandat) freiwillig unterwerfen kann. Der Unterschied
zwischen Zivilprozeß und S. tritt, zusammenhängend mit
diesem Prinzip, auch darin hervor, daß der Strafrichter der
materiellen Wahrheit in ganz anderm Maß bei der Prüfung
der Thatsachen und der Handhabung der Prozeßregeln
nachzustreben hat, als dies im Zivilverfahren zulässig ist, wo
die sogen. formale Wahrheit eine hervorragende Rolle spielt. So ist
z. B. im Zivilverfahren der Wahrhaftigkeit eines den
klägerischen Anspruch anerkennenden Beklagten nicht weiter
nachzuforschen, während das Geständnis eines Angeklagten
immer noch einer Prüfung von seiten des Richters zu
unterwerfen ist, ehe die Verurteilung zur Strafe ausgesprochen
werden kann. Auf den untersten Stufen staatlicher Kultur sehen sich
diese beiden Grundformen des Prozesses allerdings sehr
ähnlich, weil das Verbrechen zunächst als
Schadenzufügung aufgefaßt wird und der unmittelbar
Verletzte mit der Geltendmachung seiner Forderungen auch
gleichzeitig die staatlichen Interessen vertritt. Auf dieser Stufe
steht der altgermanische S. mit seinem Grundsatz: "Wo kein
Ankläger ist, da ist auch kein Richter". Die Verwirklichung
des staatlichen Strafrechts ist dabei von dem Verhalten der
Parteien abhängig (sogen. Privatklageprozeß im engern
Sinn). Auf einer höhern Entwicklungsstufe steht das
Strafverfahren da, wo jeder Bürger, unabhängig von einer
ihm selbst widerfahrenen Verletzung, als Ankläger die Rechte
der staatlichen Gesamtheit wahrnehmen kann. Dieser Art waren die
Einrichtungen in den antiken Republiken, zumal in Griechenland und
Rom; insbesondere bietet uns das Recht der römischen Republik
in ihrer Blütezeit ein klassisch vollendetes Muster des
staatsbürgerlichen Anklageprozesses dar. Wenn freilich der
Sittenverfall um sich greift und Verbrechen häufig werden, so
muß die Anklagethätigkeit der einzelnen
Staatsbürger als unzulänglich erscheinen. Die
gewöhnlichen Folgen des staatsbürgerlichen
Anklageprozesses in solchen Zeiten sind alsdann: zunehmende
Straflosigkeit, Bestechung des Anklägers durch reiche
Verbrecher, Erpressungsversuche durch Androhung einer Anklage gegen
Unschuldige, die ein gerichtliches Verfahren fürchten,
Aussetzung von Prämien oder Denunziantenbelohnungen, um von
Staats wegen eigennützige Menschen zur Anklägerschaft
anzureizen. Schon die Römer hatten, wie auch die Athener, alle
Schattenseiten der staatsbürgerlichen Anklage in den
spätern Zeiten zu erfahren. Gleichwohl blieb auch das
ältere kirchlich-kanonische Recht bei dieser Organisation der
Strafverfolgung stehen. Erst im 13. Jahrh. tritt in dem deutschen
auf volks-tümlicher Basis ruhenden Anklageprozeß ein
bemerkenswerter Umschwung ein. Schon in den ältesten
Anschauungen der christlichen Kirche lag nämlich die sittliche
Anforderung begrün-det, daß der sündige Christ zur
Selbstbeschuldigung im Beichtstuhl und zur Reinigung mittels
Buße durch sein Gewissen verpflichtet sei. In ihren
Sendgerichten wahrte die Kirche diese Anzeigepflicht in der
Anwendung auf Dritte. Sie hielt in ihrer Gerichtsbarkeit darauf,
daß gewisse stark verdächtigte Personen sich durch Eid
zu reinigen hatten von den gegen sie vorliegenden Beschuldigungen
(sogen. Reinigungseid). Diese vereinzelten, übrigens auch
schon im römischen Recht bemerkbaren Anfänge eines
amtlichen Einschreitens wurden nun durch Innocenz III. seit dem
Ende des 12. Jahrh. auf dem dritten lateranischen Konzil der
Anknüpfungspunkt zu einer Ausbildung des sogen.
Inquisitionsprozesses (Untersuchungsprozesses). Ursprünglich
war dieser Inquisitionsprozeß als Ausnahme gedacht neben dem
Fortbestand des ältern Anklageverfahrens als der Regel.
Dennoch entsprach das neue Verfahren so sehr den vorhandenen
Bedürf-

360

Strafprozeß (geschichtliche Entwickelung).

nissen, daß es nicht nur in den geistlichen
Gerichtshöfen bald herrschend wurde, sondern auch in der
weltlichen Justiz mehr und mehr die Oberhand gewann. Der Richter
hatte hiernach von Amts wegen überall einzuschreiten und alle
Verhältnisse der Beschuldigung und Verteidigung kraft seines
Amtes zu erforschen. Von bestimmten Rechten der Parteien konnte
somit keine Rede sein. Man unterschied dabei die Generalinquisition
als das einleitende Stadium von der Spezialinquisition als der
Untersuchung, die ihre Richtung bereits gegen bestimmte Personen
genommen hatte. Zugleich ward bei der Ketzerinquisition die
Heimlichkeit des Verfahrens vorgeschrieben und, unter
Anknüpfung an das römische Recht, die Folter angewendet.
So war gegen das Ende des Mittelalters der Inquisitionsprozeß
in den kontinentalen Ländern herrschend geworden, mit ihm die
Schriftlichkeit des Verfahrens an Stelle der Mündlichkeit und
die Entwickelung eines Instanzenzugs. Eine Ausnahme machte nur
England, wo im Zusammenhang mit dem Schwurgericht (s. d.) sich die
altgermanischen Prozeßeinrichtungen in wesentlichen
Stücken erhielten, so daß England noch gegenwärtig
der einzige Kulturstaat ist, in dem sich der alte
Anklageprozeß, wenn schon mannigfach modifiziert, bis zur
Gegenwart erhalten hat. Die (peinliche) Halsgerichtsordnung Kaiser
Karls V. von 1532 (die sogen. Carolina) schloß sich in ihrem
strafprozessualischen Inhalt eng an die bestehenden
Verhältnisse der damaligen Zeit an. Sie begünstigte
namentlich die Schriftlichkeit, worin man damals ein Schutzmittel
gegen willkürliche Verfolgungen erblicken mußte, und
schrieb deswegen die Zuziehung von Gerichtsschreibern (Aktuaren)
als wesentlichen Prozeßorganen vor. Ein hervorragendes
Verdienst erwarb sich die Carolina dadurch, daß sie das in
Deutschland völlig zerrüttete Beweisverfahren neu
ordnete, indem von ihr eine feste Beweistheorie aufgestellt wurde.
Niemand sollte ohne ausreichenden, vollen Beweis verurteilt werden.
Einen vollen Beweis lieferten aber nur das Geständnis, die
übereinstimmende Aussage mindestens zweier Zeugen oder der
richterliche Augenschein, wohingegen eine Verurteilung auf Grund
sogen. Anzeigen oder Indizien ausgeschlossen wurde. Jeder
unvollständige, auch der zur Verurteilung nicht genügende
Indizienbeweis konnte jedoch durch peinliche Frage (Folter)
ergänzt werden, so daß das auf der Folter abgelegte und
hinterher bestätigte Geständnis die Verurteilung
begründete.

So gestaltete sich der S. seit der Mitte des 17. Jahrh. in der
Hauptsache für ganz Deutschland zu derjenigen Form des
Verfahrens, welche der sächsische Jurist Carpzov bezeugt: der
reine Untersuchungsprozeß, daher erstes Einschreiten des
Richters, dem die Kriminalpolizei untergeben ist,
Voruntersuchungsführung des Richters im Sinn der durch
Zwangsmittel oder Kunstgriffe herbeizuführenden
Geständnisse, genaue Aufzeichnung aller Ermittelungen in den
Kriminalakten, nach der Erschöpfung der Beweisaufnahme
Aktenschluß, Einforderung einer Verteidigungsschrift in den
schwersten, Zulassung einer solchen in minder schweren Fällen,
Versendung der Akten von den Untersuchungsgerichten
(Inquisitoriaten) an das urteilende Gericht, das entweder in der
Sache selbst nach Lage der Akten auf Vortrag eines Referenten
endgültig erkennt, oder weitere Beweisaufnahme anordnet, oder
die peinliche Frage erkennt. An Rechtsmitteln kennt der
Untersuchungsprozeß nur das der weitern Verteidigung zu
gunsten des Inquisiten. Die Urteilsvollstreckung leitet der
Untersuchungsrichter. Die alte Beweistheorie fand ihren Mittelpunkt
in der Folter. Sobald diese (zuerst durch Friedrich d. Gr.) in
Deutschland abgeschafft wurde, was allgemein gegen das Ende des 18.
Jahrh. geschah, mußte das Gebäude des
Inquisitionsprozesses ins Wanken kommen. Schon in der Mitte des
vorigen Jahrhunderts, zumal nachdem man durch Montesquieu und
Voltaire mit den englischen Einrichtungen bekannt geworden war,
bestand auf dem Kontinent eine dem alten S. ungünstige Meinung
innerhalb der gebildeten Klassen. Die Überlieferung des alten
Inquisitionsprozesses war indessen so fest in Deutschland
eingewurzelt, daß die Kriminalordnung von Preußen
(1805) und der bayrische S. (1813) gleichwie auch Österreich
an dem alten Verfahren noch im 19. Jahrh. zäh festhielten.
Erst mit der allgemeinen Bewegung der Geister 1848 vollzog sich der
längst notwendig gewordene Bruch. Die meisten deutschen
Staaten führten ein öffentliches und mündliches
Anklageverfahren ein, und die Grundrechte des deutschen Volkes
bestimmten die wesentlichen Grundsätze der Reform. Längst
vor 1848 hatten aber Theorie und Wissenschaft die Notwendigkeit
einer durchgreifenden Besserung der Strafprozeßeinrichtungen
dargethan. Das Muster, das man 1848 und in den folgenden Jahren
vorzugsweise zu befolgen sich entschloß, bot der
französische Prozeß, der in den linksrheinischen
Landesteilen deutscher Staaten aus dem Napoleonischen Zeitalter
bestehen geblieben war. Frankreich selbst hatte im ersten Beginn
der Revolution 1789 mit der Beseitigung des alten Strafprozesses
Ernst gemacht. Während das Verfahren selbst den deutschen
Zuständen des Strafprozeßrechts sich erheblich
näherte, hatte Frankreich aus dem Mittelalter eine Magistratur
ererbt, deren Stellung nachmals von entscheidender Bedeutung und
Vorbildlichkeit für den gesamten europäischen Kontinent
werden sollte: die Staatsanwaltschaft (ministère public),
hervorgegangen aus den königlichen Prokuratoren, welche die
fiskalischen Interessen der Krone bei den Gerichten wahrzunehmen
ursprünglich bestimmt gewesen waren und nach und nach einen
erheblichen Einfluß auf den Gang des Strafprozesses erlangt
hatten. Aus diesen Elementen der königlichen
Prozeßvertretung formte die französische Revolution die
Staatsbehörde, zu deren wesentlichen Funktionen die Betreibung
der öffentlichen Anklage (action publique), die Sammlung der
Belastungsbeweise, die Vornahme schleuniger, einen Aufschub nicht
gestattender Beweiserhebungen, die Vertretung der Anklage im
öffentlichen Verfahren, die Einlegung von Rechtsmitteln und
die Vollstreckung der Urteile gehören. Der französische
Prozeß, im Code d'instruction criminelle von 1808 zum
Abschluß gekommen, bedeutet den Untersuchungsprozeß mit
äußerlicher Anklageform. Das Wesen des echten
Anklageprozesses bedingt nämlich die Annahme des
Parteibegriffs und die Gleichheit der Parteirechte. Davon kann aber
nach französischem Recht keine Rede sein. Der Staatsanwalt ist
eine Behörde, unabhängig vom Richter, für etwaige
Ausschreitungen der gerichtlichen Disziplin nicht unterworfen, dem
Wort nach beauftragt mit der Wahrung des Gesetzes, ohne Garantien
der persönlichen Unabhängigkeit, absetzbar und den
Weisungen der Justizminister unterthan, dennoch aber wiederum in
manchen Dingen dem richterlichen Amt bezüglich der
Geschäftsführung übergeordnet, wofern er als Organ
der Justizaufsicht thätig zu sein hat. Diesem
französischen Muster entsprechend ist denn auch in den
deutschen Gesetzen die öffentliche Anklagebehörde in
Deutschland seit 1848

361

Strafprozeß - Strafrecht.

in der Mehrzahl der deutschen Staaten eingerichtet worden. Die
Staatsanwaltschaft ist demgemäß das ausschließlich
berechtigte Organ der Strafverfolgung. Eine Beschränkung des
sogen. Anklagemonopols liegt nur darin, daß nach einmal
erhobener Anklage der Richter die Untersuchung auch gegen den
Antrag der Staatsanwaltschaft weiter fortführen und
verurteilen kann, nach französischem Recht sogar die
Staatsbehörde zur Erhebung der Anklage durch die
Appellhöfe angehalten werden darf, daß ferner in
gewissen fiskalischen Angelegenheiten (z. B. in Zollstrafsachen und
Steuerkontraventionen) administrative Organe an die Gerichte gehen
können, und daß bei sogen. Antragsdelikten die
Staatsbehörde an den Strafantrag des Verletzten gebunden ist.
Die Mängel der kontinentalen Prozeßorganisation treten
vorwiegend darin hervor, daß die Staatsbehörde durch
unterlassene Anklageerhebung gleichsam mitbeteiligt wird an der
Ausübung des Begnadigungsrechts und, in Abhängigkeit von
den jeweilig herrschenden Parteiströmungen, wenig geneigt sein
wird, den Ausschreitungen des Beamtentums wirksam entgegenzutreten.
Auf den deutschen Juristentagen wurde daher wiederholt die
Zulassung der sogen. subsidiären Privatanklage für
diejenigen Fälle befürwortet, in denen die
Staatsbehörde ihr Einschreiten verweigert. In dem Zeitraum
zwischen 1848 und 1877 war übrigens das Strafprozeßrecht
in Deutschland sehr verschiedenartig gestaltet. Eine Gruppe von
Gesetzgebungen behielt die ältern, auf der Basis der
Inquisitionsprozedur ruhenden Gesetze bei und verknüpfte damit
in äußerlicher Weise die Einrichtungen der
Staatsanwaltschaft, des Schwurgerichts, der Öffentlichkeit und
Mündlichkeit im Hauptverfahren (so in Preußen und
Bayern). Eine zweite Gruppe verhielt sich gegen alle Reformen
ablehnend (z. B. Mecklenburg). Eine dritte Klasse ließ neue,
einheitlich gearbeitete Strafprozeßordnungen ergehen, indem
man sich bald den französischen Mustern enger anschloß
(so in Hannover, Rheinhessen), bald die Erfahrungen des englischen
Rechts verwertete (Braunschweig), bald in mehr selbständiger
Behandlung das Prozeßrecht ordnete (Baden, Württemberg,
Sachsen). Diesen Verschiedenheiten ist schließlich durch die
Reichsstrafprozeßordnung vom 1. Febr. 1877 in Verbindung mit
dem Gerichtsverfassungsgesetz 27. Jan. 1877 ein Ende gemacht
worden. Auch dieses neue Recht ruht auf der Grundlage des
französischen Strafprozesses. Die Grundzüge des
gegenwärtigen Rechtszustandes sind folgende: 1) Dreiteilung
der Strafgerichtsbarkeit in der untern Instanz in der Weise,
daß die leichten Straffälle von Amtsgerichten unter
Zuziehung von Schöffen, die mittelschweren Vergehen von den
Strafkammern der Landgerichte, die schweren Verbrechen von
Geschwornen abgeurteilt werden (s. Gericht, S. 166). 2) Einrichtung
der Staatsanwaltschaft (s. d.) wesentlich nach französischem
Muster. Nur ausnahmsweise bei Beleidigungen und leichten
Körperverletzungen tritt der Privatkläger an die Stelle
des Staatsanwalts. 3) Beibehaltung der schriftlichen und geheimen
Voruntersuchung im Gegensatz zu den in England geltenden Regeln der
Öffentlichkeit und Mündlichkeit. Der zur Führung der
Voruntersuchung bei den Landgerichten bestellte
Untersuchungsrichter darf an dem Hauptverfahren nicht teilnehmen.
Notwendig ist die Voruntersuchung indes nur bei den
schwurgerichtlichen Fällen. 4) Beweiserhebung im
Hauptverfahren durch den Richter im Gegensatz zu der englischen
Form des Kreuzverhörs, wonach die Parteien selbst die von
ihnen vorgeführten Zeugen befragen unter Zulassung der
Gegenfrage von seiten des Prozeßgegners. 5) Beibehaltung des
Verhörs der Angeklagten, das dem englischen Recht fremd blieb.
6) Beseitigung aller die richterliche Überzeugung
einschränkenden Beweisregeln mit alleiniger Ausnahme der auf
die Vereidigung der Zeugen und Sachverständigen
bezüglichen Vorschriften, während in England ein
gerichtsgebräuchliches System von Beweisregeln bestehen blieb.
7) Öffentlichkeit (s. d.) und Mündlichkeit des
Hauptverfahrens; erstere neuerdings etwas eingeschränkt. 8)
Das Institut der notwendigen, erforderlichen Falls von Amts wegen
zu veranlassenden Verteidigung in schweren Verbrechensfällen.
9) Beseitigung des Rechtsmittels der Berufung gegen
landgerichtliche Erkenntnisse, was die hauptsächlichste, ihrem
Wert nach zweifelhafte Abweichung vom französischen Recht
bildet. Die Wiedereinführung der Berufung gegen die Urteile
der landgerichtlichen Strafkammern wird vielfach angestrebt.
Gegenwärtig ist die Berufung nur gegen Erkenntnisse der
Schöffengerichte zulässig. Sie geht an die Strafkammer
des Landgerichts. Urteile der Strafkammern der Landgerichte und der
Schwurgerichte sind nur durch das Rechtsmittel der Revision (s. d.)
anfechtbar. Die Revision befaßt sich lediglich mit der
Rechtsfrage, nicht mit der Thatfrage. 10) Erweiterung des
Rechtsmittels der Wiederaufnahme des Verfahrens zum teilweisen
Ersatz der Berufung und zur Anfechtung der Thatfrage. Besondere
Verfahrensregeln gelten gegen ungehorsam Ausbleibende (sogen.
Kontumazialverfahren). Auch bestehen Ausnahmegerichte für den
Fall des Belagerungszustandes und für Anklagen auf Hochverrat
gegen das Reich, für welche der höchste Reichsgerichtshof
kompetent ist.

[Litteratur.] Für das ältere Recht vor 1848:
Mittermaier, Das deutsche Strafverfahren (4. Aufl., Heidelb. 1846,
2 Bde.); Feuerbach, Betrachtungen über die Öffentlichkeit
und Mündlichkeit der Gerichtspflege (Gieß. 1821 u.
1824); Martin, Lehrbuch des Kriminalprozesses (5. Aufl. von Temme,
Leipz. 1857). Für das Übergangsstadium von 1848-77:
Planck, Systematische Darstellung des deutschen Strafverfahrens auf
Grundlage der neuen Strafprozeßordnungen seit 1848
(Götting. 1857); Zachariä, Handbuch des deutschen
Strafprozesses (das. 1861-68). Für die neue deutsche
Reichsstrafprozeßordnung: Kommentare von Dalke (2. Aufl.,
Berl. 1880), Hahn (2. Aufl., das. 1884 ff.), Keller (2. Aufl., Lahr
1882), Löwe (5. Aufl., Berl. 1888), Puchelt, Schwarze, Thilo
u. a.; v. Holtzendorff, Handbuch des deutschen
Strafprozeßrechts, in Einzelbeiträgen mehrerer Verfasser
(das. 1877-79, 2 Bde.); Lehrbücher des deutschen
Strafprozeßrechts von v. Bar (das. 1878), Dochow (3. Aufl.,
das. 1880), John (2. Aufl., Leipz. 1882), Meves (3. Aufl., Berl.
1880), Stenglein (Stuttg. 1887) u. a. Für den
österreichischen S.: Ullmann, Österreichisches
Strafprozeßrecht (2. Aufl., Innsbr. 1882); Herbst,
Österreichisches Strafprozeßrecht (Wien 1872);
Kommentare zur österreichischen Strafprozeßordnung von
Mayer (das. 1876, 4 Bde.), Mitterbacher (das. 1882) u. a. Für
den französischen Prozeß: das klassische Werk von
Faustin Hélie, Traité de l'instruction criminelle (2.
Aufl., Par. 1866-67, 8 Bde.); Richard-Maisonneuve, Droit
pénal et d'instruction criminelle (4. Aufl., das. 1881).
Für England: H. Stephen, Criminal law (4. Aufl., Lond. 1887);
Glaser, Das englisch-schottische Strafverfahren (Erlang. 1851).

Strafrecht (Kriminalrecht, früher auch "peinliches
Recht" , lat. Jus poenale , franz. Droit criminel, engl. Criminal
Law, ital. Diritto criminale),

362

Strafrecht (Allgemeines).

im objektiven Sinn der Inbegriff der Rechtsnormen über
strafbare Verbrechen; im subjektiven Sinn die Befugnis, wegen
verübten Unrechts Strafe zu verhängen (Strafgewalt,
Strafzwang, Jus puniendi). Das S. im objektiven Sinn enthält
die Grundsätze, welche der Staat bei der Ausübung seines
Rechts, zu strafen (S. im subjektiven Sinn), zur Anwendung zu
bringen hat. Wie nun jeder Teil der Rechtswissenschaft sich
philosophisch, dogmatisch, historisch und rechtspolitisch behandeln
läßt, so wird auch bezüglich des Strafrechts
zunächst zwischen natürlichem (allgemeinem,
philosophischem) und positivem (dogmatischem) S. unterschieden.
Ersteres enthält die strafrechtlichen Grundsätze, welche
wir durch Denken als die der Idee der Gerechtigkeit und den
sozialen Verhältnissen entsprechenden erkennen, letzteres
dagegen ist das geltende S. eines bestimmten Staats. Die
historische Behandlung des Strafrechts beschäftigt sich mit
seiner geschichtlichen Entwickelung, während die
strafrechtspolitische Untersuchung (Kriminalpolitik, Strafpolitik)
sich mit der zweckmäßigen Weiterentwickelung der
einzelnen Strafrechtsinstitute befaßt. Was das positive S.
anbetrifft, so haben gegenwärtig fast alle zivilisierten
Staaten umfassende strafrechtliche Kodifikationen aus- und
durchgeführt, deren Ergebnis sich in einem einheitlichen
Strafgesetzbuch darstellt. Daneben enthalten aber Spezialgesetze
(Nebengesetze) noch besondere Strafvorschriften, und so entsteht
der Gegensatz zwischen allgemeinem und besonderm S. in diesem Sinn.
Das S. ist ein Teil des öffentlichen Rechts, und zwar
gehören, um die Strafgewalt des Staats wirksam werden zu
lassen, drei Materien des öffentlichen Rechts zusammen: das S.
enthält die Strafgebote und -Verbote der Staatsgewalt, die
Strafgerichtsverfassung schafft die staatlichen Organe für
ihre Anwendung (s. Gericht), und der Strafprozeß (s. d.)
regelt ihre Thätigkeit. Strafprozeß und
Strafgerichtsverfassung werden wohl auch unter der Bezeichnung
"formelles S." zufammengefaßt, indem man alsdann das
eigentliche S. als "materielles S." bezeichnet. Jede Verwirklichung
des staatlichen Strafrechts setzt ferner dreierlei voraus: 1) eine
durch die gesetzgebende Macht ergangene Strafdrohung; 2) ein in
Gemäßheit dieser Androhung vom Richter nach den Formen
des Strafprozesses ergangenes Strafurteil; 3) eine in
Gemäßheit des Strafurteils bewirkte Strafvollstreckung.
Jeder dieser Sätze enthält auch gleichzeitig eine
Negation. Keine Strafe kann nämlich auf Grund freiwilliger
Unterwerfung eines sich selbst Anklagenden oder bei Ergreifung auf
frischer That vollzogen werden, so daß eine sogen.
Lynchjustiz mit dem Bestand eines geordneten Staatswesens
unverträglich ist. Anderseits kann aber auch der Richter
niemals eine Strafe erkennen, die nicht auf gewisse Handlungen oder
Unterlassungen im voraus angedroht war (nulla poena sine lege
poenali); ein Grundsatz, der von so großer Wichtigkeit ist,
daß er vielfach in die Urkunden des neuern Verfassungsrechts
aufgenommen wurde. Im konstitutionellen Staat liegt dabei der
Nachdruck darauf, daß Strafdrohungen nur in der Form des
Gesetzes, nicht auch in Gestalt sogen. Verordnungen der Monarchen
oder der Verwaltungsbehörden ergehen dürfen, noch viel
weniger aber der Richter befugt ist, gemeinschädliche oder
unsittliche Handlungen auf Grund einer von ihm angenommenen
Strafwürdigkeit mit Strafe zu belegen. Wie aber der Richter an
die Schranken des Gesetzes überall gebunden ist, so bleibt
auch wiederum der Gesetzgeber an die Schranken der Rechtsidee
gebunden. Die wissenschaftliche Entwickelung der letztern und die
notwendige Begrenzung der Strafgesetzgebung ist eine der
wichtigsten Aufgaben der Rechtswissenschaft. Die wesentlichen
Schranken, welche der Betätigung der Strafgesetzgebung
gegenwärtig auf Grundlage allgemein wissenschaftlicher
Erkenntnis gezogen werden, sind aber folgende: 1) Zeitliche,
insofern das Gesetz niemals hinterher bezogen werden darf auf
früher straflos gewesene Handlungen. Mißbräuchlich
waren daher die in der englischen Rechtsgeschichte vorkommenden
Bills of attainder, wonach im Weg der Gesetzgebung gewisse
Handlungen nicht für die Zukunft für strafbar
erklärt, sondern hinterher bestraft wurden. In der Hauptsache
gilt also der Satz, daß Strafgesetze keine rückwirkende
Kraft haben in Beziehung auf die früher vor ihrer Geltung
begangenen, straflos oder minder strafbar gewesenen Handlungen. 2)
Örtliche Grenzen. Der Wille des Strafgesetzgebers ist nur
innerhalb des von ihm beherrschten Staatsgebiets verpflichtend;
niemand hat das Recht, Ausländern im Ausland bindende Befehle
zu erteilen: das Gesetz ist territorial. Von diesem Grundsatz gibt
es indessen Ausnahmen, welche sich einerseits aus dem praktischen
Bedürfnis eines wirksamen Rechtsschutzes, anderseits aus dem
mangelhaften Zustand des Völkerrechts ergeben. Jeder Staat
bestraft seine Unterthanen heutzutage wegen gewisser auch im
Ausland begangener Verbrechen, und meistenteils werden
ausnahmsweise auch Ausländer wegen einzelner im Ausland
begangener Missethaten schwersten Ranges (z. B. Hochverrat,
Münzverbrechen) einer Ahndung unterworfen. Die Begrenzung
dieser Strafgewalt gegenüber dem Ausland ist jedoch noch heute
eine der schwierigsten und streitigsten Angelegenheiten der
Wissenschaft. Während nämlich einige von einem sogen.
Territorialitätsprinzip ausgehen und danach die im Ausland
begangenen Missethaten grundsätzlich straflos lassen wollen,
huldigen andre (Mohl, Geyer, Carrara) einer Anschauung, die als
Weltrechtsprinzip (Weltordnungsprinzip) bezeichnet wird und den Ort
der That regelmäßig gar nicht beachtet, endlich wieder
andre dem sogen. Personalitätsprinzip, wonach wenigstens die
Unterthanen des Staats an die heimischen Strafgesetze auch im
Ausland überall gebunden bleiben sollen. 3)
Gegenständliche Schranken. Das einfach Unsittliche oder
Irreligiöse scheidet aus dem Gebiet der Strafgesetzgebung aus,
was um so wichtiger für das heutige S. ist, als in
frühern Zeiten die Strafgesetzgebung überall mit
religiösen und kirchlichen Elementen stark versetzt war,
vornehmlich im Mittelalter, wo der Einfluß des kanonischen
Rechts überwog. Der Strafzwang des Staats wird ferner nur da
angewendet, wo der Zivilzwang nicht ausreicht, d. h. der Zwang zur
Erfüllung, zur Erstattung, zum Ersatz und zur Herausgabe. In
letzterer Beziehung lehrt uns aber die Geschichte des Strafrechts,
daß die Ansichten über das Verbrecherische in einer
starken Umwandlung begriffen sind. Vom Standpunkt des
gegenwärtigen Wissens aus ist zu sagen, daß die Grenze
der kriminalistischen Handlungen gegenüber der
zivilrechtlichen Materie nach einer einfachen, allgemein
gültigen Formel nirgends gezogen werden kann. Der
Strafgesetzgeber hat vielmehr notwendig, wenn er die
verbrecherischen Handlungen richtig erkennen will, zwei
Gesichtspunkte zu vereinigen: den ethischen, wonach nur die
jeweilig unsittlichen Handlungen dem Volksbewußtsein auch als
verbrecherisch erscheinen können, und den kriminalpolitischen,
wonach eine empfindliche, dauernde Schädigung oder
Gefährdung

363

Strafrecht (Theorien).

der gesellschaftlichen Gesamtordnung von gewissen Handlungen zu
besorgen ist. Wie verschieden in diesem Stück die Denkweise
der Kulturvölker ist, zeigt sich am deutlichsten darin,
daß die Römer den Diebstahl nur als eine
Privateigentumsverletzung mit zivilen Folgen (von Ausnahmen
abgesehen) behandelten, während für uns der Diebstahl das
wichtigste aller Verbrechen geworden ist. Betrachtet man ferner die
Masse der regelmäßig als verbrecherisch erklärten
Handlungen, so wird man nicht umhin können, drei Gruppen von
Tatbeständen zu sondern: 1) solche Verbrechen, deren Inhalt
ein nach Ort und Zeit besonders wandelbarer ist und sich in hohem
Maß veränderlich zeigt. Es sind dies vorzugsweise die
sogen. politischen oder Staatsverbrechen, in denen sich das
nationale Element der einzelnen Gesetzgebungen kundgibt. Weil diese
Thatbestände als schlechthin unsittlich nicht gelten
können, begründen sie auch keine Ablieferungspflicht
unter zivilisierten Staaten; 2) solche Verbrechen, die
vergleichungsweise einen annähernd gleichen Inhalt zu allen
Zeiten gehabt haben und deswegen das kosmopolitische Element der
Rechtsordnung repräsentieren: Mord, Totschlag, Fälschung,
Betrug, Notzucht etc.; 3) solche, bei denen die rechtswidrige
Verletzung des Privatwillens die Schädigung der allgemeinen
Interessen überwiegt und deswegen die Bestrafung von dem
Antrag des Verletzten abhängig gemacht wird (sogen.
Antragsdelikte). In dieser letztern Gruppe liegen die
Berührungspunkte zwischen zivilem u. kriminellem Unrecht.

Mit dem eigentlichen Grund und Zweck der Strafe
beschäftigen sich die Strafrechtstheorien. Es besteht aber in
dieser Hinsicht durchaus keine wissenschaftliche
Übereinstimmung. Die bisherigen, äußerst
zahlreichen Straftheorien sind nach folgenden Gesichtspunkten
klassifiziert worden: I. Relative Theorien
(Nützlichkeitstheorien), welche die Strafe als ein Mittel
betrachten, durch welches der Staat berechtigt ist, die ihm
obliegenden Wohlfahrtszwecke zu fördern. II. Absolute
Theorien(Gerechtigkeits-, Vergeltungs-, auch
Vergütungstheorien, im Unterschied von
Verhütungstheorien), welche die Strafe, unabhängig von
gewissen Zweckbestimmungen, als schlechthin
pflichtmäßige Bethätigung der im Staat waltenden
sittlichen Idee auffassen. III. Gemischte Theorien (auch
Vereinigungstheorien), welche sowohl die absolute Notwendigkeit der
Strafe als auch ihre Zweckmäßigkeit hervorheben.

Die wichtigsten relativen Theorien waren: die
Abschreckungstheorie, wonach durch den Strafvollzug andre von dem
Begehen von Verbrechen abgehalten werden sollen; die
Androhungstheorie (Theorie des psychologischen Zwanges), namentlich
von Feuerbach vertreten, wonach die Menschen durch die
Strafandrohung von verbrecherischen Handlungen abgeschreckt werden
sollen, von Bauer Warnungstheorie genannt. Hierher gehören
ferner die sogen. Präventionstheorie, welche den einzelnen
Verbrecher durch die Strafe von der Begehung weiterer Verbrechen
abhalten will, also eine "Spezialprävention" im Gegensatz zu
der "Generalprävention" der Androhungstheorie beabsichtigt,
namentlich von Grolman aufgestellt; dann die Besserungstheorie
Röders, wonach die Sicherung der Gesellschaft durch Umstimmung
des verbrecherischen Willens vermöge der strafweisen
Nacherziehung erreicht werden soll; endlich die Theorie des durch
Strafe zu leistenden moralischen Schadenersatzes von Welcker und
die Theorie der in der Strafe bewirkten gesellschaftlichen Notwehr
gegen das Verbrechen, die schon von Beccaria und von Blackstone im
vorigen Jahrhundert aufgestellt und in Deutschland von Martin
verteidigt ward. - Zu den absoluten Theorien zählen
vorzugsweise: die Wiedervergeltungstheorie Kants, gestützt auf
den kategorischen Imperativ der Gleichheit zwischen Strafübel
und Verbrechensübel (nachmals weiter entwickelt von Henke,
Zachariä, Berner), und die Gerechtigkeitstheorie Hegels,
wonach das Verbrechen Negation des Rechts und die Strafe Negation
der Negation, also Affirmation des Rechts, sein soll. Auch die
Theorie der religiösen Sühnung der göttlichen
Weltordnung, wie solche von ultramontanen oder
lutherisch-orthodoxen Rechtslehrern verfochten wird, gehört
hierher. - Die Vereinigungstheorien (vertreten von Abegg, Berner,
Heinze, Merkel u. a.) beruhen auf einer doppelten
Entwickelungsreihe. Entweder wird die Nützlichkeitsrelation
als Grund der Strafe anerkannt und der Verfolgung der
Nützlichkeitszwecke eine Schranke an der Gerechtigkeitsidee
gegeben, oder die Gerechtigkeit soll das sittliche Fundament der
Strafe abgeben, wobei aber die Zweckwidrigkeit eine Grenze für
die Verwirklichung der Rechtsidee bezeichnet. Endlich hat man auch
(Abegg) den Identitätsbeweis von Nützlichkeit und
Gerechtigkeit auf dem Boden des Strafrechts zu führen
unternommen. Zum endgültigen Austrag ist der Streit um die
Strafrechtstheorie noch nicht gebracht worden.

Was Deutschland anbelangt, so beruhte der ältere
Strafrechtszustand vor dem 16. Jahrh. auf denselben formellen
Grundlagen wie das gesamte Recht überhaupt: auf ältern
germanischen Rechtsgewohnheiten, auf der spezifischen Wirkung
kirchlich-kanonischer Anschauungen, endlich auf der Rezeption des
römischen Rechts. Merkwürdig genug gelangte Deutschland
1532 unter Karl V. zu einem einheitlichen Straf- und
Strafprozeßgesetzbuch (Constitutio Criminalis Carolina = C.
C. C.), welches unter den Denkmälern der deutschen
Rechtsgesetzgebung früherer Jahrhunderte unzweifelhaft den
hervorragendsten Platz verdient. Diese notdürftig, mit
großen Schwierigkeiten erreichte, den Fortbestand alter
germanischer Gewohnheiten und des römischen Rechts aber
anerkennende Gesetzgebungseinheit zersetzte sich im 18. Jahrh.
vollständig, insofern der Gerichtsgebrauch die alten, mit der
fortschreitenden Humanität unvereinbaren Leibesstrafen
beseitigte. Friedrich d. Gr. erkannte zuerst die Notwendigkeit
einer umfassenden neuen Kodifikation. Das alte gemeine Recht wurde
mehr und mehr durch die Partikularstrafgesetzbücher aus den
einzelnen Ländern verdrängt, und so entstand der
Unterschied zwischen gemeinem und partikulärem deutschen S.
Dem vorigen Jahrhundert gehören das Josephinische Gesetzbuch
von 1787 und das Allgemeine preußische Landrecht von 1794 an.
Von weitreichendem Einfluß ward der französische Code
pénal von 1810,. welcher in Frankreich noch
gegenwärtig, wenn schon mannigfach modifiziert, in
Gültigkeit ist (auch in Holland und in revidierter Gestalt
selbst in Belgien). Verhältnismäßig minder
bemerkbar war dieser Einfluß in den vor 1848 entstandenen
deutschen Strafgesetzbüchern, unter denen das bayrische,
dessen Urheber Feuerbach war, hervorragt und das braunschweigische
von 1840 und badische von 1845 besonders erwähnenswert sind
(außerdem: Königreich Sachsen 1838, Hannover 1840 und
Hessen-Darmstadt 1841). Dagegen war nach 1848 der Einfluß des
französischen Rechts dadurch gesteigert, daß man in der
Eile sich zur Annahme des französischen
Strafprozeßmusters bestimmen ließ. Kein Gesetzbuch hat
sich jedoch dem

364

Strafrechtstheorien - Strafregister.

Code pénal in seiner Technik so eng angeschlossen wie das
preußische vom 14. April 1851, das nach 1866 und 1867 auch in
den neueinverleibten Landesteilen zur Geltung gelangte. Der Periode
von 1848 bis 1870 gehören außerdem folgende
Strafgesetzbücher an: Nassau 1849, Thüringen (nebst
Anhalt, aber ohne Altenburg) 1850, Oldenburg 1858, Bayern 1861,
Lübeck 1863, Hamburg 1869. In einigen wenigen Ländern
(Mecklenburg, Bremen, Schaumburg-Lippe, Kurhessen) hatte sich das
alte gemeine Recht im Gerichtsgebrauch erhalten. Schon 1848
erkannte man allgemein das Willkürliche der strafgesetzlichen
Zersplitterung in Deutschland; die Grundrechte verordneten ein
einheitliches deutsches Strafgesetzbuch, und auch der erste
deutsche Juristentag in Berlin erklärte auf v. Kräwels
Antrag die Strafrechtseinheit für notwendig. In die
norddeutsche Bundesverfassung ging dieser nationale Wunsch als
Verfassungsartikel über. Auf der äußerlichen
Grundlage des preußischen Strafgesetzbuchs von 1851 ruhend,
entstand alsdann das ehemalige norddeutsche Strafgesetzbuch vom 31.
Mai 1870, das demnächst nach Begründung des Kaisertums in
veränderter Redaktion als deutsches Reichsstrafgesetzbuch vom
15. Mai 1871 noch einmal publiziert ist, seit 1. Jan. 1872 in ganz
Deutschland gilt und auch im Reichsland eingeführt wurde.

Nicht alles S. ist für Deutschland einheitlich geordnet.
Neben dem Reichsstrafrecht besteht ein Landesstrafrecht innerhalb
derjenigen Materien, die von Reichs wegen nicht geordnet wurden
oder der Gesetzgebung der einzelnen Staaten ausdrücklich
überlassen blieben. Im großen und ganzen trägt das
Reichsstrafgesetzbuch den Grundzug der Milde, die
hauptsächlichsten Mängel des preußischen
Strafgesetzbuchs sind beseitigt. Solange jedoch das vom Reichstag
erforderlich erachtete Strafvollzugsgesetz fehlt, bleibt die
strafrechtliche Einheit unvollständig. Einzelnen
fühlbaren Mißgriffen des Strafgesetzbuchs hat die
Strafrechtsnovelle vom 26. Febr. 1876 abgeholfen. Ein
Militärstrafgesetzbuch ist 20. Juni 1872 für das Deutsche
Reich erlassen. Der Entwurf eines österreichischen
Strafgesetzbuchs und das ungarische von 1878 schließen sich
dem deutschen an. Gegenwärtig gilt in Österreich noch das
Strafgesetzbuch vom 27. Mai 1852. Neuere Strafgesetzbücher
sind die der schweizerischen Kantone Zürich (1871), Genf
(1874), Schwyz (1881) u. a., das Strafgesetzbuch der Niederlande
(1881), Belgien (1867), Dänemark (1866), Schweden (1864),
Island (1869), Ungarn (1878), Bosnien (1881), Rußland (1866),
Spanien (1870), Rumänien (1864) und Serbien (1860). In England
fehlt ein Strafgesetzbuch.

[Litteratur.] Unter den ältern Lehrbüchern des
deutschen Strafrechts sind die Werke von Feuerbach, Grolman,
Mittermaier, Wächter, Heffter und Abegg hervorzuheben. Neuere
Lehrbücher von Berner (15. Aufl., Leipz. 1888), Hugo Meyer (4.
Aufl., Erlang. 1886), Schütze (2. Aufl., Leipz. 1874), v. Bar
(Bd. 1, Berl. 1882), v. Lißt (2. Aufl., das. 1884) und v.
Wächter (Vorlesungen, Leipz. 1881). Vgl. auch v. Holtzendorff,
Handbuch des deutschen Strafrechts in Einzelbeiträgen
(verschiedene Verfasser, Berl. 1871^77). Kommentare des
Reichsstrafgesetzbuchs von Oppenhoff (11. Aufl., Berl. 1888),
Schwarze (5. Aufl., Leipz. 1884), Olshausen (2. Aufl., Berl. 1886,
2 Bde.), Rüdorff (13. Aufl., das. 1885) u. a. Grundrisse zu
Vorlesungen von Binding (3. Aufl., Leipz. 1884), Geyer (Münch.
1884 f.) u. a. Herbst, Handbuch des österreichischen
Strafrechts (7. Aufl., Wien 1883, 2 Bde.); Janka,
Österreichisches S. (Prag 1884); Nypels, Le droit pénal
francais progressif et comparé (Par. 1864). Zeitschriften:
"Der Gerichtssaal" (seit 1874 verschmolzen mit der von v.
Holtzendorff seit 1861 herausgegebenen "Allgemeinen deutschen
Strafrechtszeitung"); Goltdammers "Archiv für
preußisches (und seit 1871 auch für deutsches) S.";
"Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft" (seit
1881); "Rivista penale di dottrina, legislazione e giurisprudenza"
(seit 1874). Die Entscheidungen des deutschen Reichsgerichts in
Strafsachen werden unter dem Titel: "Rechtsprechung des deutschen
Reichsgerichts in Strafsachen" von den Mitgliedern der
Reichsanwaltschaft herausgegeben.

Strafrechtstheorien, s. Strafrecht, S. 363.

