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Title: Der Wahn und die Träume in W. Jensens »Gradiva«
Author: Freud, Sigmund, 1856-1939
Language: German
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  SCHRIFTEN ZUR ANGEWANDTEN SEELENKUNDE
  HERAUSGEGEBEN VON PROF. DR. SIGM. FREUD

  ERSTES HEFT


  DER WAHN UND DIE TRÄUME
  IN
  W. JENSENS »GRADIVA«


  VON
  PROF. DR. SIGM. FREUD

  WIEN


  WIEN UND LEIPZIG
  HUGO HELLER & CIE.
  1907



K. u. K. Hofbuchdruckerei Karl Prochaska in Teschen.



I.


In einem Kreise von Männern, denen es als ausgemacht gilt, daß die
wesentlichsten Rätsel des Traumes durch die Bemühung des Verfassers(1)
gelöst worden sind, erwachte eines Tages die Neugierde, sich um jene
Träume zu kümmern, die überhaupt niemals geträumt worden, die von
Dichtern geschaffen und erfundenen Personen im Zusammenhange einer
Erzählung beigelegt werden. Der Vorschlag, diese Gattung von Träumen
einer Untersuchung zu unterziehen, mochte müßig und befremdend
erscheinen; von einer Seite her konnte man ihn als berechtigt
hinstellen. Es wird ja keineswegs allgemein geglaubt, daß der Traum
etwas Sinnvolles und Deutbares ist. Die Wissenschaft und die Mehrzahl
der Gebildeten lächeln, wenn man ihnen die Aufgabe einer Traumdeutung
stellt; nur das am Aberglauben hängende Volk, das hierin die
Überzeugungen des Altertums fortsetzt, will von der Deutbarkeit der
Träume nicht ablassen, und der Verfasser der Traumdeutung hat es gewagt,
gegen den Einspruch der gestrengen Wissenschaft Partei für die Alten und
für den Aberglauben zu nehmen. Er ist allerdings weit davon entfernt, im
Traume eine Ankündigung der Zukunft anzuerkennen, nach deren Enthüllung
der Mensch seit jeher mit allen unerlaubten Mitteln vergeblich strebt.
Aber völlig konnte auch er nicht die Beziehung des Traumes zur Zukunft
verwerfen, denn nach Vollendung einer mühseligen Übersetzungsarbeit
erwies sich ihm der Traum als ein _erfüllt_ dargestellter _Wunsch_ des
Träumers, und wer könnte bestreiten, daß Wünsche sich vorwiegend der
Zukunft zuzuwenden pflegen.

  (1) Freud, Die Traumdeutung 1900.

Ich sagte eben: der Traum sei ein erfüllter Wunsch. Wer sich nicht
scheut, ein schwieriges Buch durchzuarbeiten, wer nicht fordert, daß ein
verwickeltes Problem zur Schonung seiner Bemühung und auf Kosten von
Treue und Wahrheit ihm als leicht und einfach vorgehalten werde, der mag
in der erwähnten »Traumdeutung« den weitläufigen Beweis für diesen Satz
aufsuchen und bis dahin die ihm sicherlich aufsteigenden Einwendungen
gegen die Gleichstellung von Traum und Wunscherfüllung zur Seite
drängen.

Aber wir haben weit vorgegriffen. Es handelt sich noch gar nicht darum,
festzustellen, ob der Sinn eines Traumes in jedem Falle durch einen
erfüllten Wunsch wiederzugeben sei, oder nicht auch ebenso häufig durch
eine ängstliche Erwartung, einen Vorsatz, eine Überlegung u. s. w.
Vielmehr steht erst in Frage, ob der Traum überhaupt einen Sinn habe, ob
man ihm den Wert eines seelischen Vorganges zugestehen solle. Die
Wissenschaft antwortet mit Nein, sie erklärt das Träumen für einen bloß
physiologischen Vorgang, hinter dem man also Sinn, Bedeutung, Absicht
nicht zu suchen brauche. Körperliche Reize spielten während des Schlafes
auf dem seelischen Instrument und brächten so bald diese, bald jene der
alles seelischen Zusammenhaltes beraubten Vorstellungen zum Bewußtsein.
Die Träume wären nur Zuckungen, nicht aber Ausdrucksbewegungen des
Seelenlebens vergleichbar.

In diesem Streite über die Würdigung des Traumes scheinen nun die
Dichter auf derselben Seite zu stehen wie die Alten, wie das
abergläubische Volk und wie der Verfasser der »Traumdeutung«. Denn wenn
sie die von ihrer Phantasie gestalteten Personen träumen lassen, so
folgen sie der alltäglichen Erfahrung, daß das Denken und Fühlen der
Menschen sich in den Schlaf hinein fortsetzt, und suchen nichts anderes,
als die Seelenzustände ihrer Helden durch deren Träume zu schildern.
Wertvolle Bundesgenossen sind aber die Dichter und ihr Zeugnis ist hoch
anzuschlagen, denn sie pflegen eine Menge von Dingen zwischen Himmel und
Erde zu wissen, von denen sich unsere Schulweisheit noch nichts träumen
läßt. In der Seelenkunde gar sind sie uns Alltagsmenschen weit voraus,
weil sie da aus Quellen schöpfen, welche wir noch nicht für die
Wissenschaft erschlossen haben. Wäre diese Parteinahme der Dichter für
die sinnvolle Natur der Träume nur unzweideutiger! Eine schärfere Kritik
könnte ja einwenden, der Dichter nehme weder für noch gegen die
psychische Bedeutung des einzelnen Traumes Partei; er begnüge sich zu
zeigen, wie die schlafende Seele unter den Erregungen aufzuckt, die als
Ausläufer des Wachlebens in ihr kräftig verblieben sind.

Unser Interesse für die Art, wie sich die Dichter des Traumes bedienen,
ist indes auch durch diese Ernüchterung nicht gedämpft. Wenn uns die
Untersuchung auch nichts Neues über das Wesen der Träume lehren sollte,
vielleicht gestattet sie uns von diesem Winkel aus einen kleinen
Einblick in die Natur der dichterischen Produktion. Die wirklichen
Träume gelten zwar bereits als zügellose und regelfreie Bildungen, und
nun erst die freien Nachbildungen solcher Träume! Aber es gibt viel
weniger Freiheit und Willkür im Seelenleben, als wir geneigt sind
anzunehmen; vielleicht überhaupt keine. Was wir in der Welt draußen
Zufälligkeit heißen, löst sich bekanntermaßen in Gesetze auf; auch was
wir im Seelischen Willkür heißen, ruht auf -- derzeit erst dunkel
geahnten -- Gesetzen. Sehen wir also zu!

Es gäbe zwei Wege für diese Untersuchung. Der eine wäre die Vertiefung
in einen Spezialfall, in die Traumschöpfungen eines Dichters in einem
seiner Werke. Der andere bestünde im Zusammentragen und
Gegeneinanderhalten all der Beispiele, die sich in den Werken
verschiedener Dichter von der Verwendung der Träume finden lassen. Der
zweite Weg scheint der bei weitem trefflichere zu sein, vielleicht der
einzig berechtigte, denn er befreit uns sofort von den Schädigungen, die
mit der Aufnahme des künstlichen Einheitsbegriffes »der Dichter«
verbunden sind. Diese Einheit zerfällt bei der Untersuchung in die so
sehr verschiedenwertigen Dichterindividuen, unter denen wir in einzelnen
die tiefsten Kenner des menschlichen Seelenlebens zu verehren gewohnt
sind. Dennoch aber werden diese Blätter von einer Untersuchung der
ersten Art ausgefüllt sein. Es hatte sich in jenem Kreise von Männern,
unter denen die Anregung auftauchte, so gefügt, daß jemand sich besann,
in dem Dichtwerke, das zuletzt sein Wohlgefallen erweckt, wären mehrere
Träume enthalten gewesen, die ihn gleichsam mit vertrauten Zügen
angeblickt hätten und ihn einlüden, die Methode der »Traumdeutung« an
ihnen zu versuchen. Er gestand zu, Stoff und Örtlichkeit der kleinen
Dichtung wären wohl an der Entstehung seines Wohlgefallens hauptsächlich
beteiligt gewesen, denn die Geschichte spiele auf dem Boden von Pompeji
und handle von einem jungen Archäologen, der das Interesse für das Leben
gegen das an den Resten der klassischen Vergangenheit hingegeben hätte
und nun auf einem merkwürdigen, aber völlig korrekten Umwege ins Leben
zurückgebracht werde. Während der Behandlung dieses echt poetischen
Stoffes rege sich allerlei Verwandtes und dazu Stimmendes im Leser. Die
Dichtung aber sei die kleine Novelle »_Gradiva_« von _Wilhelm Jensen_,
vom Autor selbst als »pompejanisches Phantasiestück« bezeichnet.

Und nun müßte ich eigentlich alle meine Leser bitten, dieses Heft aus
der Hand zu legen und es für eine ganze Weile durch die 1903 im
Buchhandel erschienene »Gradiva« zu ersetzen, damit ich mich im weiteren
auf Bekanntes beziehen kann. Denjenigen aber, welche die »Gradiva«
bereits gelesen haben, will ich den Inhalt der Erzählung durch einen
kurzen Auszug ins Gedächtnis zurückrufen, und rechne darauf, daß ihre
Erinnerung allen dabei abgestreiften Reiz aus eigenem wiederherstellen
wird.

Ein junger Archäologe, _Norbert Hanold_, hat in einer Antikensammlung
Roms ein Reliefbild entdeckt, das ihn so ausnehmend angezogen, daß er
sehr erfreut gewesen ist, einen vortrefflichen Gipsabguß davon erhalten
zu können, den er in seiner Studierstube in einer deutschen
Universitätsstadt aufhängen und mit Interesse studieren kann. Das Bild
stellt ein reifes junges Mädchen im Schreiten dar, welches ihr
reichfaltiges Gewand ein wenig aufgerafft hat, so daß die Füße in den
Sandalen sichtbar werden. Der eine Fuß ruht ganz auf dem Boden, der
andere hat sich zum Nachfolgen vom Boden abgehoben und berührt ihn nur
mit den Zehenspitzen, während Sohle und Ferse sich fast senkrecht
emporheben. Der hier dargestellte ungewöhnliche und besonders reizvolle
Gang hatte wahrscheinlich die Aufmerksamkeit des Künstlers erregt und
fesselt nach so viel Jahrhunderten nun den Blick unseres archäologischen
Beschauers.

Dies Interesse des Helden der Erzählung für das geschilderte Reliefbild
ist die psychologische Grundtatsache unserer Dichtung. Es ist nicht ohne
weiteres erklärbar. »Doktor Norbert Hanold, Dozent der Archäologie, fand
eigentlich für seine Wissenschaft an dem Relief nichts sonderlich
Beachtenswertes.« (Gradiva p. 3.) »Er wußte sich nicht klarzustellen,
was daran seine Aufmerksamkeit erregt habe, nur daß er von etwas
angezogen worden und diese Wirkung sich seitdem unverändert forterhalten
habe.« Aber seine Phantasie läßt nicht ab, sich mit dem Bilde zu
beschäftigen. Er findet etwas »Heutiges« darin, als ob der Künstler den
Anblick auf der Straße »nach dem Leben« festgehalten habe. Er verleiht
dem im Schreiten dargestellten Mädchen einen Namen: »Gradiva«, die
»Vorschreitende«; er fabuliert, sie sei gewiß die Tochter eines
vornehmen Hauses, vielleicht »eines patrizischen Aedilis, der sein Amt
im Namen der Ceres ausübte«, und befinde sich auf dem Wege zum Tempel
der Göttin. Dann widerstrebt es ihm, ihre ruhige stille Art in das
Getriebe einer Großstadt einzufügen, vielmehr erschafft er sich die
Überzeugung, daß sie nach Pompeji zu versetzen sei und dort irgendwo auf
den wieder ausgegrabenen eigentümlichen Trittsteinen schreite, die bei
regnerischem Wetter einen trockenen Übergang von einer Seite der Straße
zur anderen ermöglicht und doch auch Durchlaß für Wagenräder gestattet
hatten. Ihr Gesichtsschnitt dünkt ihm _griechischer_ Art, ihre
hellenische Abstammung unzweifelhaft; seine ganze Altertumswissenschaft
stellt sich allmählich in den Dienst dieser und anderer auf das Urbild
des Reliefs bezüglichen Phantasien.

Dann aber drängt sich ihm ein angeblich wissenschaftliches Problem auf,
das nach Erledigung verlangt. Es handelt sich für ihn um eine kritische
Urteilsabgabe, »ob der Künstler den Vorgang des Ausschreitens bei der
Gradiva dem Leben entsprechend wiedergegeben habe«. Er selbst vermag ihn
an sich nicht hervorzurufen; bei der Suche nach der »Wirklichkeit«
dieser Gangart gelangt er nun dazu, »zur Aufhellung der Sache selbst
Beobachtungen nach dem Leben anzustellen«. (G. p. 9.) Das nötigt ihn
allerdings zu einem ihm durchaus fremdartigen Tun. »Das weibliche
Geschlecht war bisher für ihn nur ein Begriff aus Marmor oder Erzguß
gewesen, und er hatte seinen zeitgenössischen Vertreterinnen desselben
niemals die geringste Beachtung geschenkt.« Pflege der Gesellschaft war
ihm immer nur als unabweisbare Plage erschienen; junge Damen, mit denen
er dort zusammentraf, sah und hörte er so wenig, daß er bei einer
nächsten Begegnung grußlos an ihnen vorüberging, was ihn natürlich in
kein günstiges Licht bei ihnen brachte. Nun aber nötigte ihn die
wissenschaftliche Aufgabe, die er sich gestellt, bei trockener,
besonders aber bei nasser Witterung eifrig nach den sichtbar werdenden
Füßen der Frauen und Mädchen auf der Straße zu schauen, welche Tätigkeit
ihm manchen unmutigen und manchen ermutigenden Blick der so Beobachteten
eintrug; »doch kam ihm das eine so wenig zum Verständnis wie das
andere«. (G. p. 10.) Als Ergebnis dieser sorgfältigen Studien mußte er
finden, daß die Gangart der Gradiva in der Wirklichkeit nicht
nachzuweisen war, was ihn mit Bedauern und Verdruß erfüllte.

Bald nachher hatte er einen schreckvoll beängstigenden Traum, der ihn in
das alte Pompeji am Tage des Vesuvausbruches versetzte und zum Zeugen
des Unterganges der Stadt machte. »Wie er so am Rande des Forums neben
dem Jupitertempel stand, sah er plötzlich in geringer Entfernung die
Gradiva vor sich; bis dahin hatte ihn kein Gedanke an ihr Hiersein
angerührt, jetzt aber ging ihm auf einmal und als natürlich auf, da sie
ja eine Pompejanerin sei, lebe sie in ihrer Vaterstadt und, _ohne daß
er's geahnt habe, gleichzeitig mit ihm_.« (G. p. 12.) Angst um das ihr
bevorstehende Schicksal entlockte ihm einen Warnruf, auf den die
gleichmütig fortschreitende Erscheinung ihm ihr Gesicht zuwendete. Sie
setzte aber dann unbekümmert ihren Weg bis zum Portikus des Tempels
fort, setzte sich dort auf eine Treppenstufe und legte langsam den Kopf
auf diese nieder, während ihr Gesicht sich immer blasser färbte, als ob
es sich zu weißem Marmor umwandle. Als er ihr nacheilte, fand er sie mit
ruhigem Ausdruck wie schlafend auf der breiten Stufe hingestreckt, bis
dann der Aschenregen ihre Gestalt begrub.

Als er erwachte, glaubte er noch das verworrene Geschrei der nach
Rettung suchenden Bewohner Pompejis und die dumpf dröhnende Brandung der
erregten See im Ohre zu haben. Aber auch nachdem die wiederkehrende
Besinnung diese Geräusche als die weckenden Lebensäußerungen der
lärmenden Großstadt erkannt hatte, behielt er für eine lange Zeit den
Glauben an die Wirklichkeit des Geträumten; als er sich endlich von der
Vorstellung frei gemacht, daß er selbst vor bald zwei Jahrtausenden dem
Untergang Pompejis beigewohnt, verblieb ihm doch wie eine wahrhafte
Überzeugung, daß die Gradiva in Pompeji gelebt und dort im Jahre 79 mit
verschüttet worden sei. Solche Fortsetzung fanden seine Phantasien über
die Gradiva durch die Nachwirkung dieses Traumes, daß er sie jetzt erst
wie eine Verlorene betrauerte.

Während er, von diesen Gedanken befangen, aus dem Fenster lehnte, zog
ein Kanarienvogel seine Aufmerksamkeit auf sich, der an einem
offenstehenden Fenster des Hauses gegenüber im Käfig sein Lied
schmetterte. Plötzlich durchfuhr etwas wie ein Ruck den, wie es scheint,
noch nicht völlig aus seinem Traum Erwachten. Er glaubte, auf der Straße
eine Gestalt wie die seiner Gradiva gesehen und selbst den für sie
charakteristischen Gang erkannt zu haben, eilte unbedenklich auf die
Straße, um sie einzuholen, und erst das Lachen und Spotten der Leute
über seine unschickliche Morgenkleidung trieb ihn rasch wieder in seine
Wohnung zurück. In seinem Zimmer war es wieder der singende
Kanarienvogel im Käfig, der ihn beschäftigte und ihn zum Vergleiche mit
seiner eigenen Person anregte. Auch er sitze wie im Käfig, fand er, doch
habe er es leichter, seinen Käfig zu verlassen. Wie in weiterer
Nachwirkung des Traumes, vielleicht auch unter dem Einflusse der linden
Frühlingsluft gestaltete sich in ihm der Entschluß einer Frühjahrsreise
nach Italien, für welche ein wissenschaftlicher Vorwand bald gefunden
wurde, wenn auch »der Antrieb zu dieser Reise ihm aus einer
unbenennbaren Empfindung entsprungen war«. (G. p. 24.)

Bei dieser merkwürdig locker motivierten Reise wollen wir einen Moment
Halt machen und die Persönlichkeit wie das Treiben unseres Helden näher
ins Auge fassen. Er erscheint uns noch unverständlich und töricht; wir
ahnen nicht, auf welchem Wege seine besondere Torheit sich mit der
Menschlichkeit verknüpfen wird, um unsere Teilnahme zu erzwingen. Es ist
das Vorrecht des Dichters, uns in solcher Unsicherheit belassen zu
dürfen; mit der Schönheit seiner Sprache, der Sinnigkeit seiner Einfälle
lohnt er uns vorläufig das Vertrauen, das wir ihm schenken, und die
Sympathie, die wir, noch unverdient, für seinen Helden bereithalten. Von
diesem teilt er uns noch mit, daß er schon durch die Familientradition
zum Altertumsforscher bestimmt, sich in seiner späteren Vereinsamung und
Unabhängigkeit ganz in seine Wissenschaft versenkt und ganz vom Leben
und seinen Genüssen abgewendet hat. Marmor und Bronze waren für sein
Gefühl das einzig wirklich Lebendige, den Zweck und Wert des
Menschenlebens zum Ausdruck Bringende. Doch hatte vielleicht in
wohlmeinender Absicht die Natur ihm ein Korrektiv durchaus
unwissenschaftlicher Art ins Blut gelegt, eine überaus lebhafte
Phantasie, die sich nicht nur in Träumen, sondern auch oft im Wachen zur
Geltung bringen konnte. Durch solche Absonderung der Phantasie vom
Denkvermögen mußte er zum Dichter oder zum Neurotiker bestimmt sein,
gehörte er jenen Menschen an, deren Reich nicht von dieser Welt ist. So
konnte es sich ihm ereignen, daß er mit seinem Interesse an einem
Reliefbild hängen blieb, welches ein eigentümlich schreitendes Mädchen
darstellte, daß er dieses mit seinen Phantasien umspann, ihm Namen und
Herkunft fabulierte, und die von ihm geschaffene Person in das vor mehr
als 1800 Jahren verschüttete Pompeji versetzte, endlich nach einem
merkwürdigen Angsttraum die Phantasie von der Existenz und dem Untergang
des Gradiva genannten Mädchens zu einem Wahn erhob, der auf sein Handeln
Einfluß gewann. Sonderbar und undurchsichtig würden uns diese Leistungen
der Phantasie erscheinen, wenn wir ihnen bei einem wirklich Lebenden
begegnen würden. Da unser Held Norbert Hanold ein Geschöpf des Dichters
ist, möchten wir etwa an diesen die schüchterne Frage richten, ob seine
Phantasie von anderen Mächten als von ihrer eigenen Willkür bestimmt
worden ist.

Unseren Helden hatten wir verlassen, als er sich anscheinend durch das
Singen eines Kanarienvogels zu einer Reise nach Italien bewegen ließ,
deren Motiv ihm offenbar nicht klar war. Wir erfahren weiter, daß auch
Ziel und Zweck dieser Reise ihm nicht feststand. Eine innere Unruhe und
Unbefriedigung treibt ihn von Rom nach Neapel und von da weiter weg. Er
gerät in den Schwarm der Hochzeitsreisenden und genötigt, sich mit den
zärtlichen »August« und »Grete« zu beschäftigen, findet er sich ganz
außer stande, das Tun und Treiben dieser Paare zu verstehen. Er kommt zu
dem Ergebnis, unter allen Torheiten der Menschen »nehme jedenfalls das
Heiraten, als die größte und unbegreiflichste, den obersten Rang ein,
und ihre sinnlosen Hochzeitsreisen nach Italien setzten gewissermaßen
dieser Narretei die Krone auf«. (G. p. 27.) In Rom durch die Nähe eines
zärtlichen Paares in seinem Schlaf gestört, flieht er alsbald nach
Neapel, nur um dort andere »August und Grete« wiederzufinden. Da er aus
deren Gesprächen zu entnehmen glaubt, daß die Mehrheit dieser Vogelpaare
nicht im Sinne habe, zwischen dem Schutt von Pompeji zu nisten, sondern
den Flug nach Capri zu richten, beschließt er, das zu tun, was sie nicht
täten, und befindet sich »wider Erwarten und Absicht« wenige Tage nach
seiner Abreise in Pompeji.

Ohne aber dort die Ruhe zu finden, die er gesucht. Die Rolle, welche bis
dahin die Hochzeitspaare gespielt, die sein Gemüt beunruhigt und seine
Sinne belästigt hatten, wird jetzt von den Stubenfliegen übernommen, in
denen er die Verkörperung des absolut Bösen und Überflüssigen zu
erblicken geneigt wird. Beiderlei Quälgeister verschwimmen ihm zu einer
Einheit; manche Fliegenpaare erinnern ihn an Hochzeitsreisende, reden
sich vermutlich in ihrer Sprache auch »mein einziger August« und »meine
süße Grete« an. Er kann endlich nicht umhin zu erkennen, »daß seine
Unbefriedigung nicht allein durch das um ihn herum Befindliche
verursacht werde, sondern etwas ihren Ursprung auch aus ihm selbst
schöpfe«. (G. p. 42.) Er fühlt, »daß er mißmutig sei, weil ihm etwas
fehle, ohne daß er sich aufhellen könne, was«.

Am nächsten Morgen begibt er sich durch den »Ingresso« nach Pompeji und
durchstreift nach Verabschiedung des Führers planlos die Stadt,
merkwürdigerweise ohne sich dabei zu erinnern, daß er vor einiger Zeit
im Traume bei der Verschüttung Pompejis zugegen gewesen. Als dann in der
»heißen, heiligen« Mittagsstunde, die ja den Alten als Geisterstunde
galt, die anderen Besucher sich geflüchtet haben, und die Trümmerhaufen
verödet und sonnenglanzübergossen vor ihm liegen, da regt sich in ihm
die Fähigkeit, sich in das versunkene Leben zurückzuversetzen, aber
nicht mit Hilfe der Wissenschaft. »Was diese lehrte, war eine leblose
archäologische Anschauung, und was ihr vom Mund kam, eine tote,
philologische Sprache. Die verhalfen zu keinem Begreifen mit der Seele,
dem Gemüt, dem Herzen, wie man's nennen wollte, sondern wer danach
Verlangen in sich trug, der mußte als einzig Lebendiger allein in der
heißen Mittagsstille hier zwischen den Überresten der Vergangenheit
stehen, um nicht mit den körperlichen Augen zu sehen und nicht mit den
leiblichen Ohren zu hören. Dann .... wachten die Toten auf und Pompeji
fing an, wieder zu leben.« (G. p. 55.)

Während er so die Vergangenheit mit seiner Phantasie belebt, sieht er
plötzlich die unverkennbare Gradiva seines Reliefs aus einem Hause
heraustreten und leichtbehend über die Lavatrittsteine zur anderen Seite
der Straße schreiten, ganz so, wie er sie im Traume jener Nacht gesehen,
als sie sich wie zum Schlafen auf die Stufen des Apollotempels hingelegt
hatte. »Und mit dieser Erinnerung zusammen kommt ihm noch etwas anderes
zum erstenmal zum Bewußtsein: Er sei, ohne selbst von dem Antrieb in
seinem Innern zu wissen, deshalb nach Italien und ohne Aufenthalt von
Rom und Neapel bis Pompeji weitergefahren, um danach zu suchen, ob er
hier Spuren von ihr auffinden könne. Und zwar im wörtlichen Sinne, denn
bei ihrer besonderen Gangart mußte sie in der Asche einen von allen
übrigen sich unterscheidenden Abdruck der Zehen hinterlassen haben.« (G.
p. 58.)

