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Title: Die Schwestern - Drei Novellen
Author: Wassermann, Jakob, 1873-1934
Language: German
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                            Die Schwestern


                           Drei Novellen von
                           Jakob Wassermann

                            Dritte Auflage



                      S. Fischer, Verlag, Berlin

                                 1907



Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung, vorbehalten.

Published, May 10, 1906. Privilege of copyright in the United States
reserved under the act approved March 3, 1905 by S. Fischer, Verlag,
Berlin.



Inhalt

Donna Johanna von Castilien    Seite   9
Sara Malcolm                     "    69
Clarissa Mirabel                 "    99



Donna Johanna von Castilien


Die Infantin Johanna wurde geboren beim Sterbensgeschrei von mehr als
hundert Ketzern, die in derselben Stunde den Feuertod erlitten und unter
demselben Fenster, hinter dem die Königin Isabella in Wehen lag.

Des Kindes Haut zeigte eine bernsteingelbe Farbe und seine Augen waren
groß, tief, still und düster. Außerdem hatte es unter der Brust ein Mal
in Form eines liegenden Kreuzes, von sonderbaren helleren Linien
umgeben, die züngelnden Flammen glichen. Am Hof entstand später das
Gerücht, daß die Infantin den Anblick des Feuers nicht ertragen könne.

Nicht wie andere Kinder hatte sie Freude an Spiel und Tand und bei
festlichen Gelegenheiten verbarg sie sich und suchte die Einsamkeit. Sie
lernte spät sprechen und galt bei allen, die sich auf den menschlichen
Geist verstehen, alsbald für blöde. Ihren Eltern brachte sie wenig Liebe
entgegen, auch sah man sie niemals mit wahrer Inbrunst beten, doch immer
wenn die Nacht kam, wurde sie noch scheuer als sonst und im Schlaf
schrie sie wie ein Teufel aus peinigenden Träumen auf.

Der König, dem das Kind ein ängstlicher und trübsinniger Anblick war,
suchte sie mehr und mehr aus seinen Augen zu entfernen, und als sie elf
Jahre zählte, schickte er sie ins Kloster Santa Maria de las Huelgas bei
Burgos; sein Entschluß hiezu wurde durch den Vorfall mit dem englischen
Windspiel bekräftigt.

Johanna besaß nämlich ein englisches Windspiel von edler Rasse; sie
hing mit großer Liebe an dem Tier, es mußte des Nachts neben ihrem Bette
schlafen, sie gab ihm selbst zu fressen und führte es selbst in die
Gärten. Das Tier war auch seinerseits der jungen Herrin treu ergeben.
Eines Nachts aber geschah es, daß sich Johanna aus dem Schlaf erhob; es
war ein Gewitter, und in dunkler Furcht schritt sie zum Fenster. Das
Windspiel aber, mochte es nun durch Donner und Blitz erschreckt und
erregt sein oder ein Traum seinen Instinkt getrübt haben, knurrte
plötzlich und biß Johanna ins Bein. Die Wunde war ungefährlich, doch
Johanna, obwohl sie das Tier noch eben so zärtlich liebte, hatte
beschlossen, es müsse sterben und nichts konnte sie von ihrem Vorsatz
abbringen. Sie wußte sich ein Dolchmesser zu verschaffen, lockte den
Hund in einen abgelegenen Teil des Gartens und schnitt ihm dort, während
er zu ihren Füßen lag, ruhig und schnell die Kehle durch.

Diese Tat wurde bekannt und erzeugte teils Verwunderung, teils mehrte
sie das stille Grauen vor der Infantin. Sie hatte auch eine Art,
Menschen anzublicken, daß die betreffenden am liebsten Reißaus genommen
hätten, sich jedenfalls aber heimlich bekreuzten.

Das traurige Land um Burgos, seine kahlen Hügel, die nur, wenn die Sonne
unterging, in einem Bad aus Purpur wie ungeheure Rubine funkelten; die
düstere Stadt mit ihren krummen Gassen, den hohen getürmten Häusern, den
alten Palästen mit halbverfallenen Schwibbögen, vergitterten Torwegen
und kleinen Fenstern; dazu die Abgeschiedenheit des Klosters selbst,
dies alles war dazu angetan, Schleier auf Schleier um das Gemüt der
Infantin zu weben. Nur ihre Augen strahlten aus der Dämmerung der Seele
wie der Widerschein zweier Sterne aus dem Wasser eines tiefen Brunnens.

Als sie an den Hof zurückkehrte, hieß es, daß sie sich auf die magischen
Künste verstehe. Einige sagten offen, daß sie mit Spiegeldeutern,
Menschenmachern und Rosenkreuzern zu tun habe, daß sie aus kochendem
Wasser weissagen könne und daß sie von einem dänischen Schwarzkünstler
gelernt habe, Mumien wieder zu beleben. Sicherlich verstand sie sich auf
den Ringgang der Planeten um die Sonne, und eines Tages erzählte der
Greffier, der es wiederum vom Turmwart wußte, daß sie oft um Mitternacht
regungslos auf dem Balkon liege und in den gestirnten Himmel blicke.
Auch befand sich in ihrem Schlafgemach ein Astrolabium und die
Marmormaske eines hellenischen Gottes.

Um diese Zeit zog einmal der Hof nach Toledo, wo in der Charwoche eine
Reihe von Ketzergerichten abgehalten wurde. Vom Schaugerüste aus
erblickte Johanna ein schwangeres Weib am Pfahl. Durch die Heftigkeit
der Flammen sprang das Kind aus der Mutter Leibe, doch nach einer kurzen
Beratung der Priester schleuderte man es als eine Ketzerbrut wieder ins
Feuer. Niemals vergaß Johanna den tierisch-jammervollen Schrei der
Mutter. Ihr in eine weite Ferne, gleichsam auf ein fernes Licht
gerichteter Blick suchte nach einem Pfad zu diesem Licht; die Erwartung
besiegte die Erfahrung.

Kaum hatte sie das siebzehnte Lebensjahr vollendet, als sich von vielen
Ländern und Thronen her Bewerber um ihre Hand meldeten, denn diese Hand
verfügte über die Reiche Castilien und Arragon, welche ihr elterliches
Erbe bildeten. Was den König betrifft, so hatte er nur einen ins Auge
gefaßt: Philipp von Österreich, des römischen Kaisers Sohn. Aber der
Kaiser war anfangs nicht zum höchsten von dem Plan erbaut, seinen
einzigen Sohn der Spanierin zu vermählen.

Es war eine Hatz von Intriguen und wurde in der Sache endlos viel Papier
verschrieben und Boten reisten hin und her zwischen dem Connetable und
dem Hofmarschall. Viele Stimmen erhoben sich dawider, der Prinz selber
verhielt sich schwankend, da hatte einer unter den Spaniern den Einfall,
die Schönheit der Infantin durch eine poetische Floskel zu beleuchten
und er schrieb über sie an den Hof zu Wien: Johannas Haut sei so fein,
daß man den roten Wein, den sie trinke, ihr durch den Hals gleiten sehen
könne. Die Metapher wurde von den einen belächelt, von den andern für
bare Münze genommen, doch wurde Philipp neugierig nach einem solchen
Weibe.

Endlich waren die Verträge feierlich besiegelt und beschworen, und mit
einem großen Gefolge von edlen Herren, worunter sich auch sein Spezial,
der Pfalzgraf Friedrich befand, zog der achtzehnjährige Philipp über
Savoyen und Südfrankreich nach dem ehrwürdigen Burgos, wo er zu Beginn
des Herbstes ankam. Er trug beim Einzug ein weißes Kleid von offner
weißer Seide und ritt auf einem weißen Pferd. In der engen Straße beim
Tor stolperte das Pferd und fiel auf die Kniee; darin sahen viele ein
Ereignis von übler Vorbedeutung.

Beim ersten Anblick ihres zukünftigen Gemahls blieb Johanna, alles
Zeremoniell vergessend, bleich und kühl wie ein steinernes Bild inmitten
ihrer Frauen stehen. Sie rührte sich nicht, bis Madame de la Marche sich
ihr näherte und mit einer dringlich zugeflüsterten Mahnung der
erschreckenden Starrheit ein Ende machte. Gegen den befremdeten Prinzen
wurde die Ausrede erfunden, die Infantin habe den Tag über in einem
finstern Gemach in Gebetsandacht verweilt und sei durch den reichen
Kerzen- und Fackelschein geblendet gewesen; außerdem habe die Schönheit
Don Philipps sie gewiß der Sprache und des Ausdrucks schuldiger
Höflichkeit beraubt.

Philipp, nicht gewohnt in den Mienen anderer Menschen zu lesen, legte
dem Vorfall keine Wichtigkeit bei, auch nahmen die Vergnügungen einer
ununterbrochenen Geselligkeit seine Gedanken völlig ein. Am Tag vor der
Hochzeit ward er unter einem köstlichen Baldachin durch sieben
Triumphbögen in die Kathedrale geleitet und verrichtete dort seine
Andacht. Es war schon in der dritten Stunde der Nacht, als er mit der
Infantin im geschmückten Saal des Schlosses zusammenkam, darnach folgte
der päpstliche Legat, der sie ehelich verband, und der Erzbischof von
Toledo hielt die Messe. Als sie ihre Sünden gebeichtet, so erzählt ein
namenloser Chronist, haben sie das hochwürdige Sakrament empfangen und
nach dem Segen des Kardinals heilig und christlich Hochzeit gehalten.

Aber als die Nacht verstrichen war, sah man den Herzog bleich und wild
aus dem Gemach stürzen, während die Infantin von ihren Frauen ohnmächtig
aufgefunden wurde. Es hieß alsbald, doch nur im Geheimen wurden solche
Stimmen laut, daß Johanna sich der Hingabe an ihren Gatten weigere.

       *       *       *       *       *

Das Gebot der Kirche drang nicht in Johannas Seele; das priesterliche
Wort war ihr nicht viel mehr als eine auf die Mauer gemalte Formel. Ihr
Körper lebte, er wurde befehligt vom Blut und das Blut ward entzündet
von der Sehnsucht. Der in die weite Ferne gerichtete Blick war des
Pfades noch ungewiß, welcher zum Licht führte.

Unter dem Meeresspiegel, unberührt von Stürmen, für Menschen nicht
erreichbar, wächst ein Zauberkraut, das den Tod besiegt. So wuchs in
Johannas einsamem Gemüt ein Bild von Liebe: eine Blume, die den Tod
besiegt. Sie konnte nicht geraubt werden, sie konnte nur langsam bis an
die Oberfläche des Lebens wachsen. Völlig vom Zweck entblößt, in
Erwartung und Zuversicht so gesammelt, daß es wie Himmelsflammen Geist
und Leib durchdrang, der Vision unterworfen, von der Speise des Traums
genährt, Wort, Wunsch und Hoffnung musikalisch füllend, so empfand sie
Liebe.

Schnell wird Tugend zum Wahn und Wahn zur Krankheit; und wieder ist das
Edelste an den Geschöpfen nicht ohne einen Hauch von Krankheit. In
einem arragonischen Tal gab es ein Weib, die seit Jahr und Tag auf einem
Stein saß, um den Heiland zu erwarten, und die weinend das Gesicht
verbarg, wenn einer vorbeiging, der eben nur Mensch war. Dieser war es
bestimmt, ihr Herz an ein Etwas zu binden, was nicht aus Erde gemacht
ist, und sie webte hin in geheimnisvoller Glut.

Johannas Unschuld hatte sich bewahrt beim Anblick der tückischen
Leidenschaften, die ihr Vaterland mit Blut düngten. Sie hatte sich im
Frost der Lieblosigkeit wie ein winterliches Kleid um das Herz
geschmiegt. Johanna hatte vieles gesehen, was den Schlummer ihrer Jugend
zerrissen hatte, und es war Zwang von außen, der ihr das Schicksal an
den Lauf der Sterne zu knüpfen befahl. Auch war es eine Zeit, vor der
der Nachdenkliche in Bangnis geraten konnte: der Ozean gebar neue
Länder, Ost und West gaben unerhörte Mysterien preis, das Wort Christi
starb hin, als wäre es nie gewesen, über das Firmament schauerte wie ein
Fieber der Gedanke der Unendlichkeit.

Sie träumte von einem Antlitz, das im Schmerz die Züge großer Liebe
annahm wie der glühende Stahl sich unter dem Hammer biegt; von einem
Auge, nicht getrübt, sondern verklärt durch das Verlangen; von einer
Gebärde, vertrauenswürdiger als Eide; von einem Laut aus dem innersten
Innern des Herzens; von einer Gewalt, die sie ergriff und trug,
Niedriges zerstampfte, Häßliches unsichtbar machte. Ihre Sinne waren
geschärft für Blick, Gebärde, Laut; für den Schmerz, den die Gelegenheit
erzeugt, und für den, der das Dasein verdunkelt; für die aus Qual und
Lust geborenen Versprechungen, welche die Züge der Redlichkeit heucheln,
und für diejenigen, die von Gott selbst geheiligt werden und wie ewige
Säulen den Bau der Seele tragen.

Oft war ihr, als risse sie eine ungeheure Faust vom Boden empor und
hielte sie so zwischen Himmel und Erde, daß sie nicht fallen konnte,
jedoch fortwährend zu fallen fürchten mußte. Sie schien hoch über allen
zu schweben und verging vor Angst, tief unter alle hinab zu fallen. Es
kam vor, daß sie nächtelang auf den Knieen lag und für Philipp betete;
aber nicht wie das Weib für den Gatten betet; Philipp stand schattenblaß
vor ihrem innern Auge, fast wie ein Gespenst, noch ohne feste Gestalt,
wie etwas aus weiten Fernen, was auf einer schwanken Brücke ging oder
auf lautlosem Wasser glitt. Sie wünschte, daß Philipp kommen, daß er
werden, daß er leben möge.

Sie hatte soviel Finsternis in sich, daß ihr die Nacht bisweilen wie ein
leuchtender Nebel erschien. Dann schoben sich alle Dinge auf einfachste
Linien zusammen, alles wurde Gesicht, Steine atmeten, tote Räume
redeten. Wie unfaßlich und überwältigend war es dann, auf dieses Wesen
zu warten, das da wurde, aus dem Wirrsal der Kreaturen emporstieg,
zugleich kristall- und pflanzenhaft. Sie selbst spürte sich wie eine
Blume, ihr Menschenleib löste sich ab, und sie schaute in ihr eigenes
Antlitz, das welk und schlafend schien.

       *       *       *       *       *

Es liegt den geringen Naturen nahe, daß sie, an das Los einer größeren
gekettet, nicht an Schicksalsvollzug glauben wollen, sondern die Flucht
ergreifen und zu den niedrigen Neigungen eilen, die ihnen die Herrschaft
in ihrem Eigenkreise sichern.

So auch Philipp. Den Spott seiner Leute fürchtend, bemühte er sich, der
Alte zu sein, sich selbst zu überbieten, und gab acht, daß die Sache,
die insgeheim seine Ehre benagte, nicht durch die Mäuler geschleift
werde. Wurde nach und nach seine Hoffnung geringer, die Infantin zur
Vernunft zu bringen, so verbarg er doch so gut als möglich die wachsende
Ungeduld. Er dachte an Gewalt; dies hatte gute Weile, es brachte zuviel
Lärm mit sich, außerdem durfte er die Meinung des Volkes nicht
mißachten, dem er noch ein Fremdling war.

Zuviel Kopfzerbrechen. Diesem Jüngling war es nicht gegeben, am Menschen
Schwierigkeiten zu entdecken. Er suchte Zerstreuungen und trieb es
unverhohlen mit der hübschen Anna Sterel, der Gattin eines schwäbischen
Edelmannes. Seine Phantasie malte ihm das Bild einer eifersüchtigen
Infantin, die sich so, schlau erdacht, in den eignen Stricken fing.
Nächtlicherweise ging er mit dem Freund, dem Pfalzgrafen Friedrich, auf
Abenteuer. Sie verkleideten sich und trieben allerhand Unfug.

Der Pfalzgraf war ein Held, eine Leuchte des Rittertums, deutscher Herr,
aber ganz nach dem neuen spanischen Schnitt, voller Galanterien, voller
Schulden. Er war auch musikalisch und schlug den Herrn von Moncada, der
behauptet hatte, die Musik mache weibisch, beim Turnier so darnieder,
daß er taub wurde. Als Reiter hatte er nicht seines gleichen; es war
sprichwörtlich zu sagen: er reitet wie der Pfalzgraf. Dieser Bramarbas
brach in ein höllisches Gelächter aus, als ihm Herr Hughes von Melun,
der die Kunde von Frau von Molembais besaß, vorsichtig zuflüsterte, wie
es um Philipp und Johanna stand. Er rasselte von Kopf bis zu den Füßen,
er rasselte mit Kette, Schwert und Augen, als er erwiderte: »Gemach,
gemach! der Herzog wird wohl wissen, wie man ein störrisches
Frauenzimmer traktiert. Es ist nicht lange her, daß der muntere Philipp
zu jedem Nachtessen ein warmes Weiberherz verspeist hat.«

Nun mußte der Pfalzgraf im Frühjahre nach Deutschland zurückkehren.
Philipp war traurig wie einer, der beim Wein sitzt und dem plötzlich der
Wind Becher und Flasche davonträgt. Er verlor die Sicherheit und begann
mißtrauisch und mit verhaltener Wut auf das Wispern zu horchen, in dem
sich Herren und Diener gefielen, wenn er vorüberging.

Das Gerede war nicht mehr zu dämmen. Ein Hoffräulein hatte das Geheimnis
dem Granvella anvertraut, der hinterbrachte es dem König nach Madrid.
Der König war außer sich und schickte seinen Kanzler zu Philipp, die
Königin ihre erste Dame zu Johanna. Scheidung und Kerker wurden der
Infantin in Aussicht gestellt; wo heilige Satzungen verletzt würden,
dürfe der König das eigene Geschlecht nicht schonen. Im August mußte Don
Philipp nach Italien ziehen, und der König befahl der Infantin, sich
nach Medina del Campo zu begeben. Sie wurde dort gleich einer Gefangenen
gehalten, ein fanatischer Dominikaner, durch ihre Ruhe getäuscht,
glaubte mit wilden Predigten ihr Gewissen schrecken zu sollen und
krächzte ihr wie ein böser Rabe dreimal täglich das Register der
höllischen Strafen vor.

Nach seiner Heimkehr ließ Philipp die Infantin zu sich kommen und
versprach ihr aus freien Stücken, sie vor allen Verfolgungen zu
schützen. Einige meinten, Furcht vor ihren Zauberkünsten hätte ihn dazu
bewogen. Andere sagten, ihre Schönheit habe plötzlich seine Begierde
erregt, und aus List habe er sie bestimmt, sich vorerst zum Schein zu
fügen.

Indes brachten giftige Zungen sein Blut in Aufruhr, und ihn wurmte der
düstere Spott in allen Gesichtern. Dem versteckten Spaniertum war seine
aufrichtige Jugend nicht gewachsen. Wie eitel ihre Blicke, wie
verräterisch ihr Händedruck, und der Ton ihrer Rede so süß, daß man
Honig auf der Zunge zu spüren glaubte. Eingesponnen von
wirbelnd-schwüler Luft, des öftern schlaflos liegend, von Gier und Groll
gewürgt, ließ sich Philipp von seinem ungelenkten Trieb zu einer
Handlung niederträchtiger Art hinreißen.

Er verabredete sich mit den beiden Kämmerlingen, Herrn von Fyennes und
Herrn Florys von Ysselstein. An einem Abend drangen sie zu später Stunde
durch einen geheimen Gang und, indem sie eine verschlossene Tür
erbrachen, in das Schlafgemach Johannas. Mit dem gezückten Schwert
stellte sich der Herzog vor das Bett und forderte die Infantin auf,
sein rechtmäßig leibliches Weib zu werden; sträube sie sich aber, so
müsse sie den Tod erleiden.

Die schöngeflächten Wangen von fahlem Glanz übergossen, richtete sich
die Infantin auf und bedeutete den beiden Edelleuten, das Zimmer zu
verlassen. Diese dachten nicht anders, als ihrem Herrn geschehe der
Willen, und gehorchten. Darauf entkleidete sich Johanna, band ein
schwarzes Tuch über die Augen und sagte: »So könnt ihr mich nehmen,
sehend nicht, so könnt ihr euren Wunsch befriedigen und zugleich eure
Drohung wahr machen. Gott sei mir gnädig.«

Philipp, eben noch toll und heiß, stand eine Weile nachdenklich. Dann
fing er an zu zittern und zitternd, mit scheu gesenkten Blicken, verließ
er den Raum. Von Stund an war er verwandelt. Im Palast verbreitete sich
Sorge und Befremden. Nur für Johanna begann sich sein Körper langsam aus
dem Chaos der Ungestalten zu lösen.

       *       *       *       *       *

Anfangs lag er noch der Jagd und dem Ballspiel ob, erschien auch noch
regelmäßig bei der Tafel. Dann schloß er sich ab. Seine Hautfarbe ward
grau, sein Auge trüb und krank, sein Gang gebückt. Don Diego Gotor, der
Leibarzt, sagte, daß ein Fieber in seinen Knochen wühle. Es schien, als
wäre er nicht mehr imstande, ein vernünftiges Gespräch zu führen; jede
Aufmunterung nahm er ohne Anteil hin.

Er gab die notwendigen Befehle schriftlich und sprach nur mit Donna
Gregoria, Johannas einziger Vertrauten, die täglich zu ihm kam.

Es ist Zauberei, sagten die Hofleute. Wenn Diego Gotor aus dem Zimmer
des Herzogs trat, umringten sie ihn neugierig. Das Greisengesicht Don
Diegos, das durch ein dauerndes Wechselspiel von tausend Falten und
Fältchen Ähnlichkeit mit einem stürmischen Wolkenhimmel hatte, war
traurig und ratlos. In einem Leben von siebzig Jahren hatte Diego Gotor
das Gemüt der Menschen mit derselben Begierde erforscht, mit welcher der
unscheinbare Wurm das Innere der Erde durchhöhlt.

Er sagte: »Im Morgenland erfuhr ich, daß Jünglinge, denen der Gegenstand
ihrer Liebe sich entzog, in ein Leiden verfielen gleich dem unseres
Herzogs. Ein solcher Mensch lag wie im Starrkrampf da, schwebte zwischen
Schlaf und Tod, und sein Geist hatte nicht mehr die Kraft, den Körper zu
regieren. Konnte sein Begehren nicht gestillt werden, so siechte er
allmählich hin und mußte sterben oder es brauchte viele Jahre und
dauernde Entfernung von der geliebten Person, bis er wieder unter
Menschen wandeln konnte, der Freude freilich beraubt. So geschieht es
wie gesagt im Morgenland, wo das Blut von dicker und schwarzer
Beschaffenheit ist. Doch versicherte mich ein gelehrter Mann, daß, wie
der Blitz nur in die höchsten Bäume schlägt, bloß Auserwählte von
solchem Unheil betroffen werden können, und daß gemeine Fleischeslust
damit nicht mehr verwandt ist als das Küchenfeuer mit dem Blitz.«

Die Ritter fluchten der Infantin. Wie kann Johanna einem Jammer ruhig
zusehen, dessen Ursache sie selber ist, ließen sie sich vernehmen; wie
erträgt sie es vor ihrem Gewissen, den herrlichen Mann so sich verzehren
zu lassen, als wäre sie stumm, taub, blind und lahm.

Bald fing Philipp an, Trank und Speise von sich zu weisen, versagte sich
dem Gebet, und sonst heilsame Mixturen übten keine Wirkung. Seine Augen
erloschen, die Hand schloß sich nicht mehr zum Druck beim Gruß.

Des Nachts richtete er sich auf und streckte die Arme aus, als wolle er
ein Luftbild umschlingen. Die heiße Lippe lallte einen zärtlichen Laut.
Wenn er in den Spiegel sah, so erblickte er nicht sein eigenes Antlitz
und bisweilen küßte er in der Verblendung den eigenen Mund.

Die Infantin trat oft an Philipps Lager, sie erhaschte seinen Blick und
hielt ihn fest, sie grub gleichsam das Innere seines Auges auf. Die
blauen Sterne schwammen auf der milchigen Iris in einer Art von Wahnsinn
langsam von Eck zu Eck. Das korngelbe Haar klebte naß auf der steilen
Stirn. Der schmale Körper, auf der Seite liegend, glich einem gespannten
Bogen. Donna Johanna schüttelte den Kopf; noch schritt Philipp auf
lautlosem Wasser in trüber Ferne.

Aber ihre Sehnsucht wurde so groß, daß es, als wäre die Erfüllung schon
geschehen, wie ein Strom der Verzücktheit durch ihre Brust floß. Sie sah
den blauen Himmel besät mit smaragdenen Blumen und die myrten- und
lorbeerbeladene silberne Erde hob sich schwellend dem Firmament
entgegen. Oft eilte sie in der Dämmerung durch die Galerien in die
Gärten, so schnell, daß Donna Gregoria kaum zu folgen vermochte.
Begegnete ihr jemand auf diesem Weg, so blieb sie stehen und schaute ihn
an, streng und wild. Wer ist der Mann? fragte sie ihre Begleiterin mit
ihrer wunderlich flötenden oder gurrenden Stimme. Und Donna Gregoria
erwiderte etwa: es ist einer von Don Philipps Freunden. Doch Johanna
hörte die Antwort nicht mehr; sie war schon weiter geschritten; die
gelben dünnen Lider, von zahllosen blauen Äderchen übersponnen, schienen
die vollflammenden Augen zu begraben, der Kopf senkte sich nach vorn,
von ihrer Schulter wehte der Abendwind den Schleier herab, und der
entblößte Nacken leuchtete wie das Holz eines frischgeschälten jungen
Baumes...

Da geschah es, daß Herr von Carancy und Herr von Aymeries übereinkamen,
dem König neuerdings von allem Bericht zu erstatten und dringend zu
fordern, daß die Infantin in ernste Rechenschaft gezogen würde, deren
Verhalten sie als eine Frucht und einen Beweis der teuflischen
Schwarzkunst ansahen. Sie versicherten sich des Einverständnisses der
übrigen Granden und Räte, und Herr von Carancy sollte den Wortführer
machen. An einem Freitag zu Anfang September ritten sie mit ihren Leuten
gen Valladolid, in welcher Stadt der König damals gerade Hof hielt. Am
Hoflager angelangt, ließen sie sich melden, und Herr von Carancy trug
mit zornverhaltener Beredsamkeit vor, was im Palast von Burgos die
Gemüter verfinsterte.

Der König wurde vor Ingrimm totenbleich. Schon lange hegte er der
schmählichen Angelegenheit wegen gerechte Besorgnis. Es wurde ein
Haftbefehl ausgefertigt, demzufolge Johanna auf das feste Schloß
Portillo in Ketzergewahrsam zu bringen sei. Der Kommandant von Burgos
habe zweihundert Mann unter den Befehl des Herrn von Carancy zu stellen;
mit ihnen und in Begleitung des Ober-Alguazils, damit den Waffen auch
das Gesetz zur Seite stehe, solle dieser in den Palast dringen und die
Infantin fortführen.

Die zwei Herren waren zufrieden; Ketzergewahrsam hieß so viel, als unter
Foltern langsam sterben. Sie kehrten ehestens nach Burgos zurück und
handelten ohne Verzug. Der Stadtkommandant, sehr betroffen über den
königlichen Befehl, wagte nicht zu widersprechen, trotzdem er eigentlich
nur dem Herzog zu gehorchen hatte. Er sandte aber im geheimen Botschaft
an den Haushofmeister im Schloß, um die Leute der Infantin vorzubereiten
und zu warnen.

Als das Abendläuten von den Türmen der Kathedrale klang, forderte Herr
von Carancy mit seinen Bewaffneten im Namen des Königs Einlaß in den
Palast, ließ sämtliche Tore besetzen, postierte einen Teil der Leute in
den Gängen und auf den Treppen und schritt, von seinem Genossen und dem
Oberrichter gefolgt, nach den Gemächern der Infantin. Madame de Bevres,
die ihm entgegentrat, antwortete auf seine rauhen und herrischen Worte
mit Ruhe, daß sich Donna Johanna im Bade befinde.

Herr von Carancy war mißtrauisch, mußte sich aber zu warten
entschließen. Da jedoch beinahe eine halbe Stunde verfloß, ohne daß
weder die Herzogin noch eine ihrer Damen sich zeigte, übermannten ihn
Argwohn und Ungeduld, er öffnete die nächste Türe, die in ein leeres
Zimmer führte, durchschritt diesen Raum und gelangte zu einer zweiten
Türe, die er gewalttätig aufwarf.

Die Infantin saß vor einem Porphyrtisch, auf dem ein goldner Leuchter
mit fünf brennenden Kerzen stand. Sie saß in einem Stuhl mit hoher
Lehne, doch nicht hingelehnt; ihr Oberkörper war seltsam steif
aufgerichtet und diese Steifheit wurde vermehrt durch die regungslos
niederhängenden Arme. Sie trug ein kastanienbraunes Kleid, das man für
ein Mönchsgewand hätte halten können, wäre nicht die zartgelbe Stickerei
am Saum und an den Ärmeln gewesen.

Hinter ihr stand Donna Gregoria und kämmte der Herrin das Haar. Donna
Gregoria war klein, schlank, gelenkig, spitzgesichtig. Sie hatte etwas
von einer Äffin und etwas von einer Schwalbe. Liebkosend hielt sie das
bläuliche Haar in der Linken und lauschte dem knisternden Geräusch, das
ihr Kamm hervorbrachte.

Auch der Alguazil und andere Herren waren inzwischen herbeigekommen und
starrten nicht ohne Scheu über die Schwelle. Von gegenüber, aus offenen
halberleuchteten Räumen eilten Kammerfrauen herzu und blieben mit
gefalteten Händen stehen. Donna Gregoria hörte auf zu kämmen und schaute
über die Schulter hinweg hochmütig fragend auf Herrn von Carancy, dem
die Sprache versagte und der rückwärts griff nach dem Pergament in den
Händen des Richters. Donna Johanna erhob sich; sie war weder erstaunt
noch erzürnt. Es war, als lausche sie auf den verworrenen Lärm, der von
draußen hereinschallte, und ihre gelben dünnen Lider bewegten sich kaum,
als sie fragte: »Was hat seine Herrlichkeit der König über mich verfügt?
denn nur in seinem Namen kann vielleicht ein solcher Überfall sich
rechtfertigen.«

Herr von Carancy zuckte zusammen und über seine Haut rann ein Schauder.
Doch antwortete er, was er antworten mußte.

Bei dem Worte Ketzerhaft stieß Donna Gregoria einen gellenden Schrei
aus. Die Infantin machte eine abwehrende Bewegung. Ihre Stirn schien
beinahe unsichtbar zu werden unter der sinkenden Wolke des Kummers. Ihr
Gesicht lag wie ein Stein im Bett des schwarzaufgelösten Haares. »Ich
bin bereit,« sagte sie mit einem verlorenen Lächeln, denn der Wille zu
leiden umflutete sie wie Wollust.

Donna Gregoria ergriff den Leuchter und wollte damit, planlos, sinnlos,
der Herrin vorauseilen. Die fünf brennenden Lichter, im Zugwind wehend
und hoch emporgehalten, erschienen Johanna auf einmal als untrügliche
Verheißung, so daß was nun folgte, ihrem atemlosen Erwarten schon wie
ein tiefes, sattes Ruhen war, und indem sie es lebte, spürte sie es
schon als Erinnerung, dankbar und müde.

Besorgt über die Wirkung, die Johannas Gefangennahme auf Philipp haben
würde, hatte Don Diego Gotor dem Herzog in kurzer Frist von dem was im
Werke war Mitteilung gemacht. Zwischen seinem letzten Wort und der
Sekunde, die ihn nun Aug in Aug mit der Infantin sah, war nicht soviel
Zeit verflossen, als man braucht, um bis fünfzig zu zählen. Der Herzog
strauchelte keuchend herein. Sein Auge, das den Eindruck von etwas
Morschem, Faulendem machte, haftete auf nichts, auf keinem. Er sank vor
Donna Johanna auf die Kniee, und als sie ein wenig zurückwich, sank er
noch weiter hin, platt an die Erde. Wie er lag, fing er an zu weinen.
Alle dachten, nun sei es zu Ende mit ihm, und starrten bestürzt einander
an.

Die Infantin hatte die Fingerspitzen beider Hände zusammengepreßt. Ihr
Haupt fiel auf den gedehnten Hals nach rückwärts. Sie lauschte beseligt
dem Weinen, das wie Flügelrauschen zu ihr emporwirbelte. Jetzt sah sie
Philipp, jetzt war er da, er lebte. Mit jähem Ruck beugte sie sich herab
und drückte sanft die Hand auf sein Haar. Philipp schwieg, schaute auf,
ihre Blicke verschmolzen, es hob ihn wie von selbst, er umfaßte mit den
Armen ihre Schenkel und trug sie kurz und heiser aufjubelnd durch einen
purpurnen Nebel von Glück hindurch.

Johanna lachte lautlos in die Luft hinein, und es war ihr, als ginge es
über Mauern, die vor Philipps Schritt zerbarsten, über Wälder, deren
Finsternis wie Glas zersprang, und über das Meer, das wie flüssiges
Morgenrot schäumte.

Die ganze Nacht hindurch war das Schloß von heiterster Ausgelassenheit
erfüllt, auch in der Stadt herrschte alsbald festliches Wesen. Die
vornehme Familie der Stuniga ließ auf offener Straße eine Zechtafel für
das Volk errichten.

       *       *       *       *       *

Fahrende Sänger und Liederdichter flochten nun in ihre oft rezitierten
Strophen gern einen Vers ein zum Preis der innigen Liebe zwischen
Philipp und Johanna von Castilien.

Aber der Hof zu Burgos wurde allmählich eine Stätte des Schweigens. Den
Pagen, Rittern und Edelfrauen ging der Stoff zu schwatzen aus. Ein
vereinzeltes Lanzenstechen half auch nur über ein paar Tage hinweg. Die
Herren saßen oft betrübter da als nach verlorenen Schlachten, und manche
erbaten den Abschied, um nach Rom, Madrid oder Flandern zu ziehen.

Kamen die spöttischen Granden zusammen, so hieß es: was macht Philipp?
schläft er noch? Und es wurde erwidert: wenn der Dürstende trinkt, so
spricht er nicht.

Der Herzog zeigte sich selten öffentlich. Sobald die Ratsgeschäfte
erledigt waren, bei denen er ein ernst-wohlwollendes Betragen an den Tag
legte, zog er sich wieder in seine Gemächer zurück. War eine Jagd
angesagt, so ließ er die Geladenen oftmals allein ziehen oder entfernte
sich von der Gesellschaft, wenn es gerade am lustigsten war, und ritt
davon. Dann berichteten Hirten, daß sie ihn in einem einsamen Tal
angetroffen hätten, wo das Pferd sich selbst überlassen an einem Abhang
graste, indes Philipp ruhvoll auf der Erde lag und den Blick in die
Wolken sandte.

Einige ließen schüchtern verlauten, er sei eben im Bann gewisser
Zauberkünste. Doch mit Bestimmtheit wußte man nur, daß Johanna ihm
italienische Gedichte vorlas, auch die Berichte der Seefahrer über die
indischen Länder und die neuen Traktate über den Sternenhimmel, die in
Deutschland gedruckt wurden. Das Gerede blieb haltlos; zudem war der
Herzog nach wie vor ein eifriger Kirchengänger und bei den geistlichen
Umzügen zeigte er solche Andacht, daß es ergreifend war, in sein helles
Jünglingsgesicht zu schauen.

       *       *       *       *       *

Es kam aber die Zeit, wo in diesem Gesicht bisweilen eine rasche Angst
aufzuckte. Da wurde dann die glattgespannte Stirn schlaff und warf eine
ermüdete Falte. Doch mußte Philipp allein sein, um den Mut zu finden,
diesem Ziehen außerhalb der Haut nachzugeben. Etwa wenn er in der
Dämmerung am Fenster stand und über die Baumwipfel hinwegspähte, in
deren Ästen der Frühling prickelte. Auch geschah es vor dem Einschlafen
in der Nacht, daß ein Seufzer über seine Lippen eilte.

Vor dem Traum flog sein Geist an die fernen Ufer der Donau. Dort war das
Leben viel leichter; es schien, als könne man dort mit plötzlich
unbelasteter Schulter wandeln.

Philipp sehnte sich nach einem Spiel. Nicht nach ritterlichem Spiel, –
er hatte häufig Lust, sich mit Landsknechten an einen schmutzigen
Kneipentisch zu hocken und mit ihnen Karten zu spielen. Es reizte ihn,
an ihren rohen Scherzen teilzunehmen, für sich allein trieb er Rede und
Widerrede, vergnügte sich innerlich an einer unflätigen Wendung und
kicherte, wenn er den Beifall der eingebildeten Hörer erworben zu haben
glaubte.