Strafregister (Strafliste), das amtliche Verzeichnis der
in dem Bezirk der Registerbehörde ergehenden gerichtlichen
Verurteilungen. Wird dann aus diesem allgemeinen S. ein Auszug
angefertigt, enthaltend die Bestrafungen einer einzelnen bestimmten
Person, so erhält man die Strafliste (das Strafregister,
Strafverzeichnis) ebendieser Person. Ein solches S. ist für
die rechtliche Beurteilung einer Person vielfach von großer
Wichtigkeit. Für das Deutsche Reich ist jetzt durch Verordnung
des Bundesrats vom 16. Juni 1882 die Führung von
Strafregistern allgemein vorgeschrieben (vgl. "Zentralblatt
für das Deutsche Reich", S. 309). In diese S., welche nach
bestimmten Formularen zu führen sind, werden alle durch
richterliche Strafbefehle, polizeiliche Strafverfügungen,
Strafurteile der bürgerlichen Gerichte, einschließlich
der Konsulargerichte, sowie durch Strafurteile der
Militärgerichte ergehenden rechtskräftigen Verurteilungen
eingetragen und zwar wegen eigentlicher Verbrechen und Vergehen
sowie wegen folgender Übertretungen: Bruch der Polizeiaufsicht
oder der Ausweisung aus dem Reichsgebiet, Landstreicherei,
Bettelei, das strafbare Verhalten derjenigen Personen, welche sich
dem Spiel, dem Trunk oder dem Müßiggang dergestalt
hingeben, daß sie in einen Zustand geraten, in welchem zu
ihrem Unterhalt oder zum Unterhalt derjenigen, zu deren
Ernährung sie verpflichtet, durch Vermittelung der
Behörde fremde Hilfe in Anspruch genommen werden muß,
gewerbsmäßige Unzucht unter Verletzung polizeilicher
Vorschriften, Arbeitsscheu der aus öffentlichen Armenmitteln
Unterstützten und selbstverschuldete Obdachlosigkeit.
Ausgenommen sind die Verurteilungen in den auf Privatklage
verhandelten Sachen, in Forst- und Feldrügesachen, wegen
Zuwiderhandlungen gegen Vorschriften über Erhebung
öffentlicher Abgaben und Gefälle und wegen gewisser
militärischer Verbrechen und Vergehen. In die S. sind ferner
die Beschlüsse der Landespolizeibehörden über die
Unterbringung verurteilter Personen in ein Arbeitshaus oder deren
Verwendung zu gemeinnützigen Arbeiten, desgleichen die aus dem
Ausland eingehenden Mitteilungen über dort erfolgte
Verurteilungen einzutragen. Bezüglich derjenigen Verurteilten,
deren Geburtsort nicht zu ermitteln oder außerhalb des
Reichsgebiets gelegen ist, wird das S. bei dem Reichsjustizamt in
Berlin geführt, während im übrigen die
Registerführung den zuständigen Behörden
bezüglich aller Personen obliegt, deren Geburtsort im Bezirk
derselben gelegen ist. Diese Behörden sind in Preußen
und in den meisten übrigen deutschen Staaten die Staatsanwalte
bei den Landgerichten, in Bayern und in Bremen die Amtsanwalte, in
Sachsen und Baden die Amtsgerichte, in Württemberg die
Ortsvorstände jeder Gemeinde und in Elsaß-Lothringen die
Gerichtsschreibereien der Landgerichte. Die Auf-

365

Strafsachen - Strafverfahren.

sicht und Leitung der Registerführung liegt unter allen
Umständen der Staatsanwaltschaft bei den Landgerichten ob. Die
nötigen Mitteilungen über die erfolgten Verurteilungen
sind von den betreffenden Behörden an die Registerbehörde
des Geburtsorts oder, sofern diese Behörde der mitteilenden
Behörde nicht bekannt ist, an die Staatsanwaltschaft
desjenigen Landgerichts, zu dessen Bezirk der Geburtsort
gehört, zu richten. Ist der Geburtsort nicht zu ermitteln oder
außerhalb Deutschlands gelegen, so ergeht die Mitteilung an
das Reichsjustizamt. Diese Strafnachricht erfolgt nach
vorschriftsmäßigem Formular. Gerichtlichen und andern
öffentlichen deutschen Behörden ist auf jedes eine
bestimmte Person betreffende Ersuchen über den Inhalt der S.
kostenfrei amtliche Auskunft zu erteilen. Ersuchen und Auskunft
erfolgen nach vorgeschriebenem Formular. Inwieweit auswärtigen
Behörden solche Auskunft zu erteilen, bestimmt die jeweilige
Landesregierung und in Ansehung des bei dem Reichsjustizamt
geführten Registers der Reichskanzler. Eine internationale
Regelung dieser Sache steht in Aussicht. Vgl. Hamm, Die
Einführung einheitlicher S. (Mannh. 1876).

Strafsachen, diejenigen Rechtsangelegenheiten, bei
welchen es sich um die Untersuchung und Bestrafung von Verbrechen
handelt. Ihre Behandlungsweise bestimmt sich nach den
Rechtsgrundsätzen über den Strafprozeß (s. d.).

Strafsenat, Abteilung des Reichsgerichts (s. d.) oder
eines Oberlandesgerichts (s. d.), welche mit der Bearbeitung von
Strafsachen betraut ist.

Strafurteil (Straferkenntnis), die in einer
strafrechtlichen Untersuchung erteilte richterliche Entscheidung,
teilt sich in Haupt- oder Endurteile (sententiae detinitivae) und
Zwischenurteile (s. interlocutoriae). Die erstern sind
Entscheidungen in der Hauptsache, durch die ein Strafprozeß
zu Ende gebracht wird; die andern werden gegeben, bevor die
Untersuchung das zur Fällung eines Endurteils nötige
Resultat geliefert hat, wie z. B. ein Beschluß über
Eröffnung des Hauptverfahrens, über Zulässigkeit der
Untersuchungshaft, Ablehnung eines Richters etc. Im engern Sinn
versteht man jedoch unter S. nur dasjenige gerichtliche Urteil,
welches das Hauptversohren abschließt (Endurteil), sei es
durch Verurteilung, sei es durch Freisprechung, sei es endlich
durch Einstellung des Verfahrens. Manche Kriminalisten bezeichnen
endlich als S. lediglich das verurteilende Endurteil (s.
Urteil).

Strafverfahren, sowohl Bezeichnung für eine einzelne
strafrechtliche Untersuchung als für das Verfahren
überhaupt, welches zum Zweck der Untersuchung und Bestrafung
von verbrecherischen Handlungen stattfindet. Die Einleitung eines
Strafverfahrens (einer strafrechtlichen Untersuchung, eines Straf-,
Kriminalprozesses) ist heutzutage der Regel nach Sache der
Staatsanwaltschaft. Nur ausnahmsweise ist es dem Verletzten
überlassen, sein durch strafbares Unrecht angeblich verletztes
Recht vor Gericht selbst zu verfolgen, so nach deutschem
Strafprozeßrecht bei einfachen Beleidigungen und bei leichten
Körperverletzungen im Weg der Privatklage (s. d.). Die
Staatsanwaltschaft, bei leichtern Vergehen und Übertretungen
die Amtsanwaltschaft, schreitet ein auf erstattete Anzeige, welche
jedoch nicht nur bei dem Staats- oder Amtsanwalt, sondern auch bei
den Behörden und Beamten des Polizei- und Sicherheitsdienstes
sowie bei den Amtsgerichten angebracht werden kann. Bei
Antragsverbrechen (s. d.), welche nur auf Antrag des Verletzten
strafrechtlich verfolgt werden, bedarf es eines förmlichen
Antrags. Das S. selbst zerfällt in ein Vorverfahren und ein
Hauptverfahren. Ersteres hat den Zweck, festzustellen, ob gegen
eine bestimmte Person wegen eines bestimmten Verbrechens das
Hauptversohren zu eröffnen sei. Zweck des Hauptverfahrens
dagegen ist es, festzustellen, ob der Angeklagte des ihm zur Last
gelegten Verbrechens schuldig sei. Bezüglich des Vorverfahrens
ist zwischen dem Vorbereitungsverfahren (Ermittelungs-,
Skrutinialverfahren) und der Voruntersuchung (s. d.) zu
unterscheiden. In dem erstern ist hauptsächlich die
Staatsanwaltschaft mit Unterstützung der Polizeibehörden
thätig. Sie kann aber auch den Einzelrichter in Anspruch
nehmen, welch letzterer bei Gefahr im Verzug schleunige
Untersuchungshandlungen auch von Amts wegen vorzunehmen hat. Das
Vorbereitungsverfahren richtet sich zunächst nicht notwendig
gegen eine bestimmte Person; es handelt sich vielmehr bei demselben
vor allen Dingen um die Frage, ob überhaupt ein Verbrechen
vorliegt, und im Bejahungsfall demnächst allerdings auch um
die Ermittelung des Thäters. Bei der Voruntersuchung dagegen
steht ein bestimmter Angeschuldigter und ein bestimmtes Verbrechen
in Frage. Die Voruntersuchung wird von dem Richter
(Untersuchungsrichter) geführt, und Zweck derselben ist es,
durch Klarstellung des Sachverhalts eine Entscheidung darüber
zu ermöglichen, ob das Hauptverfahren gegen den
Angeschuldigten zu eröffnen, oder ob derselbe außer
Verfolgung zu setzen sei. Die Eröffnung des Hauptverfahrens
(s. d.) setzt eine Anklageschrift der Staatsanwaltschaft voraus;
sei es, daß sie auf Grund des Vorbereitungsverfahrens, sei
es, daß sie auf Grund der Voruntersuchung eingereicht wird.
Das Vorbereitungsverfahren schließt entweder mit der
Einleitung der Voruntersuchung, oder mit der Eröffnung des
Hauptverfahrens, oder aber mit der Einstellung (s. d.) des
Strafverfahrens durch den Staatsanwalt ab. Ist dagegen eine
Voruntersuchung geführt, so beschließt das Gericht
darüber, ob das Hauptverfahren zu eröffnen, oder ob das
S. definitiv oder vorläufig einzustellen sei. Das
Hauptverfahren selbst findet vor dem erkennenden Gericht (s. d., S.
166) statt. Der Schwerpunkt des Hauptverfahrens, wie derjenige des
ganzen Strafverfahrens, liegt in der Hauptverhandlung (s. d.).
Diese schließt mit dem Urteil ab, welches entweder ein
freisprechendes oder ein verurteilendes und nur ausnahmsweise auf
Einstellung der Untersuchung gerichtet ist. Natürlich braucht
durchaus nicht jede Strafsache alle drei Stadien des
Strafverfahrens, Vorbereitungsverfahren, Voruntersuchung und
Hauptverhandlung, zu durchlaufen. Doch ist die Voruntersuchung bei
den vor das Reichsgericht oder vor das Schwurgericht gehörigen
Strafsachen notwendig, bei den Schöffengerichtssachen dagegen
unzulässig (deutsche Strafprozeßordnung, § 176). An
das S. in erster Instanz kann sich ein Verfahren in der Instanz der
Rechtsmittel (s. d.), möglicherweise auch einmal ein Verfahren
zum Zweck der Wiederaufnahme des Verfahrens anschließen. Dem
rechtskräftigen verurteilenden Straferkenntnis folgt die
Strafvollstreckung. Als besondere Arten des Strafverfahrens sind
nach der deutschen Strafprozeßordnung folgende zu nennen: 1)
das S. bei dem amtsgerichtlichen Strafbefehl (s. d.); 2) das S.
nach vorangegangener polizeilicher Strafverfügung (s. d.); 3)
das S. bei dem Strafbescheid (s. d.) der Verwaltungsbehörden
(administratives S.); 4) das Verfahren gegen Abwesende, welche sich
der Wehrpflicht entzogen haben; 5) das S. bei Einziehungen und

366

Strafverfügung - Strahlapparate.

Vermögensbeschlagnahmen (objektives S.). Bei dem letztern
besteht die Eigentümlichkeit, daß die Hauptverhandlung
auch dann stattfindet, wenn die Strafverfolgung oder Verurteilung
einer bestimmten Person nicht ausführbar ist. Im einzelnen
richtet sich das S. nach den Vorschriften des
Strafprozeßrechts (s. Strafprozeß).

Strafverfügung, s. Strafbefehl.

Strafversetzung, Disziplinarstrafe, welche in der
Versetzung eines Beamten in ein andres Amt von gleichem Rang
besteht; zumeist mit einer Schmälerung des Gehalts verbunden,
welche z. B. nach dem deutschen Reichsbeamtengesetz vom 31.
März 1873, § 75, nicht über ein Fünftel des
Diensteinkommens betragen soll. Statt der Verminderung des
Diensteinkommens kann auch eine Geldstrafe ausgesprochen werden,
welche ein Drittel des jährlichen Diensteinkommens nicht
übersteigt.

Strafverzeichnis, s. Strafregister.

Strafvollstreckung, s. Zwangsvollstreckung.

Strafzwang, s. Strafrecht, S. 362.

Stragelkaffee, s. Astragalus.

Strahl, Vogel, s. Star.

Strahlapparate, mechanische Vorrichtungen zum Heben oder
Fortschaffen von flüssigen, gasförmigen oder
körnigen und schlammigen Körpern mittels eines unter
Druck, also mit einer gewissen Geschwindigkeit, ausströmenden
Strahls einer Flüssigkeit oder Luftart. Die hierbei
erforderliche Bewegungsübertragung von der bewegenden auf die
Förderflüssigkeit findet nicht, wie etwa bei den
Kolbenpumpen, durch direkten Druck, sondern durch die bei der
Ausströmung angesammelte lebendige Kraft statt. An Fig. 1
läßt sich der Vorgang erklären. Der aus dem
kegelförmigen Mundstück (Düse) M des Rohrs A
austretende Strahl reißt die ihn umgebende Flüssigkeit,
welche durch das Rohr B in den Raum D gelangen kann, mit sich in
die Mündung (Fangdüse) des Rohrs C fort. Die beim
Eintritt in das Rohr C in der Mischflüssigkeit vorhandene
Geschwindigkeit wird durch allmähliche Erweiterung von C in
Druck umgewandelt, welcher die Überwindung einer gewissen
Steighöhe oder das Eindringen in einen unter Druck stehenden
Raum gestattet. Bei der Übertragung der Geschwindigkeit von
der bewegenden auf die bewegte Flüssigkeit finden bedeutende
Kraftverluste statt, welche den Nutzeffekt der S. um so
ungünstiger beeinflussen, je größer der Unterschied
zwischen dem spezifischen Gewicht der beiden zur Verwendung
kommenden Flüssigkeiten ist; mithin werden die S. die Kraft
des bewegenden Mediums am besten übertragen, wenn der bewegte
Körper denselben Aggregatzustand hat wie jenes (wenn also z.
B. Wasser durch einen Wasserstrahl, Luft durch einen Dampfstrahl
bewegt wird). Trotzdem werden vielfach S. mit Medien verschiedenen
Zustandes verwendet (der bei weitem verbreitetste Strahlapparat,
der Injektor, wirkt mit Dampf auf Wasser), einerseits, weil die S.
außerordentlich einfach und billig sind, keiner besondern
Kraftmaschine bedürfen, sehr geringe Dimensionen haben und
wegen Mangels aller beweglichen Teile weder Reparatur- noch
Schmierkosten verursachen, anderseits, weil die bei Verwendung von
Dampf auftretende Erwärmung der Förderflüssigkeit
oft erwünscht ist (z. B. in Badeanstalten, bei Dampfkesseln
etc.). Wegen der genannten Vorzüge haben die S. in den letzten
Jahrzehnten eine ausgedehnte Verwendung überall da gefunden,
wo eine gute Ausnutzung der vorhandenen Betriebskraft erst in
zweiter Linie berücksichtigt zu werden braucht. Um die
Verbreitung der S. und die Anpassung derselben an alle
möglichen speziellen Verhältnisse haben sich in
Deutschland besonders Gebr. Körting in Hannover verdient
gemacht.

Verwendungsarten der S. 1) Das bewegende Medium ist
tropfbarflüssig (Druckwasser mit natürlichem oder
künstlichem Gefälle). - Wasserstrahlpumpen (s. Pumpen)
eignen sich zum Entwässern von Kellern und Baugruben, zum
Entleeren von Jauchegruben, nach Körting als Hilfsapparate in
Bergwerken etc. Bei Körtings Schlammelevatoren (Fig. 2) zum
Reinigen der Brunnen von Triebsand, Fortschaffen von Baggerschlamm,
Heben von Kohlenschlamm etc. wird ein Teil des durch das Rohr b
zufließenden Betriebswassers bei a ausgespritzt, um den
Schlamm etc. aufzurühren, worauf derselbe mit viel Wasser
durch eine Wasserstrahlpumpe d gehoben wird und bei c
abfließt. Wasserstrahlluftpumpen finden in Apotheken und
Laboratorien Verwendung. Körtings Wasserstrahlkondensatoren,
s. Dampfmaschine, S. 462. Wassertrommelgebläse (s.
Gebläse, S. 977) sind die ältesten, schon seit
Jahrhunderten bekannten S., welche in verbesserter Form in
Laboratorien gebraucht werden. 2) Das bewegende Medium ist
luftförmig (fast ausschließlich Dampf).
Dampfstrahlgebläse (s. Gebläse, S. 978) finden entweder
zum Eindrücken von Luft Verwendung (Körtings
Unterwindgebläse bei Feuerungsanlagen, Rührgebläse,
welche durch Einblasen von Luft in die umzurührende
Flüssigkeit arbeiten, Luftdruckapparate zur Absorption von
Gasen durch Flüssigkeiten, Regeneriergebläse für
Gasreinigungsapparate, Kohlensäuregebläse für
Zuckerfabriken etc.), oder dienen zum Ansaugen von Luft oder andern
Gasen (Blasrohr an Lokomotiven, Körtings
Schornsteinventilatoren, Ventilatoren für Bergwerke,
Ventilatoren für Trockenapparate, Filtrierapparate,
Papiermaschinen, Dampfstrahlgasexhaustoren für
Teerschwelereien und Gasfabriken, Exhaustoren für
Eisenbahnbremsen etc.). Lnftstrahlgebläse werden in Bergwerken
mit komprimierter Luft betrieben und dienen zur Ventilation vor
Ort. Körtings Ventilator für Eisenbahnwagen benutzt den
durch die Bewegung des Wagens und den

367

Strahlbeinslahmheit - Strahlenbrechung.

Wind hervorgebrachten Luftstrom. Ein solcher Ventilator (Fig. 3)
wird oben auf die Wagendecke gesetzt und mit dem Innern des Wagens
durch eine Röhre C verbunden. Der Luftstrom tritt durch A in
den Raum B und wirkt hier saugend, so daß durch C Luft
emporsteigt und mit der Betriebsluft bei D ins Freie tritt. Ein
kleiner Schieber, welcher unterhalb des Saugrohrs C angebracht
wird, gestattet die Regulierung der Ventilation von seiten der
Passagiere. Der ganze obere Teil ist um den Zapfen E drehbar und
kann sich deshalb immer nach der Zug-, resp. Windrichtung
einstellen. Injektoren (s. d.) benutzen die Kondensierung des aus
dem zu speisenden Kessel entnommenen Betriebsdampfs durch das
Förderwasser dazu, dem letztern eine Geschwindigkeit zu
erteilen, welche höher ist als die dem Druck in dem Kessel
entsprechende Wassergeschwindigkeit. Es ist das dadurch
möglich, daß der Dampf, der bei seinerAusströmung
aus der Dampfdüse des Injektors unter der Einwirkung des
Kesseldrucks eine viel bedeutendere Geschwindigkeit annimmt als ein
unter gleichem Druck ausströmender Wasserstrahl, diese bei der
Kondensation mit dem Förderwasser austauscht.
Dampfstrahlpumpen oder Ejektoren, welche zum Fördern von
Wasser mittels eines Dampfstrahls dienen, wirken, was die
Kraftausnutzung betrifft, sehr ungünstig, können aber
doch da, wo es auf die Übertragung der Wärme ankommt,
recht vorteilhaft sein, so zur Wasserförderung in
Badeanstalten, zum Füllen der Tender aus Brunnen von der
Lokomotive aus, als Zirkulationsvorrichtungen für Bleich- und
Waschapparate etc. Zum Heben von Säuren, Laugen, sauren
Wassern etc. fertigt Körting Dampfstrahlpumpen von Porzellan.
Körtings Dampfstrahlfeuerspritzen sind als Hausspritzen,
Fabrikspritzen etc. da zweckmäßig, wo Dampfkessel
vorhanden sind; es bedarf dann nur der Öffnung eines
Dampfventils, um die Spritzen in Betrieb zu setzen.
Dampfstrahlschlammelevatoren sind in ähnlicher Weise wie die
Wasserstrahlschlammelevatoren konstruiert.
Dampfstrahlanwärmeapparate wirken in der Weise, daß ein
Dampfstrahl, welcher in das anzuwärmende Wasser
eingeführt wird, das umgebende Wasser ansaugt, seine
Wärme an dasselbe abgibt und es mit einer gewissen
Geschwindigkeit vor sich hertreibt, so daß immer neue
Wasserteile zum Apparat gelangen. Zerstäuber dienen zur
nebelartigen Verteilung von wohlriechenden Flüssigkeiten
mittels eines Luftstrahls (die sogen. Rafraichisseure oder
Refrigeratoren), von Petroleum in Feuerungsanlagen mittels eines
Dampfstrahls etc. Um feste Körper durch einen Dampfstrahl zu
heben, wird die Geschwindigkeit des Dampfes zunächst auf
atmosphärische Luft übertragen. Bei einem Kornelevator
(Fig. 4 u. 5) wird das Heben des Getreides dadurch bewirkt,
daß mittels des Dampfstrahlapparats r in dem
Sammelgefäß d eine Luftverdünnung hervorgebracht
wird, die sich in das Steigrohr e fortsetzt, die mit großer
Geschwindigkeit nachtretende Luft reißt das im
Fülltrichter a (Fig. 5) befindliche Korn empor bis in das
Sammelgefäß d (Fig. 4), wo infolge der plötzlichen
Geschwindigkeitsverringerung das Korn zu Boden fällt,
während staubförmige Verunreinigungen mit der Luft durch
r und f abgehen; g ist das Dampfzuführungsrohr.

Strahlbeinslahmheit, s. Hufgelenkslahmheit.

Strahlblüten, s. Kompositen.

Strahlegg, Gebirgssattel zwischen dem Finsteraarhorn und
Schreckhorn in den Berner Alpen, 3373 m hoch, schwierige, aber sehr
lohnende Gletscherpartie.

Strahlenblende, s. Zinkblende.

Strahlenbrechung, die Veränderung der Richtung,
welche die Lichtstrahlen bei ihrem Übergang aus einem Mittel
in ein andres erleiden. Tritt der Lichtstrahl aus einem
dünnern Medium in ein dichteres über, so wird er nach dem
Einfallslot zu gebrochen. Dies findet z.B. statt, wenn das Licht
der Gestirne in unsre Atmosphäre tritt, und wir sehen daher
die Gestirne nicht nach der Richtung hin, wo sie sich wirklich
befinden, und wo wir sie sehen würden, wenn die
Atmosphäre fehlte. Diese Veränderung des scheinbaren
Ortes der Gestirne nennt man die astronomische S. oder Refraktion.
Sie vermindert alle Zenitdistanzen, d. h. wir sehen alle Gestirne
in einer größern Höhe, als wir sie ohne Refraktion
sehen würden,

368

Strahlende Materie - Stralsund.

und zwar ist diese Vermehrung der Höhe um so bedeutender,
je näher dem Horizont ein Stern steht: während sie im
Zenith gleich Null ist, beträgt sie im Horizont 33-35
Bogenminuten. Daher ist die S. auch Ursache, daß die Gestirne
für jeden Ort früher auf- und später unterzugehen
scheinen, als sie in der That durch den Horizont dieses Ortes
gehen. Dies hat zunächst eine Verlängerung des Tags zur
Folge (bei uns um 4 Minuten), die in der Polarzone am
beträchtlichsten ist, da dort die Sonne mehrere Tage, ja
Wochen über dem Horizont gesehen wird, obschon sie unter ihm
steht. Die S. ist ferner der Grund, warum Sonne und Mond nahe am
Horizont stark abgeplattet erscheinen.

Strahlende Materie, s. Geißlersche Röhre, S.
30.

Strahlenkranz wird in der antiken Kunst allen Lichtgottheiten
gegeben, vorzugsweise dem Helios (Sol), der Selene, der Eos,
dem Phosphoros und Hesperos (vgl. Nimbus). - In der Anatomie
(Corona ciliaris) s. Auge, S. 74.

Strahlerz (Klinoklas, Abichit, Aphanesit, Siderochalcit),
Mineral aus der Ordnung der Phosphate, findet sich in
glasglänzenden, monoklinen Kristallen und in
radialstängeligen Aggregaten, ist spangrün bis
blaugrün, glasglänzend, kantendurchscheinend, Härte
2,5-3, spez. Gew. 4,2-4,5, besteht aus wasserhaltigem
Kupferarseniat Cu3As2O8 + 3H2CuO2, mit 50 Proz. Kupfer, findet sich
auf englischen Kupfererzgängen und bei Saida.

Strahlgebläse, s. Strahlapparate.

Strahlkies, s. Markasit.

Strahlpumpe, s. Strahlapparate.

Strahlstein, s. Hornblende.

Strahlsteinschiefer, Gestein, s. Hornblendefels.

Strahltiere, s. Radiaten.

Strahlungsmesser, s. Radiometer.

Strahlzeolith, s. Desmin.

Strähne, s. Strang und Garn, S. 911.

Strait (engl., spr. streht), Straße, Meerenge.

Straits Settlements (spr. strehts), engl. Provinz auf der
hinterindischen Halbinsel Malakka, 3742 qkm (68 QM.) groß mit
(1887) 536,000 Einw., besteht aus den unter sich durch
Vasallenstaaten getrennten Inseln und Landschaften: Singapur
(Insel), Wellesley mit Pinang (Insel) und Malakka. Sitz des
Gouverneurs ist Singapur. 1886 betrugen die Einfuhr 20,151,763, die
Ausfuhr 17,459,312 Pfd. Sterl., der Schiffsverkehr 7,491,099 Ton.,
die öffentlichen Einnahmen 671,427, die Ausgaben 626,302, die
Schuld 40,700 Pfd. Sterl. Es waren eine Eisenbahn von 45 km und
Telegraphenlinien von 611 km Länge im Betrieb. Bis 1867
unterstanden die S. der indischen Regierung, seither dem englischen
Kolonialamt.

Strakonitz, Stadt im südwestlichen Böhmen, an
der Wotawa und der Staatsbahnlinie Wien-Eger, Sitz einer
Bezirkshauptmannschaft und eines Bezirksgerichts, mit einem
Schloß des Johanniterordens aus dem 13. Jahrh., einer
Dechantei- und 3 andern Kirchen, bedeutender Fabrikation von
Wirkwaren und orientalischen Fes, Bierbrauerei, lebhaftem Handel
und (1880) 5835 Einw. S. ist Geburtsort des Dichters Celakovsky.
Dabei Neu-S. mit 2064 Einw.

Stralau (Stralow), Dorf im preuß. Regierungsbezirk
Potsdam, Kreis Niederbarnim, auf einer Halbinsel in der Spree und
an der Berliner Ringbahn, mit Berlin durch Dampfschiffahrt
verbunden, hat eine evang. Kirche, Jutespinnerei und -Weberei,
Teppich-, Anilin-, Margarin-, Palmkernöl-, Palmkernmehl-,
Maschinen- und Schwefelkohlenstofffabrikation, Gärtnerei,
Fischerei u. (1885) 737 Einw. S. ist ein uraltes Fischerdorf;
alljährlich findet hier 24. Aug. eins der bekanntesten
Berliner Volksfeste, der "Stralauer Fischzug", statt. Vgl.
Beringuier in "Der Bär" 1876.

Stralsund, Hauptstadt des gleichnamigen Regierungsbezirks
in der preuß. Provinz Pommern und Stadtkreis, bis 1873 auch
Festung, am Strelasund, der Rügen vom Festland scheidet,
Knotenpunkt der Linien Berlin-S., Angermünde-S., Rostock-S.
und S.-Bergen der Preußischen Staatsbahn, hat 3 Land- und 4
Wasserthore, 5 evangelische und eine kath. Kirche, eine Synagoge
und (1885) mit der Garnison (2 Bat. Infanterie Nr. 42) 28,984 Einw.
(darunter 998 Katholiken und 126 Juden), welche Spielkarten-, Lack-
und Firnis-, Zigarren-, Strohhülsen-, Leinenwaren-,
Glaceehandschuh-, Konserven-, Seifen-, Stärke-, Maschinen-,
Kumt-, Möbel- und Thonwarenfabrikation, Fischerei,
Ziegelbrennerei, Bierbrauerei etc. betreiben, auch hat S. eine
große Öl- und eine Dampfkunstmühle mit
Getreidebrennerei. Der Handel, unterstützt durch eine
Handelskammer und eine Reichsbanknebenstelle wie durch die lebhafte
Schifffahrt (dabei regelmäßiger Postdampferverkehr mit
Malmö in Schweden), befaßt sich vorzugsweise mit
Heringen, geräucherten Aalen, Steinkohlen, Getreide und
Hülsenfrüchten, Kolonialwaren, Wolle, Öl etc. Die
Reederei zählte 1887: 164 Schiffe zu 21,712 Registertonnen, in
den Hafen liefen ein 1886: 701 Schiffe zu 86,522 Registertonnen; es
liefen aus: 598 Schiffe zu 82,737 Registertonnen. S. hat ein
Gymnasium, ein Realgymnasium, eine Prüfungskommission für
Steuermänner und Schiffer, eine Navigationsschule, eine
Taubstummenanstalt, ein durch seine Fassade interessantes Rathaus
(1306) mit Rügenschen Altertümern, ein Theater, eine
Anstalt für Irre und Sieche, ein Fräuleinstift, eine
Lotsenstation, ein Seebad etc. Sonst ist S. Sitz einer
königlichen Regierung, eines Amtsgerichts, einer
Forstinspektion, eines Hauptzollamtes, von 9 Konsuln etc. Auf dem
Knieperkirchhof das Grab Ferdinand v. Schills. - S. wurde 1209 von
Jarimar I., Fürsten von Rügen, gegründet und bald
eins der bedeutendsten Mitglieder der Hansa. Obwohl den
Herzögen von Pommern unterthan, wußte sich die Stadt
auch später im Besitz einer fast reichsfreien Stellung zu
erhalten. 1429 belagerten die Dänen die Stadt, erlitten aber
auf der kleinen vor der Stadt gelegenen Insel Strela eine
Niederlage, woher jene Insel den Namen Dänholm erhalten hat.
1628 schloß S. ein Bündnis mit Gustav Adolf von Schweden
und wurde von Wallenstein belagert. Die Belagerung dauerte vom 23.
Mai bis 4. Aug., an welchem Tag Wallenstein mit einem Verlust von
12,000 Mann unverrichteter Sache abziehen mußte. Im
Westfälischen Frieden 1648 wurde S. an Schweden abgetreten. Am
15. Okt. 1678 mußte es sich nach einem heftigen Bombardement
dem Großen Kurfürsten ergeben, kam aber schon 1679 an
Schweden zurück. Im Nordischen Krieg wurde die Stadt 1715 von
den vereinigten Preußen, Sachsen und Dänen belagert und
23. Dez. von den Schweden durch Kapitulation geräumt, aber
ihnen schon 1720 zurückgegeben. Im Juli 1807 kamen die
Franzosen durch Kapitulation in den Besitz der Stadt und
ließen die Festungswerke schleifen. Am 31. Mai 1809 wurde die
von Schills Freischar besetzte Stadt von Dänen,
Holländern

369

Stralzio - Strandläufer.

und Oldenburgern erstürmt. Durch den Kieler Frieden vom 14.
Jan. 1814 kam S. nebst ganz Schwedisch-Pommern an Dänemark und
von diesem durch Vertrag vom 4. Juni 1815 an Preußen. Vgl.
Mohnike und Zober, Stralsundische Chroniken (Strals. 1833-34, 2
Bde.); Kruse, Geschichte der Stralsunder Stadtverfassung (das.
1848); Fock, Wallenstein und der Große Kurfürst vor S.
(Bd. 6 der "Rügensch-pommerschen Geschichten", Leipz.
1872).

Der Regierungsbezirk S. (s. Karte "Pommern") umfaßt 4010
qkm (72,83 QM.) mit (1885) 210,165 Einw. (darunter 207,004
Evangelische, 4268 Katholiken und 196 Juden), und fünf
Kreise:

Kreise QKilometer QMeilen Einwohner Einw. auf 1QKil.

Franzburg 1102 20,01 41985 38

Greifswald 962 17,47 58551 61

Grimmen 959 17,42 35606 37

Rügen 968 17,58 45039 47

Stralsund (Stadt) 9 0,34 28894 -

Stralzio (ital. stralcio, "gütlicher Vergleich"), in
Österreich s. v. w. Liquidation, Geschäftsauflösung;
stralzieren, s. v. w. liquidieren.

Stramberg, Stadt in der mähr. Bezirkshauptmannschaft
Neutitschein, an der Lokalbahn Stauding-S., mit altem Schloß,
Baumwollweberei, Samtbandfabrikation, Kalkbrennerei und (1880) 2282
Einw.

Stramin, s. Kanevas.

Strand, s. Küste.

Strand (spr. strännd), eine der Hauptverkehrsadern
Londons, verbindet Charing-Croß mit der City. Zahlreiche
Theater liegen dort oder in der Nähe.

Strandämter, s. Strandung.

Strandbatterien, s. Festung, S. 187.

Strandbehörden, s. Strandung.

Strandberg, Karl Wilhelm, schwed. Dichter und Publizist,
geb. 16. Jan. 1818 zu Stigtamta in Södermanland, studierte zu
Lund, ließ sich 1840 in Stockholm als Schriftsteller nieder
und übernahm in der Folge die Redaktion der "Post- och
Inrikes-Tidningar" ("Post- und Reichszeitung"), die er bis zu
seinem Tod führte. Er starb 5. Febr. 1877 als Mitglied der
schwedischen Akademie. Als Dichter erwarb er sich zuerst durch
seine unter dem Pseudonym Talis Qualis veröffentlichten,
politisch gefärbten "Sangar i pansar" ("Geharnischte Lieder",
1835), durch die ein Zug nordischer Kraft und Einfachheit geht,
einen gefeierten Namen. In spätern Jahren erschien ein zweiter
Band Gedichte, die einen weichern und innigern Ton anschlugen, aber
sich nicht minder als die ersten durch begeisterte Vaterlandsliebe,
Adel der Gesinnung u. Formvollendung auszeichneten. Umfangreicher
als seine Originalarbeiten sind seine vortrefflichen metrischen
Übersetzungen, unter denen wohl der genialen Übertragung
von Byrons "Don Juan" und poetischen Erzählungen der erste
Rang gebührt. Seine "Samlade vitterhetsarbeten" erschienen
Stockholm 1877-78 in 2 Bänden.

Strandelster, s. v. w. Austerndieb (s. d.).

Strandgut, die von einem gescheiterten, gestrandeten oder
sonst verunglückten Schiff geretteten Güter und
Schiffstrümmer. Dabei wird unterschieden zwischen S. im engern
Sinn, den bei einer Seenot geborgenen Gegenständen;
Seeauswurf, Gegenständen, welche außer dem Fall einer
Seenot von der See auf den Strand geworfen werden; Strandtrift
(strandtriftigem Gut), Gegenständen, die von der See gegen den
Strand getrieben und vom Strand aus geborgen wurden; Wrackgut,
versunkenen Schiffstrümmern oder sonstigen Gegenständen,
die vom Meeresgrund heraufgebracht sind, und Seetrift (seetriftigem
Gut), von welchem man dann spricht, wenn ein verlassenes Schiff
oder sonstige besitzlos gewordene Gegenstände, in offener See
treibend, von einem Fahrzeug geborgen werden. Alles S. ist an den
Empfangsberechtigten gegen Bezahlung der Bergungskosten
herauszugeben. Die Ermittelung des Empfangsberechtigten ist nach
der deutschen Strandungsordnung vom 17. Mai 1874 Sache der
Strandämter (s. Strandung). Ist der Empfangsberechtigte auch
durch das Aufgebotsverfahren nicht zu ermitteln, so werden
Gegenstände, welche in Seenot vom Strand aus geborgen sind,
desgleichen Seeauswurf und strandtriftiges Gut dem Landesfiskus,
versunkenes und seetriftiges Gut aber dem Berger überwiesen.
Die Höhe der Bergungskosten richtet sich nach den Bestimmungen
des deutschen Handelsgesetzbuchs (s. Bergen). Von
beschädigten, auf dem Weg des öffentlichen Ausgebots
verkauften Strandgütern ist auf Antrag nur ein Zoll von 10
Proz. zu entrichten. Inländische Strandgüter, welche nach
dem Auslaufen verunglücken, sind frei vom Eingangszoll.

Strandhafer, s. Elymus.

Strandhauptmann, s. Strandung.

Strandlachs, s. Forelle.

Strandläufer (Tringa L.), Gattung aus der Ordnung
der Watvögel (Grallae) und der Familie der Schnepfen
(Scolopacidae), Vögel mit geradem Schnabel, der länger
als der Lauf, aber kürzer als der nackte Teil des Fußes,
an der Spitze verdickt und verbreitert und nur an den Rändern
der Oberschnabelspitze hornig ist. In den mittellangen, spitzen
Flügeln ist die erste Schwinge am längsten, der Schwanz
ist kurz, abgerundet, die Füße sind kurz, dick, der Lauf
länger als die Mittelzehe, die Krallen sind kurz, stark
gekrümmt. Die S. leben in den nordischen Gegenden der Alten
und Neuen Welt an Gewässern, in deren Uferschlamm sie ihre
Nahrung suchen; im Winter wandern sie, meist den Küsten
entlang, in Scharen südwärts, im Frühling wieder
nordwärts, nur selten geraten sie ins Binnenland. Alle haben
im Sommer ein anders gefärbtes Gefieder als im Winter. Die
etwa 25 Arten umfassende Gattung ist in mehrere Gattungen:
Actodromas Kaup., Calidris IU., Limicola Koch, Arquatella Baird und
Pelidna Cuv., geteilt worden. Roststrandläufer (Kanutsvogel,
T. canuta L.), 25 cm lang, im Sommer oberseits schwarz mit
rostroten Flecken, weißlichen Federspitzen und rostgelben
Federsäumen, unterseits dunkel braunrot, im Winter oberseits
aschblau, unterseits weiß, an der Unterkehle dunkel gefleckt
; der Schnabel schwarz, der Fuß grauschwarz. Er bewohnt den
Norden der Alten Welt und weilt in Deutschland von August bis Mai
an der Küste der Nord- und Ostsee, nistet aber nur im hohen
Norden. Er ist sehr beweglich, fliegt und schwimmt gut und besitzt
eine laute, pfeifende Stimme. Die Nahrung besteht in allerlei
Kleingetier. Der Zwergstrandläufer (Raßler, T.
[Actodromas] minuta Kaup), 14 cm lang, im Sommer oberseits schwarz
mit rostroten Federkanten, an der Oberbrust hell rostfarben, fein
braun gefleckt, unterseits weiß, im Winter oberseits dunkel
aschgrau, braunschwarz gestrichelt; das Auge ist braun, der
Schnabel schwarz, der Fuß grünlichschwarz. Er bewohnt
den hohen Norden, findet sich aber an fast allen Meeresküsten
Europas, Asiens, Afrikas und Australiens und weilt bei uns von
August bis April. Er nistet in den Tundren Europas und Asiens.
Seine Eier (s. Tafel "Eier II", Fig. 17) sind trüb
gelblichgrau bis ölgrün,

370

Strandlinien - Strangulieren.

aschgrau und dunkelbraun gefleckt. DerAlpenstrandläufer (T.
[Pelidua] alpina Cuv.), 15-18 cm lang, im Sommer oberseits
rotbraun, schwarz gefleckt, unterseits weiß mit schwarzen
Schaftstrichen, an Unterbrust und Vorderbauch schwarz, im Winter
oberseits aschgrau, unterseits weißlich; das Auge ist braun,
Fuß und Schnabel schwarz. Er bewohnt den hohen Norden,
brütet aber schon in Deutschland, wo er von August bis Mai
verweilt, durchstreift im Winter mit Ausnahme von Australien und
Polynesien die ganze Erde und erscheint auch oft in Scharen im
Binnenland und im Gebirge. Er nistet an sandigen oder feuchten
Stellen in der Regel nicht weit vom Meer auf dem Boden; die vier
schmutzig ölfarbenen, dunkel ölbraun gefleckten Eier (s.
Tafel "Eier II", Fig. 19) werden vom Weibchen allein
ausgebrütet. Das Fleisch des Alpenstrandläufers ist sehr
schmackhaft, und er wird daher in großer Zahl auf den
Schnepfenherden erlegt oder gefangen.

Strandlinien, die durch den Anprall der Meereswogen an
den die Küste bildenden Felsen und an Klippen hervorgebrachten
Linien, welche sich zusammen mit Anhäufungen von
Geröllen, Bruchstücken der Gehäuse von
Meeresbewohnern und Zusammenschwemmungen von Meerestangen
(Strandterrassen) sowie auch den Ansätzen (Balanen) oder den
Einbohrungen (Bohrmuscheln) von Seetieren als ein das Ufer
umziehender Saum oft meilenweit in ununterbrochenem Zusammenhang
verfolgen lassen. Steigt das Land, und verschiebt sich dadurch die
Grenzlinie zwischen Wasser und Land, so bleiben diese Signale als
Produkte eines frühern, jetzt nicht mehr vorhandenen Zustandes
zurück und bilden als alte S. für die Geologie wichtige
Anhaltspunkte zur Kontrolle der Hebungserscheinungen (vgl. Hebung).
Die Küsten Skandinaviens, Schottlands, Italiens etc. bieten
zahlreiche Beispiele solcher oft zu dritt und mehr
übereinander hinziehender alter S.

Strandpfeifer, s. Regenpfeifer.

Strandpflanzen, die den Seeküsten
eigentümlichen Gewächse, von denen manche auch im
Binnenland an Salinen als sogen. Salzpflanzen vorkommen; von
Kräutern zahlreiche Chenopodiaceen, unter denen besonders die
Gattungen Salsola und Salicornia zu nennen sind, ferner: Glaux
maritima, Plantago maritima, Triglochin maritimum, Aster Tripolium,
Artemisia maritima, Statice Limonium, Eryngium maritimum, Juncus
maritimus, Lepturus filiformis, Crambe maritima. Cochlearia
officinalis, Ammophila arenaria; von Holzpflanzen: Hippophae
rhamnoides, in Südeuropa Pinus maritima und Pinus Pinea.

Strandrecht, s. Grundruhrecht.

Strandtrift (strandtriftiges Gut), Gegenstände, die
infolge eines Seeunfalls von der See gegen den Strand getrieben und
von dem Strand aus geborgen werden. Vgl. Strandung.

Strandung, das Auflaufen und Festsitzen eines Schiffs auf
dem Strand, auf einer Klippe oder auf einer Sandbank. Wird die S.
absichtlich bewirkt, um das Scheitern des Schiffs zu vermeiden, so
gehört der dadurch verursachte Schade zur großen Havarie
(s. d.). Die in verbrecherischer Absicht mit Gefahr für das
Leben andrer herbeigeführte S. wird nach dem deutschen
Strafgesetzbuch (§ 323) mit Zuchthaus nicht unter fünf
Jahren und, wenn dadurch der Tod eines Menschen verursacht worden
ist, mit Zuchthaus nicht unter zehn Jahren oder mit
lebenslänglichem Zuchthaus bestraft. Wurde eine S.
fahrlässigerweise verursacht, so tritt (§ 326)
Gefängnisstrafe ein. Wer endlich ein Schiff, welches als
solches oder in seiner Ladung oder in seinem Frachtlohn versichert
ist, sinken oder stranden macht, wird mit Zuchthaus bis zu zehn
Jahren und zugleich mit Geldstrafe von 150-6000 Mk. bestraft
(§ 265). Für das Deutsche Reich ist das Strandungswesen
im übrigen durch die Strandungsordnung vom 17. Mai 1874
geregelt. Dieselbe handelt namentlich von den Strandbehörden,
welchen die Sorge für die Rettung und Bergung der in Seenot
befindlichen Personen und Güter anvertraut ist, ferner von dem
Verfahren der Bergung und Hilfsleistung in Seenot, von den
Bergungs- und Hilfskosten und von den
Privatrechtsverhältnissen in Ansehung des sogen. Strandguts
(s.d.). Als Strandbehörden fungieren Strandämter, welche
das Strandgut zu verwalten und den Empfangsberechtigten,
nötigen Falls nach einem Aufgebotsverfahren, zu
übermitteln haben. Den Strandämtern sind Strandvögte
untergeordnet, welchen das eigentliche Hilfs- und Rettungswerk
obliegt. Ihrer Aufforderung zur Hilfsleistung müssen alle
anwesenden Personen nachkommen, sofern sie dazu ohne erhebliche
eigne Gefahr im stande sind. Sie sind ferner befugt, zur Rettung
von Menschenleben die erforderlichen Fahrzeuge und
Gerätschaften in Anspruch zu nehmen und jeden Zugang zum
Strand zu benutzen. Der Vorsteher eines Strandamtes
(Strandhauptmann) kann zugleich zum Strandvogt bestellt werden.
Diese Strandbeamten sind Beamte der betreffenden Landesregierungen.
Vgl. die Instruktion zur Strandungsordnung vom 24. Nov. 1875
("Zentralblatt für das Deutsche Reich" 1875, S. 750).

Strandvogt, s. Strandung.

Strandwolf, s. Hyäne.

Strang (Strähne), ein Garnmaß, 1) für
Leinengarn: = 10 Gebinde à 120 Fäden = 1200 Fäden
= 2743,15 m; 2) für Baumwollgarn: a) englisch: = 560
Fäden à 1 1/2 Yards = 840 Yards = 768,08 m, b)
französisch: = 10 Gebinde à 70 Fäden = 700
Fäden = 1000 m; 3) für Wollgarn: A. Kammgarn: a) deutsche
Weife: 1 S. = 7 Gebinde à 80 Fäden = 560 Fäden
(à 1 1/2 Yards) = 768,08 m, b) englische Weife: 1 S. = 7
Gebinde à 80 Fäden à 1 Yard = 512,05 m; B.
Streichgarn: a) preußische Weife: 1 S. = 20 Gebinde à
44 Fäden = 880 Fäden à 2 1/2 preußische
Ellen = 1467,265 m, b) sächsische Weife (für
Vicunnagarn): 1 S. = 5 Gebinde à 80 Fäden = 400
Fäden à 2 alte Leipziger Ellen = 452 m, c)
böhmische Weife: 1 S. = 20 Gebinde à 44 Fäden =
880 Fäden à 2 Wiener Ellen = 1371,28 m; 4) für
Seide: 1 S. = 4 Gebinde à 3000 Fäden à 1 m =
12,000 m.