Die Spannung, in welcher der Dichter uns bisher erhalten hat, steigert
sich hier an dieser Stelle für einen Augenblick zu peinlicher
Verwirrung. Nicht nur, daß unser Held offenbar aus dem Gleichgewicht
geraten ist, auch wir finden uns angesichts der Erscheinung der Gradiva,
die bisher ein Stein- und dann ein Phantasiebild war, nicht zurecht.
Ist's eine Halluzination unseres vom Wahn betörten Helden, ein
»wirkliches« Gespenst oder eine leibhaftige Person? Nicht daß wir an
Gespenster zu glauben brauchten, um diese Reihe aufzustellen. Der
Dichter, der seine Erzählung ein »Phantasiestück« benannte, hat ja noch
keinen Anlaß gefunden uns aufzuklären, ob er uns in unserer, als
nüchtern verschrieenen, von den Gesetzen der Wissenschaft beherrschten
Welt belassen oder in eine andere phantastische Welt führen will, in der
Geistern und Gespenstern Wirklichkeit zugesprochen wird. Wie das
Beispiel des _Hamlet_, des _Macbeth_, beweist, sind wir ohne Zögern
bereit, ihm in eine solche zu folgen. Der Wahn des phantasievollen
Archäologen wäre in diesem Falle an einem anderen Maßstabe zu messen.
Ja, wenn wir bedenken, wie unwahrscheinlich die reale Existenz einer
Person sein muß, die in ihrer Erscheinung jenes antike Steinbild
getreulich wiederholt, so schrumpft unsere Reihe zu einer Alternative
ein: Halluzination oder Mittagsgespenst. Ein kleiner Zug der Schilderung
streicht dann bald die erstere Möglichkeit. Eine große Eidechse liegt
bewegungslos im Sonnenlicht ausgestreckt, die aber vor dem herannahenden
Fuß der Gradiva entflieht und sich über die Lavaplatten der Straße
davonringelt. Also keine Halluzination, etwas außerhalb der Sinne
unseres Träumers. Aber sollte die Wirklichkeit einer Rediviva eine
Eidechse stören können?

Vor dem Hause des Meleager verschwindet die Gradiva. Wir verwundern uns
nicht, daß Norbert Hanold seinen Wahn dahin fortsetzt, daß Pompeji in
der Mittagsgeisterstunde rings um ihn her wieder zu leben begonnen habe,
und so sei auch die Gradiva wieder aufgelebt und in das Haus gegangen,
das sie vor dem verhängnisvollen Augusttage des Jahres 79 bewohnt hatte.
Scharfsinnige Vermutungen über die Persönlichkeit des Eigentümers, nach
dem dies Haus benannt sein mochte, und über die Beziehung der Gradiva zu
ihm schießen durch seinen Kopf und beweisen, daß sich seine Wissenschaft
nun völlig in den Dienst seiner Phantasie begeben hat. Ins Innere dieses
Hauses eingetreten, entdeckt er die Erscheinung plötzlich wieder auf
niedrigen Stufen zwischen zweien der gelben Säulen sitzend. »Auf ihren
Knien lag etwas Weißes ausgebreitet, das sein Blick klar zu
unterscheiden nicht fähig war; ein Papyrusblatt schien's zu sein ....«
Unter den Voraussetzungen seiner letzten Kombination über ihre Herkunft
spricht er sie griechisch an, mit Zagen die Entscheidung erwartend, ob
ihr in ihrem Scheindasein wohl Sprachvermögen gegönnt sei. Da sie nicht
antwortet, vertauscht er die Anrede mit einer lateinischen. Da klingt es
von lächelnden Lippen: »Wenn Sie mit mir sprechen wollen, müssen Sie's
auf Deutsch tun.«

Welche Beschämung für uns, die Leser! So hat der Dichter also auch unser
gespottet und uns wie durch den Widerschein der Sonnenglut Pompejis in
einen kleinen Wahn gelockt, damit wir den Armen, auf den die wirkliche
Mittagssonne brennt, milder beurteilen müssen. Wir aber wissen jetzt,
von kurzer Verwirrung geheilt, daß die Gradiva ein leibhaftiges
deutsches Mädchen ist, was wir gerade als das Unwahrscheinlichste von
uns weisen wollten. In ruhiger Überlegenheit dürfen wir nun zuwarten,
bis wir erfahren, welche Beziehung zwischen dem Mädchen und ihrem Bild
in Stein besteht, und wie unser junger Archäologe zu den Phantasien
gelangt ist, die auf ihre reale Persönlichkeit hinweisen.

Nicht so rasch wie wir wird unser Held aus seinem Wahn gerissen, denn
»wenn der Glaube selig machte«, sagt der Dichter, »nahm er überall eine
erhebliche Summe von Unbegreiflichkeiten in den Kauf«, (G. p. 140) und
überdies hat dieser Wahn wahrscheinlich Wurzeln in seinem Innern, von
denen wir nichts wissen, und die bei uns nicht bestehen. Es bedarf wohl
bei ihm einer eingreifenden Behandlung, um ihn zur Wirklichkeit
zurückzuführen. Gegenwärtig kann er nicht anders, als den Wahn der eben
gemachten wunderbaren Erfahrung anpassen. Die Gradiva, die bei der
Verschüttung Pompejis mit untergegangen, kann nichts anderes sein als
ein Mittagsgespenst, das für die kurze Geisterstunde ins Leben
zurückkehrt. Aber warum entfährt ihm nach jener in deutscher Sprache
gegebenen Antwort der Ausruf: »Ich wußte es, so klänge deine Stimme«?
Nicht wir allein, auch das Mädchen selbst muß so fragen, und Hanold muß
zugeben, daß er die Stimme noch nie gehört, aber sie zu hören erwartet,
damals im Traum, als er sie anrief, während sie sich auf den Stufen des
Tempels zum Schlafen hinlegte. Er bittet sie, es wieder zu tun wie
damals, aber da erhebt sie sich, richtet ihm einen befremdenden Blick
entgegen und verschwindet nach wenigen Schritten zwischen den Säulen des
Hofes. Ein schöner Schmetterling hatte sie kurz vorher einigemal
umflattert; in seiner Deutung war es ein Bote des Hades gewesen, der die
Abgeschiedene an ihre Rückkehr mahnen sollte, da die Mittagsgeisterstunde
abgelaufen. Den Ruf: »Kehrst du morgen in der Mittagsstunde
wieder hieher?« kann Hanold der Verschwindenden noch nachsenden.
Uns aber, die wir uns jetzt mehr nüchterner Deutungen getrauen,
will es scheinen, als ob die junge Dame in der Aufforderung,
die Hanold an sie gerichtet, etwas Ungehöriges erblickte und ihn darum
beleidigt verließ, da sie doch von seinem Traum nichts wissen konnte.
Sollte ihr Feingefühl nicht die erotische Natur des Verlangens
herausgespürt haben, das sich für Hanold durch die Beziehung auf seinen
Traum motivierte?

Nach dem Verschwinden der Gradiva mustert unser Held sämtliche bei der
Tafel anwesenden Gäste des Hotels Diomède und darauf ebenso die des
Hotels Suisse und kann sich dann sagen, daß in keiner der beiden ihm
allein bekannten Unterkunftsstätten Pompejis eine Person zu finden sei,
die mit der Gradiva die entfernteste Ähnlichkeit besitze.
Selbstverständlich hätte er die Erwartung als widersinnig abgewiesen,
daß er die Gradiva wirklich in einer der beiden Wirtschaften antreffen
könne. Der auf dem heißen Boden des Vesuvs gekelterte Wein hilft dann
den Taumel verstärken, in dem er den Tag verbracht.

Vom nächsten Tage stand nur fest, daß Hanold wieder um die Mittagsstunde
im Hause des Meleager sein müsse, und diese Zeit erwartend, dringt er
auf einem nicht vorschriftsmäßigen Wege über die alte Stadtmauer in
Pompeji ein. Ein mit weißen Glockenkelchen behängter Asphodelosschaft
erscheint ihm als Blume der Unterwelt bedeutungsvoll genug, um ihn zu
pflücken und mit sich zu tragen. Die gesamte Altertumswissenschaft aber
dünkt ihm während seines Wartens das Zweckloseste und Gleichgültigste
von der Welt, denn ein anderes Interesse hat sich seiner bemächtigt, das
Problem: »von welcher Beschaffenheit die körperliche Erscheinung eines
Wesens wie der Gradiva sei, das zugleich tot, und, wenn auch nur in der
Mittagsgeisterstunde, lebendig war.« (G. p. 80.) Auch bangt er davor,
die Gesuchte heute nicht anzutreffen, weil ihr vielleicht die Wiederkehr
erst nach langen Zeiten verstattet sein könne, und hält ihre
Erscheinung, als er ihrer wieder zwischen den Säulen gewahr wird, für
ein Gaukelspiel seiner Phantasie, welches ihm den schmerzlichen Ausruf
entlockt: »O, daß du noch wärest und lebtest!« Allein diesmal war er
offenbar zu kritisch gewesen, denn die Erscheinung verfügt über eine
Stimme, die ihn fragt, ob er ihr die weiße Blume bringen wolle, und
zieht den wiederum Fassungslosen in ein langes Gespräch. Uns Lesern,
welchen die Gradiva bereits als lebende Persönlichkeit interessant
geworden ist, teilt der Dichter mit, daß das Unmutige und
Zurückweisende, das sich tags zuvor in ihrem Blick geäußert, einem
Ausdruck von suchender Neugier oder Wißbegierde gewichen war. Sie
forscht ihn auch wirklich aus, verlangt die Aufklärung seiner Bemerkung
vom vorigen Tag, wann er bei ihr gestanden, als sie sich zum Schlafen
hingelegt, erfährt so vom Traum, in dem sie mit ihrer Vaterstadt
untergegangen, dann vom Reliefbild und der Stellung des Fußes, die den
Archäologen so angezogen. Nun läßt sie sich auch bereit finden, ihren
Gang zu demonstrieren, wobei als einzige Abweichung vom Urbild der
Gradiva der Ersatz der Sandalen durch sandfarbig helle Schuhe von feinem
Leder festgestellt wird, den sie als Anpassung an die Gegenwart
aufklärt. Offenbar geht sie auf seinen Wahn ein, dessen ganzen Umfang
sie ihm entlockt, ohne je zu widersprechen. Ein einziges Mal scheint sie
durch einen eigenen Affekt aus ihrer Rolle gerissen zu werden, als er,
den Sinn auf ihr Reliefbild gerichtet, behauptet, daß er sie auf den
ersten Blick erkannt habe. Da sie an dieser Stelle des Gespräches noch
nichts von dem Relief weiß, muß ihr ein Mißverständnis der Worte Hanolds
nahe liegen, aber alsbald hat sie sich wieder gefaßt, und nur uns will
es scheinen, als ob manche ihrer Reden doppelsinnig klingen, außer ihrer
Bedeutung im Zusammenhang des Wahnes auch etwas Wirkliches und
Gegenwärtiges meinen, so z. B. wenn sie bedauert, daß ihm damals die
Feststellung der Gradivagangart auf der Straße nicht gelungen sei. »Wie
schade, du hättest vielleicht die weite Reise hieher nicht zu machen
gebraucht.« (G. p. 89.) Sie erfährt auch, daß er ihr Reliefbild
»Gradiva« benannt, und sagt ihm ihren wirklichen Namen Zoë. »Der Name
steht dir schön an, aber er klingt mir als ein bitterer Hohn, denn Zoë
heißt das Leben.« -- »Man muß sich in das Unabänderliche fügen«,
entgegnet sie, »und ich habe mich schon lange daran gewöhnt, tot zu
sein.« Mit dem Versprechen, morgen um die Mittagsstunde wieder an
demselben Orte zu sein, nimmt sie von ihm Abschied, nachdem sie sich
noch die Asphodelosstaude von ihm erbeten. »Solchen, die besser daran
sind, gibt man im Frühling Rosen, doch für mich ist die Blume der
Vergessenheit aus deiner Hand die richtige.« (G. p. 90.) Wehmut schickt
sich wohl für eine so lang Verstorbene, die nun auf kurze Stunden ins
Leben zurückgekehrt ist.

Wir fangen nun an zu verstehen und eine Hoffnung zu fassen. Wenn die
junge Dame, in deren Gestalt die Gradiva wieder aufgelebt ist, Hanolds
Wahn so voll aufnimmt, so tut sie es wahrscheinlich, um ihn von ihm zu
befreien. Es gibt keinen anderen Weg dazu; durch Widerspruch versperrte
man sich die Möglichkeit. Auch die ernsthafte Behandlung eines
wirklichen solchen Krankheitszustandes könnte nicht anders, als sich
zunächst auf den Boden des Wahngebäudes stellen und dieses dann
möglichst vollständig erforschen. Wenn Zoë die richtige Person dafür
ist, werden wir wohl erfahren, wie man einen Wahn wie den unseres Helden
heilt. Wir wollten auch gern wissen, wie ein solcher Wahn entsteht. Es
träfe sich sonderbar und wäre doch nicht ohne Beispiel und Gegenstück,
wenn Behandlung und Erforschung des Wahnes zusammenfielen und die
Aufklärung der Entstehungsgeschichte desselben sich gerade während
seiner Zersetzung ergäbe. Es ahnt uns freilich, daß unser Krankheitsfall
dann in eine »gewöhnliche« Liebesgeschichte auslaufen könnte, aber man
darf die Liebe als Heilpotenz gegen den Wahn nicht verachten, und war
unseres Helden Eingenommensein von seinem Gradivabild nicht auch eine
volle Verliebtheit, allerdings noch aufs Vergangene und Leblose
gerichtet?

Nach dem Verschwinden der Gradiva schallt es nur noch einmal aus der
Entfernung wie ein lachender Ruf eines über die Trümmerstadt
hinfliegenden Vogels. Der Zurückgebliebene nimmt etwas Weißes auf, das
die Gradiva zurückgelassen, kein Papyrusblatt, sondern ein Skizzenbuch
mit Bleistiftzeichnungen verschiedener Motive aus Pompeji. Wir würden
sagen, es sei ein Unterpfand ihrer Wiederkehr, daß sie das kleine Buch
an dieser Stelle vergessen, denn wir behaupten, man vergißt nichts ohne
geheimen Grund oder verborgenes Motiv.

Der Rest des Tages bringt unserem Hanold allerlei merkwürdige
Entdeckungen und Feststellungen, die er zu einem Ganzen zusammenzufügen
verabsäumt. In der Mauer des Portikus, wo die Gradiva verschwunden,
nimmt er heute einen schmalen Spalt gewahr, der doch breit genug ist, um
eine Person von ungewöhnlicher Schlankheit durchzulassen. Er erkennt,
die Zoë-Gradiva brauche hier nicht in den Boden zu versinken, was auch
so vernunftwidrig sei, daß er sich dieses nun abgelegten Glaubens
schämt, sondern sie benütze diesen Weg, um sich in ihre Gruft zu
begeben. Ein leichter Schatten scheint ihm am Ende der Gräberstraße vor
der sogen. Villa des Diomedes zu zergehen. Im Taumel wie am Vortage und
mit denselben Problemen beschäftigt, treibt er sich nun in der Umgebung
Pompejis herum. Von welcher leiblichen Beschaffenheit wohl die
Zoë-Gradiva sein möge, und ob man etwas verspüren würde, wenn man ihre
Hand berührte. Ein eigentümlicher Drang trieb ihn zum Vorsatze, dieses
Experiment zu unternehmen, und doch hielt ihn eine ebenso große Scheu
auch in der Vorstellung davon zurück. An einem heißbesonnten Abhange
traf er einen älteren Herrn, der nach seiner Ausrüstung ein Zoologe oder
Botaniker sein mußte und mit einem Fange beschäftigt schien. Der wandte
sich nach ihm um und sagte dann: »Interessieren Sie sich auch für die
Faraglionensis? Das hätte ich kaum vermutet, aber mir ist es durchaus
wahrscheinlich, daß sie sich nicht nur auf den Faraglionen bei Capri
aufhält, sondern sich mit Ausdauer auch am Festland finden lassen muß.
Das vom Kollegen _Eimer_ angegebene Mittel ist wirklich gut; ich habe es
schon mehrfach mit bestem Erfolge angewendet. Bitte, halten Sie sich
ganz ruhig --.« (G. p. 96.) Der Sprecher brach dann ab und hielt eine
aus einem langen Grashalm hergestellte Schlinge vor eine Felsritze, aus
der das bläulich schillernde Köpfchen einer Eidechse hervorsah. Hanold
verließ den Lacertenjäger mit der kritischen Idee, es sei kaum
glaublich, was für närrisch merkwürdige Vorhaben Leute zu der weiten
Fahrt nach Pompeji veranlassen konnten, in welche Kritik er sich und
seine Absicht, in der Asche Pompejis nach den Fußabdrücken der Gradiva
zu forschen, natürlich nicht einschloß. Das Gesicht des Herrn kam ihm
übrigens bekannt vor, als hätte er es flüchtig in einem der beiden
Gasthöfe bemerkt, auch war dessen Anrede wie an einen Bekannten
gerichtet gewesen. Auf seiner weiteren Wanderung brachte ihn ein
Seitenweg zu einem bisher von ihm nicht entdeckten Haus, welches sich
als ein drittes Wirtshaus, der »Albergo del Sole« herausstellte. Der
unbeschäftigte Wirt benützte die Gelegenheit, sein Haus und die darin
enthaltenen ausgegrabenen Schätze bestens zu empfehlen. Er behauptete,
daß er auch zugegen gewesen sei, als man in der Gegend des Forums das
junge Liebespaar aufgefunden, das sich bei der Erkenntnis des
unabwendbaren Unterganges fest mit den Armen umschlungen und so den Tod
erwartet habe. Davon hatte Hanold schon früher gehört und darüber als
über eine Fabelerfindung irgend eines phantasiereichen Erzählers die
Achsel gezuckt, aber heute erweckten die Reden des Wirtes bei ihm eine
Gläubigkeit, die sich auch weiter erstreckte, als dieser eine mit grüner
Patina überzogene Metallspange herbeiholte, die in seiner Gegenwart
neben den Überresten des Mädchens aus der Asche gesammelt worden sei. Er
erwarb diese Spange ohne weitere kritische Bedenken, und als er beim
Verlassen des Albergo an einem offenstehenden Fenster einen mit weißen
Blüten besetzten Asphodelosschaft herabnicken sah, durchdrang ihn der
Anblick der Gräberblume wie eine Beglaubigung für die Echtheit seines
neuen Besitztums.

Mit dieser Spange hatte aber ein neuer Wahn von ihm Besitz ergriffen
oder vielmehr der alte ein Stückchen Fortsetzung getrieben, anscheinend
kein gutes Vorzeichen für die eingeleitete Therapie. Unweit des Forums
hatte man ein junges Liebespaar in solcher Umschlingung ausgegraben, und
er hatte im Traume die Gradiva in eben dieser Gegend beim Apollotempel
sich zum Schlafe niederlegen gesehen. Wäre es nicht möglich, daß sie in
Wirklichkeit vom Forum noch weiter gegangen sei, um mit jemand
zusammenzutreffen, mit dem sie dann gemeinsam gestorben? Ein quälendes
Gefühl, das wir vielleicht der Eifersucht gleichstellen können,
entsprang aus dieser Vermutung. Er beschwichtigte es durch den Hinweis
auf die Unsicherheit der Kombination und brachte sich wieder so weit
zurecht, daß er die Abendmahlzeit im Hotel Diomède einnehmen konnte.
Zwei neueingetroffene Gäste, ein Er und eine Sie, die er nach einer
gewissen Ähnlichkeit für Geschwister halten mußte, -- trotz ihrer
verschiedenen Haarfärbung, -- zogen dort seine Aufmerksamkeit auf sich.
Die Beiden waren die ersten ihm auf seiner Reise Begegnenden, von denen
er einen sympathischen Eindruck empfing. Eine rote Sorrentiner Rose, die
das junge Mädchen trug, weckte irgend eine Erinnerung in ihm, er konnte
sich nicht besinnen, welche. Endlich ging er zu Bett und träumte; es war
merkwürdig unsinniges Zeug, aber offenbar aus den Erlebnissen des Tages
zusammengebraut. »Irgendwo in der Sonne saß die Gradiva, machte aus
einem Grashalm eine Schlinge, um eine Eidechse drin zu fangen und sagte
dazu: ›Bitte, halte dich ganz ruhig -- die Kollegin hat recht, das
Mittel ist wirklich gut und sie hat es mit bestem Erfolge angewendet.‹«
Gegen diesen Traum wehrte er sich noch im Schlafe mit der Kritik, das
sei ja vollständige Verrücktheit, und es gelang ihm, den Traum
loszuwerden mit Hilfe eines unsichtbaren Vogels, der einen kurzen
lachenden Ruf ausstieß und die Eidechse im Schnabel forttrug.

Trotz all dieses Spuks erwachte er eher geklärt und gefestigt. Ein
Rosenstrauch, der Blumen von jener Art trug, wie er sie gestern an der
Brust der jungen Dame bemerkt hatte, brachte ihm ins Gedächtnis zurück,
daß in der Nacht jemand gesagt hatte, im Frühling gäbe man Rosen. Er
pflückte unwillkürlich einige der Rosen ab, und an diese mußte sich
etwas knüpfen, was eine lösende Wirkung in seinem Kopf ausübte. Seiner
Menschenscheu erledigt, begab er sich auf dem gewöhnlichen Wege nach
Pompeji, mit den Rosen, der Metallspange und dem Skizzenbuch beschwert
und mit verschiedenen Problemen, welche die Gradiva betrafen,
beschäftigt. Der alte Wahn war rissig geworden, er zweifelte bereits, ob
sie sich nur in der Mittagsstunde, nicht auch zu anderen Zeiten in
Pompeji aufhalten dürfe. Der Akzent hatte sich dafür auf das zuletzt
angefügte Stück verschoben, und die an diesem hängende Eifersucht quälte
ihn in allerlei Verkleidungen. Beinahe hätte er gewünscht, daß die
Erscheinung nur seinen Augen sichtbar bleibe und sich der Wahrnehmung
anderer entziehe; so dürfte er sie doch als sein ausschließliches
Eigentum betrachten. Während seiner Streifungen im Erwarten der
Mittagsstunde hatte er eine überraschende Begegnung. In der Casa del
fauno traf er auf zwei Gestalten, die sich in einem Winkel unentdeckbar
glauben mochten, denn sie hielten sich mit den Armen umschlungen und
ihre Lippen zusammengeschlossen. Mit Verwunderung erkannte er in ihnen
das sympathische Paar von gestern abend. Aber für zwei Geschwister
bedünkten ihn ihr gegenwärtiges Verhalten, die Umarmung und der Kuß von
zu langer Andauer; also war es doch ein Liebes- und vermutlich junges
Hochzeitspaar, auch ein August und eine Grete. Merkwürdigerweise erregte
dieser Anblick jetzt nichts anderes als Wohlgefallen in ihm, und scheu,
als hätte er eine geheime Andachtsübung gestört, zog er sich ungesehen
zurück. Ein Respekt, der ihm lange gefehlt hatte, war in ihm
wiederhergestellt.

Vor dem Hause des Meleager angekommen, überfiel ihn die Angst, die
Gradiva in Gesellschaft eines Anderen anzutreffen, noch einmal so
heftig, daß er für ihre Erscheinung keine andere Begrüßung fand, als die
Frage: Bist du allein? Mit Schwierigkeit läßt er sich von ihr zum
Bewußtsein bringen, daß er die Rosen für sie gepflückt, beichtet ihr den
letzten Wahn, daß sie das Mädchen gewesen, das man am Forum in
Liebesumarmung gefunden, und dem die grüne Spange gehört hatte. Nicht
ohne Spott fragt sie, ob er das Stück etwa in der Sonne gefunden. Diese
-- hier Sole genannt -- bringe allerlei derart zu stande. Zur Heilung
des Schwindels im Kopfe, den er zugesteht, schlägt sie ihm vor, ihre
kleine Mahlzeit mit ihr zu teilen, und bietet ihm die eine Hälfte eines
in Seidenpapier eingewickelten Weißbrotes an, dessen andere sie selbst
mit sichtlichem Appetit verzehrt. Dabei blitzen ihre tadellosen Zähne
zwischen den Lippen auf und verursachen beim Durchbeißen der Rinde einen
leicht krachenden Ton. Auf ihre Rede: »Mir ist's, als hätten wir schon
vor zweitausend Jahren einmal so zusammen unser Brot gegessen. Kannst du
dich nicht darauf besinnen?« (G. p. 118) wußte er keine Antwort, aber
die Stärkung seines Kopfes durch das Nährmittel und all die Zeichen von
Gegenwärtigkeit, die sie gab, verfehlten ihre Wirkung auf ihn nicht. Die
Vernunft erhob sich in ihm und zog den ganzen Wahn, daß die Gradiva nur
ein Mittagsgespenst sei, in Zweifel; dagegen ließ sich freilich
einwenden, daß sie soeben selbst gesagt, sie habe schon vor zweitausend
Jahren die Mahlzeit mit ihm geteilt. In solchem Konflikt bot sich ein
Experiment als Mittel der Entscheidung, das er mit Schlauheit und
wiedergefundenem Mute ausführte. Ihre linke Hand lag mit den schmalen
Fingern ruhig auf ihren Knien, und eine der Stubenfliegen, über deren
Frechheit und Nutzlosigkeit er sich früher so entrüstet hatte, ließ sich
auf dieser Hand nieder. Plötzlich fuhr Hanolds Hand in die Höh' und
klatschte mit einem keineswegs gelinden Schlag auf die Fliege und die
Hand der Gradiva herunter.

Zweierlei Erfolg trug ihm dieser kühne Versuch ein, zunächst die
freudige Überzeugung, daß er eine unzweifelhaft wirkliche, lebendige und
warme Menschenhand berührt, dann aber einen Verweis, vor dem er
erschrocken von seinem Sitz auf der Stufe aufflog. Denn von den Lippen
der Gradiva tönte es, nachdem sie sich von ihrer Verblüffung erholt
hatte: »Du bist doch offenbar verrückt, Norbert Hanold.«

Der Ruf beim eigenen Namen ist bekanntlich das beste Mittel, einen
Schläfer oder Nachtwandler aufzuwecken. Welche Folgen die Nennung seines
Namens, von dem er niemand in Pompeji Mitteilung gemacht, durch die
Gradiva für Norbert Hanold mit sich gebracht hatte, ließ sich leider
nicht beobachten. Denn in diesem kritischen Augenblick tauchte das
sympathische Liebespaar aus der Casa di fauno auf, und die junge Dame
rief mit einem Ton fröhlicher Überraschung: »Zoë! du auch hier? Und auch
auf der Hochzeitsreise? Davon hast du mir ja kein Wort geschrieben!« Vor
diesem neuen Beweis der Lebenswirklichkeit der Gradiva ergriff Hanold
die Flucht.