Ja, er trug Begierde nach etwas Gemeinem, Lüsternem, Schmutzigem und
Verruchtem. Diese Begierde wuchs, da er sie vor der Welt und sich selbst
mit Sorgfalt zu verbergen trachtete.

Nach längerem Beisammensein mit Johanna fielen ihm vor Erschöpfung die
Augen zu, und er sah aus, als schlafe er im Gehen und im Stehen. Denn
sie spannte seine Seele, sie dehnte seine Seele über alles Vermögen.
Wenn sie sprach oder schwieg, war es gleich schwer, immer gegenwärtig zu
sein. Ihr Schweigen war wie ein Marmorblock, den er auf seinen Händen
tragen sollte. Hände, Arme und der ganze Leib gerieten durch das Gewicht
des Blocks nach und nach ins Zittern, und die Kraft versagte. Sie ahnte
nichts davon, die mit aufgereckter Inbrunst ihm zur Seite ging,
beständig trunken von derselben dünnen Luft.

Hier war ein geheimnisvoller Kreis, in dem zu schreiten die Nerven bis
zum Klingen auseinanderzerrte. Ihn zu verlassen, schien bedenklich, denn
jenseits war vielleicht der Tod. Philipp fürchtete sich vor seinem Weib.

Einst gedachte er der nächtlichen Streiche, die er verkleidet in
Gesellschaft des Pfalzgrafen verübt. Er verkleidete sich ebenso, und als
es Nacht war, trieb er sich in den Gassen herum, mischte sich in die
Händel zwischen ein paar französischen Buschkleppern, brach einem
schwarzen Hund, der ihm bellend an die Schulter sprang, mit einem Griff
das Genick, fand eine Schenke voll schwäbischer Söldner, denen er soviel
Wein auftischen ließ, daß sie schließlich allesamt wie tot auf der Erde
lagen, und gelangte beim Morgengrauen unerkannt wieder ins Schloß. Es
war ein Auf- und Ausatmen.

Eine Woche vor Johannas Niederkunft kam der Connetable mit einer
vertraulichen Botschaft des Königs. Er gab dem Herzog zu verstehen, wie
große Bedenken es habe, das Kind in den Händen einer Frau zu lassen, die
nach dem Zeugnis aller Urteilsfähigen der gesunden Vernunft entbehre.
Wenn auch neuerdings das Unwesen sich gemildert habe, so bestehe doch
keine Sicherheit, schon der nächste Tag könne den Geist der Infantin
wieder verdunkeln. Der Herzog möge besserer Einsicht Gehör schenken und
das Kind aus dem dämonischen Bereich entfernen; der Hof von Madrid
erklärte sich bereit, die Erziehung zu übernehmen.

Philipp sträubte sich zuerst, gab aber bald nach. Es kam ein Mädchen zur
Welt, das am siebenten Tag seines Alters der mütterlichen Hut entwendet
wurde. Als die Infantin sich aus ihrem Bett erhob, konnte ihr der
Sachverhalt nicht verheimlicht werden. Man stellte aber alles so dar,
als ob ein Beweis der gnädigen Gesinnung des Königs vorliege.

Johanna hörte ruhig zu. Sie verlangte den Herzog zu sprechen. Es wurde
ihr bedeutet, Don Philipp habe in dringenden Geschäften verreisen
müssen.

In Wirklichkeit hielt sich Philipp auf einem Schloß in Arragon
versteckt, bis er annehmen durfte, Johanna habe sich dem Unvermeidlichen
ergeben. Er hatte ein paar gesellige Kumpane mit sich genommen,
darunter den Ritter Franz von Kastilalt, einen Abenteurer und
Possenreißer. Dieser wurde sein unzertrennlicher Trabant; auf die Gunst
des Herzogs bauend, verübte er mancherlei Untaten und wurde der
Schrecken friedlicher Bürger. Er war ein so gewaltiger Fresser, daß ihn
einst der Graf von Aranda um Gottes willen ersuchte, sein Gebiet zu
verlassen, weil er und seine Leute eine Hungersnot herbeiführen könnten.

Dem Herzog wurde die Stadt zu eng und von Castilien sprach er als von
einer Provinz des Teufels. Verhaßt wurde ihm sein Haus, verhaßt der
Himmel, der es bedeckte. Schien die Sonne, so beklagte er sich über ihre
Glut, fiel Regen, so meinte er höhnisch, ein Land, das Wasser gebäre
statt Wein, müsse man fliehen. Und er floh. Als die Unruhen in Flandern
ausbrachen, begab er sich übers Meer nach Antwerpen, dort blieb er aber
auch nicht lange, sondern zog den Rhein hinauf nach der fröhlichen Stadt
Köln und zu seinem getreuen Pfalzgrafen. Dann hetzte es ihn weiter, er
suchte die Heimat auf und verließ sie wieder, enttäuscht, beklommen und
grundlos erbittert. Die Herren am kaiserlichen Hof wunderten sich über
die unverträgliche Natur des Prinzen und seine hitzige Art; denn Philipp
war ehedem sanft gewesen.

Im ersten Monat des neuen Jahrhunderts, als die Kometen Unheil
ankündeten und die schwarze Pest aus Asiens Wüsten hauchte, machte sich
Don Philipp abermals auf und zog nach der niederländischen Stadt Gent.
Wie er nur noch eine Stunde von den Mauern entfernt war, kamen ihm der
Audiencier und Meister Jakob von Goudebault entgegen und teilten ihm
mit, daß Donna Johanna, hochschwangeren Leibes, seiner im Schloß harre.
Sie war wenige Tage zuvor von Spanien eingetroffen, voll Sehnsucht nach
dem Gemahl.

Don Philipp klopfte das Herz. In den sieben Monaten seiner Abwesenheit
hatte er Johanna gleichsam aus seinem Innern verloren. Er wußte nicht
mehr, wie sie aussah, wie sie sprach; er erinnerte sich nicht mehr an
die Farbe ihrer Augen und an die Form ihrer Schultern; ihre Stimme klang
ihm nicht mehr im Ohr, seine Gedanken hatten sich ihrer entwöhnt.
Geblieben war nur die zunehmende Bangigkeit, wenn er sich vorstellte,
eines Tages wieder Angesicht in Angesicht mit ihr sein zu sollen.

Er hatte ihren Namen durch die Länder geschleppt; nichts weiter als
ihren Namen. Sie mit Leib und Geist in der Stadt Gent zu wissen,
überraschte und erschreckte ihn. Er verzögerte den Einzug auf alle
Weise, so daß seine Leute nicht wußten, was sie davon denken sollten.

Dennoch durchflammte ihn gleichzeitig die äußerste Ungeduld und suchte
ihn zu bereden, daß die alte Leidenschaft wieder erstanden sei.

Als er Johannas Lippen auf den seinen spürte, starrte er offenen Auges
und stockenden Atems auf ihre bernsteingelben Lider, die sich tief
herabgesenkt hatten wie in einem Schlaf der Liebe. Ihm war, als müsse er
mit einem Messer die beiden zitternden Hautkugeln durchritzen, um
Sonnenlicht durch diese Behälter der Finsternis zu gießen.

Das große Gent gab dem Herzog zu Ehren ein Fest. Um Mitternacht, als
Tanz und Lustbarkeit im besten Zuge waren, fühlte sich die Infantin sehr
unwohl. Ehe man sie hinwegführen konnte, gebar sie im dichten Kreis
ihrer Damen ein Kind. Es war ein Knabe und er wurde Carlos genannt. Die
Herzogin Margarete nahm ihn in Obsorge. Diesmal kam der Entschluß, das
Kind in der flandrischen Stadt zu lassen, von Philipp selbst.

Als man das Schiff zur Rückkehr nach Burgos betrat, war die Infantin
noch des Glaubens, ihr Knabe sei mit an Bord. Erst auf hohem Meer erfuhr
sie, daß dem nicht so war. Mit einem langen Schrei stürzte sie aufs
Verdeck, um sich in die Wellen zu werfen, um zurückzuschwimmen und das
Kind zu holen. Ein Matrose packte sie noch am Arm. Bewußtlos fiel sie
hin.

       *       *       *       *       *

Dieses Kind hatte sie mit dem Wissen einer Mutter im Schoß getragen. Die
lange Trennung von Philipp hatte ihr Gefühl zur Tiefe gedrängt. Der
höfisch gemessene Stil ihrer Briefe an ihn war die Schanze, hinter der
sie die Zuckungen und Tränen ihrer einsamen Leidenschaft verbarg. Auf
das unsichtbare, jedoch so nahe, ja mit ihr selbst verschmolzene
Geschöpf bürdete sie die Schönheit und den Reichtum der Erde wie man das
Bild der Muttergottes mit Rosen und Kostbarkeiten behängt. Sie hatte
den Strahl seines Auges aus der Dämmerung des Nochnichtseins
aufgefangen, sie hatte es schon ganz im Besitz und es mit verzückten
Armen über sich und über Philipp hinausgehoben, um es Gott näher zu
bringen. Mit entzündeter Phantasie hatte sie seine Seele erschaffen. Sie
hatte seinen Geist aus Träumen gemeißelt und ihre Liebe, bisher
körperlos verschwebend, hatte ein Gefäß erhalten, atmende, zeugende
Gegenwart.

Durch den neuerlichen Raub sah sie sich ausgestoßen aus der Welt und aus
sich selbst. In frierender Blöße war sie schamloser Neugier
preisgegeben. Sie erschien sich entkräftet und zweigeteilt. Sie verlor
die seltsam umschleierte Sicherheit von Rede, Schritt und Haltung,
bewahrte aber doch ihre Ruhe. Wie ehemals formte sich alles zur
geduldigen Erwartung, doch war es nicht mehr die Erwartung vor dem
Anbruch des Tages, sondern diejenige vor dem Kommen der Nacht.

Es träumte ihr, daß sie zwei Teller sah, die wie zwei gefallene Monde
anzuschauen waren. Auf jedem der beiden Teller lag ein Herz, auf dem
einen das ihre, auf dem andern Philipps Herz. Ihr Herz war
scharlachfarben, von den Seiten rann Blut und quoll über die bläulich
leuchtende Schale. Philipps Herz war blaß und schleimig; es erinnerte an
jene Quallen, die das Meer bisweilen an den Strand spült. Da trat eine
Gestalt heran, packte Johannas Herz und warf es empor. Es stieg aber
kaum über Baumeshöhe und fiel schwer zurück. Dann schleuderte dieselbe
Hand Philipps Herz empor, und dies flog leicht wie eine Rakete bis in
die Wolken und kam nicht mehr zum Vorschein.

Fürchterlich zu denken, daß sie die unreife Frucht gepflückt haben
sollte und daß Süßes plötzlich bitter geworden war. »Öffne deine Hände!«
gebot sie Philipp nach einer Gewitternacht, die sie zusammen auf der
Burg bei Illescas verbracht hatten. Er öffnete seine Hände und sie
gewahrte, daß es die kleinen Hände eines Pagen waren. Der eine
Daumenballen war von einer Falkenkralle zerrissen. »Warum lächelst du?«
fragte sie verwundert; sie erkannte, daß dies Lächeln sein Schild war,
hinter dem sich niedrige Geheimnisse versteckten.

Auf die Wand der Kapelle, in der sie zu beten pflegte, war eine Szene
gemalt: ein schöner Jüngling, der vor der geisterhaften Erscheinung des
heiligen Jago die Flucht ergreift. Wenn sie in Philipps dunkelgrüne
Augen blickte, sah sie in unendlicher Verkleinerung das Bild des
fliehenden Jünglings darin. Stets ergriff er die Flucht vor ihr. Sein
geringstes Wort, seine zufälligste Bewegung ergriff die Flucht vor ihr.
Wenn sie sprach, senkte er den Kopf und alles an ihm verstummte. Ging
sie mit den Frauen über die Galerien und er stand mit seinen Freunden im
Hofe, so hörte er auf zu scherzen und legte mit bekümmerter Miene den
Arm über den Hals des Pferdes.

Fünfundzwanzig Tage des Monats war er fort vom Schlosse. Die Bringer von
wichtigen Nachrichten mußten warten. Wo ist Don Philipp? fragten die
Räte. Geantwortet wurde: er jagt mit dem Grafen Balduin; oder er zecht
mit dem Ritter Kastilalt; oder er ist zum Winzerfest nach Saragossa
geritten. Es gab auch Auskünfte, die man nur heimlich zu raunen wagte;
denn nicht selten spielten die schönen Maurinnen eine Rolle bei den
Zerstreuungen der Herren.

Wenn Philipp, wie es selten geschah, zur Nachtzeit das Gemach Johannas
betrat, war er fast jedesmal trunken. Seine Liebkosungen rochen nach
Wein, seine Leidenschaft war geräuschvoll und prahlerisch. Sein Gemüt
war im Rausch der Lüge wie sein Blut im Rausch des Weines. Er merkte
nicht, wie dann alles an Johanna lautlos schluchzte und ihr Kuß ein
Krampf der Reue wurde. Er hatte noch immer nicht gelernt, in
Menschengesichtern zu lesen; er hatte den Geist eines Pagen. Wenn er auf
dem Pferde saß und den Kopf stolz zur Seite drehte, dann mochte er als
ein Wesen für sich erscheinen. Aber seine Zunge war von Gott versiegelt,
und er wußte nichts von dem Schmerz um sich selbst.

Wie die Tage sich ausspannen zu Wochen und die Monate sich zu Jahren
dehnten, empfand Johanna kaum. Sie brachte ein drittes Kind zur Welt,
ein viertes, ein fünftes. Sie trug sie unter einem verödeten Herzen und
gebar sie – hoffnungslos. Alle wurden ihr genommen wie jenes Kind der
Liebe; ihr war, als setze sie Gespenster ins Leben, Dinge, die zu Luft
verrannen, wenn ihr sehnsüchtiger Arm nach ihnen griff. In ihre tiefe
Verlassenheit blickten aus weiter Ferne, von hyperboreischer Meeresküste
her die lebendigen Augen ihres Sohnes Karl. Sie wußte nicht mehr von
ihm, als man von den Sagenfiguren aus der Vorzeit erfährt.

Ihr vernichtetes und gescheuchtes Herz grub sich weiter in die Nacht. In
fremdartiger Hitze rollte ihr Blut. Beim Anblick der Sterne konnte sie
vor Ungeduld zittern und die Hand auf die zum Aufschrei geöffneten
Lippen pressen. Des Schlafes bedurfte sie kaum. Was sie sprach, klang
feindselig und verworren. Einmal nahm sie Petrarcas Sonette zur Hand und
las; plötzlich schleuderte sie das Buch, von Wut, Gram und Haß
überwältigt, weit weg, hob es wieder auf, riß es in Fetzen und
zerstampfte, was davon übrig war, mit den Füßen. Ihre Ruhelosigkeit
erregte den Schrecken aller Bewohner des Palastes; selbst ihr
Beichtvater hatte Angst vor den lodernden Augen. Wenn alles schlief,
ging sie mit der Kerze langsam durch ihr Zimmer, doch schritt sie nie
durch die Mitte des Raumes, sondern an den Wänden entlang. Und ihr
bloßer Hals leuchtete über dem dunklen Kleid wie der Stengel einer
Blume, die sich vor dem Sturme senkt.

       *       *       *       *       *

Es ereignete sich nun, daß eine schöne Portugiesin an den Hof zu Burgos
kam, deren Name Benigna von Latiloe war. Sie wohnte im Hause Don Inigos
de Stuniga, dort sah sie auch den Herzog zum ersten Mal und sie geriet
in solche Liebe zu ihm, daß alle, die zugegen waren, es sogleich
merkten. Philipp jedoch verhielt sich kühl, trotzdem die Dame von
bezaubernder Anmut war und auch einigen Geist besaß. Bei späteren
Begegnungen wich er um so weniger von seinem höflichen, aber gemessenen
Betragen ab, als ihm der Eifer Donna Benignas lästig zu werden begann
und ihre Nachstellung den Stoff des öffentlichen Geredes bildete. Wäre
sie geschickt und kokett genug gewesen, seine Eroberungslust zu reizen,
so wäre sie vielleicht Gunstfräulein geworden, denn andere, die sich
nicht solcher Gaben rühmen konnten wie sie, wurden dieses Vorzugs leicht
zuteil; ihr schlug es fehl. Die Aufrichtigkeit ihrer Leidenschaft war zu
groß.

Das Unheil wollte es, daß der Ritter Franz von Kastilalt, der noch immer
der unzertrennliche Begleiter Don Philipps war, sich mit ebensolcher
Heftigkeit in die schöne Portugiesin verliebte, wie diese in den Herzog.
Er fand aber kein Gehör, und seine ungestümen Bemühungen machten ihn
bloß zum Gegenstand des Abscheus für das Fräulein. Als er sah, daß ein
Glück, welches Philipp gleichgültig verschmähte, ihm verwehrt sein
sollte, wurde er von tödlichem Haß erfüllt, nicht nur gegen Donna
Benigna, sondern auch gegen seinen Herrn, und seiner tückischen
Gemütsart entsprechend, sann er darauf, an beiden sich zu rächen. Häufig
war er Helfer und Anstifter bei den Liebesabenteuern Philipps gewesen.
Er wußte, daß dieser mit ängstlicher Sorgsamkeit darüber wachte, sein
Treiben vor Donna Johanna geheim zu halten und nur auf Schleichwegen den
leichtsinnigen Neigungen fröhnte. Wie alle war auch Ritter Kastilalt
davon überzeugt, daß die Infantin mit unsichtbaren Mächten im Bündnis
sei, und er beschloß, den Herzog und Donna Benigna bei Johanna zu
verraten, als ob sie in verbotener Beziehung ständen. Zu diesem Zweck
wußte er sich die Briefe anzueignen, welche die Portugiesin fast täglich
an Philipp sandte, und wählte diejenigen aus, deren hingebender und
zärtlicher Ton wohl darauf schließen lassen konnte, daß die Anklage des
Ritters auf Wahrheit beruhe.

Er ließ sich bei der Infantin melden, gab sich ein demütig-ergebenes
Ansehen, als ob ihm auf der Welt nichts im Sinn läge, als das Wohl der
Herzogin und als ob ihn sein Gewissen der Ruhe beraubt und ihn endlich
gezwungen habe, sich der Last des Verschweigens zu entledigen. Darnach
brachte er das Gespinnst ans Licht, das er in seinem schwarzen Innern
gewoben, gab die Briefe Donna Benignas zum Beleg und ging wieder, seiner
Sache keineswegs versichert, denn die Infantin hatte ihn mit unbewegter
Miene angehört und kein einziges Wort gesprochen. Ehe noch der Stein
seinem Auge entschwunden war, den er so ränkevoll den Abhang hinunter
gerollt, nisteten sich schon Angst und Reue bei ihm ein.

Als der Ritter fort war, preßte Donna Johanna ihre beiden Hände gegen
die Brust, schritt zu dem hohen Spiegel, der zwischen zwei Halbsäulen
aus gelbem Marmor hing, und betrachtete mit großer Aufmerksamkeit ihr
Gesicht. Im Zimmer befand sich niemand als Donna Gregoria und diese
verfolgte das Tun ihrer Herrin bang und lautlos.

Endlich rief Johanna, ohne sich zu rühren, mit klarer Stimme in den
Spiegel hinein: »Gregoria!« – »Was befehlt Ihr, edle Donna?« antwortete
diese zitternd. – »Er muß sterben, Gregoria,« sagte die Infantin. Donna
Gregoria schwieg. »Hörst du, Gregoria, er muß sterben,« wiederholte
Johanna, und das letzte Wort erstickte in einem schnelleren Atemzug,
während die Hände, wie leblos geworden, von der Brust heruntersanken.
Und Donna Gregoria hauchte kaum vernehmlich: »Ja, edle Donna.« Dann
näherte sie sich der Infantin, fiel auf die Kniee und lehnte die
eiskalte Stirn gegen Johannas starre Hand. Johanna beugte sich herab,
weit, mit Anstrengung beugte sie sich nieder und flüsterte ins Ohr der
Dienerin.

Es lebte ein Verwandter von Donna Gregoria am Hof, ein Edelknabe namens
Morales, und dieser war Donna Gregoria mit Leib und Seele zugetan. Sie
sprach mit ihm noch am selben Abend und sagte ihm, er könne an einem
Bach bei Murcia gewisse Kräuter finden und fertigte ihm auch eine Liste
von den Kräutern an. Morales reiste fort, sammelte die Kräuter und ritt
damit nach Molina in Arragon zu einem Apotheker, den er kannte. In
seiner Wohnung destillierte der Apotheker den Saft aus den Kräutern und
zum Beweis, wie furchtbar das entstandene Gift sei, gab er einen Tropfen
davon einem Hahn ein, der sogleich verendete.

Einige Tage darauf gab der Herzog in einem Haus bei Burgos, welches
Cordon genannt wurde und damals dem Grafen Punon-Rostro gehörte,
mehreren Granden des Landes ein Essen. Die Ordnung für die Mahlzeit war
diese: sobald man von der Mittelhalle ins Haus trat, fand man im ersten
Saal zwei Schenktische, einen für die Speisen und einen für den Wein.
Links davon war der Speisesaal, dessen Fenster aufs freie Feld gingen.
Zwischen beiden Räumen war ein enger Durchgang. Während getafelt wurde,
verstand Morales es so einzurichten, daß, so oft Don Philipp zu trinken
verlangte, kein anderer als er ihm den Wein brachte. Dreimal reichte er
ihm den Becher; vor dem dritten Mal schüttete er in jenem dunklen
Korridor heimlich und schnell das Gift hinein. Es war ungefähr soviel
als eine Nußschale gefüllt hätte.

Wenige Minuten darauf fühlte sich der Herzog krank. Er ging hinaus,
indes die Herren ahnungslos sitzen blieben um zu spielen. Eine halbe
Stunde nachher rief sie der Haushofmeister in großem Schrecken, denn
Philipp lag bereits im Fieber. Er wurde eilends nach der Stadt
geschafft, es ward aber späte Nacht, ehe sie ankamen und die Ärzte
erschienen. Gleich hernach verstarb er unter gräßlichen Schmerzen.

Don Gotor begab sich zur Infantin. Er glaubte sie noch schlafend und
weckte die Diener und Kammerfrauen. Da erschien Donna Gregoria und
führte ihn schweigend in einen Saal, wo Johanna vor einem Kohlenbecken
saß. Mit einem Gesicht, starr und fahl wie Eisen, berichtete der Arzt in
sonderbar gemessener Form den Tod seines Herrn. Das Auge der Infantin
wandte sich langsam der regungslosen Gestalt des Greises zu, dessen
Blick furchtlos und brennend dem ihren begegnete. Doch wie der Schwamm
von einer Faust wurden Johannas Züge von Ekstase zusammengepreßt, es
zog ein Freudenschimmer darüber hin, und die Beine, der ganze Leib
streckten sich wie im Bade.

       *       *       *       *       *

Der Leichnam war begraben. Böses Gerede schwirrte über der Gruft und
erstickte wieder in abergläubischer Furcht. Als einst mehrere Edelleute
auf dem Hauptplatze standen und ungescheut die Vermutung aussprachen,
daß Philipp durch Mörderhand umgekommen sei, erschütterte ein Erdbeben
die Stadt, die Fenster des Rathauses zerbrachen und die erschreckt
Flüchtenden sahen die Türme der Kirchen wanken. Der Herr von Mingoval,
hochbetrauter Oberstallmeister, wollte währenddem die Infantin mit
fliegenden Haaren auf dem Dach des Palastes bemerkt haben, wo sie einen
weißen Zauberstab schwang.

Es fiel auf, daß Donna Gregoria ihren Abschied nahm und sich auf einen
Ruhesitz bei Barcelona begab. Der Ritter Franz von Kastilalt floh übers
Gebirge und nahm Dienste beim König von Frankreich. Der Edelknabe
Morales wurde nächtlicherweile von einem betrunkenen Söldner erstochen.
Donna Benigna kehrte in ihre Heimat zurück und nahm den Schleier.

Die Infantin lebte in hohen Gemächern voll gläserner Luft. Ihre Frauen
mieden sie, die Diener jeglicher Art fürchteten sie. Es war später
Herbst, der Sturmwind rüttelte an den Mauern des Schlosses. Welche
Unruhe in Johannas Herz! Trat jemand unerwartet vor sie hin, so
erschrak sie und ihr angstvoll fragendes Auge zeigte den matten Glanz
der Schlaflosen. Bisweilen war ihr Gesicht in rätselhafter Zärtlichkeit
wie gegen eine unsichtbare Gestalt gerichtet und die Hand krümmte sich
gleich einem dürren Blatt, das sich zusammenrollt, bevor es Winter wird.

Bei der Tafel saß sie still und in sich gekehrt und berührte selten eine
Schüssel. Einmal lief ein Sonnenstrahl, durch eine Kristallvase
zerteilt, als siebenfarbige Brücke durch den Raum, bis er ihre Hand
erreichte und dem Flügel eines Insektes ähnlich geheimnisvoll auf- und
abzitterte. Da sprang sie empor und schluchzte laut. Ihr war wie einem,
der ein schönes Bild von der Wand gerissen hat; nun strömt Finsternis
und Grauen von der Stelle aus, die vorher so freundlich geschmückt war.

In Philipps Zimmern konnte sie ein wenig Frieden finden, trotzdem alle
Gegenstände zu fragen schienen: wo ist Philipp? Sie erwiderte in ihrem
Innern, um sich und die Dinge zu besänftigen: er ist verreist, er kommt
wieder. Und sie behängte sich manchmal für die Stunde seiner Wiederkunft
mit Edelsteinen und schönen Kleidern. Als einst Frau von Dutselle
fragte: »Warum schmückt Ihr Euch wie zum Balle, Fürstin, derweil Ihr
doch Trauer um Don Philipp tragen solltet?« Da erwiderte sie mit dem
Aufseufzen eines von Träumen gequälten Kindes: »Ich schmücke mich, weil
ich auf Philipp warte.«

Sie schmückte auch sein Zimmer mit Blumen und legte einen Teppich über
die Schwelle. Aus den Truhen holte sie seine Waffenkleider und küßte
die goldenen Ketten, Armspangen und Fingerringe. In seinem Bett spürte
sie mit ihrer flachen Hand die Wärme seines Körpers und an seinem Tisch
saß sie an demselben Platz, wo er gesessen. Dabei erstaunte sie, daß
alles so war, wie es war, daß die Sonne schien, daß es Abend werden
konnte und wieder Morgen.

Es war an einem Novembertag, als sie einige von den Dienern rief und an
ihrer Spitze durch das nördliche Tor gegen Millaflores ritt. In der
Kartause zu Millaflores lag Herzog Philipp begraben. Die erschrockenen
Mönche mußten das Tor aufsperren, sodann ließ sie den Stein vom
Gruftgewölbe nehmen und den Sarg herausheben und öffnen. Alle waren
gerührt beim Anblick der wohlerhaltenen Züge ihres Herrn. Das Gesicht
schien länger, die Züge ernster.

Ein düsteres Lächeln bewegte den Mund der Infantin. Der Pater Guardian
meinte später, sie habe gelächelt, weil der Teufel sie, wie er deutlich
wahrgenommen, am Ohr gekitzelt habe. Johanna gebot allen, sich zu
entfernen, – unwidersprechlicher als das Wort war ihr Blick – und als
sie allein war, kniete sie hin, kreuzte die Hände hoch über der Brust,
so daß die Daumen schier den Hals umschlossen und fing an zu beten. Doch
unversehens und während ihre Lippen noch mit Gott verkehrten, verlor sie
die Demut aus der Brust, es war, wie wenn ein Opfer plötzlich von
unheiligen Fingern entwendet würde, das Gebet verwandelte sich zur
Forderung, und die Arme streckten sich aus, nicht um zu erflehen,
sondern um zu empfangen und die Stirne leuchtete wie von Bereitschaft
und der Leib zitterte und bebte gleichwie in den Wehen der Geburt, und
Atem, Gebärde, Pulsschlag, alles schrie: Gib mir Philipp wieder!

Darauf schien ein Hauch durch die Luft der Kapelle zu gleiten und
Johanna spürte, daß ein süßes Jasagen die Wölbung erfüllte. Sie sprang
empor. Sie rief die Leute. Des Einspruchs der Mönche nicht achtend, ließ
sie den balsamierten Leichnam auf eine Bahre heben. Sie wurde ganz
Antrieb, peitschte die Träger förmlich vorwärts und blieb unbewegt und
blickte nicht zurück, da jene schauderten, weil die Mönche unter dem Tor
standen und wehklagten. Es wurde Nacht, der Boden war aufgeweicht, sie
verloren den Weg; Johanna hieß die Männer rasten und schickte einen
Diener voraus, um Fackeln zu holen. Im Regen ging sie ruhlos hin und
her, das Kleid emporgerafft, den Schritt von qualvoller Ungeduld bald
bekämpft, bald befeuert, und als endlich eine Fackelflamme in der
sturmdurchwühlten Dunkelheit aufloderte, schrie sie jubelnd, so daß die
am Gehölz lautlos wartenden Begleiter erbleichten.

Im Palast angelangt, bekleidete sie den Körper Philipps mit einem
prachtvollen Gewand aus Silberschuppen, ließ ihn in einen gläsernen Sarg
legen, der oben und an der Seite zu öffnen war, und ließ den Sarg in
ihrem Schlafgemach neben dem Bett aufstellen. Unverwandten Auges
betrachtete sie die edel hingegossene Gestalt, an der sich jede Form im
geheimen von selbst vollendet zu haben schien. Es war kein Jüngling
mehr, sondern ein Mann und ein König.

Kein weibliches Geschöpf durfte den Raum betreten, auf den Gängen und in
den Nebengemächern durfte keine Stimme laut werden. Johanna war es, als
sei vor allem die große Stille auch von außen erforderlich, die in
Philipps Antlitz so tief innen wohnte, sei notwendig, damit sie in diese
Stille eintauchen könne, wach und lauschend, um ihre Ursache und ihr
Wesen zu ergründen, in einem begnadeten Augenblick das ungeheure Rätsel
zu lösen, und dann den Funken in der triumphierenden Hand zu halten, der
das Auge wieder mit Leben zu speisen vermochte. Und so beugte sie sich
immer wieder über den Leichnam, wie sich der Habgierige über einen
Schacht beugt, worin rote Klumpen Goldes funkeln, angeschmiedet und
verwachsen an die gewaltige Erde.

Schon am zweiten Tag erschien der Bischof und befahl der Infantin, die
Leiche wieder zu bestatten. Johanna weigerte sich dessen und wies
endlich, rasend vor Angst, daß man sie des toten Gemahls berauben könne,
den Kirchenherrn aus dem Palast. Die Folge war, daß die Dominikaner den
Pöbel aufregten und verlauten ließen, der unbegrabene Leichnam mache das
Glück vom Lande abspenstig, der Wein müsse verderben und die Ernte
mißraten. Indes die Räte beratschlagten, wie man der Gefahr steuern
könne, die das Land bedrohte, erschien vor der Infantin ein wunderlicher
Mönch, der Bruder Alonso de Jesu Maria, der viele Jahre in einer Einöde
der Estremadura nur seinen göttlichen Visionen gelebt hatte und für
einen Propheten galt.

Eines Tages erschallte großer Lärm aus der Vorhalle, und als die
Herzogin zornig und befremdet heraustrat, schwiegen alle bis auf einen
halbnackten bleichen Fremdling, der sich in Anrufungen und
Verwünschungen erging, weil Diener und Wachen ihm den Eintritt
verwehrten. Dies war der Bruder Alonso, ein noch junger bartloser
Mensch, verwüstet durch Askese, hager wie ein Pfahl, beredt wie ein
Trunkener, feurig wie ein Verliebter. Diesem armseligsten der Geschöpfe
lieh Johanna das Ohr, so vielleicht zum ersten Mal dem Zuspruch eines
Andern untertan.

Er begann damit, daß er der Infantin von einem König erzählte, welcher
nach der Zeit von sieben Jahren aus dem Tod wieder zum Leben
aufgestanden sei. Auch mit Philipp werde ein gleiches geschehen, wenn
die keusche Liebe Johannas und ihr unerschütterlicher Wille jeden
eigenen Schmerz vergesse, keine selbstische Lust mehr begehre, sondern
einzig dem Gedanken der Wiedererweckung hingegeben sei. Dies daure
sieben Jahre; denn sieben sei die heilige Zahl der Bibel. In sieben
Jahren erneure sich das Feuer der Sterne und des Mondes; nach sieben
Jahren zerschelle immer wieder dieselbe Woge am Strand; nach sieben
Jahren grüne der Baum des Lebens und siebenfach geteilt sei seine
Wurzel.

Als sie solches vernahm, kniete die Infantin nieder, beugte das Haupt
tief vor dem Bruder Alonso und berührte mit den Lippen den Saum seines
Kleides. Sie bewirtete den Mönch und beschenkte ihn, aber sie redete
nicht mit ihm und allmählich wurde dem Heiligen beklommen zumut in ihrer
Nähe und er machte sich unter einem schicklichen Vorwand davon. Johanna
sah ihn ohne Teilnahme scheiden. Sie empfand das Leben der Lebendigen
nicht mehr; dem eigenen Körper entfremdet, begriff sie auch von den
Menschen nichts als die Gestalt und ein schattenhaft-spielendes Hin und
Her, alles Licht der Welt sammelte sich am Sarge Philipps und je weiter
der Fuß sich davon entfernte, je finsterer wurde der Raum. Doch wenn sie
an der Seite des Toten kauerte und wieder wie einst seinen Blick zu
erhaschen, sein Auge aufzugraben suchte und ihn doch fester hielt als
ehedem, wo er auf lautlosem Wasser durch Nebel glitt, da sehnte sie sich
nach einem Zeugnis seiner Gegenwart, nach irgend einem Laut aus dem
Innern dieser starren Hülle und sie verfiel auf einen absonderlichen
Einfall.

Es lebte in Burgos ein brabantischer Uhrmacher mit Namen Symon Longin,
ein Mann von großer Geschicklichkeit in seinem Fach. Don Philipp, der
viel Vergnügen an Uhren gehabt und manche müßige Stunde damit verkürzt
hatte, ein feingefügtes Werk behutsam auseinanderzulegen, hatte den
Meister in hoher Schätzung gehalten. Die Infantin ließ ihn kommen und
erteilte ihm einen Auftrag, der Herrn Symon sehr in Verlegenheit setzte
und ihm viel Kopfzerbrechen machte. Er sollte nämlich ein Werk
anfertigen, das man in die Brust des Leichnams schließen könne und das
den Schlag eines lebendigen Herzens nachzuahmen vermöchte. Nach einigem
Besinnen versprach Symon Longin, sein Bestes zu tun und die Infantin
stellte ihm eine Belohnung von zweitausend Dublonen in Aussicht.

Nach Verlauf zweier Wochen brachte der Meister das kunstreiche
Pendelwerk. Der Rücken der Leiche wurde aufgeschnitten und der
Mechanismus in die linke Seite der Brust geschoben. Unter der Schulter
war ein Stift mit einer Drehscheibe angebracht, vermittelst deren das
Werk wieder in Gang zu setzen war, wenn es nach vierundzwanzig Stunden
ablief. Als Johanna zum ersten Mal ihr Ohr auf das Kleid des Toten legte
und den wundersam dumpfen Schlag vernahm, schloß sie die Augen, als
lausche sie der Musik von Engelchören. Die halbe Nacht lang lag sie und
horchte; die linke Hand hielt sie ans eigne Herz gepreßt und hatte ein
seliges Gefühl des Gleichklangs, wenn dessen natürliches Pochen mit
jenem künstlichen in denselben Pausen erfolgte.

Die Sache sprach sich herum und steigerte das Entsetzen vor der Infantin
immer mehr. Sie mußte darauf sinnen, dem allgemeinen Drängen zu
entfliehen und sagte denen, die sie um Bestattung des Leichnams
bestürmten, sie wolle den Körper des Herzogs nach seiner Heimat bringen
und ihn im Dome von Sankt Stephan beisetzen. Damit waren Philipps
Landsleute einverstanden, und sie schufen eine kleine Partei zugunsten
der Herrin. Johanna hielt Auswahl unter den Dienern, und wenige, die
treu, aber viele, die habsüchtig waren, – denn sie achtete des Geldes
nicht – boten sich aus freien Stücken an, mitzuziehen, wohin sie wolle.
Auch warb sie an hundert Söldner zu hohem Lohn und ließ Pferde und
Maultiere herbeischaffen.

So gerüstet, begab sie sich auf die Reise. Es war wie eine Wettfahrt
mit der Zeit oder als wolle sie die Zeit zu größerer Eile reizen. Der
Worte des Mönchs blieb sie eingedenk zu jeder Stunde.