Strange (spr. strehndsch), Robert, Kupferstecher, geb.
26. Juli 1721 auf der orkadischen Insel Pomona, ging nach Edinburg
und schloß sich dort an den Prätendenten an, nach dessen
Sturz er nach Paris flüchtete und unter Le Bas studierte. 1751
kam er nach London, reiste 1759 nach Italien, lebte dann mehrere
Jahre in Paris und zuletzt in London, wo er 5. Juli 1792 starb. Er
stach Blätter nach italienischen Meistern, besonders nach
Tizian, auch nach van Dyck, die von schöner Wirkung sind. Zur
Zeit der dominierenden Schwarzkunst kultivierte S. den edlern
Linienstich. Vgl. Dennistoun, Memoirs of Sir R. S. (Lond. 1855, 2
Bde.).

Stranggewebe, in der Pflanzenanatomie das gesamte Gewebe
der Gefäßbündel im Gegensatz zu dem Grundgewebe und
Hautgewebe (s. d.).

Strangulieren (lat.), jemand erwürgen, indem man ihm
einen Strang um den Hals legt und damit

371

Strangurie - Straßburg.

die Luftröhre zuzieht, jedoch ohne den Hinzurichtenden
dabei in die Höhe zu ziehen (s. Erdrosselung). Das S. war
früher bei den Türken die gewöhnliche Todesstrafe
und geschah bei den Vornehmen meist mittels einer ihnen
überschickten seidenen Schnur.

Strangurie (griech.), s. Harnzwang.

Stranitzky, Joseph Anton, Schauspieler und
Theaterprinzipal, geb. 10. Sept. 1676 zu Schweidnitz i. Schl.,
studierte zu Breslau und Leipzig, begleitete daraus einen
schlesischen Grafen auf einer Reise nach Italien und ging nach
seiner Rückkehr zur Bühne über. Im J. 1706 tauchte
er in Wien auf, pachtete 1712 das Stadttheater am Kärntnerthor
und wirkte hier bis zu seinem Tode, der am 19. Mai 1727 erfolgte.
S. war der berühmteste Hanswurst seiner Zeit, ein Meister im
Extemporieren und bei aller Derbheit reich an echter Komik. Er
hatte aus Italien eine Menge von Szenen und Entwürfen
mitgebracht, aus denen er Stücke zusammensetzte, die zum Teil
auch gedruckt wurden, und veröffentlichte unter dem Titel:
"Ollapatrida des durchgetriebenen Fuchsmundi" (1722) eine Sammlung
dramatischer Skizzen (d. h. Gespräche Hanswursts mit allerlei
Leuten über allerlei Gegenstände in Versen und Prosa).
Auch gab er eine "Lustige Reyßbeschreibung, aus Salzburg in
verschiedene Länder" (o. J.) und "Hannswurstsche Träume"
(o. J.) heraus. Vgl. Schlager, Wiener Skizzen (neue Folge, Wien
1839); "Der Wiener Hanswurst", ausgewählte Schriften von S. u.
a. (das. 1885 ff.).

Stranniki, Sekte, s. Raskolniken.

Stranraer (spr. -rähr), Hafenstadt in Wigtownshire
(Schottland), im Hintergrund von Loch Ryan, mit Austern- und
Heringsfischerei und (1881) 6342 Einw. Eine Dampferlinie verbindet
S. mit Belfast. Zum Hafen gehören (1887) 169 Fischerboote.

Strapaze (ital.), ermüdende Anstrengung;
strapazieren, anstrengen, ermüden; strapaziös,
ermüdend, beschwerlich.

Strasburg, 1) (Brodnica) Kreisstadt im preuß.
Regierungsbezirk Marienwerder, an der Drewenz und der Linie
Jablonowo-Lautenburg der Preußischen Staatsbahn, 75 m ü.
M., hat eine evangelische und eine kath. Kirche, ein Gymnasium, ein
Amtsgericht, ein Hauptzollamt, Ziegelbrennerei und (1885) mit der
Garnison (ein Infanteriebataillon Nr. 14) 5462 meist kath.
Einwohner. S. wurde 1285 neben der schon 1268 vorhanden gewesenen
Burg angelegt. -

2) (S. in der Ukermark) Stadt im preuß. Regierungsbezirk
Potsdam, Kreis Prenzlau, an der Linie Stettin-Mecklenburgische
Grenze der Preußischen Staatsbahn, hat 2 evang. Kirchen, ein
Amtsgericht, ein Kriegerdenkmal, eine Zuckerfabrik, ansehnliche
Schuhmacherei, Töpferei und Ofenfabrikation, eine
Eisengießerei und Maschinenfabrik, Lederfabriken, Molkerei
und (1885) 5894 meist evang. Einwohner.

Strasburger, Eduard, Botaniker, geb. 1. Febr. 1844 zu
Warschau, studierte seit 1864 in Bonn und Jena Naturwissenschaft,
besonders Botanik, und habilitierte sich, nachdem er 1867
promoviert hatte, 1868 in Warschau als Privatdozent an der
Hochschule, folgte aber schon 1869 einem Ruf als
außerordentlicher Professor und Direktor des botanischen
Gartens nach Jena und wurde 1871 zum ordentlichen Prosessor
ernannt. Er bereiste wiederholt Italien und 1873 mit Häckel
den Orient, besonders Ägypten und das Rote Meer. 1881 folgte
er einem Ruf an die Universität Bonn. S. arbeitet vorzugsweise
auf histologisch-entwickelungsgeschichtlichem Feld und speziell
über die pflanzlichen Befruchtungsvorgänge und die
Entwickelung der Befruchtungsorgane. Von seinen ältern
Arbeiten sind hier zu nennen: "Die Befruchtung bei den Koniferen"
(Jena 1869); "Die Bestäubung der Gymnospermen" (das. 1872) und
"Die Koniferen und die Gnetaceen" (das. 1872). Durch seine
Untersuchungen über die Pflanzenzelle, besonders in den
Schriften: "Über Zellbildung und Zellteilung" (Jena 1875; 3.
Aufl., das. 1880) und "Studien über Protoplasma" (das. 1876)
u. a., wirkte S. wesentlich umgestaltend auf die Fortentwickelung
der modernen Botanik ein. Von seinen fernern Arbeiten sind noch
hervorzuheben: "Über Befruchtung und Zellteilung" (Jena 1878);
"Die Angiospermen und die Gymnospermen" (das. 1879); "Die Wirkung
des Lichts und der Wärme auf die Bewegung der
Schwärmsporen" (das. 1878); "Über den Bau und das
Wachstum der Zellhäute" (das. 1882); "Das botanische
Praktikum" (2. Aufl., das. 1887); "Das kleine botanische
Praktikum"(das. 1884); "Histologische Beiträge" (das. 1888
ff.).

Straschiripka, Johann von, Maler, s. Canon

Straschniks, die russischen Grenzwächter.

Straß, s. Edelsteine, S. 315, und Glas, S. 388.

Straßburg, ehemals reichsunmittelbares Bistum im
oberrheinischen Kreise, schon in der Merowingerzeit entstanden,
umfaßte anfangs Ober- und Unterelsaß nebst der Ortenau
und einem Teil des Breisgaues; später wurden Teile des
Elsaß zu gunsten der Bischöfe von Speier und Basel davon
abgetrennt. Das bischöfliche Territorium enthielt im
Niederelsaß sieben Ämter: Zabern, Kochersberg,
Dachstein, Schirmeck, Benfeld, Markolsheim und Wengenau; im
Oberelsaß: das Amt Rufach, die Vogtei Obersultz und die Lehen
Freundstein, Herlisheim u. a. sowie diesseit des Rheins: das Amt
Ettenheim und Herrschaften in derOppenau, wie Oberkirch und eine
Zeitlang Ulmburg; zusammen 1322 qkm (24 QM.) mit 30,000 Einw. und
350,000 Gulden Einkünften. Der Bischof stand unter dem
Erzstift Mainz, war deutscher Reichsfürst und blieb es auch,
als er für das linksrheinische Land 1648 die Lehnshoheit
Frankreichs anerkennen mußte, für seine diesseit des
Rheins liegenden Besitzungen. Die französischen Besitzungen
des Hochstifts wurden gleich zu Anfang der Revolution eingezogen;
der in Schwaben gelegene Teil derselben (165 qkm mit 35,000 Guld.
Einkünften) aber ward 1803 als Fürstentum Ettenheim dem
Kurfürsten von Baden überlassen. 1802 wurde das ganze
Elsaß dem Straßburger Sprengel überwiesen und das
Bistum dem Erzbischof von Besancon untergeordnet; es steht jedoch
seit 1871 unmittelbar unter dem Papst. Unter den Bischöfen von
S. sind am bekanntesten: Leopold II. Wilhelm, Erzherzog von
Österreich (1614-62, s. Leopold 20), Franz Egon und Wilhelm
Egon von Fürstenberg (s. Fürstenberg 2 u. 3) und der
Kardinal Louis René, Prinz von Rohan (s. d.). Vgl.
Grandidier, Histoire de l'église et des
évêques-princes de Strasbourg (Straßb. 1775-78,
2 Bde., bis zum 10. Jahrh. reichend); Fritz, Das Territorium des
Bistums S. (das. 1885).

Straßburg (hierzu der Stadtplan), Hauptstadt des
deutschen Reichslandes Elsaß-Lothringen, des Bezirks
Unterelsaß sowie des Land- und Stadtkreises S., Festung
ersten Ranges, liegt 5 km vom Rhein entfernt, an der schiffbaren
Ill, die hier die Breusch aufnimmt, am Rhein-Rhônekanal,
welcher hier mit der Ill sich vereinigt, sowie am Rhein-Marnekanal,
der nördlich der Stadt von der Ill ausgeht und als Illkanal
diese mit einem Rheinarm (Kleiner Rhein) verbindet, unter 48°
35' nördl. Br. und 7° 45' östl. L. v. Gr., 150 m
ü. M., u. zerfällt in ihrem Weichbild in acht Kantone.
Die eigentliche (innere) Stadt wird durch die zwei-

[Artikel Straßburg.]

Namen-Register zum ,Plan von Straßburg'.

Die Buchstaben und Zahlen zwischen den Linien (E 2) bezeichnen
die Felder der Karte.

Meyers Konv.-Lexikon, 4, Aufl.

Aar (Nebenarm der 111) E2

Akademie EF3

Akademie-Straße EF3

Allerheiligen-Gasse BC3

Alter Weinmarkt B4

Alt-St.-Peter-Kirche B4

Alt-St.-Peter-Platz B4

Am hohen Steg C3

Am Roseneck C2

Am Schießrain DE1

Anatomie D5,6

An d. Gewerbslauben C4

An der Esplanade FG3,4

Andlauer Straße B6

Apfjel-Straße D2

Arnold-Platz G2

Arsenal F3

Artillerie-Kaserne E4

Artillerie-Wallstraße DE5

Auf d. verbrannten Hof D3

Auf den Eisgruben BC5

Aurelien-Platz A5

Bahnhof, Zentral- A4

Bahnhof-Platz A4

Bahnhof-Ring A4

Bahnhof-Staden B3,4

Ballhaus-Gasse E4

Bank, Els.-Lothringer CD3

Bank, Reichs- C3

Barbara-Gasse, St. C4

Bauhof G4

Bei der Heuwage F4

Bergherrn-Gasse BC3

Bezirks-Gefängnis B5

Bezirks-Präsidium E2,3

Bibliothek D4

Bischöflicher Palast D3

Blauwolken-Gasse C3

Blessig-Straße F3

Botanischer Garten E3,F2

Brand-Gasse D3

Braut-Platz EF2

Broglie-Platz CD3

Brücke, Neue D4

Bruderhoffs-Gasse D3,4

Brumather Straße A3

Bucksweiler Straße AB2

Bürger-Hospital D5

Chirurgie C5

Citadelle H3,4

Citadellen-Allee G4

Clemens-Gasse B3

Clemens-Platz B3

Contades D1

Desaix-Staden B4

Deutsche Straße D1, 2

Dietrich-Staden E2,3

Dom-Platz D4

Düntzmühl-Kanal BC5

Ehnheimer Str., Ober- A6

Eiserne-Manns-Platz C4

Eisgruben, Auf den BC5

Elisabethen-Gasse, St. C5

Elsässer Straße F2

Elsaß-Lothring. Bank CD3

Elsbeth-Wallstraße C5,6

Esplanade G3

Esplanade, An der FG3,4

Esplanaden-Gasse F3

Esplanaden-Straße FG4

Feg-Gasse F3,4

Ferkel-Markt D4

Finkmatt C3

Finkmatt-Straße BC2

Finkweiler-Gasse BC5

Finkweiler-Staden C5

Fischart-Straße F2

Fischer-Gasse E3

Fischer-Staden E3

Fischerthor-Kaserne E3

Fisch-Markt D4

Fisch-Markt, Alter D4

Gasanstalt B3

Gaul-Staden EF4

Gedeckte Brücken B5

Gefängnis, Bezirks- B5

General-Kommando D3

Gerbergraben-Platz C4

Gerbergraben-Straße C4

Gestüt C5

Gewerbslauben, An d. C4

Goethe-Straße F2

Goldgießen D5

Grandidier-Straße E3

Groß-Metzig D4

Grünenbruch-Gasse B3

Gutenberg-Denkmal CD4

Gutenberg-Platz CD4

Gutleut-Gasse B2,3

Gymnasium C3

Hafen-Platz B5

Hafen-Staden B6

Hafen-Wallstraße B6

Hagenauer Platz B2

Handels-Gericht CD4

Haupt-Zollamt B3

Helenen-Gasse, St. C4

Helenen-Platz, E2

Hennen-Gasse E4

Hermann-Straße FG3

Heuwage, Bei der F4

Hospital, Bürger- D5

Hospital, Militär- F4

Johannes-Staden, St. B4

Juden-Brückchen D3

Juden-Gasse D3

Jung-St.-Peter-Kirche C3

Jung-St.-Peter-Platz C3

Junker-Straße E1

Justiz-Palast C3

Käfer-Gasse D4

Kagenecker Gasse B3,4

Kalbs-Gasse DE3,4

Kanal B4,CD2

Kasino, Deutsches Zivil- C3

Kasino, Offizier- CD3

Kasino, Zivil- C2

Katholisches Seminar D3,4

Kaufhaus-Gasse D4,5

Kellermann-Staden C3

Kinderspiel-Gasse B4

Kläber-Platz C4

Kleber-Staden BC3

Klöber-Denkmal C4

Klotz-Straße E2

Knoblochs-Gasse CD4,5

Koch-Staden E2,3

Kollegien-Haus EF2

Kommandantur C3

Königsbrücke E3

Königshofener Straße A5,6

Königs-Straße DE2,3

Krämer-Straße D4

Kreis-Direktion D3

Kriegs-Thor II A3

Kronenburger Ring AB3

Kronenburger Straße A3,B3,4

Kronenburger Thor A3

Kronenburger Wall-Straße A3

Krutenau-Straße E3 4

Kühnen-Gasse AB4

Langen-Straße BC4

Lazarett-Wallstraße EF4

Lehrer-Seminar C5

Lezai-Marnesia-Stad. D3

Lobstein-Straße F3

Lyceum D4

Magazin-Gasse A2,3

Magdal.-Gasse St. DE4

Manteuffel-Kaserne C1

Margareten-Gasse, St. AB5

Margareten-Kaserne AB5

Margareten-Wallstr AB5

Markt, Neuer C4

Martins-Brücke C5

Meisen-Gasse C3

Metzgergießen D4,5

Metzger-Platz E4,5

Metzger-Straße DE4,5

Metzger-Thor E5

Metzgerthor-Station E6

Militär-Baracken A6,G3

Militär-Hospital F4

Möller-Straße D2

Molsheimer Straße AB6

Moscherosch-Straße G2

Mühlen-Plan BC4,5

Müllenheim-Staden E1, 2

Münster D4

Münster-Gasse CD3

Münster-Platz D4

Murner-Straße F2

Musik-Kiosk D3

Musik-Konservator C3,4

Mutziger Straße A5

Neuer Markt C4

Neukirche C3,4

Neukirch-Platz C3,4

Niklaus-Brücke D5

Niklaus-Kaserne F3

Niklaus-Platz, St. F3

Niklaus-Staden, St. D4,5

Ober-Ehnheimer Str. A6

Odilien-Straße A6

Oktroi E5,H4

Palast-Straße D2

Pariser Brücke B3

Pariser — Staden B3,4

Pflanzbad B4

Pionier-Kaserne DE3

Polizei-Direktion D3

Post D4

Präfektur D3

Protest. Predigerstift C5

Raben-Brücke D4

Raben-Platz D4

Rathaus D3

Reformierte Kirche C4

Reichsbank C3

Renn-Gasse, Große AB4,5

Renn-Gasse, Kleine A4

Ring, Bahnhof A4

Ring, Kanal Hl,2

Roseneck, Am C2

Rosheimer Straße A5

Rothauer Straße A6

Ruprechtsauer Allee Fl,2

Saarburger Straße A2,3

Schöpflin-Staden CD2,3

Schießrain, Am DE1

Schiffahrts-Kanal B4,5

Schiffleut-Gasse E4

Schiffleut-Staden DE4

Schimper-Straße F3

Schirmecker Ring AB6

Schirmecker Thor A6

Schlachthaus B5

Schlachthaus-Platz B5

Schlachthaus-Staden B4,5

Schleuse, Große B5

Schloß D4

Schlosser-Gasse C4

Schloß-Platz D4

Schwarzwald-Straße GH2

Schweighauser Straße F2

Seelos-Gasse A4

Seminar, Kathol. D3,4

Seminar, Kathol. Lehrer- C5

Spieß-Gasse D4

Spital-Platz D5

Spital-Thor D5

Spitzmühl-Kanal B5

St. Aurelien-Kirche A5

St.—Johannes-Kirche B4

St.-Ludwigs-Kirche C5

St.—Magdal.-Kirche E4

St.—Peterkirche, Alt- B4

St.—Peterkirche, Jung- C3

St.—Stephan-Kirche E3

St.-Thomas-Kirche C5

St.-Wilhelm-Kirche E3

Steg, Am hohen C3

Stein-Brücke C3

Stein-Platz B2

Stein-Ring C1,2

Stein-Straße BC2,3

Stein-Thor B2

Stephans-Brücke, St. E5

Stephans-Platz, St. D3

Stephans-Staden, St. E3

Sternwarte G2

Steuer-Direktion C5

Storch-Gasse B2,3

Sturmeck-Staden CD2

Synagoge C4

Tabaks-Magazin D4,5/C5

Tabaks-Manufaktur E3,4

Telegraphen-Amt B4

Theater D3

Theater-Brücke D2

Thomanns-Gasse C3

Thomas-Brücke, St. C5

Thomas-Platz, St. C4,5

Thomas-Staden, St. CD5

Tränk-Gasse F4

Türkheim-Staden B4,5

Umleitungs-Kanal FG5

Universität F2

Universität, (Alte, im Schloß) D4

Universitäts-Platz E2

Universitäts-Straße F2,3

Verbindungsbahn CD6

Verbrannten Hof, Auf dem D3

Vieh-Gasse EF3,4

Vogesen-Straße B-E2

Vorbrucker Straße A6

Waisen-Gasse E4

Waisenhaus E4

Waisen-Platz E4

Wärterhaus B6,D6

Waseneck, Am D2

Wasselnheimer Straße A5,6

Wasserturm F4

Wein-Markt, Alter B4

Weißenburger Straße B2

Weißenturm—Platz A5,6

Weißenturm-Ring A5

Weißenturm-Straße AB4,5

Weißenturm—Thor A5,6

Weißenturm-Wallstraße A4

Wilhelmer-Gasse E3

Wilhelms-Brücke E3

Wimpfeling-Straße F2

Zaberner Ring B2

Zaberner—Wall-Straße AB2

Zarrer Straße A6

Zentral-Bahnhof A4

Zeughaus F4

Zeughaus-Gasse F4

Zollamt, Haupt- B3

Zoll-Büreau A3

Zornmühl-Kanal BC5

Zürcher Straße E3,4

STRASSBURG Maßstab 1:19000.

372

Straßburg (Beschreibung der Stadt).

Wappen von Straßburg.

armige Ill in drei Teile geteilt, hat elf Thore u. durch die
engen, unregelmäßigen Straßen ein
altertümliches Aussehen. Ein neuer Stadtteil, im NO. liegend
und aus dem durch Hinausschieben der Festungswerke gewonnenen
Terrain errichtet, ist bereits stark bebaut. Von öffentlichen
Plätzen verdienen Erwähnung: der Kléberplatz mit
dem ehernen Standbild Klébers, der Gutenbergplatz mit der
Statue Gutenbergs (von David d'Angers), der Broglieplatz, der
Schloßplatz etc. Außer den genannten Denkmälern
sind noch zu nennen: das Denkmal des Generals Desaix hinter dem
Theater und das Denkmal des Präfekten Lezay-Marnesia auf einer
Rheininsel. Unter den zu gottesdienstlichen Zwecken bestimmten
Gebäuden (7 evangelische, eine reformierte und 6 kath. Kirchen
und eine Synagoge) ist das katholische Münster ein
Meisterstück altdeutscher Baukunst, 110 m lang, 41 m breit, im
Mittelschiff 30 m hoch. Den Grundstein zu dem gegenwärtigen
Bau legte 1015 Bischof Werner; 1277 begann unter Bischof Konrad von
Lichtenstein Erwin von Steinbach den Bau der Fassade und der
Türme, den nach seinem Tod (1318) sein Sohn Johannes (bis
1339) fortsetzte und Hans Hültz aus Köln 1439 zum
Abschluß brachte. Aber nur der nördliche Turm (142 m
hoch) erreichte seine Vollendung, der südliche wurde
bloß bis zur Plattform gebracht. Das Münster vereinigt
fast alle Baustile des Mittelalters: spätromanisch sind
Krypte, Chor u. Querschiff, selbst ein Teil des untern Schiffs;
weiterhin findet ein Übergang zum gotischen Spitzbogen statt,
der in der Fassade bis zur Vollendung gedieh. Von vorzüglicher
Schönheit ist das Hauptportal mit zahlreichen Statuen u. einer
großen Fensterrose (50 m im Umfang). Noch sind die herrlichen
Glasmalereien aus dem 14. und 15. Jahrh., die Kanzel, ein
Meisterwerk von Johann Hammerer (1486), die vortreffliche Orgel von
Silbermann und die berühmte astronomische Uhr von
Schwilgué (1839-42 neuhergestellt) hervorzuheben (vgl.
Strobel, Das Münster in S., 13. Aufl., Straßb. 1874;
Kraus, Straßburger Münsterbüchlein, das. 1877). Von
den evangelischen Kirchen verdienen die Neue Kirche (an Stelle der
alten, 1870 eingeäscherten neuerbaut) und die Thomaskirche
(13. u. 14. Jahrh.) mit dem Denkmal des Marschalls Moritz von
Sachsen (von Pigalle) Erwähnung. Hervorragende Gebäude
sind ferner: der neue Kaiserpalast, das Schloß (ehemals
bischöfliche Residenz, später Universität, jetzt
Universitäts- und Landesbibliothek), das Stadthaus und das
Theater am Broglieplatz (beide nach der Einäscherung von 1870
neuerbaut), der Statthalterpalast, das neue
Universitätsgebäude, das Bezirkspräsidium, das
Landgerichtsgebäude, das Offizierkasino, das
Aubettegebäude am Kléberplatz, das Gebäude der
Lebensversicherungsgesellschaft Germania, das Bürgerhospital,
die Manteuffelkaserne, der Zentralbahnhof, die Westmarkthalle etc.
Die Bevölkerung beläuft sich (1885) mit der 10,523 Mann
starken Garnison (Infanterieregimenter Nr. 105, 126, 132 und 138,
je 2 Infanteriebataillone Nr. 99 und 137, ein Ulanenregiment Nr.
15, ein Feldartillerieregiment Nr. 15, ein
Fußartillerieregiment Nr. 10 und ein Pionierbataillon Nr. 15)
auf 111,987 Seelen, darunter 52,306 Evangelische, 55,406
Katholiken, 363 andre Christen u. 3767 Juden.
DerStaatsangehörigkeit nach waren 68,993
Elsaß-Lothringer, 40,103 andre Reichsangehörige u. 2891
Ausländer. Die Industrie ist bedeutend und in fortdauernder
Steigerung begriffen. S. hat Fabriken für Maschinen,
Meterwaren, Tabak, musikalische Instrumente (Pianinos, Orgeln),
Wachstuch, Tapeten, Schokolade, Teigwaren, Senf, Öfen, Papier,
Leder, Möbel, Bürsten, Hüte, Chemikalien, Seife,
Wagen, künstliche Blumen und Federn, Strohhüte,
Handschuhe, Bijouteriewaren etc. Bekannt sind die
Gänseleberpasteten und die Bierbrauereien von S. Ferner gibt
es Wollspinnereien, Gerbereien, Färbereien, Buchdruckereien,
große Mühlwerke etc., auch hat S. eine große
Artilleriewerkstätte. Der lebhafte Handel, unterstützt
durch eine Handelskammer und eine Reichsbankhauptstelle wie durch
andre Geldinstitute, durch das verzweigte Eisenbahnnetz (S. ist
Knotenpunkt der Eisenbahnen S.-Weißenburg,
S.-Deutsch-Avricourt, S.-Kehl, S.-Schiltigheim,
S.-Königshofen, S.-Basel, S.-Rothau und S.-Lauterburg), durch
vortreffliche Landstraßen, durch die schiffbare Ill, den
Ill-, Rhein-Rhône- und Rhein-Marnekanal und durch eine
Pferdebahn, welche die innern Stadtteile mit den Vororten
verbindet, ist besonders bedeutend in Steinkohlen, Kolonial- und
Lederwaren, Papier, Tabak, Eisen, Getreide, Wein, Holz,
Gänseleberpasteten, Sauerkraut, Schinken, Hopfen,
Gartengewächsen der verschiedensten Art etc. An Bildungs- und
andern ähnlichen Anstalten hat S. die 1872 neugegründete
Kaiser Wilhelms-Universität (Sommersemester 1888: 828
Studierende), die neue Universitäts- und Landesbibliothek mit
ca. 600,000 Bänden (größtenteils durch freiwillige
Gaben entstanden und zum Ersatz für die in der Nacht vom 24.
zum 25. Aug. 1870 verbrannte Stadtbibliothek bestimmt), ferner ein
protestantisches Gymnasium (1538 gegründet), ein Lyceum
(katholisches Gymnasium, verbunden mit Realgymnasialabteilung), 2
Realschulen, eine höhere katholische Schule, ein
Priesterseminar, ein evangelisches Schullehrer- und ein
evangelisches Lehrerinnenseminar, 2 Taubstummenanstalten, ein
Konservatorium, ein Kunstmuseum, ein Kunstgewerbemuseum, ein
Naturalienkabinett, ein Stadttheater, eine Bezirksfindel- und
Waisenanstalt, zahlreiche Sammlungen etc. In S. erscheinen
fünf Zeitungen. Die städtischen Behörden zählen
36 Gemeinderatsmitglieder. Sonst ist S. Sitz des kaiserlichen
Statthalters, des Ministeriums und der höchsten
Landesbehörden für Elsaß-Lothringen, des
Bezirkspräsidenten für Unterelsaß, einer
Polizeidirektion für den Stadt- und einer Kreisdirektion
für den Landkreis S., eines katholischen Bischofs, des
Oberkonsistoriums für die Kirche Augsburgischer Konfession und
des jüdischen Konsistoriums, eines Land- und eines
Handelsgerichts, eines Bergreviers etc. An
Militärbehörden befinden sich dort: das Generalkommando
des 15. Armeekorps, die Kommandos der 31. und 33. Division, der 61.
und 66. Infanterie-, der 31. Kavallerie- und der 15.
Feldartilleriebrigade, die 3. Ingenieur-, eine Artilleriedepot- und
die 10. Festungsinspektion, ein Gouverneur, ein Stadtkommandant
etc. Die Festungswerke, deren Anlage 1682-84 von Vauban mit der auf
der Ostseite der Stadt liegenden fünfeckigen Citadelle
begonnen wurde, haben seit 1870 eine bedeutende Erweiterung und
Verstärkung erfahren. Ein Teil der Befestigung ist im NO.
hinausgerückt, und 13 Forts, 4-8 km vom Mittelpunkt der Stadt
entfernt, krönen die umliegenden Höhen, 3 davon auf der
badischen Seite des Rheins bei Kehl. Die Stärke der Werke wird
dadurch noch bedeutend erhöht, daß durch die Ill und den
Rhein-Rhônekanal ein großer Teil der Umgegend von S.
unter Wasser

373

Straßburg (Geschichte der Stadt).

gesetzt werden kann. Die Umgebung der Stadt (s. die Karte) ist
zwar flach, gleicht aber ihrer Fruchtbarkeit halber einem
großen Garten. Die außerhalb der Umwallung liegenden
Orte: Rupprechtsau, Neudorf, Neuhof, Königshofen und
Grünenberg sind der Stadt einverleibt. - Zum
Landgerichtsbezirk S. gehören die 14 Amtsgerichte zu Benfeld,
Bischweiler, Brumath, Hagenau, Hochfelden, Illkirch, Lauterburg,
Niederbronn, Schiltigheim, S., Sulz unterm Wald, Truchtersheim,
Weißenburg und Wörth.

[Geschichte.] Unter der Regierung des Kaisers Augustus entstand
auf der Stelle des heutigen S. eine städtische Ansiedelung,
Argentoratum, welche der achten Legion als Standquartier diente.
Durch den großen Sieg bei S. 357 über die Alemannen
rettete Kaiser Julian die Rheingrenze, doch schon um 406 fiel das
Elsaß jenem germanischen Volksstamm zu. Damals ging die Stadt
in Flammen auf, ward aber bald neu erbaut und in der Karolingerzeit
durch die Neustadt im W. vergrößert. Hier schwuren 14.
Febr. 842 Ludwig der Deutsche und Karl der Kahle den Eid
gegenseitiger Treue, der in altromanischer und altdeutscher Sprache
erhalten ist. Seit der Begründung des Bistums (s. unten) hob
sich die Bedeutung der Stadt; doch blieb sie noch lange Eigentum
des Bischofs, der den Schultheißen ernannte. Wie andre
bischöfliche Städte, wußte sich auch S.
allmählich größere Selbständigkeit zu
verschaffen: an die Stelle der bischöflichen Ministerialen
trat ein aus der Bürgerschaft hervorgehender Rat, und die
Richter der Stadt, die Consules, sprachen vom Bischof
unabhängig Recht. Aber die Reichsfreiheit hat erst Philipp von
Schwaben S. verliehen und Bischof Heinrich III. von Stahleck
(1245-60) anerkannt. Sein Nachfolger Walther von Geroldseck ward
1262, als er die Stadt wieder unterwerfen wollte, bei
Oberhausbergen geschlagen. Für die hohe Blüte
Straßburgs in dieser Zeit zeugen nicht nur Namen wie
Gottfried von S., Meister Eckard, Johannes Tauler, sondern vor
allem das Münster (über dessen Entstehung s. oben). Der
Familienhaß zweier Adelsgeschlechter führte 1332 zur
Aufnahme der Zünfte in den Rat, zu den bisherigen vier
Stadtmeistern trat zugleich als Vertreter der Handwerker ein auf
Lebenszeit gewählter Ammeister. Die Stadt schloß sich
1381 dem Städtebund zu Speier an und leistete ein Jahrhundert
später den Schweizern gegen Karl den Kühnen bei Granson
und Nancy erfolgreiche Unterstützung. In S. hat der Mainzer
Gutenberg die erste Druckerpresse aufgestellt, hier haben einige
Jahrzehnte später die Dichter Sebastian Brant und Thomas
Murner sowie der Humanist Wimpfeling gewirkt. Die Bedeutung der
Stadt war damals weit größer, als man nach ihrer
geringen Bevölkerung (um 1475 nur 20,700 Seelen) erwarten
sollte. Die Reformation fand früh Eingang, besonders infolge
des rastlosen Eifers Martin Butzers, der 1523 in S. eine Zuflucht
fand. Doch erst nach Abschaffung der Messe 1529 kann die Stadt als
protestantisch gelten. In der gefährlichen Zeit der
religiösen Streitigkeiten und Fehden hatte sie einen
vorzüglichen Führer in dem gelehrten und welterfahrenen
Jakob Sturm (s. d.), welcher ihr z. B. nach dem Schmalkaldischen
Krieg einen billigen Frieden vom Kaiser erwirkte. Durch ihn wurde
S. auch eine Stätte der Wissenschaft, besonders als der
Philolog Johannes Sturm sich hier niederließ. Ihm
gegenüber vertrat das deutsch-volkstümliche Element in
der Litteratur der Straßburger Johann Fischart. Für
ihren Rücktritt von der Union belohnte Kaiser Ferdinand II.
die Stadt 1621 mit der Errichtung der Universität.
Während des Dreißigjährigen Kriegs ersparte die auf
reichsstädtischer Tradition beruhende und durch innere
Parteiungen geförderte Neutralitätspolitik S. viel Elend.
Im Westfälischen Frieden blieb es dem Reich erhalten. Ludwig
XIV. ließ 1680 durch die Reunionskammer in Breisach den
Spruch fällen, daß S. für die der Krone Frankreich
gehörenden, aber noch in städtischem Besitz befindlichen
Vogteien von Wasselen, Barr und Illkirchen dem König den
Huldigungseid zu leisten habe. Die Stadt wagte keine ablehnende
Antwort zu erteilen, nur seitens des Reichs wurden Verhandlungen
eröffnet; aber Ludwig XIV. sandte 1681 mitten im Frieden
Louvois mit 30,000 Mann gegen das wehrlose S. Nicht der Verrat
einzelner Ratsmitglieder, wie das Volk meinte, nicht die Ränke
des bestochenen Bischofs Egon von Fürstenberg, sondern die
Erkenntnis der Aussichtslosigkeit jeglichen Widerstandes
führte 30. Sept. die Übergabe der Stadt herbei. Der
Friede von Ryswyk 1697 bestätigte diese Annexion, und auch der
von Utrecht änderte nichts daran, nachdem Deutschland einmal
versäumt hatte, die Zeit der Ohnmacht Frankreichs (1710) zur
Wiedererwerbung Straßburgs zu benutzen. Hier begünstigte
die neue Regierung mit Erfolg die Ausbreitung des katholischen
Bekenntnisses, vermochte aber nicht, der Stadt ihr deutsches Wesen
zu rauben. Für dessen Erhaltung sorgte besonders die
Universität, an welcher der Theolog Spener, die Sprachforscher
Scherz und Oberlin und der Historiker Schöpflin lehrten. Die
französische Revolution zertrümmerte die Vorrechte der
alten deutschen Reichsstadt; an die Spitze trat ein Maire, ihm
standen zur Seite 17 Munizipalräte und 36 Notabeln, welche
alle aus unmittelbaren Volkswahlen hervorgingen. Nach dem Fall des
Königtums blieb der Stadt die Schreckensherrschaft nicht
erspart; auch hier wurde 1793 ein Revolutionstribunal eingerichtet,
dem der deutsche Emigrant Eulogius Schneider vorstand. Erst unter
dem ersten Kaiserreich schwanden die partikularistischen Neigungen,
welche noch das 18. Jahrh. kennzeichnen. S., das Napoleon I. die
Wiederherstellung seiner in den Revolutionsstürmen verfallenen
Universität zu danken hatte, ward wirklich eine
französische Stadt. Der Versuch Ludwig Napoleons 30. Okt.
1836, sich hier von der Garnison zum Kaiser ausrufen zulassen,
mißlang. Am 13. Aug. 1870 begann die Einschließung der
Stadt durch General v. Werder, den Befehlshaber der badischen
Division. Die hartnäckige Verteidigung durch den Kommandanten,
General Uhrich, und die Beschießung des unbefestigten Kehl
veranlaßten v. Werder zu einem Bombardement (24.-27. Aug.),
welches die kostbare Bibliothek zerstörte und den Turm des
Münsters beschädigte. Doch da die Beschießung kein
Resultat hatte, schritt der deutsche Befehlshaber zur regelrechten
Belagerung. Am 12. Sept. war die dritte Parallele fertig; schon war
Bresche in den Hauptwall geschossen und alles zu einem Sturm
vorbereitet, als 27. Sept. die Festung kapitulierte. Die Besatzung
(noch 17,000 Mann) wurde kriegsgefangen, 1200 Kanonen und
zahlreiches Kriegsmaterial wurden eine Beute der Sieger (s. Plan
der Belagerung von S. bei Artikel "Festungskrieg"). Die
deutschfeindliche Haltung der Stadtbehörde in S.
veranlaßte die kaiserliche Regierung, 7. April 1873 den
Bürgermeister Lauth seines Amtes zu entsetzen und den
Gemeinderat, dessen überwiegende Mehrheit sich gegen diese
Maßregel aussprach, zunächst auf zwei Monate, dann auf
ein Jahr zu suspendieren. Mit der Wahrnehmung der Geschäfte
des Magistrats wurde der Polizeidirektor Back betraut, unter
welchem das Gemeindeschul-

374

Straßenbahnen - Straßenbau.

wesen ausgebildet, Straßenbahnen gebaut, eine
Wasserleitung hergestellt und die großartige Stadterweiterung
nach Ankauf der alten Festungswerke durchgeführt wurden. Erst
1886 wurde wieder die Wahl eines Gemeinderats gestattet, welche
deutschfreundlich ausfiel, und Back zum Bürgermeister ernannt.
Vgl. Silbermann, Lokalgeschichte der Stadt S. (Straßb. 1775);
Frese, Vaterländische Geschichte der Stadt S. (das. 1791-95, 4
Bde.); v. Apell, Argentoratum (Berl. 1884); Schmoller,
Straßburgs Blüte im 13. Jahrhundert (Straßb.
1875); "Straßburger Chroniken", herausgegeben von Hegel
(Leipz. 1870-71, 2 Bde.); Rathgeber, Reformationsgeschichte der
Stadt S. (Stuttg. 1871); Holländer, S. im französischen
Krieg 1552 (Straßb. 1888); Reißeissen,
Straßburger Chronik 1667-1710 (hrsg. von Reuß, das.
1877; Nachtrag 1879); Schricker, Zur Geschichte der
Universität S. (das. 1872); Wagner, Geschichte der Belagerung
von 1870 (Berl. 1874-77, 3 Bde.); "Urkunden und Akten der Stadt S."
(Straßb. 1880-86, Bd. 1-4); Kindler und Knobloch, Das goldene
Buch von S. (das. 1885 ff.); Ludwig, S. vor hundert Jahren (Stuttg.
1888); Krieger, Topographie der Stadt S. (Straßb. 1885).

Straßenbahnen, s. v. w.
Straßeneisenbahnen.

Straßenbau. Die Straßen zerfallen in Land- und
Stadtstraßen. Erstere verbinden zwei Ortschaften
miteinander, und wenn dies nicht durch eine gerade und ebene
Straße möglich ist, so haben die Vorarbeiten
demgemäß die beste Trace auszumitteln, was an Ort und
Stelle oder mit Hilfe von Karten geschehen kann, in welche
Höhenkurven (Schichtenlinien, Niveaukurven) eingetragen sind.
Man sucht dabei die notwendigen Unterbauarbeiten thunlichst zu
vermindern. Krümmungen sind bei Straßen, sofern sie die
Länge nicht unnötigerweise sehr vergrößern,
ohne Nachteil; von wesentlicher Bedeutung sind aber stärkere
Steigungen. Eine allgemeine Regel für die größte
gestattete Steigung läßt sich nicht geben: sie muß
der ortsüblichen Wagenladung entsprechen. Man darf sie heute
steiler wählen als früher, da der schwere Frachtverkehr
größtenteils durch die Bahnen besorgt wird; Laissle
empfiehlt 3 Proz. für Hauptstraßen zu der Ebene, 5-6
Proz. im Hügelland, 7 Proz. im Gebirge. Die Breiten der
Fahrbahnen und Bankette wechseln mit der Frequenz der Straße
und betragen für zwei sich ausweichende Wagen und
Fußgänger bez. 4,5-5,5 und 1-1,25 m. Ein Sommerweg, d.
h. ein nicht befestigter Streifen für leichte Wagen, Vieh
etc., dessen Anlage sich dort empfiehlt, wo der Unterbau billig,
die Befestigung der Fahrbahn teuer ist, erfordert eine Breite von
2,5-3m, ein Weg für zwei sich ausweichende Reiter 1,5-2 und
ein Materialstreifen 1-1,25m Breite. Statt der letztern werden auch
in Entfernungen von 100-200m besondere Lagerplätze für
das Unterhaltungsmaterial angelegt; dagegen erscheint es
fehlerhaft, einen Teil der Fußwege zum Lagerplatz für
Straßenmaterial zu verwenden. Die Straßengräben
erhalten, je nach der zu gewärtigenden Wassermenge, eine
Sohlenbreite von 0,25-0,5 bei einer Tiefe von 0,5-1m und nach der
größern oder geringern Kohäsion des Erdreichs 1-1
1/3füßige Böschungen. Die gewöhnliche
Befestigung der Landstraßen bildet die Versteinung oder
haussierung. Die Dicke der Versteinung soll in der Mitte mindestens
25-30, an den Rändern 20-25cm und die zur Beförderung des
Wasserabflusses dienende Wölbung ihrer Oberfläche (Pfeil)
etwa 1/38 bis 1/32 ihrer Breite betragen. Nach Umpfenbach
genügt eine Abdachung (zwei geneigte Ebenen) von 1/40-1/30
oder eine Wölbung (Kreisbogen), welche 1/30-1/30 der
Straßenbreite zur Pfeilhöhe hat. Die Steinbahn kann mit
einer Packlage hergestellt werden, d. h. mit einem 13-15cm hohen
Unterbau aus Steinen, die man auf die breite Seite (Kopf) stellt,
deren Zwischenräume man oben auskeilt, und die man mit einer
in der Straßenmitte 12-17cm hohen Schicht zerschlagener
walnußgroßer Steine (Decklage) bedeckt. Manchmal
faßt man die Packlage mit größern Randsteinen
(Bordsteinen) ein, und um die Zwischenräume der Decksteine
auszufüllen und hierdurch das Einfahren der Straße zu
erleichtern, wird zuweilen eine bis zu 5cm starke Schicht Kies in
einer oder mehreren Lagen auf derselben ausgebreitet.
Schließlich ist die Straße stets mit einer schweren
Straßenwalze mehrmals zu überfahren. Viele
Straßenbanmeister ziehen die makadamisierte Straße
(nach ihrem Erfinder Mac Adam) vor, bei welcher
gleichmäßig kinderfaustgroße Steinstücke auf
dem trocknen Untergrund in dünnen Lagen aufgetragen werden,
bis sie eine 25-30cm hohe Lage bilden, die man zum Schluß bei
feuchter Witterung tüchtig überwalzt. Wo Steine mangeln,
legt man Kiesstraßen an, verwendet das gröbere Material
zu unterst, das feinere in den darüberliegenden Schichten und
mengt der obersten, damit sie besser binde, etwas Lehm bei.