Die Zoë-Gradiva war durch den unvorhergesehenen Besuch, der sie in
einer, wie es scheint, wichtigen Arbeit störte, auch nicht aufs
angenehmste überrascht. Aber bald gefaßt, beantwortet sie die Frage mit
einer geläufigen Antwortsrede, in der sie der Freundin, aber mehr noch
uns, Auskünfte über die Situation gibt, und mittels welcher sie sich des
jungen Paares zu entledigen weiß. Sie gratuliert, aber sie ist nicht auf
der Hochzeitsreise. »Der junge Herr, der eben fortging, laboriert auch
an einem merkwürdigen Hirngespinst, mir scheint, er glaubt, daß ihm eine
Fliege im Kopfe summt; nun, irgend eine Kerbtierart hat wohl Jeder drin.
Pflichtmäßig verstehe ich mich etwas auf Entomologie und kann deshalb
bei solchen Zuständen ein bißchen von Nutzen sein. Mein Vater und ich
wohnen im Sole, er bekam auch einen plötzlichen Anfall und dazu den
guten Einfall, mich mit hieher zu nehmen, wenn ich mich auf meine eigene
Hand in Pompeji unterhalten und an ihn keinerlei Anforderungen stellen
wollte. Ich sagte mir, irgend etwas Interessantes würde ich wohl schon
allein hier ausgraben. Freilich, auf den Fund, den ich gemacht, -- ich
meine das Glück, dich zu treffen, Gisa, hatte ich mit keinem Gedanken
gerechnet.« (G. p. 124.) Aber nun muß sie eilig fort, ihrem Vater am
Sonnentisch Gesellschaft leisten. Und so entfernt sie sich, nachdem sie
sich uns als die Tochter des Zoologen und Eidechsenfängers vorgestellt
und in allerlei doppelsinnigen Reden sich zur Absicht der Therapie und
zu anderen geheimen Absichten bekannt hat. Die Richtung, die sie
einschlug, war aber nicht die des Gasthofes zur Sonne, in dem ihr Vater
sie erwartete, sondern auch ihr wollte scheinen, als ob in der Umgegend
der Villa des Diomedes eine Schattengestalt ihren Tumulus aufsuche und
unter einem der Gräberdenkmäler verschwinde, und darum richtete sie ihre
Schritte mit dem jedesmal beinahe senkrecht aufgestellten Fuß nach der
Gräberstraße. Dorthin hatte sich in seiner Beschämung und Verwirrung
Hanold geflüchtet und wanderte im Portikus des Gartenraumes unablässig
auf und ab, beschäftigt, den Rest seines Problems durch Denkanstrengung
zu erledigen. Eines war ihm unanfechtbar klar geworden, daß er völlig
ohne Sinn und Verstand gewesen zu glauben, daß er mit einer mehr oder
weniger leiblich wieder lebendig gewordenen jungen Pompejanerin verkehrt
habe, und diese deutliche Einsicht seiner Verrücktheit bildete
unstreitig einen wesentlichen Fortschritt auf dem Rückweg zur gesunden
Vernunft. Aber anderseits war diese Lebende, mit der auch Andere wie mit
einer ihnen gleichartigen Leibhaftigkeit verkehrten, die Gradiva, und
sie wußte seinen Namen, und dieses Rätsel zu lösen, war seine kaum
erwachte Vernunft nicht stark genug. Auch war er im Gefühl kaum ruhig
genug, um sich solcher schwierigen Aufgabe gewachsen zu zeigen, denn am
liebsten wäre er vor zweitausend Jahren in der Villa des Diomedes
mitverschüttet worden, um nur sicher zu sein, der Zoë-Gradiva nicht
wieder zu begegnen.

Eine heftige Sehnsucht, sie wiederzusehen, stritt indessen gegen den
Rest von Neigung zur Flucht, der sich in ihm erhalten hatte.

Um eine der vier Ecken des Pfeilerganges biegend, prallte er plötzlich
zurück. Auf einem abgebrochenen Mauerstücke saß da eines der Mädchen,
die hier in der Villa des Diomedes ihren Tod gefunden hatten. Aber das
war ein bald abgewiesener letzter Versuch, in das Reich des Wahnsinns zu
flüchten; nein, die Gradiva war es, die offenbar gekommen war, ihm das
letzte Stück ihrer Behandlung zu schenken. Sie deutete seine erste
instinktive Bewegung ganz richtig als einen Versuch, den Raum zu
verlassen, und bewies ihm, daß er nicht entrinnen könne, denn draußen
hatte ein fürchterlicher Wassersturz zu rauschen begonnen. Die
Unbarmherzige begann das Examen mit der Frage, was er mit der Fliege auf
ihrer Hand gewollt. Er fand nicht den Mut, sich eines bestimmten
Pronomens zu bedienen, wohl aber den wertvolleren, die entscheidende
Frage zu stellen:

»Ich war -- wie jemand sagte -- etwas verwirrt im Kopf und bitte um
Verzeihung, daß ich die Hand derartig -- wie ich so sinnlos sein konnte,
ist mir nicht begreiflich -- aber ich bin auch nicht im stande, zu
begreifen, wie ihre Besitzerin mir meine -- meine Unvernunft mit meinem
Namen vorhalten konnte.« (G. p. 134.)

»So weit ist dein Begreifen also noch nicht vorgeschritten, Norbert
Hanold. Wunder nehmen kann's mich allerdings nicht, da du mich lange
daran gewöhnt hast. Um die Erfahrung wieder zu machen, hätte ich nicht
nach Pompeji zu kommen gebraucht, und du hättest sie mir um gut hundert
Meilen näher bestätigen können.«

»Um hundert Meilen näher; deiner Wohnung schräg gegenüber, in dem
Eckhaus; an meinem Fenster steht ein Käfig mit einem Kanarienvogel,«
eröffnet sie jetzt dem noch immer Verständnislosen.

Dies letzte Wort berührt den Hörer wie eine Erinnerung aus einer weiten
Ferne. Das ist doch derselbe Vogel, dessen Gesang ihm den Entschluß zur
Reise nach Italien eingegeben.

»In dem Hause wohnt mein Vater, der Professor der Zoologie _Richard
Bertgang_.«

Als seine Nachbarin kannte sie also seine Person und seinen Namen. Uns
droht es wie eine Enttäuschung durch eine seichte Lösung, die unserer
Erwartungen nicht würdig ist.

Norbert Hanold zeigt noch keine wiedergewonnene Selbständigkeit des
Denkens, wenn er wiederholt: »Dann sind Sie -- sind Sie Fräulein Zoë
_Bertgang_? Die sah aber doch ganz anders aus ....«

Die Antwort des Fräuleins _Bertgang_ zeigt dann, daß doch noch andere
Beziehungen als die der Nachbarschaft zwischen den beiden bestanden
hatten. Sie weiß für das trauliche »du« einzutreten, das er dem
Mittagsgespenst natürlich geboten, vor der Lebenden wieder zurückgezogen
hatte, auf das sie aber alte Rechte geltend macht. »Wenn du die Anrede
passender zwischen uns findest, kann ich sie ja auch anwenden, mir lag
nur die andere natürlicher auf der Zunge. Ich weiß nicht mehr, ob ich
früher, als wir täglich freundschaftlich miteinander herumliefen,
gelegentlich uns zur Abwechslung auch knufften und pufften, anders
ausgesehen habe. Aber wenn Sie in den letzten Jahren einmal mit einem
Blick auf mich Acht gegeben hätten, wäre Ihren Augen vielleicht
aufgegangen, daß ich schon seit längerer Zeit so aussehe.«

Eine Kinderfreundschaft hatte also zwischen den beiden bestanden,
vielleicht eine Kinderliebe, aus der das »Du« seine Berechtigung
ableitete. Ist diese Lösung nicht vielleicht ebenso seicht wie die erst
vermutete? Es trägt aber doch wesentlich zur Vertiefung bei, daß uns
einfällt, dies Kinderverhältnis erkläre in unvermuteter Weise so manche
Einzelheit von dem, was während ihres jetzigen Verkehrs zwischen den
Beiden vorgefallen. Jener Schlag auf die Hand der Zoë-Gradiva, den sich
Norbert Hanold so vortrefflich mit dem Bedürfnis motiviert, durch eine
experimentelle Entscheidung die Frage nach der Leiblichkeit der
Erscheinung zu lösen, sieht er nicht anderseits einem Wiederaufleben des
Impulses zum »Knuffen und Puffen« merkwürdig ähnlich, dessen Herrschaft
in der Kindheit uns die Worte Zoës bezeugt haben? Und wenn die Gradiva
an den Archäologen die Frage gerichtet, ob ihm nicht vorkomme, daß sie
schon einmal vor zweitausend Jahren so die Mahlzeit miteinander geteilt
hätten, wird diese unverständliche Frage nicht plötzlich sinnvoll, wenn
wir anstatt jener geschichtlichen Vergangenheit die persönliche
einsetzen, die Kinderzeit wiederum, deren Erinnerungen bei dem Mädchen
lebhaft erhalten, bei dem jungen Manne aber vergessen zu sein scheinen?
Dämmert uns nicht plötzlich die Einsicht, daß die Phantasien des jungen
Archäologen über seine Gradiva ein Nachklang dieser vergessenen
Kindheitserinnerungen sein könnten? Dann wären sie also keine
willkürlichen Produktionen seiner Phantasie, sondern bestimmt, ohne daß
er darum wüßte, durch das von ihm vergessene, aber noch wirksam in ihm
vorhandene Material von Kindheitseindrücken. Wir müßten diese Abkunft
der Phantasien im einzelnen nachweisen können, wenn auch nur durch
Vermutungen. Wenn z. B. die Gradiva durchaus _griechischer_ Abkunft sein
muß, die Tochter eines angesehenen Mannes, vielleicht eines Priesters
der Ceres, so stimmte das nicht übel zu einer Nachwirkung der Kenntnis
ihres griechischen Namens _Zoë_ und ihrer Zugehörigkeit zur Familie
eines Professors der Zoologie. Sind aber die Phantasien Hanolds
umgewandelte Erinnerungen, so dürfen wir erwarten, in den Mitteilungen
der Zoë Bertgang den Hinweis auf die Quellen dieser Phantasien zu
finden. Horchen wir auf; sie erzählte uns von einer intimen Freundschaft
der Kinderjahre, wir werden nun erfahren, welche weitere Entwicklung
diese Kinderbeziehung bei den Beiden genommen hat.

»Damals, so bis um die Zeit, in der man uns, ich weiß nicht weshalb,
Backfische tituliert, hatte ich mir eigentlich eine merkwürdige
Anhänglichkeit an Sie angewöhnt und glaubte, ich könnte nie einen mir
angenehmeren Freund auf der Welt finden. Mutter und Schwester oder
Bruder hatte ich ja nicht, meinem Vater war eine Blindschleiche in
Spiritus bedeutend interessanter als ich, und etwas muß man, wozu ich
auch ein Mädchen rechne, wohl haben, womit man seine Gedanken und was
sonst mit ihnen zusammenhängt, beschäftigen kann. Das waren also Sie
damals; doch als die Altertumswissenschaft über Sie gekommen war, machte
ich die Entdeckung, daß aus dir -- entschuldigen Sie, aber Ihre
schickliche Neuerung klingt mir doch zu abgeschmackt und paßt auch nicht
zu dem, was ich ausdrücken will -- ich wollte sagen, da stellte sich
heraus, daß aus dir ein unausstehlicher Mensch geworden war, der,
wenigstens für mich, keine Augen mehr im Kopf, keine Zunge mehr im Mund
und keine Erinnerung mehr da hatte, wo sie mir an unsere
Kinderfreundschaft sitzen geblieben war. Darum sah ich wohl anders aus
als früher, denn wenn ich ab und zu in einer Gesellschaft mit dir
zusammenkam, noch im letzten Winter einmal, sahst du mich nicht, und
noch weniger bekam ich deine Stimme zu hören, worin übrigens keine
Auszeichnung für mich lag, weil du's mit allen Andern ebenso machtest.
Ich war Luft für dich, und du warst, mit deinem blonden Haarschopf, an
dem ich dich früher oft gezaust, so langweilig, vertrocknet und mundfaul
wie ein ausgestopfter Kakadu und dabei so großartig wie ein --
_Archäopteryx_ heißt das ausgegrabene vorsintflutliche Vogelungetüm ja
wohl. Nur daß dein Kopf eine ebenfalls so großartige Phantasie
beherbergte, hier in Pompeji mich auch für etwas Ausgegrabenes und
wieder lebendig Gewordenes anzusehen, -- das hatte ich nicht bei dir
vermutet, und als du auf einmal ganz unerwartet vor mir standest,
kostete es mich zuerst ziemliche Mühe, dahinter zu kommen, was für ein
unglaubliches Hirngespinst deine Einbildung sich zurechtgearbeitet
hatte. Dann machte mir's Spaß und gefiel mir auch trotz seiner
Tollhäusigkeit nicht so übel. Denn, wie gesagt, das hatte ich bei dir
nicht vermutet.«

So sagt sie uns also deutlich genug, was aus der Kinderfreundschaft mit
den Jahren bei ihnen Beiden geworden war. Bei ihr steigerte sich
dieselbe zu einer herzlichen Verliebtheit, denn etwas muß man ja haben,
woran man als Mädchen sein Herz hängt. Fräulein Zoë, die Verkörperung
der Klugheit und Klarheit, macht uns auch ihr Seelenleben ganz
durchsichtig. Wenn es schon allgemeine Regel für das normal geartete
Mädchen ist, daß sie ihre Neigung zunächst dem Vater zuwende, so war sie
ganz besonders dazu bereit, die keine andere Person als den Vater in
ihrer Familie fand. Dieser Vater aber hatte für sie nichts übrig, die
Objekte seiner Wissenschaft hatten all sein Interesse mit Beschlag
belegt. So mußte sie nach einer anderen Person Umschau halten und hing
sich mit besonderer Innigkeit an ihren Jugendgespielen. Als auch dieser
keine Augen mehr für sie hatte, störte es ihre Liebe nicht, steigerte
sie vielmehr, denn er war ihrem Vater gleich geworden, wie dieser von
der Wissenschaft absorbiert und durch sie vom Leben und von Zoë
ferngehalten. So war es ihr gestattet, in der Untreue noch treu zu sein,
im Geliebten den Vater wiederzufinden, mit dem gleichen Gefühl die
Beiden zu umfassen oder, wie wir sagen können, die Beiden in ihrem
Fühlen zu identifizieren. Woher nehmen wir die Berechtigung zu dieser
kleinen psychologischen Analyse, die leicht als selbstherrlich
erscheinen könnte? In einem einzigen, aber höchst charakteristischen
Detail hat sie der Dichter uns gegeben. Wenn Zoë die für sie so
betrübende Verwandlung ihres Jugendgespielen schildert, so beschimpft
sie ihn durch einen Vergleich mit dem Archäopteryx, jenem Vogelungetüm,
das der Archäologie der Zoologie angehört. So hat sie für die
Identifizierung der beiden Personen einen einzigen konkreten Ausdruck
gefunden; ihr Groll trifft den Geliebten wie den Vater mit demselben
Worte. Der Archäopteryx ist sozusagen die Kompromiß- oder
Mittelvorstellung, in welcher der Gedanke an die Torheit ihres Geliebten
mit dem an die analoge ihres Vaters zusammenkommt.

Anders hatte es sich bei dem jungen Manne gewendet. Die
Altertumswissenschaft kam über ihn und ließ ihm nur Interesse für Weiber
aus Stein und Bronze übrig. Die Kinderfreundschaft ging unter, anstatt
sich zu einer Leidenschaft zu verstärken, und die Erinnerungen an sie
gerieten in so tiefe Vergessenheit, daß er seine Jugendgenossin nicht
erkannte und nicht beachtete, wenn er sie in der Gesellschaft traf.
Zwar, wenn wir das weitere überblicken, dürfen wir in Zweifel ziehen, ob
»Vergessenheit« die richtige psychologische Bezeichnung für das
Schicksal dieser Erinnerungen bei unserem Archäologen ist. Es gibt eine
Art von Vergessen, welche sich durch die Schwierigkeit auszeichnet, mit
welcher die Erinnerung auch durch starke äußere Anrufungen erweckt wird,
als ob ein innerer Widerstand sich gegen deren Wiederbelebung sträubte.
Solches Vergessen hat den Namen »Verdrängung« in der Psychopathologie
erhalten; der Fall, den unser Dichter uns vorgeführt, scheint ein
solches Beispiel von Verdrängung zu sein. Nun wissen wir ganz allgemein
nicht, ob das Vergessen eines Eindruckes mit dem Untergang von dessen
Erinnerungsspur im Seelenleben verbunden ist; von der »Verdrängung«
können wir aber mit Bestimmtheit behaupten, daß sie nicht mit dem
Untergang, dem Auslöschen der Erinnerung zusammenfällt. Das Verdrängte
kann zwar in der Regel sich nicht ohne weiteres als Erinnerung
durchsetzen, aber es bleibt leistungs- und wirkungsfähig, es läßt eines
Tages unter dem Einfluß einer äußeren Einwirkung psychische Abfolgen
entstehen, die man als Verwandlungsprodukte und Abkömmlinge der
vergessenen Erinnerung auffassen kann, und die unverständlich bleiben,
wenn man sie nicht so auffaßt. In den Phantasien Norbert Hanolds über
die Gradiva glaubten wir bereits die Abkömmlinge seiner verdrängten
Erinnerungen an seine Kinderfreundschaft mit der Zoë Bertgang zu
erkennen. Mit besonderer Gesetzmäßigkeit darf man eine derartige
Wiederkehr des Verdrängten erwarten, wenn an den verdrängten Eindrücken
das erotische Fühlen eines Menschen haftet, wenn sein Liebesleben von
der Verdrängung betroffen worden ist. Dann behält der alte lateinische
Spruch recht, der vielleicht ursprünglich auf Austreibung durch äußere
Einflüsse, nicht auf innere Konflikte gemünzt ist: Naturam furca
expellas, semper redibit. Aber er sagt nicht alles, kündigt nur die
Tatsache der Wiederkehr des Stückes verdrängter Natur an, und beschreibt
nicht die höchst merkwürdige Art dieser Wiederkehr, die sich wie durch
einen tückischen Verrat vollzieht. Gerade dasjenige, was zum Mittel der
Verdrängung gewählt worden ist -- wie die »furca« des Spruches --, wird
der Träger des Wiederkehrenden; in und hinter dem Verdrängenden macht
sich endlich siegreich das Verdrängte geltend. Eine bekannte Radierung
von _Félicien Rops_ illustriert diese wenig beachtete und der Würdigung
so sehr bedürftige Tatsache eindrucksvoller, als viele Erläuterungen es
vermöchten, und zwar an dem vorbildlichen Falle der Verdrängung im Leben
der Heiligen und Büßer. Ein asketischer Mönch hat sich -- gewiß vor den
Versuchungen der Welt -- zum Bild des gekreuzigten Erlösers geflüchtet.
Da sinkt dieses Kreuz schattenhaft nieder und strahlend erhebt sich an
seiner Stelle, zu seinem Ersatze, das Bild eines üppigen nackten Weibes
in der gleichen Situation der Kreuzigung. Andere Maler von geringerem
psychologischen Scharfblick haben in solchen Darstellungen der
Versuchung die Sünde frech und triumphierend an irgend eine Stelle neben
dem Erlöser am Kreuze gewiesen. _Rops_ allein hat sie den Platz des
Erlösers selbst am Kreuze einnehmen lassen; er scheint gewußt zu haben,
daß das Verdrängte bei seiner Wiederkehr aus dem Verdrängenden selbst
hervortritt.

Es ist des Verweilens wert, sich in Krankheitsfällen zu überzeugen, wie
feinfühlig im Zustande der Verdrängung das Seelenleben eines Menschen
für die Annäherung des Verdrängten wird, und wie leise und geringfügige
Ähnlichkeiten genügen, damit dasselbe hinter dem Verdrängenden und durch
dieses zur Wirkung gelange. Ich hatte einmal Anlaß, mich ärztlich um
einen jungen Mann, fast noch Knaben, zu kümmern, der nach der ersten
unerwünschten Kenntnisnahme von den sexuellen Vorgängen die Flucht vor
allen in ihm aufsteigenden Gelüsten ergriffen hatte und sich
verschiedener Mittel der Verdrängung dazu bediente, seinen Lerneifer
steigerte, die kindliche Anhänglichkeit an die Mutter übertrieb und im
ganzen ein kindisches Wesen annahm. Ich will hier nicht ausführen, wie
gerade im Verhältnis zur Mutter die verdrängte Sexualität wieder
durchdrang, sondern den selteneren und fremdartigeren Fall beschreiben,
wie ein anderes seiner Bollwerke bei einem kaum als zureichend zu
erkennenden Anlasse zusammenbrach. Als Ablenkung vom Sexuellen genießt
die Mathematik den größten Ruf; schon _J. J. Rousseau_ hatte sich von
einer Dame, die mit ihm unzufrieden war, raten lassen müssen: Lascia le
donne e studia la matematica. So warf sich auch unser Flüchtling mit
besonderem Eifer auf die in der Schule gelehrte Mathematik und
Geometrie, bis seine Fassungskraft eines Tages plötzlich vor einigen
scheinbar harmlosen Aufgaben erlahmte. Von zweien dieser Aufgaben ließ
sich noch der Wortlaut feststellen: Zwei Körper stoßen aufeinander, der
eine mit der Geschwindigkeit ... u. s. w. -- Und: Einem Zylinder vom
Durchmesser der Grundfläche m ist ein Kegel einzuschreiben u. s. w. Bei
diesen für einen anderen gewiß nicht auffälligen Anspielungen an das
sexuelle Geschehen fand er sich auch von der Mathematik verraten und
ergriff auch vor ihr die Flucht.

Wenn Norbert Hanold eine aus dem Leben geholte Persönlichkeit wäre, die
so die Liebe und die Erinnerung an seine Kinderfreundschaft durch die
Archäologie vertrieben hätte, so wäre es nur gesetzmäßig und korrekt,
daß gerade ein antikes Relief die vergessene Erinnerung an die mit
kindlichen Gefühlen Geliebte in ihm erweckt; es wäre sein wohlverdientes
Schicksal, daß er sich in das Steinbild der Gradiva verliebt, hinter
welchem vermöge einer nicht aufgeklärten Ähnlichkeit die lebende und von
ihm vernachlässigte Zoë zur Wirkung kommt.

Fräulein Zoë scheint selbst unsere Auffassung von dem Wahn des jungen
Archäologen zu teilen, denn das Wohlgefallen, dem sie am Ende ihrer
»rückhaltlosen, ausführlichen und lehrreichen Strafrede« Ausdruck
gegeben, läßt sich kaum anders als durch die Bereitwilligkeit begründen,
sein Interesse für die Gradiva von allem Anfang an auf ihre Person zu
beziehen. Dieses war es eben, was sie ihm nicht zugetraut hatte, und was
sie trotz aller Wahnverkleidung doch als solches erkannte. An ihm aber
hatte nun die psychische Behandlung von ihrer Seite ihre wohltätige
Wirkung vollbracht; er fühlte sich frei, da nun der Wahn durch dasjenige
ersetzt war, wovon er doch nur eine entstellte und ungenügende Abbildung
sein konnte. Er zögerte jetzt auch nicht, sich zu erinnern und sie als
seine gute, fröhliche, klugsinnige Kameradin zu erkennen, die sich im
Grunde gar nicht verändert habe. Aber etwas anderes fand er höchst
sonderbar --

»Daß jemand erst sterben muß, um lebendig zu werden«, meinte das
Mädchen. »Aber für die Archäologen ist das wohl notwendig.« (G. p. 141.)
Sie hatte ihm offenbar den Umweg noch nicht verziehen, den er von der
Kinderfreundschaft bis zu dem neu sich knüpfenden Verhältnis über die
Altertumswissenschaft eingeschlagen hatte.

»Nein, ich meine dein Name ... Weil _Bertgang_ mit _Gradiva_
gleichbedeutend ist und ›die im Schreiten Glänzende‹ bezeichnet.« (G.
p. 142.)

Darauf waren nun auch wir nicht vorbereitet. Unser Held beginnt sich aus
seiner Demütigung zu erheben und eine aktive Rolle zu spielen. Er ist
offenbar von seinem Wahn völlig geheilt, über ihn erhoben, und beweist
dies, indem er die letzten Fäden des Wahngespinstes selbständig
zerreißt. Genau so benehmen sich auch die Kranken, denen man den Zwang
ihrer wahnhaften Gedanken durch Aufdeckung des dahintersteckenden
Verdrängten gelockert hat. Haben sie begriffen, so bringen sie für die
letzten und bedeutsamsten Rätsel ihres sonderbaren Zustandes selbst die
Lösungen in plötzlich auftauchenden Einfällen. Wir hatten ja bereits
vermutet, daß die griechische Abkunft der fabelhaften Gradiva eine
dunkle Nachwirkung des griechischen Namens Zoë sei, aber an den Namen
»Gradiva« selbst hatten wir uns nicht herangewagt, ihn hatten wir als
freie Schöpfung der Phantasie Norbert Hanolds gelten lassen. Und siehe
da, gerade dieser Name erweist sich nun als Abkomme, ja eigentlich als
Übersetzung des verdrängten Familiennamens der angeblich vergessenen
Kindergeliebten!