       *       *       *       *       *

Am Tag der heiligen Katharina, vor Anbruch der Nacht, verließ die
Infantin Burgos, zog bis in die arragonischen Berge, kam am Morgen bei
heftigem Unwetter vor das Schloß Armedilla, und schon in der nächsten
Nacht ging es weiter: nach Olmedo, nach Escalona und San Francisco, von
Dorf zu Dorf über die unwirtlichen Hochtäler nach Norden.

Vier Maultiere trugen den Sarg, vierundzwanzig Männer mit Fackeln in den
Händen ritten ihm zur Seite. Schrecklich war das Aussehen dieser Männer,
ihre Gesichter waren kohlschwarz vom Flammenruß. An vielen Orten
verkrochen sich die Menschen beim Anblick des schauerlichen Zuges. Auch
unter Johannas eigenen Leuten verbreitete sich eine düster-ahnungsvolle
Stimmung, und einige ergriffen heimlich die Flucht. Andere sagten, sie
wollten eine Stadt beschauen, gingen und kehrten nicht wieder.

Vor dem Sarge ritt ein Fahnenträger mit einem schwarzen, für die Augen
durchlöcherten Tuch vor dem Gesicht. Auf der Fahne brannte in goldnen
Buchstaben das Wort Nondum, noch nicht.

Bei Tag gewährten die Hütten der Bauern, die Häuser der Herren Rast und
Aufenthalt. Johanna bevorzugte die Orte in der Ebene, wo ihr Blick die
Fernen fassen konnte, ehe sie sich zu kurzem Schlaf neben Philipp
bettete. Sie liebte nicht Blumen in ihrer Nähe, aus Furcht, daß dann ein
flüchtiges Vergessen ihre Sinne kraftloser machen könnte. Sie gab kein
Ziel an, denn so erschien es ihr, als ob Philipp Richtung und Weg
befehle. Nach Osten, Westen oder Norden zu ziehen, galt ihr gleich, wenn
nur die Tage hinabflossen zur Zukunft. Während die Welt an ihr
verschlossenes Ohr vergebens pochte, sammelte sie in ihrer Brust Leben.
Der Tote war gereinigt von aller Schuld, sie selbst hatte für ihn die
Verantwortungen des Daseins übernommen. Im voraus schmückte sie sein
Auge mit jener Glut, mit welcher er ihr danken würde für die Freiheit
und Leichtigkeit seiner Seele. Einst hatte sie Ungeheures gewollt, ihr
anmaßender Traum hatte von ihm verlangt, daß er einem Gott gleich sei;
jetzt wollte sie nichts weiter als einen Menschen und sie schmachtete um
den leersten seiner Blicke und die knabenhafteste seiner Gebärden, so
wie er einmal um sie geschmachtet hatte auf dem Krankenlager der
Sinnenliebe. Der blaue Himmel war ihr nichts, sie mußte erst die Bläue
von Philipps Auge darin sehen, der süße Duft burgundischer Gärten
nichts, außer er schien Hauch aus seinem Munde, kein Schmerz war außer
dem seinen um das frühverlorene Leben, kein Ding war betrachtenswert
außer dem erstarrten Leichenantlitz.

Unter ihren Begleitern war ein Mann, der ihr tief im Herzen ergeben war.
Er hieß Jan Dalaunes und war ein ehemaliger Falkner, dem bei einer Jagd
ein Auge ausgeschossen worden. Seitdem hatte er sich der Dichtkunst
gewidmet, wobei ihn seine melancholische Gemütsart unterstützte, und er
schrieb auch Stücke geistlichen Inhalts. Er wußte von Johannas ehern
umschlossenen Mienen die Müdigkeit abzulesen, die sie sich selbst
verhehlte, und er wurde zum kühnen Redner, wenn es galt, die immer rege
Widerspenstigkeit der Söldner zu besänftigen. Das nächtlich lautlose
Wandern mit einer Leiche, in deren Brust ein Räderwerk den Schlag des
Lebens nachahmte, verdüsterte den Geist der Leute. Kam es doch vor, daß
rauhe, kriegsgewohnte Burschen von Krämpfen befallen wurden, wenn
mitternächtiger Sturm die Bäume bog, oder daß sie schrieen wie
Besessene, wenn das Irrlicht übers Moor tanzte und der Mond grünliche
Schleier auf den Felsen spann. Sie atmeten auf, sowie der erste
Morgenschein den Osten färbte, und als sie nach Monaten ins flandrische
Gebiet kamen, verließen sie den Dienst der Infantin.

Jan Dalaunes überredete die Herrin, in der Stadt Gent zu verweilen. Er
trug dabei in seinem stillen Sinn die Hoffnung, daß sie nach ihrem Sohn
Carlos Verlangen haben würde und durch seinen Anblick von der
unergründlichen Schwermut geheilt zu werden vermöchte. Doch seine
Rechnung ging fehl. Als der Graf von Croy, der ihr Wohnung in seinem
Palast angeboten hatte, vor ihr erschien und sie fragte, ob sie den
jungen Prinzen zu sehen begehre, da zuckte es auf in Johannas Gesicht,
wie wenn eine Fackel durch einen finstern Raum fällt. Dann aber
entgegnete sie kopfschüttelnd und mit kaltem Ausdruck, sie wolle Don
Carlos nicht sehen. Die Worte des Mönchs erhoben sich wie Wächter in
ihrem Innern, wenngleich sie ihrer nur als Formel gegen die feindlich
andringende Welt bedurfte.

Sie schloß sich in ihre Gemächer ein, um nichts zu sehen, als ihren
Toten, nichts zu hören als das täuschungsvolle Klopfen des Uhrwerks. Ja,
zwischen Täuschung und Vision lag sie in einem Krampf, der halb Schmerz
und halb Lust war. Sie mußte Weib sein, um Philipp zu lieben, Mann, um
ihn noch einmal zu zeugen und Mutter, um ihn noch einmal zu gebären. Sie
mußte in diesem fertigen Leib Kindheit und Jugend wiedererschaffen, das
erwachende Auge mit allen Erinnerungen füllen, nichts von dem vergessen,
was solch ein königliches Leben hält und trägt; daher mußte sie auch er
selbst werden, damit Einheit entstehe zwischen dem Philipp von einst und
dem der Zukunft und, wie alle Schuld, auch der grauenvolle Zustand des
Nichtseins ausgelöscht werde aus seinem Geist. Dies zu vollbringen,
still, allein, den Menschen unverständlich, ja scheinbar auch Gott
zuwiderhandelnd, forderte übermenschliche Anspannung und mußte das Blut
in unaufhörlichem Fieberlauf durch die Adern treiben.

Frühling, Sommer und Herbst verflossen zum zweiten Mal. In dieser Zeit
war der junge König Karl sehr krank gewesen. Einst war er nämlich des
Nachts aufgeweckt worden, um eine angekommene Depesche von geringer
Wichtigkeit zu lesen. Sein Gouverneur, der ihn nach römischen
Grundsätzen erzog, hielt unerbittlich darauf, daß er sich trotz seiner
großen Jugend an die Geschäfte gewöhne. Als der Knabe durch einen
dunklen Korridor in ein Zimmer gelangte, in welchem nur eine matte Ampel
brannte, hielt er still, da er sich verirrt zu haben glaubte und
belauschte ohne zu wollen das Gespräch zweier Diener, die in einer
Nische kauerten.

»Wißt Ihr denn, daß die spanische Königin hier ist?« fragte der eine,
schläfrig gähnend. Und der andre erwiderte: »So? ist die hier? ich wußt
es nicht.« Darauf der erste: »Es ist die Mutter unsres jungen Herrn. Ein
schlechtes Weib.« Und wieder der andre: »Warum lebt sie nicht beim
Sohn?« – »Das böse Gewissen ist schuld,« flüsterte der erste, »hat sie
doch ihren Herrn und Gemahl mit Gift vergeben.«

Ein leiser Schrei unterbrach die Erschreckenden. Der Knabe war zu Boden
gestürzt. Er mußte fortgetragen werden und lag lange darnieder.

Viele Wochen später gab der Graf von Croy ein großes Maskenfest, welches
drei Tage währte. Die Musik und das Lachen der Gäste tönte bis in die
Zimmer der Infantin. Als Jan Dalaunes vor seiner Herrin erschien,
entsetzte er sich, denn so durchwühlt und erregt hatte er sie niemals
gesehen. Sie raste durch den Raum, immer querüber von Ecke zu Ecke und
hielt die Hände gegen die Ohren gepreßt. Offenbar war das Spiel der
Flöten und Geigen daran schuld. Der Falkner ging hinaus, beriet mit dem
Kastilianer Antonio Vacca, was zu tun sei, dann kehrten beide zurück
und Jan Dalaunes schlug der Infantin vor, ihm in den Luxemburger Palast
zu folgen, der nur wenige Straßen entfernt lag. Johanna, qualvoll
bedrängt, hatte nicht übel Lust, zu willfahren. Doch näherte sie sich
zuerst der Leiche Philipps, beugte sich nieder, umschlang den Toten,
wisperte in sein Ohr, küßte die wächserne Stirn, lächelte
beschwichtigend wie eine Mutter, wenn sie den Säugling verlassen muß,
wandte sich endlich mit fahl glänzenden Augen zu den beiden Männern und
sagte heiteren Tons: »Er fängt schon an zu träumen.«

Dann ging sie, tief in sich gekehrt. Und so, nach innen webend, schritt
sie im Luxemburger Palast über einen von Dämmerlicht erfüllten Flur, als
plötzlich der Kastilianer vor der offenen Türe eines Saals stehen blieb
und lächelnd den Arm ausstreckte. Vor einem länglichen Tisch stand ein
feister Mann im Samthabit und mit weißer Halskrause und neben ihm, ein
Buch in der Hand, saß ein Knabe von etwa zehn Jahren.

Donna Johanna hob langsam die schweren Augenlider und starrte hinein.
Durch die Marienglasscheiben der schmalgebogenen Fenster fiel ein
gelblicher Perlenschein in den stillen Raum. »Wer ist der Knabe?« fragte
Johanna beklommen. Antonio Vacca antwortete mit demselben diensteifrigen
Lächeln: »Es ist Euer Sohn Karl, edle Donna, und der würdige Herr Cernio
ist mit ihm, der beste Grammatikus weit und breit. Ich selbst habe die
Ehre, seine Hoheit in den Rechtswissenschaften zu belehren.«

Flüsternd trat der Kastilianer an den Tisch. Der Knabe erhob sich und
schritt gravitätisch zur Schwelle. Dann stand er vor seiner Mutter:
regungslos, schmalen Antlitzes, bleich, schweigend und schwermütig.

Ein Laut drängte sich auf Johannas Lippen. Ihr war, als seien Brust und
Leib mit Feuer angefüllt. Schon wollte sie reden, da gedachte sie noch
zu rechter Zeit der Worte des Mönchs: zu vergessen jeden eigenen Schmerz
und jede eigene Lust.

Stumm und kühl nickte sie dem Knaben zu, wandte sich ab und ging weiter.
Mit tief gesenktem Haupt folgte ihr der treue Falkner Jan Dalaunes.

       *       *       *       *       *

Drei Tage später verließ Donna Johanna die flandrische Stadt und zog mit
neugeworbenen Söldnern den Rhein hinauf gegen Köln und Mainz und über
Franken an die Donau und weiter, wochen- und monatelang, Sommer und
Winter hindurch, manchmal bei Tage und öfter bei Nacht. Da und dort nahm
sie Aufenthalt; in Regensburg blieb sie acht Monate, in Landshut sechs,
in Augsburg fünf. An den Hof des Kaisers zu gehen wagte sie nicht. Die
Schlösser der Edelleute gaben ihr gute Unterkunft, denn es war bekannt,
daß sie mit königlichen Geschenken lohnte. Zu Memmingen ließ sie eine
Kapelle erbauen und in Ulm eine ganze Kirche. Es war ihr trostreich, in
diesem Land der vielen Flüsse, der Berge und der schönen Seen zu weilen;
oft schien ihr ein Stück von Philipps Seele in der milden Luft zu ruhen,
und wenn der Frühling kam, mußte sie sich mit doppelter Kraft
verschließen, um nicht teilzunehmen an dem holden Erwachen der Natur.

Sie mied Plätze, wo das Volk in Freudigkeit zusammenströmte, und wenn
sich ein Kindergesicht unschuldig-froh ihr zuwandte, schloß sie die
Augen. Deswegen liebte sie auch am meisten des Nachts zu reisen, weil da
Dinge und Menschen erstarben und die Flammen der Fackeln wie Opferfeuer
hinausstrahlten über den Sarg ihres Herrn Liebsten. Empfindungslos gegen
Sturm und Regen, weder Mühsal noch Entbehrung scheuend, so trieb sie die
Zeit vor sich her wie einen lahmen Hund.

Jahr auf Jahr floß vorüber. Johanna zählte sie nicht im Kalender,
sondern maß sie an ihrer Hoffnung. Doch mit der Zeit ist es wunderlich
beschaffen: sie hat ein Zeugnis der Wahrheit in sich, das selbst den
umschlossensten Sinnen nicht verborgen bleiben kann. Johanna zog einem
Bild entgegen, und je mehr sie sich ihm zu nähern gedachte, je mehr
schrumpfte es zusammen, und von all den vergeudeten Flammen des Herzens
wurde sie nicht reicher, ja, ihr Herz glich endlich der blassen Qualle,
die das Meer an den Strand spült, und frierend stand sie da als die
letzten Fetzen ihrer Armut von der zuckenden Schulter sanken. Philipp!
wer war Philipp? der bloße Name schien zu verfließen, und gab es noch
einen Mann auf Erden, der so hieß, so war er sicherlich nur der Schatten
seiner selbst. Und obwohl sie das leblose Abbild von Philipps Leib
täglich vor sich ruhen sah, verlor sie die Erinnerung an ihn und wußte
nicht mehr, wie er aussah und wie er sprach, wußte nichts mehr von der
Farbe seiner Augen und der Form seiner Hände und es ward ihr bang und
banger, als sie so seinen Namen durch die Länder schleppte, nichts
weiter als seinen Namen. Die Finsternis in ihr verlor gleichsam ihre
Grenzen, überdeckte Himmel, Erde und Wasser, erfüllte die Schöpfung mit
eisiger, bodenloser Trauer.

In den rhätischen Gebirgen erkrankte Jan Dalaunes und blieb in einem
Dorf zurück. Erst im Savoyischen holte der ergebene Mann die Herrin
wieder ein und kam gerade recht, um die Söldner und Diener zu ermutigen
und anzufeuern, als sie sich weigerten, am Abend über einen verschneiten
Paß zu wandern.

Es war ein schauriges Unwetter, als sie die Höhen erreichten. Die
Vordersten verloren den Weg und sanken tief in den Schnee. Einige
blieben ermattet liegen, schliefen ein und erfroren. Die Fackeln
verlöschten und zum Glück entdeckte der vorauseilende Jan Dalaunes die
Hütte eines Hirten. Da fanden die Zuflucht, die sich noch retten
konnten; der Sarg blieb draußen und wurde vom Schnee zugeweht.

Noch in der Nacht erwachte Jan Dalaunes, tastete sich zur Tür des vom
schlechten Atem der Schläfer erfüllten Raums und trat hinaus. Angst um
die Herrin hatte seinen Schlummer verscheucht.

Der Himmel war klar und die Sterne funkelten in erhabener Pracht und
Ruhe. Über einem fernen Schneefeld herauf bog sich die Milchstraße über
das dunkelblaue Gewölbe wie erstarrter Rauch. Zwischen zwei mächtigen
Felszacken glitzerte grünlich das Eis, gähnten ungeheure Spalten.
Bisweilen kam ein schneidend kalter Windstoß und wirbelte den Schnee zu
dünnen leuchtenden Säulen empor. Es herrschte ein Schweigen, welches den
Atem stocken ließ.

Im unsicheren Licht gewahrte Jan Dalaunes die Herrin. Sie saß auf einem
niedrigen Holzblock, hatte die Arme um die Kniee geschlungen und starrte
mit gefrorenem Blick in die gewaltige Stille. Sie schien die Kälte nicht
zu spüren. Eine Pferdedecke umhüllte ihre Schultern.

»Ihr müsset krank werden, edle Donna,« sagte Jan Dalaunes, indem er sich
näherte. Die Infantin antwortete nicht.

Der Falkner ging ins Haus zurück und klaubte Späne und Reisig zusammen.
Dann kam er wieder und machte auf einer schneefreien Stelle Feuer an.
Das Mitleiden mit der Herrin würgte ihm die Kehle und während er immer
neues Holz in die aufprasselnden Flammen warf, war sein bärtiges Gesicht
vom Kummer förmlich verwüstet. Es drängten sich Worte auf seine Lippen:
Verse, die er einmal gehört oder gelesen oder geträumt.

»Was sprecht Ihr da?« hörte er auf einmal die dunkle Stimme der Herrin.
Ihr Gesicht hatte sich auf der schneebewehten Decke fremd und düster wie
das Antlitz einer Sphinx ihm zugedreht. Er schüttelte befangen den Kopf
und kniete vor dem Feuer hin. Nach einer Weile kehrten die seltsamen
Worte traumhaft wallend wieder.

    Wo des Nebels Silberbogen
    über eine Gletscherwand
    groß und feierlich gezogen,
    dort liegt meiner Sehnsucht Land.

    Sah ich eisige Gestalten,
    schaudernd im gefrornen Strahl
    grünkristallne Kerzen halten,
    tanzen in dem weißen Saal.

    Sah ich eine, die beklommen
    nur des Mantels Saum bewegt,
    und ihr Herz vom Tisch genommen,
    der den ganzen Himmel trägt.

    Wie im Schlaf hält sie die schwere
    Purpurkugel sanft empor,
    und es öffnet sich die Sphäre,
    Gottes Arm streckt sich hervor.

    Er empfängt des Lebens Schale,
    jene aber steht beglückt,
    schaut hinunter zu dem Tale,
    wo ein Knabe Blumen pflückt.

Lautlos wälzte sich eine bläuliche Wolke von Schneestaub heran und
entfernte sich wieder.

Da sank Johannas Haupt etwas vorne über. Wie um es zu halten, schlug sie
die Hände vors Gesicht und gleichzeitig brach sie in ein furchtbares
Weinen aus. Es klang wie der dumpfe Schlag eines Hammers gegen eine
hohle Wand. Unwiderstehlich hatte sie der Schmerz um das eigene Leben,
um die eigene vernichtete Seele ergriffen. Es war als sei ihr Herz bis
jetzt durch einen künstlichen Mechanismus in Gang erhalten worden, der
nun zu versagen drohte.

Sie fühlte die Kraft der Erinnerung völlig aus ihrer Seele entschwinden,
sie spürte nur sich selbst, nur den eigenen unermeßlichen Jammer, es
ergriff sie wie Flammen eines Scheiterhaufens, sie schrie und schlug um
sich und als eine Wahnsinnige wurde sie von ihren Leuten zu Tal
gebracht.

Der zertrümmerte Sarg mit dem sehr entstellten Leichnam ward erst viele
Wochen später in einem Schneeloch aufgefunden, wo er hinabgestürzt war.
Der Herzog von Savoyen ließ die sterblichen Reste des Fürsten nach
Burgos schaffen. In einer Gruft der Kirche San Andrea fand endlich
Philipps Körper seine irdische Ruhe.

       *       *       *       *       *

Zwischen den Städten Palencia und Valladolid lag in unfruchtbarer Ebene
das öde Schloß Tordesillas. In einem Turm dieses Schlosses lebte die
wahnsinnige Infantin. Der Turm war rings von Wasser umgeben; die
Zugbrücke war stets emporgezogen. Auf dem Wasser schwammen Schwäne.

Längst war Johanna Königin von Spanien, freilich nur dem Namen nach.
Doch wurden in ihrem Namen alle Regierungshandlungen ausgeübt und die
Dekrete gesiegelt. Aber diese Königin herrschte in Wirklichkeit bloß
über ein Reich von Katzen. Der treue Jan Dalaunes war Majordom von
Tordesillas. Täglich fuhr er auf einem Boot hinüber und sah zu, wenn die
Herrin mit den Katzen spielte, als ob es ihre Kinder wären. Jedes der
Tiere trug ein buntes Bändchen um den Hals und jedes hatte seinen Namen
und seine Würde.

Gleichmäßig flossen die Jahre an Donna Johanna vorüber wie Wasser an
einer steinernen Mauer. Lange, viele Jahre. Sie alle fanden die edle
Frau versunken in ein Spiel, ja, nur in den kargen Abglanz eines Spiels,
in stumpfer Unwissenheit von sich selbst, in niemals erleuchtetem
Frieden.

Draußen in der Welt hatte sich mancherlei begeben. Der Knabe Carlos war
zum Mann geworden, und die Fürsten hatten ihn zum römischen Kaiser
gewählt. Er führte Kriege gegen die Ketzer und warf sie zu Boden. Er war
stark in der Tat und stark im Wort. Sein ganzes Leben war ein Krieg:
voller Blut, voller List. Heißdrängender Ehrgeiz lockte ihn von
Enttäuschung zu Enttäuschung. Sein wahres Gesicht trug er verborgen
hinter vielen andern Gesichtern. Er hatte viele Gesichter gegen die
Menschen, aber sein Gesicht vor Gott war immer dasselbe: schwermütig und
krank.

Einst war er ausgezogen mit einem weißgeschliffenen Schild, auf welchem
das Wort strahlte: Nondum, noch nicht. Nachdem die Jahre verflossen
waren und er alle Macht in Händen hielt, die einem Menschen gewährt
sein kann, da sagte sein müder Verzicht: nicht mehr. Er war ein so
gewaltiger Fürst, daß er zwei Weltkugeln im Wappen führen durfte, und
seine Leute nannten ihn bloß »den Herrn«. Nichtsdestoweniger schien ihm
die Ruhe eines Klosters über alles begehrenswert.

Als er fünfzig Jahre alt war, reiste er nach Santander und zog über
Burgos nach Tordesillas.

Eines Tages im Herbst rasselte die Brücke über den Wassergraben und ein
ansehnlicher Zug glänzender Herren betrat den halbverfallenen Hof. Der
Kaiser allein ging hinauf.

Ungeachtet des sonnigen Tages herrschte im Zimmer Dämmerung; die
beklemmende Luft roch nach Weihrauch und Räucher-Essenzen. Inmitten des
Raums stand Johannas Bett und auf der morschen Damastdecke lagen Katzen:
weiß und schwarz, alt und jung; andere hockten auf dem Sims, andere in
einem Winkel oder auf Stühlen.

Donna Johanna hatte sich erhoben. Ihr schmales, fast runzelloses Gesicht
mit dem hochgeschwungenen Munde erschien wie aus Holz geschnitzt.
Neugierig blickte sie auf die schmächtige Gestalt im schwarzen Barett
und mit dem roten, bis auf die Knie reichenden Spaniermantel; verwundert
sah sie dies totenblasse, kalte, müde Angesicht.

Mit gravitätischem Schritt näherte sich der Kaiser und indem er sich auf
ein Knie niederließ, zitterte die Unterlippe ein wenig und er murmelte:
»Euren Segen, Mutter.«

Donna Johanna duckte sich, und als sie die feindurchäderten Lider in
krankhafter Erregung noch weiter öffnete, war es, als fasse ihr Blick,
als halte ihre Wimper noch einmal den ganzen Ernst und die Furchtbarkeit
des längst verschwundenen Lebens fest.

Die Zugbrücke rasselte hinauf, und an der Spitze seiner Herren ritt der
Kaiser schweigend der untergehenden Sonne zu.

Da verließ auch Donna Johanna ihr Gemach, zum ersten Mal seit langen
Jahren. Wie schlafend stieg sie die Turmtreppe empor, bis sie zu einem
runden Fensterchen gelangte, das freien Ausblick über die Ebene gab.
Hier stand sie und verfolgte mit dem Blick den glänzenden Reiterzug. Als
der Horizont, im goldnen Lila schwimmend, das farbige Bild einzusaugen
drohte, stieg sie eine Treppe höher. Sie gewahrte noch ein paar
funkelnde Lanzenspitzen, und ihre dürren Lippen flüsterten: der Kaiser,
der Kaiser.

Es dunkelte, und sie stieg herab. Ihr Herz verschnürte sich bang und mit
dem letzten Funken des vergehenden Bewußtseins seufzte sie einem
ungetrösteten Tod entgegen.



Sara Malcolm


Zu Ende des Jahres siebzehnhundertzweiunddreißig, unter der Regierung
König Georgs des Zweiten geschah es, daß der Londoner Nachtwächter bei
seinem vierten Rundgang in der Nähe von Templebar ein junges Mädchen
leblos auf der Straße liegen sah. Er versuchte die Besinnungslose
aufzurichten und zu erwecken, und als seine Bemühungen vergeblich
blieben, begab er sich zum Tor des nächsten Hauses und klopfte die
Bewohner wach. Bald erschienen einige Mägde der Mistreß Lydia Duncomb.
Auch Master John Kerrel, der im zweiten Stock dieses Hauses sein
Quartier hatte und zu der späten Stunde erst vom Wirtshaus heimkehrte,
gesellte sich der Gruppe hinzu, die alsbald die Ohnmächtige umstand. Sie
schien den Ärmsten der Armen anzugehören; abgerissene und schmutzige
Gewänder hingen um den vermagerten Körper, der graue Wollrock bedeckte
kaum noch die Kniee, das Haar, von jener kupfrigen Farbe, wie es viele
Irländerinnen haben, war vom Straßenschmutz besudelt und hing aufgelöst
um den Kopf und um die Schultern. Auch ein wenig Blut klebte daran, und
man entdeckte beim Nachsehen eine Riß- oder Schlagwunde am Arm, etwas
unterhalb der Schulter.

Master John Kerrel, ein Mann, der alle Schlupfwinkel der Stadt kannte
und sich auf die Menschenarten Londons verstand, erklärte, das Mädchen
gehöre wahrscheinlich zu den Wäscherinnen vom Temple. Indessen trug man
die Leblose ins Haus; der Nachtwächter leuchtete mit seiner Laterne
voran. Mistreß Duncomb, eine Greisin von fünfundsiebzig Jahren, war von
dem Tumult erwacht und kam in den Flur. Sie ließ die Verwundete in die
Küche tragen und befahl, ihr ein Lager neben dem Herd zu bereiten; dann
holte sie ein Stück Linnen und war behilflich, den verletzten Arm
einzubinden.

Am Morgen war das unbekannte Mädchen noch immer nicht aus der Betäubung
erwacht. Augen und Mund waren fest geschlossen, der Leib war ohne
Merkmal des tätigen Atems. Es wurde über die Straße nach dem Doktor Rush
geschickt; als er kam und sah, daß er seine Kunst an ein armseliges
Dirnlein verschwenden sollte, zuckte er die Achseln und verordnete einen
Aderlaß, ohne die Wunde am Arm zu bedenken, durch die schon genug
Lebenssaft entflossen war. Das Rezept blieb wirkungslos; es verging der
ganze Tag und die Fremde lag da wie in der ersten Stunde; man hatte
nichts über sie erfahren können, nicht, woher sie kam, wie sie hieß und
durch welche Umstände sie ums Leben gekommen war, – denn allmählich
durfte man annehmen, daß es mit dem Kind vorüber sei und nichts mehr
anderes zu geschehen habe, als für die geheimnisvoll Hingegangene ein
Grab zu besorgen. Die Hausbewohner waren lebhaft erregt durch den
Vorfall. John Kerrels Freund und Zimmerkamerad, Master John Gehagan, der
in der vergangenen Nacht zu früher Zeit heimgekehrt war, wollte gegen
ein Uhr ein heftiges Geschrei aus der Richtung von St. James gehört
haben, aber dadurch war nichts erklärt. John Gehagan ging hinunter in
Mistreß Duncombs Küche, besichtigte das regungslose Mädchen mit dem
Mißtrauen eines Menschen, der alle Tücken und Schliche des Bettelvolks
kennt und gab den Rat, man solle der Person einen Blasebalg unter die
Nase führen oder ihre Fußsohlen mit glühendem Eisen kitzeln. Trotzdem
betrachtete er nicht ohne Erbarmen die kindlich schmale Gestalt, aus der
das Leben unmerkbar zu fließen schien wie Wasser aus der hohlen Hand.

Die Dunkelheit war schon angebrochen, da begann plötzlich die
Ohnmächtige sichtbar zu atmen. Nur die Zofe und das Laufmädchen waren in
der Küche, und jene rief sogleich ihre Herrin. Als Mistreß Duncomb an
das Lager trat, blieb sie voll tiefen Staunens wie angewurzelt stehen.
Sie blickte in ein Gesicht, das von aller irdischen Qual gelöst war. Ein
sanftes Lächeln hatte sich über den Mund gebreitet und, gleichsam von
innen heraus, die Lippen auseinandergedrängt. Zweifellos umfing ein
Traum die gefesselten Sinne und erschloß ihnen das Tor zu einem Land der
Wunder und des Glücks. Es war, als ob die Schläferin Engelstimmen höre,
denn sie schien zu horchen; es war, als ob ein göttliches Wesen ihr nahe
sei und die Last gefürchteter Leiden von ihrem Herzen hebe, denn sie
schien zu sehen und auf ihrer Stirne lag es wie ein Schimmer von
Dankbarkeit und Erleichterung. Die übrigen Mägde, die sich nach und nach
einfanden, umgaben verwundert das Bett. Das Lächeln der Träumerin faßte
jede einzelne tief an in ihrem Innern. Andächtig standen sie, die Hände
über den weißen holländischen Schürzen gefaltet, und blickten in das
Feuer dieses Traums, bis ihre Augen glänzten und sie etwas wie
Unzufriedenheit mit den Zuständen dieser Welt und ihres eigenen Daseins
verspürten. Schließlich begann eine der Letztgekommenen laut zu beten,
und davon erwachte das Mädchen aus ihrem Todesschlaf und öffnete die
Augen.

Da war es nun wieder ein Gesicht wie alle Gesichter oder wenigstens wie
viele; die Fremdheit sank von ihm herunter, und die Weiber, die im Kreis
standen, fühlten sich beschämt und geärgert. Man wollte den Namen einer
so seltsam sich gebärdenden Person wissen, und sie gab bereitwillig
Auskunft, daß sie Sara Malcolm heiße. Sonst war nichts aus ihr
herauszubringen. Je mehr man in sie drängte, je verstockter wurde sie.
Sie gab sich so scheu und verschlossen, daß selbst das Wohlwollen der
gutmütigen Herrin daran Anstoß nahm, die ihr immer von neuem
versicherte, daß sie in ihrem Hause bleiben könne, daß sie hier Arbeit
und Brot finde und Gefahren nicht mehr zu fürchten brauche, deren
Andenken ihr vielleicht das Herz beschwerten. Vergeblich; argwöhnisch
und ängstlich flogen ihre Augen von Gesicht zu Gesicht, blieben auf
keinem sanfter ruhen, und als sie mit der Musterung aller fertig war,
seufzte sie bang und schaute verdrossen zu Boden. Die nachsichtige
Mistreß Duncomb ließ ihr zu essen bringen, und mit Gier schlang Sara bis
auf den letzten Bissen Brot alles hinunter. Darauf mußte sie ihre Lumpen
ablegen und erhielt anständige Kleider, und ein Mädchen war ihr
behilflich, das wunderbare rote Haar auszukämmen, das bis zu den
Schenkeln reichte und so dicht war, daß es an Stelle eines Mantels
hätte dienen können.

Sara Malcolm blieb im Hause. Sie mußte niedrige Arbeit verrichten und
des letzten Dieners Dienerin sein. Sie mußte treppauf treppunter laufen,
für die Mietsherren über die Straße rennen, das Schoßhündchen der Frau
suchen, wenn es sich verloren hatte, und aus der Schenke das Bier für
den Stallknecht holen. Sara! rief es früh und spät, Sara! hier und dort.
Und nicht genug mit all dem Eilen, Hasten, Schaffen und
Kommandiertwerden, hatte sie auch noch die frechen Zumutungen der Männer
abzuwehren, vom noblen Gentleman, der um Mitternacht besoffen die Stiege
hinaufstolperte, bis zum pockennarbigen Bäckerjungen, der nach
Tagesanbruch ans Haustor pochte. Viel Arbeit hatte Sara und wenig
Schlaf. Wenn die Stiefel geputzt und die Gewänder gebürstet waren, stand
die Uhr schon weit in der Nacht, das Haus lag im Schlummer, und sie
taumelte in einen Verschlag neben der Kellerluke, wo sie und das
Laufmädchen auf Strohsäcken liegen mußten.

Doch war sie in ihrem Gemüte zufrieden, wenn man sie nur mit Worten in
Ruhe ließ, nur nicht an ihr herumfragte und nach vergangenen Dingen
forschte. Die Warums und Wanns schmeckten ihr bitterer als Hunger und
Regenwetter. Das eine hatte sich bald herausgestellt, und John Kerrel
hatte recht geraten; sie war im Tempelbar Wäscherin gewesen. Aber es war
länger her denn ein Jahr; man wollte wissen, daß sie sich einem
unehrbaren Wandel ergeben habe und der eine oder andere behauptete sie
in verrufenen Kneipen gesehen zu haben mit Leuten, denen ein anständiger
Mann nirgends begegnen möchte.

Bei solchem Gemunkle hatte es sein Bewenden, zum Schluß kümmerte man
sich nicht mehr viel um Sara. Man ließ sie leben und atmen, das war
alles, – für sie genug. Den Himmel zu sehen, hatte sie kein häufiges
Verlangen, und wenn sie von der Sonne nur gerade gestreift wurde, ihr
war es genug. Den auf sie gerichteten Blick erwiderte sie nicht, für ein
Lächeln hatte sie kein Gegenlächeln, Scherze wußte sie nicht zu deuten
oder sie schlüpften an ihren Ohren vorbei wie die Blicke an ihren Augen.
Sie klagte nicht, somit schien sie mit ihrem Los einverstanden und jener
Sorte von Geschöpfen anzugehören, die ohne den Anblick froher Dinge und
ohne Freude mühselig-stumpf dahinweben.

Dennoch hatte sie eine Eigentümlichkeit, durch die ihr Wesen immer
wieder als etwas Besonderes, ja Verdächtiges von den Hausleuten
empfunden wurde. Am Sonntag, wenn andere Geselligkeit suchten, spazieren
gingen und die besten Gewänder umhingen, blieb Sara einsam zu Hause
sitzen und starrte vor sich nieder mit einem Ausdruck des Besinnens,
einem Ausdruck des gewaltsamen Nachdenkens, der stundenlang ihrem
Gesicht die Unbeweglichkeit einer Maske gab. Ihre indigoblauen Augen
verloren den Blick nach außen; ihre um die Kniee geschlungenen Arme
zogen Kopf und Schultern nach vorwärts, und so saß sie, der Spott aller
Wachen und die Beängstigung aller Frommen, die der Meinung zuneigten,
daß Sara Malcolm ein Hexlein sei, das mit dem Bösen Umgang habe und am
Tage des Herrn dafür zur Erstarrung verurteilt werde.

Es war der Traum, der Solches bewirkte, der vergessene Traum. Die einmal
beglückt gewesene Seele wollte das verlorene Bild wiederhaben und fand
es nicht. Sie erinnerte sich deutlich, wie etwas Herrliches aufgequollen
war, damals aus der Finsternis des langen Schlafes; ein nie zuvor
gespürtes Glück hatte ihr Herz zum Bersten voll gemacht und war
emporgesproßt bis zum Munde und war als ein Lächeln um die Lippen
erblüht. Dann war das Erwachen gekommen, – die Augen sahen nichts mehr,
das Herz fühlte nichts mehr. Abergläubisch schaudernd dachte sie an
diese Stunde, die ihr nichts zurückgelassen hatte als die Sehnsucht nach
etwas rätselhaft Unbekanntem.