Zur Befestigung der Fahrbahn (des Fahrdammes) städtischer
Straßen ist Chaussierung trotz der billigen Anlage wenig
geeignet: sie nutzt sich rasch ab, erfordert daher öftere
Erneuerung und ist teuer in der Unterhaltung, gibt
außerordentlich viel Staub und Schmutz, ist
wasserdurchlässig, mit Einem Wort, nur in wenig belebten
Straßen verwendbar. Den Vorzug verdient Pflaster aus
natürlichen oder künstlichen Steinen, auch aus
Gußeisenblöcken, Holzpflaster und Asphalt. Das ehemals
sehr verbreitete rauhe Pflaster aus Gerollen wird mehr und mehr von
dem regelmäßigen Reihenpflaster verdrängt, dessen
Steine an der Oberfläche rechteckig bearbeitet sind. Die
Oberfläche muß eine Wölbung von 1/100-1/60 der
Breite erhalten, und des bessern Auftretens der Pferde sowie des
raschern Wasserabflusses wegen sollen die Reihen senkrecht zur
Straßenrichtung laufen. Die untere Fläche der Steine
soll nicht kleiner sein als etwa 2/3 der obern, und die Höhe
der Steine darf nicht zu sehr wechseln, sonst drücken sie sich
ungleich in die Bettung ein. Am besten, aber in manchen Gegenden zu
teuer, ist Würfelpflaster aus parallelepipedisch bearbeiteten
Steinen, welche, wenn sie thatsächlich Würfel sind, wie
in Wien (18cm Seitenlänge), ein mehrmaliges Umwenden
gestatten. Die Größe schwankt: so hat Brüssel
Prismen von 10cm Breite, 16cm Länge, 13cm Höhe, Turin
Platten von 60cm Länge, 30cm Breite, 15-20cm Höhe. Die
Steine erhalten eine etwa 25cm dicke Unterlage (Bettung) bloß
von Sand oder von Kies und Sand darüber. Wo der Boden leicht
beweglich ist, wie in Berlin, gibt man eine starke Unterlage von
geschlagenen Steinen, auf diese eine Kiesdecke, welche vor dem
Aufsetzen der Würfel festgewalzt wird. Der Pflasterer
(Steinsetzer) setzt die Steine des gewöhnlichen Pflasters
zunächst etwa 5cm höher, als sie später liegen
sollen; dann wird das Pflaster mit Sand überdeckt und
abgerammt. Gut ist es, wenn bei der nunmehr folgenden abermaligen
Sandüberdeckung der Sand durch Wasserspülnng in die Fugen
getrieben wird. Häufig, namentlich unter Wagenständen u.
dgl., werden die Fugen durch Einguß von Zementmörtel
oder Asphalt wasserundurchlässig gemacht, um das Eindringen
der Jauche, also eine Infizierung des Untergrundes, zu

375

Straßenbau.

verhindern. In England wird vielfach statt der Sandunterlage
eine ungefähr 25 cm starke Betonunterlage angeordnet und
dadurch große Haltbarkeit erzielt, allerdings unter
störender Erschwerung aller Ausbesserungen an unter der
Fahrbahn liegenden Rohrleitungen und Telegraphenkabeln.
Pflastersteine dürfen mit der Zeit nicht zu glatt werden und
müssen hart und fest sein, Bedingungen, welche von allen
Felsarten Granit mit am besten erfüllt. Man hat bei
verschiedenen, namentlich holländischen, Stadt- und
Landstraßen statt natürlicher Steine bis zur Verglasung
hartgebrannte Ziegel, Klinker, benutzt, welche ähnlich wie
andres Reihenpflaster unterbettet und so aufgestellt werden,
daß ihre breite Seite die Dicke der Steindecke bildet.
Gußeisenpflaster besteht aus vielfach durchbrochenen
großen Gußeisenplatten (bis 100 kg schwer), die auf der
geebneten Unterlage verlegt werden und zur Vermeidung einseitigen
Setzens untereinander in Verbindung stehen. Die Durchbrechungen
werden mit Sand und Kies ausgefüllt, um dem Pflaster
Rauhigkeit zu geben. Es hat sich bis jetzt nicht bewährt.
Holzpflaster besteht aus 15-17 cm hohen Holzblöcken von
rechteckigem, selten sechseckigem Querschnitt, welche auf einer
Unterlage von Sand, Beton oder hölzernen, manchmal in Teer
getränkten Dielen ruhen. Man füllt die Fugen, welche
zuweilen Filzeinlagen erhalten, mit Sand, einer Mischung von Sand
und Asphalt oder Mörtel. Man verwendet meist Tannenholz und
imprägniert die Blöcke oder taucht sie vor dem Versetzen
in heißen Teer. Eine Verbindung der Klötze durch
hölzerne Dübel ist wenig üblich. Holzpflaster ist in
der Anlage eher billiger als Reihenpflaster, scheint aber bei
starkem Verkehr sehr zu leiden. Es bewirkt ein geräuschloses
Fahren und empfiehlt sich aus diesem Grund für Thoreinfahrten
und enge, stark belebte Gassen sowie seines geringen Gewichts wegen
als Brückenbelag. In England wird es viel verwendet, so z. B.
in zahlreichen Straßen der Londoner City; auch in Berlin ist
es an mehreren stark frequentierten Stellen benutzt worden.
Asphaltstraßen werden aus Stampfasphalt (kom- primiertem
Asphalt) hergestellt. Dieser besteht aus natürlichem
Asphaltstein, d. h. Kalkstein, der zwischen 7 und 11 Proz. Bitumen
enthalten muß und sich z. B. im Val de Travers (Kanton
Neuenburg), bei Seyssel (Aindepartement), Limmer (Hannover) und auf
Sizilien findet. Der rohe Stein wird zwischen gerieften Walzen
zerkleinert und hierauf auf 120-130° erhitzt, wobei er zu
Pulver zerfällt. Zur Herstellung der Fahrbahn, welche eine
Wölbung von 1/100-1/300 erhält, wird das Pulver in
großen Eisenpfannen abermals erhitzt und dann auf der
vorgerichteten Betonunterlage von 10-20 cm Stärke aufgetragen
und mit heißen Rammen, auch wohl einer heißen Walze
verdichtet; schließlich wird mit einer Art Plätteisen
die Oberfläche vollends geglättet und mit etwas feinem
Sand überstreut. Die aufgetragene Schicht ist 5/7mal so stark
als die spätere gestampfte, 4-6 cm dicke Asphaltlage. Da es
auf eine gleichmäßige Unterlage wesentlich ankommt,
bedarf bei nachgiebigem Untergrund die Betonlage selbst eines
Grundbaues aus festgewalztem Kleinschlag. Im allgemeinen
dürften die Kosten der Herstellung von Asphaltstraßen
geringer sein als die von Granitwürfelpflaster, die der
Unterhaltung größer. Die Vorteile der
Asphaltstraßen sind: Ebenheit der Fahrbahn, also leichte
Fortbewegung der Fuhrwerke, große Reinlichkeit,
Wasserundurchlässigkeit, geräuschloses Fahren; die
Nachteile sind: leichtes Stürzen der Pferde, schwierige
Ausbesserung bei nassem Wetter, also insbesondere im Winter.
Übrigens hat es sich gezeigt, daß die Gefahr der
Stürzens sehr abnimmt, wenn Pferd und Kutscher sich an den
Asphalt gewöhnen, und daß, während sich auf
vereinzelten Asphaltbahnen viele Unfälle zutragen, auf einem
größern mit Asphalt befestigten Straßennetz die
Anzahl der Stürze verhältnismäßig nicht mehr
bedeutend ist; bezüglich der Häufigkeit von
Fußkrankheiten der Pferde soll sogar Asphalt dem Pflaster
vorzuziehen sein. Künstliche Steine aus Asphalt haben sich
bisher nicht behaupten können. Fußwege städtischer
Straßen liegen meist zu beiden Seiten des Fahrdammes,
besitzen ein schwaches Quergefälle gegen die
Straßenmitte zu und liegen mit ihrer gewöhnlichen
Begrenzung, den Randsteinen (Bordsteinen, Bordschwellen), 5-20 cm
über dem anstoßenden tiefsten Teil der Fahrbahn, welcher
als Gosse (Straßenrinne, Kandel, Rinnstein) zur
Wasserableitung dient. Neben versteinten Fahrbahnen findet man
manchmal einfach mit Kies überdeckte Fußwege (Gehwege),
sonst stellt man Trottoirs aus Pflaster, Plattenbelag,
Stampfasphalt oder Gußasphalt her. Hausteinplatten kann man
unmittelbar auf den festgestampften Untergrund in Mörtel
legen; Thonplättchen mit ebener oder gerippter Oberfläche
erfordern schon eine Betonunterlage von 8-10 cm Stärke oder
mindestens eine Kiesbettung. Zum Gußasphalt (der mit dem
bereits beschriebenen Stampfasphalt nicht zu verwechseln ist)
verwendet man den im Handel vorkommenden Asphalt-Goudron, d. h.
eine Mischung von natürlichem Asphaltpulver (s. oben) mit
ungefähr 5 Proz. reinem Erdharz (Goudron). Der Asphalt-Goudron
wird an der Baustelle in Kesseln geschmolzen unter Zusatz von noch
etwas Erdharz und so viel Kies, daß etwa 35 Proz. Kies in der
neuen Mischung enthalten sind, welche man, wenn sie genügend
heiß ist, auf die Unterlage ausbreitet. Letztere ist gemauert
oder besteht aus einer 8-10 cm starken Betonschicht. Die
Gußasphaltdecke wird meist in zwei Lagen hergestellt und
erhält eine Dicke von 15 bis 20 mm, in Thoreinfahrten etwa 30
mm.

Geschichtliches. Kunststraßen legte man schon in den
ältesten Zeiten an. Die Spuren der Römerstraßen,
welche sich über das ganze Gebiet des römischen Reichs
zerstreut vorfinden, haben dem neuern S. zum Vorbild gedient. Die
römischen Kunststraßen erhielten, wie Plinius und Vitruv
berichten, zuerst ein Substrat von einer Art Beton, welches einer
20 cm starken Steinplattenschicht (statimen) als Unterlage diente.
Auf letztere kam eine neue, ebenfalls 20 cm starke Schicht in
Mörtel versetzter Steine (rudus), welche durch eine 8 cm
starke Betonschicht (nucleus) bedeckt wurde, auf der dann die
eigentliche Straßendecke (summum dorsum) aus Pflaster oder
Kies hergestellt wurde. Manchmal fehlte jedoch eine oder die andre
Lage, oder es wurden Lehmschichten zwischengeschaltet u. dgl. mehr.
An den Seiten erhielt der Straßendamm Böschungen oder
(bisweilen mit Stu-fen versehene) Strebemauern. Augustus,
Vespasian, Trajan und Hadrian haben Bauten der Art anlegen lassen,
die uns jetzt fast unglaublich erscheinen. Nachdem diese
Straßen nach dem Umsturz des Reichs in Verfall geraten,
ließ Karl d. Gr. die alten Kunststraßen wieder
ausbessern und neue anlegen. In Deutschland reichen die ersten
Spuren eines geregelten Straßenbaues nicht über das 13.
Jahrh. zurück. Doch waren diese Ausführungen noch
höchst mangelhaft. Infolge des mit der Entwickelung eines
regern Geschäfts- und Verkehrslebens wachsenden
Bedürfnisses

376

Straßenbauordnnng - Straßeneisenbahnen.

an Kunststraßen gründete man in Frankreich 1720 ein
besonderes Korps der Ingenieure, in dessen Hand man den mit
verhältnismäßig bedeutendem Kostenaufwand
verknüpften Straßen- und Brückenbau legte.
Vervollkommt wurde diese Einrichtung noch durch die Gründung
der École des ponts et chaussées 1795, durch welche
Ingenieure für S. wissenschaftlich ausgebildet wurden.
Später wurde durch ähnliche Organisationen und technische
Bildungsanstalten der S. auch in andern Staaten gefördert. Die
Fortschritte der neuesten Zeit betreffen weniger die durch die
Eisenbahnen ihrer frühern Bedeutung teilweise beraubten
Landstraßen als die Anlage städtischer Straßen,
wie z. B. die Neuenburger Asphaltindustrie, von einigen später
in Vergessenheit geratenen Anfängen abgesehen, erst 1832 durch
den Grafen Sassenay be-gründet wurde; die erste Verwendung des
Stampfasphalts erfolgte später durch den Ingenieur Merian aus
Basel. Vgl. Umpfenbach, Theorie des Neubaues, der Herstellung und
Unterhaltung der Kunststraßen (Berl. 1830); Wedeke, Handbuch
des Chaufseebaues etc. (Quedlinb. 1835); Launhardt, Über
Rentabilität u. Richtungsfeststellung der Straßen
(Hannov. 1869); Ahlburg, Der S. mit Einschluß der
Konstruktion der Straßenbrücken (Braunschw. 1870); v.
Kaven, Der Wegebau (2. Aufl., Hannov. 1870); Zur Nieden, Der Bau
der Straßen und Eisenbahnen (Berl. 1878); Heusinger v.
Waldegg, Handbuch der Ingenieurwissenschaften, Bd. 1 (2. Aufl.,
Leipz. 1884); Osthoff, Wege- und S. (das. 1882); Dietrich, Die
Asphaltstraßen (Berl. 1882); Derselbe, Baumaterialien der
Steinstraßen (das. 1885).

Straßenbauordnung, s. Bebauungsplan.

Straßenbeleuchtung durch Laternen kannte man schon im
Altertum zu Rom, Antiochia etc., wenigstens in den
Hauptstraßen und auf öffentlichen Plätzen. In Paris
wurde 1524, 1526 und 1553 den Einwohnern befohlen, von 9 Uhr abends
an die Straßen durch Lichter an den Fenstern der Sicherheit
wegen zu erleuchten. Schon im November 1558 brannten die ersten, an
den Häusern oder auf Pfählen angebrachten Laternen, und
1667 war die Stadt in solcher Weise vollständig erleuchtet.
Diesem Beispiel folgten London 1668, Amsterdam 1669, Berlin 1679,
Wien 1687, Leipzig 1702, Dresden 1705, Frankfurt a. M. 1707, Basel
1721 und im Lauf des 18. Jahrh. bei weitem die Mehrzahl der
größern Städte, namentlich in Deutschland. Erst im
19. Jahrh. fing man an, die Lampen mit Reverberen zu versehen und
sie in der Mitte der Straßen aufzuhängen. Den
bedeutendsten Fortschritt hat die S. durch die Gasbeleuchtung (s.
Leuchtgas) gemacht, zu welcher in neuester Zeit das elektrische
Licht getreten ist.

Straßeneisenbahnen (engl. Tramways, Trambahnen, von
Tram = Schiene mit vorspringendem Rand, Grubenschiene),
Schienenwege, welche 1793 von J. Burns und Outram in Derbyshire
statt auf hölzerne Lang- und Querschwellen auf
Steinblöcke gelegt wurden (daher auch Outram ways genannt), u.
auf denen Wagen zur Beförderung von Passagieren oder
Gütern meist mittels Pferde (Pferdebahnen) oder Maschinen mit
geringerer Geschwindigkeit als auf der Eisenbahn fortbewegt werden.
Die Möglichkeit der Rentabilität derartiger Bahnen beruht
auf der Thatsache, daß die Transportarbeit, welche ein Pferd
auf den S. zu verrichten im stande ist, d. h. Anzahl der Menschen
mal Kilometer täglich, wegen der verminderten Reibung eine
wesentlich größere ist als auf Chaussee oder
Steinpflaster, und daß daher die Straßeneisenbahn trotz
billiger Fahrpreise die nicht geringen Anlagekosten durch
Betriebsersparnisse zu verzinsen vermag. Bei diesen Bahnen, deren
lebhafte Entwickelung erst dem letzten Jahrzehnt angehört,
haben die eigenartigen Verhältnisse auch viele eigenartige,
von den Lokomotivbahnen wesentlich abweichende Oberbausysteme
veranlaßt. Am häufigsten wendet man Schienen an, welche
mit dem Straßenpflaster genau in gleicher Höhe liegen,
also den Verkehr des übrigen Fuhrwerkes nicht stören und
mit einer schmalen Rinne versehen sind, worin die Spurkränze
der Räder laufen. Übereinstimmend mit den
Lokomotivbahnen, ist die Spurweite der S. in Europa fast allgemein
1,435 m. Bei eingeleisigen Bahnen sind sogen. Weichen in gewissen
Zwischenräumen vorhanden, d. h. kurze Strecken Nebengeleise,
in welches einer von zwei sich begegnenden Wagen einbiegen kann, um
den andern vorüber zu lassen. Die Schienen bestehen in der
Regel aus einer Hauptschiene, worauf der Radkranz läuft, und
einer durch die Spurrinne von ersterer getrennten Gegenschiene,
welche den Zweck hat, die Spurrinne gegen das Straßenmaterial
zu begrenzen, um sie leichter reinigen zu können. In Kurven
bleibt bei der äußern Schiene die Spurrinne weg, so
daß der Wagen nur innen geführt ist, da sich sonst die
Räder festklemmen würden. In Fig. 1 ist a die
Hauptschiene, b die Gegenschiene der zuerst für die
Berlin-Charlottenburger Pferdebahn angewendeten Schiene, die
später durch die leichtere (Fig. 2) ersetzt wurde. Beide waren
auf die durch Querschwellen getragenen hölzernen Langschwellen
geschraubt, was den Nachteil hatte, daß das Regenwasser
leicht durch die Schraubenlöcher in das Innere des Holzes
drang und rasch Fäulnis veranlagte. Um dies zu vermeiden, hat
man mancherlei andre Befestigungsmittel der Schienen vorgeschlagen
und angewendet, z. B. schmiedeeiserne Bügel unter die Schiene
genietet, welche die Langschwelle umgreifen und seitlich an
dieselbe festgenagelt (Pariser Linie Pont de Courbevoie-Suresnes)
oder festgekeilt sind. In den Vereinigten Staaten sind die S. sehr
entwickelt. Die Straßen haben daselbst meist sehr wenig
Wölbung, was für die Anlage der Geleise vorteilhaft ist.
Die Schienen ruhen auf fichtenen Langschwellen, die wiederum auf
meistens eichenen Querschwellen befestigt sind und zu beiden Seiten
um 0,3 m das Geleise überragen dürfen. Der Abstand
derselben wechselt zwischen 1 und 1,8 m und sinkt auf 0,6 m, wenn
die Langschwellen ganz wegbleiben. Sie sind auf geschlagene Steine
gelagert; die ganze Bahn wird sorgfältig drainiert
(trockengelegt). Die Geleisebreite beträgt 1,59 m. In den
Kurven ist die äußere Schiene flach, die innere aber mit
einer hohen Gegenschiene versehen, um die Fortbewegung in gerader
Linie, Entgleisung, zu verhüten. In Wien, wo die S. seit 1868
bestehen, 1874 bereits eine Länge von 50 km doppelgeleisiger
Strecke besaßen und 34 Mill. Passa-

377

Straßeneisenbahnen.

giere während des Ausstellungsjahrs 1873 beförderten,
liegen die Schienen bei 1,455 m Spurweite aus eichenen
Langschwellen von 237 mm im Quadrat und diese auf Querschwellen,
die in Schotter gebettet sind. Die Vergänglichkeit der
Holzschwellen, durch welche Betriebsstörungen und bedeutende
Reparaturkosten erwachsen, hat neuerdings zur Anwendung eiserner
Langschwellen oder zur direkten Lagerung der Schienen auf das
Straßenmaterial geführt. Im letztern Fall
(Stuttgart-Berg-Kannstätter Pferdebahn) müssen die
Schienen eine beträchtliche Breite erhalten, um den Druck auf
eine genügend große Grundfläche zu verteilen.
Einige Systeme besitzen den großen Vorzug, daß die
Wagen die Schienen beliebig verlassen können, um
entgegenkommenden Wagen auszuweichen. Man hat dies durch schwach
ausgehöhlte Schienen und entsprechend abgerundete
Radkränze, ferner durch eine dritte Schiene erreicht, in die
ein fünftes kleineres Rad als Leitrad eingreift, während
die vier Wagenräder mit gewöhnlichen Radkränzen auf
flachen Schienen laufen (Perambulatorsystem). Das Leitrad kann
mittels eines Trittes vom Kutscher gehoben werden, worauf der Wagen
im stande ist, aus dem Geleise abzulenken. Erspart wird die dritte
Schiene auf der Berliner Linie Alexanderplatz-Weißensee,
indem hier die vier Laufräder der Wagen ohne Spurkränze
auf den Schienen laufen und anfangs nur durch ein fünftes, auf
der linken Schiene laufendes kleines Spurrad, welches, am vordern
Ende des Wagens an einem Hebel sitzend, ebenfalls durch einen
Fußtritt vom Kutscher ein- und ausgelegt werden konnte, auf
dem Geleise gehalten wurden. Nach etwa halbjährigem Betrieb
brachte man zur größern Sicherheit des Geleisehaltens
zwei an einem gemeinschaftlichen Hebel sitzende Spurräder an.
Dieses System gestattet den Pferdebahnbetrieb in den engsten
Straßen, da nur ein einziges Geleise notwendig ist, indem zum
Ausweichen je ein Wagen durch Aushebung der Spurräder das
Geleise verläßt, bis der andre vorbei ist. Die Schiene
besteht hier aus zwei gleichen, ebenen Laufflächen von ca. 40
mm Breite, mit einem Zwischenraum von 30 mm für die Spur. Es
ist zu erwarten, daß dieses System eine bedeutende Zukunft
hat, namentlich weil das hier benutzte Schienensystem den
Wagenverkehr nicht im geringsten stört. Neuerdings wird
vielfach auf den Straßenbahnen die Betriebskraft der Pferde
durch Dampfkraft ersetzt. Man benutzt Lokomotiven von 15-100
effektiven Pferdekräften mit Rauchverbrennungs- und
Kondensationsvorrichtungen und möglichst ruhigem Gang, um die
Passagiere und Fußgänger nicht zu belästigen und
Pferde nicht scheu zu machen. Solche Dampfstraßenbahnen sind
besonders in Oberitalien in beträchtlicher Ausdehnung
vorhanden und vermitteln den Personen- und Güterverkehr
zwischen Ortschaften abseits der Eisenbahnen. Auch feuerlose
Lokomotiven sind für S. benutzt worden, ebenso Dampfwagen, bei
welchen die Dampfmaschine in dem für die
Personenbeförderung bestimmten Wagen angebracht ist (s.
Lokomotive, S. 890). Ein in Amerika mehrfach in Anwendung
befindliches Straßenbahnsystem mit Dampfbetrieb (Taubahnen,
Kabel-, Seilbahnen) benutzt stationäre Dampfmaschinen und zur
Übertragung der Zugkraft auf die Wagen ein unter dem
Straßenplanum laufendes Stahldrahtseil ohne Ende. Die Bahn
selbst ist eine zweigeleisige, und die beiden Seiltrümer sind
so gelegt, daß das eine fortwährend nach derselben
Richtung hinlaufende Trum unter dem einen Geleise, das andre in
entgegengesetzter Richtung bewegte unter dem zweiten Geleise
bleibt, entsprechend dem Lauf der hin- und hergehenden Wagen. Damit
das Seil weder den sonstigen Wagenverkehr behindert, noch selbst
einer Beschädigung oder Beschmutzung ausgesetzt ist, zugleich
aber die Ankuppelung der Wagen gestattet, liegt unter jedem Geleise
ein Rohr unter dem Straßenplanum, in welchem zahlreiche um
horizontale Achsen drehbare Leitrollen zur Aufnahme des etwa 25 mm
starken Seils dienen. An den beiden Enden der ganzen Strecke wird
das Seil aus einem Geleise in das andre durch horizontale
Wenderollen von 2,4 m Durchmesser übergeleitet. Die
Röhren sind auf ihre ganze Länge an der Oberseite
geschlitzt, um eine Verbindung zwischen Wagen und Seil zu
ermöglichen, und zwar ist der Schlitz so viel von der
Rohrmitte entfernt angebracht, daß einerseits kein Schmutz
auf das Seil und die Leitrollen fallen und anderseits ein vom Wagen
durch den Schlitz hinabreichender Kuppelungsarm den an den
Gefällewechseln über dem Seil befindlichen
Ablenkungsrollen ausweichen kann. Eine von dem Wagen herabreichende
Stahlschiene wird mittels einer an ihrem untern Ende angebrachten,
vom Führerstand des Wagens aus mittels Hebels zu handhabenden
Seilklemme mit dem Seil verkuppelt. Diese Klammer hat die Form
einer Zange und ist mit zwei das Seil erfassenden Klemmbacken aus
weichem Gußeisen versehen. Das Anhalten und Weiterfahren an
den Haltestellen erfolgt durchaus stoßfrei und wird von dem
Kondukteur durch Lösen und Schließen der Klemme besorgt.
Die Betriebsmaschine ist ungefähr in der Mitte der ganzen
Bahnstrecke aufgestellt und liegt seitwärts von der Bahn, so
daß an dieser Stelle eine rechtwinkelige Ablenkung des dem
nächstliegenden Geleise angehörigen Seiltrums erfolgen
muß, um das Seil nach der Betriebsscheibe hinzuleiten. Dieser
Ablenkung des Seils kann die Seilklemme aber nicht folgen und
muß daher kurz vor der Ablenkungsstelle gelöst und
gleich hinterher wieder angeschlossen werden, während der
Wagen infolge seines Beharrungsvermögens die kurze
dazwischenliegende Strecke frei durchführt. Ein ähnliches
Manöver muß bei Kurven gemacht werden, und damit hier
die bedeutend längere Strecke ohne Seilantrieb sicher
durchfahren werden kann, sind die Geleise vor der Kurve etwas
ansteigend ausgeführt, um in der Kurve eine zur sichern
Weiterbeförderung des Wagens erforderliche Neigung zu
erhalten. Für den Betrieb wird nicht jeder Wagen einzeln an
das Seil angeschlossen, sondern man fährt mit einem kleinen
Zug von zwei gewöhnlichen Straßenbahnwagen und einem
davor befindlichen Kuppelungswagen, welch letzterer aber
außer dem Kondukteur noch Passagiere aufnimmt. Auf der
Hängebrücke zwischen New York und Brooklyn wird eine
Taubahn mit einem 38 mm dicken, 3492 m langen Drahtseil betrieben.
Dasselbe wird mit 15 km Geschwindigkeit in der Stunde täglich
20 Stunden lang in Betrieb erhalten. 10-20 Wagen werden
gleichzeitig angehängt, ihr Gewicht beträgt
durchschnittlich je 10 Tonnen. Die Wagen folgen in
Zeitabständen von 0,6-1,2 Minuten, so daß täglich
1200 ganze Reisen (hin und zurück) ausgeführt werden.
über Elektrische Eisenbahnen s. d. Vgl. Clark, Tramways. their
construction and working (Lond. 1878; deutsch von Uhland, Leipz.
1880, 2 Bde.); "Die Straßen- und Zahnradbahnen" (Organ
für die Fortschritte des Eisenbahnwesens, Supplementband 8,
Wiesb. 1882); "Zeitschrift für das gesamte Lokal- und
Straßenbahnwesen" (das., seit 1881); "Zeitschrift für
Transportwesen und

378

Straßenkehrmaschinen - Strategie.

Straßenbau" (Berl., seit 1884); v. Lindheim, Die

Straßenbahnen, Statistisches etc. (Wien 1888); Huber, Das
Tramwayrecht (Zürich 1889).

Straßenkehrmaschinen sind zuerst am Ende der 20er Jahre
in England eingeführt worden; sie ahmen entweder das
Kehren mit Handbesen oder Krücken nach, und das arbeitende
Werkzeug macht eine fast geradlinige oder schlingende
fortschreitende Bewegung, oder das Bürsten- und Besensystem
arbeitet ausschließlich bei rotierender Bewegung, oder es
wird endlich der Besen wie eine endlose Kette in eine geradlinig
fortschreitende und gleichzeitig drehende Bewegung versetzt. Die
Maschinen der ersten Klasse sind am wenigsten brauchbar, die zweite
Klasse zählt die meisten Konstruktionen, von denen die
neueste

mit schräg liegender Cylinderbürste den Schmutz in

geradlinige Häufelstreifen zusammenkehrt. Sie unterscheidet
sich von der ältern Konstruktion dadurch, daß die
Cylinderbürste von dem einen Laufrad ab mittels konischer
Räder und durch Benutzung eines Hookschen Gelenks bewegt wird,
während der Betrieb der ältern Maschine durch eine
endlose Kette erfolgt. Um die gleiche von einer Maschine gereinigte
Straßenfläche in einer Stunde nur mit Handbesen zu
kehren und zu häufeln, sind 33-36 geübte Leute
nötig. Zur dritten Klasse gehören die Maschinen, bei
denen das Besensystem ein schräg liegendes Paternosterwerk
bildet, das den Schmutz auf einer festen schiefen Ebene
aufwärts schiebt und einem Sammelkasten übergibt,
während eine Brause die Straße schwach befeuchtet.

Straßenlokomotive, s. Lokomobile, S. 883 f.

Straßenraub, s. Raub.

Straßenrecht auf See (Seestraßenrecht,
Seestraßenordnung), Grundsätze und seepolizeiliche
Vorschriften, welche die Sicherung der Schiffe auf See, namentlich
vor dem Zusammenstoß mit andern Fahrzeugen, bezwecken.
Früher entschied in dieser

Hinsicht lediglich "das Herkommen auf See" , während in
neuerer Zeit die Seestaaten, England voran, dazu übergegangen
sind, im Verordnungsweg die

nötigen Vorschriften für ihre Schiffsführer zu
erlassen. Auf Anregung Frankreichs wurden dann jene Vorschriften
einer Revision unterzogen, um dieselben

möglichst in Einklang zu bringen und ihnen so einen

internationalen Charakter zu verleihen. Die betreffenden
deutschen Verordnungen stimmen mit den englischen ("Revidierte
Vorschriften zur Verhütung von Kollisionen auf See vom 14.
Aug. 1879, in Verfolg der Zusatzakte zum
Kauffahrteischiffahrtsgesetz

von 1862", nebst Nachtrag vom 21. Aug. 1884) zum Teil
wörtlich überein. Die nötige Strafbestimmung
enthält das Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich
(§ 145). Es bedroht mit Geldstrafe bis zu 1500 Mk.

ein Zuwiderhandeln gegen die vom Kaiser erlassenen Verordnungen
1) zur Verhütung des Zusammenstoßes der Schiffe auf See,
2) über das Verhalten der Schiffer nach einem
Zusammenstoß von Schiffen auf See, 3) in betreff der Not- und
Lotsensignale für Schiffe auf See und auf den
Küstengewässern. In ersterer Beziehung sind nun die
Verordnungen vom 7. Jan. 1880 und 16. Febr. 1881 erlassen,
während in zweiter die Verordnung vom 15. Aug. 1876

maßgebend ist, welche die Schiffsführer
verpflichtet,

nach einem Zusammenstoß dem andern Schiff und den dazu
gehörigen Personen Beistand zu leisten, soweit sie dazu ohne
erhebliche Gefahr für das eigne Schiff und die darauf
befindlichen Personen im stande sind. Dazu kommt dann endlich die
Not- und Lotsensignalordnung vom 14. Aug. 1876; letztere,
ebenso

wie die Verordnung vom 15. Aug. 1876, im wesentlichen der
englischen Merchant Shipping Act von

1873 entnommen. Was die Verhütung des Zusammenstoßes
von Schiffen auf See anbetrifft, so besteht die Vorschrift,
daß jedes Segelschiff auf Backbord eine rote, auf Steuerbord
eine grüne Laterne zu führen hat und keine andre; jeder
Dampfer außerdem eine weiße Topplaterne, ein Schlepper
zwei weiße Topplaternen übereinander; ein vor Anker
liegendes Schiff an einer gut sichtbaren Stelle und nicht
höher als 6 m über dem Schiffsrumpf eine weiße
Ankerlaterne und keine andre. Mit Bezug auf das Ausweichen

gilt im allgemeinen die Regel, daß das mit den besten

Mitteln zum Manövrieren ausgestattete Schiff dem andern
ausweicht; ein Dampfer muß daher einem Segelschiff stets
ausweichen, ebenso das überholende Schiff dem vorangehenden.
Bewegen sich zwei Schiffe auf gerader Linie gegeneinander, so haben
sich dieselben mit den Backbordseiten zu passieren; kreuzen sich
die Kurse zweier Segelschiffe, welche den Wind von verschiedenen
Seiten haben, so muß dasjenige, welches den Wind von Backbord
hat, dem andern aus dem Wege gehen; nur in dem Fall, wenn ersteres
dicht am Wind segelt und das andre raumen Wind hat, muß
letzteres ausweichen; haben beide Schiffe den Wind von derselben
Seite, oder segelt eins derselben vor dem Wind, so weicht das
luvwärts befindliche aus. Vgl. Gray, Bemerkungen über das
S.

(deutsch von Freeden, Oldenb. 1885).

Straßeureinigungsmaschinen, s.
Straßenkehrmaschinen.

Straßmann-Damböck, Marie, hervorragende

Schauspielerin, geb. 16. Dez. 1827 zu Fürstenfeld in

Steiermark, betrat 1843 zuerst zu Innsbruck die Bühne

mit glücklichem Erfolg und folgte von Brünn aus, wo
sie als tragische Liebhaberin wirkte, 1845 einem Ruf

nach Hannover, der eigentlichen Wiege ihres Ruhms.

Als sie 1849 ehrenvolle Anträge von Wien, Berlin,
Stuttgart, München erhielt, entschied sie sich für
letzteres, verheiratete sich daselbst mit dem Heldenspieler
Straßmann und siedelte mit demselben 1868 an das

Stadttheater zu Leipzig über, das sie jedoch schon 1870

mit dem Wiener Burgtheater vertauschte. Früher im Fach der
Liebhaberinnen glänzend, ging sie bereits in Hannover in das
der Heldinnen und weiblichen Charakterrollen über und
leistete, unterstützt durch reiche äußere Mittel,
besonders in der Darstellung dämonischer und hochtragischer
Gestalten Ansgezeichnetes. Zu ihren Hauptrollen auf diesem Gebiet
gehörten Antigone, Iphigenie, Medea, Judith, Thusnelda,
Jungfrau, Deborah etc. In der letztern Zeit wandte sie sich dem
Fach der Heldenmütter zu.

Straßnitz, Stadt in der mähr.
Bezirkshauptmannschaft Göding, an der Lokalbahn
Wessely-Sudomeritz unweit der March (Kettenbrücke), mit
Bezirksgericht,

Piaristenkollegium, Schloß, Weinbau, Dampfmühle,
Spiritus-, Preßhefe- und Malzfabrikation und (1880)

5229 Einw.

Strategem (griech., oder nach dem Franz. Stratagem),
Kriegslist.

Strategen, bei den alten Athenern die 10
gewählten

Befehlshaber größerer Heeresabteilungen, welche an
den Schlachttagen das Oberkommando, im Frieden in täglichem
Wechsel den Oberbefehl führten. Ihr Amt dauerte ein Jahr (vgl.
Phalanx). Vgl. Hauvette-Besnault, Les stratèges
athéniens (Par. 1885). Jetzt bedeutet Stratege allgemein s.
v. w. kriegskundiger Heerführer, Kriegsleiter (vgl.
Strategie).

Strategie (griech.), Kriegsleitungslehre, Feldherrnkunst,
die Lehre von der Heer- oder Truppenführung auf dem
Kriegsschauplatz bis zum Schlachtfeld, hier

379

Stratford - Stratifizieren.

wird sie Taktik. Die S. entwirft den Kriegsplan und wacht
über dessen Ausführung; sie leitet die Kriegshandlung
selbst und gibt ihr Richtung und Ziele. Sie bestimmt also im
allgemeinen, wann, wohin und auf welchen Wegen die Truppen
marschieren, wann sie schlagen sollen etc. Diese Anordnungen
hängen wesentlich von den Nachrichten ab, die man über
den Feind erhält; der Feldherr muß ferner außer
den materiellen eignen und feindlichen Kräften und der
Beschaffenheit des Kriegsschauplatzes auch die Charaktere der
Führer, den Zustand und die Stimmung der Heere wie der
Landeseinwohner in Betracht ziehen. Dadurch wird die S. zu einer
schwer auszuübenden Kunst. Hauptgrundsätze der S. sind:
getrennt marschieren und rechtzeitige Vereinigung zur Schlacht;
keine Zeit verlieren; errungene Erfolge mit allem Nachdruck
benutzen und auch mitten im Siegeslauf an die Möglichkeit
denken, geschlagen zu werden, und deshalb aus Sicherung des
Rückzugs stets bedacht sein. Obwohl die Grundsätze der S.
einfach sind, so ist doch die Kriegführung selbst sehr
schwierig; indessen haben die Schnelligkeit des heutigen
Nachrichtenwesens wie die zahlreichen Verkehrswege und
Verkehrsmittel die Heeresleitung gegen früher sehr
erleichtert, so daß Operationen getrennter Heeresteile auch
aus rückwärtiger Stellung geleitet werden können.
Vgl. Friedrich II., OEuvres militaires; Napoleon, Maximes de
guerre; Erzherzog Karl, Grundsätze der S. (Wien 1814, 3 Bde.);
Valentini, Die Lehre vom Krieg (Berl. 1821-23, 4 Bde.); Jomini,
Précis de l'art de guerre (deutsch, das. 1881); die Werke
des Generals v. Clausewitz (s. d.); v. Willisen, Theorie des
großen Kriegs (2. Aufl., Leipz. 1868, 4 Bde.); Rüstow:
Der Krieg und seine Mittel (das. 1856), S. und Taktik der neuesten
Zeit (Stuttg. 1872-75, 3 Bde.), Die Feldherrenkunst des 19.
Jahrhunderts (3. Aufl , Zürich 1878); Leer, Positive S. (a. d.
Russ., 2. Aufl., Wien 1871); Blume, Strategie (2. Aufl., Berl.
1886), und die Litteratur bei Art. Taktik.

Stratford (spr. strättförd), Stadt in der
britisch-amerikan. Provinz Ontario, am Avon, nördl. von
London, Knotenpunkt mehrerer Eisenbahnen, mit (1881) 8239
Einwohnern.

Stratford de Redcliffe (spr. réddkliff),
eigentlich Sir Stratford Canning, Viscount de Redcliffe, brit.
Diplomat, geb. 6. Jan. 1788 als Sohn eines wohlhabenden Kaufmanns
zu London, Vetter des Ministers George Canning (s. d.), war bereits
1809 britischer Gesandtschaftssekretär in Konstantinopel. 1814
ging er als bevollmächtigter Minister nach Basel, wo er an der
Abfassung der Schweizer Bundesakte teilnahm. 1815 war er
während des Kongresses in Wien und ging dann in diplomatischen
Sendungen nach Washington und Petersburg. Im Februar 1826 wurde er
Gesandter in Konstantinopel und wirkte für Beilegung der
Differenzen zwischen der Türkei und Griechenland. Da indes die
Pforte seine Vorschläge verwarf, verließ er 1827
Konstantinopel, ging 1828 als außerordentlicher Gesandter
nach Griechenland und kehrte sodann, nachdem er an den Pariser
Konferenzen zur Feststellung der Grenzen dieses Königreichs
teilgenommen, nach England zurück. Im Oktober 1831 abermals
zum Gesandten in Konstantinopel ernannt, nahm er wiederum an den
Verhandlungen über die Regulierung der Grenzen Griechenlands
teil und sah seine Bestrebungen durch den Londoner Vertrag vom 7.
Mai 1832 gekrönt. 1833 und 1834 war er außerordentlicher
Gesandter zu Madrid und Petersburg. 1841 ging er wieder als
Gesandter nach Konstantinopel und war hier nun 16 Jahre lang
unermüdlich thätig, den russischen Einfluß in der
Türkei zu bekämpfen und auch jedes Vorwiegen eines
französischen oder österreichischen Einflusses zu
verhindern. Schon 1852 war er mit dem Titel Viscount de Redcliffe
zum Peer erhoben worden. Im Juli 1858 nach England
zurückgekehrt, nahm er seinen Sitz im Oberhaus ein; 1869
erhielt er den Hosenbandorden. Ohne seitdem an der aktiven Politik
teilzuhaben, galt er doch immer als eine der ersten
Autoritäten in Sachen der orientalischen Fragen und erhob
namentlich in den Verwickelungen seit 1876 wiederholt seine Stimme,
nicht durchweg die Maßregeln des Ministeriums Beaconsfield
billigend. Er starb 14. Aug. 1880 auf seinem Landsitz Fermt Court
in Kent. Er veröffentlichte einen Band Gedichte ("Shadows of
the past", Lond. 1865), ein theolog. Werk: "Why am I a Christian?"
(1873); "Alfred the Great in Athelnay" (1876) u. a.

Stratford le Bow (spr. li boh), Vorstadt von London, in
der engl. Grafschaft Essex, östlich von Lea, mit (1881) 36,455
Einw. Vor der St. Johannskirche steht ein Denkmal zur Erinnerung an
die hier 1555-56 verbrannten Protestanten. S. hat zahlreiche
Fabriken (s. Ham).

Stratford on Avon (spr. ehw'n), Stadt in Warwickshire
(England), am Avon, mit Lateinschule, Getreide- und Malzhandel und
(1881) 8054 Einw. S. ist besonders denkwürdig als Geburts- und
Sterbeort Shakespeares, dessen noch vorhandenes Geburtshaus vom
Shakespeare-Verein angekauft wurde. Im Chor der schönen
Stadtkirche befinden sich das Grab und Denkmal des Dichters; vor
dem Stadthaus steht eine Statue desselben. Auch ist ein besonderes
"Shakespeare-Gebäude" (mit Theater und Bibliothek) errichtet
worden.

Strath (gäl.), s. v. w. breites kultiviertes Thal,
im Gegensatz zu Glen (s. d.).

Strathaven (spr. strath-éhw'n oder strehw'n),
Stadt in Lanarkshire (Schottland), am Avon, 12km südwestlich
von Hamilton, mit Schloßruine und (1881) 3812 Einw.

Strathclyde (spr. strath-klaid') , s. v. w. Clydesdale,
d. h. Thal des Clyde, Landschaft im südwestl. Schottland,
bestand bis 1124 als unabhängiges Königreich.

Strathmore (spr. strath-móhr), fruchtbare
Thalebene in Schottland, welche sich von Stonehaven bis zum Clyde
erstreckt und im N. durch die Hochlande, im Süden durch die
Sidlaw- und Ochillhügel begrenzt wird.

Strathnairn (spr. -nern), Hugh Henry Rose, Lord, engl.
General, geb. 1803 zu Berlin, wo sein Vater britischer Gesandter
war, trat 1820 in die Armee und ward, nachdem er den Grad eines
Oberstleutnants erreicht hatte, nacheinander Generalkonsul in
Syrien, Gesandtschaftssekretär in Konstantinopel und
britischer Kommissar im französischen Hauptquartier
während des Krimkriegs. Beim Ausbruch des indischen Aufstandes
erhielt er ein selbständiges Kommando und zeichnete sich so
aus, daß er bei der Rückkehr Lord Clydes nach Europa
diesem im Generalkommando der britischen Truppen in Indien folgte,
in welcher Stellung er sich große Verdienste um die
Reorganisation der indischen Armee erwarb. Von 1865 bis 1870
kommandierte er die britischen Truppen in Irland, 1866 wurde er zum
Baron S. und zum Peer erhoben und 1877 zum Feldmarschall ernannt.
Er starb 16. Okt. 1885 in Paris ohne Nachkommen.

Stratifikation (lat.), die Schichtung der Gesteine;
Stratigraphie, die Lehre von derselben.

Stratifizieren (neulat., "schichtenförmig legen"),
das Einschlagen von Samen (Weißdorn, Quitte, Clematis etc.),
welche erst keimen, nachdem sie ein Jahr und länger in der
Erde gelegen, oder auch von Samen,

380

Stratiokratie - Strauß.

welche an der Luft bald ihre Keimfähigkeit verlieren, wie
Aesculus, Castanea, Fagus, Juglans, Magnolia, Quercus u. a. Man
benutzt hierzu Sand, Erde, Spreu, Sägespäne u. a., womit
man die Samen vermischt und bedeckt und so in einem
Gefäß in einen trocknen Keller stellt; bei hartschaligen
Samen, z. B. Weißdornkernen, dürfen diese Stoffe einen
geringen Grad von Feuchtigkeit besitzen. Größere Massen
gräbt man im Erdboden ein, um sie dem Temperaturwechsel zu
entziehen. Sobald der Keim sich zu zeigen beginnt, gießt man
die Samen ein; ist das Würzelchen schon lang geworden,
muß es abgekneipt werden.

Stratiokratie (griech.), Soldatenherrschaft.

Stratiomys, Waffenfliege; Stratiomydae (Waffenfliegen),
Familie aus der Ordnung der Zweiflügler, s. Waffenfliegen.

Stratioten (griech., "Soldaten", auch Stradioten),
halbwilde leichte Reiter aus Albanien und Morea, die im Solde der
Venezianer standen, im 15. Jahrh. auch im französischen und
spanischen Heer dienten, trugen türkische Tracht ohne Turban,
ein Panzerhemd und kleinen Helm und führten als Waffen eine
bis 4 m lange, an beiden Enden mit Eisen beschlagene Wurflanze,
breiten Säbel und Gewehr.

Stratiotes L. (Wasserscher, Krebsscher), Gattung aus der
Familie der Hydrocharideen, untergetauchte oder nur mit den
Blattspitzen auftauchende, aloeartige Wasserpflanzen mit dicht
rosettenartig gestellten, sitzenden, breit linealen, zugespitzten,
stachlig gezahnten, starren Blättern, zusammengedrücktem
Blütenschaft und diözischen Blüten. S. aloïdes
L. (Meeraloe), mit schwertförmig dreikantigen Blättern,
weißen Blüten und sechsfächeriger Beere, in
stehenden und langsam fließenden Gewässern
Norddeutschlands, meist gesellig, eignet sich gut für
Aquarien.

Stratocumulus (lat.), die geschichtete Haufenwolke, s.
Wolken.

Stratos, alte Bundeshauptstadt des wahrscheinlich
illyrischen Volkes der Akarnanen (Mittelgriechenland), im
Binnenland in der fruchtbaren Ebene des Acheloos gelegen,
strategisch wichtig. Im Peloponnesischen Krieg mit Athen
verbündet, schlug S. 429 den Angriff der Ambrakioten
zurück, wurde etwa um 300 von den Ätoliern besetzt und
blieb in deren Gewalt, bis 189 v. Chr. die Römer es den
Akarnanen zurückgaben. Die sehr ausgedehnten, mit Türmen
und stattlichen Thoren (daher der heutige Name Portäs)
versehenen Stadtmauern und Reste eines Tempels liegen beim
Walachendorf Surovigli.