Die Herleitung und die Auflösung des Wahnes sind nun vollendet. Was noch
beim Dichter folgt, darf wohl dem harmonischen Abschluß der Erzählung
dienen. Es kann uns im Hinblick auf Zukünftiges nur wohltuend berühren,
wenn die Rehabilitierung des Mannes, der früher eine so klägliche Rolle
als Heilungsbedürftiger spielen mußte, weiterschreitet und es ihm nun
gelingt, etwas von den Affekten, die er bisher erduldet, bei ihr zu
erwecken. So trifft es sich, daß er sie eifersüchtig macht durch die
Erwähnung der sympathischen jungen Dame, die vorhin ihr Beisammensein im
Hause des Meleager gestört, und durch das Geständnis, daß diese die
erste gewesen, die ihm vortrefflich gefallen hat. Wenn Zoë dann einen
kühlen Abschied mit der Bemerkung nehmen will: jetzt sei ja alles wieder
zur Vernunft gekommen, sie selbst nicht am wenigsten; er könne _Gisa
Hartleben_, oder wie sie jetzt heiße, wieder aufsuchen, um ihr bei dem
Zweck ihres Aufenthaltes in Pompeji wissenschaftlich behilflich zu sein;
sie aber müsse jetzt in den Albergo del Sole, wo der Vater mit dem
Mittagessen auf sie wartet; vielleicht sähen sie sich beide noch einmal
in einer Gesellschaft in Deutschland oder auf dem Monde: so mag er
wieder die lästige Fliege zum Vorwand nehmen, um sich zuerst ihrer Wange
und dann ihrer Lippen zu bemächtigen und die Aggression, die nun einmal
Pflicht des Mannes im Liebesspiel ist, ins Werk zu setzen. Ein einziges
Mal noch scheint ein Schatten auf ihr Glück zu fallen, als Zoë mahnt,
jetzt müsse sie aber wirklich zu ihrem Vater, der sonst im Sole
verhungert. »Dein Vater -- was wird der --?« (G. p. 147.) Aber das kluge
Mädchen weiß die Sorge rasch zu beschwichtigen: »Wahrscheinlich wird er
nichts, ich bin kein unentbehrliches Stück in seiner zoologischen
Sammlung; wär' ich das, hätte sich mein Herz vielleicht nicht so unklug
an dich gehängt.« Sollte der Vater aber ausnahmsweise anderer Meinung
sein wollen als sie, so gäbe es ein sicheres Mittel. Hanold brauchte nur
nach Capri hinüberzufahren, dort eine Lacerta faraglionensis zu fangen,
wofür er die Technik an ihrem kleinen Finger einüben könne, das Tier
dann hier freizulassen, vor den Augen des Zoologen wieder einzufangen
und ihm die Wahl zu lassen zwischen der Faraglionensis auf dem Festlande
und der Tochter. Ein Vorschlag, in dem der Spott, wie man leicht merkt,
mit Bitterkeit vermengt ist, eine Mahnung gleichsam an den Bräutigam,
sich nicht allzu getreu an das Vorbild zu halten, nach dem ihn die
Geliebte ausgewählt hat. Norbert Hanold beruhigt uns auch hierüber,
indem er die große Umwandlung, die mit ihm vorgefallen ist, in allerlei
scheinbar kleinen Anzeichen zum Ausdruck bringt. Er spricht den Vorsatz
aus, die Hochzeitsreise mit seiner Zoë nach Italien und nach Pompeji zu
machen, als hätte er sich niemals über die Hochzeitsreisenden August und
Grete entrüstet. Es ist ihm ganz aus dem Gedächtnis geschwunden, was er
gegen diese glücklichen Paare gefühlt, die sich so überflüssigerweise
mehr als hundert Meilen von ihrer deutschen Heimat entfernt haben. Gewiß
hat der Dichter recht, wenn er solche Gedächtnisschwächung als das
wertvollste Zeichen einer Sinnesänderung aufführt. Zoë erwidert auf den
kundgegebenen Reisezielwunsch ihres »_gewissermaßen gleichfalls aus der
Verschüttung wieder ausgegrabenen Kindheitsfreundes_« (G. p. 150), sie
fühle sich zu solcher geographischen Entscheidung doch noch nicht völlig
lebendig genug.

Die schöne Wirklichkeit hat nun den Wahn besiegt, doch harrt des
letzteren, ehe die Beiden Pompeji verlassen, noch eine Ehrung. An dem
Herkulestor angekommen, wo am Anfang der Strada consolare alte
Trittsteine die Straße überkreuzen, hält Norbert Hanold an und bittet
das Mädchen voranzugehen. Sie versteht ihn, »und mit der Linken das
Kleid ein wenig raffend, schreitet die Gradiva rediviva Zoë Bertgang von
ihm mit traumhaft dreinblickenden Augen umfaßt, in ihrer ruhig-behenden
Gangart durch den Sonnenglanz über die Trittsteine zur anderen
Straßenseite hinüber«. Mit dem Triumph der Erotik kommt jetzt zur
Anerkennung, was auch am Wahne schön und wertvoll war.

Mit dem letzten Gleichnis von dem »aus der Verschüttung ausgegrabenen
Kindheitsfreunde« hat uns aber der Dichter den Schlüssel zur Symbolik in
die Hand gegeben, dessen sich der Wahn des Helden bei der Verkleidung
der verdrängten Erinnerung bediente. Es gibt wirklich keine bessere
Analogie für die Verdrängung, die etwas Seelisches zugleich unzugänglich
macht und konserviert, als die Verschüttung, wie sie Pompeji zum
Schicksal geworden ist, und aus der die Stadt durch die Arbeit des
Spatens wieder erstehen konnte. Darum mußte der junge Archäologe das
Urbild des Reliefs, welches ihn an seine vergessene Jugendgeliebte
mahnte, in der Phantasie nach Pompeji versetzen. Der Dichter aber hatte
ein gutes Recht, bei der wertvollen Ähnlichkeit zu verweilen, die sein
feiner Sinn zwischen einem Stück des seelischen Geschehens beim
Einzelnen und einem vereinzelten historischen Vorgang in der Geschichte
der Menschheit aufgespürt.



II.


Es war doch eigentlich nur unsere Absicht, die zwei oder drei Träume,
die sich in der Erzählung »Gradiva« eingestreut finden, mit Hilfe
gewisser analytischer Methoden zu untersuchen; wie kam es denn, daß wir
uns zur Zergliederung der ganzen Geschichte und zur Prüfung der
seelischen Vorgänge bei den beiden Hauptpersonen fortreißen ließen? Nun,
das war kein überflüssiges Stück Arbeit, sondern eine notwendige
Vorarbeit. Auch wenn wir die wirklichen Träume einer realen Person
verstehen wollen, müssen wir uns intensiv um den Charakter und die
Schicksale dieser Person kümmern, nicht nur ihre Erlebnisse kurz vor dem
Traume, sondern auch solche in entlegener Vergangenheit in Erfahrung
bringen. Ich meine sogar, wir sind noch immer nicht frei, uns unserer
eigentlichen Aufgabe zuzuwenden, müssen noch bei der Dichtung selbst
verweilen und weitere Vorarbeiten erledigen.

Unsere Leser werden gewiß mit Befremden bemerkt haben, daß wir _Norbert
Hanold_ und _Zoë Bertgang_ in allen ihren seelischen Äußerungen und
Tätigkeiten bisher behandelt haben, als wären sie wirkliche Individuen
und nicht Geschöpfe eines Dichters, als wäre der Sinn des Dichters ein
absolut durchlässiges, nicht ein brechendes oder trübendes Medium. Und
um so befremdender muß unser Vorgehen erscheinen, als der Dichter auf
die Wirklichkeitsschilderung ausdrücklich verzichtet, indem er seine
Erzählung ein »Phantasiestück« benennt. Wir finden aber alle seine
Schilderungen der Wirklichkeit so getreulich nachgebildet, daß wir
keinen Widerspruch äußern würden, wenn die »Gradiva« nicht ein
Phantasiestück, sondern eine psychiatrische Studie hieße. Nur in zwei
Punkten hat sich der Dichter der ihm zustehenden Freiheit bedient, um
Voraussetzungen zu schaffen, die nicht im Boden der realen
Gesetzmäßigkeit zu wurzeln scheinen. Das erstemal, indem er den jungen
Archäologen ein unzweifelhaft antikes Reliefbildnis finden läßt, welches
nicht nur in der Besonderheit der Fußstellung beim Schreiten, sondern in
allen Details der Gesichtsbildung und Körperhaltung eine so viel später
lebende Person nachahmt, so daß er die leibliche Erscheinung dieser
Person für das lebend gewordene Steinbild halten kann. Das zweitemal,
indem er ihn die Lebende gerade in Pompeji treffen läßt, wohin nur seine
Phantasie die Verstorbene versetzte, während er sich eben durch die
Reise nach Pompeji von der Lebenden, die er auf der Straße seines
Wohnortes bemerkt hatte, entfernte. Allein diese zweite Verfügung des
Dichters ist keine gewaltsame Abweichung von der Lebensmöglichkeit; sie
nimmt eben nur den Zufall zur Hilfe, der unbestritten bei so vielen
menschlichen Schicksalen mitspielt, und verleiht ihm überdies einen
guten Sinn, da dieser Zufall das Verhängnis widerspiegelt, welches
bestimmt hat, daß man gerade durch das Mittel der Flucht sich dem
ausliefert, vor dem man flieht. Phantastischer und völlig der Willkür
des Dichters entsprungen erscheint die erste Voraussetzung, welche alle
weiteren Begebenheiten trägt, die so weitgehende Ähnlichkeit des
Steinbildes mit dem lebenden Mädchen, wo die Nüchternheit die
Übereinstimmung auf den einen Zug der Fußhaltung beim Schreiten
einschränken möchte. Man wäre versucht, hier zur Anknüpfung an die
Realität die eigene Phantasie spielen zu lassen. Der Name _Bertgang_
könnte darauf deuten, daß sich die Frauen dieser Familie schon in alten
Zeiten durch solche Eigentümlichkeit des schönen Ganges ausgezeichnet
haben, und durch Geschlechtsabfolge hingen die germanischen _Bertgang_
mit jenen Römern zusammen, von deren Stamm eine Frau den antiken
Künstler veranlaßt hatte, die Eigentümlichkeit ihres Ganges im Steinbild
festzuhalten. Da aber die einzelnen Variationen der menschlichen
Gestaltung nicht unabhängig von einander sind, und tatsächlich auch in
unserer Mitte immer wieder die antiken Typen auftauchen, die wir in den
Sammlungen antreffen, so wäre es nicht ganz unmöglich, daß eine moderne
_Bertgang_ die Gestalt ihrer antiken Ahnfrau auch in allen anderen Zügen
ihrer körperlichen Bildung wiederholte. Klüger als solche Spekulation
dürfte wohl sein, sich bei dem Dichter selbst nach den Quellen zu
erkundigen, aus denen ihm dieses Stück seiner Schöpfung erflossen ist;
es ergäbe sich uns dann eine gute Aussicht, wiederum ein Stück
vermeintlicher Willkür in Gesetzmäßigkeit aufzulösen. Da uns aber der
Zugang zu den Quellen im Seelenleben des Dichters nicht frei steht, so
lassen wir ihm das Recht ungeschmälert, eine durchaus lebenswahre
Entwicklung auf eine unwahrscheinliche Voraussetzung aufzubauen, ein
Recht, das z. B. auch _Shakespeare_ im »King Lear« in Anspruch genommen
hat.

Sonst aber, das wollen wir wiederholen, hat uns der Dichter eine völlig
korrekte psychiatrische Studie geliefert, an welcher wir unser
Verständnis des Seelenlebens messen dürfen, eine Kranken- und
Heilungsgeschichte, wie zur Einschärfung gewisser fundamentaler Lehren
der ärztlichen Seelenkunde bestimmt. Sonderbar genug, daß der Dichter
dies getan haben sollte! Wie nun, wenn er auf Befragen diese Absicht
ganz und gar in Abrede stellte? Es ist so leicht anzugleichen und
unterzulegen; sind es nicht vielmehr wir, die in die schöne poetische
Erzählung einen Sinn hineingeheimnissen, der dem Dichter sehr ferne
liegt? Möglich; wir wollen später noch darauf zurückkommen. Vorläufig
aber haben wir versucht, uns vor solch tendenziöser Ausdeutung selbst zu
bewahren, indem wir die Erzählung fast durchwegs aus den eigenen Worten
des Dichter wiedergaben, Text wie Kommentar von ihm selbst besorgen
ließen. Wer unsere Reproduktion mit dem Wortlaut der »Gradiva«
vergleichen will, wird uns dies zugestehen müssen.

Vielleicht erweisen wir unserem Dichter auch einen schlechten Dienst im
Urteil der allermeisten, wenn wir sein Werk für eine psychiatrische
Studie erklären. Der Dichter soll der Berührung mit der Psychiatrie aus
dem Wege gehen, hören wir sagen, und die Schilderung krankhafter
Seelenzustände den Ärzten überlassen. In Wahrheit hat kein richtiger
Dichter je dieses Gebot geachtet. Die Schilderung des menschlichen
Seelenlebens ist ja seine eigentlichste Domäne; er war jederzeit der
Vorläufer der Wissenschaft und so auch der wissenschaftlichen
Psychologie. Die Grenze aber zwischen den normal und krankhaft benannten
Seelenzuständen ist zum Teil eine konventionelle, zum anderen eine so
fließende, daß wahrscheinlich jeder von uns sie im Laufe eines Tages
mehrmals überschreitet. Anderseits täte die Psychiatrie unrecht, wenn
sie sich dauernd auf das Studium jener schweren und düsteren
Erkrankungen einschränken wollte, die durch grobe Beschädigungen des
feinen Seelenapparats entstehen. Die leiseren und ausgleichsfähigen
Abweichungen vom Gesunden, die wir heute nicht weiter als bis zu
Störungen im psychischen Kräftespiel zurückverfolgen können, fallen
nicht weniger unter ihr Interesse; ja erst mittels dieser kann sie die
Gesundheit wie die Erscheinungen der schweren Krankheit verstehen. So
kann der Dichter dem Psychiater, der Psychiater dem Dichter nicht
ausweichen, und die poetische Behandlung eines psychiatrischen Themas
darf ohne Einbuße an Schönheit korrekt ausfallen.

Korrekt ist nun wirklich diese dichterische Darstellung einer
Krankheits- und Behandlungsgeschichte, die wir nach Abschluß der
Erzählung und Sättigung der eigenen Spannung besser übersehen können und
nun mit den technischen Ausdrücken unserer Wissenschaft reproduzieren
wollen, wobei uns die Nötigung zur Wiederholung von bereits Gesagtem
nicht stören soll.

Der Zustand Norbert Hanolds wird vom Dichter oft genug ein »Wahn«
genannt, und auch wir haben keinen Grund, diese Bezeichnung zu
verwerfen. Zwei Hauptcharaktere können wir vom »Wahn« angeben, durch
welche er zwar nicht erschöpfend beschrieben, aber doch von anderen
Störungen kenntlich gesondert ist. Er gehört erstens zu jener Gruppe von
Krankheitszuständen, denen eine unmittelbare Einwirkung aufs Körperliche
nicht zukommt, sondern die sich nur durch seelische Anzeichen
ausdrücken, und er ist zweitens durch die Tatsache gekennzeichnet, daß
bei ihm »Phantasien« zur Oberherrschaft gelangt sind, d. h. Glauben
gefunden und Einfluß auf das Handeln genommen haben. Erinnern wir uns
der Reise nach Pompeji, um in der Asche nach den besonders gestalteten
Fußabdrücken der Gradiva zu suchen, so haben wir in ihr ein prächtiges
Beispiel einer Handlung unter der Herrschaft des Wahnes. Der Psychiater
würde den Wahn Norbert Hanolds vielleicht der großen Gruppe Paranoia
zurechnen und etwa als eine »fetischistische Erotomanie« bezeichnen,
weil ihm die Verliebtheit in das Steinbild das Auffälligste wäre, und
weil seiner alles vergröbernden Auffassung das Interesse des jungen
Archäologen für die Füße und Fußstellungen weiblicher Personen als
»Fetischismus« verdächtig erscheinen muß. Indes haben alle solche
Benennungen und Einteilungen der verschiedenen Arten von Wahn nach ihrem
Inhalt etwas Mißliches und Unfruchtbares an sich.(2)

  (2) Der Fall N. H. müßte in Wirklichkeit als hysterischer, nicht als
  paranoischer Wahn bezeichnet werden. Die Kennzeichen der Paranoia
  werden hier vermißt.

Der gestrenge Psychiater würde ferner unseren Helden als Person, die
fähig ist, auf Grund so sonderbarer Vorliebe einen Wahn zu entwickeln,
sofort zum Dégénéré stempeln und nach der Heredität forschen, die ihn
unerbittlich in solches Schicksal getrieben hat. Hierin folgt ihm aber
der Dichter nicht; mit gutem Grunde. Er will uns ja den Helden näher
bringen, uns die »Einfühlung« erleichtern; mit der Diagnose »Dégénéré«,
mag sie nun wissenschaftlich zu rechtfertigen sein oder nicht, ist uns
der junge Archäologe sofort ferne gerückt; denn wir Leser sind ja die
Normalmenschen und das Maß der Menschheit. Auch die hereditären und
konstitutionellen Vorbedingungen des Zustandes kümmern den Dichter
wenig; dafür vertieft er sich in die persönliche seelische Verfassung,
die einem solchen Wahn den Ursprung geben kann.

Norbert Hanold verhält sich in einem wichtigen Punkte ganz anders als
ein gewöhnliches Menschenkind. Er hat kein Interesse für das lebende
Weib; die Wissenschaft, der er dient, hat ihm dieses Interesse genommen
und es auf die Weiber von Stein oder Bronze verschoben. Man halte dies
nicht für eine gleichgültige Eigentümlichkeit; sie ist vielmehr die
Grundvoraussetzung der erzählten Begebenheit, denn eines Tages ereignet
es sich, daß ein einzelnes solches Steinbild alles Interesse für sich
beansprucht, das sonst nur dem lebenden Weib gebührt, und damit ist der
Wahn gegeben. Vor unseren Augen entrollt sich dann, wie dieser Wahn
durch eine glückliche Fügung geheilt, das Interesse vom Stein wieder auf
eine Lebende zurückgeschoben wird. Durch welche Einwirkungen unser Held
in den Zustand der Abwendung vom Weibe geraten ist, läßt uns der Dichter
nicht verfolgen; er gibt uns nur an, solches Verhalten sei nicht durch
seine Anlage erklärt, die vielmehr ein Stück phantastisches -- wir
dürfen ergänzen: erotisches -- Bedürfnis mit einschließt. Auch ersehen
wir von später her, daß er in seiner Kindheit nicht von anderen Kindern
abwich; er hielt damals eine Kinderfreundschaft mit einem kleinen
Mädchen, war unzertrennlich von ihr, teilte mit ihr seine kleinen
Mahlzeiten, puffte sie auch und ließ sich von ihr zausen. In solcher
Anhänglichkeit, solcher Vereinigung von Zärtlichkeit und Aggression
äußert sich die unfertige Erotik des Kinderlebens, die ihre Wirkungen
erst nachträglich, aber dann unwiderstehlich äußert, und die während der
Kinderzeit selbst nur der Arzt und der Dichter als Erotik zu erkennen
pflegen. Unser Dichter gibt uns deutlich zu verstehen, daß auch er es
nicht anders meint, denn er läßt bei seinem Helden bei geeignetem Anlaß
plötzlich ein lebhaftes Interesse für Gang und Fußhaltung der Frauen
erwachen, das ihn bei der Wissenschaft wie bei den Frauen seines
Wohnortes in den Verruf eines Fußfetischisten bringen muß, das sich uns
aber notwendig aus der Erinnerung an diese Kindergespielin ableitet.
Dieses Mädchen zeigte gewiß schon als Kind die Eigenheit des schönen
Ganges mit fast senkrecht aufgestellter Fußspitze beim Schreiten, und
durch die Darstellung eben dieses Ganges gewinnt später ein antikes
Steinrelief für Norbert Hanold jene große Bedeutung. Fügen wir übrigens
gleich hinzu, daß der Dichter sich bei der Ableitung der merkwürdigen
Erscheinung des Fetischismus sich in voller Übereinstimmung mit der
Wissenschaft befindet. Seit _A. Binet_ versuchen wir wirklich, den
Fetischismus auf erotische Kindheitseindrücke zurückzuführen.

Der Zustand der dauernden Abwendung vom Weibe ergibt die persönliche
Eignung, wie wir zu sagen pflegen: die Disposition für die Bildung eines
Wahnes. Die Entwicklung der Seelenstörung setzt mit dem Momente ein, da
ein zufälliger Eindruck die vergessenen und wenigstens spurweise
erotisch betonten Kindererlebnisse aufweckt. Aufweckt ist aber gewiß
nicht die richtige Bezeichnung, wenn wir, was weiter erfolgt, in
Betracht ziehen. Wir müssen die korrekte Darstellung des Dichters in
kunstgerechter psychologischer Ausdrucksweise wiedergeben. Norbert
Hanold erinnert sich nicht beim Anblick des Reliefs, daß er solche
Fußstellung schon bei seiner Jugendfreundin gesehen hat; er erinnert
sich überhaupt nicht, und doch rührt alle Wirkung des Reliefs von
solcher Anknüpfung an den Eindruck in der Kindheit her. Der
Kindheitseindruck wird also rege, wird aktiv gemacht, so daß er
Wirkungen zu äußern beginnt, er kommt aber nicht zum Bewußtsein, er
bleibt »_unbewußt_«, wie wir mit einem in der Psychopathologie
unvermeidlich gewordenen Terminus heute zu sagen pflegen. Dieses
Unbewußte möchten wir allen Streitigkeiten der Philosophen und
Naturphilosophen, die oft nur etymologische Bedeutung haben, entzogen
sehen. Für psychische Vorgänge, die sich aktiv benehmen und dabei doch
nicht zum Bewußtsein der betreffenden Person gelangen, haben wir
vorläufig keinen besseren Namen, und nichts anderes meinen wir mit
unserem »Unbewußtsein«. Wenn manche Denker uns die Existenz eines
solchen Unbewußten als widersinnig bestreiten wollen, so glauben wir,
sie hätten sich niemals mit den entsprechenden seelischen Phänomenen
beschäftigt, stünden im Banne der regelmäßigen Erfahrung, daß alles
Seelische, was aktiv und intensiv wird, damit gleichzeitig auch bewußt
wird, und hätten eben noch zu lernen, was unser Dichter sehr wohl weiß,
daß es allerdings seelische Vorgänge gibt, die, trotzdem sie intensiv
sind und energische Wirkungen äußern, dennoch dem Bewußtsein ferne
bleiben.

Wir haben vorhin einmal ausgesprochen, die Erinnerungen an den
Kinderverkehr mit Zoë befinden sich bei Norbert Hanold im Zustande der
»Verdrängung«; nun haben wir sie »unbewußte« Erinnerungen geheißen. Da
müssen wir wohl dem Verhältnis der beiden Kunstworte, die ja im Sinne
zusammenzufallen scheinen, einige Aufmerksamkeit zuwenden. Es ist nicht
schwer, darüber Aufklärung zu geben. »Unbewußt« ist der weitere Begriff,
»verdrängt« der engere. Alles was verdrängt ist, ist unbewußt; aber
nicht von allem Unbewußten können wir behaupten, daß es verdrängt sei.
Hätte Hanold beim Anblick des Reliefs sich der Gangart seiner Zoë
erinnert, so wäre eine früher unbewußte Erinnerung bei ihm gleichzeitig
aktiv und bewußt geworden und hätte so gezeigt, daß sie früher nicht
verdrängt war. »Unbewußt« ist ein rein deskriptiver, in mancher Hinsicht
unbestimmter, ein sozusagen statischer Terminus, »verdrängt« ist ein
dynamischer Ausdruck, der auf das seelische Kräftespiel Rücksicht nimmt
und besagt, es sei ein Bestreben vorhanden, alle psychischen Wirkungen,
darunter auch die des Bewußtwerdens, zu äußern, aber auch eine
Gegenkraft, ein Widerstand, der einen Teil dieser psychischen Wirkungen,
darunter wieder das Bewußtwerden, zu verhindern vermöge. Kennzeichen des
Verdrängten bleibt eben, daß es sich trotz seiner Intensität nicht zum
Bewußtsein zu bringen vermag. In dem Falle Hanolds handelt es sich also
von dem Auftauchen des Reliefs an um ein verdrängtes Unbewußtes, kurzweg
um ein Verdrängtes.

Verdrängt sind bei Norbert Hanold die Erinnerungen an seinen
Kinderverkehr mit dem schön schreitenden Mädchen, aber dies ist noch
nicht die richtige Betrachtung der psychologischen Sachlage. Wir bleiben
an der Oberfläche, so lange wir nur von Erinnerungen und Vorstellungen
handeln. Das einzig Wertbare im Seelenleben sind vielmehr die Gefühle;
alle Seelenkräfte sind nur durch ihre Eignung, Gefühle zu erwecken,
bedeutsam. Vorstellungen werden nur verdrängt, weil sie an
Gefühlsentbindungen geknüpft sind, die nicht zu stande kommen sollen; es
wäre richtiger zu sagen, die Verdrängung betreffe die Gefühle, nur sind
uns diese nicht anders als in ihrer Bindung an Vorstellungen faßbar.
Verdrängt sind bei Norbert Hanold also die erotischen Gefühle, und da
seine Erotik kein anderes Objekt kennt oder gekannt hat, als in seiner
Kindheit die Zoë Bertgang, so sind die Erinnerungen an diese vergessen.
Das antike Reliefbild weckt die schlummernde Erotik in ihm auf und macht
die Kindheitserinnerungen aktiv. Wegen eines in ihm bestehenden
Widerstandes gegen die Erotik können diese Erinnerungen nur als
unbewußte wirksam werden. Was sich nun weiter in ihm abspielt, ist ein
Kampf zwischen der Macht der Erotik und den sie verdrängenden Kräften;
was sich von diesem Kampf äußert, ist ein Wahn.

Unser Dichter hat zu motivieren unterlassen, woher die Verdrängung des
Liebeslebens bei seinem Helden rührt; die Beschäftigung mit der
Wissenschaft ist ja nur das Mittel, dessen sich die Verdrängung bedient;
der Arzt müßte hier tiefer gründen, vielleicht ohne in seinem Falle auf
den Grund zu geraten. Wohl aber hat der Dichter, wie wir mit Bewunderung
hervorgehoben haben, uns darzustellen nicht versäumt, wie die Erweckung
der verdrängten Erotik gerade aus dem Kreise der zur Verdrängung
dienenden Mittel erfolgt. Es ist mit Recht eine Antike, das Steinbild
eines Weibes, durch welches unser Archäologe aus seiner Abwendung von
der Liebe gerissen und gemahnt wird, dem Leben die Schuld abzutragen,
mit der wir von unserer Geburt an belastet sind.