Einmal kam Master Gehagan nach Hause und trat in den Hof, um zu den
Fenstern John Kerrels hinauf zu pfeifen, und ihm zuzurufen, daß Francis
Rhymer, der junge Freund beider Männer, noch diesen Abend zu seiner
Hochzeit aus Schottland in London ankomme; ein Eilbote habe die
Nachricht gebracht. Kerrel freute sich und erwiderte, es sei wohl das
beste, ihn für die nächsten Tage hier im Haus zu herbergen. Master
Gehagan wollte den Hof wieder verlassen, da fiel sein Blick durch die
beginnende Dämmerung auf Sara, die vor der offenen Stalltüre eine frisch
geschlachtete Gans rupfte. Obwohl er sich sagte, daß es kaum der Mühe
verlohne, hatte er Lust, das unscheinbare, sommersprossige Mädchen zu
küssen. Er ging auf sie zu, ergriff wortlos mit beiden Händen ihren Kopf
und spitzte seine Lippen; aber was er für leicht gehalten, zeigte sich
unausführbar. Wild aufgerissene Augen starrten ihn an, und zwei Arme
stemmten sich stählern gegen seine Brust. Da wuchs die Begierde; er
packte sie bei den Schultern, schleppte sie in den Stall, wo über den
leeren Krippen ein Lämpchen düster flammte, und warf sie aufs Stroh. Als
er sich nun zu ihr niederbeugen wollte, prallte er mit einem
erschrockenen Aufschrei zurück. Das ganze Gesicht Saras war mit Blut wie
bestrichen, so daß es einen grauenhaften Anblick darbot; wohl erkannte
er den natürlichen Grund: aus dem Hals des toten Tieres, das Sara nicht
aus den erhobenen Händen gelassen, war das Blut noch einmal entflossen
und hatte das Antlitz des Mädchens bedeckt; aber mit seiner Liebesgier
war’s vorbei und er floh ängstlich und erregt.

Als Sara allein war, ging sie zum Brunnentrog und wusch Gesicht und
Arme, dann setzte sie sich auf den Rand des Brunnens und grübelte.
Indessen wurde es Nacht und zwischen zwei steilen Mauern stieg am
bläulichen Himmel der Mond herauf. Sie wünschte, daß das Gestirn zur
goldenen Schale werde und ihr vor die Füße fallen möchte; sie wünschte,
daß aus der Dämmerung ein edler Geist hervortrete, um ihr das Gefühl der
drückenden Gegenwart zu nehmen. Aber da rief es schon wieder: Sara!
Sara! Mistreß Duncomb begrüßte im Flur einen eben angekommenen
Fremdling, der vor der Stiege stand und langsam Schritt um Schritt
hinaufging. Vor dem Haus hielt die Karosse, in der er gereist war. John
Gehagan half auf der Straße dem Diener, das Gepäck abladen. »Gib acht,
daß nichts vergessen wird, John!« rief die Stimme des jungen Mannes; es
war eine wohllautende Stimme ohne Schwere, der man es anhörte, daß sie
zu scherzen liebte. Er kehrte noch einmal zurück und nahm mit
fürsorglichem Wesen dem Bedienten einen Gegenstand ab. »Was ist es?«
fragte Gehagan, »am Ende gar das Brautgeschenk?« Der andere nickte, und
in einer Wallung der Freude oder des Übermuts öffnete er die Hülle und
zeigte John Gehagan einen Pokal aus purem Golde und mit Edelsteinen
verziert, die einen feurigen Kreis unterhalb des Mundrandes bildeten.
Master Gehagan griff erstaunt danach und rief lachend aus: »Ein Ehepfand
der Art wird man in England nicht mehr auftreiben. Eines solchen
Kleinods kann sich nicht einmal des Königs Schatzkammer rühmen.« Und er
folgte dem Freund und trug den Pokal selbst hinterdrein.

Sara mußte Wein aus dem Keller holen. Ihre Ohren vernahmen den Befehl,
aber in ihrem Sinn ging anderes vor. Während sie sich mit dem Wachslicht
die Kellertreppe hinuntertastete, sah sie im Dunkel vor sich immerfort
den schönen Becher. Ihr deuchte, daß alles Glück des Lebens mit seinem
Besitz verbunden sein müsse, und wenn sie ihn auch nicht haben, nicht
Eigentum nennen konnte, einmal wollte sie ihn in der Hand halten, ganz
zwischen den Händen, ihn mit den Fingern umfangen wie etwas, das man mit
aller Kraft des Herzens begehrt hat. Während ihr aus dem niedrigen
Gewölbe die kühlfeuchte Luft in Wellen ins Gesicht schlug, nahm das
unerklärliche Verlangen so überhand, daß eine glühende Bangigkeit ihr
die Brust verschnürte. Was war es nur? Nicht das Gold, nicht das
Edelgestein lockte so, nicht die Vorstellung vom hohen Wert des Bechers
und daß etwas anderes, gleich Wertvolles dafür zu erkaufen sei; nein, es
erschien ihr wie ein Talisman, begabt, das dunkle, enge Leben irgendwie
in die Helle und Weite zu zaubern und mit einem Trank, den man aus ihm
trinke, den durstigen Leib zu stärken und zu beseligen. Nie hatte sie
etwas mit gleicher Inbrunst begehrt. Wenn sie mit Mary Tracy und den
beiden Brüdern Alexander nächtlicherweile, gehorsam durch Zwang, auf
Diebstahl ausgezogen war, hatte sie das Erbeutete mit Verachtung und
Leid angesehen und ihren Anteil nicht selten verschenkt.

Zitternd kam sie in die Küche, und von den Flaschen, die sie brachte,
entfiel eine ihrer Hand und zerbrach auf den Steinfliesen. Die Köchin
nahm ein brennendes Scheit vom Herdfeuer und wollte es im Zorn nach Sara
schleudern, die mit blanken Füßen im fließenden roten Wein stand. Sie
deckte die Hände über das Gesicht und lief stumm davon. Die Arbeit ging
nicht mehr von statten, Arme und Beine schienen aus Blei, Lippen und
Zunge brannten. Vom unwiderstehlichen Trieb geplagt, schlich sie die
Stiegen hinauf bis vor das Zimmer, in das der junge Mann eingezogen war.
Das Schlüsselloch war durch den Schlüsselbart verdeckt; unten aus der
Spalte schimmerte Licht. Während sie ihr Ohr an das Holz legte, hörte
sie ihn mit seiner leichten Stimme singen; sie verstand auch die Worte:

    Mißraten Herz, was schreist du nach dem Golde,
    Halt es nur fest, auf daß es nicht entgleite,
    Die wilde Braut, die alles haben wollte,
    Trägt ein Gewand aus himmelblauer Seide.
    Und hast du nichts und kannst du ihr nichts geben,
    So fordert sie dein junges Blut und Leben.

Im oberen Stock wurde John Kerrels Tür mit großem Lärm aufgemacht und
seine Baßstimme dröhnte durch das Haus. Sara schlich wieder hinab, die
wütende Unrast ihres Innern konnte sie nicht mehr dämpfen. Allmählich
kam Nachtstille und die Stunde, wo selbst Saras Füße ruhen durften. Das
Tor ward zugetan, der Wächter schrie seine Zeiten ab. Auf ihrem harten
Lager warf sich Sara von einer Seite auf die andere. Kaum schloß sie die
Augen, so erblickte sie den goldenen Pokal, und ihr wurde kalt und heiß.
Nach Mitternacht erhob sie sich leise, zog Rock und Kittel an, ging
unsicheren Schritts auf den Gang und schlich langsam, auf jeder Stufe
innehaltend und lauschend, die Treppe zu Francis Rhymers Zimmer empor.
Es war nicht völlig finster; durch das runde Fensterchen oberhalb des
Haustors schien der Mond herein und bemalte das breite Stiegengeländer
mit einem grünen Streifen. Bald stand sie wieder vor der Tür und
horchte. Es war alles still, nur das eigene Herz schlug wild und laut.
Sie legte die Hand auf die metallene Klinke, und spürte eisigen
Schrecken, als die Tür sich wie von selber auftat und das Zimmer in
wunderlicher Doppelbeleuchtung vor ihr lag. Durch die Fenster strahlte
der helle Mond, und auf einer Konsole am Bett brannte die Öllampe. Der
junge Fremde schlief, noch halb in seinen Kleidern, und ein Buch, in dem
er gelesen, war der herabhängenden Hand entglitten und auf den Boden
gefallen; dies, wie das unverriegelte Türschloß waren Anzeichen, daß er
den Schlaf noch nicht gesucht hatte, sondern daß er von ihm überwältigt
worden war. Wenn Sara in ihrem verblendeten Sinn eine günstige Schickung
darin hätte erblicken wollen, so mußte der höhere Wille in ihren Augen
unbezweifelbar werden, als sie das Ziel ihrer Begierde dicht vor sich
auf dem Tisch stehen sah: den goldenen Becher, auf der einen Seite grün
beglänzt vom Mondlicht, auf der andern rötlich vom Licht der Nachtlampe.
Sie ging und griff danach, legte ihre Hände um das Kleinod und fühlte
die Beseligung über den Besitz durch jeden Finger einzeln in den Körper
strömen. Im Übermaß der unheimlichen Glut setzte sie den Bechersrand an
den Mund, als ob sie trinken wollte; es entstand ein Rauschen und
Brausen im Innern des leeren Pokals, und es war, als ob irgend etwas
Laues, Wohliges den Schlund hinabflösse und den Leib bis zu den Zehen
und Haarspitzen ausfüllte.

Da sie nun den Pokal hatte, gedachte sie fortzueilen und aus dem Haus zu
fliehen. Aber eine flüchtige Lust wandelte sie an, das Gesicht des
jungen Menschen zu sehen und sich auszumalen, wie seinen Zügen das Leid
stehen möchte, das er morgen um das verlorene Brautgut tragen würde.

Sie trat hin. Sie beugte sich ein wenig und gewahrte die freundlichen
Züge. Sie wollte einen Schrei ausstoßen, doch die Lippen hielten ihn
noch rechtzeitig zurück. Ihre Augen erweiterten sich, und sie atmete
schwer. Mein Traum, dachte sie innerlich schluchzend, mein Traum. Diesen
Jüngling hatte sie im Traum gesehen, mit denselben schlummergefärbten
Wangen. Erst in seinem Schlaf erkannte sie ihn. Lächelnd war er zu ihr
gekommen, sie waren mitsammen in ein strahlendes Haus gegangen, und dort
hatten sie sich vermählt. Um ihretwillen war er ins Haus getreten, ihr
brachte er den Becher und dennoch: sie mußte fliehen. Zusammengeduckt
wandte sich Sara um und eilte aus dem Zimmer, vergaß die Tür zu
schließen, ging die Stiege hinunter, begab sich in die Kammer, wo die
Schlafgenossin schnarchte, warf sich auf ihr Lager und stierte in die
Luft. Den Pokal hatte sie noch immer im Arm. Er bekam an ihrem Körper
eine lebendige Gewalt und redete zu ihr. Da packte sie die Furcht; sie
wühlte an der Wandseite des Lagers das Stroh auf und versteckte ihn.
Aber er war nicht genug verborgen, er redete noch lauter. Sara konnte es
nicht ertragen. Sie stand auf, frierend lief sie in den Flur und
wünschte, daß die Nacht vorüber wäre. Sie schob den Riegel vom Haustor,
öffnete und lief auf die Straße. Ein herrenloser Hund eilte brummend auf
sie zu. Das helle Mondlicht scheuend, flüchtete sie ins Dunkel, ohne zu
wissen, wohin sie sich wenden sollte. Es trieb sie zu einer Kirche, sie
wollte beten, sie wollte vor Gottes Angesicht erscheinen. Die Liebe
hatte sie ergriffen, und nun wußte sie, daß Liebe Mark und Bein
verzehrt und das Blut so schnell antreibt, daß alle Adern brennen. Sie
hatte den Herrgott nie gekannt, jetzt kannte sie ihn; hatte Christum
verleugnet; jetzt glaubte sie ihn.

Indessen geschah es, daß sich vor Mistreß Duncombs Haus eine
Gesellschaft von drei Personen zusammenfand, zwei Männer und eine Frau.
Es waren die beiden Brüder Alexander und die gelbe Mary Tracy. Die
beiden Alexander, berühmt in der Verbrecherzunft, waren Zwillingsbrüder
und sahen einander so ähnlich, daß man einst in Whitechapel, als sie
betrunken waren, dem einen das linke Ohr abgeschnitten hatte, damit man
sie fürder unterscheiden könne. Sie waren es, die vor Wochen mit Sara
Malcolm aus Aldermans Bierspelunke aufgebrochen waren, um einen wohl
vorbereiteten Streich am Bullhead in Breadstreet auszuführen. Da
verweigerte Sara plötzlich ihre Teilnahme, denn aus den Reden der zwei
Kumpane hatte sie herausgehört, daß diesmal Blut fließen müsse. Es
entstand ein kurzer Wortwechsel, Tom Alexander schlug das Mädchen nieder
und Bill Alexander, der Ohneohr, tat ihr Gewalt an, während sie
ohnmächtig dalag; dessen rühmte er sich später, denn Sara hatte ihren
Spießgesellen alles zu Willen getan, nur ihren Leib hatte sie nicht
gegeben. Es vergingen Wochen; Mary Tracy erfuhr zufällig, daß Sara bei
Mistreß Duncomb in Diensten stehe. Sofort wurde beschlossen, diesen
Umstand auszunützen, aber die Versuche, sich Sara zu nähern, waren
erfolglos; bei Tag durfte man sich nicht blicken lassen, schon aus
Furcht, daß Sara Verrat üben würde, und in der Nacht glich das Haus
einer versperrten Festung. Doch als die Spionin Kunde brachte, ein
reicher, schottischer Edelmann, Francis Rhymer, habe bei Mistreß Duncomb
Quartier bezogen, wollten Tom und Bill um jeden Preis etwas unternehmen.
Mit Strickleitern, Spreng- und Sägewerkzeugen machten sie sich auf den
Weg und kamen genau zu der Zeit an, wo der Mond hinter die Dächer der
Häuser sank. Zuerst wollten sie an das Tor pochen in einer Weise, die
Sara kennen mußte und, weil sie nahbei schlief, auch hören konnte. Wenn
dann ein anderer aufmachte, so war es eben um ihn geschehen, falls er
unbewaffnet und ahnungslos war. Sehr überrascht waren nun die Elenden,
als sie das Tor offen sahen; sie dachten an eine Falle. Vorsichtig
warteten sie; nichts Verdächtiges zeigte sich. Mary Tracy blieb auf
Wache, die beiden Alexander begaben sich hinein, krochen zur Treppe, ein
Lichtschimmer von oben erleichterte den Weg, und sie fanden eine
offenstehende Stubentüre. Mary Tracy, die in der Dunkelheit
dabeigestanden, als der Schotte aus dem Wagen gestiegen, hatte ihnen
seine Erscheinung beschrieben, und als sie den Schlafenden gewahrten,
zweifelten sie nicht, daß sie ihr Opfer erreicht hatten. Sie waren
kundige Köpfe und geschickte Arbeiter; sie wußten, wo Schätze verborgen
sein konnten, der Zweck verlangte eine grauenvolle Tat von ihnen; und so
geschah es, wie es geschehen mußte, weil es von Anfang an durch den Lauf
der Dinge besiegelt war.

Als Sara zurückkam und im Finstern vor dem Duncombschen Hause eine
Gestalt sah, erschrak sie, denn jetzt wurde ihr bewußt, wie sträflich
sie gehandelt, daß sie das schlafende Haus unverwahrt gelassen. Sie kam
näher, und Mary Tracy, forschend wer es sei, trat ihr entgegen. Da
erkannten sich die beiden. »Du bist’s, Sara,« sagte Mary vertraulich und
legte den Arm um die Schulter des Mädchens. Saras Herz füllte sich mit
düstern Ahnungen. Sie war so bestürzt, daß sie außerstande war, sich auf
den Beinen zu halten und sich auf die Steintreppe niederließ. Mary Tracy
fragte mit verstellter Zärtlichkeit, wie es ihr gegangen sei, wo sie
jetzt in tiefster Nacht herkomme und ob sie nicht wieder mit
hinauskommen wolle in das freie Leben. Sara horchte geistesabwesend in
die Luft hinein, sie spürte, daß im Haus etwas Böses vorging, dann
schlug sie die Hände vors Gesicht und fing bitterlich an zu weinen. »Hör
doch auf,« gebot Mary Tracy, schaute ängstlich straßauf straßab und zu
den Fenstern. »Hör doch auf, wir geben dir Geld.« »Nun war ich bis unter
dem Schwibbogen bei Fig-tree-Court,« wehklagte Sara in ihr Weinen
hinein. »Ich wollte zu einer Kirche und wollte beten, und als ich eine
fand, war alles verschlossen. Warum ist Gott in seinem eigenen Haus
eingesperrt?« Noch fester hielt sie die Hände ans Gesicht gepreßt, noch
stürmischer wurde ihr Weinen. Aus dem Tor huschten hastig die beiden
Alexander; nacktfüßig huschten sie, horchten vorwärts, horchten verstört
zurück, lauschten in die Straße hinein und raunten, die Hände zum Mund
emporgehoben: »Fort! fort! fort!« Darauf sprangen sie davon, ohne Sara
nur gesehen zu haben. Mary Tracy folgte ihnen mit einem Wutschrei; sie
fürchtete um die Beute betrogen zu werden.

Das Frührot dämmerte. Sara ging ins Haus und sperrte den Riegel ab.
Innen war alles still wie zuvor. Sie wankte in ihre Kammer und fiel aufs
Stroh. Schlafen konnte sie nicht. Die Glieder ruhten, aber Augen und
Brust brannten. Ich bin ein verloren Weib, dachte sie. Es wurde heller.
Da gewahrte sie oben an der Decke einen roten Fleck. Gerade über dem
Raum, wo Sara lag, war Francis Rhymers Zimmer. Was für ein Flecken mag
das sein? fuhr es ihr durch den Kopf, und siehe, es tropfte etwas herab,
und nach einem Weilchen wieder, es tropfte auf ihr Hemd. Bei dem klarer
werdenden Licht erkannte sie, daß es Blut sein mußte. Nun wurde ihr
Inneres so starr, als ob der Tod hineingegriffen hätte. Ich bin ein
verloren Weib, wiederholte sie, als sie aufstand. Der Bäcker klopfte
schon ans Haus. Eine halbe Stunde später wurde das Laufmädchen wach und
sah das Blut und lief entsetzt auf die Diele. Sara war um die Milch für
den Molkensekt gegangen; als sie wiederkam, stand eine Menge Volks vor
dem Hause. »Einer ist umgebracht worden,« erzählten sie einander. Master
Knight, der ebenfalls zu den Bewohnern des Logierhauses gehörte, schaute
vom zweiten Stock im Nachthemd herab und schrie. Sara drängte sich
schweigend durch die Leute und gelangte ins Tor. Eben wurde Mistreß
Duncomb ohnmächtig von Anne Love und Miß Oliphant die Stiege
herabgetragen; ihre Jungfer Elisabeth Harrison, ein kränkliches
Geschöpf, hatte wie leblos den Pfosten umklammert. Darauf kam Master
Kerrel die Stiege herab; er war schneeweiß im Gesicht, man sah es ihm
an, daß er etwas sagen wollte und nicht konnte, vor Entsetzen blieb ihm
die Sprache aus. Er war erst um fünf Uhr morgens nach Hause gekommen, so
lange hatte er sich in den Kaffeehäusern von Coventgarden umgetrieben.
Er hatte nichts Verdächtiges bemerkt, Francis Rhymers Zimmer war
geschlossen gewesen. Oben hörte man John Gehagan brüllen vor Schmerz,
denn er beklagte in dem Ermordeten den teuersten Freund. Der Pöbel
drängte ins Haus. John Kerrel und der Stallbursche hatten Mühe, die
Leute zu verhindern, daß sie die Stiege stürmten. Sara schaute eine
Weile regungslos dem allen zu, plötzlich zuckte sie konvulsivisch
zusammen und fuhr mit beiden Händen an die Schläfen. Sie sprang die
Treppe empor, stürzte in das Zimmer des unglücklichen Jünglings und warf
sich vor das Bett hin, ohne daß ein Laut von ihren Lippen kam. »Du
Höllenhure, scher’ dich fort!« schrie John Gehagan, packte sie bei den
Haaren und wollte sie vom Bett wegzerren, auf dem der bleiche Mensch mit
durchschnittenem Hals lag. Da sah ihn Sara mit Augen an, vor denen er
erstarrte. Jetzt erinnerte er sich an ihr blutbedecktes Gesicht von
gestern, und ihm wurde unheimlich zumute. Einige Mädchen standen an der
Schwelle und beobachteten, was vorging, unter ihnen die Köchin, und auch
sie erinnerte sich, wie Sara am Abend im roten Wein gewatet wie in Blut.
Der Konstabler erschien. Die Volksmenge draußen hatte sich vermehrt,
doch es war gelungen, das Tor abzuriegeln. Wie vom Fieber getrieben,
ging Sara aus dem Zimmer, taumelte hinunter, machte sich in der Küche zu
schaffen, stellte sich mit gerunzelter Stirne zum Feuer und wärmte die
Hände. Bald kam die eine bald die andere von den Mädchen. Sie flüsterten
und tuschelten; Stunden mochten verflossen sein, da hieß es: »Sara, du
sollst hinaus zu Master Gehagan.« Sara ging hinaus, floh an John Gehagan
und John Kerrel, die beide im Flur warteten, mit gesenktem Haupt vorbei
in ihre Kammer. Dort stand sie zitternd, horchend, schnell atmend, bis
die Männer nachfolgten. »Hast du die Nacht über geschlafen?« fragte der
mildere Master Kerrel. Keine Antwort. »Warum ist dein Rock vor den
Knieen blutig?« fragte John Gehagan. »Ich habe oben gekniet, das wißt
Ihr doch,« erwiderte sie mit kaum vernehmbarer Stimme. »Dein Benehmen
ist sonderbar. Hast du Geld am Leibe versteckt, Mädchen?« forschte John
Gehagan weiter. Zugleich trat er auf sie zu, steckte die Hand in ihr
Busentuch, suchte die Brüste hinunter, und wie er ihr unter den Arm
fühlte, erschrak sie und ihr Kopf flog zurück. Da wurde ein Stück Hemd
mit dem Blutfleck sichtbar. »Und woher ist dies Blut?« fragte Master
Gehagan rauh. Sara deutete in die Höhe; »dort ist es her,« entgegnete
sie, ohne des Doppelsinns inne zu werden. Mittlerweile hatte sich John
Kerrel an das Durchsuchen des Strohlagers gemacht, und auf einmal zog er
mit einem heiseren Schrei den Pokal hervor. Das Gefäß schwankte in
seiner Faust, John Gehagan drückte fassungslos die Hände gegen das
Herz.

»Ich weiß, ich bin ein verloren Weib!« schrie Sara. »Ich will ja gern
den Tod erleiden.« Sie fiel nieder und umklammerte die Beine John
Gehagans so fest, daß er sich kaum losmachen konnte. Ihre Augen rollten
und vergingen fast, und ein furchtbares Seufzen drang aus der Tiefe
ihres bedrängten Innern. John Kerrel eilte hinauf, bald kamen zwei
Konstabler und führten Sara ins Gefängnis nach Newgate, wie sie war, mit
ihrem Arbeitsrock und der blauen Kappe.

Vor den Richter, Sir Roger Brocas gebracht, konnte sie nicht sprechen.
Es war ein Jammer, sie anzusehen. Sir Roger fühlte Erbarmen, verschonte
sie für diesen Tag und ließ sie in die Zelle zurückbringen. Sie legte
sich nicht hin, sie ging nicht umher, sie stand regungslos am
vergitterten Fenster und blickte hinaus auf den finstern Hof und sah zu,
wie es zu regnen anfing und wie es Nacht wurde, und hörte den Wind
heulen. Und als es nun so einsam und dunkel um sie geworden war, da
spürte sie plötzlich ein wundersames Pochen in ihrem Leibe. Zuerst
achtete sie kaum darauf, es schwieg auch eine Zeitlang, dann wiederholte
es sich stärker. Verwundert dachte sie nach, was das Pochen zu bedeuten
habe, und als es zum dritten Mal wiederkehrte, da verklärte dasselbe
himmlisch selige Lächeln ihre Züge, wie damals im Traum bei Mistreß
Duncomb. Sie hatte ein Kind im Schoß. Im Traum hatte sich der Geliebte
ihr vermählt, im Traum war er gekommen, im Traum hatte er sie beglückt.
Sie kroch in einer Ecke des kalten finstern Raums in sich zusammen, denn
so eng ihn vorher ihre Bangigkeit und Trauer gefunden hatte, so weit
wurde er jetzt ihrer Verzückung. Sie lauschte in das Innere ihres Leibes
hinein, und abermals regte es sich, sie glaubte es zu spüren, glaubte
jedes der kleinen Gliederchen zu fühlen, und nun war sie Gott dankbar
für die auferlegte Prüfung und freute sich darauf zu sterben, das
Geheimnis unter dem Herzen. Gewiß war es derselbe lustgekrönte Engel,
der sie mit dem Geliebten zusammengeführt und der sie den Todesweg
hinaufgeleiten würde bis an das Tor des Paradieses. »Armes kleines
Wesen,« so redete sie lächelnd vor sich nieder und in ihren Schoß
hinein, »bist jetzt noch in der Finsternis, bald aber wirst du flügge
sein, mein Vögelchen, und wirst Flügel haben und wirst dich im Lichte
baden.« So schlief sie allmählich ein. Kein leisester Zweifel regte sich
gegen das Wunder, das sich an ihr ereignet.

Wie erstaunt war am andern Tag Sir Roger, als Sara Malcolm heiter und
ruhig vor ihn hintrat, auf alle Fragen runde, klare Antwort gab und
weder die Reue und Zerknirschung einer Schuldigen noch das Staunen und
den Schmerz einer Unschuldigen zeigte. Die Frage, ob sie den Mord verübt
habe, erwiderte sie mit nein. Sie erzählte, daß sie aus dem Haus
gelaufen, daß sie vor dem Kirchlein bei Fig-tree-Court, wo die Lampe
brennt, gewesen sei, daß sie sogar dort den Master Oaks aus der
Themsestraße gesehen habe. Was sie denn dort gemacht? fragte der
Richter. Sie habe gebetet, antwortete sie. Dann sei sie zurückgegangen
und habe vor Mistreß Duncombs Haus Mary Tracy getroffen, und sie
erzählte, was sich darnach zugetragen. Sie erzählte auch, wie sie
ehemals die Diebsgenossin der beiden Alexander geworden sei, als sie
elend und verhungernd durch die Straßen geirrt war. Elternlos,
heimatlos, freundelos war sie stets gewesen. Sie erinnerte sich, als
Kind einmal auf dem Meer gefahren zu sein, aber woher und wohin, das
wußte sie nicht. Überhaupt besaß sie nur wenig Erinnerungsvermögen.

Als aber der Richter auf den Pokal zu sprechen kam, den man doch in
ihrer Lagerstatt gefunden, da schwieg sie beharrlich, – nicht wie eine
Verbrecherin, die sich zu verraten fürchtet, sondern wie ein Mensch, der
ein Geheimnis bewahren will und muß. Das Rätsel, das ihr selbst unlösbar
und ungelöst blieb, konnte sie nicht preisgeben, ihre Zunge fand keine
Worte dafür, und eine innere Stimme befahl ihr zu schweigen. Darauf
wurde sie wieder in die Zelle zurückgeführt und zwei Scharwächter kamen,
vor denen sie sich völlig entkleiden mußte, und die ihre Gewänder
untersuchten, die Haare aufbanden und sie fragten, ob sie irgend etwas
vergraben habe, es sei auch Geld geraubt worden. Sara schüttelte den
Kopf. »Da müßt ihr euch an die beiden Alexander wenden,« sagte sie, und
trotz ihrer Nacktheit benahm sie sich so, daß sich die beiden Alten
darüber wunderten.

Mary Tracy und die Brüder Alexander konnten nicht aufgefunden werden. Am
andern Tage wurde Sara aus dem Gefängnis geholt und man brachte sie vor
die Leiche des gemordeten Jünglings. Der Richter und die Unterrichter
waren dabei, ferner John Gehagan und ein Konstabler. Sie blickte stumm
auf das wächserne Antlitz, ihre Augen schimmerten naß und sie faltete
innig bewegt die Hände. John Gehagan, außer sich vor Gram und Wut,
ballte die Faust und schlug sie, ehe es jemand verhindern konnte, ins
Gesicht. Sie taumelte, aber sie schrie nicht; bald stand sie wieder
aufrecht und bedeckte nur mit dem Arm die Augen, vor denen es flammte.
»Was tut ihr mir, Master Gehagan?« murmelte sie klagend.

Dann ging es wieder nach Newgate, und sie wurde den Zeugen
gegenübergestellt. Es waren hauptsächlich die Frauenzimmer, die sich
über Saras seltsames, verstecktes, hexenhaft scheues Wesen äußerten,
auch die Geschichte mit dem vergossenen Wein kam zur Sprache. Andere
stellten sich ein, die Sara in früherer Zeit gekannt, und sagten Böses
aus; wenn ein Mensch im Unglück sitzt, wollen alle, denen er einmal
mißfallen, ihr Mütchen auslassen. Sie zeigte sich würdig und fest. Kein
überflüssiges Wort kam von ihren Lippen, aber keine leichtsinnige
Verdächtigung ließ sie hingehen, ohne dem Urheber mit scharfer, ja
scharfsinniger Frage und Weiterfrage an den Leib zu rücken, so daß sie
die Betreffenden oft sehr in Verlegenheit brachte. Ihre Art und Weise
erregte schließlich Aufsehen. Gebildete Leute kamen, sie zu sehen und
ihr zuzuhören. Es war ein fremdes, stolzes Wesen in ihr aufgewacht, seit
sie im Gefängnis saß. Die Wärter, die Konstabler, der Türenschließer,
alle konnten ihre Sanftmut, ihre Gefälligkeit, ihr munteres und
gesammeltes Wesen nicht genug rühmen, und sie genoß Freiheiten wie kein
anderer Gefangener. Daß es um sie geschehen war, daran war nicht zu
zweifeln; man wollte ihr die Tage leicht machen.

Ende März wurde sie zum Tode verurteilt, und der Wärter teilte ihr
abends mit, daß sie in Fleetstreet mit sechs oder sieben andern gehängt
werde. Sie antwortete nichts und blickte klaren Auges, klaren Ausdrucks
in die Höhe. Das schmale Gesicht mit dem schmalen Kinn veränderte sich
in dieser Minute zu einem Bild ergreifender Menschlichkeit. Hinter der
Stirn wohnte der Wunderglaube und machte sie leuchtend, in den Augen
dunkelte der Tod.

Es war ein greulicher Sturm an jenem Abend. Sara schritt in ihrer Zelle
auf und ab. Sie hatte nur noch die einzige Sorge, daß niemand ihre
Schwangerschaft merken möge, die jetzt schon ein wenig vorgeschritten
war, denn eine Schwangere durfte nicht gerichtet werden. Während sie hin
und her ging, kam der Geistliche in die Zelle, ein milder Mann, der die
Sünder gnädig mit Worten bedachte und die Gnade nach dem Maß der Buße
verteilte. Lange redete er in Sara hinein, sie möge ein offenes
Bekenntnis ablegen, aber sie entzog sich allen Ermahnungen durch ein,
wenn auch freundliches, doch starrsinniges Schweigen, und am Ende sagte
sie mit Wärme: »Wenn ich eine Weile im Grabe gelegen, wird die Wahrheit
aufstehen.«

Dann war sie wieder allein, streckte sich auf dem Lager aus und hörte
beglückt zu, wie ungestüm sich das Kind in ihrem Innern bewegte, als
könne es die Zeit nicht erwarten, um ans Licht zu gelangen. »Hab’ nur
Geduld, Traumseelchen,« flüsterte Sara, »bald werden wir auf die Reise
gehen, und du wirst ein herrliches Bett bekommen bei deinem Vater, das
ist der schönste Mann.« Sie schlief ein und schlief ruhig bis in den
Tag, der so finster und stürmisch war, daß er sich hier in der Zelle nur
um weniges von der Nacht unterschied. Am Nachmittag kamen einige Leute
in ihre Zelle, der Lord Oberrichter und ein schottischer Edelmann, ein
Vetter des Ermordeten. Er hatte in seinen Zügen einige Ähnlichkeit mit
Francis Rhymer, aber besonders erregte er Saras Aufmerksamkeit durch
einen Blick des Erbarmens, der anders als des Pfaffen Blick bis in die
Nieren drang. Sara breitete die Arme aus, und ein schneller Krampf
zuckte über ihr Gesicht. »Nur einmal laßt mich noch den Mund an meinen
goldenen Becher drücken!« rief sie über und über schaudernd aus; aber
niemand verstand sie, man glaubte, sie fasle oder rede irr.

Um sechs Uhr kam der Ausrufer nach Newgate, der im Hof die Namen
derjenigen verlas, die am nächsten Morgen sterben sollten. Ein gewisser
Chambers, der sich in der gegenüberliegenden Zelle befand, ein höchst
grausamer Mörder, bat Sara, sie möge doch um Gottes willen acht geben,
ob sein Name vorkomme. Sara stellte sich ans Fenster und hörte zu;
gleich nach ihrem eigenen kam der Name Chambers. Sie beschloß, es dem
Unglücklichen zu verheimlichen, damit er eine ruhige Nacht habe, aber
er erfuhr es doch. Der Wärter kam auf seiner letzten Runde. Ohne Mühe
erreichte es Sara, daß er sie hinübergehen ließ zu dem weinenden Mörder.
Sie fragte ihn, ob sie mit ihm beten solle. »Ja, Sara!« rief er, »von
ganzem Herzen.« Sie begann inbrünstig mit ihm zu beten, und tief in die
Nacht hinein lagen sie auf den Knieen, bis alles Licht ausgebrannt war.
Ohne daß sie es gewahr wurden, kamen die andern Todgeweihten, denen der
Wärter die Türen geöffnet hatte, und beteten mit. Wie auf eine Heilige
blickten sie auf Sara, und je näher die bittere Stunde kam, je mehr
fühlten sie ihre Seelen entlastet. Die Wärter vergaßen des Schlafes in
dieser Nacht und dachten, nun seien auch einmal des Himmels Heerscharen
eingezogen in die Hölle von Newgate.

Der Morgen graute und die Hellebardiere erschienen, um die Verurteilten
nach Fleetstreet an den Galgen zu führen. Fünf Männer waren es: ein
Mörder, zwei Brandstifter, ein Hochverräter und ein meuterischer
Matrose. Sie zogen singend über den Hof des Gefängnisses und nahmen Sara
in ihre Mitte. Damit sie durch den Regen nicht litte, zog Chambers seine
Jacke aus und legte sie ihr um die Schultern. Die beiden Brandstifter
gingen ihr zur Seite und beteuerten, daß sie den Tod nicht fürchteten.
So kamen sie vor dem Blutgerüste an. Sara durfte zuerst hinansteigen.
Selbst der rohe Pöbel, der sich auf dem Schauplatz versammelt hatte,
starrte in schweigender Ergriffenheit empor und keiner vergaß den
jubelnd-totbereiten Ausdruck ihres Antlitzes. Als der Strick um ihren
schlanken Hals gelegt wurde, glaubten viele zu sehen, daß sie einen Kuß
in die Luft hauchte. Auch die Sonne befreite sich für einen Augenblick
aus Wolkendunst und schaute zu.


Nicht im Wirklichen und Greifbaren spielt sich das entscheidende Leben
der Menschen ab. Das Tiefste, woran der Sterbliche seine Seele bindet,
ist Rauch, ist Traum. So werden Glück und Unglück zu bloßen Namen.



Clarissa Mirabel


In der kleinen Stadt Rhodez, die im Westen der Sevennen liegt und vom
Flusse Aveyron bespült wird, wohnte der Advokat Fualdes, ein
unbedeutender Mann, weder gut noch böse. Trotz seinem vorgerückten Alter
hatte er sich erst unlängst von den Geschäften zurückgezogen, und seine
Vermögensumstände waren so zerrüttet, daß er im Anfang des Jahres
achtzehnhundertsiebzehn seine Domäne La Morne veräußern mußte. Mit dem
Erlös wollte er sich an einem stillen Fleck des Landes zur Ruhe setzen
und von seiner Rente leben. Eines Abends, es war der neunzehnte März,
erhielt er vom Käufer des Gutes, dem Präsidenten Seguret, den Rest der
Kaufgelder in Papieren und Wechseln ausbezahlt und nachdem er die
Dokumente in seinem Schreibtisch verschlossen hatte, verließ er das Haus
und sagte der Wirtschafterin, er müsse noch einmal nach La Morne
hinüber, um mit dem Pächter einige notwendige Abmachungen zu treffen.

Er kam weder nach La Morne, noch kehrte er in seine Wohnung zurück. Am
andern Morgen sah die Frau eines Schneiders aus dem Dorfe Aveyron seine
Leiche in einer untiefen Stelle des Flusses liegen, rannte nach Rhodez
und holte Leute herbei.