Strato von Lampsakos, peripatetischer Philosoph,
Theophrasts Schüler und Nachfolger als Vorstand der
Aristotelischen Schule im Lykeion zu Athen, starb daselbst 240 v.
Chr. Seiner vorwiegenden Beschäftigung mit der Physik halber,
während er die Ethik fast vernachlässigte, hieß er
der "Physiker". Von seinen Schriften ist nichts erhalten geblieben.
Vgl. Nauwerk, De Stratone Lampsaceno (Berl. 1836).

Stratum (lat.), Schicht.

Stratus (lat.), die Schichtwolke, s. Wolken.

Strauben, feines, in steigender Butter gebackenes
Gebäck aus einem Teig von Mehl, Zucker und Weißwein, den
man durch einen im Kreis geschwenkten Trichter in die heiße
Butter rinnen läßt.

Stranbfuß der Pferde, s. Igelfuß.

Straubing, unmittelbare und Bezirksamtsstadt im bayr.
Regierungsbezirk Niederbayern, an der Donau, Knotenpunkt der Linien
Neufahrn-S. und Passau-Würzburg der Bayrischen Staatsbahn, 318
m ü. M., hat 7 Kirchen, ein Schloß, einen schönen
Marktplatz mit Dreifaltigkeitssäule, eine Studienanstalt, eine
Realschule, ein Schullehrer- und ein bischöfliches
Knabenseminar, ein Waisenhaus, eine Taubstummen- und eine
Idiotenanstalt, 4 Klöster, mehrere Hospitäler etc., ein
Landgericht, eine Filiale der königlichen Bank in
Nürnberg, eine Bankagentur der Bayrischen Notenbank,
bedeutende Ziegel-, Kalk- und Zementfabrikation, Gerberei,
Bierbrauerei, Getreidehandel und (1885) mit der Garnison (ein
Infanteriebataillon Nr. 11) 12,804 meist kath. Einwohner. Zum
Landgerichtsbezirk S. gehören die 7 Amtsgerichte zu Bogen,
Kötzting, Landau a. I., Mallersdorf, Mitterfels, Neukirchen
bei Heiligblut und S. - Die Stadt, an deren Stelle schon in der
Römerzeit eine Ansiedelung, Sorbiodurum, bestand, soll um 1208
von Ludwig von Bayern gegründet worden sein. Bei der Teilung
Niederbayerns (1353) wurde eine Linie Bayern-S. von Wilhelm und
Albrecht begründet, die 1425 mit Johann I. ausstarb, worauf
wegen S. ein Streit (Straubinger Erbfall) entstand. Durch
König Siegmund wurde 1429 S. dem Herzog Ernst von
Bayern-München verliehen. 1435 wurde hier Agnes Bernauer (s.
d.) von der Donaubrücke in den Strom gestürzt. Vgl.
Wimmer, Sammelblätter zur Geschichte der Stadt S. (Straub.
1882-86, 4 Hefte).

Strauch (Frutex), ein Holzgewächs, dessen Stamm
gleich vom Boden an in Äste geteilt ist, wodurch allein es
sich von den Bäumen unterscheidet. Daher können manche
Sträucher künstlich baumartig gezogen werden durch
Abschneiden der untern Äste, und Bäume können unter
ungünstigen äußern Verhältnissen
strauchförmig werden. Vgl. Halbstrauch.

Strauchkraut, f. Datisca.

Strauchweichsel, s. Kirschbaum, S. 789.

Strausberg, Stadt im preuß. Regierungsbezirk
Potsdam, Kreis Oberbarnim, am Straussee und an der Linie
Berlin-Schneidemühl der Preußischen Staatsbahn, hat eine
evang. Kirche aus dem 16. Jahrh., ein Realprogymnasium, eine
Landarmen- und Korrektionsanstalt, ein Amtsgericht, Federbesatz-,
Flanell-, Schnittwaren- und Teppichfabrikation und (1885) 6525
meist evang. Einwohner. S. wird zuerst 1238 urkundlich
erwähnt.

Strauß (Struthio L.), Gattung aus der Ordnung der
Straußvögel (Ratitae) und der Familie der Strauße
(Struthionidae), mit der wohl einzigen Art S. camelus L. (s. Tafel
"Straußvögel"). Der S. ist 2,5 m hoch, 2 m lang, 1,5
Ztr. schwer; er besitzt einen sehr kräftigen Körper,
einen langen, fast nackten Hals, einen kleinen, platten Kopf, einen
mittellangen, stumpfen, vorn abgerundeten, an der Spitze platten,
mit einem Hornnagel bedeckten, geraden Schnabel mit biegsamen
Kinnladen, bis unter das Auge reichender Mundspalte und offen
stehenden, länglichen, ungefähr in der Mitte des
Schnabels befindlichen Nasenlöchern, große,
glänzende Augen, deren oberes Lid bewimpert ist, unbedeckte
Ohren, hohe, starke, nur an den Schenkeln mit einigen Borsten
besetzte, nackte Beine mit groß geschuppten Läufen und
zwei Zehen, von denen die innere mit einem großen, stumpfen
Nagel bewehrt ist, ziemlich große, zum Fliegen aber
untaugliche, mit doppelten Sporen versehene Flügel, welche
anstatt der Schwingen schlaffe, weiche, hängende Federn
enthalten, einen kurzen, aus ähnlichen Federn bestehenden
Schwanz, mäßig dichtes, ebenfalls aus schlaffen,
gekräuselten Federn gebildetes Gefieder und an der Mitte der
Brust eine unbefiederte, hornige Schwiele. Beim Männchen sind
alle kleinen Federn des Rumpfes schwarz, die langen Flügel-
und Schwanzfedern blendend weiß, der Hals hochrot, die
Schenkel fleischfarben; beim Weib-

381

Strauß (Vogel) Strauß (Personenname).

chen ist das Kleingefieder braungrau, nur auf den Flügeln
und in der Schwanzgegend schwärzlich, Schwingen und
Steuerfedern sind unrein weiß, das Auge ist braun, der
Schnabel horngelb. Der S. bewohnt die Steppen und Wüsten
Afrikas und Westasiens vom Süden Algeriens bis tief ins
Kapland hinein, auch in den Steppen zwischen Nil und Rotem Meer, in
den Wüsten des Euphratgebiets, in Arabien und Südpersien,
überall nur, soweit ein wenn auch spärlicher
Pflanzenwuchs den Boden bedeckt und Wasser vorhanden ist, durcheilt
aber auch völlig pflanzenlose Striche. Er lebt in Familien,
die aus einem Hahn und 24 Hennen bestehen, macht auch, wo das Klima
dazu zwingt, Wanderungen und rottet sich dann zu Herden zusammen.
Er überholt im Lauf ein Rennpferd und breitet dabei seine
Flügel aus. Sein Gesicht ist außerordentlich scharf, und
auch Gehör und Geruch find ziemlich fein. Dagegen ist er sehr
dumm und flieht vor jeder ungewohnten Erscheinung. Oft findet man
ihn in Zebraherden, die von seiner Wachsamkeit u. feiner
Fähigkeit, weite Strecken zu übersehen, Vorteil ziehen.
Er nährt sich von Gras und Kraut, Körnern, Kerbtieren und
kleinen Wirbeltieren, verschlingt jedoch auch Steine, Scherben
etc., ist aber keineswegs gefräßig. Wasser trinkt er in
großer Menge. Der S. nistet in einer runden Vertiefung im
Boden, in welche die Hennen zusammen etwa 30 Eier legen,
während weitere Eier um das Nest herum zerstreut werden. Eine
Henne legt etwa 12-15 Eier. Das Ei ist 14-15,5 cm lang, 11-12,7 cm
dick, schön eiförmig, gelblichweiß, heller
marmoriert, wiegt durchschnittlich 1440 g und besitzt einen
schmackhaften Dotter. Die Bebrütung geschieht
hauptsächlich oder ausschließlich von seiten des
Männchens, und nur im Innern Afrikas werden die Eier
stundenlang verlassen, dann aber mit Sand bedeckt. Nach 45-52 Tagen
schlüpfen die Jungen aus, welche mit igelartigen Stacheln
bedeckt sind, die sie nach zwei Monaten verlieren; sie erhalten
dann das graue Gewand der Weibchen, und im zweiten Jahr färben
sich die Männchen und werden im dritten zeugungsfähig.
Das Nest und die Jungen werden von dem S. sorgsam bewacht und
verteidigt. Der S. erträgt die Gefangenschaft sehr gut, und in
Innerafrika wird er allgemein zum Vergnügen gehalten.
Gezüchtet hat man den S. zuerst 1857 in Algerien, bald darauf
wurden auch in Florenz, Marseille, Grenoble u. Madrid junge
Strauße erbrütet, und seit 1865 datiert die
Straußenzucht im Kapland, wo 1875 über 32,000
Strauße gehalten wurden und die Zucht gegenwärtig einen
der wichtigsten Erwerbszweige des Landes bildet. Man hält die
Tiere wenn möglich auf einem großen eingefriedeten, mit
Luzerne besäeten Feld und über läßt sie sich
selbst, wendet aber auch vielfach künstliche Brut an und
rühmt die größere Zähmbarkeit der auf diese
Weise erhaltenen Tiere, welche sich auch außerhalb der
Umzäunung auf die Weide treiben lassen. Von acht zu acht
Monaten schneidet man die wertvollen Federn ab. Straußenjagd
wird in ganz Afrika leidenschaftlich betrieben. Man ermüdet
das Tier und erlegt es schließlich durch einen heftigen
Streich auf den Kopf; in den Euphratsteppen erschießt man den
brütenden Vogel auf dem Nest, erwartet, im Sand vergraben, das
andre Tier und erlegt auch dieses. Am Kap ist die
Straußenjagd seit 1870 gesetzlich geregelt. Als die
schönsten Straußfedern gelten die sogen. Aleppofedern
aus der Syrischen Wüste; auf sie folgen die Berber-, Senegal-,
Nil-, Mogador-, Kap- und Jemenfedern. Zahmen Straußen
entnommene Federn sind immer weniger wert als die von wilden. Die
Eier und das Fleisch werden überall gegessen. Die Eierschalen
dienen in Süd und Mittelafrika zu Gefäßen, in den
koptischen Kirchen zur Verzierung der Lampenschnüre.
Altägyptische Wandgemälde lassen erkennen, daß der
S. im Altertum den Königen als Tribut dargebracht wurde, die
Federn dienten damals schon als Schmuck und galten als Sinnbild der
Gerechtigkeit. Bei den Assyrern war der S. wahrscheinlich ein
heiliger Vogel, die ältesten Skulpturen zeigen mit
Straußfedern verzierte Gewänder. Vielfach berichten die
Alten über Gestalt und Lebensweise des Straußes.
Heliogabal ließ einst das Gehirn von 600 Straußen
auftragen, und bei den Jagdspielen des Kaisers Gordian erschienen
300 rot gefärbte Strauße. Auch von den alten Chinesen
werden Straußeneier als Geschenk für den Kaiser
erwähnt. Die Bibel zählt den S. zu den unreinen Tieren.
Seit dem Mittelalter gelangten die Federn auch auf unsre
Märkte. Vgl. Mosenthal und Harting, Ostriches and
ostrich-farming (2. Aufl., Lond. 1879).

Strauß, 1) Friedrich, protest. Theolog, geb. 24.
Sept. 1786 zu Iserlohn, ward 1809 Pfarrer zu Ronsdorf im Herzogtum
Berg, 1814 in Elberfeld und 1822 als Hof und Domprediger und
Professor nach Berlin berufen, wo er 1836 zum Oberhofprediger und
Oberkonsistorialrat ernannt ward. Seit 1859 in den Ruhestand
versetzt, starb er 19. Juli 1863. Außer vielen
Predigtsammlungen veröffentlichte er: "Glockentöne, oder
Erinnerungen aus dem Leben eines jungen Predigers" (Elberf. 181220,
3 Bdchn.; 7. Aufl., Leipz. 1840); "Helons Wallfahrt nach Jerusalem"
(Elberf.182021,4Bde.); "Das evangelische Kirchenjahr in seinem
Zusammenhang (Berl. 1850) ; "Abendglockentöne" (das.
1868).

2) Johann, Tanzkomponist, geb. 14. März 1804 zu Wien,
wirkte als Violinist im Lannerschen Tanzorchester, bis er 1824 ein
selbständiges Orchester er richtete, mit dem er rasch die
Gunst des Publikums eroberte. Später machte er mit seinem
Orchester auch Kunstreisen und erntete allenthalben
enthusiastischen Beifall. Er starb 25. Sept. l 849 in Wien als k.
k. Hofballmusikdirektor. Die Zahl seiner Werke beläuft sich
auf 249. Eine Gesamtausgabe seiner Tänze (für Klavier, 7
Bde.) gaben Breitkopf u. Härtel heraus. - Sein Sohn Johann,
geb. 25. Okt. 1825, übernahm nach des Vaters Tode dessen
Orchester, mit dem er neue ausgedehnte Kunstreisen machte, und hat
sich ebenfalls durch zahlreiche ansprechende Tänze ("An der
schönen blauen Donau", "Künstlerleben", "Wiener Blut"
etc.) sowie neuerdings durch die Operetten: "Indigo" (1871), "Die
Fledermaus" (1874), "Cagliostro" (1875), "La Tsigane" (1877),
"Prinz Methusalem" (1877), "Das Spitzentuch der Königin"
(1881), "Der lustige Krieg" (1881), "Eine Nacht in Venedig" (1883),
"Der Zigeunerbaron" (1885) u. a. in den weitesten Kreisen bekannt
gemacht.

3) David Friedrich, der berühmte Schriftsteller, geb. 27.
Jan. 1808 zu Ludwigsburg in Württemberg, bildete sich in dem
theologischen Stift zu Tübingen, ward 1830 Vikar, 1831
Professoratsverweser am Seminar zu Maulbronn, ging aber noch ein
halbes Jahr nach Berlin, um Hegel und Schleiermacher zu hören.
1832 wurde er Repetent am theologischen Seminar zu Tübingen
und hielt zugleich philosophische Vorlesungen an der
Universität. Damals erregte er durch seine Schrift "Das Leben
Jesu, kritisch bearbeitet" (Tübing. 1835, 2 Bde.; 4. Aufl.
1840) ein fast bei spielloses Aufsehen. S. wandte in demselben das
auf dem Gebiet der Altertumswissenschaften begründete

382

Strauß (Personenname).

und bereits zur Erklärung alttestamentlicher und einzelner
neutestamentlicher Erzählungen benutzte Prinzip des Mythus
auch auf den gesamten Inhalt der evangelischen Geschichte an, in
welcher er ein Produkt des unbewußt nach Maßgabe des
alttestamentlich jüdischen Messiasbildes dichtenden
urchristlichen Gemeingeistes erkannte. Die Gegenschriften gegen
dieses Werk bilden eine eigne Litteratur, in der kaum ein
theologischer und philosophischer Name von Bedeutung fehlt. Seine
Antworten auf dieselben erschienen als "Streitschristen"
(Tübing. 1837). Für die persönlichen
Verhältnisse des Verfassers hatte die Offenheit seines
Auftretens die von ihm stets schmerzlich empfundene Folge,
daß er noch 1835 von seiner Repetentenstelle entfernt und als
Professoratsverweser nach Ludwigsburg versetzt wurde, welche Stelle
von ihm jedoch schon im folgenden Jahr mit dem Privatstand
vertauscht wurde. Früchte dieser ersten (Stuttgarter)
Muße waren die "Charakteristiken und Kritiken" (Leipz. 1839,
2. Aufl. 184) und die Abhandlung "Über Vergängliches und
Bleibendes im Christentum" (Altona 1839). Von einer
versöhnlichen Stimmung sind auch die in der 3. Auflage des
"Lebens Jesu" (1838) der positiven Theologie gemachten
Zugeständnisse eingegeben, aber schon die 4. Auflage nahm sie
sämtlich zurück. 1839 erhielt S. einen Ruf als Professor
der Dogmatik und Kirchengeschichte nach Zürich; doch erregte
diese Berufung tm Kanton so lebhaften Widerspruch, daß er
noch vor Antritt seiner Stelle mit 1000 Frank Pension in den
Ruhestand versetzt ward. 1841 verheiratete sich 5. mit der
Sängerin A. Schebest (s. d.), doch wurde die Ehe nach einigen
Jahren getrennt. Sein zweites Hauptwerk ist: "Die christliche
Glaubenslehre, in ihrer geschichtlichen Entwickelung und im Kampf
mit der modernen Wissenschaft dargestellt" (Tübing. 1840 1841,
2 Bde.), worin eine scharfe Kritik der einzelnen Dogmen in Form
einer geschichtlichen Erörterung des Entstehungs- und
Auflösungsprozesses derselben gegeben wird. Auf einige kleine
ästhetische und biographische Artikel in den "Jahrbüchern
der Gegenwart" folgte das Schriftchen "Der Romantiker auf dem Thron
der Cäsaren, oder Julian der Abtrünnige" (Mannh. 1847),
eine ironische Parallele zwischen der Restauration des Heidentums
durch Julian und der Restauration der protestantischen Orthodoxie
durch den König Friedrich Wilhelm IV. von Preußen. 1848
von seiner Vaterstadt als Kandidat für das deutsche Parlament
ausgestellt, unterlag S. dem Mißtrauen, welches die
pietistische Partei unter dem Landvolk des Bezirks gegen ihn
wachrief. Die Reden, welche er teils bei dieser Gelegenheit, teils
vorher in verschiedenen Wahlversammlungen gehalten hatte,
erschienen unter dem Titel: "Sechs theologischpolitische
Volksreden" (Stuttg. 1848). Zum Abgeordneten der Stadt Ludwigsburg
für den württembergischen Landtag gewählt, zeigte S.
wider Erwarten eine konservative politische Haltung, die ihm von
seinen Wählern sogar ein Mißtrauensvotum zuzog, in
dessen Folge er im Dezember 1848 sein Mandat niederlegte. Seiner
spätern, teils in Heidelberg, München und Darmstadt,
teils in Heilbronn und Ludwigsburg verbrachten Muße
entstammten die durch Gediegenheit der Forschung und schöne
Darstellung ausgezeichneten biographischen Arbeiten: "Schubarts
Leben in seinen Briefen" (Berl. 1849, 2 Bde.); "Christian
Märklin, ein Lebens und Charakterbild aus der Gegenwart"
(Mannh. 1851); "Leben und Schriften des Nikodemus Frischlin"
(Frankf. 1855); "Ulrich von Hutten (Leipz. 858; 4. Aufl., Bonn
1878), nebst der Übersetzung von dessen "Gesprächen"
(Leipz. 1860); "Herm. Samuel Reimarus" (das. 1862); "Voltaire,
sechs Vorträge" (das. 1870; 4. Aufl., Bonn 1877); ferner
"Kleine Schriften biographischen, litteratur- und
kunstgeschichtlichen Inhalts" (Leipz. 1862; neue Folge, Berl.
1866), woraus "Klopstocks Jugendgeschichte etc." (Bonn 1878) und
der Vortrag "Lessings Nathan der Weise" (3. Aufl., das. 1877)
besonders erschienen. Eine neue, "für das Volk bearbeitete"
Ausgabe seines "Lebens Jesu" (Leipz. 1864; 5. Aufl., Bonn 1889)
ward in mehrere europäische Sprachen übersetzt. Einen
Teil der hierauf gegen ihn erneuten Angriffe wies er in der gegen
Schenkel und Hengsten berg gerichteten Schrift zurück: "Die
Halben und die Ganzen" (Berl.1865), wozu noch gehört: "Der
Christus des Glaubens und der Jesus der Geschichte, eine Kritik des
Schleiermacherschen Lebens Jesu" (das. 1865). Noch einmal, kurz vor
seinem 8. Febr. 1874 zu Ludwigsburg erfolgten Tod, erregte S.
allgemeines Aufsehen durch seine Schrift "Der alte und der neue
Glaube, ein Bekenntnis" (Leipz.1872; 11.Aufl., Bonn 1881), in
welcher er mit dem Christentum definitiv brach, alle gemachten
Zugeständnisse zurücknahm und einen positiven Aufbau der
Weltanschauung auf Grundlage der neuesten, materialistisch und
monistisch gerichteten Naturforschung unternahm. S.' "Gesammelte
Schriften" hat Zeller herausgegeben (Bonn 187678, 11 Bde.; dazu als
Bd. 12: "Poetisches Gedenkbuch", Gedichte). Vgl. Hausrath, D. F. S.
und die Theologie seiner Zeit (Heidelb. 187678, 2 Bde.); Zeller,
S., nach seiner Persönlichkeit und seinen Schriften
geschildert (Bonn 1874).

4) (S. und Torney) Viktor von, Schriftsteller, geb. 18. Sept.
1809 zu Bückeburg, studierte zuerst in Bonn und Göttingen
die Rechte, sodann Theologie, um in die kirchlichen Kämpfe der
Gegenwart, in denen er durchaus auf seiten der Orthodoxie stand,
besser gerüstet eingreifen zu können, und wurde 1840 zum
Archivrat in Bückeburg ernannt. Schon seine ersten Dichtungen:
"Gedichte" (Bielef. 1841), "Lieder aus der Gemeine" (Hamb. 1843),
die Epen: "Richard" (Bielef. 1841) und "Robert der Teufel"
(Heidelb. 1854), erwiesen neben echt poetischem Talent und einer
seltenen Formbegabung die Entschiedenheit seines
religiös-konservativen Standpunktes. 1848 zum Kabinettsrat des
regierenden Fürsten von Schaumburg-Lippe, später auch zum
Bundestagsgesandten ernannt, fand er auch auf politischem Feld
vielfach Gelegenheit, diese konservativen Anschauungen zu
bethätigen. 1866 mit dem Rang eines Wirklichen Geheimen Rats
aus seiner amtlich en Stellung ausgeschieden, lebte er zuerst in
Erlangen, seit 1872 in Dresden, eine vielseitige litterarische
Thätigkeit entwickelnd. Bereits 1851 in den
österreichischen Adelstand erhoben, fügte er später
seinem Namen auch den seiner Gattin, einer gebornen von Torney,
bei; 1882 ernannte ihn die Universität Leipzig zum Doktor der
Theologie. Es erschienen von ihm noch: "Lebensfragen in sieben
Erzählungen" (Heidelb. 1846, 3Bde.); die dramatischen
Dichtungen: "Gudrun" und "Polyxena" (beide Frankf. 1851) und "Judas
Ischariot" (Heidelb. 1855); "Weltliches und Geistliches in
Gedichten und Liedern" (das. 1856); der Roman "Altenberg" (Leipz.
1866, 4 Bde.); "Novellen" (das.1872, 3 Bde.); die epische Dichtung
"Reinwart Löwenkind" (Gotha 1874); "Lebensführungen",
Novellen (Heidelberg 1881, 2 Bde.), und "Die Schule des Lebens",
drei Novellen (das. 1885). Aus seinem Studium de Chinesischen
gingen ein Werk über Laotse" (Leipz. 1870) und eine
meisterhafte Übertragung des älte-

383

Sträußchen - Streckbarkeit.

sten chinesischen Liederbuchs, des "Schiking" (Heidelb. 1880),
hervor, mit der er den Geist der ältern chinesischen Kultur,
soweit er sich poetisch geoffenbart, vollständig
erschloß. Von seinen sonstigen Schriften sind zu
erwähnen die Biographie des Polycarpus (Heidelb. 1860);
"Meditationen über das erste Gebot" (Leipz. 1866); "Essays zur
allgemeinen Religionswissenschaft" (Heidelb. 1879) und "Der
altägyptische Götterglaube" (das. 1888, Bd. 1).

5) Friedrich Adolf, Sohn von S. 1), ebenfalls Theolog, geb.
1.Juni 1817 zu Elberfeld, wurde Hilfsprediger an der Hof- und
Domkirche und, nachdem er das Morgenland bereist hatte, 1847
Divisionsprediger und 1859 Professor in Berlin, seit 1870
Hofprediger zu Potsdam und starb daselbst 16. April 1888. Er
schrieb unter anderm: "Sinai und Golgatha. Reise ins Morgenland"
(Berl. 1846; 11. Aufl. 1882); "Die Länder und Stätten der
Heiligen Schrift" (mit seinem Bruder Otto S., Stuttg. 1861 ; 2.
Aufl., Leipz. 1876) ; "Liturgische Andachten" (1850; 4. Aufl.,
Berl. 1886) und "Trost am Sterbelager" (2. Aufl., das. 1874).

Sträußchen (der Bienen), s.
Büschelkrankheit.

Straußelster, s. Würger.

Straußgras, s. Agrostis.

Straußhyazinthe, s. Muscari.

Straußvögel (Ratitae, hierzu Tafel
"Straußvögel", auch Kurzflügler [Brevipennes] oder
Laufvögel [Cursores]), eine der Hauptgruppen der Vögel,
in erster Linie durch den Bau ihres Brustbeins charakterisiert, das
nicht, wie bei allen andern Vögeln, einen hohen Knochenkamm
zum Ansatz der Flugmuskeln besitzt, sondern flach bleibt. Die
Flügel sind mehr oder weniger verkümmert und können
höchstens zur Beschleunigung des Laufs dienen. Der ganze
Knochenbau weicht ferner in manchen Punkten wesentlich von dem der
übrigen, d. h. der fliegenden, Vögel ab: so sind die
Knochen nicht hohl und mit Luft erfüllt, sondern fest und
schwer (namentlich sind die Hinterbeine sehr massiv); so bleiben
die Schädelknochen in der Jugend noch lange Zeit voneinander
getrennt; so verwachsen die einzelnen Teile des
Schultergürtels zu einem einzigen Knochen; so sind die
Schlüsselbeine rückgebildet etc. Der Oberarm ist entweder
lang, wie bei den Straußen im engern Sinn, oder sehr kurz
oder ganz und gar verkümmert. Die Zahl der Zehen wechselt
zwischen zwei und vier und gibt ein gutes Unterscheidungsmerkmal
für die Unterabteilnngen der S. ab. Der Schnabel ist stets
flach, meist auch kurz. Die Zunge ist sehr klein. Ein Kropf fehlt
meistens; der Magen ist außerordentlich muskulös und
derb ("Straußenmagen"); die Gallenblase fehlt bei einigen
Formen. Der untere Kehlkopf ist nirgends vorhanden. Auch die
Bürzeldrüse fehlt. Im männlichen Geschlecht sind die
Begattungsorgane zum Teil sehr gut entwickelt (s. Vögel). Das
Gefieder entbehrt durchaus der Schwung- und Steuerfedern; die
Federn selbst unterscheiden sich von den gewöhnlichen
Vogelfedern dadurch, daß die Strahlen nicht
zusammenhängen, sondern lockere Büschel bilden, und sind
daher weich und wie Flaumfedern anzufühlen. An den
Konturfedern sind bisweilen ein oder zwei Afterschäfte von
gleicher Größe mit dem Hauptschaft vorhanden. Manche
Stellen am Kopf, Hals und an der Brust bleiben ganz nackt. Die S.
sind meist ansehnliche Vögel und haben namentlich unter den
Fossilen riesige Vertreter. In der Schnelligkeit des Laufs
übertreffen einige von ihnen sogar die besten Renner unter den
Säugetieren. Sie be-wohnen meist die Steppen und Ebenen der
Tropen und nähren sich von Vegetabilien; vielfach lebt ein
Männchen mit mehreren Weibchen zusammen. Die zuweilen sehr
großen Eier werden vorzugsweise vom Männchen
bebrütet. In der Gegenwart fehlen die S. in Europa, waren
jedoch einst vorhanden, wie die Funde in England darthun. Ihre
Existenz in den frühern Epochen der Erdgeschichte war so lange
möglich, wie noch nicht die großen Raubtiere aufgetreten
waren; zur Zeit ist die Gruppe im Aussterben begriffen und hat
sogar in historischer Zeit sich wesentlich vermindert (s. unten).
Sie umfaßt nur noch 5 Gattungen mit 20 Arten, zu denen noch 5
Gattungen und 14 Arten jüngst ausgestorbener hinzukommen. Als
schwimmender Strauß ist der neuerdings in der Kreide von
Kansas aufgefundene Hesperornis zu betrachten, dessen Schnabel aber
mit Zähnen besetzt war; er leitet zu den Reptilien über
(s. Vögel). Abgesehen von ihm teilt man die S. in 6
Familien:

1) Äpyornithiden (Aepyornithidae) mit der Gattung Aepyornis
(3 Arten). Bewohnten Madagaskar, wo man im Alluvium Teile des
Skeletts und die enormen Eier (achtmal größer als
Straußeneier) gefunden hat. A. maximus ist vielleicht der
Vogel Rok der Sage.

2) Palapterygiden (Palapterygidae) mit 2 Gattungen und 4 Arten.
Füße dreizehig, Flügel sehr verkümmert. Lebten
auf Neuseeland.

3) Moas oder Dinornithiden (Dinornithidae) mit 2 Gattungen und 7
Arten. Füße zweizehig, Flügel fehlten
wahrscheinlich ganz. Lebten auf Neuseeland zum Teil noch mit
Menschen zusammen und leben in kleinern Arten dort vielleicht auch
jetzt noch. Hierher Dinornis giganteus oder Moa (s. d.).

4) Kiwis oder Schnepfenstrauße (Apterygidae). Schnabel
sehr lang, Nasenlöcher an seiner Spitze, Flügel und
Schwanz nicht hervortretend, Beine sehr stark, Füße
vierzehig. Hierher die Gattung Apteryx (Kiwi, s. d.) mit 4 Arten,
sämtlich von Neuseeland.

5) Kasuare (Casuaridae). Schnabel ziemlich lang, hoch, Schwanz
nicht hervortretend, Hals kurz, Füße dreizehig. Hierher
die Gattungen Casuarius (Kasuar, s. d., 9 Arten, Australien und
benachbarte Inseln) und Dromaeus (Emu, s. d., 2 Arten,
Australien).

6) Strauße (Struthionidae). Schnabel breit, flach, Hals
und Läufe sehr lang, Flügel zum Teil verkümmert,
Füße drei- oder zweizehig. Hierher die Gattungen Rhea
(amerikanischer oder dreizehiger Strauß, oder Nandu, 3 Arten,
Südamerika) und Struthio (afrikanischer oder zweizehiger
Strauß, s. Strauß, 2 Arten, Afrika, Arabien,
Syrien).

Strazze (v. ital. stracciafoglio) , s. v. w. Kladde (s.
d.); Strazzen, s. v. w. Lumpen oder Hadern.

Streatham (spr. stréttam), Vorstadt von London, 10
km im SSW. der Londonbrücke, hoch gelegen, mit chemischen
Fabriken, dem von Johnson besuchten Thrale House und (1881) 21,611
Einw.

Streator (spr. strihtór), Stadt im nordamerikan.
Staat Illinois, am Vermilion River, 130 km südwestlich von
Chicago, Hauptknotenpunkt von Eisenbahnen, mit (1880) 5157
Einw.

Strebe, im Bergbau Grubenholz, welches zur
Unterstützung des Gesteins oder der Zimmerung in geneigter
Stellung eingetrieben wird.

Strebebau, s. Bergbau, S. 725.

Strebebogen, in der got. Baukunst an Kirchen ein von dem
obern Teil der Mauer des Mittelschiffs zur Sicherung derselben
über das Dach des Seitenschiffs bis zum äußern
Strebepfeiler hinübergeschlagener Bogen (s. Tafel "Dom zu
Köln II", Fig. 4 u. 8). Die Strebepfeiler sind viereckig aus
den Mauern hervortretende Stützen, welche ein Gegengewicht
gegen den Gewölbeschub des Innern bilden sollen, meist durch
Absätze gegliedert und von Fialen gekrönt sind. Vgl.
Baustil, S. 527.

Strebepfeiler, s. Strebebogen und Pfeiler.

Streckbarkeit, s. Dehnbarkeit.

Straußvögel.

Strauß (Struthio camelus). 1/16. (Art. Strauß.)

Nandu (Rhea amcricana). 1/10. (Art. Nandu.)

Helmkasuar (Casuarius galeatus). 1/8. (Art. Kasuar.)

Kiwi (Apteryx australis). 1/20 (Art. Kiwi.)

Meyers Konv.-Lexikon, 4. Aufl.

Bibliographisches Institut in Leipzig.

Zum Artikel »Straußvögel

384

Streckbett - Streichen der Schichten.

Streckbett, orthopädische Vorrichtung, besteht in
einer Bettstelle mit Matratze, woran sich Apparate befinden, durch
welche der verkrümmte Körper mittels Zugs (an Kopf, Hals,
Becken, Füßen), auch wohl mittels Drucks (z. B. von der
Seite her), eine Zeitlang in der Richtung erhalten wird, die er
behufs der Beseitigung gewisser Krümmungen oder Streckung
gewisser verkürzter Muskeln oder Sehnen etc. einnehmen soll.
In der neuern Chirurgie bedient man sich der Streckbetten nur in
frischen und subakuten Fällen, namentlich bei Beinbrüchen
der untern Extremität, Entzündungen der Gelenke,
Resektionen etc., hier aber mit dem segensreichsten und
eklatantesten Erfolg. Für veraltete Fälle,
Verkrümmungen der Wirbelsäule und des Brustkorbs ist man
von dem Gebrauch der Streckbetten fast ganz
zurückgekommen.

Strecke, ein Grubenbau innerhalb der Lagerstätten,
deshalb (zum Unterschied von Stollen und Schacht) fast immer ohne
Mundloch über Tage, in seiner Längsrichtung wesentlich
horizontal, in der Regel von andern Grubenbauen aus angelegt. In
der Jägersprache heißt S. das nach beendeter Jagd in
Reihen zusammengelegte Wild, das bei großen Jagden nach
Wildart, Geschlecht und Stärke geordnet und dann von dem
Jagdherrn und den Gästen besichtigt wird, wobei die
verschiedene Totsignale geblasen werden. Nach altem Brauch darf
niemand über das gestreckte Wild wegschreiten. Zur S. bringen,
s. v. w. ein Wild erlegen.

Strecker, Adolf, Chemiker, geb. 21. Okt. 1812 zu
Darmstadt, studierte in Gießen Chemie und Naturwissenschaft,
wurde 1842 Lehrer an der Realschule in Darmstadt, 1846
Privatassistent Liebigs in Gießen und habilitierte sich 1848
an der dortigen Universität als Privatdozent. 1851 folgte er
einem Ruf an die Universität Christiania, wurde 1860 Professor
der Chemie in Tübingen und 1870 in Würzburg, wo er 9.
Nov. 1871 starb. Er lieferte eine vielbenutzte Bearbeitung von
Regnaults "Lehrbuch der Chemie" (Braunschw. 1851, nach seinem Tod
fortgeführt von Wislicenus) und schrieb: "Das chemische
Laboratorium der Universität Christiania" (Christ. 1854);
"Theorien und Experimente zur Bestimmung der Atomgewichte"
(Braunschw. 1859).

Streckfuß, 1) Adolf Friedrich Karl, Dichter und
Übersetzer, geb. 20. Sept. 1778 zu Gera, studierte in Leipzig
die Rechte, ward 1819 Oberregierungsrat zu Berlin, 1840 Mitglied
des Staatsrats und starb daselbst 26. Juli 1844. S. hat sich
namentlich durch seine Übersetzungen von Ariostos "Rasendem
Roland" (Halle 1818-20, 5 Bde.; 2. Aufl. 1840), von Tassos
"Befreitem Jerusalem" (Leipz. 1822, 2 Bde.; 4. Aufl. 1847) und
Dantes "Göttlicher Ko-mödie" (Halle 1824-26, 3 Bde. ; 9.
Aufl. 1871) einen Platz in der deutschen Litteratur erworben. Seine
eignen Werke bestehen in lyrischen und epischen Dichtungen
("Gedichte", neue Ausg., Leipz. 1823; "Neuere Dichtungen", Halle
1834) sowie in Erzählungen (Dresd. 1814 u. Berl. 1830).

2) Adolf, Schriftsteller, Sohn des vorigen, geb. 10. Mai 1823 zu
Berlin, studierte, nachdem er die Landwirtschaft praktisch erlernt,
1845-48 auf der landwirtschaftlichen Akademie zu Möglin und
Eldena, wurde 1848 beim Ausbruch der Revolution in Berlin in die
demokratische Bewegung gerissen und war für dieselbe auch
schriftstellerisch thätig. In den folgenden Reaktionsjahren
wurde er wegen des Werkes "Die große französische
Revolution und die Schreckensherrschaft" (Berl. 1851, 2 Tle.) in
den Anklagestand versetzt, indessen vom Schwurgericht
freigesprochen; doch unterblieb die Vollendung des Werkes. S.
ergriff nun die gewerbliche Thätigkeit und kehrte erst beim
Regierungsantritt des Prinz-Regenten zur Schriftstellerei
zurück, daneben sich vorzugsweise dauernd dem Kommunaldienst
seiner Vaterstadt widmend. 1862 wurde er zum Stadtverordneten, 1872
zum Stadtrat ernannt. Von seinen Schriften sind, abgesehen von
zahlreichen Romanen und Erzählungen ("Die von Hohenwald",
1877; "Schloß Wolfsburg", 1879, etc.), zu erwähnen: "Vom
Fischerdorf zur Weltstadt. 500 Jahre Berliner Geschichte" (4.
Aufl., Berl. 1885, 4 Bde.); "Berlin im 19. Jahrhundert" (das.
1867-69, 4 Bde.) und "Die Weltgeschichte, dem Volk erzählt"
(das. 1865 bis 1867).

Streckmaschiue (Streckwerk, Strecke), in der Spinnerei
eine Vorrichtung zum Parallellegen der Fasern und zum Ausstrecken
der Lagen zu Bändern mit Hilfe von Streckwalzen (s. Spinnen,
S. 149); in der Appretur eine Vorrichtung zum Strecken der Gewebe
in die Breite, um die Einschlagfäden in gerade Richtung zu
bringen.

Streckmuskeln (Extensoren), die Antagonisten der Flexoren
(Beugemuskeln), die durch ihre Zusammenziehung bewirken, daß
das vorher gebeugte Glied gestreckt wird.

Streckverse (Polymeter), bei Jean Paul Fr. Richter
Bezeichnung für kurze Sätze oder Aphorismen, welche in
einer Art rhythmischer Prosa und meist in überschwenglicher
Form poetischen Empfindungen Ausdruck geben. Auch W. Menzel
veröffentlichte einen Band "Streckverse" (Heidelb. 1823).

Streckwalzen, Streckwerk, s. Streckmaschine.

Street (engl., spr. striht), Straße.

Strehla, Stadt in der sächs. Kreishauptmannschaft
Leipzig, Amtshauptmannschaft Oschatz, an der Elbe, hat eine evang.
Kirche, ein altes Schloß, Fabrikation von Leim und
künstlichem Dünger, Schiffahrt, Kohlenhandel und (1885)
2173 Einw.

Strehlen, 1) Kreisstadt im preuß. Regierungsbezirk
Breslau, an der Ohlau, Knotenpunkt der Li-nien Breslau
-Mittelwalde, S.-Nimptsch und S.-Grottkau der Preußischen
Staatsbahn, hat 2 evangelische, eine altlutherische, eine
reformierte und eine kath. Kirche, ein Gymnasium, ein Amtsgericht,
eine Zuckerfabrik, einen großen Steinbruch, Ziegelbrennerei,
lebhafte Getreide-, Woll- und Viehmärkte und (1885) mit der
Garnison (2 Eskadrons Husaren Nr. 4) 8854 meist evang. Einwohner.
Dabei das jetzt in S. einverleibte Dorf Woiselwitz, bekannt durch
den beabsichtigten Verrat des Barons Warkotsch an Friedrich d. Gr.
Vgl. Görlich, Geschichte der Stadt S. (Bresl. 1853). -

2) Dorf in der sächs. Kreishauptmannschaft Dresden,
Amtshauptmannschaft Dresden-Altstadt, 3 km südöstlich von
Dresden, mit dem es durch Pferdebahn verbunden ist, hat eine
königliche Villa, eine Dampfmahlmühle, Ziegelbrennerei
und (1885) 2106 Einw.

Strehlenau, s. Niembsch von Strehlenau.

Strehlitz, Stadt, s. Großstrehlitz.

Streichbrett, s. Pflug, S. 973.

Streichen, seemännisch das Gegenteil von
heißen (s. d.), also herunterziehen, z. B. die Segel oder die
Flagge. Wenn zu den Zeiten der Segelschiffahrt ein Schiff, das
verfolgt wurde, seine Segel strich, so gab es sich damit verloren;
daher figürlich die Segel s., s. v. w. sich ergeben.

Streichen der Schichten, die Richtung, in welcher sich
eine Gesteinsschicht oder ein Gang horizontal weiter erstreckt
(streicht). Sie wird durch den Winkel

385

Streichendes Feld - Streiter.

bestimmt, welchen eine in der Schichtungsfläche oder in der
Grenzfläche des Ganges gedachte Horizontallinie (Streichlinie)
mit der Magnetnadel bildet. Die Streichlinie steht senkrecht zur
Falllinie (s. Fallen der Schichten), und durch gleichzeitige Angabe
des Streichens und Fallens ist die Schicht oder der Gang im Raum
vollständig orientiert. Der Winkel gegen die Nordsüdlinie
wird entweder (neuerdings häufiger) in Graden angegeben oder
(früher ausschließlich) in Stunden (horae), indem man
sich den Limbus des Kompasses in zweimal 12 oder auch in 24 Stunden
(à 15°) und diese in Achtelstunden (à 1° 52'
30'', den Einheiten mißbräuchlich als Dezimalstellen
angefügt) geteilt denkt. Eine Schicht, welche hora 6 (oder
hora 18 zu 6) streicht, wird sich hiernach in westöstlicher
Richtung horizontal weiter erstrecken und gegen S. oder N.
einfallen. Horizontale (söhlige) Schichten streichen nach
allen Richtungen gleichzeitig.

Streichendes Feld, s. Gestrecktes Feld.

Streichinstrumente. Die heute allein in der europäischen
Kunstmusik gebräuchlichen S.: Violine, Bratsche,
Violoncello und Kontrabaß sind das Schlußergebnis einer
vielleicht tausendjährigen langsamen Entwickelung; sie sind
sämtlich nach demselben Prinzip gebaut, wie schon ein
flüchtiger Blick auf ihre äußern Umrisse lehrt.
Diese der Bildung eines edlen, vollen Tons günstigste Bauart
wurde etwa zu Ende des 15. Jahrh. zunächst für die
Violine gefunden und allmählich auf die größern
Arten der S. übertragen, so daß Cello, Bratsche und
Kontrabaß erheblich später die ältern S., welche
Violen hießen (Viola da braccio, Viola da gamba und Violone),
verdrängten (vgl. Viola und Violine). Wie alt die S. sind, ist
nicht recht festzustellen; noch ist kein Denkmal aus
vorchristlicher Zeit aufgefunden, welches die Abbildung eines
Streichinstruments aufweist. Nach gewöhnlicher Annahme ist der
Orient die Wiege der S.; doch ist dieselbe schlecht genug
begründet, nämlich damit, daß die arabischen
Musikschriftsteller des 14. Jahrh. die S. Rebab oder Erbeb und
Kemantsche kennen. Obgleich nichts auf eine wesentlich frühere
Existenz dieser Instrumente bei ihnen hinweist, hat man doch daraus
geschlossen, daß das Abendland sie von den Arabern nach der
Eroberung Spaniens erhalten habe, während auf der andern Seite
eine große Zahl Beweise vorhanden sind, daß seit dem 9.
Jahrh., wo nicht länger, das Abendland Instrumente dieser Art
kannte. Es genüge hier, darauf hinzudeuten, daß die
älteste Abbildung eines Streichinstruments (in Gerberts "De
musica sacra" wiedergegeben), eine einsaitige "Lyra" , die dem 8.
oder 9. Jahrh. angehört, eine der spätern Gigue sehr
ähnliche Gestalt aufweist, daß wir aus dem 10. Jahrh.
eine Abbildung der keltischen Chrotta (s. d.) haben, und daß
bereits im 11.-12. Jahrh. mancherlei verschiedene Formen der S.
nebeneinander bestanden. Es hielten sich jahrhundertelang
nebeneinander zwei prinzipiell verschiedene Formen der S., von
denen die (vermutlich minder alte) mit plattem Schallkasten aus der
Chrotta hervorging, die andre mit mandolinförmig
gewölbtem Bauch aber (die altdeutsche Fidula) wahrscheinlich
germanischen Ursprungs ist. Auch das frühere Vorkommen der
Drehleier deutet auf einen abendländischen Ursprung der S. Die
ältesten S. hatten keine Bünde; diese tauchen erst zu
einer Zeit auf, wo die nachweislich von den Arabern importierte
Laute anfing, sich im Abendland auszubreiten, d. h. im 14. Jahrh.,
und um dieselbe Zeit tauchen auch allerlei andre Wandlungen im
Äußern der S. auf (große Saitenzahl, die Rose),
welche den Einfluß der Laute verraten. Im 15.-16. Jahrh.
finden wir zahlreiche verschiedene Arten großer und kleiner
Geigen nebeneinander, die dann sämtlich von den
Violineninstrumenten verdrängt wurden. Zur Erklärung der
so verschiedenartigen äußern Umrisse der S. älterer
Zeit sei noch darauf hingewiesen, daß für diejenigen,
welche eine größere Saitenzahl (über 3) und
demzufolge einen höher gewölbten Steg hatten, die
Seitenausschnitte nötig wurden, und man ging in der
Vergrößerung der letztern so weit, daß
schließlich Instrumente zu Tage kamen, deren
Schallkörper beinahe die Gestalt eines x hatte. Für die
Instrumente mit höchstens 3 Saiten bedurfte es der
Saitenausschnitte nicht, u. sie behielten daher auch ihren
birnenförmigen Schallkasten noch lange Zeit (s. Gigue).