Die ersten Äußerungen des nun in Hanold durch das Reliefbild angeregten
Prozesses sind Phantasien, welche mit der so dargestellten Person
spielen. Als etwas »_Heutiges_« im besten Sinne erscheint ihm das
Modell, als hätte der Künstler die auf der Straße Schreitende »nach dem
_Leben_« festgehalten. Den Namen »_Gradiva_« verleiht er dem antiken
Mädchen, den er nach dem Beiwort des zum Kampfe ausschreitenden
Kriegsgottes, des Mars Gradivus, gebildet; mit immer mehr Bestimmungen
stattet er ihre Persönlichkeit aus. Sie mag die Tochter eines
angesehenen Mannes sein, vielleicht eines _Patriziers_, der mit dem
_Tempeldienst_ einer Gottheit in Verbindung stand, _griechische_
Herkunft glaubt er ihren Zügen abzusehen, und endlich drängt es ihn, sie
ferne vom Getriebe einer Großstadt in das stillere _Pompeji_ zu
versetzen, wo er sie über die Lavatrittsteine schreiten läßt, die den
Übergang von einer Seite der Straße zur anderen ermöglichen. Willkürlich
genug erscheinen diese Leistungen der Phantasie und doch wieder harmlos
unverdächtig. Ja noch dann, als sich aus ihnen zum erstenmal ein Antrieb
zum Handeln ergibt, als der Archäologe von dem Problem bedrückt, ob
solche Fußstellung auch der Wirklichkeit entspreche, Beobachtungen nach
dem Leben anzustellen beginnt, um den zeitgenössischen Frauen und
Mädchen auf die Füße zu sehen, deckt sich dieses Tun durch ihm bewußte
wissenschaftliche Motive, als wäre alles Interesse für das Steinbild der
Gradiva aus dem Boden seiner fachlichen Beschäftigung mit der
Archäologie entsprossen. Die Frauen und Mädchen auf der Straße, die er
zu Objekten seiner Untersuchung nimmt, müssen freilich eine andere, grob
erotische Auffassung seines Treibens wählen, und wir müssen ihnen recht
geben. Für uns leidet es keinen Zweifel, daß Hanold die Motive seiner
Forschung so wenig kennt wie die Herkunft seiner Phantasien über die
Gradiva. Diese letzteren sind, wie wir später erfahren, Anklänge an
seine Erinnerungen an die Jugendgeliebte, Abkömmlinge dieser
Erinnerungen, Umwandlungen und Entstellungen derselben, nachdem es ihnen
nicht gelungen ist, sich in unveränderter Form zum Bewußtsein zu
bringen. Das vorgeblich ästhetische Urteil, das Steinbild stelle etwas
»Heutiges« dar, ersetzt das Wissen, daß solcher Gang einem ihm
bekannten, in der _Gegenwart_ über die Straße schreitenden Mädchen
angehöre; hinter dem Eindruck »nach dem Leben« und der Phantasie ihres
Griechentums verbirgt sich die Erinnerung an ihren Namen _Zoë_, der auf
Griechisch _Leben_ bedeutet; Gradiva ist, wie uns der am Ende vom Wahn
Geheilte aufklärt, eine gute Übersetzung ihres Familiennamens
_Bertgang_, welcher so viel bedeutet wie »im Schreiten glänzend oder
prächtig«; die Bestimmungen über ihren Vater stammen von der Kenntnis,
daß Zoë Bertgang die Tochter eines angesehenen Lehrers der Universität
sei, die sich wohl als Tempeldienst in die Antike übersetzen läßt. Nach
Pompeji endlich versetzt sie seine Phantasie, nicht »weil ihre ruhige,
stille Art es zu fordern schien«, sondern weil sich in seiner
Wissenschaft keine andere und keine bessere Analogie mit dem
merkwürdigen Zustand finden läßt, in dem er durch eine dunkle Kundschaft
seine Erinnerungen an seine Kinderfreundschaft verspürt. Hat er einmal,
was ihm so nahe liegt, die eigene Kindheit mit der klassischen
Vergangenheit zur Deckung gebracht, so ergibt die Verschüttung Pompejis,
dies Verschwinden mit Erhaltung des Vergangenen, eine treffliche
Ähnlichkeit mit der _Verdrängung_, von der er durch sozusagen
»endopsychische« Wahrnehmung Kenntnis hat. Es arbeitet dabei in ihm
dieselbe Symbolik, die zum Schlusse der Erzählung der Dichter das
Mädchen bewußterweise gebrauchen läßt.

»Ich sagte mir, irgend etwas Interessantes würde ich wohl schon allein
hier ausgraben. Freilich auf den Fund, den ich gemacht, ..... hatte ich
mit keinem Gedanken gerechnet.« (G. p. 124.) -- Zu Ende (G. p. 150)
antwortet dann das Mädchen auf den Reisezielwunsch »ihres gewissermaßen
gleichfalls aus der Verschüttung wieder ausgegrabenen Kindheitsfreundes«.

So finden wir also schon bei den ersten Leistungen von Hanolds
Wahnphantasien und Handlungen eine zweifache Determinierung, eine
Ableitbarkeit aus zwei verschiedenen Quellen. Die eine Determinierung
ist die, welche Hanold selbst erscheint, die andere die, welche sich uns
bei der Nachprüfung seiner seelischen Vorgänge enthüllt. Die eine ist,
auf die Person Hanolds bezogen, die ihm bewußte, die andere, die ihm
völlig unbewußte. Die eine stammt ganz aus dem Vorstellungskreis der
archäologischen Wissenschaft, die andere aber rührt von dem in ihm rege
gewordenen verdrängten Kindheitserinnerungen und den an ihnen haftenden
Gefühlstrieben her. Die eine ist wie oberflächlich und verdeckt die
andere, die sich gleichsam hinter ihr verbirgt. Man könnte sagen, die
wissenschaftliche Motivierung diene der unbewußten erotischen zum
Vorwand, und die Wissenschaft habe sich ganz in den Dienst des Wahnes
gestellt. Aber man darf auch nicht vergessen, daß die unbewußte
Determinierung nichts anderes durchzusetzen vermag, als was gleichzeitig
der bewußten wissenschaftlichen genügt. Die Symptome des Wahnes --
Phantasien wie Handlungen -- sind eben Ergebnisse eines Kompromisses
zwischen den beiden seelischen Strömungen, und bei einem Kompromiß ist
den Anforderungen eines jeden der beiden Teile Rechnung getragen worden;
ein jeder Teil hat aber auch auf ein Stück dessen, was er durchsetzen
wollte, verzichten müssen. Wo ein Kompromiß zu stande gekommen, da gab
es einen Kampf, hier den von uns angenommenen Konflikt zwischen der
unterdrückten Erotik und den sie in der Verdrängung erhaltenden Mächten.
Bei der Bildung eines Wahnes geht dieser Kampf eigentlich nie zu Ende.
Ansturm und Widerstand erneuern sich nach jeder Kompromißbildung, die
sozusagen niemals voll genügt. Dies weiß auch unser Dichter und darum
läßt er ein Gefühl der Unbefriedigung, eine eigentümliche Unruhe dieses
Stadium der Störung bei seinem Helden beherrschen, als Vorläufer und als
Bürgschaft weiterer Entwicklungen.

Diese bedeutsamen Eigentümlichkeiten der zweifachen Determinierung für
Phantasien und Entschlüsse, der Bildung von bewußten Vorwänden für
Handlungen, zu deren Motivierung das Verdrängte den größeren Beitrag
geliefert hat, werden uns im weiteren Fortschritt der Erzählung noch
öfters, vielleicht noch deutlicher, entgegentreten. Und dies mit vollem
Rechte, denn der Dichter hat hiemit den niemals fehlenden Hauptcharakter
der krankhaften Seelenvorgänge erfaßt und zur Darstellung gebracht.

Die Entwicklung des Wahnes bei _Norbert Hanold_ schreitet mit einem
Traume weiter, der, durch kein neues Ereignis veranlaßt, ganz aus seinem
von einem Konflikt erfüllten Seelenleben zu rühren scheint. Doch halten
wir ein, ehe wir daran gehen zu prüfen, ob der Dichter auch bei der
Bildung seiner Träume unserer Erwartung eines tieferen Verständnisses
entspricht. Fragen wir uns vorher, was die psychiatrische Wissenschaft
zu seinen Voraussetzungen über die Entstehung eines Wahnes sagt, wie sie
sich zur Rolle der Verdrängung und des Unbewußten, zum Konflikt und zur
Kompromißbildung stellt. Im kurzen, ob die dichterische Darstellung der
Genese eines Wahnes vor dem Richtspruch der Wissenschaft bestehen kann.

Und da müssen wir die vielleicht unerwartete Antwort geben, daß es
sich in Wirklichkeit leider ganz umgekehrt verhält: die Wissenschaft
besteht nicht vor der Leistung des Dichters. Zwischen den
hereditär-konstitutionellen Vorbedingungen und den als fertig
erscheinenden Schöpfungen des Wahnes läßt sie eine Lücke klaffen, die
wir beim Dichter ausgefüllt finden. Sie ahnt noch nicht die Bedeutung
der Verdrängung, erkennt nicht, daß sie zur Erklärung der Welt
psychopathologischer Erscheinungen durchaus des Unbewußten bedarf, sie
sucht den Grund des Wahnes nicht in einem psychischen Konflikt und
erfaßt die Symptome desselben nicht als Kompromißbildung. So stünde denn
der Dichter allein gegen die gesamte Wissenschaft? Nein, dies nicht, --
wenn der Verfasser nämlich seine eigenen Arbeiten auch der Wissenschaft
zurechnen darf. Denn er selbst vertritt seit einer Reihe von Jahren --
und bis in die letzte Zeit ziemlich vereinsamt(3) -- alle die
Anschauungen, die er hier aus der »Gradiva« von _W. Jensen_ herausgeholt
und in den Fachausdrücken dargestellt hat. Er hat, am ausführlichsten
für die als Hysterie und Zwangsvorstellen bekannten Zustände, als
individuelle Bedingung der psychischen Störung die Unterdrückung eines
Stückes des Trieblebens und die Verdrängung der Vorstellungen, durch die
der unterdrückte Trieb vertreten ist, aufgezeigt, und die gleiche
Auffassung bald darauf für manche Formen des Wahnes wiederholt.(4) Ob
die für diese Verursachung in Betracht kommenden Triebe jedesmal
Komponenten des Sexualtriebes sind oder auch andersartige sein können,
das ist ein Problem, welches nur gerade für die Analyse der »Gradiva«
gleichgültig bleiben darf, da es sich in dem vom Dichter gewählten Falle
sicherlich um nichts als um die Unterdrückung des erotischen Empfindens
handelt. Die Gesichtspunkte des psychischen Konflikts und der
Symptombildung durch Kompromisse zwischen den beiden miteinander
ringenden Seelenströmungen hat der Verfasser an wirklich beobachteten
und ärztlich behandelten Krankheitsfällen in ganz gleicher Weise zur
Geltung gebracht, wie er es an den vom Dichter erfundenen Norbert Hanold
tun konnte.(5) Die Rückführung der nervösen, speziell der hysterischen
Krankheitsleistungen auf die Macht unbewußter Gedanken hatte vor dem
Verfasser schon _P. Janet_, der Schüler des großen _Charcot_, und im
Vereine mit dem Verfasser _Josef Breuer_ in Wien unternommen.(6)

  (3) Siehe die wichtige Schrift von _E. Bleuler_, Affektivität,
  Suggestibilität, Paranoia und die Diagnostischen Assoziationsstudien
  von _C. G. Jung_, beide aus Zürich, 1906.

  (4) Vgl. des Verfassers: Sammlung kleiner Schriften zur Neurosenlehre
  1906.

  (5) Vgl. Bruchstück einer Hysterie-Analyse 1905.

  (6) Vgl. Breuer u. Freud, Studien über Hysterie, 1895.

Es war dem Verfasser, als er sich in den auf 1893 folgenden Jahren in
solche Forschungen über die Entstehung der Seelenstörungen vertiefte,
wahrlich nicht eingefallen, Bekräftigung seiner Ergebnisse bei Dichtern
zu suchen, und darum war seine Überraschung nicht gering, als er an der
1903 veröffentlichten »Gradiva« merkte, daß der Dichter seiner Schöpfung
das nämliche zu Grunde lege, was er aus den Quellen ärztlicher Erfahrung
als neu zu schöpfen vermeinte. Wie kam der Dichter nur zu dem gleichen
Wissen wie der Arzt, oder wenigstens zum Benehmen, als ob er das gleiche
wisse? --

Der Wahn Norbert Hanolds, sagten wir, erfahre eine weitere Entwicklung
durch einen Traum, der sich ihm mitten in seinen Bemühungen ereignet,
eine Gangart wie die der Gradiva in den Straßen seines Heimatsortes
nachzuweisen. Den Inhalt dieses Traumes können wir leicht in Kürze
darstellen. Der Träumer befindet sich in Pompeji an jenem Tage, welcher
der unglücklichen Stadt den Untergang brachte, macht die Schrecknisse
mit, ohne selbst in Gefahr zu geraten, sieht dort plötzlich die Gradiva
schreiten und versteht mit einem Male als ganz natürlich, da sie ja eine
Pompejanerin sei, lebe sie in ihrer Vaterstadt und, »ohne daß er's
geahnt habe, gleichzeitig mit ihm«. Er wird von Angst um sie ergriffen,
ruft sie an, worauf sie ihm flüchtig ihr Gesicht zuwendet. Doch geht
sie, ohne auf ihn zu achten, weiter, legt sich an den Stufen des
Apollotempels nieder, und wird vom Aschenregen verschüttet, nachdem ihr
Gesicht sich entfärbt, wie wenn es sich zu weißem Marmor umwandelte, bis
es völlig einem Steinbild gleicht. Beim Erwachen deutet er noch den Lärm
der Großstadt, der an sein Bett dringt, in das Hilfegeschrei der
verzweifelten Bewohner Pompejis und in das Getöse des wild erregten
Meeres um. Das Gefühl, daß das, was er geträumt, sich wirklich mit ihm
zugetragen, will ihm noch längere Zeit nach dem Erwachen nicht
verlassen, und die Überzeugung, daß die Gradiva in Pompeji gelebt und an
jenem Unglückstage gestorben sei, bleibt als neuer Ansatz an seinen Wahn
von diesem Traume übrig.

Weniger bequem wird es uns zu sagen, was der Dichter mit diesem Traum
gewollt, und was ihn veranlaßt hat, die Entwicklung des Wahnes gerade an
einen Traum zu knüpfen. Emsige Traumforscher haben zwar Beispiele genug
gesammelt, wie Geistesstörung an Träume anknüpft und aus Träumen
hervorgeht,(7) und auch in der Lebensgeschichte einzelner hervorragender
Menschen sollen Impulse zu wichtigen Taten und Entschließungen durch
Träume erzeugt worden sein. Aber unser Verständnis gewinnt gerade nicht
viel durch diese Analogien; bleiben wir darum bei unserem Falle, bei dem
vom Dichter fingierten Falle des Archäologen Norbert Hanold. An welchem
Ende muß man einen solchen Traum wohl anfassen, um ihn in den
Zusammenhang einzuflechten, wenn er nicht ein unnötiger Zierat der
Darstellung bleiben soll?

  (7) _Sante de Sanctis_, Die Träume, 1901.

Ich kann mir etwa denken, daß ein Leser an dieser Stelle ausruft: Der
Traum ist ja leicht zu erklären. Ein einfacher Angsttraum, veranlaßt
durch den Lärm der Großstadt, der von dem mit seiner Pompejanerin
beschäftigten Archäologen auf den Untergang Pompejis umgedeutet wird!
Bei der allgemein herrschenden Geringschätzung für die Leistungen des
Traumes pflegt man nämlich den Anspruch auf die Traumerklärung dahin
einzuschränken, daß man für ein Stück des geträumten Inhaltes einen
äußeren Reiz sucht, der sich etwa mit ihm deckt. Dieser äußere Anreiz
zum Träumen wäre durch den Lärm gegeben, welcher den Schläfer weckt; das
Interesse an diesem Traume wäre damit erledigt. Wenn wir nur einen Grund
hätten anzunehmen, daß die Großstadt an diesem Morgen lärmender gewesen
als sonst, wenn z. B. der Dichter nicht versäumt hätte, uns mitzuteilen,
daß Hanold diese Nacht gegen seine Gewohnheit bei geöffnetem Fenster
geschlafen. Schade, daß der Dichter sich diese Mühe nicht gegeben hat!
Und wenn ein Angsttraum nur etwas so Einfaches wäre! Nein, so einfach
erledigt sich dies Interesse nicht.

Die Anknüpfung an einen äußeren Sinnesreiz ist nichts Wesentliches für
die Traumbildung. Der Schläfer kann diesen Reiz aus der Außenwelt
vernachlässigen, er kann sich durch ihn, ohne einen Traum zu bilden,
wecken lassen, er kann ihn auch in seinen Traum verweben, wie es hier
geschieht, wenn es ihm aus irgend welchen anderen Motiven so taugt, und
es gibt reichlich Träume, für deren Inhalt sich eine solche
Determinierung durch einen an die Sinne des Schlafenden gelangenden Reiz
nicht erweisen läßt. Nein, versuchen wir's auf einem anderen Wege.

Vielleicht knüpfen wir an den Rückstand an, den der Traum im wachen
Leben Hanolds zurückläßt. Es war bisher eine Phantasie von ihm gewesen,
daß die Gradiva eine Pompejanerin gewesen sei. Jetzt wird ihm diese
Annahme zur Gewißheit, und die zweite Gewißheit schließt sich daran, daß
sie dort im Jahre 79 mit verschüttet worden sei.(8) Wehmütige
Empfindungen begleiten diesen Fortschritt der Wahnbildung, wie ein
Nachklang der Angst, die den Traum erfüllt hatte. Dieser neue Schmerz um
die Gradiva will uns nicht recht begreiflich erscheinen; die Gradiva
wäre doch heute auch seit vielen Jahrhunderten tot, selbst wenn sie im
Jahre 79 ihr Leben vor dem Untergange gerettet hätte, oder sollte man in
solcher Weise weder mit Norbert Hanold noch mit dem Dichter selbst
rechten dürfen? Auch hier scheint kein Weg zur Aufklärung zu führen.
Immerhin wollen wir uns anmerken, daß dem Zuwachs, den der Wahn aus
diesem Traum bezieht, eine stark schmerzliche Gefühlsbetonung anhaftet.

  (8) Vgl. den Text der »Gradiva« p. 15.

Sonst aber wird an unserer Ratlosigkeit nichts gebessert. Dieser Traum
erläutert sich nicht von selbst; wir müssen uns entschließen, Anleihen
bei der »Traumdeutung« des Verfassers zu machen und einige der dort
gegebenen Regeln zur Auflösung der Träume hier anzuwenden.

Da lautet eine dieser Regeln, daß ein Traum regelmäßig mit den
Tätigkeiten am Tage vor dem Traum zusammenhängt. Der Dichter scheint
andeuten zu wollen, daß er diese Regel befolgt habe, indem er den Traum
unmittelbar an die »pedestrischen Prüfungen« Hanolds anknüpft. Nun
bedeuten letztere nichts anderes als ein Suchen nach der Gradiva, die er
an ihrem charakteristischen Gange erkennen will. Der Traum sollte also
einen Hinweis darauf, wo die Gradiva zu finden sei, enthalten. Er
enthält ihn wirklich, indem er sie in Pompeji zeigt, aber das ist noch
keine Neuigkeit für uns.

Eine andere Regel besagt: wenn nach einem Traum der Glaube an die
Realität der Traumbilder ungewöhnlich lange anhält, so daß man sich
nicht aus dem Traume losreißen kann, so ist dies nicht etwa eine
Urteilstäuschung, hervorgerufen durch die Lebhaftigkeit der Traumbilder,
sondern es ist ein psychischer Akt für sich, eine Versicherung, die sich
auf den Trauminhalt bezieht, daß etwas darin wirklich so ist, wie man es
geträumt hat, und man tut recht daran, dieser Versicherung Glauben zu
schenken. Halten wir uns an diese beiden Regeln, so müssen wir
schließen, der Traum gebe eine Auskunft über den Verbleib der gesuchten
Gradiva, die sich mit der Wirklichkeit deckt. Wir kennen nun den Traum
Hanolds; führt die Anwendung der beiden Regeln auf ihn zu irgend einem
vernünftigen Sinne?

Merkwürdigerweise ja. Dieser Sinn ist nur auf eine besondere Art
verkleidet, so daß man ihn nicht sogleich erkennt. Hanold erfährt im
Traume, daß die Gesuchte in einer Stadt und gleichzeitig mit ihm lebe.
Das ist ja von der Zoë Bertgang richtig, nur daß diese Stadt im Traum
nicht die deutsche Universitätsstadt, sondern Pompeji, die Zeit nicht
die Gegenwart, sondern das Jahr 79 unserer Zeitrechnung ist. Es ist wie
eine Entstellung durch Verschiebung, nicht die Gradiva ist in die
Gegenwart, sondern der Träumer ist in die Vergangenheit versetzt; aber
das Wesentliche und Neue, _daß er mit der Gesuchten Ort und Zeit teile_,
ist auch so gesagt. Woher wohl diese Verstellung und Verkleidung, die
uns sowie den Träumer selbst über den eigentlichen Sinn und Inhalt des
Traumes täuschen muß? Nun wir haben bereits die Mittel in der Hand, um
eine befriedigende Antwort auf diese Frage zu geben.

Erinnern wir uns an all das, was wir über die Natur und Abkunft der
Phantasien, dieser Vorläufer des Wahnes, gehört haben. Daß sie Ersatz
und Abkömmlinge von verdrängten Erinnerungen sind, denen ein Widerstand
nicht gestattet, sich unverändert zum Bewußtsein zu bringen, die sich
aber das Bewußtwerden dadurch erkaufen, daß sie durch Veränderungen und
Entstellungen der Zensur des Widerstandes Rechnung tragen. Nachdem
dieses Kompromiß vollzogen ist, sind jene Erinnerungen nun zu diesen
Phantasien geworden, die von der bewußten Person leicht mißverstanden,
d. h. im Sinne der herrschenden psychischen Strömung verstanden werden
können. Nun stelle man sich vor, die Traumbilder seien die sozusagen
physiologischen Wahnschöpfungen des Menschen, die Kompromißergebnisse
jenes Kampfes zwischen Verdrängtem und Herrschendem, den es
wahrscheinlich bei jedem, auch tagsüber völlig geistesgesunden Menschen
gibt. Dann versteht man, daß man die Traumbilder als etwas Entstelltes
zu betrachten hat, hinter dem etwas anderes, nicht Entstelltes, aber in
gewissem Sinne Anstößiges zu suchen ist, wie die verdrängten
Erinnerungen Hanolds hinter seinen Phantasien. Dem so erkannten
Gegensatz wird man etwa Ausdruck schaffen, indem man das, was der
Träumer beim Erwachen erinnert, als _manifesten Trauminhalt_
unterscheidet von dem, was die Grundlage des Traumes vor der
Zensurentstellung ausmachte, den _latenten Traumgedanken_. Einen Traum
deuten heißt dann so viel als den manifesten Trauminhalt in die latenten
Traumgedanken übersetzen, die Entstellung rückgängig machen, welche sich
letztere von der Widerstandszensur gefallen lassen mußten. Wenden wir
diese Erwägungen auf den uns beschäftigenden Traum an, so finden wir,
die latenten Traumgedanken können nur gelautet haben: Das Mädchen, das
jenen schönen Gang hat, nach dem du suchst, lebt wirklich in dieser
Stadt mit dir. Aber in dieser Form konnte der Gedanke nicht bewußt
werden; es stand ihm ja im Wege, daß eine Phantasie als Ergebnis eines
früheren Kompromisses festgestellt hatte, die Gradiva sei eine
Pompejanerin, folglich blieb nichts übrig, wenn die wirkliche Tatsache
des Lebens am gleichen Orte und zur gleichen Zeit gewahrt werden sollte,
als die Entstellung vorzunehmen: du lebst ja in Pompeji zur Zeit der
Gradiva, und dies ist dann die Idee, welche der manifeste Trauminhalt
realisiert, als eine Gegenwart, die man durchlebt, darstellt.

Ein Traum ist nur selten die Darstellung, man könnte sagen: Inszenierung
eines einzigen Gedankens, meist einer Reihe von solchen, eines
Gedankengewebes. Aus dem Traume Hanolds läßt sich noch ein anderer
Bestandteil des Inhaltes hervorheben, dessen Entstellung leicht zu
beseitigen ist, so daß man die durch ihn vertretene latente Idee
erfährt. Es ist dies ein Stück des Traumes, auf welches man auch noch
die Versicherung der Wirklichkeit ausdehnen kann, mit welcher der Traum
abschloß. Im Traum verwandelt sich nämlich die schreitende Gradiva in
ein Steinbild. Das ist ja nichts anderes als eine sinnreiche und
poetische Darstellung des wirklichen Herganges. Hanold hatte in der Tat
sein Interesse von der Lebenden auf das Steinbild übertragen; die
Geliebte hatte sich ihm in ein steinernes Relief verwandelt. Die
latenten Traumgedanken, die unbewußt bleiben müssen, wollen dies Bild in
die Lebende zurückverwandeln; sie sagen ihm etwa im Zusammenhalt mit dem
vorigen: Du interessierst dich doch nur für das Relief der Gradiva, weil
es dich an die gegenwärtige, hier lebende Zoë erinnert. Aber diese
Einsicht würde, wenn sie bewußt werden könnte, das Ende des Wahnes
bedeuten.

Obliegt uns etwa die Verpflichtung, jedes einzelne Stück des manifesten
Trauminhaltes in solcher Weise durch unbewußte Gedanken zu ersetzen?
Strenggenommen, ja; bei der Deutung eines wirklich geträumten Traumes
würden wir uns dieser Pflicht nicht entziehen dürfen. Der Träumer müßte
uns dann auch in ausgiebigster Weise Rede stehen. Es ist begreiflich,
daß wir solche Forderung bei dem Geschöpf des Dichters nicht durchführen
können; wir wollen aber doch nicht übersehen, daß wir den Hauptinhalt
dieses Traumes noch nicht der Deutungs- oder Übersetzungsarbeit
unterzogen haben.

Der Traum _Hanolds_ ist ja ein Angsttraum. Sein Inhalt ist schreckhaft,
Angst wird vom Träumer im Schlafe verspürt und schmerzliche Empfindungen
bleiben nach ihm übrig. Das ist nun gar nicht bequem für unseren
Erklärungsversuch; wir sind wiederum zu großen Anleihen bei der Lehre
von der Traumdeutung genötigt. Diese mahnt uns dann, doch ja nicht in
den Irrtum zu verfallen, die Angst, die man in einem Traum empfindet,
von dem Inhalt des Traumes abzuleiten, den Trauminhalt doch nicht so zu
behandeln wie einen Vorstellungsinhalt des wachen Lebens. Sie macht uns
darauf aufmerksam, wie oft wir die gräßlichsten Dinge träumen, ohne daß
eine Spur von Angst dabei empfunden wird. Vielmehr sei der wahre
Sachverhalt ein ganz anderer, der nicht leicht zu erraten, aber sicher
zu beweisen ist. Die Angst des Angsttraumes entspreche einem sexuellen
Affekt, einer libidinösen Empfindung, wie überhaupt jede nervöse Angst,
und sei durch den Prozeß der Verdrängung aus der Libido
hervorgegangen.(9) Bei der Deutung des Traumes müsse man also die Angst
durch sexuelle Erregtheit ersetzen. Die so entstandene Angst übe nun --
nicht regelmäßig, aber häufig -- einen auswählenden Einfluß auf den
Trauminhalt aus und bringe Vorstellungselemente in den Traum, welche für
die bewußte und mißverständliche Auffassung des Traumes zum Angstaffekt
passend erscheinen. Dies sei, wie gesagt, keineswegs regelmäßig der
Fall, denn es gebe genug Angstträume, in denen der Inhalt gar nicht
schreckhaft ist, wo man sich also die verspürte Angst nicht
bewußterweise erklären könne.