Die felsige Böschung der Ufer war an jener Stelle senkrecht steil und
über zwölf Meter hoch. Von dem schmalen Fußpfad, der aus Rhodez gegen
die Weinberge führte, war ein großes Stück losgebröckelt; kein Zweifel,
daß der unglückliche Mann dadurch in die Tiefe gestürzt war. Es hatte am
Tage zuvor heftig geregnet, und das Erdreich oben war, nach dem Zeugnis
einiger Winzer, schon längst locker gewesen. Auffallend erschien eine
tief einschneidende Rißwunde am Hals des Toten; da aber aus dem Gestein
des Abhangs überall scharfe schiefrige Platten hervorragten, erklärte
sich eine solche Verletzung von selbst. Bei der Untersuchung der steilen
Wand wurden keine Blutspuren an Stein und Erde gefunden; der Regen hatte
alles abgewaschen.

Die Kunde des Ereignisses verbreitete sich rasch, und den ganzen Tag
über standen fortwährend zwei bis dreihundert Rhodezer, Männer, Weiber
und Kinder, an beiden Ufern und starrten mit einem Ausdruck der
Lüsternheit und des selbstgeschaffenen Gruselns in die Tiefe der
Schlucht. Es wurde erwogen, ob nicht etwa ein Irrlicht den alten Mann
verführt habe. Eine Frau wollte mit einem Hirten gesprochen und dieser
Hirt wollte einen Hilferuf vernommen haben; allerdings war das schon
gegen Mitternacht gewesen und Fualdes hatte um acht Uhr das Haus
verlassen. Ein dicker Töpfer bestritt, daß die Finsternis so dicht
gewesen sei wie alle glaubten; er selbst sei um neun Uhr von La Valette
her über die Felder gegangen und da habe der Mond geschienen. Ihn wies
der Zollaufseher unwillig zurecht und bedeutete ihm, daß gerade gestern
Neumond gewesen sei, man brauche ja nur den Kalender aufzuschlagen.
Jener zuckte die Achseln, als wolle er sagen, in solchen Zeitläuften sei
sogar dem Kalender nicht zu trauen.

Um die Dämmerungsstunde wanderten die Leute heimwärts, paarweise und in
Gruppen, bald plaudernd, bald schweigend, bald streitend, bald
geheimnistuerisch flüsternd. So wie argwöhnisch gemachte Hunde immer um
dieselbe Stelle im Kreis herumrennen, schnappte ihre hungrige Begier
nach neuer Erregung. Sie spähten mit aufmerksameren Augen vor sich hin,
sie vernahmen mit wacheren Ohren jedes gesprochene Wort. Manche blickten
einander mißtrauisch von der Seite an; wer Geld liegen hatte, versperrte
seine Tür und überzählte es. Abends in den Weinkneipen wurde von den
ungeheuern Reichtümern erzählt, die der geizige Fualdes im Lauf der
Jahre aufgestapelt; das Gut La Morne habe er nur deswegen verkauft, weil
er Scheu getragen, den Pächter Grammont, der sein Neffe war, mit den
Rechtsmitteln zur Bezahlung der seit zwei Jahren fälligen Pachtsumme zu
zwingen.

Das geredete Wort blieb lauernd auf der Lippe stehen und riß ein noch
halbgedachtes mit. Unter den Bürgern galt es als eine ausgemachte Sache,
daß Fualdes, der liberale Protestant, der ehemalige Beamte des
Kaiserreichs, mit Drohungen gegen sein Leben verfolgt worden sei. Die
verdüsterten Gedanken spannen emsig an dem Gespinst der Furcht. Die noch
an einen Unfall glaubten, verschwiegen ihre Gründe, sie mußten sich
hüten, daß nicht Verdacht auf sie falle. Schon wurde eine Reihe von
Verbündeten bezeichnet, der feindlichen, drohenden, übermütig gewordenen
Partei der Legitimisten entstammend. Der dunkle Haß deutete auf die
Jesuiten und ihre Missionen als Urheber der ungewissen Tat. Wie oft
hatte die Gerechtigkeit gezaudert, wenn die Macht der Mächtigen den
Verbrecher beschirmte!

Die Frühlingssonne des nächsten Tages leuchtete in gespannte,
aufgewühlte, suchende, zu langsamer Wildheit sich entflammende
Gesichter. Die Royalisten fingen an, um Hab und Gut besorgt zu werden;
um sich zu schützen, auch angesteckt vom allgemeinen Schauder, den das
Unbekannte ausströmte, gaben sie zu, daß ein Frevel geschehen sei. Aber
wie? und wo? und durch wen?

Ein Schuster hat gewöhnlich ein besseres Gedächtnis und einen
geschäftigeren Geist als andere Leute. Der Schuster Escarboeuf pflegte
bisweilen in der Vesperstunde seine Nachbarn und Getreuen um sich zu
versammeln. Er erinnerte sich genau dessen, was der Doktor beim
Leichenbefund gesagt hatte; er war daneben gestanden und hatte es Silbe
für Silbe gehört. »Das sieht ja beinahe aus, als ob der Mann
geschlachtet worden wäre«; dies waren die verwunderten Worte des Doktors
gewesen, während er die Verletzung am Hals untersucht hatte.
»Geschlachtet? was sprichst du da, Mann?« fiel einer ein. »Ja,
geschlachtet!« rief der Schuster triumphierend. – »Aber es soll doch
Sand an der Wunde geklebt haben«, bemerkte ein junger Mensch schüchtern.
– »Ach was, Sand, Sand!« eiferte der Schuster, »was beweist denn Sand!«
– »Nein, Sand beweist gar nichts«, gaben alle zu. Und schon am Mittag
hieß es in allen Häusern des Viertels: Fualdes ist geschlachtet worden,
sie haben ihn abgeschlachtet. Das Wort gab den entzündeten Gehirnen ein
Bild, den raunenden Zungen einen Hinweis.

Nun hatte ein unheimlicher Zufall es gefügt, daß der Nachtwächter an dem
verhängnisvollen Abend vor dem Bancalschen Haus, das durch die finstre
Quergasse de l’Ambrague vom Haus des Advokaten Fualdes getrennt lag,
einen Stock mit Elfenbeingriff und vergoldetem Ring gefunden und in der
Wachtstube abgegeben hatte. Fualdes’ Wirtschafterin, ein altes taubes
Weib, bezeichnete den Stock mit Sicherheit als Eigentum ihres Herrn;
ihre Behauptung schien unwidersprechlich. Viel später stellte es sich
heraus, daß der Stock einem durchreisenden Kaufmann gehörte, der mit
einigen Dirnen die Nacht verlumpt hatte; aber jetzt richtete sich die
Aufmerksamkeit auf einmal und mit vorbereiteter Glut auf das
übelberufene Bancalsche Haus, ein verfallenes, dumpfes Gebäude mit
feuchten schmutzigen Winkeln. Früher hatte es ein Schlächter besessen,
und auf dem Hof wurden noch Schweine gehalten. Es war ein
Gelegenheitshaus und wurde allnächtlich von Soldaten, Schmugglern und
verdächtigen Mädchen besucht; auch dichtverschleierte Damen und vornehme
Herren huschten bisweilen dort ein und aus. Im Erdgeschoß wohnten außer
dem Ehepaar Bancal der ehemalige Soldat Colard mit seiner Geliebten, die
Dirne Bedos und der bucklige Missonier, oben hauste ein alter Spanier
namens Saavedra mit seiner Frau, ein politischer Flüchtling, der in
Frankreich Schutz gesucht.

       *       *       *       *       *

Am Nachmittag des einundzwanzigsten März stand der Soldat Colard am Eck
der Rue de l’Ambrague und blies auf der Flöte eine eintönige Melodie,
die er von den Schafhirten der Pyrenäen gelernt hatte. Da kam der Krämer
Galtier des Weges, blieb stehen, stellte sich als ob er zuhöre,
unterbrach aber schließlich den Musikanten und sagte streng: »Was
treibst du dich herum und gibst dich unwissend, Colard? Weißt du denn
nicht, daß in euerm Haus der Mord geschehen sein soll?«

Colard schob den struppigen Schnurrbart von den Lippen und erwiderte, er
und Missonier seien an dem Abend in der Weinwirtschaft bei Rose Feral
gewesen, neben dem Bancalschen Haus. »Hätt’ ich Lärm gehört,« sagte er
prahlerisch, »so wär ich gekommen und hätte gerettet, denn ich habe zwei
Gewehre, Herr.«

»Wer war denn sonst noch bei Rose Feral?« forschte der Krämer. Colard
dachte nach und nannte Bach und Bousquier, zwei berüchtigte Schmuggler.
»Die Strolche, sie mögen sich hüten,« sagte der Krämer, »und du, Colard,
komm’ mit, der arme Fualdes wird begraben, da ist es nicht in der
Ordnung, Flöte zu blasen.«

Kaum waren sie auf die Hauptstraße gelangt, wo sich eine zahlreiche
Menschenmenge angesammelt hatte, so gesellte sich plötzlich Bousquier zu
ihnen, der ein seltsames Betragen zeigte, bald lachte, bald den Kopf
schüttelte, bald blöde vor sich hinglotzte. Colard sah ihn scheu von der
Seite an, und der Krämer, der an nichts andres dachte als an den Mord
und in alledem die Kapriolen des bösen Gewissens zu sehen vermeinte,
beobachtete den Mann scharf. Auch die Umstehenden wurden aufmerksam und
jedem leuchtete es sogleich ein, daß, wenn irgendwer von dem in Bancals
Haus geschehenen Verbrechen wissen könne, dies Bousquier sei. Der
aufgeregte Galtier fragte ihn geradezu und mit lauter Stimme. Bousquier
war angetrunken, der ungewohnte Menschentumult berauschte ihn noch mehr,
er schien verlegen, empfand sich aber zugleich als wichtige Person. Erst
tat er so, als wollte er nur ungern herausrücken, dann erzählte er mit
feierlicher Umständlichkeit, daß er in der Mordnacht von einem
Tabakshändler in blauem Rock gerufen worden sei; dreimal habe der
Unbekannte nach ihm geschickt, dann sei er gekommen, habe einen schweren
Ballen tragen müssen und sei mit einem Goldstück bezahlt worden.

Schon während des Redens rann der Schrecken über das Gesicht des
schwatzhaften Menschen; er wurde sich der Bedeutung seiner Worte langsam
bewußt. Die Zuhörer hatten einen dichten Kreis um ihn gebildet, und eine
schmetterndschrille Stimme erschallte aus dem Haufen: »Sicherlich hat
die Leiche in dem Ballen gesteckt!«

Bousquier schaute beklommen drein. Er mußte immer wieder von neuem
anfangen, und die gespannt auf ihn gehefteten Blicke zwangen ihn zur
Erfindung neuer kleiner Einzelheiten, wie daß der Tabakshändler
plötzlich auf unerklärliche Weise verschwunden sei und daß er eine
schwarze Maske vor dem Gesicht gehabt habe. »Wohin hast du denn die
Leiche tragen müssen?« fragte Galtier mit aufeinandergepreßten Zähnen.
Bousquier schwieg entsetzt, dann, durch die vielen drohenden Augen
eingeschüchtert, erwiderte er leise: »Gegen den Fluß hinaus.«

Zwei Stunden später war er verhaftet und hinter Schloß und Riegel
gesetzt. Noch am selben Abend wurde er vor den Untersuchungsrichter,
Monsieur Jausion, geführt, und wie nun der Unselige gewahrte, daß es
Ernst wurde, daß sein Geschwätz zum Zeugnis werden sollte, daß jedes
seiner Worte aufgeschrieben ward und daß er dafür einstehen müsse mit
der Freiheit, ja vielleicht mit dem Leben, da packte ihn die Angst. Er
leugnete die Geschichte mit dem Tabakshändler und dem schweren Ballen,
und als der Richter zornig wurde, verstummte er ganz. In die Kerkerzelle
zurückgebracht, verfiel er in dumpfes Brüten. »Nur frisch darauf los,
Bousquier,« redete ihm der Wächter zu, »man darf die Herren nicht
langweilen; wenn du störrisch bist, wirst du böse Nächte zu überstehen
haben.«

Bousquier schüttelte den Kopf. Der Wärter holte einen dicken Folianten
herbei, und da er selbst des Lesens unkundig war, rief er einen andern
Gefangenen, und dieser mußte die Gesetzesstelle vorlesen, wonach
derjenige, der einem Verbrechen gezwungenermaßen beigewohnt und es
freiwillig bekenne, mit einem Jahr Gefängnis davonkomme. Der Wärter
hielt die Laterne neben das ledergelbe Gesicht des Vorlesers und nickte
Bousquier ermunternd zu. Bousquier leierte ein Vaterunser vor sich hin.
In großer Unruhe und nach einem Ausweg aus der Bedrängnis irrend, sagte
er endlich, es sei alles so gewesen, wie er zuerst erzählt, aber der
Tabakshändler habe ihm nicht ein Goldstück gegeben, sondern nur ein paar
Silbermünzen. Er wiederholte das Geständnis vor dem Richter, der
ungeachtet der späten Stunde gerufen wurde.

Am nächsten Morgen wußte ganz Rhodez, Bousquier habe gestanden, daß
Fualdes im Bancalschen Haus abgeschlachtet und daß die Leiche in der
Nacht zum Fluß getragen worden sei. Auf einmal öffneten sich Lippen,
denen bisher die Furcht ein Siegel auferlegt hatte. Jemand, dessen Name
nicht zu erfahren war, wollte vor dem Haus des Kaufmanns Constans
schleichende Schatten gesehen haben; auch hatte er beobachtet, daß sie
wenige Schritte weiter Halt gemacht und zur Beratung zusammengetreten
waren, worauf er selbst, das Gräßliche ahnend, entfloh. Es wurde
vergeblich nach diesem Zeugen geforscht, dessen Stimme hinter andern
Stimmen so schnell verklang und der doch, wie mit unsichtbarer Hand, die
erste Skizze zu dem Bild des nächtlichen Todeszugs entworfen hatte. Jede
Phantasie malte im stillen daran weiter; man sah die Leiche selbst auf
der Tragbahre; die Bahre ward mit einer Deutlichkeit beschrieben, als
stellte sie das Merkmal der geheimnisvollen Tat vor; ein Tischler
zeichnete sie sogar mit großen Kreidestrichen auf die Mauer des
Rathauses. Eine an Schlaflosigkeit leidende Dame gab an, sie sei in
jener Nacht am Fenster gesessen und habe trotz der Dunkelheit Bancal
sowie den Soldaten Colard erkannt, welche die Bahre an den zwei
vorderen Stangen trugen. Ferner habe sie den Arbeitsmann Missonier, der
den Zug beschloß, fluchen gehört. Vor dem Richter vernommen, geriet sie
in ein widerspruchsvolles Wesen, was mit ihrer begreiflichen Erregung
entschuldigt wurde. Die Worte waren einmal da; welches Gewicht sie
tragen mußten, lag in der Gewalt und Sonderbarkeit der Umstände; das
Leichtgesprochene wog im Ohr des zufälligen Hörers schon schwer wie
eigene Schuld, so daß er sich der Last zu entledigen trachtete und es
weitergab, als brenne es ihm die Zunge wund, falls er im geringsten
zögerte. Vielleicht war es diese Schlaflose, vielleicht der namenlose
Mund der Fama selbst, welche das Gemälde der Mordkarawane um die Gestalt
eines großen, breitschultrigen Mannes bereicherte, der mit einer
Doppelflinte versehen war und dem Zug als Anführer vorausschritt. Nun
hatte das graue Gewebe einen Mittelpunkt und erhielt eine Art
Beleuchtung und Belebung durch die wahrscheinliche und ergründbare
Ruchlosigkeit eines einzelnen. Noch zwölf Stunden, und jedes Kind wußte
um die genaue Anordnung des nächtlichen Zuges: erst der große starke
Mann mit der Doppelflinte, dann Bancal und Colard und Bach und
Bousquier, die Bahre tragend, dann der bucklige Missonier als Aufpasser
und Nachhut. Bei den letzten Häusern der Stadt wurde der Weg zum Flusse
schmal und abschüssig; es war nicht Raum genug für zwei Leute
nebeneinander, Bousquier und Colard mußten den Leichnam allein tragen,
und Bousquier war es, nicht Missonier, der bei diesem Anlaß fluchte, so
laut fluchte, daß der Lizentiat Coulon davon aus dem Schlaf erwachte
und nach seinem Diener rief. An der steilen Stelle vor den Weinbergen
wurde der Körper des Toten losgewickelt, ins Wasser geworfen und als
dies geschehen war, legte der große starke Mann den Teilnehmern mit
vorgehaltenem Gewehr ewiges Stillschweigen auf.

Durch diese Handlung trat der Unbekannte mit der Doppelflinte völlig aus
dem Nebel des Sagenhaften und des bloßen malerischen Dabeiseins; aus
seiner drohenden Gebärde quoll Licht über das Vergangene. Was nach dem
Mord geschehen war, hatte nun Umriß und Bewegung. Aber hatte kein Auge
den armen Fualdes auf seinem letzten Gang begleitet, hatte niemand
gesehen, wie er ahnungslos sein Haus verlassen und, vielleicht munter
vor sich hinpfeifend, durch die finstre Rue de l’Ambrague gegangen war,
in welcher die Mordgehilfen sicherlich auf der Lauer standen? Doch.
Derselbe Lizentiat, den Bousquiers Fluch aus dem Schlummer geschreckt,
hatte den Greis um acht Uhr abends in das Gäßchen einbiegen sehen und
kurz darauf war ihm jemand mit Eile gefolgt, ob ein Mann oder eine Frau,
dessen konnte sich Herr Coulon nicht entsinnen. Ferner meldete sich ein
Schlossergeselle, der vor dem Haus des Bürgermeisters Leute gewahrt
hatte, die einander Zeichen gaben. Das Haus des Bürgermeisters lag zwar
in dem entgegengesetzten Teil der Stadt, das aber kam bei einer so weit
versponnenen Verschwörung wenig in Betracht, hatte man doch das Zeugnis
eines Kutschers, der um elf Uhr in der Rue des Hebdomadiers zwei Leute
unbeweglich stehen sah. Jetzt erinnerten sich viele Bewohner dieser
Straße, daß sie beständig flüstern, räuspern und rufen gehört hatten,
natürlich ohne in ihrer damals arglosen Stimmung sonderlich darauf zu
achten. Es war eine ausgemachte Sache, daß an allen Ecken Wächter
postiert waren, ja man hatte sogar eine weibliche Schildwache im Torweg
des Zunfthauses bemerkt. Der Schneider Brost behauptete, das Flüstern
oder Seufzen deutlicher als alle anderen gehört zu haben; er hatte dann
das Fenster geöffnet und sah fünf oder sechs Leute ins Bancalsche Haus
gehen, darunter auch den großen starken Mann. Geraume Weile später hatte
sein Nachbar beobachtet, wie man einen Menschen über das Pflaster
schleppte; er hatte geglaubt, es sei eine Dirne, die man betrunken
gemacht, und hatte weiter keinen Sinn dahinter gesucht. Viel
bedeutungsvoller als so verworrene Gerüchte schien es, daß noch zwischen
neun und zehn Uhr ein Leiermann auf der Rue des Hebdomadiers seine Orgel
gedreht hatte. Die Absicht war klar: das Todesgeschrei des Opfers sollte
übertönt werden. Es stellte sich bald heraus, daß es zwei Leiermänner
gewesen sein mußten, von denen einer, ein Krüppel, am Prellstein vor der
Rue de l’Ambrague gehockt war. Freilich war an jenem Tage Jahrmarkt in
Rhodez gewesen und die Anwesenheit von Leiermännern hätte deshalb nichts
Rätselhaftes gehabt, wenn die späte Stunde sie nicht dem Argwohn
preisgegeben hätte. Einige nannten sogar die Mitternacht als Zeit ihres
Spiels. Es wurde nach den Musikanten gefahndet und die Dörfer der
Nachbarschaft wurden nach ihnen abgesucht, doch sie waren ebenso
spurlos verschwunden wie der verdächtige Tabakshändler.

An demselben Vormittag, an dem das Bancalsche Haus durchsucht wurde und
ein Polizist im Hof ein weißes Tuch mit dunklen Flecken fand, wurden das
Bancalsche Ehepaar, der Soldat Colard, Bach und der Arbeitsmann
Missonier festgenommen und mit Ketten beschwert ins Gefängnis gebracht.
Stumpf hinstierend saßen die fünf Menschen auf dem Leiterwagen, der sie
durch die Straßen fuhr, und den die Volksmenge schwatzend, fluchend und
fäusteballend umgab. Im Nu hatte sich die Nachricht von dem gefundenen
Tuch verbreitet; daß die Flecken darauf Blutflecken waren, unterstand
keinem Zweifel; daß es dazu gedient hatte, Fualdes zu knebeln, war
selbstverständlich.

Indes hatte Bousquier, in seiner armseligen Lage allen Halt verlierend,
von Verhör zu Verhör gejagt, durch Drohungen geängstigt, durch Hunger
gefoltert, durch Freiheitshoffnungen und trügerische Versprechungen
verführt, täglich mehr und mehr gestanden. Ihn trieb der Wärter, ihn
trieb der Richter, denn dieser handelte unter der Ungeduld und Wut des
Volkes und unter dem Gefabel der Zeitungen wie unter einer Peitsche.
Bousquier schien verstockt; der Vorhalt seiner früheren Erzählungen, die
nun seine Gläubiger waren und ihm immer höhere Wucherzinsen der Lüge
erpreßten, genügte schon, ihn kirre zu machen. Er schien müde, er schien
unfähig, dem, was er wahrgenommen, Worte zu verleihen, was er gehört, zu
beschreiben, – Monsieur Jausion unterstützte ihn durch Fragen, in denen
die geforderte Antwort enthalten war.

So gab er zu, daß er ins Bancalsche Haus gekommen sei und daß die
Eheleute Bancal, der Tabakshändler, der Soldat Colard, der Schmuggler
Bach, zwei junge Frauenzimmer und eine verschleierte Dame im Zimmer
gewesen seien. Je mehr Personen er nannte, einen je versöhnlicheren
Ausdruck zeigte das Gesicht des Richters, und wie vor den Rachen eines
hungrigen Tieres warf er gleichmütig Brocken um Brocken hin. Er mochte
sich wohl aus andern Nächten der bunten Gesellschaft in Bancals Stube
entsinnen, und so erschien ihm die Person der verschleierten Dame als
eine Zutat, die seinen Kredit steigern konnte. Aber Monsieur Jausion
fand, daß eine wichtige Figur fehle, und er fragte mit Strenge, ob
Bousquier nicht jemand vergessen habe. Bousquier erschrak und überlegte.
»Besinne dich gut, Bousquier,« drängte der Richter, »was du
verschweigst, kann zum Strick für deinen Hals werden. Also sprich: war
nicht auch ein großer starker Mann zugegen?« Bousquier sah ein, daß
diese neue Person dazu gehöre. Schattengestalt auf Schattengestalt,
zuchtlos und abenteuerlich, tauchte in seinem zerrütteten Kopf empor,
und er mußte die Puppen spielen lassen, um seine Peiniger zu
befriedigen. Auf die Frage, wie der große starke Mann ausgesehen und wie
er gekleidet gewesen, antwortete er: »wie ein Herr.«

Und nun hieß es erzählen, den Schauplatz beleben. Auf dem großen Tisch
in Bancals Zimmer lag nicht etwa der Ballen Tabak, um dessentwillen er
gerufen worden, sondern eine Leiche. Er wollte fliehen, da eilte ihm
der große starke Mann nach und bedrohte ihn mit der Pistole.

Der Richter schüttelte vorwurfsvoll den Kopf. »Mit der Pistole?« fragte
er. »Denke nach, Bousquier, war es nicht vielleicht ein Gewehr? war es
nicht eine Doppelflinte?« Gut denn, dachte Bousquier wütend, wenn man
auf eine Flinte versessen ist, kann es auch eine Flinte gewesen sein; er
nickte, als fühle er sich beschämt, und fuhr fort, daß er, solchermaßen
am Leben bedroht, in Bancals Stube bleiben und den Helfershelfer machen
mußte. Der Tote wurde in ein leinenes Tuch gewickelt, mit Stricken
umwunden und auf die Tragbahre gelegt. Diese Tragbahre war mit Hilfe des
Gefängniswärters in Bousquiers Phantasie bis zur Vollkommenheit
vorbereitet. Doch als er nun den Leichenzug beschreiben sollte, verlor
der gemarterte Mensch die Besinnung, und wie er am späten Abend noch
einmal zum Verhör geführt wurde – selten versagte die Nacht und das
Kerzenlicht im öden Saal seine gespenstigen Wirkungen –, da leugnete er
wider Erwarten alles ab, weinte, schrie, betete und benahm sich völlig
sinnlos. Um ihn zu ermutigen und zu beruhigen, griff Monsieur Jausion zu
einem ebenso einfachen als kühnen Mittel; er sagte nämlich, Bach und
Colard hätten heute gleichfalls ein Geständnis abgelegt, und es sei
erfreulich, daß ihre Angaben mit denen Bousquiers übereinstimmten; wenn
er sich nun vernünftig benehme, so sollte er bald das Gefängnis
verlassen dürfen.

Bousquier stutzte. Je länger er überlegte, einen je tieferen Eindruck
machte ihm das Vernommene. Sein Gesicht wurde bleich und am ganzen Leibe
wurde ihm kalt. Es war wie wenn ein wüster Traum plötzlich unleugbares
Wachen wird oder wie wenn jemand, der in halber Trunkenheit die erlogene
Geschichte eines Unglücks erzählt und mit jeder neuen Einzelheit
gewaltiger ins Lügen verwoben wird, plötzlich erfährt, daß sich alles in
Wirklichkeit so zugetragen. Eine wunderliche Schwermut nahm von ihm
Besitz, ihm graute vor dem Alleinsein in seiner Zelle und er spürte
Angst vor dem Schlaf.

In fieberhafter Gier hatte ganz Rhodez den Angaben Bousquiers gelauscht.
Endlich erhielt die Gestalt des Unbekannten mit der Doppelflinte Nähe
und Greifbarkeit. Daß er ausgesehen wie ein Herr, stachelte die Wut des
Volkes, und die legitimistische Partei, die sich zumeist aus den Reichen
und Vornehmen zusammensetzte, begann zu zittern. Wahrscheinlich wurde in
ihrer Mitte zum ersten Mal der Name genannt, der erst vorsichtig, dann
ungescheut, dann anklagend von Mund zu Mund lief und über dem die
Wetterwolke, die sich aus einem Nebelstreif gebildet hatte,
blitzezuckend stille stand. Es war bekannt, daß Bastide Grammont, der
Pächter von La Morne, trotz seiner Verwandtschaft mit dem Advokaten
Fualdes in Feindseligkeit oder doch in der drückenden Abhängigkeit eines
Schuldners zu dem Alten lebte. Jedermann wußte oder glaubte doch zu
wissen, daß es oft stürmische Auftritte zwischen Oheim und Neffen
gegeben hatte. War das nicht genug? Dazu das herrische Temperament und
herbe Wesen Bastides, der rasche Verkauf von La Morne und eine
wohlgegliederte Kette kleiner Verdachtsmerkmale, wer durfte noch
zweifeln?

Der unermüdliche Schmied, der da irgendwo in den Lüften oder unter der
Erde am Werk war, sorgte dafür, daß der Ring des Verderbens sich schloß
und warb mit tückischer Laune seine Gesellen auf allen Gassen, bei hoch
und niedrig. Am Vormittag des neunzehnten März waren Fualdes und
Grammont auf der Promenade von Rhodez auf- und abgegangen. Eine
Trödlerin hatte gehört, wie der Junge zum Alten sagte: »Also heute abend
um acht Uhr.« Ein Maurer, der an einem Neubau Sand schaufelte, hatte
vernommen, wie Monsieur Fualdes ausrief: »So hältst du mir Wort?« Worauf
Bastide Grammont erwiderte: »Beruhigen Sie sich, heute abend werde ich
Ihnen die Rechnung machen.« Der Musiklehrer Lacombe erinnerte sich
deutlich, wie Bastide dem Alten mit zornfinsterem Gesicht zugerufen:
»Sie treiben mich zum Äußersten.« Das zufällige Geschwätz eines
Schwätzers gewann im geschäftigen Hörensagen dieselbe Wichtigkeit, wie
die ehrlich bewiesene Wahrnehmung, und was etwa vorher oder was nachher
geredet worden, vermischte und verknüpfte sich zu frecher Willkür. So
wollte Professor Vignet, eines der Häupter der Royalisten, gegen sieben
Uhr abends, kurz vor dem Mord, in einen Obstladen gekommen sein und dort
einen Kollegen getroffen haben. Er erzählte, daß er Bastide Grammont
gesehen, der in ziemlicher Eile an ihm vorübergegangen war. Er
behauptete, ausgerufen zu haben: »Finden Sie nicht, daß Grammont ein
unheimliches Gesicht hat?« Worauf der andere bejahte und erwiderte, man
müsse sich vor dem Manne hüten. Es meldeten sich Zeugen, die dieses
Gespräch bestätigten. Es meldeten sich Zeugen, die Bastide vor dem
Bancalschen Haus gesehen haben wollten; er habe mehrmals einen scharfen
Pfiff ausgestoßen und sich dann in den Schatten geduckt.

Seit fünf Jahren hauste Bastide Grammont auf La Morne. Er war vielleicht
der einzige Mann im ganzen Bezirk, der sich niemals um Politik
bekümmerte und allem Parteitreiben fernblieb, und diese stolze
Unabhängigkeit gab ihn dem Übelwollen, ja dem Haß seiner Mitbürger
preis. Als einmal in Rhodez eine Kundgebung für die Bourbonen
stattfinden sollte und die Straßen von einer aufgeregten Menge erfüllt
waren, ritt er auf seinem Apfelschimmel gravitätischkühl durch die
erhitzten Gruppen und lächelte den beleidigten wilden Blicken, die ihn
trafen, mit Geringschätzung entgegen.

Man erzählte, daß er seine Jugend und ein beträchtliches Vermögen in
Paris vergeudet habe und daß er von dort menschensatt in die Heimat
zurückgekehrt sei. Seine Gepflogenheiten deuteten auf einen das
Absonderliche liebenden Geist. In früheren Jahren war ein gelehrter
Pater der benachbarten Benediktiner-Abtei oftmals bei ihm zu Gast
gewesen; es hatte geschienen, als ob der stille Mann und Menschenkenner
an dem ungebundenen Wesen und der heidnisch-brünstigen Naturvergötterung
des Einsiedlers Bastide seine heimliche Freude habe; aber als Bastide
eine Näherin aus Alby, die hübsche Charlotte Arlabosse, gewaltsam
entführt hatte und in wilder Ehe mit ihr lebte, mußte der Benediktiner,
dem Befehl seiner Oberen gehorchend, den Verkehr abbrechen.

Von da an verzichtete Bastide überhaupt auf jeden vertraulichen Umgang.
Er hatte keinen Freund, wünschte keinen Freund. Hochmütig schloß er sich
ab; der Anblick eines neuen Gesichts machte seine Züge fremd und kalt;
den Leuten aus der Gesellschaft begegnete er mit verletzender
Gleichgültigkeit. Vielleicht war es nur die Furcht vor Enttäuschung,
wenn er sich auch dem herzlichsten Werben schroff versagte, denn es lag
bisweilen in der Tiefe seines Auges die Sehnsucht selbstungewisser
Liebe. Hart werden, weil unerfüllte Ansprüche die Seele beschweren und
verdunkeln, einsam bleiben, weil überhebender Stolz sich scheut, das
erglühte Herz frei darzubringen und ohne Gerechtigkeit sein, aus Scham
und mißverstehendem Trotz, das war vielleicht sein Los und sicher seine
Schuld.

Tagelang trieb er sich mit seinen Hunden in den Tälern der Sevennen
herum. Er sammelte Steine, Pilze, Blumen, fing Vögel und Schlangen,
jagte, sang und fischte. Ging ihm etwas in die Quere und war sein Blut
in Wallung, so nahm er das feurigste Pferd aus dem Stall und ritt etwa
über die gefährlichen Felsenpfade nach Rieux. Im Winter, in kalter
Morgenstunde, sah man ihn im Wasser des Flusses baden, in schwülen
Sommernächten lag er nackt und fiebernd unter freiem Himmel. Er
behauptete dann, er sähe die Sterne tanzen und fühle die Erde zittern.
Um die Zeit der Weinlese war er, ohne je zu trinken, wie im Rausch; er
veranstaltete Feste mit Musik und Fackelzügen und machte den
Schutzpatron aller Liebesverhältnisse unter dem Winzervolk. Bei
langdauerndem schlechten Wetter wurde er blaß, schlaff und
überempfindlich, verlor Schlaf und Appetit und geriet in plötzliche
Wutanfälle, die der Schrecken seiner Leute waren; bei einer solchen
Gelegenheit fällte er einmal mit der Axt ein halb Dutzend der
herrlichsten Bäume im Garten, die er, wie alle wußten, so
leidenschaftlich liebte, als ob sie seine Brüder wären.

Daß bei seiner ungeordneten Verwaltung der Ertrag des Gutes von Jahr zu
Jahr geringer wurde, war keinem erstaunlich als ihm allein. Er geriet in
Schulden, aber davon zu sprechen oder daran zu denken, bereitete ihm den
größten Widerwillen und was er dagegen unternahm, war eine regelmäßige
Beteiligung an verschiedenen Lotterien, deren Ziehungstermine er stets
mit kindlicher Ungeduld erwartete.

       *       *       *       *       *

Als das Gericht, der unüberhörbaren Meinung und Anklage des Volkes
gehorchend, die Verhaftung Bastides anordnete, wußte dieser schon, was
gegen ihn im Werke war. Er saß, mit einer Holzschnitzerei beschäftigt,
unter einer mächtigen Platane, als die Huissiers auf dem Hof erschienen.
Charlotte Arlabosse stürzte zu ihm und packte seinen Arm, doch er machte
sich los und sagte: »Laß sie nur gewähren, die Eiterbeule ist schon
lange reif.« Mit ironischer Grandezza trat er den Bewaffneten entgegen
und rief: »Euer Diener, meine Herrn.«

Die Bewohner von La Morne wurden einem strengen Verhör unterworfen. Nach
Bastides eigener Angabe war er am Nachmittag des neunzehnten März nach
Rhodez geritten; um sieben Uhr abends sei er schon bei seiner Schwester
im Dorfe Gros gewesen, dort habe er übernachtet, sei am Morgen nach La
Morne zurückgekehrt, dann auf die Nachricht vom Tode des Oheims wieder
nach Rhodez geritten und habe sich ungefähr eine halbe Stunde lang in
Fualdes Haus aufgehalten. Seine Schwester bestätigte, daß er die Nacht
in ihrem Hause verweilt habe, und fügte hinzu, er sei im Gespräch
besonders heiter und liebenswürdig gewesen. Auch die Magd, die ihm
aufgewartet und das Bett bereitet hatte, sagte aus, daß er sich um zehn
Uhr schlafen gelegt habe.

Diesen Zeugen wurde nicht geglaubt, ja sie wurden bald darauf als
verdächtig in Haft genommen. Von den Leuten auf La Morne schwatzte der
eine dies, der andere das. Um nur irgend etwas zu sagen und nicht als
Dummköpfe oder Mitschuldige dazustehen, verwickelten sie sich in Reden
von bedeutungsvoller Dunkelheit, und so äußerte ein Diener, daß die
graue Stute des Herrn, wenn sie zu sprechen vermöchte, von sauren Ritten
in jener Nacht erzählen könnte. Die Mägde faselten oder vergossen
Tränen, Charlotte Arlabosse entfloh sogar, wurde in den Weingärten
ergriffen und ins Stadtgefängnis gebracht.

Bousquier und seinen Gefährten blieben diese Ereignisse keineswegs
verborgen, ja es wurden ihnen geringfügige Umstände mit wichtiger
Betonung mitgeteilt, um sie sicher zu machen und ihrem Gedächtnis
nachzuhelfen. Hauptsächlich auf den Schmuggler Bach hatte es nun der
Untersuchungsrichter abgesehen, den man zuerst wie auch das Ehepaar
Bancal zu keiner Angabe hatte bewegen können. Er hatte Richter und
Wärter mit heftigen Wutausbrüchen erschreckt und war zur Strafe und
Bändigung in Ketten gelegt worden. Ohne es eigentlich zu wissen, litt
dieser Mensch an ungeheurer Sehnsucht nach seiner Freiheit, denn er war
das Muster eines schweifenden Vagabunden und Strolches. In einer Nacht,
als er versucht hatte, sich durch Zusammenpressen der Kehle zu töten,
machte ihn Monsieur Jausion mit den Geständnissen seines Kameraden
Bousquier bekannt und ermahnte ihn, auch seinerseits der fruchtlosen
Verstocktheit zu entsagen. Da verwandelte sich plötzlich das Benehmen
des Menschen; er schien heiter, wurde mitteilsam und sagte boshaft
grinsend: »Nun gut, wenn Bousquier viel weiß, so weiß ich noch mehr.«
Und in der Tat, er wußte mehr. Er war ein Stotterer und nutzte dieses
Übel aus, um Zeit zur Überlegung zu gewinnen, wenn die Einbildungskraft
erlahmen wollte, und so oft er sich ins Gebiet des Märchenhaften
verirrte, führte ihn der scharfsinnige Monsieur Jausion sanft auf die
Straße der Wirklichkeit zurück.