Streichmaß (Streichmodel), s.
Parallelreißer.

Streichorchester, s. Orchester.

Streichquartett, das Ensemble von 2 Violinen, Bratsche
und Violoncello sowie eine Komposition für diese Instrumente
(s. Quartett).

Streichquintett, das Ensemble von 2 Violinen, 2 Bratschen
und Cello oder 2 Violinen, Bratsche und 2 Celli, auch wohl von 2
Violinen, Bratsche, Cello und Kontrabaß, selten von 3
Violinen, Bratsche und Cello oder andre Zusammenstellungen. In
ähnlicher Weise sind auch Streichsextette, Septette etc. in
verschiedenartiger Zusammenstellung möglich.

Streichschalen, s. Schleifsteine.

Streichwolle, s. Wolle.

Streifen, in der Jägersprache s. v. w.
Abstreifen.

Streifenbarbe, s. Seebarbe.

Streifenfarn, s. Asplenium.

Streifenruderschlange, s. Wasserschlangen.

Streifkorps, s. v. w. Fliegendes Korps (s. d. und
Freikorps).

Streifzug, s. Raid.

Streik (engl. strike, "Schlag, Streich", franz.
Grève, daher in Belgien Grevist, der Anteilnehmer am S.), s.
Arbeitseinstellung.

Streitaxt, Hieb- und Wurfwaffe, bei den Römern als
securis gebräuchlich, im Mittelalter aus einem
beilförmigen Eisen auf der einen und einer Art Hammer auf der
andern Seite bestehend, zwischen denen oft noch eine gerade, zum
Zustoßen geeignete Spitze in der Stielrichtung hervorragte.
Die S. war auf einem kurzen Stiel befestigt und bis zum 16. Jahrh.,
bei den Kaukasusvölkern bis in die neueste Zeit,
gebräuchlich (s. Fig. 1 u. 2). Über prähistorische
Streitäxte s. Metallzeit und Steinzeit.

Streitbefestigung, s. Litiskontestation.

Streitberg, Dorf im bayr. Regierungsbezirk Oberfranken,
Bezirksamt Ebermannstadt, 483 m ü. M. an der forellenreichen
Wiesent, in der sogen. Fränkischen Schweiz, hat eine protest.
Kirche, Burgruinen, ein Mineralbad nebst Molkenkuranstalt und
(1885) 283 Einw. In der Nähe ein gelber Marmorbruch.

Streiter, Joseph, Schriftsteller, geb. 8. Juli 1804 zu
Bozen, studierte in Innsbruck die Rechte, ward Rechtsanwalt in
Cavalese, dann in Bozen, 1861

386

Streitgedichte - Strelitz.

Bürgermeister daselbst, 1866 Abgeordneter der Bozener
Handelskammer im Landtag, legte 1871 sein Amt nieder und starb 17.
Juli 1873 auf Payersberg bei Bozen. Er schrieb: "Jesuiten in Tirol"
(Heidelb. 1845); "Die Revolution in Tirol" (Innsbr. 1851); "Studien
eines Tirolers" (Berl. 1862); "Blätter aus Tirol" (Wien 1868);
auch mehrere Dichtungen, wie: "Heinrich IV.", Tragödie (1844),
"Der Assessor", Lustspiel (1858), u. a. Nicht bloß als
Abgeordneter und Bürgermeister, sondern auch als
Schriftsteller bekämpfte er mutig den mächtigen
Klerus.

Streitgedichte, eine Art altdeutscher Dichtungen, worin
die Vorzüge verschiedener Gegenstände voreinander oder
die Erwägung, was an einem Gegenstand das Bessere sei, als
Streit unter Personifikationen dargestellt wurde. Die frühste
Veranlagung dazu haben wohl die uralten, schon in der frühern
lateinischen Poesie des Mittelalters vorkommenden allegorischen
Sommer- und Winterstreite gegeben; seit dem Ende des 13. Jahrh.
werden dergleichen Dichtungen sehr häufig und finden sich
unter dem Namen "Kampfgespräche" noch bei Hans Sachs. Auch der
"Wartburgkrieg" (s. d.) ist hierher zu rechnen.

Streitgenossen (Litiskonsorten), im bürgerlichen
Rechtsstreit die in einer Parteirolle vereinigten Personen, sei es
als Kläger (Mitkläger), sei es als Beklagte
(Mitbeklagte). Ob eine solche Streitgenossenschaft
(Litiskonsortium) eintreten soll oder nicht, das hängt in der
Regel von der freien Entschließung der Klagpartei ab. Ich
kann z. B. die Erben meines verstorbenen Schuldners wegen meiner
Forderung einzeln verklagen, oder ich kann diese Forderung in einer
und derselben Klage gegen die sämtlichen Erben verfolgen.
Besteht in Ansehung des Streitgegenstandes eine Rechtsgemeinschaft,
oder sind mehrere Personen aus demselben tatsächlichen und
rechtlichen Grund berechtigt oder verpflichtet, so können
dieselben eben gemeinschaftlich klagen oder verklagt werden; ja,
dies kann nach der deutschen Zivil-Prozeßordnung auch schon
dann geschehen, wenn gleichartige und auf einem im wesentlichen
gleichartigen tatsächlichen und rechtlichen Grund beruhende
Ansprüche oder Verpflichtungen den Gegenstand des
Rechtsstreits bilden. Die Zivilprozeßordnung kennt aber auch
eine notwendige Streitgenossenschaft, welche dann eintritt, wenn
das streitige Rechtsverhältnis allen S. gegenüber nur
einheitlich festgestellt, oder wenn nach bestehender
Rechtsvorschrift ein Rechtsanspruch nur von mehreren zusammen oder
gegen mehrere zusammen wirksam geltend gemacht werden kann. Dies
ist z. B. nach preußischem Recht bei Grundstücken der
Fall, welche im Miteigentum von mehreren Personen stehen. Das Recht
zur Betreibung des Prozesses steht aber auch im Fall einer
notwendigen Streitgenossenschaft jedem Streitgenossen zu; er
muß aber, wenn er den Gegner zu einem Termin ladet, auch die
übrigen S. laden. Vgl. Deutsche Zivilprozeßordnung,
§ 56 ff., 95, 434; v. Amelunxen, Die sogen. notwendige
Streitgenossenschaft der deutschen Zivilprozeßordnung (Mannh.
1881).

Streithammer, Hammer mit Schaft, als Waffe schon im
Altertum gebräuchlich, im Mittelalter aus einem
stählernen Hammer mit gegenüberstehender scharfer,
rückwärts gebogener Spitze und kurzer Stoßklinge am
vordern Ende bestehend (s. Figur). Er wurde vom Fußvolk auf
langem Schaft, von Reitern an kurzem Stiel, am Sattel hängend,
geführt.

Streitkolben, aus der Keule hervorgegangene Schlagwaffe,
meist eiserner Stiel mit Handgriff und schwerem Knopf am andern
Ende. Letzterer erhielt geeignete Formen zum Durchbohren der
Panzer. Der S. wurde meist von Reitern bis ins 16. Jahrh.
geführt; vgl. Morgenstern.

Streitkolbenbaum, s. Casuarina.

Streitverkündigung (Litisdenunziation), im
bürgerlichen Rechtsstreit die von seiten einer Partei an einen
Dritten ergehende Aufforderung, ihm in dem Prozeß zur Seite
zu treten und zum Sieg zu verhelfen. Die betreffende Partei wird
Streitverkünder (Litisdenunziant) genannt, die dritte Person
ist der Litisdenunziat. Eine S. erfolgt dann, wenn eine Partei
für den Fall des Unterliegens im Prozeß einen
Rückanspruch gegen den Litisdenunziaten zu haben glaubt. Ich
habe z. B. eine Ware gekauft, und diese Ware macht mir jemand im
Weg der Klage streitig. Ich kann alsdann meinem Verkäufer den
Streit verkünden, weil ich im Fall meiner Verurteilung zur
Herausgabe der Sache einen Ersatzanspruch an den Verkäufer
habe. Außerdem kann eine S. aber auch in dem Fall erfolgen,
daß die Hauptpartei den Anspruch eines Dritten (des
Litisdenunziaten) besorgt. Der Kommissionär kann z. B.
für Rechnung des Kommittenten einen Prozeß führen.
Verliert er denselben, so kann unter Umständen der Kommittent
mit einem Schadenersatzanspruch hervortreten. Der Kommissionär
wird daher gutthun, dem Kommittenten von dem Rechtsstreit
Mitteilung zu machen, um ihn zur Teilnahme an demselben zu
veranlassen. Die S. erfolgt nach der deutschen
Zivilprozeßordnung durch die Zustellung eines Schriftsatzes,
in welchem der Grund der S. und die Lage des Rechtsstreits
anzugeben sind. Abschrift des Schriftsatzes ist dem Gegner
mitzuteilen. Tritt der Dritte dem Streitverkünder bei, so wird
er dessen Nebenintervenient (s. Intervention, S. 1005); lehnt er
den Beitritt ab, oder erklärt er sich nicht, so wird der
Rechtsstreit ohne Rücksicht auf ihn fortgesetzt. Vgl. Deutsche
Zivilprozeßordnung, § 69 ff.; Kipp, Die
Litisdenunziation im römischen Zivilprozeß (Leipz.
1887).

Streitwagen dienten entweder dazu, die Streiter im
Gefecht schneller fortzuschaffen, worauf diese beim
Zusammenstoß mit dem Feind vom Wagen herab kämpften oder
auch zu diesem Zweck abstiegen, oder sie sollten durch ihren
Einbruch den Feind selbst schädigen, wie die Sichelwagen (s.
d.). Die S., von einem Wagenführer gelenkt, von einem, auch
mehreren Kämpfenden besetzt, finden sich namentlich beiden
Griechen (s. Figur) in ihrer Heldenzeit und ersetzten die Reiterei.
Im Mittelalter waren die S. stark bemannt und dienten den
Armbrustschützen auch wohl gleichzeitig als Verschanzung, wie
bei den Hussiten und Vlämen im 14. Jahrh., die ihre
Walkerkarren (ribeaudequins) sogar mit Geschützen
besetzten.

Strelitz, Herzogtum (auch Herrschaft Stargard genannt),
einer der beiden Bestandteile des Groß-Herzogtums
Mecklenburg-Strelitz, östlich von Meck-

[Luzerner Streithamm er (14. Jahrh.).]

[Griechischer Streitwagen.]

387

Strelitzen - Stricken.

lenburg-Schwerin gelegen und außerdem von Brandenburg und
Pommern umschlossen, 2548 qkm (46,28 QM.) groß mit 82,288
Einw. Darin die Stadt S. (Altstrelitz), südlich bei
Neustrelitz (s. d.) und an der Linie Berlin-Stralsund der
Preußischen Staatsbahn, hat eine evang. Kirche, ein altes
Schloß (jetzt Straf- und Irrenanstalt), ein Amtsgericht,
Leder- und Tabaksfabrikation, starken Pferdehandel und (1885) 3096
Einw.

Strelitzen (russ. Strjelzi, "Schützen"), russische
Leibwache, ward vom Zaren Iwan Wasiljewitsch dem Schrecklichen in
der Mitte des 16. Jahrh. errichtet und machte, zuweilen 40-50,000
Mann stark, die ganze Infanterie Rußlands aus. Mit ihnen
erkämpften jener Zar und dessen Nachfolger die großen
Siege, die Rußlands Macht gründeten. Sie waren aber eine
wilde, zuchtlose Soldateska, achteten weder Gesetze noch Disziplin
und empörten sich bei dem geringsten Anlaß. 1682
rebellierten sie und übten bei dem Thronwechsel nach dem Tode
des Zaren Feodor eine Zeitlang einen politischen Einfluß.
Peter d. Gr. suchte daher die Macht der S. nach und nach zu
schwächen, indem er ihnen ein Vorrecht nach dem andern entzog,
bis er es ohne Gefahr unternehmen durfte, sie ganz aufzulösen.
Zur Beobachtung Polens an die litauische Grenze postiert,
empörten sie sich im Sommer 1698, wurden aber in einer offenen
Feldschlacht von dem General Gordon geschlagen. Nahezu 2000 der
Rebellen wurden gefangen genommen und mit beispielloser Grausamkeit
gefoltert und hingerichtet. Die Regimenter der S. wurden
aufgelöst. Die Reste derselben nahmen noch wiederholt an den
folgenden Rebellionen während der Regierung Peters d. Gr.
teil.

Strelna, kaiserliches Lustschloß im russ.
Gouvernement St. Petersburg, mit schönem Park, nach dem Muster
des Versailler Schlosses 1711 von Peter I. angelegt, liegt an der
Baltischen Bahn, 9,5 km von Peterhof am hohen Ufer des Finnischen
Meerbusens, hat in den zwei dazu gehörigen Dörfern
Farmen, Schulen, eine Papierfabrik und 1350 Einw.

Strelno (Strzelno), Kreisstadt im preuß.
Regierungsbezirk Bromberg, an der Linie Mogilno-S. der
Preußischen Staatsbahn, hat eine evangelische und eine kath.
Kirche, eine Synagoge, ein Amtsgericht und (1885) 4332 meist kath.
Einwohner.

Stremayr, Karl, Edler von, österreich. Minister,
geb. 30. Okt. 1823 zu Graz, studierte daselbst die Rechte, trat bei
der k. k. Kammerprokuratur in den praktischen Staatsdienst, war
1848-49 Mitglied der Frankfurter Nationalversammlung, ward dann
Supplent des römischen Rechts an der Universität und
Staatsanwaltssubstitut in Graz, 1868 von Giskra als Ministerialrat
in das Ministerium des Innern berufen und war dreimal, vom 1. Febr.
bis 12. April 1870, vom Mai 1870 bis 7. Febr. 1871 und seit 25.
Nov. 1871 bis 15. Febr. 1879, Unterrichtsminister. Er führte
die Aufhebung des Konkordats durch und brachte die neuen
Unterrichts- und Kirchengesetze im Reichsrat zustande, verstand es
aber dennoch, mit dem katholischen Klerus ein gutes Verhältnis
aufrecht zu erhalten. Nach dem Rücktritt des Ministeriums
Auersperg übernahm S. 15. Febr. 1879 zunächst den Vorsitz
des Ministerrats und ging im August 1879 als Justizminister mit
einstweiliger Verwaltung des Unterrichtsministeriums in das
Taaffesche Kabinett über, nahm aber 1880 seine Entlassung und
schied aus dem politischen Leben. Er ward zum zweiten
Präsidenten des obersten Gerichtshofs und 1. Jan. 1889 zum
Mitglied des Herrenhauses ernannt.

Stremma, neugriech. Flächenmaß, = 1000 qm.

Strenae (lat.), bei den alten Römern Geschenke, die
man sich zu Anfang des neuen Jahrs mit Glückwünschen zu
übersenden pflegte, bestanden in Lorbeer- und Palmenzweigen,
Süßigkeiten und Früchten, die wie bei uns mit
Goldschaum überzogen wurden. Eine letzte Spur derselben hat
sich in den französischen Étrennes (s. d.) erhalten.
Der Name S. hängt mit der alten sabinischen Segensgöttin
Strenia zusammen, welcher die römische Salus entsprach.

Strenger Arrest, s. Arrest.

Strenglot, s. Lot, S. 920.

Strengnäs, alte Stadt im schwed. Län
Södermanland, am Mälar, ist seit dem Brand von 1871 neu
aufgebaut, hat eine in ihrem Kern aus dem 13. Jahrh. stammende
Domkirche mit den Grabmälern Karls IX. u. a., eine gute
bischöfliche Bibliothek und (1885) 1614 Einw. S. steht mit
Stockholm in regelmäßiger Dampferverbindung. Seit dem
Anfang des 12. Jahrh. ist es Bischofsitz.

Strenuität(lat.), Hurtigkeit, Betriebsamkeit.

Strepitoso (ital.), lärmend, rauschend.

Strepsiceros, s. Antilopen, S. 639.

Strepsiptera, s. Fächerflügler.

Stretford, Stadt in Lancashire (England), 3 km
südwestlich von Manchester, hat Baumwollfabriken,
Schweineschlächtereien und (1881) 19,018 Einw.

Stretto (ital., "gedrängt"), in der Musik
Bezeichnung für die Engführungen in der Fuge; auch eine
längere, lebhafter vorzutragende Schlußpassage, wie sie
häufig am Ende von Konzertsätzen auftritt, desgleichen
ein schnell bewegter Satz am Ende des Opernfinales etc. heißt
S. (Stretta).

Streu (Stallmist), s. Dünger, S. 219 f.

Streu, rechtsseitiger Nebenfluß der
Fränkischen Saale im bayr. Regierungsbezirk Unterfranken,
entspringt auf der Hohen Rhön und mündet bei
Heustreu.

Streublau, s. Schmalte.

Streukügelchen, kleine Kügelchen von Zucker,
deren sich die Homöopathie zur Verabreichung der kleinsten
Dosen ihrer Arzneien bedient.

Streupulver, s. Lycopodium.

Streuzucker, s. Dragée.

Strich, deutsche Bezeichnung für Millimeter.

Strichfarn, s. Asplenium.

Strichprobe, s. Goldlegierungen.

Strick, in der Jägersprache 2-3 zusammengekoppelte
Wind- oder Hatzhunde.

Stricken, die Herstellung von Maschen mit Hilfe eines
Fadens und zweier Nadeln. Als Material gebraucht man Seide, Wolle
oder Baumwolle. Die Nadeln werden aus Stahl, Holz oder Knochen
angefertigt, sind 20-50 cm lang, von oben bis unten gleich stark
und an den Enden etwas zugespitzt. Wenn man nur mit zwei Nadeln
strickt, so sind diese an einem Ende mit einem Knopfe versehen,
damit die Maschen nicht abgleiten können. Auf die eine Nadel
werden durch Knüpfen Maschen aufgelegt; diese Nadel nimmt man
in die linke Hand und legt den an der letzten Masche hängenden
Faden über den Zeigefinger um die andern Finger; mit der von
der rechnen Hand gehaltenen zweiten Nadel sticht man in die erste
Masche, faßt mit der Nadel den straff angezogenen Faden,
zieht ihn durch die Masche hindurch und läßt diese von
der Nadel heruntergleiten. Dadurch, daß der Faden ohne
Unterbrechung fortläuft, sind alle Maschen miteinander
verbunden. Man unterscheidet Rechts- oder Glatt- und Linksstricken.
Beim Rechtsstricken sticht man von vorn in die Masche und zieht den
Faden von hinten nach vorn durch, beim Linksstricken ist es
umgekehrt. Ist die Strickarbeit lappen-

388

Stricker - Strickmaschine.

oder streifenartig, so bedient man sich zweier Nadeln und wendet
jedesmal am Ende der Nadel das Strickzeug um. Will man ein Rund
stricken, so braucht man fünf Nadeln. Auf vier verteilt man
die Maschen, mit der fünften strickt man. Der Faden wird ohne
Unterbrechung von der letzten Masche einer Nadel durch die erste
der nächsten gezogen. Durch die Abwechselung von Rechts- und
Linksstricken, Ab- und Zunehmen, Verschränken u. andre Arten
von Maschenbilden kann man verschiedene Muster in die Strickerei
bringen. Strickarbeiten werden zu fast allen Kleidungsstücken
verwendet (Strümpfe, Röcke, Jacken, Hauben etc.). In
neuerer Zeit werden Strickereien vielfach durch Maschinen
hergestellt (s. Strickmaschine). Das S. soll bereits im 13. Jahrh.
in Italien bekannt gewesen, nach andern aber erst im 16. Jahrh. in
Spanien erfunden worden sein. Von hier gelangte es nach England u.
Schottland, u. 1564 wird William Rider als erster Strumpfstricker
in England genannt. Um dieselbe Zeit gab es in Deutschland
Hosenstricker, und noch lange wurde das S. von Männern
ausgeübt. Vgl. Heine, Schule des Strickens (Leipz. 1879);
Hillardt, Das S. (3. Aufl., Wien 1887).

Stricker (der Strickäre), mittelhochd. Dichter, von dessen
Lebensverhältnissen nur bekannt ist, daß er in
Österreich um 1240 lebte. Er verfaßte einen "Daniel von
Blumenthal" (noch ungedruckt), eine Bearbeitung des "Rolandslieds"
(hrsg. von Bartsch, Quedlinb. 1857), kleine Erzählungen,
Gleichnisse, Fabeln, die man damals unter dem Namen Beispiele
zusammenfaßte (mehrere hrsg. von Hahn, das. 1839), und
besonders die Schwanksammlung "Der Pfaffe Amis", die älteste
derartiger Dichtungen, deren Inhalt die Schwänke und
Gaunerstreiche eines geistlichen Herrn, des Amis, bilden (hrsg. von
Benecke in den "Beiträgen zur Kenntnis der altdeutschen
Sprache etc.", Götting. 1810-32, 2 Bde.; neuerdings von
Lambelin "Erzählungen und Schwänke", 2. Aufl., Leipz.
1883; deutsch von Pannier, das. 1878). Vgl. Jensen, Über den
S. als Bispeldichter (Marb. 1886).

Strickland, 1) Agnes, engl. Geschichtschreiberin, geboren
um 1808 zu Rorydonhall in Suffolkshire, schrieb teilweise unter
Mitwirkung ihrer Schwester Jane S. unter anderm: "Historic scenes"
(neue Aufl., Lond. 1852); "Lives of the queens of England from the
Norman conquest" (das. 1840-49, 12 Bde.; neue Ausg., das. 1864, 6
Bde.; in verkürzter Fassung, das. 1867); "Letters of Mary,
queen of Scots" (das. 1843, 3 Bde.); "Lives of the queens of
Scotland and English princesses connected with the royal succession
of Great Britain" (das. 1850-59, 8 Bde.); "Lives of the bachelor
kings of England" (das. 1861); "Life of the seven bishops committed
to the Tower in 1688" (das. 1866). Ihre Arbeiten zeichnen sich
durch fleißiges Quellenstudium, übersichtliche Anordnung
des Materials und anziehende Darstellung aus. S. erhielt 1871 auf
Gladstones Antrag eine Pension aus der Staatskasse, starb aber
schon 8. Juli 1874. Ihr Leben beschrieb ihre Schwester Jane S.
(Lond. 1887).

2) Hugh Edwin, Geolog, geb. 2. März 1811 zu Righton in
Yorkshire, studierte zu Oxford, begleitete 1835 den Obersten
Hamilton auf dessen Reise in den Orient und veröffentlichte
als Frucht dieser Reise: "Bibliographia zoologiae et geologiae"
(Lond. 1847-54) und "The Dodo and its kindred" (das. 1848).
Später unterstützte er als Professor der Geologie in
Oxford Murchison in den Vorarbeiten zu dem "Siluriansystem". Er
starb 14. Sept. 1853. Vgl.Jardine, Memoirs and letters of H. E. S.
(Lond. 1858).

Strickmaschine. Das Stricken bezweckt die Bildung eines
Maschengebildes in der Weise, daß stets der Faden als
Schleife durch eine bereits vorhandene Masche hindurchgezogen wird,
während beim Wirken umgekehrt der Faden erst zur Schleife
gebogen und die vorhandene Masche über diese Schleife
ge-schoben wird. Demnach ist das Werkzeug (Nadel) der S. auch so
konstruiert, daß es durch eine Masche hindurchgeht, einen
Faden greift und beim Durchziehen durch die Masche in eine solche
umbildet. Den Vorgang und die Nadeleinrichtung zeigen Fig. 2-6. Die
Nadel g besitzt einen Haken a und unter diesem eine Klappe b,
welche sich mit a zu einer Öse schließen, übrigens
auch ganz zurückfallen kann. In jeder Masche befindet sich
eine solche Nadel, welche in einem Nadelblatt (Fig. 1) nur eine
Vertikalbewegung durch Führung in einer Nute erhält,
durch den Stab c am Herausfallen verhindert und durch den
verstellbaren Anschlag d in der Bewegung begrenzt wird. Eine Reihe
von Nadeln sind nun (Fig. 1) parallel nebeneinander so angeordnet,
daß sie mit den Köpfen g vortreten, und über das
Nadelbrett läßt sich an einem Schlitten ein sogen.
Schloß hin und her bewegen, dessen Hauptteile aus dem
dreieckigen Nadelheber e und den beiden Nadelsenkern ff bestehen.
Diese drei Stücke bilden eine hinauf und wieder hinab gehende
Rinne, welche beim Hin- und Hergehen des Schlosses die aus den
Nuten hervorsehenden Nadelköpfchen g aufnimmt und, an ihnen
anfassend, die Nadeln hinauf und wieder hinab schiebt. Ein sich mit
dem Schloß zusammen bewegender Fadenführer legt in den
Haken der Nadel, wenn diese in der höchsten Stelle steht, den
zu verstrickenden Faden ein. Die schon auf der Nadel befindliche
Masche hebt beim Sinken der Nadel die Klappe b und schließt
mit ihr den Haken zu einer Öse, über die sie dann bei der
tiefsten Nadelstellung selbst von der Nadel abrutscht (Fig. 3 u.
4). Der im Haken befindliche Faden bildet beim Wiederaufsteigen der
Nadel (Fig. 5) die neue Masche, durch welche die . Klappe b
zurückgeschlagen wird. In der höchsten Stel-

Fig. 1-6. Strickmaschine (Nadelbewegung).

389

Stricknadeln - Strikt.

lung hat die Klappe die Masche vollständig passiert, und
nachdem neuer Faden gefaßt ist, wiederholt sich der Vorgang,
sobald die betreffende Nadel von dem an dem Nadelbett entlang
gehenden Schloß erfaßt wird. Bei der von Bickford in
New York gebauten Maschine stehen die Nadeln im Kreis herum in
einem cylindrischen Nadelbett, und das Schloß wird im Kreis
um sie her bewegt (Rundstuhl). Es können auf solcher Maschine
schlauchförmige Sachen gestrickt werden, deren Maschenzahl im
Durchmesser gleich der Nadelzahl der Maschine ist. Mehr Maschen
nebeneinander, als Nadeln vorhanden sind, können auf keiner
Maschine gestrickt werden; weniger Maschen geben aber auf der
Bickford-Maschine stets nur ein plattes, nie ein rund geschlossenes
Stück. Lamb in Chicopee Falls (Massachusetts) stellte zuerst
zwei Nadelreihen, welche schräg stehen, in zwei ebenen Betten
versetzt, einander gegenüber. Strickt hier ein Schloß
auf dem einen Bett hingehend, so strickt ein andres auf dem zweiten
Nadelbett beim Zurückgehen, und da nur ein Fadenführer
mit Fadenspanner beiden Schlössern folgt, so geht der Faden
von einer Nadelreihe auf die andre über und strickt so
geschlossen rund, auch dann, wenn an einem oder beiden Enden beider
Betten eine Anzahl nebeneinander liegender Nadeln außer
Thätigkeit gestellt ist. Fig. 6 zeigt eine Nadel in
Ruhestellung; das Köpfchen g kann von dem darüber
hinweggehenden Nadelheber nicht mehr gefaßt werden. Jede
beliebige Maschenzahl ist so bei geschlossenem Rundstricken
möglich. Legt man die Masche der letzten arbeitenden Nadel
beider Reihen mit auf die neben ihr arbeitende Nadel und stellt sie
selbst in Ruhe, so nimmt die Maschine ab. Bei geeigneter
Wiederholung kann man so einen Strumpf bis zur letzten Masche
zustricken. Ähnlich läßt sich ein Zunehmen
bewerkstelligen. Durch gewisse Vorkehrungen werden auch die Hacken
in Strümpfe gestrickt, ohne daß eine
vervollständigende Naht nachher nötig ist. Besondere
Mechanismen ermöglichen, die Nadelsenker ff nach Bedarf derart
verschieden zu stellen, daß sie die Nadeln weniger oder mehr
in die Nuten hinabziehen, wobei festere oder losere Maschen
entstehen; auch kann man jeden Nadelsenker sowie die Nadelheber
ganz außer Thätigkeit stellen. Bei letztern thut dies
die Maschine, wenn sie dazu eingestellt ist, selbstthätig je
nach der Bewegungsrichtung des Schlosses. Läßt man in
geeigneter Weise beide Nadelreihen in einer Bewegungsrichtung
zusammenwirken, so kann man rechts und links platt gestrickte Waren
erhalten. Mittels Ausladens gewisser Nadeln, Verstellens der
Nadelbetten gegeneinander und variierten Ein- und Abstellens der
Nadelheber können die mannigfaltigsten Muster erzielt werden,
die durch Aufeinanderfolgenlassen verschieden gefärbter Garne
noch zu vermehren sind. Die Lambsche Maschine hat eine hohe
Vollkommenheit erreicht, so daß geübte Arbeiter damit an
einem Arbeitstag 8 Paar lange Frauenstrümpfe und bis 20 Paar
Männersocken vollenden können (s. Wirkerei).

Stricknadeln, s. Nadeln, S. 974.

Stricto jure (lat.), nach strengem Recht. Stricto sensu,
im strengen Sinn.

Stride (engl., spr. streid', "weiter Schritt"), Ausgriff
eines Pferdes, besonders bei Rennpferden die Weite des
Galoppsprungs, die Räumigkeit der Bewegung; ein Pferd mit
gutem S. deckt mit jedem Sprung viel Terrain.

Stridor (lat.), das zischende, pfeifende
Atmungsgeräusch, welches bei Kehlkopfverengerung entsteht.

Stridores (Schwirrvögel), s. Kolibris.

Stridulantia (Singzirpen), Familie aus der Ordnung der
Halbflügler, s. Cikaden.

Striegau, Kreisstadt im preuß. Regierungsbezirk
Breslau, am Striegauer Wasser (Nebenfluß der Weistritz),
Knotenpunkt der Linien Kamenz-Raudten und S.-Bolkenhain der
Preußischen Staatsbahn, hat eine evangelische und eine
große gotische kath. Kirche, ein Progymnasium, eine
Strafanstalt (im ehemaligen Karmeliterkloster), ein Amtsgericht,
bedeutende Granit- und Basaltbrüche, Granitschleiferei,
Buchbinderwaren-, Zigarren-, Bürsten-, Peitschen-, Stuhl-,
Leder- und Zuckerfabriken und (1885) 11,784 meist evang. Einwohner.
Nahebei die bis 355 m hohen Striegauer Berge mit hübschen
Anlagen. S. erhielt 1242 deutsches Stadtrecht. Nach S. wird auch
die Schlacht bei dem 7 km entfernten Hohenfriedeberg (s. d.)
benannt.

Striefen, Dorf in der sächs. Kreis- und
Amtshauptmannschaft Dresden, östlich von Dresden, hat
bedeutende Kunst- und Handelsgärtnerei, Bierbrauerei und
(1885) 8011 Einw.

Strigel, 1) Bernhard, Maler, der früher sogen.
Meister der Sammlung Hirscher, geboren um 1460 zu Memmingen,
bildete sich nach Zeitblom und Burgkmair, war zumeist in seiner
Vaterstadt, zeitweilig auch in Wien thätig, wo er von Kaiser
Maximilian geadelt wurde und das Vorrecht erhielt, den Kaiser
allein porträtieren zu dürfen, und starb 1528 in
Memmingen. Er hat sowohl Bildnisse, unter denen das
Familienporträt des Kaisers Maximilian in der kaiserlichen
Galerie zu Wien und das des kaiserlichen Rats Cuspinian im Berliner
Museum hervorzuheben sind, als Kirchenbilder gemalt, welche sich in
Berlin (Museum), München (Pinakothek und Nationalmuseum),
Nürnberg (Moritzkapelle) und Donaueschingen befinden. Vgl.
Bode im "Jahrbuch der königlich preußischen
Kunstsammlungen", Bd. 2 (Berl. 1881).

2) Viktorin, namhafter luther. Theolog, geb. 1514 zu Kaufbeuren,
bildete sich in Wittenberg unter Melanchthons Leitung und wurde
1548 als Professor der Theologie zu Jena angestellt. Hier in den
synergistischen Streit verwickelt, ward er 1559 vier Monate lang in
Haft gehalten, ging 1562 als Professor nach Leipzig und von da nach
Wittenberg, endlich 1567 nach Heidelberg, wo er zum Calvinismus
übergetreten sein soll und 26. Juni 1569 starb. Sein Hauptwerk
sind die "Loci theologici" (Neust. a. d. H. 1581-84, 4 Bde.). Vgl.
Otto, De Victorino Strigelio (Jena 1843).

Strigen (Striges), nach dem Volksglauben der Alten
vogelähnliche Unholdinnen, welche in der Nacht unheimlich
umherschwirren und den Kindern in der Wiege das Blut aussaugen
etc.

Strigiceps, s. Weihen.

Strigidae (Eulen), Familie aus der Ordnung der
Raubvögel, s. Eulen, S. 905.

Strij (spr. strei), Abraham van, holländ. Maler,
geb. 1753 zu Dordrecht, malte Genrebilder aus dem häuslichen
Leben in der Art von Metsu, aber auch Porträte, Landschaften
und Viehstücke im Geschmack von A. Cuijp. Er stiftete 1774 die
Gesellschaft Pictura in Dordrecht und starb 1826 daselbst. - Sein
Bruder Jacob van S. (1756-1815) schloß sich in Landschaften
und Tierstücken so eng an A. Cuijp an, daß seine Bilder
oft mit denen seines Vorbildes verwechselt werden. Es sollen auch
einige derselben zum Zweck der Täuschung mit dem Namen von
Cuijp bezeichnet worden sein.

Strike (engl., spr. steik), s. Streik.

Strikt (lat.), genau, streng, pünktlich.

390

Striktur - Stringocephalenkalk.

Striktur (lat.), die auf einzelne Stellen
beschränkte und unnachgiebige organische Verengerung eines mit
einer Schleimhaut ausgekleideten Kanals. Solche Strikturen kommen
vor an der Speiseröhre, am Magen und Darm, in den
Thränenkanälen, in der Luftröhre, in der
Harnröhre u. a. O. Sie entstehen entweder dadurch, daß
die Schleimhaut des betreffenden Kanals an einer mehr oder weniger
umschriebenen Stelle nach vorangegangener Verschwärung in ein
festes Narbengewebe umgewandelt wird, welches sich zusammenzieht,
schrumpft und nun wie ein fester um den Kanal herumgelegter Ring
diesen bleibend zusammenschnürt; oder sie beruhen auf der
Einlagerung von Krebsmasse in das Schleimhautgewebe, wodurch sich
dieses beträchtlich verdickt, unnachgiebig wird und den Kanal
auf verschieden große Strecken verengert. Die Strikturen der
Speiseröhre beruhen meist auf Krebseinlagerung, seltener auf
Narbenbildung infolge von Verbrennungen oder Einführung von
ätzenden und scharfen Substanzen (Vergiftung mit
Schwefelsäure, Ätzkali). Die Strikturen des Magens sind
bedingt entweder durch Magenkrebs oder durch die sich stark
zusammenziehenden Narben, welche nach einem Magengeschwür
zurückbleiben. Ähnliches gilt von den Strikturen des
Darms, welche außerdem auch noch infolge der
Verschwärung der Schleimhaut beim Ruhrprozeß entstehen
können. Die Strikturen der Harnröhre, welche
überwiegend beim männlichen Geschlecht vorkommen, sind
fast immer die Folge einer Tripperentzündung. Die Folgen der
Strikturen bestehen darin, daß der betreffende Kanal mehr
oder weniger unwegsam wird, daß die Massen, welche durch den
Kanal hindurchgehen sollen, an der S. aufgehalten und unter
Umständen in umgekehrter Richtung wieder entleert werden.
Daher ist bei der S. der Speiseröhre das Schlingen erschwert,
die Speisen werden meist sofort wieder ausgewürgt. Bei
Strikturen des Magens wird der Speisebrei, welcher nicht in den
Zwölffingerdarm gelangen kann, durch Erbrechen wieder nach
außen entleert. Bei Strikturen des Darms treten
Stuhlverhaltung, einfaches oder Kotbrechen, bei Strikturen der
Harnröhre erschwertes Harnen, Ablenkung des dünnen
Harnstrahls, tropfenweises Abgehen des Urins etc. ein.
Natürlich werden in allen diesen Fällen auch noch
subjektive Symptome der S. vorhanden sein, wie Schmerz, Gefühl
von Druck in der betreffenden Gegend etc. Die Behandlung der
Strikturen kann nur da eine direkte sein, wo wir sie mit unsern
mechanischen Hilfsmitteln erreichen können, wie in der
Speiseröhre, der Harnröhre und im Mastdarm, während
die Strikturen des Magens und Darms an sich keiner Behandlung
zugänglich sind. Krebsige Strikturen geben unter allen
Umständen eine schlechte Prognose, die narbigen Strikturen im
allgemeinen eine bessere; doch sind auch sie sehr schwierig und oft
nur unvollkommen zu beseitigen. Der hierzu eingeschlagene Weg
besteht darin, daß man durch Einführung von glatten
cylinderförmigen Körpern den verengerten Kanal
allmählich zu erweitern sucht, indem man Cylinder von immer
zunehmender Dicke anwendet. Bei Strikturen der Speiseröhre
verwendet man hierzu die sogen. Schlundsonde, beim Mastdarm die
sogen. Mastdarmbougies, bei Strikturen der Harnröhre starre
oder elastische Sonden und Bougies aus verschiedenen Substanzen.
Erreicht man hiermit den beabsichtigten Zweck nicht, und ruft die
S. eine gefährliche Harnverhaltung hervor, so muß man
dem Harn auf operativem Weg Abfluß verschaffen, entweder
durch den Blasenstich oder durch den Harnröhrenschnitt (hinter
der S.). Der künstliche Abweg für den Harn muß so
lange offen gehalten werden, bis es gelungen ist, von vorn oder von
hinten her der S. beizukommen und den normalen Weg für den
Harn wieder zu eröffnen. Die neuere Chirurgie beginnt auch die
Strikturen der Thränengänge und der Luftröhre mit
Erfolg zu behandeln. Vgl. die Schriften von Dittel (Stuttg. 1880),
Thompson (deutsch von Casper, Münch. 1888), Distin-Maddick
(deutsch, Tübing. 1889).

Strindberg, August, schwed. Schriftsteller, geb. 22. Jan.
1849 zu Stockholm, ist einer der talentvollsten Vertreter der
jüngsten Dichterschule in Schweden, welche der Richtung G.
Brandes' (s. d.) folgt. Er trat bereits 1872 mit einem Drama:
"Master Olof", hervor, das, besonders in einer spätern
Umarbeitung (1878), von bedeutender Wirkung war, erregte aber erst
mit seinem Roman "Röda rummet" (1879) die allgemeinste
Aufmerksamkeit. S. bezeichnet das Buch als "Schilderungen aus dem
Schriftsteller- und Künstlerleben" und geißelt darin mit
überlegener Satire die konventionellen gesellschaftlichen und
staatlichen Verkehrtheiten. Noch schonungsloser thut er dies in
"Det nya riket" (1882), welches seitens der reaktionären
Presse einen wahren Sturm von Angriffen gegen den Verfasser
hervorrief, welche diesen veranlagten, ins Ausland zu gehen.
Seitdem lebt er abwechselnd in Frankreich, Italien und der Schweiz.
Im J. 1883 erschienen, in demselben Geist gehalten: "Svenska
öden och äfventyr" (3 Bde.) und "Dikter p°a vers och
prosa", 1884 eine Sammlung kleinerer Abhandlungen unter dem Titel:
"Likt och olikt", ein Gedichtcyklus: "Sömngangarnätter",
und eine Novellensammlung: "Giftas" (letztere auch französisch
u. d. T.: "Les mariés"). Wegen einiger Auslassungen
über das Sakrament des Altars wurde "Giftas" konfisziert und
gegen den Verleger Anklage wegen Beschimpfung kirchlicher
Einrichtungen erhoben, worauf S. von Genf, wo er eben wohnte, nach
Stockholm reiste und dort vor Gericht seine Verteidigung so
glänzend führte, daß er gegen alle Erwartung von
den Geschwornen freigesprochen wurde. In "Giftas" behandelt S. das
Verhältnis zwischen Mann und Frau vom Standpunkt des Russen
Tschernyschewsky (s. d.) aus; noch mehr aber tritt seine
Verwandtschaft mit diesem in dem folgenden Werk: "Utopier i
verkligheten" (1885), hervor, worin er in novellistischer Form
"verwirklichte Utopien" schildert und auf diesem Weg den Nachweis
zu liefern sucht, daß eine Lösung der Arbeiterfrage im
Sinn des Sozialismus ersprießlich und möglich sei. Von
sonstigen Werken Strindbergs sind zu nennen die Schauspiele.
"Gillets hemlighet" (1880), "Herr Bengts hustru" (1882) und
"Lycko-Pers resa" (1882), seine kulturhistorischen Arbeiten:
"Svenska folket i helg och söken" (1882) und "Gamla Stockholm"
(im Verein mit Claes Lundin, 1882); ferner: "Svenska
berättelser" (1883); "Tjensteqvinnans son" (1886);
"Hemsöborna" (1887); "Skärkarlslif" (1888); "Fröken
Julie" etc. Durch seinen Kampf gegen die übertriebene
Frauenvergötterung, welche in der schwedischen Litteratur
durch Ibsens "Dukkehjem" angebahnt wurde, hat sich S. in den
letzten Jahren viele Feinde erworben, besonders unter den
jüngern Vertretern der Frauenemanzipation.

Stringéndo (ital., spr. strindsch-), musikal.
Vortragsbezeichnung, s. v. w. immer schneller, bis zur
nächsten Tempobezeichnung.

Stringieren (lat.), eng zusammenziehen, genau nehmen;
streifen; stringent, zwingend, bündig.

Stringocephalenkalk, s. Devonische Formation.

391

Stringocephalus - Stroganow.

Stringocephalus, s. Brachiopoden.

Strinnholm, Andreas Magnus, schwed. Geschichtsforscher,
geb. 25. Nov. 1786 in der Provinz Westerbotten, studierte zu
Upsala, schrieb zuerst "Svenska folkets historia under konungarna
af Wasaätten" (Stockh. 1819-24, 3 Bde.), die er aber mit der
Erbvereinigung von Westeräs 1544 abbrach, und begann, nachdem
er eine Zeit hindurch am statistischen Archiv zu Stockholm
beschäftigt gewesen, 1830 eine vollständige Geschichte
Schwedens nach den Quellen zu bearbeiten, von welcher unter dem
Titel: "Svenska folkets historia fran äldsta till nuvarande
tider" (das. 1835-54; daraus einzelne Abschnitte deutsch von Frisch
u. d. T.: "Wikingszüge, Staatsverfassung und Sitten der alten
Skandinavier", Hamb. 1839-41, 2 Bde.) 5 Bände erschienen,
welche bis 1519 reichen. Der erste Teil dieses Werkes ward von der
schwedischen Akademie mit dem höchsten Preis gekrönt.
Auch die kürzere "Sveriges historia i sammandrag" (Stockh.
1857-60, 3 Bde.) blieb unvollendet. S. ward 1845 Mitglied der
Akademie der Wissenschaften und starb 18. Jan. 1862 in
Stockholm.

Strix, s. Eulen, S. 907.

Strizzo (ital., Mehrzahl Strizzi), s. Louis.

Strjetensk, Stadt im sibir. Gebiet Transbaikalien,
Haupthafen am obern Amur, mit einem Hospital und verschiedenen
Faktoreien. Die Ladenbesitzer sind fast durchgängig deutsch
sprechende Juden.

Ströbeck, Pfarrdorf im preuß. Regierungsbezirk
Magdeburg, Kreis Halberstadt, hat eine evang. Kirche und (1885)
1251 Einw., die seit alter Zeit als Schachspieler in Ruf stehen.
Alljährlich bei der Osterprüfung wird in der Schule ein
Wettspiel um sechs als Prämien ausgesetzte Schachbretter
veranstaltet.