  (9) Vgl. Sammlung kl. Schriften zur Neurosenlehre, V., und
  Traumdeutung p. 344.

Ich weiß, daß diese Aufklärung der Angst im Traume sehr befremdlich
klingt und nicht leicht Glauben findet; aber ich kann nur raten, sich
mit ihr zu befreunden. Es wäre übrigens recht merkwürdig, wenn der Traum
Norbert Hanolds sich mit dieser Auffassung der Angst vereinen und aus
ihr erklären ließe. Wir würden dann sagen, beim Träumer rühre sich
nächtlicherweise die Liebessehnsucht, mache einen kräftigen Vorstoß, um
ihm die Erinnerung an die Geliebte bewußt zu machen und ihn so aus dem
Wahn zu reißen, erfahre aber neuerliche Ablehnung und Verwandlung in
Angst, die nun ihrerseits die schreckhaften Bilder aus der
Schulerinnerung des Träumers in den Trauminhalt bringe. Auf diese Weise
werde der eigentliche unbewußte Inhalt des Traumes, die verliebte
Sehnsucht nach der einst gekannten Zoë, in den manifesten Inhalt vom
Untergang Pompejis und vom Verlust der Gradiva umgestaltet.

Ich meine, das klingt so weit ganz plausibel. Man könnte aber mit Recht
die Forderung aufstellen, wenn erotische Wünsche den unentstellten
Inhalt dieses Traumes bilden, so müsse man auch im umgeformten Traum
wenigstens einen kenntlichen Rest derselben irgendwo versteckt aufzeigen
können. Nun, vielleicht gelingt selbst dies mit Hilfe eines Hinweises
aus der später folgenden Erzählung. Beim ersten Zusammentreffen mit der
vermeintlichen Gradiva gedenkt Hanold dieses Traumes und richtet an die
Erscheinung die Bitte, sich wieder so hinzulegen, wie er es damals
gesehen.(10) Daraufhin aber erhebt sich die junge Dame entrüstet und
verläßt ihren sonderbaren Partner, aus dessen wahnbeherrschten Reden sie
den unziemlichen erotischen Wunsch herausgehört hat. Ich glaube, wir
dürfen uns die Deutung der Gradiva zu eigen machen; eine größere
Bestimmtheit für die Darstellung des erotischen Wunsches wird man auch
von einem realen Traume nicht immer fordern dürfen.

  (10) G. p. 70: Nein, gesprochen nicht. Aber ich rief dir zu, als du
  dich zum Schlafen hinlegtest, und stand dann bei dir -- dein Gesicht
  war so ruhig-schön wie von Marmor. Darf ich dich bitten -- leg' es
  noch einmal wieder so auf die Stufe zurück.

Somit hatte die Anwendung einiger Regeln der Traumdeutung auf den ersten
Traum Hanolds den Erfolg gehabt, uns diesen Traum in seinen Hauptzügen
verständlich zu machen und ihn in den Zusammenhang der Erzählung
einzufügen. Er muß also wohl vom Dichter unter Beachtung dieser Regeln
geschaffen worden sein? Man könnte nur noch eine Frage aufwerfen, warum
der Dichter zur weiteren Entwicklung des Wahnes überhaupt einen Traum
einführe. Nun, ich meine, das ist recht sinnreich komponiert und hält
wiederum der Wirklichkeit die Treue. Wir haben schon gehört, daß in
realen Krankheitsfällen eine Wahnbildung recht häufig an einen Traum
anschließt, brauchen aber nach unseren Aufklärungen über das Wesen des
Traumes kein neues Rätsel in diesem Sachverhalt zu finden. Traum und
Wahn stammen aus derselben Quelle, vom Verdrängten her; der Traum ist
der sozusagen physiologische Wahn des normalen Menschen. Ehe das
Verdrängte stark genug geworden ist, um sich im Wachleben als Wahn
durchzusetzen, kann es leicht seinen ersten Erfolg unter den günstigeren
Umständen des Schlafzustandes in Gestalt eines nachhaltig wirkenden
Traumes errungen haben. Während des Schlafes tritt nämlich, mit der
Herabsetzung der seelischen Tätigkeit überhaupt, auch ein Nachlaß in der
Stärke des Widerstandes ein, den die herrschenden psychischen Mächte dem
Verdrängten entgegensetzen. Dieser Nachlaß ist es, der die Traumbildung
ermöglicht, und darum wird der Traum für uns der beste Zugang zur
Kenntnis des unbewußten Seelischen. Nur, daß für gewöhnlich mit der
Herstellung der psychischen Besetzungen des Wachens der Traum wieder
verfliegt, der vom Unbewußten gewonnene Boden wieder geräumt wird.



III.


Im weiteren Verlaufe der Erzählung findet sich noch ein anderer Traum,
der uns vielleicht noch mehr als der erste verlocken kann, seine
Übersetzung und Einfügung in den Zusammenhang des seelischen Geschehens
beim Helden zu versuchen. Aber wir ersparen wenig, wenn wir hier die
Darstellung des Dichters verlassen, um direkt zu diesem zweiten Traum zu
eilen, denn wer den Traum eines anderen deuten will, der kann nicht
umhin, sich möglichst ausführlich um alles zu bekümmern, was der Träumer
äußerlich und innerlich erlebt hat. Somit wäre es fast das beste, wenn
wir beim Faden der Erzählung verblieben und diese fortlaufend mit
unseren Glossen versähen.

Die Wahnneubildung vom Tode der Gradiva beim Untergang Pompejis im Jahre
79 ist nicht die einzige Nachwirkung des von uns analysierten ersten
Traumes. Unmittelbar nachher entschließt sich Hanold zu einer Reise nach
Italien, die ihn endlich nach Pompeji bringt. Vorher aber begibt sich
noch etwas anderes mit ihm; aus dem Fenster lehnend, glaubt er auf der
Straße eine Gestalt mit der Haltung und dem Gange seiner Gradiva zu
bemerken, eilt ihr trotz seiner mangelhaften Bekleidung nach, erreicht
sie aber nicht, sondern wird durch den Spott der Leute auf der Straße
zurückgetrieben. Nachdem er wieder in sein Zimmer zurückgekehrt ist,
ruft das Singen eines Kanarienvogels, dessen Käfig an einem Fenster des
Hauses gegenüber hängt, eine Stimmung in ihm hervor, als ob auch er aus
der Gefangenschaft in die Freiheit wollte, und die Frühjahrsreise ist
ebenso schnell beschlossen wie ausgeführt.

Der Dichter hat diese Reise Hanolds in ganz besonders scharfes Licht
gerückt und ihm selbst teilweise Klarheit über seine inneren Vorgänge
gegönnt. Hanold hat sich selbstverständlich einen wissenschaftlichen
Vorwand für sein Reisen angegeben, aber dieser hält nicht vor. Er weiß
doch eigentlich, daß »ihm der Antrieb zur Reise aus einer unnennbaren
Empfindung entsprungen war«. Eine eigentümliche Unruhe heißt ihn mit
allem, was er antrifft, unzufrieden sein und treibt ihn von Rom nach
Neapel, von dort nach Pompeji, ohne daß er sich, auch nicht in dieser
letzten Station, in seiner Stimmung zurechtfände. Er ärgert sich über
die Torheit der Hochzeitsreisenden und ist empört über die Frechheit der
Stubenfliegen, die Pompejis Gasthäuser bevölkern. Aber endlich täuscht
er sich nicht darüber, »daß seine Unbefriedigung wohl nicht allein durch
das um ihn herum Befindliche verursacht werde, sondern etwas ihren
Ursprung auch aus ihm selbst schöpfe«. Er hält sich für überreizt,
fühlt, »daß er mißmutig sei, weil ihm etwas fehle, ohne daß er sich
aufhellen könne, was. Und diese Mißstimmung bringt er überallhin mit
sich«. In solcher Verfassung empört er sich sogar gegen seine
Herrscherin, die Wissenschaft; wie er das erstemal in der
Mittagssonnenglut durch Pompeji wandelt, »hatte seine ganze Wissenschaft
ihn nicht allein verlassen, sondern ließ ihn auch ohne das geringste
Begehren, sie wieder aufzufinden; er erinnerte sich ihrer nur wie aus
einer weiten Ferne, und in seiner Empfindung war sie eine alte,
eingetrocknete, langweilige Tante gewesen, das ledernste und
überflüssigste Geschöpf auf der Welt«. (G. p. 55.)

In diesem unerquicklichen und verworrenen Gemütszustand löst sich ihm
dann das eine der Rätsel, welche an dieser Reise hängen, in dem Moment,
da er zuerst die Gradiva durch Pompeji schreiten sieht. Es kommt ihm
»zum erstenmal zum Bewußtwerden: Er sei, ohne selbst von dem Antrieb in
seinem Innern zu wissen, deshalb nach Italien und ohne Aufenthalt von
Rom und Neapel bis Pompeji weitergefahren, um danach zu suchen, ob er
hier Spuren von ihr auffinden könne. Und zwar im wörtlichen Sinne, denn
bei ihrer besonderen Gangart mußte sie in der Asche einen von allen
übrigen sich unterscheidenden Abdruck der Zehen hinterlassen haben«. (G.
p. 58.)

Da der Dichter so viel Sorgfalt auf die Darstellung dieser Reise
verwendet, muß es auch uns der Mühe wert sein, deren Verhältnis zum Wahn
Hanolds und deren Stellung im Zusammenhang der Begebenheiten zu
erläutern. Die Reise ist ein Unternehmen aus Motiven, welche die Person
zunächst nicht erkennt und erst später sich eingesteht, Motiven, welche
der Dichter direkt als »unbewußte« bezeichnet. Dies ist gewiß dem Leben
abgelauscht; man braucht nicht im Wahn zu sein, um so zu handeln;
vielmehr ist es ein alltägliches Vorkommnis, selbst bei Gesunden, daß
sie sich über die Motive ihres Handelns täuschen und ihrer erst
nachträglich bewußt werden, wenn nur ein Konflikt mehrerer
Gefühlsströmungen ihnen die Bedingung für solche Verworrenheit
herstellt. Die Reise Hanolds war also von Anfang an darauf angelegt, dem
Wahne zu dienen, und sollte ihn nach Pompeji bringen, um die
Nachforschung nach der Gradiva dort fortzusetzen. Wir erinnern, daß vor
und unmittelbar nach dem Traum diese Nachforschung ihn erfüllte, und daß
der Traum selbst nur eine von seinem Bewußtsein erstickte Antwort auf
die Frage nach dem Aufenthalt der Gradiva war. Irgend eine Macht, die
wir nicht erkennen, hemmt aber zunächst auch das Bewußtwerden des
wahnhaften Vorsatzes, so daß zur bewußten Motivierung der Reise nur
unzulängliche, streckenweise zu erneuernde Vorwände erübrigen. Ein
anderes Rätsel gibt uns der Dichter auf, indem er den Traum, die
Entdeckung der vermeintlichen Gradiva auf der Straße und die
Entschließung zur Reise durch den Einfluß des singenden Kanarienvogels
wie Zufälligkeiten ohne innere Beziehung aufeinander folgen läßt.

Mit Hilfe der Aufklärungen, die wir den späteren Reden der Zoë Bertgang
entnehmen, wird dieses dunkle Stück der Erzählung für unser Verständnis
erhellt. Es war wirklich das Urbild der Gradiva, Fräulein Zoë selbst,
das Hanold von seinem Fenster aus auf der Straße schreiten sah (G.
p. 89) und das er bald eingeholt hätte. Die Mitteilung des Traumes: sie
lebt ja am heutigen Tage in der nämlichen Stadt wie du, hätte so durch
einen glücklichen Zufall eine unwiderstehliche Bekräftigung erfahren,
vor welcher sein inneres Sträuben zusammengebrochen wäre. Der
Kanarienvogel aber, dessen Gesang Hanold in die Ferne trieb, gehörte
Zoë, und sein Käfig stand an ihrem Fenster, dem Hause Hanolds schräg
gegenüber. (G. p. 135.) Hanold, der nach der Anklage des Mädchens die
Gabe der »negativen Halluzination« besaß, die Kunst verstand, auch
gegenwärtige Personen nicht zu sehen und nicht zu erkennen, muß von
Anfang an die unbewußte Kenntnis dessen gehabt haben, was wir erst spät
erfahren. Die Zeichen der Nähe Zoës, ihr Erscheinen auf der Straße und
der Gesang ihres Vogels so nahe seinem Fenster, verstärken die Wirkung
des Traumes, und in dieser für seinen Widerstand gegen die Erotik so
gefährlichen Situation -- ergreift er die Flucht. Die Reise entspringt
einem Aufraffen des Widerstandes nach jenem Vorstoß der Liebessehnsucht
im Traum, einem Fluchtversuch von der leibhaftigen und gegenwärtigen
Geliebten weg. Sie bedeutet praktisch einen Sieg der Verdrängung, die
diesmal im Wahne die Oberhand behält, wie bei seinem früheren Tun, den
»pedestrischen Untersuchungen« an Frauen und Mädchen, die Erotik
siegreich gewesen war. Überall aber ist in diesem Schwanken des Kampfes
die Kompromißnatur der Entscheidungen gewahrt; die Reise nach Pompeji,
die von der lebenden Zoë wegführen soll, führt wenigstens zu ihrem
Ersatz, zur Gradiva. Die Reise, die den latenten Traumgedanken zum
Trotze unternommen wird, folgt doch der Weisung des manifesten
Trauminhaltes nach Pompeji. So triumphiert der Wahn von neuem, jedesmal
wenn Erotik und Widerstand von neuem streiten.

Diese Auffassung der Reise Hanolds als Flucht vor der in ihm erwachenden
Liebessehnsucht nach der so nahen Geliebten harmoniert allein mit den
bei ihm geschilderten Gemütszuständen während seines Aufenthaltes in
Italien. Die ihn beherrschende Ablehnung der Erotik drückt sich dort in
seiner Verabscheuung der Hochzeitsreisenden aus. Ein kleiner Traum im
Albergo in Rom, veranlaßt durch die Nachbarschaft eines deutschen
Liebespaares, »August und Grete«, deren Abendgespräch er durch die dünne
Zwischenwand belauschen muß, wirft wie nachträglich ein Licht auf die
erotischen Tendenzen seines ersten großen Traumes. Der neue Traum
versetzt ihn wieder nach Pompeji, wo eben wieder der Vesuv ausbricht,
und knüpft so an den während der Reise fortwirkenden Traum an. Aber
unter den gefährdeten Personen gewahrt er diesmal -- nicht wie früher
sich und die Gradiva --, sondern den Apoll von Belvedere und die
kapitolinische Venus, wohl als ironische Erhöhungen des Paares im
Nachbarraum. Apoll hebt die Venus auf, trägt sie fort und legt sie auf
einen Gegenstand im Dunkeln hin, der ein Wagen oder Karren zu sein
scheint, denn ein »knarrender Ton« schallt davon her. Der Traum bedarf
sonst keiner besonderen Kunst zu seiner Deutung. (G. p. 31.)

Unser Dichter, dem wir längst zutrauen, daß er auch keinen einzelnen Zug
müßig und absichtslos in seiner Schilderung aufträgt, hat uns noch ein
anderes Zeugnis für die Hanold auf der Reise beherrschende asexuelle
Strömung gegeben. Während des stundenlangen Umherwanderns in Pompeji
kommt es ihm »merkwürdigerweise nicht ein einziges Mal in Erinnerung,
daß er vor einiger Zeit einmal geträumt habe, bei der Verschüttung
Pompejis durch den Kraterausbruch im Jahre 79 zugegen gewesen zu sein«.
(G. p. 47.) Erst beim Anblick der Gradiva besinnt er sich plötzlich
dieses Traumes, wie ihm auch gleichzeitig das wahnhafte Motiv seiner
rätselhaften Reise bewußt wird. Was könnte nun dies Vergessen des
Traumes, diese Verdrängungsschranke zwischen dem Traum und dem
Seelenzustand auf der Reise anders bedeuten, als daß die Reise nicht auf
direkte Anregung des Traumes erfolgt ist, sondern in der Auflehnung
gegen denselben, als Ausfluß einer seelischen Macht, die vom geheimen
Sinne des Traumes nichts wissen will?

Anderseits aber wird Hanold dieses Sieges über seine Erotik nicht froh.
Die unterdrückte seelische Regung bleibt stark genug, um sich durch
Mißbehagen und Hemmung an der unterdrückenden zu rächen. Seine Sehnsucht
hat sich in Unruhe und Unbefriedigung verwandelt, die ihm die Reise
sinnlos erscheinen läßt; gehemmt ist die Einsicht in die Motivierung der
Reise im Dienste des Wahnes, gestört sein Verhältnis zu seiner
Wissenschaft, die an solchem Orte all sein Interesse rege machen sollte.
So zeigt uns der Dichter seinen Helden nach seiner Flucht vor der Liebe
in einer Art von Krisis, in einem gänzlich verworrenen und zerfahrenen
Zustand, in einer Zerrüttung, wie sie auf der Höhe der Krankheitszustände
vorzukommen pflegt, wenn keine der beiden streitenden Mächte
mehr um so viel stärker ist als die andere, daß die Differenz ein
strammes, seelisches Regime begründen könnte. Hier greift dann der
Dichter helfend und schlichtend ein, denn an dieser Stelle läßt er die
Gradiva auftreten, welche die Heilung des Wahnes unternimmt. Mit seiner
Macht, die Schicksale der von ihm geschaffenen Menschen zum Guten zu
lenken, trotz all der Notwendigkeiten, denen er sie gehorchen läßt,
versetzt er das Mädchen, vor dem Hanold nach Pompeji geflohen ist,
ebendahin und korrigiert so die Torheit, die der Wahn den jungen Mann
begehen ließ, sich von dem Wohnort der leibhaftigen Geliebten zur
Todesstätte der sie in der Phantasie ersetzenden zu begeben.

Mit dem Erscheinen der Zoë Bertgang als Gradiva, welches den Höhepunkt
der Spannung in der Erzählung bezeichnet, tritt bald auch eine Wendung
in unserem Interesse ein. Haben wir bisher die Entwicklung eines Wahnes
miterlebt, so sollen wir jetzt Zeugen seiner Heilung werden und dürfen
uns fragen, ob der Dichter den Hergang dieser Heilung bloß fabuliert
oder im Anschluß an wirklich vorhandene Möglichkeiten gebildet hat. Nach
Zoës eigenen Worten in der Unterhaltung mit der Freundin haben wir
entschieden das Recht, ihr solche Heilungsabsicht zuzuschreiben. (G.
p. 124.) Wie schickt sie sich aber dazu an? Nachdem sie die Entrüstung
zurückgedrängt, welche die Zumutung, sich wieder wie »damals« zum
Schlafen hinzulegen, bei ihr hervorgerufen, findet sie sich zur gleichen
Mittagsstunde des nächsten Tages am nämlichen Orte ein und entlockt nun
Hanold all das geheime Wissen, das ihr zum Verständnis seines Benehmens
am Vortage gefehlt hat. Sie erfährt von seinem Traum, vom Reliefbild der
Gradiva und von der Eigentümlichkeit des Ganges, welche sie mit diesem
Bilde teilt. Sie akzeptiert die Rolle des für eine kurze Stunde zum
Leben erwachten Gespenstes, welche, wie sie merkt, sein Wahn ihr
zugeteilt, und weist ihm leise in mehrdeutigen Worten eine neue Stellung
an, indem sie die Gräberblume von ihm annimmt, die er ohne bewußte
Absicht mitgebracht, und das Bedauern ausspricht, daß er ihr nicht Rosen
gegeben hat. (G. p. 90.)

Unser Interesse für das Benehmen des überlegen klugen Mädchens, welches
beschlossen hat, sich den Jugendgeliebten zum Manne zu gewinnen, nachdem
sie hinter seinem Wahn seine Liebe als treibende Kraft erkannt, wird
aber an dieser Stelle wahrscheinlich von dem Befremden zurückgedrängt,
welches dieser Wahn selbst bei uns erregen kann. Dessen letzte
Ausgestaltung, daß die im Jahre 79 verschüttete Gradiva nun als
Mittagsgespenst für eine Stunde mit ihm Rede tauschen könne, nach deren
Ablauf sie versinke oder ihre Gruft wieder aufsuche, dieses
Hirngespinst, welches weder durch die Wahrnehmung ihrer modernen
Fußbekleidung noch durch ihre Unkenntnis der alten Sprachen und ihre
Beherrschung des damals nicht existierenden Deutschen beirrt wird,
scheint wohl die Bezeichnung des Dichters »Ein pompejanisches
Phantasiestück« zu rechtfertigen, aber jedes Messen an der klinischen
Wirklichkeit auszuschließen. Und doch scheint mir bei näherer Erwägung
die Unwahrscheinlichkeit dieses Wahnes zum größeren Teile zu zergehen.
Einen Teil der Verschuldung hat ja der Dichter auf sich genommen und in
der Voraussetzung der Erzählung, daß Zoë in allen Zügen das Ebenbild des
Steinreliefs sei, mitgebracht. Man muß sich also hüten, die
Unwahrscheinlichkeit von dieser Voraussetzung auf deren Konsequenz, daß
Hanold das Mädchen für die belebte Gradiva hält, zu verschieben. Die
wahnhafte Erklärung wird hier dadurch im Wert gehoben, daß auch der
Dichter uns keine rationelle zur Verfügung gestellt hat. In der
Sonnenglut Kampaniens und in der verwirrenden Zauberkraft des Weines,
der am Vesuv wächst, hat der Dichter ferner andere helfende und
mildernde Umstände für die Ausschreitung des Helden herangezogen. Das
wichtigste aller erklärenden und entschuldigenden Momente bleibt aber
die Leichtigkeit, mit welcher unser Denkvermögen sich zur Annahme eines
absurden Inhaltes entschließt, wenn stark affektbetonte Regungen dabei
ihre Befriedigung finden, Es ist erstaunlich und findet meist viel zu
geringe Würdigung, wie leicht und häufig selbst intelligenzstarke
Personen unter solchen psychologischen Konstellationen die Reaktionen
partiellen Schwachsinnes geben, und wer nicht allzu eingebildet ist, mag
dies auch beliebig oft an sich selbst beobachten. Und nun erst dann,
wenn ein Teil der in Betracht kommenden Denkvorgänge an unbewußten oder
verdrängten Motiven haftet! Ich zitiere dabei gern die Worte eines
Philosophen, der mir schreibt: »Ich habe auch angefangen, mir
selbsterlebte Fälle von frappanten Irrtümern zu notieren, gedankenloser
Handlungen, die man sich nachträglich motiviert (in sehr unvernünftiger
Weise). Es ist erschreckend, aber typisch, wieviel Dummheit dabei zu
Tage kommt.« Und nun nehme man dazu, daß der Glaube an Geister und
Gespenster und wiederkehrende Seelen, der so viel Anlehnungen in den
Religionen findet, denen wir alle wenigstens als Kinder angehängt haben,
keineswegs bei allen Gebildeten untergegangen ist, daß so viele sonst
Vernünftige die Beschäftigung mit dem Spiritismus mit der Vernunft
vereinbar finden. Ja selbst der nüchtern und ungläubig Gewordene mag mit
Beschämung wahrnehmen, wie leicht er sich für einen Moment zum
Geisterglauben zurückwendet, wenn Ergriffenheit und Ratlosigkeit bei ihm
zusammentreffen. Ich weiß von einem Arzt, der einmal eine seiner
Patientinnen an der Basedowschen Krankheit verloren hatte und einen
leisen Verdacht nicht bannen konnte, daß er durch unvorsichtige
Medikation vielleicht zum unglücklichen Ausgange beigetragen habe. Eines
Tages, mehrere Jahre später, trat ein Mädchen in sein ärztliches Zimmer,
in dem er, trotz alles Sträubens, die Verstorbene erkennen mußte. Er
konnte keinen anderen Gedanken fassen als, es sei doch wahr, daß die
Toten wiederkommen können, und sein Schaudern wich erst der Scham, als
die Besucherin sich als die Schwester jener an der gleichen Krankheit
Verstorbenen vorstellte. Die Basedowsche Krankheit verleiht den von ihr
Befallenen eine oft bemerkte, weitgehende Ähnlichkeit der Gesichtszüge,
und in diesem Falle war die typische Ähnlichkeit über der
schwesterlichen aufgetragen. Der Arzt aber, dem sich dies ereignet, war
ich selbst, und darum bin gerade ich nicht geneigt, dem Norbert Hanold
die klinische Möglichkeit seines kurzen Wahnes von der ins Leben
zurückgekehrten Gradiva zu bestreiten. Daß in ernsten Fällen chronischer
Wahnbildung (Paranoia) das Äußerste an geistreich ausgesponnenen und gut
vertretenen Absurditäten geleistet wird, ist endlich jedem Psychiater
wohlbekannt. --

Nach der ersten Begegnung mit der Gradiva hatte Norbert Hanold zuerst in
dem einen und dann im anderen der ihm bekannten Speisehäuser Pompejis
seinen Wein getrunken, während die anderen Besucher mit der
Hauptmahlzeit beschäftigt waren. »Selbstverständlich war ihm mit keinem
Gedanken die widersinnige Annahme in den Sinn gekommen«, er tue so, um
zu erfahren, in welchem Gasthof die Gradiva wohne und ihre Mahlzeiten
einnehme, aber es ist schwer zu sagen, welchen anderen Sinn dies sein
Tun sonst hätte haben können. Am Tage nach dem zweiten Beisammensein im
Hause des Meleager erlebt er allerlei merkwürdige und scheinbar
unzusammenhängende Dinge: er findet einen engen Spalt in der Mauer des
Portikus, dort, wo die Gradiva verschwunden war, begegnet einem
närrischen Eidechsenfänger, der ihn wie einen Bekannten anredet,
entdeckt ein drittes, versteckt gelegenes Wirtshaus, den »Albergo del
Sole«, dessen Besitzer ihm eine grünpatinierte Metallspange als
Fundstück bei den Überresten eines pompejanischen Mädchens aufschwatzt,
und wird endlich in seinem eigenen Gasthof auf ein neu angekommenes
junges Menschenpaar aufmerksam, welches er als Geschwisterpaar
diagnostiziert, und dem er seine Sympathie schenkt. Alle diese Eindrücke
verweben sich dann zu einem »merkwürdig unsinnigen« Traum, der folgenden
Wortlaut hat:

»Irgendwo in der Sonne sitzt die Gradiva, macht aus einem Grashalm eine
Schlinge, um eine Eidechse darin zu fangen, und sagt dazu: ›Bitte, halte
dich ganz ruhig -- die Kollegin hat recht, das Mittel ist wirklich gut,
und sie hat es mit bestem Erfolge angewendet‹.«

Gegen diesen Traum wehrt er sich noch im Schlafe mit der Kritik, das sei
in der Tat vollständige Verrücktheit, und wirft sich herum, um von ihm
loszukommen. Dies gelingt ihm auch mit Beihilfe eines unsichtbaren
Vogels, der einen kurzen, lachenden Ruf ausstößt und die Lacerte im
Schnabel fortträgt.