Er erzählte also: Als er mit Bousquier ins Zimmer trat, saß der Advokat
Fualdes auf einem Stuhl beim Tisch und mußte Wechsel unterschreiben.
Der große starke Mann, Bastide Grammont nämlich, – kein Zweifel, es war
Grammont; Bach vertraute darin den Mitteilungen des Richters und der
beredsamen Fama – steckte die unterschriebenen Papiere in seine
Brieftasche. Währenddessen kochte Frau Bancal einen Imbiß, Hühner mit
Gemüse und Kalbfleisch mit Reis; eine wichtige Schattierung, durch
welche die Kaltblütigkeit der Mörder bezeichnet wurde. Kurz vor acht Uhr
kamen zwei Tamboure herein, aber das Gesicht des Wirts oder des fremden
Herrn mißfiel ihnen, sie glaubten zu stören und gingen wieder, worauf
das Haustor versperrt wurde. Doch wurde dann noch mehrmals gepocht; das
verabredete Zeichen waren drei kurze Schläge mit der Faust und nach und
nach kamen der Soldat Colard mit seiner Geliebten, der bucklige
Missonier, eine vornehme verschleierte Dame mit grünen Federn auf dem
Hut und ein Tabakshändler im blauen Rock. Der Hut mit grünen Federn war
ein besonderer Beweis von Bachs Erfindungsgabe und stach malerisch
glaubhaft ab von dem blauröckigen Tabaksmann.

Um halb neun Uhr brachte Frau Bancal ihre Tochter Magdalene in die
Dachkammer zum Schlafen, und nun erklärte Bastide Grammont dem alten
Mann, daß er sterben müsse. Das beschwörende Flehen des Opfers hatte
keinen andern Erfolg, als daß ihn der starke Bastide ergriff und trotz
seines heftigen Sträubens auf den Tisch legte, von welchem Bancal rasch
zwei Brote wegnahm, die irgend jemand mitgebracht hatte. Fualdes schrie
jämmerlich, man möge ihm einen Augenblick Zeit lassen, damit er sich
mit dem Himmel versöhnen könne, doch Bastide Grammont entgegnete barsch:
»Versöhne dich mit dem Teufel!«

Hier unterbrach Monsieur Jausion die Erzählung und fragte mit
treuherziger Neugier, ob nicht vielleicht in diesem Moment eine
Drehorgel vor dem Haus zu spielen angefangen hätte. Bach bestätigte es
eifrig und fuhr in seinem Bericht fort, der nun ihm selber Spannung und
Grauen verursachte: Colard und Bancal hielten dem Alten die Beine,
während der Tabakshändler und Colards Geliebte Arme und Kopf packten.
Ein Herr mit einem Stelzfuß und einem dreispitzähnlichen Hut hielt die
Kerze hoch. Das Auftauchen dieser neuen Figur hatte etwas Unheimliches
und wenn sie nichts darstellen sollte als einen die Schauer der
Mordnacht vervollständigenden Schnörkel, so erfüllte sie ihren Zweck
trefflich. Der kerzenhaltende Stelzfuß glich einem verruchten Schatten
aus der Unterwelt, und es war nicht vonnöten, das schmale Kinn, das
feixende Maul, das geisterhafte Auge besonders zu schildern.

Mit einem breiten Messer versetzte Bastide Grammont dem Alten einen
Stich; durch eine übermenschliche Anstrengung gelang es Fualdes, sich
loszureißen, er sprang auf, rannte, schon zu Tod verwundet, mit heiserem
Gurgeln durch das Zimmer; Bastide Grammont ihm nach, umklammerte ihn,
warf ihn abermals auf den Tisch, der Tisch wankte, ein Bein brach; nun
trug man den Sterbenden auf zwei rasch zusammengerückte Bänke und
Bastide Grammont stieß das Messer tief in seinen Hals. Mit dem letzten
Seufzer des Greises kamen Bancal und seine Frau und fingen das
herunterfließende Blut in einem irdenen Tiegel auf; was über die Dielen
rann, scheuerten die Weiber ab. In den Taschen des Ermordeten fand sich
ein Fünffrankenstück und mehrere Soustücke. Bastide Grammont warf das
Geld in die Schürze der Bancal und sagte: »Nehmt! wir töten ihn nicht um
dieses Geldes willen.« Es wurde auch ein Schlüssel gefunden, den steckte
Bastide zu sich. Frau Bancal hatte Lust zu dem feinen Hemde des Toten
und bemerkte lüstern, es sähe wie ein Chorhemde aus, doch lenkte man sie
von ihrer Begierde ab, indem man ihr einen Amethystring von Fualdes
Finger schenkte. Dieser Ring wurde am andern Tag von einem unbekannten
Herrn gegen eine Entschädigung von zehn Franken wiedergeholt.

Als Bachs Erzählung mit ihrer ganzen Umständlichkeit und ihrer
heuchlerischen Fülle seltsamer und einleuchtender Einzelheiten bekannt
wurde, fehlte nicht viel und man hätte den phantasievollen Schurken wie
einen Erlöser gefeiert. Die Entrüstung nährte den Glauben und Kritik
erschien als Verrat. Das Publikum, die Zeugen, die Richter, die
Behörden, alle glaubten an die Tat und alle begannen mitzudichten. Bach
und Bousquier, die einander gegenübergestellt wurden, stritten sich und
einer schimpfte den andern Lügner; der eine wollte vor, der andere nach
dem Mord ins Bancalsche Haus gekommen sein, der eine behauptete,
zugegriffen zu haben, der andere wollte bloß die in ein Betttuch und mit
Stricken umschnürte Leiche aufgeladen haben. Der blödsinnige Missonier
bezeichnete noch eine Reihe anderer Personen, die er im Bancalschen
Hause gesehen hatte, zwei Notare aus Alby und einen Koch. In der Kneipe
der Rose Feral, wo allerlei schlechte Individuen verkehrten und alte
Kriegstaten und Diebstähle zur Sprache kamen, wurde am Mordabend die
Plünderung eines Hauses besprochen, das einem Liberalen gehörte. Dieses
Gerücht war darauf berechnet, den Schrecken der ruhigen Bürger zu
vergrößern, und daß sich nachher alle Verschwörer, auch wohlhabende
Leute, in Bancals Wohnung einfanden, mochte weiter nicht auffallen.
Alles stimmte in dem verworrenen und höllischen Gewebe; in den Kleidern
des toten Fualdes war kein Geld, an seinen Fingern kein Ring gefunden
worden; Grammont hatte noch am siebzehnten März den Gerichtsvollzieher
im Hause gehabt und dieser Umstand, rechtzeitig emporgetrieben aus dem
Lügensumpf, gab Sicherheit. Bastide war unrettbar verstrickt. Die
Gefangenen untereinander gerieten in Bedrängnis durch die fühlbare
Unruhe des Volkes; jeder erschien dem andern als schuldig, jeder gab,
was man nur wissen wollte, vom andern zu, um sich selber zu entlasten;
sie kannten ihr Schicksal nicht, sie verloren den Sinn für die Bedeutung
der Worte, sie spürten nicht mehr sich selbst, ihren Leib, ihre Seele,
sie fanden sich umspannt von einer unsichtbaren Klammer und jeder suchte
sich auf eigene Rechnung zu lösen, ohne zu wissen, was er denn
eigentlich getan oder unterlassen habe. Täglich fanden neue Verhaftungen
statt, kein durchreisender Fremdling war seiner Freiheit sicher und
nach einigen Wochen war halb Frankreich von dem Rausch der Wut, des
Racheverlangens und der Furcht ergriffen. Aus den Gestalten des
lächerlich-grauenvollen Mordgetümmels tauchte bald diese, bald jene
deutlicher und wesenhafter empor, und am wichtigsten erschien
schließlich, weil immer von neuem genannt, die verschleierte Dame mit
den grünen Federn auf dem Hut; ja sie wurde allmählich zum Mittelpunkt
und zur treibenden Gewalt der blutigen Handlung, vielleicht nur, weil
ihre Herkunft und Existenz ein Geheimnis blieb. Von vielen Stimmen wurde
Charlotte Arlabosse verdächtigt, aber sie konnte ihre Unschuld durch
kaum angreifbare Zeugnisse erhärten, auch erschien sie als zu harmlos
und zu sehr als das Opfer von Bastides tyrannischer Grausamkeit, um dem
dämonischen Bilde der mysteriösen Unbekannten zu entsprechen.

Während Bach und Bousquier in einem Wetteifer, durch den sie ihr eigenes
Verderben beflügelten, mit immer neuen Erfindungen die Behörde zur Milde
bestachen und durch Bezichtigungen, zu welchen sie das unterirdisch
ihnen zusickernde Gerede ermunterte, den trüben Quellen frische Nahrung
zuführten; während der Soldat Colard und das Ehepaar Bancal infolge der
harten Gefangenschaft, der unnachsichtigen Behandlung der Wärter und der
folternden Verhöre in Delirien des Wahnsinns gestürzt wurden, so daß sie
Dinge berichteten, welche selbst der an ein Übermaß schon gewöhnte
Monsieur Jausion als Traumgeburten bezeichnen mußte; während die übrigen
Häftlinge, haltlos zwischen eigenen Erlebnissen und krankhaften
Visionen steuernd, immer einer den andern verdächtigte und heute
widerriefen, was sie gestern beschworen, bald um Gnade winselten, bald
sich trotzig verschlossen; während die Bewohner der Stadt, der Dörfer,
der ganzen Provinz mit einem Fanatismus, dessen Feuer von dunklen Hütern
bewacht und gespeist wurde, die Beendigung des langwierigen Verfahrens
und die Bestrafung der Missetäter forderten; während endlich das Gericht
in der unbeherrschbar anwachsenden Flut der Beschuldigungen und
Verleumdungen Weg und Richtung verlor und im Begriffe war, ein Werkzeug
in den Händen des Pöbels zu werden; – währenddessen war es den uferlosen
Kräften gelungen, das Gemüt eines Kindes zu vergiften, welches als Zeuge
auftrat gegen Vater und Mutter und das betörte Volk glauben machte, Gott
selbst habe durch ein Wunder die Zunge einer Unmündigen gelöst.

Schon am Anfang war die elfjährige Magdalena Bancal vom
Untersuchungsrichter befragt worden; sie hatte nichts gewußt. Darnach
kam das Kind ins Hospiz, und auf einmal meldeten sich Personen, die von
andern und diese, die wieder von dritten und vierten Personen gehört
hatten, das Mädchen habe gesehen, wie man den alten Mann auf den Tisch
gelegt und wie man ihrer Mutter Geld gegeben habe. Freilich ermittelte
der Gerichtsrat Pinaud, der einzige Mann, der in dem wüsten Wirrsal
Klarheit und Urteil behielt, daß Magdalena von dem Ökonomen des
Hospizes, sowie von andern Leuten Geschenke erhielt; aber da war es
schon zu spät, um die Wurzel der Lüge zu entdecken und zu töten. Immer
fester wurde dem Kind seine erste Aussage eingeredet und die Erzählung
erweiterte sich, je mehr man ihm Aufmerksamkeit schenkte und seiner
Eitelkeit schmeichelte, so daß es in Wahrheit alles erlebt zu haben
glaubte und sich in der Teilnahme und dem Bedauern der Erwachsenen wohl
fühlte. Ihre Mutter hatte sie auf den Dachboden geführt, so berichtete
Magdalena, aber dann war sie aus Furcht vor Kälte heimlich wieder
heruntergeschlichen und hatte sich im Bett des Alkovens versteckt. Durch
ein Loch im Vorhang konnte sie alles gewahren und belauschen. Als der
Alte erstochen werden sollte, lief die Dame mit den grünen Federn
entsetzt in die Kammer und suchte durchs Fenster zu fliehen. Bastide
Grammont zog sie hervor und wollte sie umbringen. Bancal und Colard
baten um Schonung für sie und sie mußte einen furchtbaren Eid schwören,
der sie zum Schweigen verband. Ein wenig später sah Grammont, dessen
Argwohn nicht stille wurde, auch im Bett nach. Magdalena stellte sich
schlafend. Er betastete sie zweimal und sagte dann zur Mutter, sie möge
sehen, sich des Kindes zu entledigen, was Frau Bancal um vierhundert
Franken zu tun versprach. Am andern Morgen wurde das Kind von der Mutter
aufs Feld geschickt, wo der Vater gerade ein tiefes Loch gegraben hatte.
Sie glaubte, der Vater werde sie hineinwerfen, aber er umarmte sie
weinend und ermahnte sie zur Frömmigkeit.

Wäre man auch jedes andere Zeugnis zu bezweifeln bereit gewesen, der
Bericht des Kindes galt als unwiderleglich, und niemand fragte darnach,
wie er zustande gekommen, wie man das unwissende Geschöpf umworben,
bestochen und durch Beifall und Zärtlichkeit oder gar durch Furcht
trunken gemacht hatte. Man zog aus seinen Schreckträumen Nutzen, indem
man es nachts aus dem Schlaf zerrte; jeder neue Einfall war willkommen,
das Mädchen glaubte etwas Vortreffliches zu leisten und gab sich immer
bereitwilliger an seine Rolle. Solcherart formte sie Dinge aus dem
Nichts heraus, die geeignet waren, auf das Fieberbild der Mordnacht ein
wunderliches Wirklichkeitslicht zu werfen, zum Beispiel, wie die Mutter
am Morgen mit demselben Messer Brot geschnitten hatte, mit dem der alte
Herr erstochen worden war, und wie Magdalena das Brot zurückgewiesen
hatte, weil ihr davor geschaudert; oder wie das im Tiegel aufgefangene
Blut einem der Schweine zu trinken gegeben und wie das Tier darnach wild
geworden und schreiend durch den Hof gerast sei.

Bastide Grammont ließ mit kalter Gelassenheit Verhör um Verhör über sich
ergehen. Seine trocken-hochmütige Würde, sein spöttisches Lächeln, sein
stummes Achselzucken setzten Monsieur Jausion nicht selten in
Verlegenheit. Doch kam es wohl vor, daß er, von Ungeduld hingerissen,
dem Richter kurzweg das Wort entriß und kühn und beredt an dem
gebrechlichen und dennoch unzerstörbaren Bau der Indizien rüttelte.

»Falls es in meinem Plan und Interesse gelegen war, den Oheim ums Leben
zu bringen, bedurfte es dann einer Verschwörung von so vielen
Personen?« so fragte er etwa und die Verachtung machte seine Züge
flammen. »Soll ich so dummschlau sein und mich mit Bordellwirten,
Dirnen, Schmugglern, alten Weibern und abgestraften Verbrechern
verbünden, Leuten, die zeitlebens meine Meister und Mahner geblieben
wären, selbst wenn Stillschweigen zu ihren Tugenden gehörte? Läßt sich
etwas Sinnloseres ausdenken, als einen Mann auf offener Straße zu
ergreifen und ihn in ein ohnehin verdächtiges Haus zu schleppen? Wozu
das alles? Gab es für mich keine bessere Gelegenheit? Konnte ich den
Alten nicht auf das Gut locken, ihn im Wald erschießen und verscharren?
Ich hätte ihn zum Unterschreiben von Wechseln gezwungen, – wo sind sie,
die Wechsel? Sie müßten doch zum Vorschein kommen und mich bloßstellen.
Sie sagen selbst, das Bancalsche Haus sei so verwahrlost, daß man von
der Wohnung der Spanier durch die morschen Bretter in Bancals Stube
blicken kann; warum hat dann Monsieur Saavedra nichts gehört? Aha, er
hat geschlafen. Guter Schlaf das. Oder ist er auch im Komplott, wie
meine Mutter, meine Schwester, meine Geliebte, meine treuen Diener? Und
alles zugegeben, genügten nicht die Bancalschen Eheleute zur Hilfe,
einen schwachen Greis zu töten und beiseite zu schaffen, mußte ich dazu
noch ein halb Dutzend verdächtige Kerle aus den Kneipen holen? Warum hat
mein Oheim nicht geschrieen? Er war geknebelt, schön; aber der Knebel
ist auf dem Hofe gefunden worden. So hat er doch geschrieen, als der
Knebel entfernt war, und ich habe die Leiermänner spielen lassen. Sehr
geistreich, das mit den Leiermännern, aber solche Drehorgeln machen
doch Lärm und locken Leute an die Fenster und auf die Straße. Und warum
das Opfer schlachten, da so viele starke Männer es leicht hätten
erwürgen können? Zeigen Sie mir den ärztlichen Befund, Monsieur, ob
darin von einem Stich und nicht vielmehr von einem Riß die Rede ist. Und
welches Geschwätz, das mit dem Leichenzug, welche verräterischen
Anstalten in einem Land, wo jeder Grenzpfahl Augen hat! Man beschuldigt
mich, am andern Morgen in meines Oheims Haus gestürmt zu sein und
Papiere geraubt zu haben. Wo sind diese Papiere? Mein Oheim starb fast
arm. Seine Forderung an mich ist an den Präsidenten Seguret
übergegangen. Wozu also die Tat? Was will man von mir? Wer, der Augen
hat, sieht meine Hände befleckt?«

Diese Sprache war herausfordernd. Sie erweckte den Unwillen des Gerichts
und den gesteigerten Haß der Menge, die davon entstellte Kunde erhielt.
Aus Angst vor dem Volk wagte kein Advokat, die Verteidigung Bastide
Grammonts zu übernehmen. Monsieur Pinaud, der allein den Mut hatte, auf
die Unwahrscheinlichkeiten und die abenteuerliche Herkunft der meisten
Zeugenaussagen zu verweisen, hätte seinen Eifer für die Wahrheit fast
mit dem Leben bezahlen müssen. Eines Nachts zog ein Pöbelhaufen,
darunter auch Bauern, vor sein Haus, zertrümmerte die Fensterscheiben,
demolierte das Tor und legte Feuer auf der Treppe an. Nur mit Mühe
konnte sich der erschrockene Mann ins Freie retten, und er floh nach
Toulouse.

Wohl erkannte Bastide Grammont, daß es für ihn zunächst keinen
Widerstand gab; er entschloß sich, alle Tapferkeit in Geduld zu
verwandeln und seine Lippen so zu verschließen, als ob sie die Türen
wären, durch welche die Hoffnung entfliehen könnte. Er, der freieste der
Menschen, mußte die strahlenden Tage des Frühlings, die duftigen Abende
des Sommers in einem feuchten Loch zubringen, das den eigenen Atem ekel
machte; er, zu dem die Tiere redeten, den die Blumen mit Augen
anblickten, für den die Erde zu gewissen Zeiten etwas wie einen Glanz
von Verliebtheit hatte, der zu gehen, zu schreiten, zu wandern, zu
reiten wußte so wie Künstler entzückende Werke schaffen, er mußte, durch
ein widersinniges Spiel unbegreiflicher Umstände bezwungen, den
Vorgeschmack des Grabes kosten und entbehren, was ihm das innerste und
eigenste des Lebens war. Häufig wurden die Nächte des Trotzes, wo der
Blick überfloß und stumpf wurde im Gedanken der Schmach; häufiger die
Tage nicht zu beherrschender Sehnsucht, wo jedes von der nassen Mauer
bröckelnde Sandkorn an das wunderbare Wirken und Weben der Erde, der
Wiese, des Waldes gemahnte. Von den Ereignissen, die sein Schicksal
verdunkelt hatten, wandte er alles Nachdenken angewidert ab, und er
hörte es kaum, als eines Morgens der Wärter erschien und ihm frohlockend
mitteilte, daß die geheimnisvolle Unbekannte, welcher es bestimmt war,
Haupt- und Kronzeugin zu werden, die Dame mit den grünen Federn endlich
gefunden sei; sie habe sich selbst gemeldet und es sei die Tochter des
Präsidenten Seguret, Madame Clarissa Mirabel.

Bastide Grammont blickte finster vor sich hin. Aber von Stund an
umflatterte dieser Name sein Ohr wie der Flügelschlag des unabwendbaren
Fatums.

       *       *       *       *       *

So war es: Madame Mirabel hatte bekannt, daß sie während der Mordnacht
im Bancalschen Haus gewesen sei. Doch geschah dies Geständnis im Drang
eines sonderbaren Augenblicks, und es verfloß nicht so viel Zeit, wie
das flinke Gerücht brauchte, um offenbar zu werden, da nahm sie alles
wieder zurück. Aber das Wort war gefallen und zeugte Tat auf Tat.

Clarissa Mirabel war das einzige Kind des Präsidenten Seguret. Sie war
auf dem Land erzogen worden, in dem alten Schloß Perrié, das ihr Vater
beim Anbruch der Revolution gekauft hatte. Die politischen Stürme und
die Unsicherheit der Zustände waren schuld, daß sie in ihrer Kindheit
keines regelmäßigen Unterrichts genoß. Die tiefe Abgeschiedenheit, in
der sie aufwuchs, begünstigte ihre Anlage zur Schwärmerei. Sie
vergötterte ihre Eltern und in den bewegten Zeiten der Anarchie zeigte
die erst vierzehnjährige Jungfrau an der Seite ihres Vaters einen
solchen Opfermut und solche Hingabe, daß sie dadurch die Aufmerksamkeit
des Obersts Mirabel erregte, der dann fünf Jahre später kam und um sie
warb. Sie liebte ihn nicht, – kurz vorher hatte sie ein
seltsam-romantisches Verhältnis mit einem Hirten der Gegend angeknüpft,
– doch heiratete sie, weil ihr Vater es befahl. Die Ehe war nicht
glücklich; nach drei Monaten trennte sie sich von ihrem Mann; der Oberst
ging mit dem Heer nach Spanien. Als der Krieg zu Ende war, kam er
zurück und ließ Clarissa sein Verlangen andeuten, daß sie bei ihm wohnen
solle, doch weigerte sie sich, erklärte auch schriftlich ihre Weigerung,
zornig darüber, daß er fremde Leute schickte, um mit ihr zu
unterhandeln. Doch erfuhr sie, Mirabel sei verwundet, und dies änderte
ihren Sinn. In der Nacht, auf verborgenen Wegen, unter umständlichen
Förmlichkeiten wurde der Oberst ins Schloß getragen, und in einem
abgelegenen Zimmer pflegte ihn Clarissa mit treuer Sorgfalt. Solange es
geheim blieb, fesselte sie die neuartige Beziehung zu dem Mann als
Liebhaber, doch die Mutter entdeckte alles und glaubte, der völligen
Aussöhnung zwischen den Gatten stehe nichts im Wege. Clarissa wußte
ihren Mann zu entfernen; in einem Gehölz beim Dorf hatte sie abendliche
Zusammenkünfte mit ihm. Oberst Mirabel wurde aber des wunderlichen
Treibens überdrüssig; er erhielt eine Anstellung in Lyon, starb aber
kurz darauf an den Folgen seiner Ausschweifungen.

Jahre gingen hin; auch die Mutter starb und die Trauer Clarissas war so
groß, daß sie tagelang nicht vom Grabe wich und nur durch den Einfluß
des leichter getrösteten Vaters zu bewegen war, sich wieder in das
einsam-leere Dasein zu fügen. Völlig sich selbst überlassen, ergab sie
sich dem Genuß ungewählter Lektüre und ihre Wünsche richteten sich mit
verborgener Glut auf große Erlebnisse. Sie brachte sich durch auffällige
Neigungen und Gewohnheiten in das kleinstädtische Gerede; sie ließ
Kinder und halbwüchsige Knaben und Mädchen ins Schloß kommen,
deklamierte ihnen Verse und richtete sie zum Theaterspielen ab. Ihr
zwangloser Charakter erweckte Feinde; sie sagte, was sie dachte,
verletzte ohne böse Absicht, stiftete Verwirrung und Klatsch in aller
Unschuld, übertrieb das Geringfügige und übersah das Große, gefiel sich
zuweilen in Maskeraden, Verkleidungen und erdichteten Rollen und
bezauberte doch wieder den Empfänglichen durch die Anmut ihrer Rede, die
heitere Beweglichkeit ihres Geistes, das gewinnend Herzliche ihrer
Manieren.

Sie war jetzt fünfunddreißig Jahre alt; aber nicht nur, weil sie
außerordentlich schlank, klein und zart war, sah sie aus wie ein
achtzehnjähriges Mädchen, sondern es war auch in ihrem Wesen eine tiefe
und ungewöhnliche Jugend, und wenn ihr Auge voll und nachdenklich auf
einem Gegenstand ruhte, hatte es die Klarheit und träumerische Süße des
Kinderblicks. Sie war gleichsam ein Erzeugnis der Grenze: südliche
Lebhaftigkeit und nordische Schwere waren zu ruheloser Mischung
gediehen; sie grübelte gern und wie ein Tierlein spielend, vermochte sie
in Männern aller Art ein mit Scheu gemengtes Begehren zu erregen.

Von der Flut der Gerüchte über den Tod des Advokaten Fualdes blieb sie
zunächst unberührt, obwohl ihr Vater durch den Kauf der Domäne La Morne
mittelbar an den Ereignissen beteiligt schien und täglich neue
Nachrichten ins Schloß getragen wurden. Der Vorfall war ihr zu
verwickelt und alles was damit zusammenhing, roch zu sehr nach Schmutz.
Erst als der Name Bastide Grammonts genannt wurde, horchte sie auf,
verfolgte die Dinge und ließ sich den geglaubten Hergang vom Vater oder
von den Dienerinnen berichten, wobei sie mehr Teilnahme als Verwunderung
bezeigte.

Sie wußte nichts von Bastide Grammont. Des ungeachtet fiel sein Name,
kaum daß sie ihn gehört, wie ein Gewicht in ihr lauschendes Innere. Sie
fing an, sich nach ihm zu erkundigen, unternahm heimliche Ritte nach La
Morne und brachte den einen oder andern seiner Leute über ihn zum Reden,
ja einmal gelang es ihr sogar, mit Charlotte Arlabosse zu sprechen, die
um jene Zeit schon wieder in Freiheit war. Was sie vernahm, erzeugte in
ihr ein eigentümliches, schmerzhaftes Staunen; ihr war zumut, als hätte
sie eine wichtige Begegnung versäumt.

Dazu kam, daß sie sich plötzlich erinnerte, ihn gesehen zu haben. Er
mußte es gewesen sein, wenn sie die verworrenen Schilderungen seiner
Person nur halbwegs recht verstand. Es war ein Jahr zuvor gewesen, an
einem frühen Morgen im ersten Frühjahr. Von der allgemeinen Unruhe
gepackt, durch die der erwachende Lenz das Blut aufwühlt und den Schlaf
schneller als sonst beendigt, hatte sie das Schloß verlassen und war zu
Fuß über die Weinbergwege in das bewaldete Tal von Rolx gewandert. Und
während sie durch die sonnebeglänzten, feuchten Gebüsche schritt, über
sich das Jubeln der Singvögel und das glühende Blau der Himmelskugel,
unter sich die wie ein Leib atmende Erde, hatte sie einen Mann von
mächtigem Gliederbau gewahrt, der aufrecht dastand, barhäuptig, die Nase
in der Luft und mit einer überirdischen Begierde, mit aufgerissenen
Augen genoß, was eben zu genießen war: die Düfte, die Sonne, die
berauschende Feuchtigkeit, den Glanz des Äthers. Er schien dies alles zu
riechen, er schnupperte wie ein Hund oder wie ein Hirsch und indes sein
nach oben gekehrtes Gesicht eine entfesselte, lachende Befriedigung
zeigte, zitterten die herabhängenden Arme wie in Krämpfen.

Damals hatte sich Clarissa gefürchtet; sie war entflohen, ohne daß jener
sie bemerkte, ohne daß er das Rascheln der Zweige und den Schall ihrer
Tritte vernahm. Jetzt gewann das Bild eine andere Bedeutung. Oft wenn
sie allein war, gab sie sich der Ausmalung jener Stunde hin: wie sie dem
Sonderling entgegentrat, ihm durch ein tiefberechnetes Spiel von Fragen
Antwort um Antwort von den trotzigen Lippen raubte und wie er dann,
unfähig sich länger zu verstellen, aus eigenem Trieb sein Herz
aufschloß. Und eines Nachts kam er auf wildem Pferd, drang ins Schloß,
nahm sie und ritt mit ihr davon, so schnell, daß es schien, als sei der
Sturm sein Diener und als sei das Roß vom Sturm beflügelt. Wenn die Rede
bei Tisch oder in Gesellschaft auf Bastide Grammont kam und seine von
allen unbezweifelte Mordschuld, beschäftigte sich Clarissa niemals mit
dem Entsetzlichen der Tat, die einen solchen Mann auf ewig von der
Gemeinschaft der Guten trennen mußte, sondern, umhüllt von wollüstigem
Dunst, empfand sie die Wirkung einer Kraft, das Heroische einer Gebärde,
die Wahrheit einer Existenz und die Gewißheit von der erreichbaren Nähe
jener Gestalt, die aus ihren bangen Träumereien nicht mehr weichen
wollte. Sie erschrak über sich selbst, sie staunte in die gefürchteten
Abgründe der eigenen Brust hinab und oft war ihr, als läge sie, sie
selbst im Kerker und als ginge er, Bastide, draußen auf und ab und sinne
auf Mittel, die Türe zu sprengen, während sein beflügeltes Pferd
triumphierend wieherte.

Nun war sie versponnen in all das Reden, Raunen und Fabulieren und der
ganze Knäuel von Scheußlichkeiten, in welchem Plan und Willkür unlösbar
verwühlt waren, rollte stetig anwachsend auch vor ihren Weg. Es ergriff
sie immer sonderbarer, und sie glaubte in vergifteter Luft zu atmen; sie
ging durch eine Straße in Rhodez und wähnte aller Augen Rechenschaft
fordernd auf sich gerichtet, so daß sie ihren Schritt beschleunigte,
bleich und verwirrt nach Hause eilte und mit stockenden Pulsen vor einem
Spiegel stille stand.

Vor nicht langer Zeit war sie auf dem Gut einer Familie zu Gast gewesen,
die ihrem Vater befreundet war. Eines Tages geriet der Herr des Hauses,
ein Gelehrter, über den Verlust einer wertvollen Handschrift in Unruhe
und Sorge. Die Dienstleute wurden aufgeboten, jeden Raum zu
durchstöbern, doch eines Diebstahls wurde niemand verdächtigt. Clarissa
geriet nach und nach in einen qualvollen Zustand; sie bildete sich ein,
man beargwöhne sie; in jedem Wort spürte sie den Stachel, in jedem Blick
eine Frage, mit Angst und Eifer nahm sie am Suchen teil, schon hatte sie
Fiebergesichte von Kerker und Schande, wollte zum Vater eilen, ihre
Unschuld beteuern, – da fand sich plötzlich die Handschrift unter alten
Büchern, Clarissa atmete auf wie von Todesgefahr errettet und nie zuvor
war sie so witzig, gesprächig und hinreißend liebenswürdig gewesen wie
in den darauffolgenden Stunden.

Als in der Phantasie der Menge mit den übrigen bei der bestialischen
Abschlachtung des armen Fualdes Beteiligten die Dame mit den grünen
Federn zu immer deutlicherer Gestaltung erwuchs, wurde Clarissa von
einer Bestürzung erfaßt, mit der sie anfangs nur spielte, wie um sich
auf einem Ungefähr zu erproben oder auf einer Möglichkeit zu schaukeln,
gleich einem Knaben, der mit angenehmem Gruseln die gefrorene Decke
eines Flusses auf ihre Festigkeit prüft. Sie verschlang die Berichte der
Zeitungen. Das zaghafte Tändeln ward zu einer plagenden Vorstellung,
hauptsächlich durch den Umstand, daß sie einen Hut mit grünen Federn
wirklich besaß. Daran konnte nichts Auffälliges gefunden werden. Die
Mode erlaubte es, grüne, gelbe oder rote Federn zu tragen; trotzdem
wurde der Besitz des Hutes für Clarissa zur Qual. Sie wagte nicht mehr,
ihn zu berühren, ihr schien, als seien die Federn mit einem blutigen
Schimmer umhüllt und schließlich versteckte sie ihn in einer
Rumpelkammer unter dem Dach.

Sie beschäftigte sich mit Reiseplänen, wollte nach Paris, aber der
Entschluß wurde täglich wieder wankend. Indessen kam der Juni. Eine
wandernde Theatergesellschaft kündigte in Rhodez Vorstellungen an, und
ein Offizier namens Clemendot, der Clarissa seit langem mit
Liebesanträgen verfolgte, von ihr aber seiner Gewöhnlichkeit und
offenbaren Roheit halber stets kühl, ja bisweilen schimpflich
zurückgewiesen worden war, brachte ihr ein Billett und lud sie ein, mit
ihm gemeinschaftlich das Theater zu besuchen. Sie lehnte ab, doch in
letzter Stunde hatte sie Lust hinzugehen und mußte es dulden, daß sich
Kapitän Clemendot nach dem Aufgehen des Vorhangs auf den leeren Platz zu
ihrer Rechten setzte.

Die Truppe führte ein Melodram auf, dessen Handlung das Unglück und den
schaudervollen Mord eines schuldlosen Jünglings mit Behagen in die
Breite zerrte. Am Schluß des ersten Aktes trat eine als Mann verkleidete
Dame auf die Bühne; sie trug einen spitzen, runden Hut und eine Maske
vor dem Gesicht. Eine hastige, im Flüsterton gehaltene, von der düsteren
Lampe eines Verbrecherquartiers beschienene Liebesszene mit dem Haupt
der Mörderbande besiegelte das Schicksal des unglücklichen Opfers, das
betend auf den Knieen lag. Im Zuschauerraum herrschte gieriges
Schweigen, alle Augen brannten. Clarissa glaubte die hundert Herzen wie
ebensoviele Hämmer schlagen zu hören, ihr wurde heiß und kalt, es
entschwand jedes Gefühl sicherer Gegenwart und als in der
darauffolgenden Pause Kapitän Clemendot in seiner halb demütigen, halb
schamlosen Weise zudringlich ward, überflog ein Schauder ihren Körper
und der Weindunst seines Mundes brachte sie einer Ohnmacht nahe.
Plötzlich warf sie den Kopf zurück, bohrte den Blick auf sein
verschwommenes Trinkergesicht und fragte mit leiser, scharfer, eilender
Stimme: »Was würden Sie sagen, Kapitän, wenn ich es wäre, ich, die im
Bancalschen Hause dabei gewesen ist?«

Kapitän Clemendot erblaßte. Sein Mund öffnete sich langsam, seine
Backen zitterten, seine Augen bekamen einen furchtsamen Glanz, und als
Clarissa in ein weiches, spöttisches, aber nicht ganz natürliches
Gelächter ausbrach, erhob er sich mit verlegenem Gruß und ging. Er war
ein einfältiger Mensch, ungebildet wie ein Trommler und stand wie jeder
andere in Rhodez wehrlosen Geistes unter dem Einfluß der blutrünstigen
Gerüchte. Als die Vorstellung zu Ende war, näherte er sich Clarissa, die
in apathischer Haltung zum Ausgang schritt, wo ihr Wagen wartete, und
fragte, ob sie sich einen Scherz mit ihm habe machen wollen, und sie,
mit trockenen Lippen, etwas wie neugierigen Haß im Gesicht, antwortete
abermals lachend: »Nein, nein, Kapitän.« Darnach wurden ihre Züge wieder
ernst, fast traurig und sie senkte die Stirn.

Clemendot ging verstört nach Hause, durchaus in der Meinung, er habe ein
wichtiges Geständnis empfangen. Er fand sich verpflichtet zu reden und
vertraute sich am andern Morgen einem Kameraden an. Dieser zog einen
zweiten Freund ins Geheimnis, es wurde Rat gehalten und schon am Mittag
wurde der Richter verständigt. Monsieur Jausion ließ den Kapitän und
Madame Mirabel zu sich entbieten. Nach langem und merkwürdigem Überlegen
erklärte Clarissa alles für einen Spaß und der Richter mußte sie
zunächst entlassen.