Strobel, Adam Walther, elsäss. Geschichtsforscher,
geb. 23. Febr. 1792 zu Straßburg, seit 1830 Professor am
Gymnasium daselbst, starb 28. Juli 1850. Sein Hauptwerk ist die
"Vaterländische Geschichte des Elsaß" (Straßb.
1840-49, 6 Bde.), die Heinr. Engelhardt (für die Zeit
1789-1815) vollendete. Außerdem veröffentlichte S.:
"Sebastian Brants Narrenschiff" (Quedlinb. 1839) samt dessen
kleinern Gedichten; Closeners "Straßburger Chronik" (Stuttg.
1841); "Mitteilungen aus der alten Litteratur des nördlichen
Frankreich" (Straßb. 1834); "Französische Volksdichter"
(Baden 1846); "Das Münster in Straßburg" (Straßb.
1845, 14. Aufl. 1876) u. a. Auch an dem "Code historique et
diplomatique de la ville de Strasbourg" (Straßb. 1843, 2
Bde.) nahm S. hervorragenden Anteil.

Strobilus (lat.), s. v. w. Zapfen, s. Koniferen.

Stroboskopische Scheibe, s. Phänakistoskop.

Strobus Loud., Gruppe der Gattung Pinus (s. Kiefer, S.
714).

Strodtmann, Adolf, Dichter und Schriftsteller, geb. 24.
März 1829 zu Flensburg als Sohn des auch als Dichter bekannten
Pädagogen Sigismund S. (gest. 12. Sept. 1888; "Dichtungen", 2.
Aufl., Hamb. 1888), beteiligte sich 1848 als Kieler Student an der
Erhebung seines Heimatlandes, ward in einem der ersten Gefechte
verwundet und fiel in dänische Gefangenschaft. Befreit, setzte
er seine Studien in Bonn fort, wo er zu Kinkels Schülern
gehörte, dichtete seine revolutionären "Lieder der Nacht"
(Bonn 1850) und wurde wegen des in denselben enthaltenen Gedichts
"Das Lied vom Spulen" von der Universität verwiesen. Er ging
zunächst nach Paris und London, wo er die Biographie
"Gottfried Kinkel" (Hamb. 1850, 2 Bde.) schrieb, begab sich 1852
nach Amerika, gründete eine bald wieder eingehende
Buchhandlung, lebte dann als Journalist in New York und
Philadelphia, ließ auch ein aus den Reminiszenzen der
deutschen Revolution erwachsenes Gedicht: "Lotar", erscheinen. 1856
nach Deutschland zurückgekehrt, ließ er sich in Hamburg
nieder, wo er das Bürgerrecht erwarb und eine ausgebreitete
litterarische Thätigkeit entwickelte. Der poetischen
Erzählung "Rohana, ein Liebesleben in der Wildnis" (Hamb.
1857; 2. Aufl., Berl. 1872) folgten seine "Gedichte" (Leipz. 1858,
3. Aufl. 1880), "Ein Hohes Lied der Liebe" (Hamb. 1858) und die
Zeitgedichte "Brutus, schläfst du?" (das. 1863). Gleichzeitig
widmete sich S. dem eingehenden Studium Heines, von dessen Werken
er eine Gesamtausgabe (Hamb. 1866-68, 20 Bde.) veranstaltete. Im
Zusammenhang damit stand sein biographisches Buch "Heinrich Heines
Leben und Werke" (Berl. 1869, 2 Bde.; 3. Aufl. 1884). 1870
begleitete S. als Korrespondent mehrerer großer Zeitungen die
dritte deutsche Armee auf ihrem Siegeszug nach Frankreich und
veröffentlichte aus den Eindrücken dieser Tage:
"Alldeutschland in Frankreich hinein!" (Berl. 1871). Nach dem
Feldzug ließ er sich in Steglitz bei Berlin nieder, wo er 17.
März 1879 starb. Als poetischer Übersetzer hatte er
zuerst eine Anzahl Gedichte neuerer amerikanischer Lyriker
meisterhaft übertragen; es folgten dann: "Die Arbeiterdichtung
in Frankreich" (Hamb. 1863); "Tennysons ausgewählte
Dichtungen" (Hildburgh. 1868); "Shelleys Dichtungen" (das. 1867, 2
Bde.); die "Amerikanische Anthologie" (das. 1870) sowie zahlreiche
Übersetzungen prosaischer Werke aus dem Französischen,
Dänischen und Englischen, darunter Montesquieus "Persische
Briefe" (Berl. 1866), Eliots "Daniel Deronda" (das. 1876-77),
Brandes' "Hauptströmungen der Litteratur des 19. Jahrhunderts"
(das. 1872-76, 4 Bde.), I. Simes "Lessing" (das. 1878). Auch
kritisch und litterarhistorisch vielfach thätig,
veröffentlichte er: "Das geistige Leben in Dänemark"
(Berl. 1873); "G. A. Bürgers Briefe" (das. 1874, 4 Bde.);
"Dichterprofile. Litteraturbilder aus dem 19. Jahrhundert" (Stuttg.
1878).

Stroganow, angesehene russische, jetzt gräfliche
Familie, hat zum Ahnherrn Anikij S., der zu Ende des 15. Jahrh.
große Salinen und Eisenwerke im Ural besaß, und dessen
Söhne Jakow und Grigorij sich durch Erfindungen sowie
großartige Einrichtengen im Berg- und Salzwesen bekannt
machten und sich zur Zeit Iwan Wasiljewitsch' des Schrecklichen
zwischen der Kama und nördlichen Dwina ansiedelten. Indem sie
den Kosakenhetman zum Schutz ihrer Besitzungen herbeiriefen, trugen
sie mittelbar zur Eroberung Sibiriens bei. Iwan Wasiljewitsch
verlieh den Brüdern bedeutende Vorrechte und Handelsmonopole;
dieselben brachten den ganzen Handel Sibiriens an sich und wurden
Besitzer von mehr als 100 Städten, Kolonien und
Hüttenwerken, wozu später noch Goldwäschen kamen. Im
Polenkrieg zu Anfang des 17. Jahrh. rüsteten die Stroganows
ein eignes Armeekorps aus und trugen zur Rettung Rußlands
bei, wofür sie der Zar mit der Befugnis belohnte, ihre eigne
Soldateska zu haben und freie Jurisdiktion über ihre
Untergebenen zu üben. Peter d. Gr. nahm jedoch 6. Mai 1722 den
Repräsentanten der Familie, den Brüdern Alexander,
Nikolaus und Sergei S., die sämtlichen Vorrechte ihrer Ahnen
und verlieh ihnen hierfür bloß den Baronstitel.
Gri-gorij Alexandrowitsch S., geb. 1770, russischer Diplomat und
1826 in den Grafenstand erhoben, rettete 1821 als russischer
Gesandter in Konstantinopel durch sein energisches Auftreten vielen
tausend Grie-

392

Stroh - Strohseile.

chen das Leben; starb 19. Jan. 1857. Paul Alexandrowitsch S.,
geb. 1774 in Frankreich, focht mit großer Auszeichnung in den
Napoleonischen Kriegen und leistete dem Kaiser Alexander
Diplomatendienste. 1809 nahm er teil an der Besetzung der
Alandsinseln. Hierauf war er im Türkenkrieg thätig. 1812
focht er insbesondere bei Walutina Gora und bei Borodino, weniger
erfolgreich bei Malojaroßlawez. 1814 nahm er teil an den
Schlachten bei Craonne und Laon. Der Schmerz um den Verlust seines
Sohns, welcher bei Craonne fiel, beugte ihn so sehr, daß er
auf einer Seereise 1817 starb. Der älteste Sohn des Grafen
Grigorij Alexandrowitsch, Graf Sergei, geb. 1795, General der
Kavallerie, bis 1835 Gouverneur von Riga und Minsk, dann bis 1847
Kurator des Universitätsbezirks von Moskau, erwarb sich als
Besitzer eines Teils der von seinen Vorfahren angelegten Salz- und
Hüttenwerke Verdienste um Hebung der Gewerbe, Künste und
Wissenschaften und machte sich auch als russischer Altertumskenner
bekannt. Seit 1857 Leiter der archäologischen Ausgrabungen,
welche auf Kosten des kaiserlichen Kabinetts in verschiedenen
Teilen Rußlands vorgenommen wurden, veröffentlichte er
die Resultate in den "Comptes-rendus de la commission
archeologique" 1860. Unter seiner Leitung erscheint auch ein
"Recueil d'antiquités de la Scythie" (1866 ff.). 1859 zum
Generalgouverneur von Moskau ernannt, schied er bald wieder aus
dieser Stellung und wurde Kurator des damaligen Thronfolgers
Nikolaus. Als solcher stand er dem jungen Großfürsten
bis zu dessen Tod zur Seite. Hiernächst wurde er zum
Vorsitzenden des Hauptkomitees der russischen Eisenbahnen ernannt
und starb 10. April 1882 in Petersburg. Sein Bruder, Graf
Alexander, war 1839-41 Minister des Innern, ward 1855 zum
Generalgouverneur von Neurußland und Bessarabien ernannt und
1856 mit der Wiederherstellung von Sebastopol beauftragt. Sein Sohn
Grigorij, ehemaliger Gardeoberst und seit September 1856
kaiserlicher Statthalter, war seit 1856 mit der verwitweten
Herzogin von Leuchtenberg (gest. 24. Febr. 1876) morganatisch
vermählt und starb 20. Febr. 1879.

Stroh, alle ihrer reifen Körner beraubten Halme und
Stengel von Feldfrüchten, im engern Sinne nur die des
Getreides. S. dient als Futter (chemische Zusammensetzung etc. s.
Futter) und als Einstreu, außerdem benutzt man Getreidestroh
als Brennmaterial (in Lokomotiven von besonderer Konstruktion), zum
Decken der Dächer, zu Matten, Geweben, künstlichen
Blumen, Zierarbeiten, als Packmaterial, zu Seilen, zur Darstellung
von Cellulose für Papierfabrikation etc. Besonders wichtig ist
die Strohflechterei (s. d.), welche langer, langgliederiger Halme
von gleichmäßiger Stärke bedarf. Man benutzt das S.
von Sommerweizen und Sommerroggen und baut erstern für diesen
Zweck in Italien (bei Florenz), letztern im Schwarzwald, wobei man
sehr dicht säet und zu gröbern Flechtarbeiten geeignete
Halme aus dem gemähten reifen Getreide ausliest oder zu
feinern Arbeiten das Getreide bald nach der Blüte bei
trockner, heißer Witterung schneidet. Das S. muß
schnell trocknen, eventuell unter Dach, und wird nun auf dem Rasen
gebleicht und schließlich geschwefelt.

Strohblumen, s. v. w. Immortellen (s. d.); auch
künstliche Blumen aus gehaltenem Stroh, wie sie auf
Damenhüten getragen werden.

Strohelevator (Stacker, Stackmaschine), Apparat, um das
von der Dampfdreschmaschine ausgedroschene Stroh zum Zweck der
Errichtung eines Feimens anzuheben. Der S. besitzt als
Hebevorrichtung ein endloses Kettenband, mit hervorstehenden,
gekrümmten Zähnen besetzt, welches, von der Dampfmaschine
betrieben, das aus den Strohschüttlern der Dreschmaschine in
den Elevator gelangende Stroh anhebt. Der Apparat muß nach
verschiedenen Richtungen, und um dem sich vergrößernden
Feimen folgen zu können, in der Höhe stellbar sein. In
Deutschland haben die Strohelevatoren keine ausgedehnte Verbreitung
gefunden; in England und Ungarn sind dieselben dagegen vielfach in
Anwendung.

Strohfiedel (Holzharmonika, Gigelyra, hölzernes
Gelächter), das bekannte, bei den Tiroler Sängern
beliebte Schlaginstrument, welches aus abgestimmten, mit
Klöppeln geschlagenen Holzstäben besteht, die auf einer
Strohunterlage ruhen. Wie dasselbe zum Namen "Fiedel" und
"Gigelyra" kommt, ist bisher noch nicht untersucht worden. Die S.
wird bereits in Virdungs "Musica getuscht" (1511) erwähnt.

Strohflechterei, die Kunst, aus Stroh (s. d.)
verschiedene Gegenstände, wie Hüte, Kappen,
Arbeitstaschen, Schuhe, Zigarrentaschen, feine Tressen etc., durch
Flechtarbeit herzustellen. Diese Kunst, etwa seit Anfang dieses
Jahrhunderts in Italien blühend, hat sich von dort auch
über andre Länder verbreitet. Das zur Flechtarbeit
bestimmte Stroh stammt von einer besondern Sorte Sommerweizen
(Marzolano) oder Sommerroggen (s. Stroh) und wird nach dem Bleichen
nach den Knoten in 20-24 cm lange Stücke geteilt, die man von
neuem bleicht und sehr sorgfältig sortiert. Das sehr feine
italienische Stroh wird in ungespaltenen Halmen verarbeitet und
dann flach gepreßt; das minder feine Stroh andrer Länder
wird mittels eines Werkzeugs (Strohspalter) mit sternförmig
gestellten Schneiden in 7-15 Streifen (Zähne) gespalten. Aus
11-13 solchen Streifen werden zunächst lange Tressen
geflochten, die man nach dem Waschen und Pressen mittels einer
feinen Naht zu Hüten etc. zusammenfügt. Das fertige
Stück wird abermals gewaschen, gebleicht und zuletzt
geglättet. Die feinsten Strohflechtereien liefert Toscana, von
wo auch viele Tressen und sortiertes Stroh ausgeführt werden.
In Vicenza werden ebenfalls sehr feine, bei Mantua und Lodi aber
geringere Waren hergestellt. Die Schweiz liefert den italienischen
nahekommende Tressen in Freiburg, geringere in Aarau, Glarus, Genf.
Ebenso hoch steht die Industrie in Belgien, während Frankreich
nur gröbere Landware zu erzeugen scheint. In England sind
Bedford, Hertford, Bux Hauptsitze der S. In Deutschland blüht
diese Industrie in Sachsen, im Schwarzwald, auch in den
schlesischen Webereidistrikten und vor allem in Lindenberg bei
Lindau, wo sie schon 1765 bestand. Böhmen, Tirol und Krain
liefern geringere Tressen. Die Tressen bilden überhaupt die
gewöhnliche Handelsware, welche in allen größern
Städten in den sogen. Strohhutfabriken vernäht wird.

Strohmänner nennt man bei Aktiengesellschaften
diejenigen, welche als Bevollmächtigte mit offener oder
verdeckter Vollmacht, als Borger oder Mieter von meist aus den
Depots von Bankiers entliehenen Aktien neben wirklichen
Aktionären in den Generalversammlungen der Gesellschaft
erscheinen.

Strohrost, s. Rostpilze, S. 989.

Strohschüttler, s. Dreschmaschine, S. 139.

Strohseile werden mit der Hand oder auf
Strohseilspinnmaschinen dargestellt, die eine
eigentümliche Konstruktion besitzen oder den Watermaschinen
nachgebildet sind. S. dienen in der Landwirtschaft, in der
Metallgießerei zur Kernbildung, zum Umhüllen von
Dampfleitungsröhren, als Packmaterial etc.

393

Strohstoff - Strongyliden.

Strohstoff (Strohzeug), die aus Stroh durch Kochen mit
Lauge isolierte und auf Holländern gemahlene Cellulose, welche
in der Papierfabrikation benutzt wird.

Strohwitwer (entsprechend dem englischen Grasswidow,
"Graswitwe"), der zeitweilig von der andern Hälfte verlassene
Ehegatte. Stroh steht hier für Bett, wie in der Klage Marthas
im "Faust": "Und läßt mich auf dem Stroh allein!"

Strom, s. v. w. Fluß, besonders ein
größerer, welcher sich unmittelbar ins Meer
ergießt.

Stroma, Insel im Pentland Firth (Nordküste
Schottlands), mit dem gefürchteten Swelkiestrudel.

Stromatik (griech.), Teppichwebekunst.

Strombau, s. Wasserbau.

Stromberg, Bergrücken im württemberg.
Neckarkreis, zwischen Zaber (zum Neckar) und Metter (zur Enz),
erreicht im Scheiterhäule eine Höhe von 473 m.

Stromberg, 1) Stadt im preuß. Regierungsbezirk
Koblenz, Kreis Kreuznach, am Hunsrück, am Guldenbach und an
der Eisenbahn Langenlonsheim-Simmern, 195 m ü. M., hat eine
evangelische und eine kath. Kirche, ein Amtsgericht, eine
Oberförsterei, Eisenhüttenwerke mit Blech- und
Gußwarenfabrikation, Kalkbrennerei und (1885) 1021 Einw.
Dabei die Burg Goldenfels und die Ruine Fustenburg. - 2) Flecken
und Wallfahrtsort im preuß. Regierungsbezirk Münster,
Kreis Beckum, hat eine kath. Kirche, eine Burgruine, eine
Bandfabrik, Steinbrüche und (1885) 1534 Einw. Dabei die
Stromberger Hügel, im Monkenberg 190 m hoch, wohin man
neuerdings die Varusschlacht verlegt.

Stromboli, s. Liparische Inseln.

Stromenge, die Stelle eines Stroms, wo das Bett durch
Felsen so verengert wird, daß dadurch das Wasser mehr Tiefe
und einen schnellen Fluß bekommt.

Stromeyerit, s. Kupfersilberglanz.

Stromkorrektion, s. Wasserbau.

Strommesser, s. Rheometer.

Strömö, Insel, s. Färöer, S. 58.

Stromprofil, rechtwinkeliger, senkrechter Querschnitt
eines Flusses oder Kanals.

Stromregulator, s. v. w. Rheostat.

Stromschicht (Zahnfries), s. Fries.

Stromschnelle, die Stelle eines Stroms, welche in einer
frühern Zeit ein Wasserfall gewesen ist, dessen
Felsfläche sich aber jetzt infolge langjähriger
erodierender Thätigkeit des Wassers der horizontalen Ebene
mehr genähert hat. Ist das Strombett, wie z. B. bei dem Nil,
ein steileres, so nennt man seine Stromschnellen Katarakte
(s.d.).

Strömstad, kleine Hafenstadt im schwed. Län
Gotenburg, am Skagerrak, 15 km von der norwegischen Grenze, in
kahler und wilder Gegend, mit Seebad und (1885) 2417 Einw.; brannte
1876 zu zwei Drittteilen nieder. S. ist Sitz eines deutschen
Konsulats.

Stromtiefenmesser, s. Rheobathometer.

Stromvermessung, s. Flußvermessung.

Stromwender (Gyrotrop, Kommutator), Vorrichtung, um den
galvanischen Strom nach Belieben umzukehren, zu schließen
oder zu öffnen. Von den zahlreichen Formen mögen die
folgenden als Beispiele dienen. Der S. von Pohl (Fig. 1) besteht
aus einem Brettchen A mit sechs Quecksilbernäpfchen b c d e f
g, von welchen d mit g und c mit f durch die Drähte h und i
verbunden sind. Die beiden dreiarmigen Metallbügel k l m und n
o p sind durch den Glasstab q zu einer Wippe vereinigt, deren
mittlere Arme l und o in die Näpfchen b und e tauchen; in
diese Näpfchen sind auch die Enden der Poldrähte der
Batterie eingesenkt, während die Enden der Leitung r, in
welcher der Strom wechseln soll, in die Näpfe f und g tauchen.
Liegt die Wippe wie in der Figur, so nimmt der Strom den Weg b l k
g r f n o e und durchfließt die Leitung r in der Richtung des
Pfeils; legt man aber die Wippe um, so daß ihre Arme m und p
resp. in die Näpfe e und d eintauchen, so macht der Strom den
Weg b l m c i f r g [h] d p o e und fließt demnach in der
Leitung r in entgegengesetzter Richtung wie vorhin. Der S. von
Ruhmkorff (Fig. 2) besteht aus einer Elfenbeinwalze c, welche mit
zwei diametral gegenüberliegenden Messingwülsten d und e
versehen ist und von der metallenen Achse a b getragen wird. Diese
Achse geht nicht durch die Walze durch, sondern besteht aus zwei
Stücken, deren vorderes a mit dem Wulst d, das hintere b mit
dem Wulst e leitend verbunden ist. Die beiden Teile der Achse
stehen durch ihre messingenen Lager mit den Klemmschrauben f und g,
welche die Poldrähte aufnehmen, in Verbindung, während
die Klemmschrauben h und i, in welche die Enden der Leitung r
geklemmt werden, auf den Messingblechstreifen k und l, die gegen
die Walze federn, leitend aufgesetzt sind. Wird die Walze mittels
des Knopfes so gedreht, daß d mit k, e mit l in
Berührung sind, so ist die Bahn des Stroms g b e l i r h k d a
f; stellt man die Walze aber so, daß d gegen l und e gegen k
federn, so kehrt sich der Strom um, indem er jetzt den Weg g b e k
h r i l d a f einschlägt. Berühren die Messingwülste
die Blechstreifen nicht, so ist der Strom unterbrochen. Vgl.
Magnetelektrische Maschinen.

Stromzölle, s. Zölle.

Strongyliden (Strongylidae), Familie der Nematoden oder
Fadenwürmer, fadenförmige Eingeweidewürmer mit
rundlichem Körper, endständiger, von Papillen umgebener,
bald enger, bald klaffender Mundöffnung und am Hinterleibsende
im Grund einer schirm- oder glockenförmigen Tasche liegender
männlicher Geschlechtsöffnung. Der Palisfadenwurm
(Eustrongylus gigas Rud.), der größte Spulwurm, ist rot,
besitzt je eine Längsreihe von Papillen auf den Seitenlinien,
sechs vorspringende Mund-

394

Strontian - Strophe.

papillen und eine weit nach vorn gerückte weibliche
Geschlechtsöffnung, lebt vereinzelt meist im Nierenbecken
verschiedener Raubtiere, besonders der Fischotter und Robben,
selten im Rind, Pferd und Menschen. Das Weibchen wird gegen 1 m
lang und etwa 12 mm dick, während das Männchen nur 1/3
dieser Länge erreicht. Über die Entwicklungsgeschichte
ist nichts Sicheres bekannt; wahrscheinlich wird der Jugendzustand
durch Fische übertragen. Mehrere Arten der Gattung Strongylus
Müll. leben in Haustieren, so S. paradoxus Mehlis in den
Bronchien des Schweins, S. filaria Rud. in den Bronchien des
Schafs, S. micrurus Mehlis in Aneurysmen der Arterien des Rindes.
Dochmius duodenalis Dub. (Ancylostomum duodenale Dub.), 10-18 mm
lang, lebt im Zwölffingerdarm und Dünndarm des Menschen,
besonders in den Nilländern, beißt mit seiner starken
Mundbewaffnung Wunden in die Darmhaut, saugt Blut aus den
Darmgefäßen und erzeugt die sogen. ägyptische
Chlorose. In der Jugend lebt dieser Wurm in andrer Form (als sogen.
Rhabditis, s. Nematoden) frei und wird erst später zum
Schmarotzer. Andre Arten leben im Hund, Schaf, Rind und in der
Katze. - Im Pferd als lästiger Parasit findet sich
Sclerostomum equinum Duj. vor. Dieser Wurm wird 20-40 mm lang, lebt
ebenfalls eine Zeitlang in Rhabditisform frei und gelangt mit dem
Wasser in den Darm des Pferdes. Von hier aus dringt er in die
Gekrösarterien, erzeugt dort Erweiterungen (Aneurysmen) und
tritt dann in den Darm zurück, um in ihm geschlechtsreif zu
werden. Nach den Untersuchungen von Bollinger ist die Kolik der
Pferde in den meisten Fällen auf Verstopfungen der Arterien
mit dem genannten Wurm zurückzuführen. - Cucullanus
elegans Zed., der Kappenwurm, lebt in Flußfischen; seine
Jugendform haust in kleinen Wasserflöhen (Cyklopiden). Das
Weibchen wird etwa 10, das Männchen nur 5 mm lang.

Strontian (Strontianerde, Strontiumoxyd) SrO entsteht bei
heftigem Glühen von salpetersaurem S. als graue, poröse,
unschmelzbare Masse, welche sich wie Baryumoxyd verhält und
mit Wasser farbloses Strontiumhydroxyd (Strontiumoxydhydrat,
Strontianhydrat) SrOH2O bildet. Dies kristallisiert aus
wässeriger Lösung mit 8 Mol. Kristallwasser, reagiert
stark alkalisch, wirkt ätzend, zieht begierig Kohlensäure
an und bildet mit Säuren die Strontiansalze. Man hat es
für die Zuckerfabrikation verwertet.

Strontian (spr. stronnschien), Dorf in der schott.
Grafschaft Argyll, am obern Ende des Loch Sunart, mit Bleigruben
und (1881) 691 Einw.

Strontianit, Mineral aus der Ordnung der Carbonate,
findet sich in rhombischen, säulen- oder nadelförmigen,
auch spießigen Kristallen, auch in derben und in faserigen
Massen, ist weiß, oft grünlich, seltener gräulich
und gelblich, durchsichtig bis durchscheinend, glasglänzend,
Härte 3,5, spez. Gew. 3,6-3,8, besteht aus kohlensaurem
Strontian SrCO3, meist mit einem Gehalt von isomorph beigemischtem
Calciumcarbonat (Aragonit). Er tritt gewöhnlich auf
Erzgängen auf, so bei Freiberg, am Harz, bei Hamm in Westfalen
(hier auf Gängen im Kreidemergel), in Salzburg, bei Strontian
in Schottland (daher der Name), und dient zur Darstellung von
Strontiumpräparaten. Das westfälische Vorkommen wird
für die Zuckerfabrikation ausgebeutet.

Strontiansalze (Strontiumsalze, Strontiumoxydsalze)
finden sich zum Teil in Mineralien, Quellwasser und Pflanzen. Am
verbreitetsten sind der schwefelsaure (Cölestin) und der
kohlensaure Strontian (Strontianit), aus welchen alle übrigen
S. mittelbar oder unmittelbar dargestellt werden. Sie sind farblos,
wenn die Säure ungefärbt ist, und verhalten sich im
allgemeinen wie die Barytsalze. Aus ihren Lösungen fällt
Schwefelsäure sehr schwer löslichen weißen,
schwefelsauren Strontian, der aber immer noch löslicher ist
als schwefelsaurer Baryt, so daß eine durch Schütteln
desselben mit destilliertem Wasser dargestellte Lösung in
Chlorbaryumlösung noch eine Ausscheidung von schwefelsaurem
Baryt hervorbringt. Mehrere S. färben die Flamme rot und
werden in der Feuerwerkerei benutzt. In neuerer Zeit ist Strontian
auch für die Zuckerfabrikation wichtig geworden.

Strontium Sr, Metall, findet sich in der Natur als
schwefelsaures (Cölestin) und kohlensaures Strontiumoxyd
(Strontianit), ganz allgemein als Begleiter des Baryts, auch,
wenngleich nur spurenweise, in Kalkstein, Marmor, Kreide, in
Mineralwässern, im Meerwasser und in Pflanzenaschen. Man
erhält es durch Zersetzung von geschmolzenem Chlorstrontium
durch den galvanischen Strom oder von Strontiumoxyd durch Kalium
als schwach gelbliches, dehnbares Metall vom spez. Gew. 2,54,
Atomgew. 87,2; es schmilzt bei mäßiger Rotglut, zersetzt
Wasser bei gewöhnlicher Temperatur, oxydiert sich an der Luft
sehr leicht und verbrennt beim Erhitzen mit glänzendem Licht
zu Oxyd. Es ist zweiwertig und bildet mit Sauerstoff Strontiumoxyd
(Strontian) SrO, welches zu den alkalischen Erden gerechnet wird,
und Strontiumsuperoxyd SrO2. Seine Verbindungen gleichen denen des
Baryums. Strontianit wurde 1790 durch Crawfurd und Cruikshank vom
Witherit unterschieden; Klaproth wies 1793 die Strontianerde nach,
und das Metall stellte Davy 1808 dar.

Strontiumchlorid (Chlorstrontium) SrCl2 entsteht beim
Lösen von Strontianit (kohlensaurer Strontian) in heißer
Salzsäure, wird aber meist aus Cölestin (schwefelsaurer
Strontian) dargestellt, indem man denselben durch Glühen mit
Kohle in Schwefelstrontium verwandelt und dies mit Salzsäure
zersetzt. Es bildet farblose Kristalle mit 6 Mol. Kristallwasser,
vom spez. Gew. 1,603, schmeckt scharf, bitter, salzig, löst
sich leicht in Wasser und Alkohol, verwittert an der Luft, wird
beim Erhitzen wasserfrei und schmilzt bei 829°. Es färbt
die Alkoholflamme rot und wird in der Feuerwerkerei benutzt.

Strontiumoxyd, s. Strontian.

Strontiumsulfuret (Schwefelstrontium) SrS entsteht, wenn
man Cölestin (schwefelsauren Strontian) mit Kohle heftig
glüht, ist farblos, verhält sich wie Baryumsulfuret (s.
d.) und bildet namentlich auch mit Wasser kristallisierbares
Strontiumsulfhydrat SrSH2S. Das durch Glühen von
schwefelsaurem Strontian mit Kohle erhaltene S. phosphoresziert
nach der Bestrahlung durch Sonnenlicht schwach gelblichgrün.
Erhitzt man aber das Salz in Wasserstoff, so erhält man
grün, blau, violett oder rötlich leuchtende und beim
Glühen von kohlensaurem Strontian mit Schwefel blau oder
smaragdgrün leuchtende Präparate.

Strophäden (jetzt Strivali oder Stamphanäs),
zwei kleine Inseln im Ionischen Meer, südlich von Zante;
galten für den Wohnsitz der Harpyien.

Strophe (griech.), in der Poesie, insbesondere der
lyrischen, die Verbindung mehrerer Verse zu einem metrischen
Ganzen, dessen Maß und Ordnung den einzelnen Teilen eines
Gedichts zu Grunde liegt und sich demnach wiederholt. Man sagt
deshalb: ein Gedicht besteht aus so und so viel Strophen. Bei
den

395

Strophion - Strubberg.

Griechen bildete die S. einen Teil der Chorgesänge auf dem
Theater, die sich in S., Antistrophe ("Gegenstrophe"), die der
erstern genau nachgebildet war, und Epode ("Nachgesang"), mit
eigner metrischer Form, gliederten. Die lyrische Poesie behielt
diese Benennungen bei, wie in den Pindarischen Oden; andre lyrische
Gedichte des Altertums kennen die Epode und Antistrophe nicht,
sondern bestehen aus Strophen mit regelmäßig
wiederkehrendem Metrum. Die Alten teilten die Strophen nach der
Anzahl ihrer Verse in zwei-, drei- und vierzeilige (Distichen,
Tristichen und Tetrastichen) und nach ihren Erfindern und andern
Merkmalen in Alkäische, Sapphische, choriambische und andre
Strophen. Die einzelnen Verse derselben hießen Kola und
bildeten ein andres Einteilungsmerkmal. Strophen, deren Verse ein
gleiches Metrum hatten, galten zusammen nur als ein Kolon und
hießen Monokola; solche, in denen zwei, drei oder vier
Versarten wechselten, Dikola (z. B. das Sapphische Metrum), Trikola
(z. B. das Alkäische Metrum) und Tetrakola. In der Poesie des
Mittelalters und der neuern Zeit betrachtet man neben dem
regelmäßig wiederkehrenden Versmaß besonders die
Einteilung in Aufgesang und Abgesang (s. d.) sowie den Reim als
Prinzip bei der Strophenbildung, während in den
allitterierenden altdeutschen Dichtungen eine strophische
Gliederung noch nicht vorkommt. Erst in der Zeit des deutschen
Minnegesangs entstand eine künstliche Strophenbildung, die
auch auf die epische Poesie ihren Einfluß hatte. Die
bekanntesten Strophen dieser Periode sind: die Nibelungenstrophe,
Hildebrandstrophe, die Titurel- und die fünfzeilige
Neidhartstrophe. Im weitern Verlauf haben die Dichter der neuern
Zeit, von dieser Grundlage des Mittelalters ausgehend, eine
großartige Mannigfaltigkeit in der Strophenbildung
entwickelt. Vgl. Seyd, Beitrag zur Charakteristik und
Würdigung der deutschen Strophen (Berl. 1874).

Strophion (griech.), Stirnbinde der griechischen Frauen
und Priester, auch Gürtel; bei den römischen Frauen ein
Busenband, welches unter den Brüsten zur Aufrechterhaltung
derselben getragen wurde.

Strophulus, Flechtenausschlag bei Kindern.

Stroppen, Stadt im preuß. Regierungsbezirk Breslau,
Kreis Trebnitz, westlich von der Station Gellendorf, hat eine
evang. Kirche und (1885) 749 Einw.

Strosse, stufenförmiger Absatz in einem Grubenbau,
dann auch Abbaustoß beim Strossenbau.

Strossenbau, s. Bergbau, S. 724.

Stroßmayer, Joseph Georg, kroat. Bischof, geb. 4.
Febr. 1815 zu Essek in Slawonien, studierte in Pest Theologie,
empfing 1838 die Priesterweihe und ward Professor am Seminar zu
Diakovár, dann kaiserlicher Hofkaplan und Direktor des
Augustianiums in Wien und 1849 Bischof in Diakovár. Auf dem
vatikanischen Konzil trat er mit ungewöhnlichem Freimut gegen
das Dogma von der päpstlichen Unfehlbarkeit auf und hielt am
längsten von allen Bischöfen seinen Widerspruch aufrecht,
unterwarf sich aber doch und führte 1881 eine slawische
Pilgerschar nach Rom. Hauptsächlich widmete sich S. der
kroatischen Volkssache, ward einer der Führer der kroatischen
Nationalpartei und verwandte seine reichen Einkünfte zur
geistigen Hebung der Nation: er errichtete Volksschulen,
gründete ein Seminar für die bosnischen Kroaten, stellte
das alte nationale Kapitel der Illyrier, San Girolamo degli
Schiavoni in Rom, her, ließ durch A. Theiner "Vetera
monumenta Slavorum meridionalium historiam illustrantia" (Rom 1863)
herausgeben, veranstaltete eine Sammlung der kroatischen Lieder und
Volksbücher, betrieb die Errichtung der Akademie und
Universität zu Agram und baute eine prächtige Kathedrale
in Diakovár. Auch ist er eifrig bemüht, durch Zulassung
der slawischen Liturgie die Südslawen der
römisch-katholischen Kirche zuzuführen.

Strotten, s. v. w. Molken.

Stroud (spr. straud), Stadt in Gloucestershire (England),
südlich von Gloucester, hat Tuch- und Walkmühlen,
Scharlachfärberei und (1881) 7848 Einw.

Strousberg, Bethel Henry (ursprünglich Strausberg),
Finanzmann, geb. 20. Okt. 1823 zu Neidenburg, ging nach dem Tod
seiner Eltern als zwölfjähriger Knabe nach England,
ließ sich dort taufen und legte dabei die früher von ihm
geführten Namen (nach seiner Angabe Bartel Heinrich) ab. Er
trat dort in das Geschäft seiner Oheime, begann für
Journale zu schreiben und wurde Eigentümer von Sharpes "London
Magazine", welches ihm einen erheblichen Gewinn abwarf. Auch war er
für Lebensversicherunggesellschaften thätig. Später
siedelte er nach Berlin über und fand hier 1861 Gelegenheit,
als Vertreter englischer Häuser die Tilsit-Insterburger und
die Ostpreußische Südbahn auszuführen. Dann
übernahm er für eigne Rechnung die Ausführung
folgender Bahnen: der Berlin-Görlitzer, der
Rechte-Oderuferbahn, der Märkisch-Posener, Halle-Sorauer und
Hannover-Altenbekener Bahn, ferner der Brest-Grajewo-, der
Ungarischen Nordostbahn und der rumänischen Eisenbahnen,
zusammen 400 Meilen. Er wandte, da ihm zur Ausführung so
gewaltiger Unternehmungen weder Kapital noch Kredit auch nur
annähernd ausreichend zu Gebote standen, das System an, als
Generalunternehmer die Lieferanten der Bahn durch Aktien zu
bezahlen. Er kaufte ferner die ausgedehnte Herrschaft Zbirow in
Böhmen, die Egestorffsche Lokomotivenfabrik zu Linden bei
Hannover, viele Gruben, Hütten etc. Als 1870 die Koupons der
rumänischen Bahnen nicht eingelöst werden konnten, begann
das Kartenhaus seiner Unternehmungen zusammenzufallen. Er geriet
1875 in Preußen, Österreich und Rußland in
Konkurs, wurde in Moskau verhaftet, nach langem Prozeß zur
Verbannung verurteilt und konnte erst im Herbst 1877 nach Berlin
zurückkehren. In der Haft schrieb er seine Selbstbiographie
("Dr. S. und sein Wirken", Berl. 1876). Auch veröffentlichte
er "Fragen der Zeit", 1. Teil: "Über Parlamentarismus" (Berl.
1877), und eine Denkschrift über den Bau eines
Nordostseekanals (das. 1878). Er starb in großer
Dürftigkeit 31. Mai 1884 in Berlin. Vgl. Korfi, Bethel Henry
S. (Berl. 1870).

Strozzi, Palast, s. Florenz, S. 383.

Strozzi, Bernardo, Maler, genannt il Prete Genovese und
il Cappuccino, geb. 1581 zu Genua, war daselbst, später in
Venedig thätig, wo er 1644 starb. S. malte im naturalistischen
Stil des Caravaggio viele Fresken und Ölbilder, die meist
etwas roh sind, aber kräftiges Leben und feuriges Kolorit
zeigen; besonders vortrefflich sind seine Porträte.

Strubberg, 1) Friedrich August, unter dem Pseudonym
Armand bekannter Schriftsteller, geb. 18. Mai 1808 zu Kassel, trat,
zum Kaufmannsstand bestimmt, in ein amerikanisches Haus in Bremen
ein, durchstreifte dann jahrelang Amerika nach allen Richtungen,
übernahm später unter schwierigen Verhältnissen das
Direktorium des "Deutschen Fürstenvereins in Texas", machte
die Feldzüge gegen Mexiko mit und kehrte 1854 nach Deutschland
zuruck. Er starb 3. April 1889 in Gelnhausen. S. hat seine
Erlebnisse und Beobachtungen in einer Reihe von Werken

396

Strudel - Struensee.

dargelegt, die eine Zwittergattung von Roman und
ethnographischer Schilderung bilden, und von denen die Skizzen "Bis
in die Wildnis" (Berl. 1858, 4 Bde.; 2. Aufl. 1863) das meiste
Aufsehen erregten, der Roman "Sklaverei in Amerika" (Hannov.1862, 3
Bde.) dagegen das meiste poetische Leben hat. Von den übrigen
nennen wir nur: "Amerikanische Jagd- und Reiseabenteuer" (Stuttg.
1858, 2. Aufl. 1876); "An der Indianergrenze" (Hannov. 1859, 4
Bde.), in ethnographischer Hinsicht das lehrreichste Werk, und die
beliebte Jugendschrift "Karl Scharnhorst" (3. Aufl., das. 1887).
Zuletzt veröffentlichte er zwei Dramen: "Der Freigeist"
(Kassel 1883) und "Der Quadrone" (das. 1885).

2) Otto von, preuß. General, geb. 16. Sept. 1821 zu
Lübbecke in Westfalen, wurde im Kadettenkorps erzogen und trat
1839 als Sekondeleutnant in die Armee ein. Nachdem er die
Kriegsakademie besucht hatte, wirkte er 1846-49 als Lehrer am
Kadettenkorps, nahm 1849 am badischen Feldzug teil, ward dann im
topographischen Büreau des Generalstabs beschäftigt und,
nachdem er zwei Jahre zur Erlernung der französischen Sprache
in Paris zugebracht hatte, 1854 als Hauptmann in den Großen
Generalstab versetzt. Er wurde dem Militärgouvernement am
Rhein beigegeben, an dessen Spitze der Prinz von Preußen
(Kaiser Wilhelm I.) stand, und erhielt 1858 den Adelstitel und den
Majorsrang. Im Jahr 1861 wurde er Flügeladjutant des
Königs und Lehrer an der Kriegsakademie. Als Oberstleutnant
gehörte er 1863 der internationalen Militärkommission in
Serbien an, nahm am dänischen Feldzug, namentlich an der
Erstürmung der Düppeler Schanzen, teil, ward 1865 Oberst
und Kommandeur des 4. Gardegrenadierregiments in Koblenz, an dessen
Spitze er 1866 den böhmischen Feldzug mitmachte, und
befehligte 1870-71 die 30. Infanteriebrigade im 8. Korps vor Metz,
bei Amiens, Bapaume und St.-Quentin. Nach Beendigung des Kriegs
organisierte er die Landwehrbehörden in Elsaß-Lothringen
und erhielt 1873 als Generalleutnant das Kommando der 19. Division.
Im November 1880 wurde er zum Generalinspekteur des
Militärerziehungs- und Bildungswesens und 1883 zum General der
Infanterie ernannt.

Strudel, ein Wasserwirbel oder eine Stelle, an der sich
das Wasser kreis- oder spiralförmig nach unten der Tiefe zu
dreht, wobei sich bisweilen in der Mitte eine trichterförmige
Vertiefung bildet. Solche S. haben zur Voraussetzung reißende
Strömungen, wie sie im offenen Meer nirgends vorhanden sind;
sie finden sich auch in engen Meeresstraßen selten vor. Der
Malstrom (s. d.) bei den Lofoten und die Charybdis in der Meerenge
von Messina sind die bekanntesten Wirbel dieser Art, jedoch ist die
Bewegung in denselben keineswegs so verderblich, wie sie von der
Sage dargestellt wird, und bereitet nur kleinen Fahrzeugen
ernstliche Schwierigkeiten. Unterhalb der Niagarafälle und in
den Stromengen des Congo unterhalb Vivi entwickeln sich ebenfalls
derartige S. Der Donaustrudel unterhalb Grein in
Oberösterreich auf der Nordseite der Insel Wörth hat seit
1866 durch Sprengungen seine Gefährlichkeit für die
Schiffahrt verloren. Von besonderm Interesse sind die S., welche
sich in den obern Läufen der Flüsse infolge der
Unebenheiten des Grundes namentlich in Verbindung mit
Wasserfällen und Stromschnellen bilden. Die Erosionswirkung
derselben kennzeichnet sich durch die Bildung von
Strudellöchern oder Riesentöpfen (s.d.).

Strudel, in Bayern und Österreich beliebte
Mehlspeise aus dünn aufgetriebenem Nudel- oder Hefenteig, der,
mit Obst, gewiegtem Fleisch, Schokolade, Krebsen, Mandeln, Mark,
Rosinen etc. bedeckt, zusammengerollt und in einer Kasserolle
gebacken wird.

Strudelwürmer (Turbellaria), s. Platoden.

Struensee, 1) Karl Gustav von, preuß. Minister,
geb. 18. Aug. 1735 zu Halle, Sohn Adam Struensees, des Verfassers
des alten Halleschen Gesangbuchs, Predigers an der Ulrichskirche
daselbst, dann zu Altona, studierte in Halle Mathematik und
Philosophie und wurde 1757 Professor an der Ritterakademie zu
Liegnitz. Hier benutzte er seine Muße, die Anwendung der
Mathematik auf die Kriegskunst zu studieren, und gab
"Anfangsgründe der Artillerie" (3. Aufl., Leipz. 1788) und
"Anfangsgründe der Kriegsbaukunst" (das. 1771-74, 3 Bde.; 2.
Aufl. 1786) heraus, das erste bessere Werk in diesem Fach in
Deutschland. Auf Veranlassung seines Bruders ging er 1769 nach
Kopenhagen, wo er eine Anstellung als dänischer Justizrat und
Mitglied des Finanzkollegiums erhielt. Nach dem Sturz seines
Bruders 1772 wurde er von Friedrich d. Gr. als preußischer
Unterthan reklamiert, so daß man ihn frei in sein Vaterland
entlassen mußte. Nachdem er längere Zeit auf seinem Gut
Alzenau bei Haynau in Schlesien den Wissenschaften gelebt, ward er
1777 zum Direktor des Bankkontors in Elbing ernannt, 1782 als
Oberfinanzrat und Direktor der Seehandlung nach Berlin berufen,
1789 vom König von Dänemark unter Hinzufügung des
Namens v. Karlsbach geadelt und 1791 zum preußischen
Staatsminister und Chef des Accise- und Zolldepartements ernannt.
Obwohl von stattlicher Persönlichkeit und bedeutenden Gaben,
dabei streng rechtlich, vermochte S., durch den Neid und die
Feindseligkeit seiner hochadligen Kollegen behindert, doch nicht
die freisinnigen Reformen im Finanzwesen durchzuführen, welche
er in seinen Schriften empfohlen hatte. Er starb 17. Okt. 1804.
Vgl. v. Held, Struensee (Berl. 1805).