Wollen wir den Versuch wagen, auch diesen Traum zu deuten, d. h. ihn
durch die latenten Gedanken zu ersetzen, aus deren Entstellung er
hervorgegangen sein muß? Er ist so unsinnig, wie man es nur von einem
Traume erwarten kann, und diese Absurdität der Träume ist ja die
Hauptstütze der Anschauung, welche dem Traum den Charakter eines
vollgiltigen psychischen Aktes verweigert und ihn aus einer planlosen
Erregung der psychischen Elemente hervorgehen läßt.

Wir können auf diesen Traum die Technik anwenden, welche als das
reguläre Verfahren der Traumdeutung bezeichnet werden kann. Es besteht
darin, sich um den scheinbaren Zusammenhang im manifesten Traum nicht zu
bekümmern, sondern jedes Stück des Inhaltes für sich ins Auge zu fassen
und in den Eindrücken, Erinnerungen und freien Einfällen des Träumers
die Ableitung desselben zu suchen. Da wir aber Hanold nicht examinieren
können, werden wir uns mit der Beziehung auf seine Eindrücke zufrieden
geben müssen, und nur ganz schüchtern unsere eigenen Einfälle an die
Stelle der seinigen setzen dürfen.

»Irgendwo in der Sonne sitzt die Gradiva, fängt Eidechsen und spricht
dazu« -- an welchen Eindruck des Tages klingt dieser Teil des Traumes
an? Unzweifelhaft an die Begegnung mit dem älteren Herrn, dem
Eidechsenfänger, der also im Traum durch die Gradiva ersetzt ist. Der
saß oder lag an »einem heißbesonnten« Abhang und sprach auch Hanold an.
Auch die Reden der Gradiva im Traum sind nach der Rede jenes Mannes
kopiert. Man vergleiche: »Das vom Kollegen _Eimer_ angegebene Mittel ist
wirklich gut, ich habe es schon mehrmals mit bestem Erfolg angewendet.
Bitte, halten Sie sich ganz ruhig --.« Ganz ähnlich spricht die Gradiva
im Traum, nur daß der Kollege _Eimer_ durch eine unbenannte Kollegin
ersetzt ist; auch ist das »mehrmals« aus der Rede des Zoologen im Traume
weggeblieben und die Bindung der Sätze etwas geändert worden. Es scheint
also, daß dieses Erlebnis des Tages durch einige Abänderungen und
Entstellungen zum Traume umgewandelt worden ist. Warum gerade dieses,
und was bedeuten die Entstellungen, der Ersatz des alten Herrn durch die
Gradiva und die Einführung der rätselhaften »Kollegin«?

Es gibt eine Regel der Traumdeutung, welche lautet: Eine im Traum
gehörte Rede stammt immer von einer im Wachen gehörten oder selbst
gehaltenen Rede ab. Nun, diese Regel scheint hier befolgt, die Rede der
Gradiva ist nur eine Modifikation der bei Tag gehörten Rede des alten
Zoologen. Eine andere Regel der Traumdeutung würde uns sagen, die
Ersetzung einer Person durch eine andere oder die Vermengung zweier
Personen, indem etwa die eine in einer Situation gezeigt wird, welche
die andere charakterisiert, bedeutet eine Gleichstellung der beiden
Personen, eine Übereinstimmung zwischen denselben. Wagen wir es, auch
diese Regel auf unseren Traum anzuwenden, so ergäbe sich die
Übersetzung: die Gradiva fängt Eidechsen wie jener Alte, versteht sich
auf den Eidechsenfang wie er. Verständlich ist dieses Ergebnis gerade
noch nicht, aber wir haben ja noch ein anderes Rätsel vor uns. Auf
welchen Eindruck des Tages sollen wir die »Kollegin« beziehen, die im
Traum den berühmten Zoologen _Eimer_ ersetzt? Wir haben da zum Glück
nicht viel Auswahl, es kann nur ein anderes Mädchen als Kollegin gemeint
sein, also jene sympathische junge Dame, in der Hanold eine in
Gesellschaft ihres Bruders reisende Schwester erkannt hatte. »Sie trug
eine rote Sorrentiner Rose am Kleid, deren Anblick an etwas im
Gedächtnis des aus seiner Stubenecke Hinüberschauenden rührte, ohne daß
er sich darauf besinnen konnte, was es sei.« Diese Bemerkung des
Dichters gibt uns wohl das Recht, sie für die »Kollegin« im Traume in
Anspruch zu nehmen. Das, was Hanold nicht erinnern konnte, war gewiß
nichts anderes als das Wort der vermeintlichen Gradiva, glücklicheren
Mädchen bringe man im Frühling Rosen, als sie die weiße Gräberblume von
ihm verlangte. In dieser Rede lag aber eine Werbung verborgen. Was mag
das nun für ein Eidechsenfang sein, der dieser glücklicheren Kollegin so
gut gelungen?

Am nächsten Tage überrascht Hanold das vermeintliche Geschwisterpaar in
zärtlicher Umarmung und kann so seinen Irrtum vom Vortage berichtigen.
Es ist wirklich ein Liebespaar, und zwar auf der Hochzeitsreise
begriffen, wie wir später erfahren, als die beiden das dritte
Beisammensein Hanolds mit der Zoë so unvermutet stören. Wenn wir nun
annehmen wollen, daß Hanold, der sie bewußt für Geschwister hält, in
seinem Unbewußten sogleich ihre wirkliche Beziehung erkannt hat, die
sich tags darauf so unzweideutig verrät, so ergibt sich allerdings ein
guter Sinn für die Rede der Gradiva im Traume. Die rote Rose wird dann
zum Symbol der Liebesbeziehung; Hanold versteht, daß die beiden das
sind, wozu er und die Gradiva erst werden sollen, der Eidechsenfang
bekommt die Bedeutung des Männerfanges, und die Rede der Gradiva heißt
etwa: Laß mich nur machen, ich verstehe es ebenso gut, mir einen Mann zu
gewinnen wie dieses andere Mädchen.

Warum mußte aber dieses Durchschauen der Absichten der Zoë durchaus in
der Form der Rede des alten Zoologen im Traume erscheinen? Warum die
Geschicklichkeit Zoës im Männerfang durch die des alten Herrn im
Eidechsenfang dargestellt werden? Nun, wir haben es leicht, diese Frage
zu beantworten: wir haben längst erraten, daß der Eidechsenfänger kein
anderer ist als der Zoologieprofessor Bertgang, Zoës Vater, der ja auch
Hanold kennen muß, so daß sich verstehen läßt, daß er Hanold wie einen
Bekannten anredet. Nehmen wir von neuem an, daß Hanold im Unbewußten den
Professor gleichfalls sofort erkannt habe, -- »Ihm war's dunkel, das
Gesicht des Lacertenjägers sei schon einmal, wahrscheinlich in einem der
beiden Gasthöfe, an seinen Augen vorübergegangen --«, so erklärt sich
die sonderbare Einkleidung des der Zoë beigelegten Vorsatzes. Sie ist
die Tochter des Eidechsenfängers, sie hat diese Geschicklichkeit von
ihm.

Die Ersetzung des Eidechsenfängers durch die Gradiva im Trauminhalt ist
also die Darstellung für die im Unbewußten erkannte Beziehung der beiden
Personen; die Einführung der »Kollegin« an Stelle des Kollegen _Eimer_
gestattet es dem Traum, das Verständnis ihrer Werbung um den Mann zum
Ausdruck zu bringen. Der Traum hat bisher zwei der Erlebnisse des Tages
zu einer Situation zusammengeschweißt, »verdichtet«, wie wir sagen, um
zwei Einsichten, die nicht bewußt werden durften, einen allerdings sehr
unkenntlichen Ausdruck zu verschaffen. Wir können aber weiter gehen, die
Sonderbarkeit des Traumes noch mehr verringern und den Einfluß auch der
anderen Tageserlebnisse auf die Gestaltung des manifesten Traumes
nachweisen.

Wir könnten uns unbefriedigt durch die bisherige Auskunft erklären,
weshalb gerade die Szene des Eidechsenfanges zum Kern des Traumes
gemacht worden ist, und vermuten, daß noch andere Elemente in den
Traumgedanken für die Auszeichnung der »Eidechse« im manifesten Traum
mit ihrem Einfluß eingetreten sind. Es könnte wirklich leicht so sein.
Erinnern wir uns, daß Hanold einen Spalt in der Mauer entdeckt hatte, an
der Stelle, wo ihm die Gradiva zu verschwinden schien, der »immerhin
breit genug war, um eine Gestalt von ungewöhnlicher Schlankheit«
durchschlüpfen zu lassen. Durch diese Wahrnehmung wurde er bei Tag zu
einer Abänderung in seinem Wahn veranlaßt, die Gradiva versinke nicht im
Boden, wenn sie seinen Blicken entschwinde, sondern begebe sich auf
diesem Wege in ihre Gruft zurück. In seinem unbewußten Denken mochte er
sich sagen, er habe jetzt die natürliche Erklärung für das überraschende
Verschwinden des Mädchens gefunden. Muß aber nicht das sich durch enge
Spalten Zwängen und das Verschwinden in solchen Spalten an das Benehmen
von Lacerten erinnern? Verhält sich die Gradiva dabei nicht selbst wie
ein flinkes Eidechslein? Wir meinen also, diese Entdeckung des Spaltes
in der Mauer habe mitbestimmend auf die Auswahl des Elementes »Eidechse«
für den manifesten Trauminhalt gewirkt, die Eidechsensituation des
Traumes vertrete ebensowohl diesen Eindruck des Tages wie die Begegnung
mit dem Zoologen, Zoës Vater.

Und wenn wir nun, kühn geworden, versuchen wollten, auch für das eine,
noch nicht verwertete Erlebnis des Tages, die Entdeckung des dritten
Albergo »del Sole«, eine Vertretung im Trauminhalt zu finden? Der
Dichter hat diese Episode so ausführlich behandelt und so vielerlei an
sie geknüpft, daß wir uns verwundern müßten, wenn sie allein keinen
Beitrag zur Traumbildung abgegeben hätte. Hanold tritt in dieses
Wirtshaus, welches ihm wegen seiner abgelegenen Lage und Entfernung vom
Bahnhofe unbekannt geblieben war, um sich eine Flasche kohlensauren
Wassers gegen seinen Blutandrang geben zu lassen. Der Wirt benützt diese
Gelegenheit, um seine Antiquitäten anzupreisen, und zeigt ihm eine
Spange, die angeblich jenem pompejanischen Mädchen angehört hatte, das
in der Nähe des Forums in inniger Umschlingung mit seinem Geliebten
aufgefunden wurde. Hanold, der diese oft wiederholte Erzählung bisher
niemals geglaubt, wird jetzt durch eine ihm unbekannte Macht genötigt,
an die Wahrheit dieser rührenden Geschichte und an die Echtheit des
Fundstückes zu glauben, erwirbt die Fibula und verläßt mit seinem Erwerb
den Gasthof. Im Fortgehen sieht er an einem der Fenster einen in ein
Wasserglas gestellten, mit weißen Blüten behängten Asphodelosschaft
herabnicken und empfindet diesen Anblick als eine Beglaubigung der
Echtheit seines neuen Besitztums. Die wahrhafte Überzeugung durchdringt
ihn jetzt, die grüne Spange habe der Gradiva angehört, und sie sei das
Mädchen gewesen, das in der Umarmung ihres Geliebten gestorben sei. Die
quälende Eifersucht, die ihn dabei erfaßt, beschwichtigt er durch den
Vorsatz, sich am nächsten Tage bei der Gradiva selbst durch das
Vorzeigen der Spange Sicherheit wegen seines Argwohnes zu holen. Dies
ist doch ein sonderbares Stück neuer Wahnbildung, und es sollte keine
Spur im Traume der nächstfolgenden Nacht darauf hinweisen!

Es wird uns wohl der Mühe wert sein, uns die Entstehung dieses
Wahnzuwachses verständlich zu machen, das neue Stück unbewußter Einsicht
aufzusuchen, das sich durch das neue Stück Wahn ersetzt. Der Wahn
entsteht unter dem Einfluß des Wirtes vom Sonnenwirtshaus, gegen den
sich Hanold so merkwürdig leichtgläubig benimmt, als hätte er eine
Suggestion von ihm empfangen. Der Wirt zeigt ihm eine metallene
Gewandfibel als echt und als Besitztum jenes Mädchens, das in den Armen
seines Geliebten verschüttet aufgefunden wurde, und Hanold, der kritisch
genug sein könnte, um die Wahrheit der Geschichte sowie die Echtheit der
Spange zu bezweifeln, ist sofort gläubig gefangen und erwirbt die mehr
als zweifelhafte Antiquität. Es ist ganz unverständlich, warum er sich
so benehmen sollte, und es deutet nichts darauf, daß die Persönlichkeit
des Wirtes selbst uns dieses Rätsel lösen könnte. Es ist aber noch ein
anderes Rätsel in dem Vorfall, und zwei Rätsel lösen sich gern
miteinander. Beim Verlassen des Albergo erblickt er einen
Asphodelosschaft im Glase an einem Fenster und findet in ihm eine
Beglaubigung für die Echtheit der Metallspange. Wie kann das nur
zugehen? Dieser letzte Zug ist zum Glück der Lösung leicht zugänglich.
Die weiße Blume ist wohl dieselbe, die er zu Mittag der Gradiva
geschenkt, und es ist ganz richtig, daß durch ihren Anblick an einem der
Fenster dieses Gasthofes etwas bekräftigt wird. Freilich nicht die
Echtheit der Spange, aber etwas anderes, was ihm schon bei der
Entdeckung dieses bisher übersehenen Albergo klar geworden. Er hatte
bereits am Vortage sich so benommen, als suchte er in den beiden
Gasthöfen Pompejis, wo die Person wohne, die ihm als Gradiva erscheine.
Nun, da er so unvermuteterweise auf einen dritten stößt, muß er sich im
Unbewußten sagen: Also hier wohnt sie; und dann beim Weggehen: Richtig,
da ist ja die Asphodelosblume, die ich ihr gegeben; das ist also ihr
Fenster. Dies wäre also die neue Einsicht, die sich durch den Wahn
ersetzt, die nicht bewußt werden kann, weil ihre Voraussetzung, die
Gradiva sei eine Lebende, von ihm einst gekannte Person, nicht bewußt
werden konnte.

Wie soll nun aber die Ersetzung der neuen Einsicht durch den Wahn vor
sich gegangen sein? Ich meine so, daß das Überzeugungsgefühl, welches
der Einsicht anhaftete, sich behaupten konnte und erhalten blieb,
während für die bewußtseinsunfähige Einsicht selbst ein anderer, aber
durch Denkverbindung mit ihr verknüpfter Vorstellungsinhalt eintrat. So
geriet nun das Überzeugungsgefühl in Verbindung mit einem ihm eigentlich
fremden Inhalt, und dieser letztere gelangte als Wahn zu einer ihm
selbst nicht gebührenden Anerkennung. Hanold überträgt seine
Überzeugung, daß die Gradiva in diesem Hause wohne, auf andere
Eindrücke, die er in diesem Hause empfängt, wird auf solche Weise
gläubig für die Reden des Wirtes, die Echtheit der Metallspange und die
Wahrheit der Anekdote von dem in Umarmung aufgefundenen Liebespaar, aber
nur auf dem Wege, daß er das in diesem Hause Gehörte mit der Gradiva in
Beziehung bringt. Die in ihm bereitliegende Eifersucht bemächtigt sich
dieses Materials, und es entsteht, selbst im Widerspruch mit seinem
ersten Traum, der Wahn, daß die Gradiva jenes in den Armen ihres
Liebhabers verstorbene Mädchen war, und daß ihr jene von ihm erworbene
Spange gehört hat.

Wir werden aufmerksam darauf, daß das Gespräch mit der Gradiva und ihre
leise Werbung »durch die Blume« bereits wichtige Veränderungen bei
Hanold hervorgerufen haben. Züge von männlicher Begehrlichkeit,
Komponenten der Libido, sind bei ihm erwacht, die allerdings der
Verhüllung durch bewußte Vorwände noch nicht entbehren können. Aber das
Problem der »leiblichen Beschaffenheit« der Gradiva, das ihn diesen
ganzen Tag über verfolgt, kann doch seine Abstammung von der erotischen
Wißbegierde des Jünglings nach dem Körper des Weibes nicht verleugnen,
auch wenn es durch die bewußte Betonung des eigentümlichen Schwebens der
Gradiva zwischen Tod und Leben ins Wissenschaftliche gezogen werden
soll. Die Eifersucht ist ein weiteres Zeichen der erwachenden Aktivität
Hanolds in der Liebe; er äußert diese Eifersucht zu Eingang der
Unterredung am nächsten Tage und setzt es dann mit Hilfe eines neuen
Vorwandes durch, den Körper des Mädchens zu berühren und sie, wie in
längst vergangenen Zeiten, zu schlagen.

Nun aber ist es Zeit, uns zu fragen, ob denn der Weg der Wahnbildung,
den wir aus der Darstellung des Dichters erschlossen haben, ein sonst
bekannter oder ein überhaupt möglicher sei. Aus unserer ärztlichen
Kenntnis können wir nur die Antwort geben, es sei gewiß der richtige
Weg, vielleicht der einzige, auf dem überhaupt der Wahn zu der
unerschütterlichen Anerkennung gelangt, die zu seinen klinischen
Charakteren gehört. Wenn der Kranke so fest an seinen Wahn glaubt, so
geschieht dies nicht durch eine Verkehrung seines Urteilsvermögens, und
rührt nicht von dem her, was am Wahne irrig ist. Sondern in jedem Wahn
steckt auch ein Körnchen Wahrheit, es ist etwas an ihm, was wirklich den
Glauben verdient, und dieses ist die Quelle der also so weit
berechtigten Überzeugung des Kranken. Aber dieses Wahre war lange Zeit
verdrängt; wenn es ihm endlich gelingt, diesmal in entstellter Form zum
Bewußtsein durchzudringen, so ist das ihm anhaftende Überzeugungsgefühl
wie zur Entschädigung überstark, haftet nun am Entstellungsersatz des
verdrängten Wahren und schützt denselben gegen jede kritische
Anfechtung. Die Überzeugung verschiebt sich gleichsam von dem unbewußten
Wahren auf das mit ihm verknüpfte, bewußte Irrige, und bleibt gerade
infolge dieser Verschiebung dort fixiert. Der Fall von Wahnbildung, der
sich aus Hanolds erstem Traum ergab, ist nichts als ein ähnliches, wenn
auch nicht identisches Beispiel einer solchen Verschiebung. Ja, die
geschilderte Entstehungsweise der Überzeugung beim Wahne ist nicht
einmal grundsätzlich von der Art verschieden, wie sich Überzeugung in
normalen Fällen bildet, wo die Verdrängung nicht im Spiele ist. Wir alle
heften unsere Überzeugung an Denkinhalte, in denen Wahres mit Falschem
vereint ist, und lassen sie vom ersteren aus sich über das letztere
erstrecken. Sie diffundiert gleichsam von dem Wahren her über das
assoziierte Falsche und schützt dieses, wenn auch nicht so unabänderlich
wie beim Wahn, gegen die verdiente Kritik. Beziehungen, Protektion
gleichsam, können auch in der Normalpsychologie den eigenen Wert
ersetzen. --

Ich will nun zum Traum zurückkehren und einen kleinen, aber nicht
uninteressanten Zug hervorheben, der zwischen zwei Anlässen des Traumes
eine Verbindung herstellt. Die Gradiva hatte die weiße Asphodelosblüte
in einen gewissen Gegensatz zur roten Rose gebracht; das Wiederfinden
des Asphodelos am Fenster des Albergo del Sole wird zu einem wichtigen
Beweisstück für die unbewußte Einsicht Hanolds, die sich im neuen Wahn
ausdrückt, und dem reiht sich an, daß die rote Rose am Kleid des
sympathischen jungen Mädchens Hanold im Unbewußten zur richtigen
Würdigung ihres Verhältnisses zu ihrem Begleiter verhilft, so daß er sie
im Traum als »Kollegin« auftreten lassen kann.

Wo findet sich nun aber im manifesten Trauminhalt die Spur und
Vertretung jener Entdeckung Hanolds, welche wir durch den neuen Wahn
ersetzt fanden, der Entdeckung, daß die Gradiva mit ihrem Vater in dem
dritten versteckten Gasthof Pompejis, im Albergo del Sole wohne? Nun, es
steht ganz und nicht einmal sehr entstellt im Traume drin; ich scheue
mich nur darauf hinzuweisen, denn ich weiß, selbst bei den Lesern, deren
Geduld so weit bei mir ausgehalten hat, wird sich nun ein starkes
Sträuben gegen meine Deutungsversuche regen. Die Entdeckung Hanolds ist
im Trauminhalt, wiederhole ich, voll mitgeteilt, aber so geschickt
versteckt, daß man sie notwendig übersehen muß. Sie ist dort hinter
einem Spiel mit Worten, einer Zweideutigkeit geborgen. »Irgendwo in der
Sonne sitzt die Gradiva,« das haben wir mit Recht auf die Örtlichkeit
bezogen, an welcher Hanold den Zoologen, ihren Vater, traf. Aber soll es
nicht auch heißen können: in der »Sonne«, d. i. im Albergo del Sole, im
Gasthaus zur Sonne wohnt die Gradiva? Und klingt das »Irgendwo«, welches
auf die Begegnung mit dem Vater keinen Bezug hat, nicht gerade darum so
heuchlerisch unbestimmt, weil es die bestimmte Auskunft über den
Aufenthalt der Gradiva einleitet? Ich bin nach meiner sonstigen
Erfahrung in der Deutung realer Träume eines solchen Verständnisses der
Zweideutigkeit ganz sicher, aber ich getraute mich wirklich nicht,
dieses Stückchen Deutungsarbeit meinen Lesern vorzulegen, wenn der
Dichter mir nicht hier seine mächtige Hilfe leihen würde. Am nächsten
Tage legt er dem Mädchen beim Anblick der Metallspange das nämliche
Wortspiel in den Mund, welches wir für die Deutung der Stelle im
Trauminhalt annehmen. »Hast du sie vielleicht in der _Sonne_ gefunden,
die macht hier solche Kunststücke.« Und da Hanold diese Rede nicht
versteht, erläutert sie, sie meine den Gasthof zur _Sonne_, die sie hier
»Sole« heißen, von woher auch ihr das angebliche Fundstück bekannt ist.

Und nun möchten wir den Versuch wagen, den »merkwürdig unsinnigen« Traum
Hanolds durch die hinter ihm verborgenen, ihm möglichst unähnlichen,
unbewußten Gedanken zu ersetzen. Etwa so: »Sie wohnt ja in der Sonne mit
ihrem Vater, warum spielt sie solches Spiel mit mir? Will sie ihren
Spott mit mir treiben? Oder sollte es möglich sein, daß sie mich liebt
und mich zum Manne nehmen will?« -- Auf diese letztere Möglichkeit
erfolgt wohl noch im Schlaf die abweisende Antwort: das sei ja die
reinste Verrücktheit, die sich scheinbar gegen den ganzen manifesten
Traum richtet.

Kritische Leser haben nun das Recht, nach der Herkunft jener bisher
nicht begründeten Einschaltung zu fragen, die sich auf das
Verspottetwerden durch die Gradiva bezieht. Darauf gibt die
»Traumdeutung« die Antwort, wenn in den Traumgedanken Spott, Hohn,
erbitterter Widerspruch vorkommt, so wird dies durch die unsinnige
Gestaltung des manifesten Traumes, durch die Absurdität im Traume
ausgedrückt. Letztere bedeutet also kein Erlahmen der psychischen
Tätigkeit, sondern ist eines der Darstellungsmittel, deren sich die
Traumarbeit bedient. Wie immer an besonders schwierigen Stellen kommt
uns auch hier der Dichter zu Hilfe. Der unsinnige Traum hat noch ein
kurzes Nachspiel, in dem ein Vogel einen lachenden Ruf ausstößt und die
Lacerte im Schnabel davonträgt. Einen solchen lachenden Ruf hatte Hanold
aber nach dem Verschwinden der Gradiva gehört. Er kam wirklich von der
Zoë her, die den düsteren Ernst ihrer Unterweltsrolle mit diesem Lachen
von sich abschüttelte. Die Gradiva hatte ihn wirklich ausgelacht. Das
Traumbild aber, wie der Vogel die Lacerte davonträgt, mag an jenes
andere in einem früheren Traum erinnern, in dem der Apoll von Belvedere
die kapitolinische Venus davontrug.

Vielleicht besteht noch bei manchem Leser der Eindruck, daß die
Übersetzung der Situation des Eidechsenfanges durch die Idee der
Liebeswerbung nicht genügend gesichert sei. Da mag denn der Hinweis zur
Unterstützung dienen, daß Zoë in dem Gespräch mit der Kollegin das
nämliche von sich bekennt, was Hanolds Gedanken von ihr vermuten, indem
sie mitteilt, sie sei sicher gewesen, sich in Pompeji etwas
Interessantes »auszugraben«. Sie greift dabei in den archäologischen
Vorstellungskreis, wie er mit seinem Gleichnis vom Eidechsenfang in den
zoologischen, als ob sie einander entgegenstreben würden und jeder die
Eigenart des anderen annehmen wollte.