Aber nicht Spaß wollten die Herren, sondern Ernst. Der Präfekt, von dem
Vorgefallenen unterrichtet, erschien am Abend beim Präsidenten Seguret
und hatte eine kurze Unterredung mit dem würdigen Mann, der, in
tiefster Brust erschüttert, vernehmen mußte, welche Schmach seine
Tochter über ihn und sich heraufbeschwor und so den Frieden seines
Alters bedrohte. Clarissa wurde herbeigeholt; wie entgeistert stand sie
vor den beiden Greisen und der in jeder Bewegung und Miene des Vaters
sich bekundende Kummer rührte schmerzlich an ihre Seele. Sie berief sich
auf den unbesonnenen Augenblick, auf eine tolle Laune und Verwirrung des
Gemüts; umsonst, der Präfekt legte seinen Unglauben offen dar. Herr von
Seguret, der trotz einer zum heiteren geneigten Lebensführung überaus
mißtrauischen Gemütes war, auch des festen und klaren Urteils über
Menschen ermangelte, konnte nicht umhin, das bedrückte Wesen der Tochter
als einen Beweis von Schuld aufzufassen und er erklärte ihr mit
schneidender Strenge, daß er nur um den Preis der Wahrheit sie nicht von
seinem Herzen stoßen wolle. Clarissa verstummte; die Worte drangen
gleich würgenden Teufeln auf sie ein. Der Präsident verlor Schlaf und
Ruhe und wanderte mit zerwühlten Sinnen die ganze Nacht über im Schloß
herum. Seine Überlegungen bestanden darin, Clarissas Natur nach der
Seite jener furchtbaren Möglichkeit hin zu erforschen, und bald genug
sah er ihren undurchdringlichen Charakter mit den Flecken und Brandmalen
eines romantischen Lasters bedeckt. Auch er war völlig im Bann der
fanatisierten Meinung von aller Welt, seine Erfahrung hielt dem
Pesthauch des verleumderischen Wesens nicht stand; die Furcht, am
Ungeheuren teil zu haben, war stärker als die Stimme des Herzens; der
Argwohn wurde Gewißheit und das Leugnen zur Lüge. Wenn er Clarissas
Vergangenheit bedachte, ihre unbändige Lust, die vorgeschriebenen Wege
zu verlassen, – eine Eigenschaft, die ihm jetzt als die Pforte zum
Verbrechen erschien – dann war keine Annahme verwegen genug, und ihr
Bild verwob sich von selbst in das düstere Gewebe.

Auch Clarissa schlief nicht. Im Dämmergrauen des Tages überraschte sie
den Vater bei seinem verstörten Schreiten durch die Räume und
schluchzend warf sie sich ihm zu Füßen. Er machte keine Anstalten sie zu
trösten oder zu erheben; ihre verzweifelte Frage, was sie denn dort im
Bancalschen Hause hätte suchen sollen, da ihr, als einer Witwe, keine
Freiheitsfessel den Schritt verkürze und sie der Heimlichkeiten entraten
dürfe, beantwortete der Präsident mit einem vielsagenden Achselzucken,
und so fest war schon die schwarze Überzeugung genistet, so fern jede
Milde, daß er auf ihre edle Forderung um ein gerechtes Erwägen nichts
als die Worte hinwarf: »Sprich die Wahrheit.«

Die Kunde war nicht lahm. Verwandte und Freunde des Präsidenten kamen:
bestürzt, erregt, lüstern, schadenfroh. Die undurchsichtig fremde,
gleitend unnahbare Clarissa in den Kot geworfen zu sehen, war ein
Anblick, den zu genießen alle begierig waren. Einige ältere Damen wagten
ein heuchlerisch sanftes Zureden und Clarissas verachtendes Schweigen
und ihr wehvolles Auge schienen Geständnisse zu geben. Der Präfekt kam
neuerdings und in seiner Begleitung befanden sich zwei Beamte. Für die
Regierung und die Behörde stand alles auf dem Spiel; der Racheruf, der
um ihre Sicherheit besorgten Bürger, der Hohn und Groll der
Bonapartisten wurden täglich ungestümer, die Zeitungen forderten die
Verurteilung der Schuldigen, eine Empörung des Landvolks war im Zuge.
Eine an der Tat selbst unbeteiligte Zeugin wie Madame Mirabel konnte
alles schnell wenden und beenden, man redete ihr zu, versprach, was den
im Bancalschen Haus geleisteten Eid anlangte, schriftlichen Dispens aus
Rom und ein Jesuitenpater, den der Bürgermeister ins Schloß führte,
mußte dies ausdrücklich bestätigen. Als alles vergeblich war und
Clarissa dem frevlerischen Eindringen eine steinerne Ruhe
entgegenzusetzen begann, drohte man ihr mit dem Gefängnis, drohte, ihre
Schmach und Lasterhaftigkeit zu einer öffentlichen Sache von ganz
Frankreich zu machen und bei diesen Worten des Präfekten warf sich ihr
Vater vor ihr auf die Kniee, so wie sie am Morgen vor ihm getan und
beschwor sie zu sprechen. Das war zu viel; mit einem Aufschrei stürzte
sie ohnmächtig zu Boden.

Clarissa glaubte sich zu erinnern, daß sie den Abend des neunzehnten
März bei der Familie Pal in Rhodez verbracht habe; sie glaubte sich zu
erinnern, daß Frau Pal selbst am andern Tag zu ihr gesagt hatte: wir
waren so lustig gestern und vielleicht ist um dieselbe Zeit der arme
Fualdes ermordet worden. Als sie sich darauf berief, stellten die Pals
alles mit Bestimmtheit in Abrede, sie leugneten den Besuch Clarissas,
ja, in ihrer unbestimmten feigen Angst erklärten sie sogar, mit Madame
Mirabel seit Jahren verfeindet zu sein.

Menschlichem Erbarmen waren die von Furcht und Wahn verblendeten Geister
nicht mehr zugänglich. Hätte auch die Vernunft eines Einzelnen zu
widerstreben versucht, es wäre nutzlos gewesen; die riesige Lawine
konnte nicht gehemmt werden. Es wurde ein teuflischer Plan erdacht, und
der Präfekt Graf d’Estournel war es, der ihn so vervollkommnete, daß er
den besten Erfolg versprach. Gegen ein Uhr nachts rollte ein Wagen in
den Schloßhof; Clarissa mußte darin Platz nehmen, der Präsident, der
Richter, der Präfekt fuhren mit. Der Wagen hielt vor dem Bancalschen
Haus. Herr von Seguret führte seine Tochter in das ebenerdige Zimmer zur
Linken, einen höhlenartigen Raum, dumpf wie das schlechte Gewissen. Auf
dem Ofensims brannte ein ärmliches Lämpchen, in dessen Schein lehnten
zwei Huissiers und ein Schreiber mit starren Gesichtern an der Wand. Die
Fenster waren mit Lappen verhängt, aus dem Alkoven äugte tiefe
Finsternis, im ganzen Haus war es lautlos still.

»Kennen Sie diesen Ort, Madame?« fragte der Präfekt mit feierlicher
Langsamkeit. Alle blickten Clarissa an. Um die gräßliche Spannung über
ihrer Brust zu mildern, lauschte sie auf den Regen, der draußen an die
Mauer klatschte; all ihre Sinne schienen sich hiezu im Ohr versammelt zu
haben. Ihr Leib wurde schlaff, ihre Zunge war nur zu einem Nein oder Ja
gewillt, und da jenes neue Qual und Marter, dieses aber vielleicht Ruhe
versprach, so hauchte sie ein Ja: ein kleines Wörtchen, aus Schrecken
und Erschöpfung geboren und, kaum lebendig, von einer geheimnisvollen
Kraft beflügelt. Ihr Geist, verwirrt und von Sehnsucht durchflammt,
machte ein Spukgebilde, das von tausend gärenden Gehirnen erschaffen
war, zum Erlebnis. Das halbbewußt Vernommene, halbzerstreut Gelesene
wurde brennendes Geschehen. Wunderbar verstrickt schien ihr Dasein mit
dem jenes Mannes in Busch und Baum, der sich brünstig zum Himmel gereckt
und mit dem Ausdruck eines durstigen Tieres die Luft durchschnuppert
hatte. Jetzt stand sie auf der Brücke, die zu seinem Reich führte; sie
sah sich zu seinen Füßen sitzen, von seiner ausgestreckten Hand fielen
Blutstropfen auf ihren demütigen Scheitel. Grauen und lieblichste
Hoffnung faßten ihr Herz, jedes von einer andern Seite und dazwischen
loderte wie eine Fackel, jauchzte wie ein Schlachtschrei der Name
Bastide Grammont, ein Spiel für ihre Träume.

Erleichtertes Aufatmen flog nach dieser ersten Silbe eines
bedeutungsvollen Geständnisses über die Gesichter der Männer. Der
Präsident Seguret bedeckte die Augen mit der Hand. Im Innern beschloß
er, der Liebe zu dem mißratenen Kind zu entsagen. Clarissa spürte es;
alle Verträge, die sie an die bisherige Existenz geknüpft, waren
gebrochen.

Sie sei also am Abend des neunzehnten März hier in diesem Raum gewesen?
wurde gefragt. Sie nickte. Wie sie denn hierher gelangt sei? fragte
Monsieur Jausion weiter, und er gab seiner Miene und seiner Stimme etwas
Vorsichtiges und Delikates, um die noch zaghaften Geister der Erinnerung
nicht bei der Arbeit zu stören. Clarissa schwieg. Ob sie durch die Rue
des Hebdomadiers gegangen sei? fragte der Präfekt. Clarissa nickte.
»Sprich! sprich!« donnerte plötzlich Herr von Seguret und selbst die
beiden Huissiers schraken zusammen.

»Es begegneten mir mehrere Personen,« flüsterte Clarissa so leise, daß
alle unwillkürlich den Kopf vorstreckten. »Ich fürchtete mich vor ihnen
und aus Furcht lief ich ins erste offene Haus.«

Monsieur Jausion gab dem Schreiber einen Wink. »In dieses Haus also?«
fragte er liebevoll, indes der Schreiber auf der Bank beim Ofen Platz
nahm und in verkauerter Stellung schrieb.

Clarissa fuhr mit demselben klagenden Flüstern fort: »Ich öffnete die
Tür dieses Zimmers. Jemand ergriff mich beim Arm und führte mich in den
Alkoven. Er gebot mir stille zu sein. Es war Bastide Grammont.«

Endlich der Name! Aber wie anders war es, ihn auszusprechen als ihn bloß
zu denken! Clarissa machte eine Pause, während sie die Augen schloß und
die Hände ineinanderkrampfte. »Nachdem er mich eine Weile allein
gelassen,« begann sie wieder, wie im Schlafe redend, »kam er zurück,
hieß mich ihm folgen und brachte mich ins Freie. Da blieb er stehen und
fragte, ob ich ihn kenne. Ich sagte erst nein, dann ja. Darauf fragte
er, ob ich etwas gesehen hätte und ich sagte nein. Gehen Sie fort!
befahl er, und ich ging. Doch war ich noch nicht bis zum Hauptplatz
gekommen, als er wieder neben mir war und meine Hand in seine nahm. Ich
gehöre nicht zu den Mördern, sagte er beteuernd, ich traf Sie und wollte
nichts als Sie retten. Schwören Sie zu schweigen, schwören Sie beim
Leben Ihres Vaters. Ich habe geschworen, darauf ließ er von mir. Und das
ist alles.«

Monsieur Jausion lächelte skeptisch. »Sie wollen, Madame, von der Straße
aus hier herein geflüchtet sein,« bemerkte er, »es ist aber durch
einwandfreie Zeugen festgestellt, daß das Tor von acht Uhr ab
verschlossen war. Wie erklären Sie das?«

Clarissa schwieg.

»Und wie ist es ferner zu erklären, daß Sie nichts gesehen haben,
während Sie durch das hellerleuchtete Zimmer gingen? nichts gesehen,
niemand gesehen und kein einziger hingegen, der nicht Sie gesehen
hätte?«

Clarissa blieb stumm, sogar ihr Atem schien zu stocken. Der Präfekt
machte Monsieur Jausion ein abwehrendes Zeichen; vorerst war genug
erreicht, genug, daß Bastide Grammont von Clarissa erkannt worden war.
Der Beschluß, den jede Schuld ableugnenden Verbrecher durch eine
überraschende Konfrontation mit der Zeugin zum Geständnis zu zwingen,
ergab sich jetzt von selbst.

Die Herren brachten Clarissa zum Wagen, da sie vor Schwäche kaum fähig
war zu gehen. Zu Hause geriet sie in einen seltsamen Zustand. Erst lag
sie lethargisch in einem Sessel, plötzlich sprang sie auf und schrie:
»Schafft mir die Mörder fort!« Die Tür wurde geöffnet und ein
erschrockenes Dienergesicht zeigte sich in der Spalte. Das ganze Gesinde
stand wartend auf dem Flur, die meisten waren gewillt, den Dienst beim
Präsidenten zu verlassen. Clarissa sah sich jedes Schutzes der Liebe
beraubt und ausgestoßen aus dem Kreis, wo man das Herkommen achtet und
gebundene Form als die geringste der Pflichten anerkannt ist. Sie war
jedem Auge preisgegeben, der frechste Blick durfte ihr Innerstes
betasten, sie war ein öffentlicher Gegenstand geworden, und nichts an
ihr war mehr ihr eigen, sie fand sich selbst nicht mehr, nichts mehr in
sich selbst, um dabei zu ruhen, sie war gebrandmarkt von außen und von
innen, Speise der allgemeinen Lüsternheit, wehrlos herumgeschleudert auf
den schmutzigen Fluten des Geredes, Mittelpunkt eines entsetzlichen
Ereignisses, von dem ihre Gedanken nicht mehr loskommen konnten. Wehmut,
Trauer, Angst, Verachtung, das waren keine Gefühle mehr für sie, dazu
war ihr Blut zu sehr gejagt; Selbstungewißheit beherrschte sie, Zweifel
an ihrer Wahrnehmung, Zweifel am Sichtbaren überhaupt und bisweilen
stach sie sich mit einer Nadel in den Finger, nur um die Wirkung zu
erfahren und den Schmerz zu empfinden, der als ein Zeugnis ihres
Wachseins gelten und ihr Herz vor Verwesung bewahren konnte. Dabei die
Qual, die sie von den Zudringlichen litt: Die Aufforderung zur Wahrheit,
das Höhnen und Murren von unten, der Befehl von oben, die Rachsucht und
Unvergeßlichkeit des einmal gesprochenen Worts; schließlich sah sie die
ganze Welt erfüllt von roten, unablässig geschwätzigen Zungen, auf sie
gerichteten, schlangenhaft bewegten, blutigen Zungen; jeder Gegenstand,
den sie berührte, wurde zur schlüpfrigen Zunge. Die Menschengesichter
verdämmerten bis auf eines, ein heldenhaft leidendes, eines das trotz
Schuld und Verdammnis hoch über den andern thronte, ja ausgezeichnet
schien durch seine Schuld wie durch seinen Trotz. Und als der Tag kam,
wo man ihr mitteilte, daß sie Bastide Grammont gegenübertreten solle, um
ihn zu bezichtigen Aug in Auge, da klopfte ihr Puls zum ersten Mal
wieder in freudigen Schlägen und sie kleidete sich wie zu einem Fest.

Die Begegnung sollte im Amtszimmer des Richters stattfinden. Außer
Monsieur Jausion und seinen Schreibern war noch der Rat Pinaud anwesend,
der wieder zurückgekehrt war. Monsieur Jausion warf ihm über die
Brillengläser hinweg einen boshaften Blick zu, als Clarissa Mirabel
spitzengeschmückt hereinrauschte, sich lächelnd vor den Herren verneigte
und dann ihren Blick mit heitrer Gelassenheit durch den ungastlichen
Raum schweifen ließ. Aus einem Bilderrahmen in der Mitte der Wand
schaute das fette und verdrießliche Gesicht des Königs auf sie herab, so
verdrießlich, als sei ihm jeder einzelne seiner Untertanen ganz
besonders zuwider. Sie vergaß, daß nur ein Bild vor ihr hing und sah mit
einem kokettschmollenden Spiel ihrer Lippen hinauf.

Der Richter gab ein Zeichen, eine Seitentüre wurde geöffnet und zwischen
zwei Justizsoldaten, mit aneinandergefesselten Händen trat Bastide
Grammont herein. Clarissa stieß einen leisen Schrei aus und ihr Gesicht
wurde fahl.

Um Bastide hauchte Kerkerluft. Das verwildert hängende Haar, der lang
gewachsene Bart, der starre, etwas geblendete Blick, die leichte, an
Lastenträger gemahnende Gebücktheit der Hünengestalt, die heimlich
zuckende Wut auf frisch gefurchter Stirn, all das verleugnete nicht
Grund und Herkunft. Ja, er schien die Mauern unsichtbar um sich herum zu
tragen, die seine Brust mit Dunkelheit und Pein füllten und von Monat zu
Monat mit hoffnungsloserm Glanz die Gemälde der Freiheit zeigten, bis
sie sich schließlich weigerten, einen blühenden Baum, einen strotzenden
Acker vorzulügen; dann glichen sie dem öden Grau eines herbstlichen
Abends, wo die Luft schon nach dem Winter roch, der Leichenwagen öfter
als sonst am Gartentor vorbei nach dem kleinen Kirchhof rasselte und der
aufgehende Halbmond wie ein blutendes, geteiltes Riesenherz flammend
über den feuchten Azur schwamm.

Und dennoch dieses stolze Auge, in dem der Entschluß funkelte, sich
selbst getreu zu bleiben? Dennoch dieser seltsam knisternde Spott in den
Mienen, der dem vorsichtigen und dabei majestätischen Ducken der
gefangenen Tigerkatze vergleichbar war? Diese unendliche Verachtung, mit
der er auf die schreibbereiten Hände der Schreiber blickte, die
innerliche Freiheit und große Losgebundenheit, trotz der Handfessel und
der beiden Soldaten?

Das war es, was Clarissa den Schrei entlockte und die törichte
Munterkeit aus ihrem Gesicht jagte. Nicht etwa, weil sie den Waldmann
und Erddämon von damals gebunden und gebrochen erblicken mußte, sondern
weil sie wie unter Blitzesleuchten erkannte, daß diese Hand kein
Mordmesser geführt haben konnte, daß eine solche Tat den Kreis seines
Wesens nicht berührte, wenn er auch vielleicht dazu fähig gewesen wäre,
und daß dies alles nun umsonst war, ein unverständlicher Rausch und
Wahnsinn, das undurchsichtige Grauen selbst, ein Schauspiel von
Heuchelei und Krankheit. Es packte sie ein Schwindel, als ob sie von
einem hohen Turme herunterstürzte. Sie schämte sich ihres prunkvollen
Gewandes, des herausfordernden Aufputzes und in leidenschaftlicher
Wallung riß sie die kostbaren Spitzen von den Ärmeln und warf sie mit
einer Grimasse des schmerzlichsten Ekels zu Boden.

Monsieur Jausion durfte das anders deuten. Wieder lächelte er Herrn
Pinaud zu, aber diesmal triumphierend, als wollte er sagen: das Exempel
stimmt. »Kennen Sie diese Dame, Bastide Grammont?« wandte er sich an den
Gefangenen. Bastide wandte den Kopf zur Seite und ein Blick voll
nachlässiger und bitterer Geringschätzung ging Clarissa durch Mark und
Bein. »Ich kenne sie nicht,« entgegnete er finster, »ich habe sie
niemals gesehen.«

Und neuerdings lächelte Monsieur Jausion, wie um einen vorübergehenden
Irrtum zu berichtigen und säuselte: »Das ist nicht gut möglich; Madame
Mirabel, damals in Männerkleidung und mit einem Hut mit grünen Federn,
war in der Bancalschen Wohnung und ist von Ihnen selbst auf die Straße
geführt worden, wo Sie ihr den Eid abnahmen. Ich bitte, sich dessen zu
entsinnen.«

Bastides Gesicht zog sich zusammen wie vor der lästigen Zudringlichkeit
einer Fliege und er wiederholte energisch und laut: »Ich kenne die Dame
nicht. Ich habe sie niemals gesehen.« Und das Aufeinanderpressen seiner
Lippen verriet den unerschütterlichen Vorsatz, von nun ab zu schweigen.

Monsieur Jausion schob seine Perücke zurecht und sah bekümmert aus. »Was
haben Sie darauf zu entgegnen, Madame?« wandte er sich an Clarissa, die
verloren starrte.

»Er kann es nicht wissen, daß ich ihn gesehen habe,« flüsterte sie, doch
hatte dabei ihre Stimme etwas so Durchdringendes wie das Zirpen einer
Zikade.

Jetzt wandte sich Bastide abermals zu ihr und in dem etwas schrägen
Blick seines müd glänzenden Auges mischten sich Neugierde und Hohn, doch
nicht mehr von beiden, als etwa einer sonderbaren Spielart von Pilz oder
Spinne zukommt. In seinem Innern wog er gleichsam diese zarte
Kindergestalt, wunderte sich flüchtig über das Bebende jeder Gebärde,
das fliegende Auge, das ratlose Zucken der Lippen, wunderte sich über
die am Boden liegenden Spitzen und glaubte zu träumen, als er gewahrte,
daß eine flehentliche Bewegung ihrer Hände ihm galt.

Der Richter sprang auf und rief mit entstelltem Gesicht Clarissa zu:
»Scherzen Sie nicht mit uns, Madame, es könnte Ihnen teuer zu stehen
kommen. Sprechen Sie endlich! Ein abgezwungener Eid gilt nicht! Der
Frieden Ihrer Mitbürger, die Ruhe des Landes steht auf dem Spiel. Lösen
Sie sich aus der Bezauberung des Elenden! Ihr infames Lächeln, Grammont,
wird Ihnen angerechnet werden am Tage des Gerichtes.«

Der Rat Pinaud trat vor und murmelte Bastide ein paar Worte ins Ohr,
der dann die Arme erhob und die geballten aneinandergeketteten Fäuste
mit einer Miene fressenden Ingrimms vor die Augen drückte. Clarissa
wankte zum Tisch des Richters vor und indem sich ihre Wangen mit
Leichenblässe überzogen, schrie sie: »Es ist alles Lüge! Lüge! Lüge!«

Monsieur Jausion musterte sie von oben bis unten, dann sagte er kalt:
»So versetze ich Sie in den Anklagezustand, Madame, und erkläre Sie für
verhaftet.«

Ein Schimmer düstrer Genugtuung überlief Clarissas Züge. Rasch, mit der
blitzartigen Drehung einer Tänzerin kehrte sie sich zu Bastide Grammont,
sah ihn an wie man nach einem schwülen Tag in den Gewitterhimmel schaut
und nannte schmerzhaft aufatmend mit leiser Stimme seinen Namen. Er aber
trat einen Schritt zurück wie bei unreiner Berührung, und niemals zuvor
hatte Clarissa solchen Blick und Ausdruck der Verachtung gespürt. Ihre
Kniee bebten, es ward ihr übel im Gaumen, die Wimpern füllten sich mit
Tränen. Erst als sich die Türe des Gefängnisses hinter ihr geschlossen
hatte, wich der kraftlose Zustand des Gepeitschtseins. Scham und Reue
überwältigte sie, kaum fand sie einigen Trost in dem Geheimnisvollen
ihrer Lage. Von keinem Gesetz überwacht, schien sie aus dem Gleise
gehoben, wo sonst Ursache und Folge, schwerfällig aneinandergekoppelt,
den langsamen Gang des Geschehens kriechen.

Ihrem Stande entsprechend, hatte sie den besten Raum des Gefängnisses
erhalten. In den ersten Stunden lag sie auf dem Strohbette und wand sich
in Krämpfen. Als der Wärter auf ihre dringende Bitte Licht brachte, da
sie in der Finsternis wahnsinnig zu werden fürchtete, fiel der
Kerzenschein auf das Bild des Gekreuzigten mit der Dornenkrone, das an
der graugetünchten Wand hing. Sie schrie auf, ihre überreizten Sinne
fanden eine Ähnlichkeit in den Zügen des Heilands mit jenen Bastide
Grammonts. Dasselbe qualvolle Rund hatten seine Lippen gezeigt, als er
die Fäuste an die Augen gepreßt.

Noch einmal lehnte sie sich auf gegen die maßlose Unbill. Mit der Welt
zu leben war ihr eigentliches Element, ihr ganzes Wesen war auf ein
liebenswürdiges Einverständnis mit den Menschen gestimmt. Sie verlangte
Tinte und Papier und schrieb einen Brief an den Präfekten.

»Gerechtigkeit, Herr Graf!« schrieb sie. »Noch ist es Zeit, das Äußerste
zu verhindern. Erinnern Sie sich der Mühe, die Sie gehabt haben, das von
mir zu erpressen, was die Wahrheit sein soll, erinnern Sie sich der
Drohungen, durch die ich nachgiebig geworden bin. Ich bin ein Opfer der
Umstände. Was immer ich gestanden habe, ist Lüge. Kein Mann von Vernunft
kann an meinen Aussagen das Gepräge der Wahrscheinlichkeit entdecken. In
einem Mutwillen der Verzweiflung hab’ ich falsches Zeugnis abgelegt.
Sagen Sie meinem Vater, daß seine Grausamkeit ihm sicherer die Tochter
raubt als mein scheinbares Vergehen. Schon weiß ich nicht mehr, was ich
glauben darf, die Vergangenheit entschwindet meinem Gedächtnis, meine
Sicherheit beginnt zu wanken. Wenn es zu viel ist, Gerechtigkeit zu
fordern, dann bitte ich um Mitleid, Herr Graf. Mein Schicksal will mich
prüfen, aber mein Herz ist rein wie der Tag.«

Es war erfolglos. Es war zu spät für Worte, selbst wenn der Mund eines
Propheten sie hinausgedonnert hätte. Am andern Morgen wurden viele der
Zeugen und Eingekerkerten Clarissa vorgeführt. So kamen Bach, die
Bancals, der Soldat Colard, Rose Feral, Missonier und die kleine
Magdalena Bancal. Bousquier war krank. Der Anblick der vernichteten,
schlotternden, in ein Phantom verlorenen, von hundertfältigen Martern
eingeschüchterten, rachsüchtig zu allem bereiten Geschöpfe beunruhigte
Clarissa bis ins Mark und gab ihr zugleich ein Gefühl unauslöschlicher
Besudelung. Ist sie es? wurde jeder von den Unglücklichen gefragt und
mit verwegener Gleichgültigkeit antworteten sie: sie ist es. Bloß
Missonier stand da und lachte wie ein Idiot.

Clarissa war erstaunt. Solche Bestimmtheit und Selbstverständlichkeit
der Antwort hatte sie nicht erwartet. Mit innerlichem Schluchzen hielt
sie das Unleugbare des gegenwärtigen Zustands von sich ab und suchte in
ihrem Gedächtnis schaudernd einen Weg zu jenem Vergangenen, auf den er
sich gründete und den man von ihr bekräftigt wissen wollte. Ihr
erschütterter Geist kroch zurück in früher gelebte Jahre, bis in die
Jugend, bis in die Kindheit, um den doppelgängerischen Feind zu
entdecken; was unheimlich und fremd gewesen, ward allmählich Kern und
Schwerpunkt ihres Daseins und die Mordnacht in Bancals Haus wurde wie
die ganze übrige Welt zu einer Vision von Blut und Wunden.

Aber durch die düstern Phantasien führte der Weg zu Bastide Grammont;
ein Blumenpfad zwischen brennenden Häusern. Es dünkte ihr schön, ihn
schuldig zu wissen. Vielleicht hatte er seine Lippen auf die ihren
gedrückt, ehe seine Hand nach dem Mordmesser gegriffen. Sie vermählte
die eigene, finsterempfundene Schuld mit seiner größeren. Was ihn von
der Menschheit abschnitt, knüpfte ihn an sie. Seine Gründe zu der Tat?
Sie fragte nicht darnach. Sicherlich hatte die Tat damals Wurzel
geschlagen, als sie ihn zuerst gesehen, als er den ganzen Wald, den
ganzen Frühling in sich hineingeschluckt hatte. Gleichviel, ob er die
Hände in Sonnenlicht oder in Blut tauchte, beides gehörte zu seinem
Bild, zu ihrer dunklen Leidenschaft und Fualdes war der böse Dämon und
das verderbliche Prinzip. Ach, dachte sie in ihrem sonderbaren Grübeln,
hätte ich es gewußt, so hätte ich selbst es vollbracht und hätte eine
Heldin sein können wie Charlotte Corday. Doch warum leugnete, warum
schwieg Bastide? warum jener Blick zermalmender Verachtung, den sie
nicht vergessen konnte und der noch immer auf ihrer Haut wie ein
Schandmal brannte? War er zu stolz, sich einem Spruch zu beugen, der
seine Tat nicht besser erachtete als die jedes Straßenräubers? Kein
Zweifel, er erkannte seine Richter nicht an. So konnte sie ihn also zu
sich niederziehen, ihn abhängig machen vom Hauch ihres Mundes, das freie
wilde Tier bändigen, und sie vergaß, was auf dem Spiele stand, vergaß
das eherne Entweder-Oder, vor welches hier die Geschicke gestellt
waren, und gab sich hin wie ein Kind, das nichts vom Tode weiß.

Für den sechzehnten Oktober war die Verhandlung vor den Assisen
anberaumt. Am Mittag des zehnten begehrte Clarissa Monsieur Jausion zu
sprechen. Vor den Richter geführt, sagte sie, sie wisse um alles, sie
wolle auch alles bekennen. Mit erregt zitternder Stimme rief Monsieur
Jausion seine Schreiber.

»Ich kam in die Stube und sah das Messer blitzen,« gestand Clarissa.
»Ich flüchtete in den Alkoven, Bastide Grammont eilte mir nach, umarmte
mich und küßte mich. Er vertraute mir an, Fualdes müsse sterben, denn
der alte Satan habe ihm sein Glück zerstört und das Leben unwert
gemacht. Bastide war wie trunken von Begeisterung, und als ich Einwände
machte, schloß er mir abermals mit Küssen den Mund, ja er küßte mich so,
daß ich keinen Widerstand leisten konnte. Dann ließ er mich einen Schwur
tun, dann ging er und ich hörte stöhnen, ich hörte ein schreckliches
Geschrei, die kleine Magdalena Bancal, die im Bette lag, richtete sich
plötzlich auf und weinte, da verlor ich das Bewußtsein und als ich
wieder zu mir kam, war ich auf der Straße.«

Diese Erzählung brachte sie in einem mechanisch-abgemessenen Ton vor;
ihre Stimme klang gläsern und fast verstellt, ihre Augen waren umflort
und halbverschlossen, ihre kleinen Hände hingen schwer neben den Hüften
und als sie schwieg, lächelte sie süßlich vor sich hin.

»Sie haben also schon vordem mit Bastide Grammont verkehrt?« fragte der
Richter.

»Ja. Wir trafen uns im Wald. In der Nähe von La Morne ist ein alter
Brunnen im Feld; auch dort trafen wir uns häufig; besonders des Nachts
und bei Mondschein. Einmal nahm mich Bastide auf sein Pferd und wir
ritten in rasender Geschwindigkeit bis an die Schlucht von Guignol. Ich
fragte: wovor fliehen Sie, Bastide? denn mir war kalt vor Schrecken, und
er flüsterte: vor mir und vor der Welt. Doch sonst war er stets sanft.
Nie kannte ich einen bessern Mann.«

Immer silbriger klang ihre Stimme und schließlich sprach sie wie eine
Verzückte oder wie eine Schlafende. Die Aussage ward ihr vorgelesen, sie
unterschrieb ruhig und ohne zu zaudern, darauf erklärte ihr Monsieur
Jausion, daß sie frei sei.

Im Schloß empfing sie feindselige Ruhe. Die wenigen Dienstboten, die
geblieben waren, zischelten frech hinter ihr her. Niemand sorgte für
ihre Bequemlichkeit, den Krug Wasser mußte sie selbst aus der Küche
holen. Indes, als Herr von Seguret nach Hause kam, wußte er wie die
ganze Stadt um Clarissas Geständnisse. Der Umstand ihrer verliebten
Beziehungen zu Bastide erleuchtete nun mit jähem Schein das
Vorhergegangene und wob eine Glorie um ihr früheres Schweigen. Doch Herr
von Seguret schloß sich nur um so fester zu und als er vorüberkam, da
Clarissa auf der Schwelle ihres Zimmers stand, wandte er das Gesicht ab
und machte eine Gebärde des Abscheus.

Am Abend hatte der Präsident einige Freunde bei sich zu Gast. Während
des Mahls öffnete sich die Türe und Clarissa erschien. Herr von Seguret
sprang vom Stuhl empor, Zorn raubte ihm die Sprache. »Wag’ es nicht,«
stammelte er heiser und mit ausgestrecktem Arm, »wag’ es nicht.«

Des ungeachtet schritt Clarissa bis an den Rand des Tisches. In ihrem
Gesicht war ein strahlender, bezaubernder Ausdruck. Mit vollem Auge
blickte sie auf den Vater, so daß dieser den Blick wie geblendet sinken
ließ. »Schmähe nicht, Vater,« sagte sie sanft und in einem bestrickenden
Ton anmutigen Werbens.

Mit alltäglicher Frage wandte sie sich an einen der Herren. Der
Angeredete zauderte, schien bestürzt, verwundert, vermochte aber nicht
zu widerstehen. Ihre von Gefängnisluft gebleichten Züge hatten etwas
traumhaft Geistiges angenommen; das gewöhnlichste Wort aus ihren Lippen
war von besonderem Reiz umglänzt.

Das Gespräch wurde allgemein; die Gäste besiegten, ja vergaßen ihr
heimliches Staunen. Clarissas Witz und schalkhafte Laune übten eine
hinreißende Wirkung. Dabei lag ein sinnlich prickelnder Hauch um sie,
was Männern nicht entgeht, ihre Gebärden hatten etwas Schmeichlerisches,
ihre Augen schimmerten in schwärmerischem Feuer. Beunruhigt, widerwillig
lauschend, konnte sich Herr von Seguret doch dem Zauber, der seine Gäste
gefangen nahm, nicht ganz entziehen. Eine Macht, die stärker war als
sein Vorsatz, zwang ihn zur Milde, er nahm schüchternen Anteil an der
Unterhaltung, trotzdem seine Brust wie von Bergeslast bedrückt war. Es
wurde von Politik, von Büchern, von Kunst, von der Jagd, vom Krieg
gesprochen, von allem und von nichts, ein glitzerndes Hin und Her
geschliffener Sätze und funkelnder Beobachtung, von Lächeln und Beifall,
Spott und Ernst. Es war manchmal wie in einer meisterhaft geführten
Schauspielszene oder als ob ein leichter Champagnerrausch die Geister
beflügelt hätte; jeder gab das Beste und suchte sich selber
zuvorzukommen, und Clarissa hielt und spannte das Ganze wie eine Fee,
die auf einem Wolkenwagen einen Zug von Tauben lenkt.

Kurz nach Mitternacht erhob sie sich, ein kurzes, sattes, wildes Lächeln
blitzte über ihr Gesicht, sie verbeugte sich beinahe geziert und verließ
den Raum, die Männer in einem wunderlichen, jähen Schweigen
zurücklassend. Als Herr von Seguret seine Gäste hinausbegleitete, war er
verstört, und jene entfernten sich still wie Diebe aus dem Schloß.

Der Präsident wandelte eine Weile in der Vorhalle auf und ab und seine
Gedanken liefen nebeneinander her wie ein flüchtendes Rudel Wild. Da ihn
das Widerklingen seiner Schritte unangenehm berührte, trat er in den
Garten hinaus und auf den verschlungenen Wegen spazierend, atmete er
erleichtert die frische Nachtluft ein. Als er die Taxusallee verließ,
fiel ein Lichtschein über den Weg; Herr von Seguret stellte sich auf die
Mauerbrüstung einer kleinen Fontäne und konnte so in Clarissas Zimmer
sehen, dessen Fenster offen standen. Mit Mühe enthielt er sich eines
erstaunten Ausrufs, als er Clarissa im losen Nachtgewand mit
hingenommenem Ausdruck und leidenschaftlicher Bewegung tanzen sah. Die
Augen waren ganz geschlossen, gleichsam versperrt, die Brauen
kokett-angstvoll in die Stirn hinauf verzogen, die Schultern wiegten
sich in einem Bad unhörbarer Töne, deren Tempo jetzt gehetzt, jetzt
übermäßig langsam schien. Plötzlich griff sie nach einem Gegenstand und
hielt ihn sich vor, – es war ein Spiegel; hineinblickend, schauerte sie
zusammen und ließ ihn fallen, so daß der Lauscher die Scherben klirren
hörte, dann trat sie ans Fenster, riß das Kleid über der Brust auf,
legte die Hände auf die bloße Brust und sah gerade nach der Richtung, wo
Herr von Seguret stand. Dieser duckte sich, als hätte man eine Flinte
auf ihn gerichtet, doch Clarissa sah ihn nicht, sie starrte eine Weile
in die ziehenden Wolken und machte dann das Fenster zu. Der Präsident
stand noch geraume Weile da und wurde seiner Gedanken nicht Herr. Wen
betrügt sie? dachte er mit Kummer, sich selbst, oder die Menschen oder
Gott?