2) Johann Friedrich, Graf von, dän. Minister, Bruder des
vorigen, geb. 5. Aug. 1737 zu Halle, studierte in seiner Vaterstadt
Medizin, ward 1759 Stadtphysikus zu Altona und 1768 Leibarzt und
Begleiter des jungen Königs Christian VII. von Dänemark
auf dessen Reise durch Deutschland, Frankreich und England. Schnell
erwarb er sich die Gunst des Königs und ward 1770 auch mit der
Erziehung des Kronprinzen beauftragt und zum Konferenzrat und
Lektor des Königs und der Königin Karoline Mathilde (s.
Karoline 1) ernannt. Die von ihrem Gatten mit Gleichgültigkeit
behandelte Königin fand bald Interesse an seinem Umgang und
glaubte in ihm den Mann gefunden zu haben, mit dessen Hilfe sie die
ihr abgeneigte dänische Adelsaristokratie stürzen
könnte. Nachdem S. ein besseres Einvernehmen zwischen dem
König und der Königin hergestellt, wußte er die
bisherigen Günstlinge und Minister vom Hof zu entfernen,
zuerst den Grafen von Holck, an dessen Stelle sein Freund Brandt
als königlicher Gesellschafter eintrat, dann auch den
verdienten Minister Grafen Bernstorff, und Ende 1770 hob er den
ganzen Staatsrat auf. Die Königin und S. herrschten nun
unumschränkt, indem sie den schwachen König von den
Staatsgeschäften fern hielten. Bald entspann sich zwischen
ihnen ein näheres Verhältnis. Während Karoline
Mathilde S. zärtlich liebte und ihre Gefühle oft
unvorsichtig verriet, war diesem die Neigung der Königin
besonders deswegen von Wert, weil er sich durch sie in seiner
Machtstellung zu behaupten hoffte. Seine Herrschaft über den
eingeschüchterten König

397

Struktur - Strümpfe.

war so groß, daß er sich schließlich sogar die
Vollmacht erteilen ließ, Kabinettsbefehle ohne
königliche Unterschrift auszufertigen. Es ward ein neues
Ministerium gebildet, S. selbst aber im Juli 1771 zum
Kabinettsminister ernannt. Abweichend von der bisher verfolgten
Politik, suchte S. Dänemark von dem Einfluß
Rußlands frei zu machen und dafür mit dem
stammverwandten Schweden eine enge Verbindung herzustellen. Im
Innern wollte er nach dem Muster Friedrichs II. von Preußen
durch einen aufgeklärten Despotismus gewerbliche
Thätigkeit, Wohlstand und freiheitliche Bildung
begründen. Die Finanzen wurden geordnet, die Abgaben
verringert, viele der Industrie und Handel hemmenden Fesseln
gelöst, Bildungsanstalten gegründet, die strengen
Strafgesetze gemildert, die Folter abgeschafft und alle Zweige der
Verwaltung nach Vernunftgrundsätzen geordnet; doch ging S.
dabei mit zu rücksichtsloser Eile zu Werke, verfeindete sich
mit allen hervorragenden Persönlichkeiten, reizte das Volk
durch Verdrängung der S. unbekannten dänischen Sprache zu
gunsten der deutschen und ward daher als Tyrann verschrien,
insbesondere von der orthodoxen Geistlichkeit. Dazu ward sein
Verhältnis zu der Königin verdächtigt, namentlich
als diese 7. Juli 1771 eine Tochter gebar. An der Spitze der ihm
feindlichen Partei stand die herrschsüchtige Stiefmutter
Christians VII., Juliane Maria, Prinzessin von
Braunschweig-Wolfenbüttel, und an sie schlossen sich mehrere
einflußreiche Männer an, darunter der
Kabinettssekretär Guldberg und der General Rantzau-Aschberg.
Am frühen Morgen des 17. Jan. 1772 drangen diese Verschwornen
in das Schlafzimmer des Königs und zwangen denselben zur
Unterzeichnung des Befehls zur Verhaftung der Königin,
Struensees und Brandts. S. ward in Ketten auf die Citadelle
gebracht und eines Anschlags gegen die Person des Königs, um
ihn zur Abdikation zu zwingen, des strafbaren Umgangs mit der
Königin, der Anmaßung und des Mißbrauchs der
höchsten Gewalt angeklagt. Auf sein Geständnis eines
verbrecherischen Umgangs mit der Königin begab sich eine
zweite Kommission zur Königin nach Kronborg, um aus dieser ein
gleiches Geständnis herauszulocken, was auch gelang. Die
königliche Ehe ward getrennt, S. aber "eines großen,
todeswürdigen Verbrechens wegen" 6. April zu grausamer
Hinrichtung verurteilt. Ebenso lautete das Urteil gegen Brandt als
Genossen Struensees. Nachdem der König das Urteil
bestätigt hatte, erfolgte 28. April 1772 die Exekution, indem
ihnen erst die rechte Hand, dann der Kopf abgeschlagen und der
Rumpf zerstückelt wurde. Beide Verurteilte fielen dem
Haß der von ihnen schwer beleidigten Adelsaristokratie zum
Opfer. Michael Beer und Heinrich Laube machten Struensees Schicksal
zum Gegenstand gleichnamiger Trauerspiele. Bouterwek lieferte einen
seiner Zeit anerkannten Roman. Vgl. Höst, Geheimer
Kabinettsminister Graf J. F. S. und sein Ministerium (deutsch,
Kopenh. 1826); Jenssen-Tusch, Die Verschwörung gegen Karoline
Mathilde von Dänemark und die Grafen S. und Brandt (Jena
1864); Wittich, Struensee (Leipz. 1878).

3) Gustav Otto von (pseudonym Gustav vom See),
Romanschriftsteller, geb. 13. Dez. 1803 zu Greifenberg in Pommern,
studierte zu Bonn und Berlin die Rechte, ward 1834 Regierungsrat in
Koblenz und 1847 Oberregierungsrat in Berlin. Er starb 29. Sept.
1875 in Breslau. Unter seinen ältern Romanen (gesammelt Bresl.
1867-69, 18 Bde.; neue Ausg. 1876, 6 Bde.) verdienen "Die Egoisten"
(1853), "Vor fünfzig Jahren" (1859) und "Herz und Welt" (1862)
hervorgehoben zu werden. Seine stärkste Produktivität
entfaltete der talentvolle und gebildete Erzähler in den
letzten Jahrzehnten seines Lebens, wo er unter andern die Romane:
"Wogen des Lebens" (Bresl. 1863, 3 Bde.), "Gräfin und
Marquise" (Leipz. 1865, 4 Bde.) mit der Fortsetzung "Ost und West"
(Bresl. 1865, 4 Bde.), "Arnstein" (das. 1868, 3 Bde.), "Valerie"
(das. 1869, 4 Bde.), "Falkenrode" (Hannov. 1870, 4 Bde.), "Krieg
und Friede" (Berl. 1872, 4 Bde.), "Gänseliese" (Hannov. 1873,
3 Bde.), "Ideal und Wirklichkeit" (das. 1875, 3 Bde.), "Erlebt und
erdacht", Novellen (das. 1875, 2 Bde.), "Die Philosophie des
Unbewußten" (das. 1876, 3 Bde.) etc. erscheinen
ließ.

Struktur (lat. structura), die Art und Weise der
äußern und innern Zusammenfügung eines zu einem
Ganzen aus einzelnen, verschiedenartigen Teilen verbundenen
Körpers; insbesondere in der Geologie das innere Gefüge
der Gesteine, wie es durch die Form, die gegenseitige Lage, die
Verteilung und die Art der Verbindung der Gesteinselemente und der
accessorischen Bestandteile bedingt wird; über die einzelnen
Strukturformen vgl. Gesteine.

Struma, s. Kropf.

Struma (Karasu, der alte Strymon), Fluß in der
europ. Türkei, entspringt in Bulgarien am Westabhang der
Witosch (Skomios), bildete im Altertum die Ostgrenze Makedoniens
und mündet nach ca. 300 km langem Lauf in den Golf von Orfani
(Strymonischer Meerbusen), nachdem er kurz vorher den See Tachyno
(Kerkine im Altertum) durchflossen hat.

Strumiza (Strumdscha), Stadt im türk. Wilajet
Saloniki, am Flusse S. (Nebenfluß des Struma), Sitz eines
griechischen Erzbischofs, mit altem Schloß, 6 Moscheen und
ca. 15,000 Einw., von denen etwa die Hälfte Mohammedaner.

Strümpell, Ludwig, Philosoph und Pädagog, geb.
23. Juni 1812 zu Schöppenstädt im Braunschweigischen,
studierte zu Königsberg (unter Herbart) Philosophie und
Pädagogik, wurde Erzieher in Kurland, habilitierte sich 1843,
wurde 1844 außerordentlicher, 1849 ordentlicher Professor der
Philosophie und Pädagogik an der russischen Universität
Dorpat, siedelte 1871 als kaiserlich russischer Staatsrat a. D.
nach Leipzig über, wo er als Honorarprofessor der Philosophie
thätig ist. Von seinen zahlreichen, im Geist Herbarts
verfaßten Schriften sind hervorzuheben: "Erläuterungen
zu Herbarts Philosophie" (Götting. 1834); "Die Hauptpunkte der
Herbartschen Metaphysik" (Braunschw. 1840); "Vorschule der Ethik"
(Mitau 1844); "Entwurf derLogik" (das. 1846); "Der
Kausalitätsbegriff und sein metaphysischer Gebrauch in der
Naturwissenschaft" (Leipz. 1872); "Die Geisteskräfte der
Menschen, verglichen mit denen der Tiere" (gegen Darwin, das.
1878); "Psychologische Pädagogik" (das. 1880); "Grundriß
der Logik" (das. 1881); "Grundriß der Psychologie" (das.
1884); "Einleitung in die Philosophie vom Standpunkt der Geschichte
der Philosophie" (das. 1886). Die "Geschichte der griechischen
Philosophie" (Leipz. 1854-61, 2 Bde.) blieb unvollendet. - Sein
Sohn Gustav Adolf, geb. 28. Juni 1853, seit 1886 ordentlicher
Professor der Medizin in Erlangen, schrieb: "Lehrbuch der
speziellen Pathologie und Therapie der innern Krankheiten" (5.
Aufl., Leipz. 1889, 2 Bde.).

Strümpfe (franz. Bas [de chausses]) waren anfangs
von Leder oder Wollenzeug genäht und mit den Hosen verbunden
(Strumpfhosen). Gestrickte, von den Beinkleidern getrennte S.
sollen erst im 16. Jahrh. und zwar zuerst in England in Gebrauch
gekommen sein. Man sagt, Königin Elisabeth sei die erste
gewesen,

398

Strumpfwaren - Struve.

die sich ihrer bediente. Indes besaß schon ihr Vater
Heinrich VIII. ein Paar gestrickte seidene Beinkleider (tricots),
die er aus Spanien zum Geschenk erhalten haben soll, und die damals
noch für ein seltenes Prachtstück galten. Ende des 16.
Jahrh. waren S. von farbiger und weißer Seide (filet de
Florence) mit gestickten Zwickeln schon weiter verbreitet. S. als
Ornatstück der Bischöfe, violettblau von Farbe, waren
genäht, anfangs aus Leinen, später aus Seide oder Samt.
Strumpfbänder kamen ebenfalls bereits in der zweiten
Hälfte des 16. Jahrh. auf und wurden bald kostbar verziert. Im
18. Jahrh. wurden Strumpfbänder aus Gold- oder Silberstoff mit
Metallschnallen auch von Männern zur Befestigung der Kniehosen
und S. getragen.

Strumpfwaren, s. Wirkerei.

Strunk (Stipes), kurzer, dicker Stengel; insbesondere der
Stiel der Hutpilze (s. Pilze, S. 71).

Strunkschwamm, s. Sparassis.

Struthio, Strauß; Struthionidae (Strauße),
Familie aus der Ordnung der Straußvögel.

Struve, 1) Friedrich Adolf August, Begründer der
Mineralwasserfabrikation, geb. 9. Mai 1781 zu Neustadt bei Stolpen,
studierte seit 1799 in Leipzig und Halle Medizin, ließ sich
1803 in seiner Vaterstadt als Arzt nieder, kaufte 1805 die
Salomonisapotheke in Dresden und bemühte sich fortan um die
künstliche Nachbildung der Mineralwässer, die er zu
großer Vollkommenheit brachte. Er richtete viele Anstalten
für Mineralwässerfabrikation ein und starb 29. Sept. 1840
in Berlin. Er schrieb: "Über Nachbildung der natürlichen
Heilquellen" (Dresd. 1824-1826, 2 Hefte). - Sein Sohn Gustav Adolf,
geb. 11. Jan. 1812 zu Dresden, studierte in Berlin, hielt dann in
Dresden Vorlesungen über Chemie und übernahm die Leitung
der väterlichen Geschäfte, die er wesentlich ausdehnte.
Er bereitete auch neue Mineralwässer, indem er Chemikalien in
reinem, mit Kohlensaure imprägniertem Wasser löste, u.
schuf auf diese Weise sehr wertvolle Arzneiformen. Er starb 21.
Juli 1889 in Schandau, nachdem er 1880 die Leitung der
Geschäfte seinem Sohn Oskar, geb. 5. Juli 1838 zu Dresden,
gest. 28. Nov. 1888 in Leipzig, übergeben hatte.

2) Friedrich Georg Wilhelm von, Astronom, geb. 15. April 1793 zu
Altona, studierte 1808-11 in Dorpat erst Philologie, dann
Astronomie, ward 1813 Observator und 1817 Direktor der Sternwarte
zu Dorpat, 1839 Direktor der neu erbauten Nikolai-Zentralsternwarte
zu Pulkowa bei St. Petersburg. Er widmete sich vorzugsweise der
Beobachtung der Doppelsterne und veröffentlichte:
"Observationes Dorpatenses" (Dorp. 1817-39, 8 Bde.) sowie
"Catalogus novus stellarum duplicium" (das. 1827), "Stellarum
duplicium mensurae micrometricae" (Petersb. 1831) und "Stellarum
fixarum, imprimis compositarum positiones mediae" (das. 1852); er
bestimmte ferner die Parallaxe von a [alpha] Lyrae und gab
Untersuchungen über den Bau der Milchstraße in den
"Études d'astronomie stellaire" (das. 1847). Ferner
organisierte S. die sämtlichen russischen Sternwarten,
führte 1816-19 eine Triangulation Livlands aus und leitete
1822-52 die große russisch-skandinavische, einen
Meridianbogen von 25° 20' umfassende Gradmessung, über
welche er in "Arc du méridien entre le Danube et la Mer
Glaciale" (Petersb. 1857-60, 2 Bde.) berichtet hat, wie auch die
Ausführung eines Nivellements zwischen dem Kaspischen und
Schwarzen Meer (1836-37), dessen Bearbeitung durch S. 1841
erschien, und geographische Ortsbestimmungen in Sibirien, der
europäischen und asiatischen Türkei. Nach schwerer
Krankheit im J. 1858 übergab er 1862 sein Amt seinem Sohn Otto
Wilhelm (s. unten) und starb 23. (11.) Nov. 1864 in Petersburg.
Ausgezeichnet war die Beobachtungsgabe Struves und das Geschick,
Beobachtungsfehler zu ermitteln und unschädlich zu machen. Er
wurde zum Wirklichen Staatsrat ernannt und geadelt.

3) Otto Wilhelm von, Astronom, Sohn des vorigen, geb. 7. Mai
1819 zu Dorpat, wurde 1837 Gehilfe des Vaters daselbst, dann in
Pulkowa, später zweiter Astronom und Vizedirektor, 1862
Nachfolger seines Vaters. Er war auch 1847-62 beratender Astronom
des russischen Generalstabs, dessen astronomisch-geodätische
Arbeiten er leitete, lieferte eine neue Bestimmung der
Präzessionskonstanten (1841), eine Durchmusterung des
nördlichen Himmels, welche 500 neue Doppelsternsysteme ergab,
Arbeiten über den Saturn und dessen Ringe, Bestimmung der
Masse des Neptun, entdeckte einen innern Uranustrabanten,
ermittelte die Parallaxe verschiedener Fixsterne, machte
Beobachtungen über die Veränderlichkeit im Nebel des
Orion und kleiner, in demselben verteilter Sterne und veranstaltete
zahlreiche Beobachtungen über Kometen, Doppelsterne und Nebel.
1851 wies er bei Gelegenheit der Sonnenfinsternis nach, daß
die Protuberanzen dem Sonnenkörper angehören, auch
beteiligte er sich an der Gradmessung, die sich über 69
Längengrade zwischen Valentia in Irland und Orsk an der
asiatischen Grenze erstreckt. Er schrieb: "Übersicht der
Thätigkeit der Nikolai-Hauptsternwarte während der ersten
25 Jahre ihres Bestehens" (Petersb. 1865) und gab heraus:
"Observations de Poulkowa" (das. 1869-87, 12 Bde.).

4) Gustav von, republikan. Agitator und Schriftsteller, geb. 11.
Okt. 1805 in Livland, studierte die Rechte in Deutschland und ward
dann oldenburgischer Gesandtschaftssekretär zu Frankfurt a.
M., ging aber bald als Advokat nach Mannheim. Seine Muße
widmete er phrenologischen Studien, als deren Früchte eine
"Geschichte der Phrenologie" (Heidelb. 1843) und ein "Handbuch der
Phrenologie" (Leipz. 1845) erschienen. Auch redigierte er das
"Mannheimer Journal" und ward infolge der oppositionellen Haltung
dieses Blattes wiederholt zu Gefängnisstrafe verurteilt. 1846
gründete er den "Deutschen Zuschauer". Nach der Pariser
Februarrevolution machte er im April 1848 im badischen Seekreis mit
Hecker den bewaffneten Putsch zur Einführung der Republik und
floh nach dessen Mißlingen in die Schweiz. Ein bewaffneter
Einfall, den er 21. Sept. mit andern politischen Flüchtlingen
auf badisches Gebiet machte, mißglückte wieder, und er
selbst ward nach dem Treffen bei Staufen 25. Sept. im Amtsbezirk
Säckingen verhaftet und vom Schwurgericht zu Freiburg 30.
März 1849 wegen versuchten Hochverrats zu 5 1/3 Jahren
Einzelhaft verurteilt und zu deren Abbüßung nach
Bruchsal abgeliefert. Infolge der badischen Volkserhebung schon 24.
Mai wieder frei geworden, beteiligte er sich in Mieroslawskis
Hauptquartier an derselben und entfloh nach dem Scheitern dieses
neuen Aufstandes in die Schweiz, von da im April 1851 nach New
York, wo er seine "Allgemeine Weltgeschichte" im radikalen Sinn
(New York 1853-60, 9 Bde.; 8. Abdruck, Koburg 1866) schrieb. Im
nordamerikanischen Bürgerkrieg machte er als Offizier in einem
New Yorker Regiment die Feldzüge von 1861 und 1862 mit, kehrte
aber im Sommer 1863 nach Europa zurück und lebte in Koburg,
seit 1869 in Wien, wo er 21. Aug. 1870 starb. Von seinen
übrigen Schriften sind zu erwähnen: "Politische Briefe"
(Mannh. 1846);

399

Struvit - Stuart.

"Grundzüge der Staatswissenschaft" (Frankf. 1847 bis 1848,
4 Bde.); "Das öffentliche Recht des Deutschen Bundes" (Mannh.
1846, 2 Bde.); "Geschichte der drei Volkserhebungen in Baden" (Bern
1849); "Das Revolutionszeitalter" (New York 1860, 7. Aufl. 1864);
"Diesseit und jenseit des Ozeans" (Koburg 1864, 4 Hefte);
"Geschichte der Neuzeit" (7. Aufl., das. 1864); "Die Pflanzenkost,
die Grundlage einer neuen Weltanschauung" (Stuttg. 1869); "Das
Seelenleben des Menschen" (Berl. 1869). - Seine Frau Amalie S.,
geborne Düsar, welche sich an den republikanischen
Unternehmungen ihres Mannes eifrig beteiligte und, gleichzeitig mit
diesem arretiert, bis 16. April 1849 in Haft blieb, schrieb:
"Erinnerungen aus den badischen Freiheitskämpfen" (Hamb. 1850)
und "Historische Zeitbilder" (Brem. 1850, 3 Bde.). Sie starb im
Februar 1862 in New York.

Struvit (Guanit), Mineral aus der Ordnung der Phosphate,
findet sich in rhombischen, ausgezeichnet hemimorph entwickelten
Kristallen, ist im frischen Zustand gelblich oder bräunlich,
glasglänzend, halbdurchsichtig bis undurchsichtig, Härte
1,5-2, spez. Gew. 1,66-1,75, zerfällt bei der Verwitterung in
ein weißes Pulver und besteht aus wasserhaltiger,
phosphorsaurer Ammoniakmagnesia (NH4)MgPO4+6H2O. S. ist hier und da
als ein offenbar sehr junges Produkt an Orten gefunden worden, an
denen menschliche oder tierische Abfallstoffe sich aufhäuften,
so unter der Nikolaikirche in Hamburg, in den Abzugskanälen
einer Dresdener Kaserne, zu Braunschweig und Kopenhagen, auch im
Guano (Guanit) der afrikanischen Küste und bei Ballarat in
Australien.

Strychuin C21H22N2O2, Alkaloid, findet sich neben Brucin
in den Brechnüssen (Krähenaugen) von Strychnos nux vomica
(0,28-0,5 Proz.) und in der Rinde dieses Baums (falsche
Angosturarinde), in den Ignatiusbohnen von S. Ignatii (1,5 Proz.),
im Schlangenholz von S. colubrina, in der Wurzelrinde von S.
Tieuté und dem daraus bereiteten Pfeilgift. Zur Darstellung
fällt man wässerigen Auszug von Krähenaugen mit
Alkohol, das verdampfte und wieder gelöste Filtrat mit
Kalkmilch, extrahiert den Niederschlag mit Alkohol, verdampft,
entfernt aus dem Rückstand das Brucin mit kaltem Weingeist und
reinigt das S. durch Umkristallisieren. S. bildet farb- und
geruchlose Kristalle, schmeckt äußerst bitter, hinterher
metallisch, ist sehr schwer löslich in Wasser, Alkohol und
Äther, etwas leichter in Chloroform, Benzol, zersetzt sich vor
dem Schmelzen bei 312°, ist nur in sehr geringen Mengen
sublimierbar, reagiert alkalisch und bildet meist
kristallisierbare, äußerst bitter schmeckende Salze, von
denen das salpetersaure S. C21H22N2O2.HNO3 in Wasser und Alkohol
schwer löslich ist. S. ist eins der stärksten Gifte und
wirkt besonders auf die motorischen Teile des Nervensystems; sehr
geringe Mengen erzeugen Starrkrampf, und meist wird durch Teilnahme
der Brustmuskeln an dem Starrkrampf schnell der Tod durch
Erstickung herbeigeführt. Morphium, Blausäure, Akonitin,
Curare und namentlich Chloralhydrat wirken dem S. entgegen. Vgl.
Falck, Die Wirkungen des Strychnins (Leipz. 1874).

Strychnos L., Gattung aus der Familie der Loganiaceen,
Bäume und (oft hoch schlingende) Sträucher, zum Teil
bewehrt, mit gegenständigen, kurzgestielten, ganzrandigen
Blättern, weißen oder grünlichen, häufig
wohlriechenden Blüten in achsel- oder endständigen,
dichten und fast kopfigen oder in kleinen, trugdoldigen oder in
rispigen Dichasien und meist kugeligen Beeren. Etwa 60 durchweg
tropische Arten. S. nux vomica L. (Krähenaugenbaum,
Brechnußbaum, s. Tafel "Arzneipflanzen II"), ein Baum mit
kurzem, dickem Stamm, eiförmigen, kahlen Blättern,
endständigen Trugdolden und großer, kugeliger,
orangefarbener, mehrsamiger Beere, in deren weißer,
gallertartiger Pulpa 1-8 Samen liegen, wächst in Ostindien,
besonders auf der Koromandelküste, auch auf der
Malabarküste, auf Ceylon, in Siam, Kotschinchina und
Nordaustralien und liefert in den Samen die offizinellen
Krähenaugen (Brechnüsse, Semen Strychni, Nux vomica).
Diese sind flach kreisrund, bis 3 cm breit und 0,5 cm dick,
graugelb, anliegend behaart und dadurch glänzend, mit
warzenförmig erhöhtem Mittelpunkt, schwer zu pulvern und
zu schneiden, schmecken sehr stark und anhaltend bitter und wirken
höchst giftig. Sie enthalten Strychnin, Brucin (und Igasurin),
gebunden an Igasursäure, und werden hauptsächlich als
Stomachikum bei Dyspepsie, Diarrhöe und Obstipation benutzt.
In den Arzneischatz wurden sie vielleicht durch die Araber
eingeführt und in Deutschland durch Valerius Cordus, Bauhin
und Geßner im 16. Jahrhundert näher bekannt. Die
schwärzlich aschgraue Rinde des Baums kam zu Anfang dieses
Jahrhunderts, der Angosturarinde beigemischt, in den Handel
(falsche Angosturarinde), ist jetzt aber wieder völlig
verschwunden. S. Tieuté Lesch. (Upasstrauch, Tschettek) ist
eine 25-30 m lange, einfache, astlose, armdicke Schlingpflanze,
welche mit ihren Ranken in den Urwäldern Javas die Bäume
erklettert, und aus deren Wurzelrinde ein furchtbares Pfeilgift,
das Upas-Tieuté, dargestellt wird. S. toxicaria Schomb.,
eine Schlingpflanze Guayanas, welche mit beindicken Gewinden andre
Stämme umschlingt, ferner S. Gobleri Planch. am Orinoko, S.
Castelnoeana Wedd. am obern Amazonas, S. Schomburgkii Kl., S.
cogens Beuth. und S. Crevauxii Planch. in Guayana liefern Curare.
S. potatorum L. (Atschier) ist ein Baum Indiens, dessen
Früchte von der Größe einer Kirsche und
genießbar sind, und dessen Samen (Klärnüsse)
schlammiges Wasser klar und trinkbar machen sollen. S. colubrina L.
(Schlangenholzbaum), ein Schlingstrauch in Ostindien etc., liefert
das Schlangenholz, welches gegen Schlangenbiß benutzt
wird.

Stryi, Stadt in Galizien, am Flusse S. (Nebenfluß
des Dnjestr), Knotenpunkt der Staatsbahnlinien Zagorz-Husiatyn und
Lemberg-Lawoczne, ist Sitz einer Bezirkshauptmannschaft und eines
Bezirksgerichts, hat eine römisch-katholische und eine
griechisch-kath. Kirche, ein Schloß, ein Realgymnasium,
Dampfsäge, Gerberei und (1880) 12,625 Einw. (darunter 5450
Juden). S. ist 1886 größtenteils abgebrannt.

Strymon, Fluß, s. Struma.

Strzelecki (spr. -letzki), Paul Edmund, Graf von,
austral. Entdeckungsreisender, geb. 1796 in Preußen, wurde in
England erzogen und machte die ausgedehntesten Reisen in Nord- und
Südamerika, Westindien etc. Er besuchte die Südseeinseln,
Java, Teile von China, Ostindien und Ägypten, entdeckte 1840
die Gegend südlich von den Australischen Alpen, welche er
Gippsland benannte, erforschte die Blauen Berge von
Neusüdwales und 1841 und 1842 noch Vandiemensland; starb 6.
Okt. 1873 in London. Er schrieb "Physical description of New South
Wales and Van Diemen's Land" (Lond. 1845).

Stuart (spr. stjuh-ert), altes Geschlecht in Schottland,
das diesem Reich und England eine Reihe von Königen gegeben
hat. Es stammt von einem Zweig der anglo-normännischen Familie
Fitz-Alan ab, der sich in Schottland niederließ und unter
David I. die

400

Stuart - Stubbs.

erbliche Würde des Reichshofmeisters (steward, daher der
Name S.) erwarb. Walter S. heiratete um 1315 eine Tochter des
schottischen Königs Robert I. Bruce, auf deren Nachkommen nach
dem Erlöschen des königlichen Mannesstamms die Thronfolge
in Schottland überging. Als Roberts I. Sohn David II. 1370
ohne männliche Erben starb, bestieg Walter Stuarts Sohn als
Robert II. den schottischen Thron und ward der Gründer der
Dynastie, welche nach dem Ableben der Königin Elisabeth von
England mit Jakob VI. (I.), dem Sohn der Maria S., (1603) auch die
Krone dieses Reichs erhielt. Von einem Seitenzweig der Stuarts
stammen die Grafen von Lennox her, welche infolge der
Vermählung des Matthew S., Grafen von Lennox, mit Margarete
Douglas, einer Enkelin Heinrichs VII. von England, auch auf den
englischen Thron Ansprüche erwarben. Der Sohn dieser Ehe war
Heinrich Darnley (s. d.), der Gemahl der Maria S. und Vater
König Jakobs I. von England. Als mit dessen Enkel Jakob II.
(s. d.) der Mannesstamm der Stuarts 1688 aus England vertrieben
worden war, beschäftigten diese die öffentliche
Aufmerksamkeit nur noch durch die fruchtlosen Versuche, die
verlornen Reiche wiederzuerlangen. Diese nahm zuerst Prinz Jakob
Eduard, der Prätendent, der sich Jakob III. nannte und 1766
starb, dann dessen ältester Sohn, Karl Eduard, auf. Derselbe
lebte nach der Schlacht bei Culloden (1746), die seinen
Unternehmungen in Schottland ein Ziel setzte, als Graf von Albany
in Italien und starb kinderlos 31. Jan. 1788 in Rom. Weiteres
über ihn s. Karl 28). Er war mit der Tochter des Prinzen
Gustav Adolf von Stolberg-Gedern, Luise Maria Karoline (gest. 1824,
s. Albany, Gräfin), vermählt. Sein einziger Bruder,
Heinrich Benedikt, der 1747 die Kardinalswürde erhielt, lebte
zuletzt von einem Jahrgeld, welches ihm vom britischen Hof gezahlt
wurde, in Venedig und starb 13. Juli 1807 in Frascati, nachdem er
seine Ansprüche auf den britischen Thron auf Karl Emanuel II.
von Sardinien vererbt hatte. König Georg IV. ließ ihm in
der Peterskirche zu Rom von Canova ein Denkmal errichten. Seine
Familienpapiere kaufte die britische Regierung an und ließ
sie veröffentlichen ("S. papers", Lond. 1847). Von
Nebenzweigen des Stuartschen Stammes leben noch zahlreiche Glieder
in Schottland, England und Irland. Vgl. Vaughan, Memorials of the
S. dynasty (Lond. 1831, 2 Bde.); Klopp, Der Fall des Hauses S.
(Wien 1875-87, 14 Bde.).

Stuart (spr. stjuh-ert), 1) John Mac Douall, austral.
Entdeckungsreisender, geb. 1818 in Schottland, begleitete Sturt
1844-46 auf seiner Expedition und erforschte 1858 mit nur Einem
Begleiter einen großen Teil des Landes zwischen dem
Torrenssee und der Westgrenze von Südaustralien. 1859
unternahm er zwei neue Forschungsreisen ebenfalls in der Umgegend
der Torrenssees, versuchte dann 1860 von Süden aus den
Kontinent nach dem Norden zu durchwandern, erreichte 1861 zum
zweitenmal den 17.° südl. Br. und drang endlich bis zur
Nordküste durch, die er 24. Juli 1862 am Vandiemengolf
erreichte. Er starb 5. Juni 1866 in Nottingham Hill. Seine
Forschungen erschienen unter dem Titel: "Explorations in Australia"
(2. Aufl., Lond. 1864).

2) James E. B., amerikan. General, geb. 6. Febr. 1833 in Patrick
County (Virginia), wurde zu West Point ausgebildet, trat 1855 als
Offizier in ein Reiterregiment, ging beim Ausbruch des
Bürgerkriegs (1861) zu den Konföderierten über und
wurde Oberst eines Reiterregiments. Er zeichnete sich durch seine
kühnen Unternehmungen in der Flanke und im Rücken des
Feindes aus, erhielt bald als General den Befehl über ein
Reiterkorps, befehligte 1863 den linken Flügel des
südstaatlichen Heers, ward aber schon 11. Mai 1864 im Gefecht
bei Yellow Tavern gegen Sheridan schwer verwundet und starb 12. Mai
in Richmond. Vgl. Mac Clellan, Life and campaigns of Major-General
J. E. B. S. (Bost. 1886).

Stuart de Rothesay (spr. roth-sse), Charles, Lord, brit.
Diplomat, geb. 2. Jan. 1779, ward 1808 bei der Gesandtschaft in
Spanien angestellt, 1810 zum englischen Bevollmächtigten bei
der provisorischen Regierung in Lissabon ernannt und fungierte
sodann als Botschafter von 1815 bis 1820 und 1828 bis 1830 zu Paris
und von 1840 bis 1844 zu St. Petersburg. 1824 brachte er in Rio de
Janeiro den Vertrag zu stande, durch den die Unabhängigkeit
Brasiliens von Portugal bestätigt war. Seit 1828 war er
britischer Peer; seine Verdienste um Portugal erwarben ihm die
Titel eines Grafen von Machico und Marquis von Angoa. Er starb 6.
Nov. 1845 auf seinem Landsitz Highcliff in Hampshire.

Stub, Ambrosius, dän. Dichter, geb. 1705,
absolvierte 1725 die Schule zu Odense, kam aber nicht weiter
vorwärts und mußte lange Zeit sein Brot als Bibliothekar
und Schreiber von Gutsbesitzern auf Fünen verdienen, welche
nicht selten in brutalem Übermut ihren Scherz mit ihm trieben.
Schließlich kam er nach Ribe, wo er 1758 als armer
Schulmeister starb. S. hat eine Menge Gedichte und Lieder
geschrieben, von denen einige von der finstern religiösen
Stimmung der Zeit beeinflußt zu sein scheinen, während
andre reizend und zierlich im Schäferstil der Zeit gehalten
sind oder von Scherz und Lebenslust strotzen. Solange er lebte,
unbeachtet geblieben, fanden sie nach seinem Tod (zum erstenmal
gedruckt 1771) allgemeinen Beifall und die weiteste Verbreitung,
und jetzt wird S. mit Recht als Vater der neuern dänischen
Lyrik betrachtet. Eine neue Ausgabe seiner "Samlede Digte" mit
Biographie besorgte Fr. Barfod (5. Aufl., Kopenh. 1879).

Stubai, linkes, vom Rutzbach durchströmtes
Seitenthal der Sill in Nordtirol, Bezirkshauptmannschaft Innsbruck,
mit (1880) 4246 Einw., die besonders Viehzucht und Fabrikation von
Eisen-, Blech- und Stahlwaren betreiben, und den Hauptorten:
Mieders (mit Bezirksgericht), Vulpmes und Neustift. S. gibt den
Stubaier Alpen ihren Namen, die einen Hauptteil der Ötzthaler
Gruppe (s. Ötzthal) bilden und im Zuckerhütl (3508 m)
kulminieren. Vgl. Pfaundler und Barth, Die Stubaier Gebirgsgruppe
(Innsbr. 1865).

Stübbe, s. Kohlenklein.

Stubbenkammer, s. Rügen.

Stubbs (spr. stöbbs), William, namhafter engl.
Geschichtschreiber, geb. 21. Juni 1825 zu Knaresborough in Essex,
studierte zu Oxford, wurde 1848 Geistlicher, 1862 Bibliothekar zu
Lambeth, 1866 Professor der neuern Geschichte zu Oxford und 1869
Kurator der großen Bodleyschen Bibliothek daselbst. 1875
erhielt er die Pfründe des Rektorats zu Cholderton und ward
1884 Bischof von Chester. Abgesehen von einer großen Anzahl
von meist mustergültigen Ausgaben mittelalterlicher Chroniken
und Urkunden, hat er sich besonders durch seine "Constitutional
history of England" (2. Aufl., Oxf. 1875-78, 3 Bde.) bedeutende
Verdienste erworben, außerdem "Select charters and other
illustrations of English history" (1870) und "Lectures on study of
mediaeval and modern history" (das. 1886) veröffentlicht.

401

Stübchen - Stuck

Stübchen, altes Flüssigkeitsmaß im
nördlichen und westlichen Deutschland, in Hamburg = 3,62 Lit.,
in Hannover = 3,89 L., in Bremen = 3,22 L.

Stuben (ungar. Stubnya), höchst gelegener ungar.
Badeort im Komitat Turocz, Eigentum der nahen Stadt Kremnitz, mit
alkalisch-salinischen, bei Rheuma, Gicht und Hautkrankheiten
wirksamen Thermen von 46,5° C. S. ist Station der Ungarischen
Staatsbahn.

Stubenarrest, s. Arrest.

Stubenfliege, s. Fliegen, S. 373.

Stubensandstein, s. Triasformation.

Stubenvögel (Käfigvögel, hierzu Tafel
"Ausländische Stubenvögel"). Die Liebhaberei für S.
ist uralt. In Indien, Japan und China richtet man schon seit
Jahrtausenden kleine Vögel zu Kampfspielen ab. Alexander d.
Gr. brachte den ersten Papagei von seinem Zug aus Asien mit, und
auch später haben bei Eroberungen und Entdeckungen
prächtige Schmuckvögel die Triumphzüge der
Heimkehrenden verherrlichen müssen. Aus Amerika, wo die
Peruaner seit alten Zeiten Papageien zähmten, brachte Kolumbus
diese Vögel nach Europa. In Deutschland fanden der Fink und
der Dompfaff in manchen Landstrichen, wie in Tirol, im Harz und in
Thüringen, begeisterte Freunde, und dem Vogelmarkt, der sich
in manchen Städten, wie namentlich in Berlin,
außerordentlich entwickelte, verdankt auch die Wissenschaft
manche Bereicherung. Viel größere Verbreitung als irgend
ein heimischer Vogel fand aber der Kanarienvogel, dem sich seit dem
Beginn des vorigen Jahrhunderts andre überseeische Sing- und
Schmuckvögel anschlossen. Schon 1790 gab Vieillot ein
besonderes Werk über dieselben heraus. Zu Bechsteins Zeit
wurden 72 Arten fremdländischer Vögel nach Deutschland
eingeführt, und 1858 gab Bolle ein Verzeichnis von 51 Arten.
Zehn Jahre später nahm aber diese Liebhaberei einen ganz
außerordentlichen Aufschwung, und wenn damals die Zahl der
eingeführten Arten auf 250 veranschlagt werden konnte, so hat
sich dieselbe bis 1878 auf nahezu 700 gesteigert. Neben den
Singvögeln, wie Spottdrossel und andre Drosseln,
Grasmücken, Finken, Starvögel, Bülbüls etc.,
spielen gegenwärtig besonders die Prachtfinken (Astrilds und
Amadinen), Witwenvögel (Widafinken), Weber, Reisvogel,
Tangaren, Sonnenvogel, Dominikanerfink, Kardinal und Papageien die
größte Rolle und erregen ein besonderes Interesse
dadurch, daß sie in der Gefangenschaft leicht zur Brut
schreiten. Die Tafel zeigt eine Auswahl der beliebtesten
ausländischen S. Man züchtet sie vielfach in sogen.
Vogelstuben oder Heckkäfigen, und der Handel mit den bei uns
gezüchteten fremdländischen Vögeln erreicht bereits
einen namhaften Betrag. Trotz der großen Mannigfaltigkeit der
fremdländischen sind aber auch die einheimischen Vögel
noch immer ein bedeutsamer Gegenstand der Liebhaberei. Sprosser,
Nachtigall, Schwarzplättchen, von Südeuropa her Stein-
und Blaudrossel sind von großer Wichtigkeit für den
Vogelhandel, dann nicht minder verschiedene Grasmücken, Rot-
und Blaukehlchen, Meisen, Drosseln, Hänfling, Stieglitz,
Edelfink, Gimpel u. a. m., welche auch zugleich zahlreich nach
Nordamerika und andern Weltteilen ausgeführt werden.
Neuerdings züchtet man auch vielfach einheimische Finken und
selbst Insektenfresser in Volieren und Vogelstuben. - Was die
Gesundheitszeichen aller S. betrifft, so ist darüber folgendes
zu sagen: jeder Vogel muß munter und frisch aussehen,
natürliche Lebhaftigkeit, glatt anliegendes, am Unterleib
nicht beschmutztes Gefieder, nicht trübe oder matte Augen,
nicht verklebte oder schmutzige Nasenlöcher, keinen spitz
hervortretenden Brustknochen haben; er darf nicht traurig, struppig
oder aufgebläht dasitzen und nicht kurzatmig sein;
abgestoßenes Gefieder, fehlender Schwanz und beschmutzte
Federn bergen nicht immer Gefahr, doch muß bei
Wurmvögeln dann wenigstens ein voller Körper vorhanden
sein. Die Fütterung soll der Ernährung im Freileben
gleichen, und daher lassen sich keine allgemein gültigen
Regeln geben. Die hauptsächlichsten Futtermittel für alle
Körnerfresser sind Hanf, Kanariensame, Hirse, Hafer u. a. m.,
für die Insektenfresser: frische oder getrocknete
Ameisenpuppen, Mehlwürmer, Eierbrot, Eikonserve u. dgl. wie
auch süße Beeren und andre Früchte. Unentbehrlich
sind auch Kalk (Sepia, wohl auch Mörtel von alten Wänden)
und sauberer, trockner Stubensand. Reinlichkeit, sorgfältige
Bewahrung vor Zugluft, Nässe, schnellem Temperaturwechsel,
plötzlichem Erschrecken und Beängstigen sind die
hauptsächlichsten Hilfsmittel zur Erhaltung der Gesundheit
für alle S. Vgl. die Schriften von Ruß (s. d.);
Friderich, Naturgeschichte der deutschen Zimmer-, Haus- und
Jagdvögel (3. Aufl., Stuttg. 1876); Reichenbach, Die
Singvögel (als Fortsetzung der "Vollständigsten
Naturgeschichte"); Gebr. Müller, Gefangenleben der besten
einheimischen Singvögel (Leipz. 1871); Lenz, Naturgeschichte
der Vögel (5. Aufl., Gotha 1875); A. E. Brehm, Gefangene
Vögel (Leipz. 1872-75, 2 Bde.); Chr. L. Brehms "Vogelhaus",
neubearbeitet von Martin (3. Aufl. , Weim. 1872), und die
Zeitschrift "Die gefiederte Welt" (hrsg. von Ruß, Berl., seit
1872).

Stüber (holländ. Stuiver), frühere
Scheidemünze in den Niederlanden (20 S. = 1 Gulden); in
Ostfriesland etc. (72 S. = 1 preußischen Thaler); auch alte
schwedische Silbermünze, s. v. w. Ör (s. d.).

Stubica, Badeort im kroatisch-slawon. Komitat Agram, 8 km
von Krapina-Teplitz, mit vielen indifferenten Thermen von 58,7°
C.

Stuck (ital. stucco), Mischung von Gips, Kalk und Sand,
welche in der Baukunst sowohl zum Überzug der Wände als
zur Verfertigung der Gesimse und Reliefverzierungen dient. Man
unterscheidet je nach der Zubereitung: Weißstuck, Kalkstuck,
Graustuck, Glanzstuck (ital. stucco lustro), Leinölstuck.
Schon die alten Griechen wandten eine Art S. als Überzug bei
nicht in Marmor aufgeführten Bauten an. Die eigentliche
Stuckaturarbeit zur Verzierung hieß bei den Römern Opus
albarium oder coronarium und ward von ihnen vielfach an Decken und
Wänden, meist bemalt oder vergoldet, angewandt. Nachdem die
Kunst lange in Vergessenheit geraten war, soll sie zuerst von
Margaritone um 1300 von neuem erfunden worden sein. Vervollkommt
ward dieselbe namentlich durch den Maler Nanni von Udine zur Zeit
Raffaels, wie die nach diesem benannten Logen im Vatikan zeigen.
Recht in Aufnahme kam aber die Stuckaturarbeit in Deutschland und
anderwärts erst mit dem Rokokostil zu Anfang des 18. Jahrh.
Zur Stuckaturarbeit muß das feinste Material angewandt
werden. Die Masse wird in weichem Zustand aufgetragen und erst,
wenn sie etwas hart und zäh geworden, mit den Fingern und dem
Bossiereisen in beliebige Formen gebracht. Gute Stuckaturarbeit
trotzt jeder Witterung. Eine Art S. ist auch der sogen. Gips- oder
Stuckmarmor, mit welchem man Säulen etc. bekleidet, um ihnen
ein marmorartiges Ansehen zu geben. Vgl. Heusinger v. Waldegg, Der
Gipsbrenner (Leipz. 1863); Fink, Der Tüncher, Stuckator etc.
(das. 1866).

Meyers Konv.- Lexikon, 4. Aufl., xv. Bd.

26

AUSLÄNDISCHE STUBENVÖGEL.

1. Helenafascäuclxen (Habropyga. Astrild).-

2. Grauer Astrild ( Habropyga cinerea). -

3. Tigerfink (Pytelia ampdava).-

4. Zebrafink ( Zonaeginthus casta.notis) (1-4 Ait.^4strU




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