So hätten wir die Deutung auch dieses zweiten Traumes erledigt. Beide
sind unserem Verständnis zugänglich geworden unter der Voraussetzung,
daß der Träumer in seinem unbewußten Denken all das weiß, was er im
bewußten vergessen hat, all das dort richtig beurteilt, was er hier
wahnhaft verkennt. Dabei haben wir freilich manche Behauptung aufstellen
müssen, die dem Leser, weil fremd, auch befremdlich klang, und
wahrscheinlich oft den Verdacht erweckt, daß wir für den Sinn des
Dichters ausgeben, was nur unser eigener Sinn ist. Wir sind alles zu tun
bereit, um diesen Verdacht zu zerstreuen, und wollen darum einen der
heikelsten Punkte -- ich meine die Verwendung zweideutiger Worte und
Reden wie im Beispiele: Irgendwo in der _Sonne_ sitzt die Gradiva --
gern ausführlicher in Betrachtung ziehen.

Es muß jedem Leser der »Gradiva« auffallen, wie häufig der Dichter
seinen beiden Hauptpersonen Reden in den Mund legt, die zweierlei Sinn
ergeben. Bei Hanold sind diese Reden eindeutig gemeint, und nur seine
Partnerin, die Gradiva, wird von deren anderem Sinn ergriffen. So, wenn
er nach ihrer ersten Antwort ausruft: Ich wußte es, so klänge deine
Stimme, und die noch unaufgeklärte Zoë fragen muß, wie das möglich sei,
da er sie noch nicht sprechen gehört habe. In der zweiten Unterredung
wird das Mädchen für einen Augenblick an seinem Wahne irre, da er
versichert, er habe sie sofort erkannt. Sie muß diese Worte in dem Sinne
verstehen, der für sein Unbewußtes richtig ist als Anerkennung ihrer in
die Kindheit zurückreichenden Bekanntschaft, während er natürlich von
dieser Tragweite seiner Rede nichts weiß und sie auch nur durch
Beziehung auf den ihn beherrschenden Wahn erläutert. Die Reden des
Mädchens hingegen, in deren Person die hellste Geistesklarheit dem Wahn
entgegengestellt wird, sind mit Absicht zweideutig gehalten. Der eine
Sinn derselben schmiegt sich dem Wahne Hanolds an, um in sein bewußtes
Verständnis dringen zu können, der andere erhebt sich über den Wahn und
gibt uns in der Regel die Übersetzung desselben in die von ihm
vertretene unbewußte Wahrheit. Es ist ein Triumph des Witzes, den Wahn
und die Wahrheit in der nämlichen Ausdrucksform darstellen zu können.

Durchsetzt von solchen Zweideutigkeiten ist die Rede der Zoë, in welcher
sie der Freundin die Situation aufklärt und sich gleichzeitig von ihrer
störenden Gesellschaft befreit; sie ist eigentlich aus dem Buche
herausgesprochen, mehr für uns Leser als für die glückliche Kollegin
berechnet. In den Gesprächen mit Hanold ist der Doppelsinn meist dadurch
hergestellt, daß Zoë sich der Symbolik bedient, welche wir im ersten
Traume Hanolds befolgt fanden, der Gleichstellung von Verdrängung und
Verschüttung, Pompeji und Kindheit. So kann sie mit ihren Reden
einerseits in der Rolle verbleiben, die ihr der Wahn Hanolds anweist,
anderseits an die wirklichen Verhältnisse rühren und im Unbewußten
Hanolds das Verständnis für dieselben wecken.

»Ich habe mich schon lange daran gewöhnt, tot zu sein.« (G. p. 90.) --
»Für mich ist die Blume der Vergessenheit aus deiner Hand die richtige.«
(G. p. 90.) In diesen Reden _meldet_ sich leise der Vorwurf, der dann in
ihrer letzten Strafpredigt deutlich genug hervorbricht, wo sie ihn mit
dem Archäopteryx vergleicht. »Daß jemand erst sterben muß, um lebendig
zu werden. Aber für die Archäologen ist das wohl notwendig« (G. p. 141),
sagt sie noch nachträglich nach der Lösung des Wahnes, wie um den
Schlüssel zu ihren zweideutigen Reden zu geben. Die schönste Anwendung
ihrer Symbolik gelingt ihr aber in der Frage: (G. p. 118) »Mir ist's,
als hätten wir schon vor zweitausend Jahren einmal so zusammen unser
Brot gegessen. Kannst du dich nicht darauf besinnen?«, in welcher Rede
die Ersetzung der Kindheit durch die historische Vorzeit und das
Bemühen, die Erinnerung an die erstere zu erwecken, ganz unverkennbar
sind.

Woher nun diese auffällige Bevorzugung der zweideutigen Reden in der
»Gradiva«? Sie erscheint uns nicht als Zufälligkeit, sondern als
notwendige Abfolge aus den Voraussetzungen der Erzählung. Sie ist nichts
anderes als das Seitenstück zur zweifachen Determinierung der Symptome,
insofern die Reden selbst Symptome sind und wie diese aus Kompromissen
zwischen Bewußtem und Unbewußtem hervorgehen. Nur daß man den Reden
diesen doppelten Ursprung leichter anmerkt als etwa den Handlungen, und
wenn es gelingt, was die Schmiegsamkeit des Materials der Rede oftmals
ermöglicht, in der nämlichen Fügung von Worten jedem der beiden
Redeabsichten guten Ausdruck zu verschaffen, dann liegt das vor, was wir
eine »Zweideutigkeit« heißen.

Während der psychotherapeutischen Behandlung eines Wahnes oder einer
analogen Störung entwickelt man häufig solche zweideutige Reden beim
Kranken, als neue Symptome von flüchtigstem Bestand, und kann auch
selbst in die Lage kommen, sich ihrer zu bedienen, wobei man mit dem für
das Bewußtsein des Kranken bestimmten Sinn nicht selten das Verständnis
für den im Unbewußten giltigen anregt. Ich weiß aus Erfahrung, daß diese
Rolle der Zweideutigkeit bei den Uneingeweihten den größten Anstoß zu
erregen und die gröbsten Mißverständnisse zu verursachen pflegt, aber
der Dichter hatte jedenfalls recht, auch diesen charakteristischen Zug
der Vorgänge bei der Traum- und Wahnbildung in seiner Schöpfung zur
Darstellung zu bringen.



IV.


Mit dem Auftreten der Zoë als Arzt erwache bei uns, sagten wir bereits,
ein neues Interesse. Wir würden gespannt sein zu erfahren, ob eine
solche Heilung, wie sie von ihr an Hanold vollzogen wird, begreiflich
oder überhaupt möglich ist, ob der Dichter die Bedingungen für das
Schwinden eines Wahnes ebenso richtig erschaut hat wie die seiner
Entstehung.

Ohne Zweifel wird uns hier eine Anschauung entgegentreten, die dem vom
Dichter geschilderten Falle solches prinzipielle Interesse abspricht und
kein der Aufklärung bedürftiges Problem anerkennt. Dem Hanold bleibe
nichts anderes übrig, als seinen Wahn wieder aufzulösen, nachdem das
Objekt desselben, die vermeintliche »Gradiva« selbst, ihn der
Unrichtigkeit all seiner Aufstellungen überführe und ihm die
natürlichsten Erklärungen für alles Rätselhafte, z. B. woher sie seinen
Namen wisse, gebe. Damit wäre die Angelegenheit logisch erledigt; da
aber das Mädchen ihm in diesem Zusammenhange ihre Liebe gestanden, lasse
der Dichter, gewiß zur Befriedigung seiner Leserinnen, die sonst nicht
uninteressante Erzählung mit dem gewöhnlichen glücklichen Schluß, der
Heirat, enden. Konsequenter und ebenso möglich wäre der andere Schluß
gewesen, daß der junge Gelehrte nach der Aufklärung seines Irrtums mit
höflichem Danke von der jungen Dame Abschied nehme und die Ablehnung
ihrer Liebe damit motiviere, daß er zwar für antike Frauen aus Bronze
oder Stein und deren Urbilder, wenn sie dem Verkehr erreichbar wären,
ein intensives Interesse aufbringen könne, mit einem zeitgenössischen
Mädchen aus Fleisch und Bein aber nichts anzufangen wisse. Das
archäologische Phantasiestück sei eben vom Dichter recht willkürlich mit
einer Liebesgeschichte zusammengekittet worden.

Indem wir diese Auffassung als unmöglich abweisen, werden wir erst
aufmerksam gemacht, daß wir die an Hanold eintretende Veränderung nicht
nur in den Verzicht auf den Wahn zu verlegen haben. Gleichzeitig, ja
noch vor der Auflösung des letzteren, ist das Erwachen des
Liebesbedürfnisses bei ihm unverkennbar, das dann wie selbstverständlich
in die Werbung um das Mädchen ausläuft, welches ihn von seinem Wahn
befreit hat. Wir haben bereits hervorgehoben, unter welchen Vorwänden
und Einkleidungen die Neugierde nach ihrer leiblichen Beschaffenheit,
die Eifersucht und der brutale männliche Bemächtigungstrieb sich bei ihm
mitten im Wahne äußern, seitdem die verdrängte Liebessehnsucht ihm den
ersten Traum eingegeben hat. Nehmen wir als weiteres Zeugnis hinzu, daß
am Abend nach der zweiten Unterredung mit der Gradiva ihm zuerst ein
lebendes weibliches Wesen sympathisch erscheint, obwohl er noch seinem
früheren Abscheu vor Hochzeitsreisenden die Konzession macht, die
Sympathische nicht als Neuvermählte zu erkennen. Am nächsten Vormittag
aber macht ihn ein Zufall zum Zeugen des Austausches von Zärtlichkeiten
zwischen diesem Mädchen und seinem vermeintlichen Bruder, und da zieht
er sich scheu zurück, als hätte er eine heilige Handlung gestört. Der
Hohn auf »August und Grete« ist vergessen, der Respekt vor dem
Liebesleben bei ihm hergestellt.

So hat der Dichter die Lösung des Wahnes und das Hervorbrechen des
Liebesbedürfnisses innigst miteinander verknüpft, den Ausgang in eine
Liebeswerbung als notwendig vorbereitet. Er kennt das Wesen des Wahnes
eben besser als seine Kritiker, er weiß, daß eine Komponente von
verliebter Sehnsucht mit einer Komponente des Sträubens zur Entstehung
des Wahnes zusammengetreten sind, und er läßt das Mädchen, welches die
Heilung unternimmt, die ihr genehme Komponente im Wahne Hanolds
herausfühlen. Nur diese Einsicht kann sie bestimmen, sich seiner
Behandlung zu widmen, nur die Sicherheit, sich von ihm geliebt zu
wissen, sie bewegen, ihm ihre Liebe zu gestehen. Die Behandlung besteht
darin, ihm die verdrängten Erinnerungen, die er von innen her nicht
freimachen kann, von außen her wiederzugeben; sie würde aber keine
Wirkung äußern, wenn die Therapeutin dabei nicht auf die Gefühle
Rücksicht nehmen, und die Übersetzung des Wahnes nicht schließlich
lauten würde: Sieh', das bedeutet doch alles nur, daß du mich liebst.

Das Verfahren, welches der Dichter seine Zoë zur Heilung des Wahnes bei
ihrem Jugendfreunde einschlagen läßt, zeigt eine weitgehende
Ähnlichkeit, nein, eine volle Übereinstimmung im Wesen, mit einer
therapeutischen Methode, welche Dr. _J. Breuer_ und der Verfasser im
Jahre 1895 in die Medizin eingeführt haben, und deren Vervollkommnung
sich der letztere seitdem gewidmet hat. Diese Behandlungsweise, von
_Breuer_ zuerst die »kathartische« genannt, vom Verfasser mit Vorliebe
als »analytische« bezeichnet, besteht darin, daß man bei den Kranken,
die an analogen Störungen wie der Wahn Hanolds leiden, das Unbewußte,
unter dessen Verdrängung sie erkrankt sind, gewissermaßen gewaltsam zum
Bewußtsein bringt, ganz so wie es die Gradiva mit den verdrängten
Erinnerungen an ihre Kinderbeziehungen tut. Freilich, die Gradiva hat
die Erfüllung dieser Aufgabe leichter als der Arzt, sie befindet sich
dabei in einer nach mehreren Richtungen ideal zu nennenden Position. Der
Arzt, der seinen Kranken nicht von vornherein durchschaut und nicht als
bewußte Erinnerung in sich trägt, was in jenem unbewußt arbeitet, muß
eine komplizierte Technik zu Hilfe nehmen, um diesen Nachteil
auszugleichen. Er muß es lernen, aus den bewußten Einfällen und
Mitteilungen des Kranken mit großer Sicherheit auf das Verdrängte in ihm
zu schließen, das Unbewußte zu erraten, wo es sich hinter den bewußten
Äußerungen und Handlungen des Kranken verrät. Er bringt dann Ähnliches
zu stande, wie es Norbert Hanold am Ende der Erzählung selbst versteht,
indem er sich den Namen »Gradiva« in »Bertgang« rückübersetzt. Die
Störung schwindet dann, während sie auf ihren Ursprung zurückgeführt
wird; die Analyse bringt auch gleichzeitig die Heilung.

Die Ähnlichkeit zwischen dem Verfahren der Gradiva und der analytischen
Methode der Psychotherapie beschränkt sich aber nicht auf diese beiden
Punkte, das Bewußtmachen des Verdrängten und das Zusammenfallen von
Aufklärung und Heilung. Sie erstreckt sich auch auf das, was sich als
das Wesentliche der ganzen Veränderung herausstellt, auf die Erweckung
der Gefühle. Jede dem Wahne Hanolds analoge Störung, die wir in der
Wissenschaft als Psychoneurose zu bezeichnen gewohnt sind, hat die
Verdrängung eines Stückes des Trieblebens, sagen wir getrost des
Sexualtriebes, zur Voraussetzung, und bei jedem Versuch, die unbewußte
und verdrängte Krankheitsursache ins Bewußtsein einzuführen, erwacht
notwendig die betreffende Triebkomponente zu erneutem Kampf mit den sie
verdrängenden Mächten, um sich mit ihnen oft unter heftigen
Reaktionserscheinungen zum endlichen Ausgang abzugleichen. In einem
Liebesrezidiv vollzieht sich der Prozeß der Genesung, wenn wir alle die
mannigfaltigen Komponenten des Sexualtriebes als »Liebe« zusammenfassen,
und dies Rezidiv ist unerläßlich, denn die Symptome, wegen deren die
Behandlung unternommen wurde, sind nichts anderes als Niederschläge
früherer Verdrängungs- oder Wiederkehrkämpfe und können nur von einer
neuen Hochflut der nämlichen Leidenschaften gelöst und weggeschwemmt
werden. Jede psychoanalytische Behandlung ist ein Versuch, verdrängte
Liebe zu befreien, die in einem Symptom einen kümmerlichen
Kompromißausweg gefunden hatte. Ja, die Übereinstimmung mit dem vom
Dichter geschilderten Heilungsvorgang in der »Gradiva« erreicht ihre
Höhe, wenn wir hinzufügen, daß auch in der analytischen Psychotherapie
die wiedergeweckte Leidenschaft, sei sie Liebe oder Haß, jedesmal die
Person des Arztes zu ihrem Objekte wählt.

Dann setzen freilich die Unterschiede ein, welche den Fall der Gradiva
zum Idealfall machen, den die ärztliche Technik nicht erreichen kann.
Die Gradiva kann die aus dem Unbewußten zum Bewußtsein durchdringende
Liebe erwidern, der Arzt kann es nicht; die Gradiva ist selbst das
Objekt der früheren, verdrängten Liebe gewesen, ihre Person bietet der
befreiten Liebesstrebung sofort ein begehrenswertes Ziel. Der Arzt ist
ein Fremder gewesen und muß trachten, nach der Heilung wieder ein
Fremder zu werden; er weiß den Geheilten oft nicht zu raten, wie sie
ihre wiedergewonnene Liebesfähigkeit im Leben verwenden können. Mit
welchen Auskunftsmitteln und Surrogaten sich dann der Arzt behilft, um
sich dem Vorbild einer Liebesheilung, das uns der Dichter gezeichnet,
mit mehr oder weniger Erfolg zu nähern, das anzudeuten, würde uns viel
zu weit weg von der uns vorliegenden Aufgabe führen. --

Nun aber die letzte Frage, deren Beantwortung wir bereits einigemal aus
dem Wege gegangen sind. Unsere Anschauungen über die Verdrängung, die
Entstehung eines Wahnes und verwandter Störungen, die Bildung und
Auflösung von Träumen, die Rolle des Liebeslebens und die Art der
Heilung bei solchen Störungen sind ja keineswegs Gemeingut der
Wissenschaft, geschweige denn bequemer Besitz der Gebildeten zu nennen.
Ist die Einsicht, welche den Dichter befähigt, sein »Phantasiestück« so
zu schaffen, daß wir es wie eine reale Krankengeschichte zergliedern
können, von der Art einer Kenntnis, so wären wir begierig, die Quellen
dieser Kenntnis kennen zu lernen. Einer aus dem Kreise, der, wie
eingangs ausgeführt, an den Träumen in der »Gradiva« und deren möglichen
Deutung Interesse nahm, wandte sich an den Dichter mit der direkten
Anfrage, ob ihm von den so ähnlichen Theorien in der Wissenschaft etwas
bekannt worden sei. Der Dichter antwortete, wie vorauszusehen war,
verneinend und sogar etwas unwirsch. Seine Phantasie habe ihm die
»Gradiva« eingegeben, an der er seine Freude gehabt habe; wem sie nicht
gefalle, der möge sie eben stehen lassen. Er ahnte nicht, wie sehr sie
den Lesern gefallen hatte.

Es ist sehr leicht möglich, daß die Ablehnung des Dichters nicht dabei
Halt macht. Vielleicht stellt er überhaupt die Kenntnis der Regeln in
Abrede, deren Befolgung wir bei ihm nachgewiesen haben, und verleugnet
alle die Absichten, die wir in seiner Schöpfung erkannt haben. Ich halte
dies nicht für unwahrscheinlich; dann aber sind nur zwei Fälle möglich.
Entweder wir haben ein rechtes Zerrbild der Interpretation geliefert,
indem wir in ein harmloses Kunstwerk Tendenzen verlegt haben, von denen
dessen Schöpfer keine Ahnung hatte, und haben damit wieder einmal
bewiesen, wie leicht es ist, das zu finden, was man sucht, und wovon man
selbst erfüllt ist, eine Möglichkeit, für die in der Literaturgeschichte
die seltsamsten Beispiele verzeichnet sind. Mag nun jeder Leser selbst
mit sich einig werden, ob er sich dieser Aufklärung anzuschließen
vermag; wir halten natürlich an der anderen, noch erübrigenden
Auffassung fest. Wir meinen, daß der Dichter von solchen Regeln und
Absichten nichts zu wissen brauche, so daß er sie in gutem Glauben
verleugnen könne, und daß wir doch in seiner Dichtung nichts gefunden
haben, was nicht in ihr enthalten ist. Wir schöpfen wahrscheinlich aus
der gleichen Quelle, bearbeiten das nämliche Objekt, ein jeder von uns
mit einer anderen Methode, und die Übereinstimmung im Ergebnis scheint
dafür zu bürgen, daß beide richtig gearbeitet haben. Unser Verfahren
besteht in der bewußten Beobachtung der abnormen seelischen Vorgänge bei
Anderen, um deren Gesetze erraten und aussprechen zu können. Der Dichter
geht wohl anders vor; er richtet seine Aufmerksamkeit auf das Unbewußte
in seiner eigenen Seele, lauscht den Entwicklungsmöglichkeiten desselben
und gestattet ihnen den künstlerischen Ausdruck, anstatt sie mit
bewußter Kritik zu unterdrücken. So erfährt er aus sich, was wir bei
Anderen erlernen, welchen Gesetzen die Betätigung dieses Unbewußten
folgen muß, aber er braucht diese Gesetze nicht auszusprechen, nicht
einmal sie klar zu erkennen, sie sind infolge der Duldung seiner
Intelligenz in seinen Schöpfungen verkörpert enthalten. Wir entwickeln
diese Gesetze durch Analyse aus seinen Dichtungen, wie wir sie aus den
Fällen realer Erkrankung herausfinden, aber der Schluß scheint
unabweisbar, entweder haben beide, der Dichter wie der Arzt, das
Unbewußte in gleicher Weise mißverstanden, oder wir haben es beide
richtig verstanden. Dieser Schluß ist uns sehr wertvoll; um seinetwegen
war es uns der Mühe wert, die Darstellung der Wahnbildung und
Wahnheilung sowie die Träume in _Jensens_ »Gradiva« mit den Methoden der
ärztlichen Psychoanalyse zu untersuchen. --

Wir wären am Ende angelangt. Ein aufmerksamer Leser könnte uns noch
mahnen, wir hätten eingangs hingeworfen, Träume seien als erfüllt
dargestellte Wünsche, und wären dann den Beweis dafür schuldig
geblieben. Nun, wir erwidern, unsere Ausführungen könnten wohl zeigen,
wie ungerechtfertigt es wäre, die Aufklärungen, die wir über den Traum
zu geben haben, mit der einen Formel, der Traum sei eine
Wunscherfüllung, decken zu wollen. Aber die Behauptung besteht und ist
auch für die Träume in der Gradiva leicht zu erweisen. Die latenten
Traumgedanken -- wir wissen jetzt, was darunter gemeint ist -- können
von der mannigfaltigsten Art sein; in der Gradiva sind es »Tagesreste«,
Gedanken, die ungehört und unerledigt vom seelischen Treiben des Wachens
übrig gelassen sind. Damit aber aus ihnen ein Traum entstehe, wird die
Mitwirkung eines -- meist unbewußten -- Wunsches erfordert; dieser
stellt die Triebkraft für die Traumbildung her, die Tagesreste geben das
Material dazu. Im ersten Traume Norbert Hanolds konkurrieren zwei
Wünsche miteinander, um den Traum zu schaffen, der eine selbst ein
bewußtseinsfähiger, der andere freilich dem Unbewußten angehörig und aus
der Verdrängung wirksam. Der erste wäre der bei jedem Archäologen
begreifliche Wunsch, Augenzeuge jener Katastrophe des Jahres 79 gewesen
zu sein. Welches Opfer wäre einem Altertumsforscher wohl zu groß, wenn
dieser Wunsch noch anders als auf dem Wege des Traumes zu verwirklichen
wäre! Der andere Wunsch und Traumbildner ist erotischer Natur; dabei zu
sein, wenn die Geliebte sich zum Schlafen hinlegt, könnte man ihn in
grober oder auch unvollkommener Fassung aussprechen. Er ist es, dessen
Ablehnung den Traum zum Angsttraum werden läßt. Minder augenfällig sind
vielleicht die treibenden Wünsche des zweiten Traumes, aber wenn wir uns
an dessen Übersetzung erinnern, werden wir nicht zögern, sie gleichfalls
als erotische anzusprechen. Der Wunsch, von der Geliebten gefangen
genommen zu werden, sich ihr zu fügen und zu unterwerfen, wie er hinter
der Situation des Eidechsenfanges konstruiert werden darf, hat
eigentlich passiven, masochistischen Charakter. Am nächsten Tage schlägt
der Träumer die Geliebte, wie unter der Herrschaft der gegensätzlichen
erotischen Strömung. Aber wir müssen hier innehalten, sonst vergessen
wir vielleicht wirklich, daß Hanold und die Gradiva nur Geschöpfe des
Dichters sind.



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Die »=Schriften zur angewandten Seelenkunde=«, deren erstes Heft hiemit
vor die Öffentlichkeit tritt, wenden sich an jenen weiteren Kreis von
Gebildeten, die, ohne gerade Philosophen oder Mediziner zu sein, doch
die Wissenschaft vom Seelischen des Menschen nach ihrer Bedeutung für
das Verständnis und die Vertiefung unseres Lebens zu würdigen wissen.
Die Abhandlungen werden in zwangloser Folge erscheinen und jedesmal eine
einzige Arbeit bringen, welche die Anwendung psychologischer
Erkenntnisse auf Themata der Kunst und Literatur, Kultur- und
Religionsgeschichte und analoger Gebiete unternimmt. Diese Arbeiten
werden bald den Charakter einer exakten Untersuchung, bald den einer
spekulativen Bemühung an sich tragen, das eine Mal ein größeres Problem
zu umfassen, das andere Mal ein beschränkteres zu durchdringen
versuchen; in allen Fällen aber werden sie von der Natur originaler
Leistungen sein und es vermeiden, bloßen Referaten oder Kompilationen zu
gleichen.

Der Herausgeber fühlt sich verpflichtet, für die Originalität und die
allgemeine Würdigkeit der in dieser Sammlung erscheinenden Aufsätze
einzustehen. Im übrigen will er weder die Unabhängigkeit seiner
Beiträger antasten, noch für die Äußerungen derselben verantwortlich
gemacht werden. Daß die ersten Nummern der Sammlung besondere Rücksicht
auf die von ihm selbst in der Wissenschaft vertretenen Lehren nehmen,
soll für die Auffassung des Unternehmens nicht bestimmend werden. Die
Sammlung steht vielmehr den Vertretern abweichender Meinungen offen und
hofft, der Mannigfaltigkeit von Gesichtspunkten und Prinzipien in der
heutigen Wissenschaft Ausdruck geben zu können.

    =Der Verlag.=
    =Der Herausgeber.=



  [ Im folgenden werden alle geänderten Textzeilen angeführt, wobei
    jeweils zuerst die Zeile wie im Original, danach die geänderte Zeile
    steht.

  untergangen, dann vom Reliefbild und der Stellung des Fußes, die den
  untergegangen, dann vom Reliefbild und der Stellung des Fußes, die den

  die hier in der Villa des Diomèdes ihren Tod gefunden hatten. Aber das
  die hier in der Villa des Diomedes ihren Tod gefunden hatten. Aber das

  Indentifizierung der beiden Personen einen einzigen konkreten Ausdruck
  Identifizierung der beiden Personen einen einzigen konkreten Ausdruck

  des Asphodels am Fenster des Albergo del Sole wird zu einem wichtigen
  des Asphodelos am Fenster des Albergo del Sole wird zu einem wichtigen

  Traumgedanken -- wir wissen jetzt, was darunter gemeint ist-- können
  Traumgedanken -- wir wissen jetzt, was darunter gemeint ist -- können

  ]





*** End of this LibraryBlog Digital Book "Der Wahn und die Träume in W. Jensens »Gradiva«" ***

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