Seit langem zum ersten Mal hatte Clarissa wieder ruhigen Schlaf. Doch
als sie sich in das weiße Bett legte, schienen die Kissen eine
Purpurfarbe anzunehmen und sie fiel in den Schlummer wie in eine
Schlucht. Sie träumte von Landschaften, von unheimlichen alten Häusern
und von einem Himmel, der wie geronnenes Blut aussah. Sie selbst ging im
Silberschein wie eine Braut und ohne daß sie eine Berührung spürte oder
eine Gestalt sah, hatte sie doch auf den Lippen das Gefühl starker
Küsse und in ihrem Schoß regte es sich, als ob Leben darin entstehe.

Dieselbe wunderliche Lust und Wallung verließ sie auch während der
folgenden Tage nicht. Ein silberner Schleier lag zwischen ihr und der
Welt. Aus Furcht ihn zu zerreißen, sprach sie leise und ging langsam;
hinter ihm hatte die Sonne nicht mehr Leuchtkraft als sonst der Mond.
Als sie am Vorabend des Verhandlungstages von einem Gang über die Felder
zurückkehrte, sah sie am Eingangstor des Schlosses zwei Frauen stehen.
Die eine eilte ihr entgegen, warf sich auf die Kniee und packte ihre
Hände. Es war Charlotte Arlabosse. »Was haben Sie getan,« flüsterte das
schöne Mädchen keuchend, »er ist unschuldig, bei Christi Leiden, er ist
unschuldig! Erbarmen, Madame, und wenn auch nicht mit mir, so wenigstens
mit seiner alten Mutter!«

Die Röte der Abendsonne lag auf den flehentlich verzerrten Zügen. Hinter
Charlotte stand eine sehr beleibte Dame mit großen Warzen auf den
Händen; doch der Kopf war hager und das Gesicht regungslos wie das einer
Toten. Sie glich einem kraftstrotzenden Baum, dessen Krone verdorrt ist.

Clarissa machte eine abwehrende Bewegung, doch blieb ihre Miene
freundlich und gelassen. Eine Sekunde lang glaubte sie in der Knieenden
sich selbst zu sehen, die Doppelgängerin zu sehen und grausamer Triumph
erfüllte ihr Herz. »Keine Sorge, mein Kind,« sagte sie leise und
lächelnd, »was Bastide betrifft, so ist alles schon entschieden.« Damit
öffnete sie das Tor und schritt ins Haus. Charlotte erhob sich und sah
starr durch das Gitter.

An diesem Abend ging Clarissa bald zur Ruhe, erwachte aber schon um vier
Uhr morgens und begann sich anzukleiden. Sie wählte ein schwarzes
Sammetkleid und befestigte als einzigen Schmuck einen Diamantstern am
Saum unter dem entblößten Hals. Ihr Herz klopfte in verdoppelten
Schlägen, je näher die Stunde kam. Um acht Uhr fuhr der Wagen vor; es
war eine lange Fahrt bis Alby, wo das Assisengericht tagte. Herr von
Seguret war schon am frühen Morgen fortgeritten, niemand wußte wohin.

Kaum daß die Mauern der alten Stadt sichtbar geworden, zeigte sich schon
so viel Volk auf den Wegen, daß die Pferde im Schritt gehen mußten. Die
Leute umlagerten die Kutsche und schauten gespannt in die offenen
Fenster; Frauen hoben ihre Kinder in die Höhe, damit auch sie die
berühmte Madame Mirabel sehen konnten. Sie verbarg sich nicht der
allgemeinen Neugier, mit einem hochzeitlichen Lächeln saß sie da, die
feinen schwarzen Brauen waren weit in die Stirne hinauf verzogen.

       *       *       *       *       *

Punkt zehn Uhr erschien Präsident Enjalran, der Leiter des Prozesses, im
menschenüberfüllten Saal, und nach Verlesung der weitläufigen
Anklageschrift wurde Bastide Grammont zum Verhör aufgerufen.

Fest wie aus Bronze stand er vor dem Tisch der Richter. Seine Antworten
waren kühl, knapp und klar. Von Anfang bis zu Ende durchschaute er
jetzt das unsinnige Märchen, gewoben aus Dummheit und Schlechtigkeit.
Durch beißenden Spott gab er die namenlose Verachtung gegen all das zu
erkennen, wessen man ihn bezichtigte, und setzte damit den Verteidiger,
den das Gericht ihm in letzter Stunde bestimmt hatte und mit dem zu
unterhandeln er sich hartnäckig geweigert hatte, in nicht geringe
Bedrängnis.

Bisweilen wandte er den Blick gegen die kirchenartig hohen Fenster, und
als er einen Vogel gewahrte, der sich auf das Sims gesetzt hatte und den
gelben Schnabel in die Brustfedern grub, verlor er einen Augenblick die
Fassung und sein Mund öffnete sich schmerzvoll.

Seine Vernehmung dauerte nur kurze Zeit. Sie war eine Formsache, denn
sein Schicksal war besiegelt. Mit Bach, Colard und den übrigen
Mitschuldigen hatte Herr von Enjalran leichtes Spiel; ihre Aussagen
waren gleichsam schon versteinert. Bousquier war im Gefängnis gestorben.
Von den andern suchte jeder für sich selbst noch ein Restchen Unschuld
zu ergattern, sie machten den Eindruck von zerbrochenen und völlig
willenlosen Menschen. Aufsehen erregte der alte Bancal, der während des
Verhörs in einen Weinkrampf fiel und sich dann, seine Unschuld
beteuernd, wie ein Rasender gebärdete. Der bucklige Missonier grinste,
wenn von seiner Anwesenheit beim Mord die Rede war; er war vertiert
durch die lange Gefangenschaft und das viele Verhörtwerden. Die kleine
Magdalena Bancal benahm sich komödiantisch und grüßte mit Handküssen
ihre Bekannten und Gönner, die unter den Zuhörern saßen. Rose Feral
wurde beim Anblick der blutigen Lumpen, die auf dem Tisch des Richters
lagen, totenbleich und vermochte nichts zu reden. Frau Bancal erinnerte
sich, daß Monsieur Fualdes von sechs Männern in ihr Haus geschleppt
worden war, daß er einige Schriften habe unterzeichnen müssen, der Länge
und Quere nach, wie sie sagte. Am Tage darauf habe sie einen dieser
Wechsel, auf Stempelpapier, gefunden, habe ihn aber, weil er mit Blut
befleckt gewesen, verbrannt. Mehr wollte sie durchaus nicht bekennen,
setzte allen Fragen ein stumpfsinniges Schweigen entgegen und äußerte
schließlich, was sie noch wisse, wolle sie nur ihrem Beichtvater
anvertrauen.

Die Zeugen bekundeten das Unglaublichste mit Seelenruhe. Ihr Gedächtnis
war so stark, daß sie sich der geringfügigsten Dinge, die man von einem
zum andern Tage vergißt, auf Stunde und Minute entsannen. In Nacht und
Nebel hatten sie Menschen gesehen und erkannt, ihre Gesichtszüge, ihre
Gebärden, die Farbe ihrer Kleider. Sie hatten Reden, Flüstern, Seufzen
durch dicke Mauern hindurch gehört. Ein Bettler namens Laville, der in
Missoniers Stall zu schlafen pflegte, hatte nicht nur die Orgelspieler
und Lärm und Schreien vernommen, sondern er hatte auch gehört, daß vier
Leute mit einer Last gingen, etwa wie Männer, welche ein Faß schleppen.
Bastide Grammont lachte oft bei Aussagen, die er für unverschämte Lügen
erklärte. Als die Bancal anfing zu gestehen, sagte er, da es so spät vor
sich gegangen, habe er erwartet, daß das alte Weib noch mit mehr
Umständen niederkommen werde. Einer andern Zeugin hielt er bebend vor,
wie des Himmels Hand schwer auf ihr laste und gemahnte sie an den
fürchterlichen Tod ihres Kindes. Er glich einem Fechter, der gegen den
Nebel ficht; niemand stand ihm eigentlich Rede, er war allein, die
Widersprüche, die er nachzuweisen glaubte, blieben eben Widersprüche.
Zuerst schien er zuversichtlich, bewahrte seine Haltung, blickte den
Zeugen fest ins Gesicht, dann war es, als schwinde ihm der Sinn für die
Bedeutung der Worte, nicht nur seiner eigenen, sondern aller Worte der
Welt, oder als verliere er den Boden unter den Füßen und falle
unaufhaltsam von Raum zu Raum ins grauenvoll End- und Grenzenlose hinab.
Er begriff nicht mehr; er fragte sich entsetzt, ob dies noch Leben sei,
noch Leben heißen dürfe, der herrliche Bau der Natur schien ihm
verwüstet wie eine vom Sturm geborstene Mauer, der redende Mund all
dieser Leute dünkte ihn nichts andres als ein in widerlichen Krämpfen
auf- und zuklappender Schlund, sein Geist öffnete sich der Finsternis,
Scham durchflammte ihn, er schämte sich im Gefühl des namenlosen Gottes
und er schämte sich, daß sein Körper so gestaltet war wie der dieser
Geschöpfe rings um ihn. Er hatte die Welt geliebt, er hatte einst die
Menschen geliebt, jetzt schämte er sich dessen. Ihn schmerzte, daß er
jemals Hoffnungen gehegt, daß er sein Herz mit Versprechungen
hingehalten, daß Himmel und Sonne ihm einen frohen Blick, Scherzworte
ihm ein Lächeln hatten entlocken können, er wünschte wie der Stein am
Weg sein Inneres nie verraten zu haben, um nicht Schicksalszeuge sein zu
müssen vor dem eigenen gebrandmarkten, gepeitschten und unerhört
erniedrigten Selbst. Schon das Denken erschien ihm Schmach, um wie viel
mehr erst das, was er hätte sagen können; es war nichts, war weniger als
der Atem. Worauf sich stützen? worauf harren? Sie glaubten nicht, nicht
einmal den Hohn, nicht einmal das Schweigen. Und Bastide schloß sich zu
und blickte dem Tod ins aufdämmernde Antlitz.

Es war schon gegen Abend, als endlich die Kronzeugin, Madame Mirabel, in
den Saal gerufen wurde, und die ganze schon ermüdete Versammlung zuckte
auf wie ein einziger Körper. Sie kam, und trotz der schwülen Luft, die
den Raum erfüllte, schien sie zu frösteln. Als sie den Eid ablegte,
zitterte sie sichtbar. Herr von Enjalran forderte sie auf, der Wahrheit
gemäß zu berichten. Mit fremder, gleichmäßig matter Stimme, doch
ziemlich hastig redend, gab sie dieselbe Aussage ab wie vor dem
Untersuchungsrichter. Im Saal herrschte eine beängstigende Stille und
infolgedessen wurde ihre Stimme immer leiser. Sie wußte jetzt eine Menge
von Einzelheiten, hatte das lange Messer auf dem Tisch liegen sehen,
hatte gesehen, wie Bancal und Colard eine hölzerne Wanne hereintrugen
und daß der Advokat Fualdes währenddessen neben der Lampe saß und mit
tiefgebeugten Schultern schrieb. Sie hatte auch den geheimnisvollen
Fremdling mit dem Stelzfuß gesehen und hatte beobachtet, daß Bach und
Bousquier ein großes weißes Laken entfalteten. Auf die Frage, weshalb
sie in Männerkleidern gekommen sei, gab sie keine Antwort. Und als sie
dann flüsternd, mit zusammengekrampften Fingern, den Kopf geduckt, den
mageren Rumpf etwas vorgebeugt, wie unter den Krallen eines Tieres sich
kaum merkbar windend und doch mit jenem selig-süßlichen Lächeln, das
ihrem Gesicht einen Ausdruck stiller Raserei gab, erzählte, wie Bastide
sie im dunklen Nebenraum umarmt und geküßt habe, da sprang dieser
plötzlich auf, schlug verzweifelnd die Hände zusammen und eilte ein paar
Schritte vorwärts, bis er neben Clarissa stand. Alle hörten, wie schwer
sein Atem ging.

Der Vorsitzende verwies ihm sein Benehmen, das er als unzart
bezeichnete, Bastide aber rief mit starker, schmetternder Stimme aus:
»Vor Gott, der mich hört und richten wird, erkläre ich, daß dies alles
grauenhafte Lügen sind. Ich habe niemals dies Weib mit einem Finger
berührt, noch mit Augen gesehen.«

Clarissa wurde weiß wie Kalk. Ihr war als höre sie jetzt erst das
Klirren des zerbrochenen Spiegels, den sie nach dem Tanz zu Boden
geworfen. Als der Generalprokurator sie aufforderte, fortzufahren,
schwieg sie; ihre Augen verdrehten sich und der ganze Leib schauderte
konvulsivisch.

»Sprechen Sie doch!« rief ihr Bastide Grammont zu, und die Empörung
erstickte fast seine Stimme, »sprechen Sie! Ihr Schweigen ist noch
verderblicher für mich als alle Lügen.«

Da schlug Clarissa die Augen zu ihm auf und fragte wunderlich bewegt:
»Kennen Sie mich wirklich nicht, Bastide?«

»Nein! nein! nein!« brach dieser aus und nach oben blickend, stöhnte er
qualvoll: »Sie ist eine Närrin.«

Innerhalb einer Sekunde wurde Clarissa glühendrot und wieder
totenbleich. Und indem sie sich abermals zu Bastide wandte, sagte sie
mit furchtbarem Ton des Vorwurfs: »O Mörder!«

Das Publikum applaudierte. Endlich war das Wort der Wahrheit gesprochen.
Doch Clarissa wankte, ein Gerichtsdiener sprang herbei und fing sie in
seinen Armen auf, mehrere Damen verließen ihre Plätze und bemühten sich
um sie, und es dauerte eine halbe Stunde, bis sie wieder zu Bewußtsein
kam; sie bot aber einen so veränderten Anblick, als sei sie plötzlich um
zwanzig Jahre gealtert. Herr von Enjalran suchte das Verhör
fortzusetzen, doch sie antwortete nur in halben Worten: sie wisse nicht;
es sei möglich; sie wolle nicht widersprechen. Bastide Grammont hatte
sich wieder auf der Anklagebank niedergelassen; auf seinem Antlitz malte
sich unermeßliche Trauer und Bestürzung. Sein Verteidiger bat Clarissa,
da sie doch nun einmal gesprochen, so solle sie weiter reden. »Ich
beschwöre Sie, Madame, seien Sie deutlich,« sagte er, »von Ihnen hängt
es ab, einen Unschuldigen zu retten oder ihn aufs Blutgerüst zu
bringen.« Clarissa schwieg, als höre sie nicht; in ihrem Herzen wogte,
wie Morgennebel über dem Wasser, ein tröstliches und bestrickendes Bild.
Nun wandte sich der Rat Pinaud mit strenger Mahnung an sie; sie möge
nicht glauben, daß sie ihre Aussagen nach Gutdünken machen und
verschweigen könne, was sie wolle; aber darauf nahm der Prokurator für
sie das Wort und sagte, man wisse, warum sie schweige, sie habe ja
selbst versichert, daß sie eine Überzeugung habe, deren Gründe sie nicht
darlegen könne, man möge zufrieden sein, daß man aus ihrem Mund das
Wichtigste gehört habe, ja er erklärte sogar jedes weitere Drängen für
unschicklich. Er war noch nicht zu Ende mit seiner Rede, als ihn
Clarissa unterbrach; sie erhob den rechten Arm und sagte feierlich
beteuernd: »Ich habe keinen Eid geschworen.«

Bastide Grammont schaute empor. Er entriß sich seiner Betäubung, stand
schwerfällig auf und begann mit ruhiger, doch um so mehr ergreifender
Stimme: »Die Mauern der Kerker sprechen nicht. Einst aber werden sie
dennoch reden und sie werden die angezettelten Heimlichkeiten mit Namen
nennen, die man angewendet hat, um alle diese Elenden zu zwingen, aus
der Lüge die schimpfliche Schutzwehr ihres Lebens zu machen. Fualdes war
nicht mein Feind, er war nur mein Gläubiger. Wenn Habsucht einen sonst
anständigen und mäßigen Mann irregeleitet, wenn sie meinen Arm bewaffnet
hätte, so hätte ich ihn doch nimmer gegen einen wehrlosen Greis erhoben.
Wollt ihr ein Opfer haben, so nehmt mich; ich bin bereit, aber vermengt
mein Schicksal nicht mit dem dieser Brut. Meine Familie, die stets auf
dem Land lebte und die Sitte und Einfachheit des Landlebens übte, ist
entehrt. Meine Mutter weint und erliegt. Urteilt, ob ich, in dieses Meer
von Unglück gestürzt, noch Liebe zum Leben haben kann. Ich liebte einst
die Freiheit, ich liebte die Tiere, das Wasser, den Himmel, die Luft und
die Früchte der Bäume; jetzt aber bin ich geschändet und läge noch eine
Zukunft vor mir, sie wäre klebrig von Schande und die Zeit schmeckte mir
übel. Ist es ein Gericht, vor das man mich gestellt hat? Nein, es ist
eine Treibjagd, der Richter ist zum Jäger geworden und richtet den
Schuldlosen her zu einem Braten für den Pöbel. Ich verlange keine
Gerechtigkeit mehr; es ist zu spät, mir Gerechtigkeit widerfahren zu
lassen, zu spät, und wenn man mir die Krone Frankreichs anböte. Ich gebe
mich euch zur Vernichtung dar, euer Gewissen soll mit dieser Bürde
beladen sein, ein Schuldiger macht tausend und eure Kindeskinder werden
noch dafür die lebendige Erde mit Schmach überfluten.«

Lähmende Stille folgte diesen Worten. Plötzlich aber brach ein
unbeschreiblicher Tumult aus. Zuhörer und Geschworene erhoben sich,
ballten die Fäuste gegen Bastide Grammont, schrieen und heulten
durcheinander und Herrn von Enjalrans donnernde Mahnung verhallte
ungehört. Und ebenso plötzlich entstand wieder eine Totenstille. Ein
matter, langgezogener Schrei, der sich im Getöse erhoben hatte und nun
klagend weitertönte, machte die Gesichter versteinern. Aller Augen
richteten sich auf Clarissa. Sie fühlte die Blicke auf sich herabstürzen
wie Balken eines zusammenbrechenden Gebäudes.

Ihr Herz war von ungeheurem Sühnewunsch wie verbrannt ...

Die Rede des öffentlichen Anklägers sammelte noch einmal die Waffen des
Hasses, welche die Fama gegen ihre Opfer geschmiedet; mit abgefeimter
Kunst verstand er die Mordnacht in solchen Farben zu malen, daß das
Grauen wie zum ersten Mal lebendig wurde. Der Verteidiger Bastides
dagegen genügte sich an hochtrabenden Phrasen; ihm wurde warm, die Hörer
ließ er kalt. Während er sprach, entstand ein Schieben und Drängen im
Hintergrund; einige Damen kreischten, ein mittelgroßer schwarzer Hund
lief durch eine Öffnung der Schranken, schaute sich mit glitzernden
Augen um und kauerte sich vor den Füßen Bastides kurz aufbellend nieder.
Dieser legte in tiefer Bewegung die Hand auf den Hals des Tieres und
wehrte den Huissier gebieterisch ab, der es entfernen wollte.

Als der Gerichtshof sich zur Beratung zurückzog, wagte niemand laut zu
sprechen. Irgendein Frauenzimmer schluchzte und man verwies sie zur
Ruhe; es war die Dirne Benoit, Colards Geliebte. Sie hatte den
armseligen Menschen bei den Schultern umschlungen und das in Tränen
gebadete Gesicht drückte kein andres Verlangen aus, als sein Schicksal
zu teilen. Ein Verwandter Bastides trat zu diesem, um mit ihm zu
sprechen; Bastide schüttelte den Kopf und sah den Mann nicht einmal an.
Etwas Schlaftrunkenes war in seinen Zügen, jedenfalls hatten Worte kein
Gewicht mehr in seinen Ohren. Doch geschah es, daß seine Augen sich noch
einmal erhoben und, nachdem sie unermessene Fernen durchlaufen hatten,
denen Clarissas begegneten. Da schien ihm das fremde Weib nicht mehr so
sehr fremd. Er hörte wieder den Ton ihrer Stimme, als sie ihn Mörder
genannt hatte; war es nicht vielmehr ein Hilferuf als eine
Beschuldigung gewesen? und dieser flehentliche Blick, als hätten
unsichtbare Fäuste sie am Hals gewürgt? und diese zarteste Gestalt, so
seltsam alterslos, zitternd wie ein junger Birkenbaum im Herbst?

Zwei einsame Schiffbrüchige werden durch den unterirdischen Meeresstrom
in ein und dieselbe Bahn getrieben, jeder von einer andern Welt,
diesseits und jenseits des Meeres, nicht imstande das Brett zu
verlassen, woran ihr Dasein hängt, nicht einmal imstande sich die Hand
zu reichen, bloß hingetrieben vom allmählich erschöpften Wind zu
unbekannten Tiefen. Es liegt etwas Geisterhaftes in dem Erbarmen des
einen für den andern. Doch Bastides schmerzliches und finsteres
Erstaunen gärte wieder in den Rausch und Traum der Müdigkeit hinüber und
die aufmerksamen Augen seines Hundes erschienen ihm wie zwei rötliche
Sterne zwischen schwarzen Baumkronen. Er vernahm das Todesurteil, als
der Gerichtshof zurückkehrte; er war aufgestanden und lauschte den
Worten des Präsidenten; es klang, als ob Regenwasser auf mürbe Blätter
plätscherte. Er hörte sich selbst etwas sagen, aber was es war, wußte er
kaum. Viele Gesichter sah er in ungenügender Beleuchtung gegen sich
gewandt, sie machten ihm den Eindruck wurmstichiger und verwesender
Äpfel.

       *       *       *       *       *

Das Verdikt gegen die übrigen Angeklagten sollte erst am folgenden Tag
verkündigt werden. Die Menschenmenge im Saal, in den Gängen und auf der
Straße verlief sich langsam. Als Clarissa durch den Korridor schritt,
wich alles scheu zur Seite.

Sie hatte in Erfahrung gebracht, daß Bastide nicht nach Rhodez
zurückgeführt würde, sondern im Gefängnis von Alby bleibe. Darauf
schickte sie den Wagen fort, der auf sie wartete, und begab sich in ein
nahegelegenes Gasthaus, wo sie ein Zimmer forderte und einen Brief an
ihren Vater schrieb, ein paar fieberdurchwühlte Sätze: »Ich weiß nicht
mehr was Wahrheit ist und was Lüge; Bastide ist unschuldig, und ich habe
ihn vernichtet, während mein Wille zu ihm stand; Ja und Nein sind in
meiner Brust wie zwei gestorbene Flammen; würde ich dorthin
zurückkehren, woher ich kam, ich würde einen beständigen Tod erleiden,
darum und weil so die Menschen leben wie sie leben, gehe ich dorthin
wohin ich muß.« Es war schon Mitternacht vorüber, trotzdem begehrte sie
den Wirt zu sprechen. Sie bat ihn, den Brief am nächsten Morgen durch
einen sicheren Boten nach Schloß Perrié zu senden, dann ersuchte sie den
verdutzten Mann, ihr ein Körbchen frischer Früchte zu verkaufen. Der
Wirt bedauerte höflich, er habe nichts mehr in der Kammer.
Leidenschaftlich drängend, bot sie den zehn- und zwanzigfachen Preis und
warf ein Goldstück auf den Tisch. »Es ist für einen Sterbenden,« sagte
sie, »alles hängt davon ab.« Der Mann betrachtete ängstlich das
bleich-leuchtende Antlitz der vornehmen Dame und überlegte, erklärte
endlich seinen Nachbar aufwecken zu wollen und hieß Clarissa warten. Als
sie allein war, kniete sie vor dem Bett nieder, wühlte die Stirn in die
Kissen und weinte. Nach einer halben Stunde kam der Wirt zurück und
brachte einen Korb voll Birnen, Trauben, Granatäpfel und Pfirsichen.
Kopfschüttelnd sah er der Davoneilenden nach und hielt den
verschlossenen Brief, den er besorgen sollte, neugierig gegen das Licht.

Die Straßen waren öde und von verdämmertem Mondschein erfüllt. Die
kleinen Fenster kleiner Häuser blinzelten verschlafen; unter einem
Torweg stand der Nachtwächter mit der Hellebarde und murmelte wie ein
Betrunkener. Vor dem niedrigen Gefängnisbau war ein freier Platz;
Clarissa setzte sich auf eine Steinbank und da nebenan ein Brunnen rann
und sie Durst hatte, trank sie sich satt. Die sanftgeschwellten Ränder
der unfernen Hügel flossen kaum merklich in den Himmel über und hinter
einer Talsenkung lohte Feuerschein, auch glaubte sie bei gespanntem
Horchen Glockenläuten zu hören. So schlief doch nicht die ganze Welt und
sie durfte das bange Herz noch einmal an Menschendinge binden. Nach
einer Weile erhob sie sich, schritt zu dem Gebäude hinüber, stellte den
Fruchtkorb auf die Erde und pochte mit dem Türklopfer ans Tor. Es
dauerte lange, bis der Pförtner erschien und unwirsch nach ihrem Begehr
fragte. »Ich muß Bastide Grammont sprechen,« erklärte sie. Der Mensch
machte ein Gesicht, als habe ihn eine Wahnsinnige überfallen, knurrte
drohend und wollte das Tor wieder zuschlagen. Clarissa packte mit der
einen Hand seinen Arm, mit der andern riß sie die Diamantagraffe von der
Brust. »Da, da, da!« stammelte sie. Der Alte hob seine Laterne ein
wenig und besah sich das blitzende Schmuckstück von allen Seiten.
Clarissa mißverstand seine schmunzelnd-furchtsame Freude, dachte, es sei
ihm nicht genug und gab ihm noch ihre Börse. »Was ist in dem Korb?«
erkundigte er sich in devotem Mißtrauen. Sie zeigte ihm, was darinnen
war. Da gab er sich zufrieden, dachte, es sei wohl die Maitresse des
Verurteilten, und nachdem er die Tür zugeschlossen, ging er voran. Sie
schritten ein paar Stufen hinab, dann durch einen schmalen Gang. »Wie
lange wollen Sie drinnen bleiben?« forschte der Wärter, als sie vor
einer eisernen Türe standen. Clarissa schöpfte tief Atem und erwiderte
flüsternd, sie werde dreimal gegen die Türe klopfen. Der Alte nickte,
sagte, er wolle oben auf der Treppe warten, sperrte vorsichtig auf,
reichte der Frau seine Laterne und schloß hinter ihr zu.

Drinnen hielt sich Clarissa an der Mauer fest und schloß die Augen, um
zu warten, bis sich ihre rasenden Pulse beruhigt hatten. Es schien ein
mäßig großer, nicht ganz unwohnlicher Raum. Bastide lag auf einem
Strohsack an der gegenüberliegenden Wand; er schlief in seinen Kleidern.
Welche Stille! dachte Clarissa schaudernd und schlich nun auf den
Fußspitzen bis zum Lager des Schlafenden. Welche Stille auch in diesem
Antlitz, welch ein schöner Schlummer, dachte sie, und ihre Lippen
öffneten sich in lautlosem Schmerz. Sie stellte die Laterne so auf den
Boden, daß der Schein sein Gesicht traf, dann kniete sie hin und
lauschte den festen Atemzügen. Bastides Mund war ernst geschlossen, die
Lider vibrierten nicht, ein Zeichen von Traumlosigkeit; der lange Bart
umkränzte Wangen und Kinn wie braunes Buschwerk, der ganze Kopf war
etwas hintüber gesunken und die Haare glänzten feucht. Allmählich
strömte der Frieden seines Antlitzes auch auf Clarissa über, alle Worte,
alle Zeichen, die sie mit hereingetragen, schwanden hin, sie beschloß,
nichts weiter zu tun, als ihr Geschenk an sein Lager zu stellen und sich
zu entfernen. Sie leerte also den Korb und erschrak jedesmal und
wartete, wenn nur ein Sandkorn unter ihren Füßen knackte. Als sie nun
alle Früchte ausgelegt und jede einzelne wie ein lebendiges Geschöpf in
ihrer Hand zärtlich befühlt hatte, ward ihr immer ruhiger und leichter
zu Sinn, sie spürte sich dem Tode schon so wunderbar hingegeben, daß sie
den Gedanken, diesen Raum verlassen zu müssen, fast mit Schrecken abwies
und sich mit gefaßter Sicherheit anschickte zu tun, was sie tief
erfüllte. Es entstand das Verlangen in ihr, den schlafenden Bastide zu
küssen und sie beugte sich auch über ihn, doch eine gebieterische
Ehrfurcht hielt sie ab, mehr noch als die Angst, er könne erwachen. Ihr
Körper krampfte sich zusammen, sie umarmte ihn im Geiste und schien sich
losgelöst von der Erde wie eine Perle, die aus einem Ring gefallen ist.
Darauf erhob sie sich leise, ging auf den Fußspitzen auf die andere
Seite des Raums, legte sich hin, nahm ein kleines Federmesser aus der
Tasche und schnitt sich an beiden Handgelenken mit tiefen Schnitten die
Adern auf. Innerhalb einer Viertelstunde seufzte sie noch zweimal und
die Hand des Todes suchte vergeblich das trunkensüße Lächeln von ihren
erblaßten Lippen zu wischen.

Bastide schlief noch eine Weile in seiner abgründigen Tiefe hin, Glieder
und Geist von einem Allvergessen gefesselt und betäubt. Dann begann er
zu träumen. Er befand sich in einem großen, abgeschlossenen Raum, in
dessen Mitte eine kostbar gedeckte Tafel stand. Es saßen viele Menschen
da; sie zechten und unterhielten sich fröhlich. Auf einmal starrten alle
nach der Mitte der Tafel, wo ein Gefäß aus undurchsichtigem blauem Glase
stand, das vorher nicht dagewesen war. Was ist in dem Glase? was mag es
bedeuten? wer hat es gebracht? fragten dunkle Stimmen. Darauf trat ein
grauenhaftes Schweigen ein; die vielen Augen starrten bald auf das blaue
Gefäß, bald in düsterm Argwohn gegeneinander. Plötzlich erhoben sich die
vorher so heitern Zecher und einer beschuldigte den andern, die
verdeckte Schale auf den Tisch gestellt zu haben. Es entstand ein
heftiges Geschrei, manche zogen ihre Dolche, andere schwangen Stühle und
währenddessen wuchs aus dem Gefäß heraus ein magerer nackter Mädchenleib
wie weißer Rauch. Das Gesicht war Bastide bekannt, es war das der
Lügnerin Clarissa; mit schlangenhaft flimmernden Augen sah sie ihn an,
immer nur ihn. Alle Männer folgten dem Blick und stürzten über ihn her.
Du mußt sterben! du mußt sterben! schallte es aus heiseren Kehlen, aber
indes sie noch schrien, verhallten schon ihre Stimmen, die nebelhaften
Arme der Lügnerin streckten sich aus, zerteilten die eine Wand und man
konnte in einen blühenden Garten sehen, in dessen Mitte ein Schafott
stand, behangen mit Zweigen voll reifer Früchte. Bastide war zum Knaben
geworden; langsam schritt er hinaus, die Hände Clarissas schwebten über
ihm und pflückten die Früchte ab und seine Todesfurcht wurde besänftigt
von dem berauschenden Geruch dieser Früchte, der wie eine Wolke den
ganzen Saal, ja den ganzen Weltraum erfüllte.

Da erwachte er. Sein erster schlafbefangener Blick fiel auf das
flackernde Licht der Laterne, der zweite auf eine riesige Birne, die
gelb wie ein kleiner Mond neben seinem Bette lag. In dumpfbeglücktem
Erstaunen griff er darnach, aber indem er sie zum Mund führte, gewahrte
er, daß Blut daran klebte. Er schrak empor, noch wähnte er zu träumen.
Vor den Fenstern wogte schon das Grau der Morgendämmerung. Nun gewahrte
er die übrigen Früchte, eine Pracht und Fülle, als wäre das Paradies
geplündert worden. Doch klebte auch an ihnen Blut ... Ein kleiner
zweigeteilter Blutbach rieselte von der Mauerecke herüber.

Und Bastide sah ...

Er wollte aufstehen, allein der unvollendete Schlaf lähmte noch seinen
Körper.

Bitterer und wilder Kummer umklammerte ihm die Brust. Ihn gelüstete
nicht mehr nach dem Tag, der sich draußen so müd erhob; der Schläge
seines eigenen Herzens satt und voll Gewißheit dessen was geschehen war
und geschehen mußte, sehnte er das endliche Ende herbei, begehrte keine
besondere Kunde mehr von dem vollbrachten Schicksal drüben an der
andern Wand des Kerkers, das, von dunklen Gewalten befehligt, sich auf
seinen Weg gedrängt hatte, keine Kunde mehr von den Menschen und dem was
sie bauten oder zerstörten. Ein Greuel war ihm der Mensch.

Und dennoch, als sein Blick wieder auf die herrlichen Früchte fiel, da
jammerte ihn die Kreatur; er wollte der Bringerin wenigstens die Augen
zudrücken. Aber jetzt drehte der argwöhnisch gewordene Wächter draußen
den Schlüssel im Schloß.


_Ende_



Buchdruckerei Roitzsch, G. m. b. H., Roitzsch.



Von diesem Buche sind 25 Exemplare auf handgeschöpftem Büttenpapier
abgezogen, numeriert und in Ganzleder gebunden. Sie sind zum Preise von
10 Mark für das Exemplar direkt vom Verlage zu beziehen.



Von _Jakob Wassermann_ ist im gleichen Verlage erschienen:

Die Juden von Zirndorf. Roman. Neubearbeitete Ausgabe.
Die Geschichte der jungen Renate Fuchs. Roman. Neunte Aufl.
Der Moloch. Roman. Zweite Auflage.
Der niegeküßte Mund. Hilperich. Novellistische Studien.
Alexander in Babylon. Roman. Dritte Auflage.



[Anmerkungen zur Transkription: Dieses elektronische Buch wurde auf
Grundlage der dritten Auflage erstellt. Die Werbung für die
Sonderausgabe und die anderen Werke Jakob Wassermanns wurde vom Anfang
des Buches an das Ende verschoben. Die nachfolgende Tabelle enthält eine
Auflistung aller gegenüber dem Originaltext vorgenommenen Korrekturen.

S. 012: sie hing mit große Liebe -> großer
S. 027: waren inzwischen herbeigekommen und starren -> starrten
S. 044: wie der Schwamm vor einer Faust -> von
S. 063: enfernte sich wieder -> entfernte
S. 076: [Komma ergänzt] hatte es sein Bewenden, zum Schluß
S. 077: sommersprssioge Mädchen -> sommersprossige
S. 080: mit gleicher Inbrust begehrt -> Inbrunst
S. 082: [Punkt ergänzt] um das verlorene Brautgut tragen würde.
S. 085: bei Mistres Duncomb Quartier bezogen -> Mistreß
S. 088: [Komma ergänzt] vor Schmerz, denn er
S. 102: und bedeutete ihn -> ihm
S. 122: ermahnte ihn, auch einerseits -> seinerseits
S. 126: [vereinheitlicht] Kneipe der Rose Féral -> Feral
S. 144: In Dämmergrauen des Tages -> Im Dämmergrauen
S. 148: sagte er beteurend -> beteuernd

Das Originalbuch ist in Frakturschrift gedruckt. Textauszeichnungen
wurden folgendermaßen ersezt:

Sperrung:       _gesperrter Text_
Antiquaschrift: #Antiquatext# ]



[Transcriber’s Note: This ebook has been prepared from scans of a third
edition copy. The notes advertizing the special edition and other works
by Jakob Wassermann have been moved from the beginning of the book to
the end. The table below lists all corrections applied to the original
text.

p. 012: sie hing mit große Liebe -> großer
p. 027: waren inzwischen herbeigekommen und starren -> starrten
p. 044: wie der Schwamm vor einer Faust -> von
p. 063: enfernte sich wieder -> entfernte
p. 076: [added comma] hatte es sein Bewenden, zum Schluß
p. 077: sommersprssioge Mädchen -> sommersprossige
p. 080: mit gleicher Inbrust begehrt -> Inbrunst
p. 082: [added period] um das verlorene Brautgut tragen würde.
p. 085: bei Mistres Duncomb Quartier bezogen -> Mistreß
p. 088: [comma added] vor Schmerz, denn er
p. 102: und bedeutete ihn -> ihm
p. 122: ermahnte ihn, auch einerseits -> seinerseits
p. 126: [unified] Kneipe der Rose Féral -> Feral
p. 144: In Dämmergrauen des Tages -> Im Dämmergrauen
p. 148: sagte er beteurend -> beteuernd

The original book is printed in Fraktur font. Marked-up text has been
replaced by:

Spaced-out: _spaced out text_
Antiqua:    #text in Antiqua font# ]





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