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Title: Märchen-Almanach auf das Jahr 1826
Author: Hauff, Wilhelm, 1802-1827
Language: German
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zur Verfügung gestellt.  Das Projekt ist unter der


Märchen-Almanach auf das Jahr 1826

Wilhelm Hauff

Inhalt:

Märchen als Almanach
Die Karawane (Rahmenerzählung)
Die Geschichte vom Kalif Storch
Die Geschichte von dem Gespensterschiff
Die Geschichte von der abgehauenen Hand
Die Errettung Fatmes
Die Geschichte von dem kleinen Muck
Das Märchen vom falschen Prinzen



Märchen als Almanach

Wilhelm Hauff


In einem schönen, fernen Reiche, von welchem die Sage lebt, daß die
Sonne in seinen ewig grünen Gärten niemals untergehe, herrschte von
Anfang an bis heute die Königin Phantasie.  Mit vollen Händen
spendete diese seit vielen Jahrhunderten die Fülle des Segens über
die Ihrigen und war geliebt, verehrt von allen, die sie kannten.  Das
Herz der Königin war aber zu groß, als daß sie mit ihren Wohltaten
bei ihrem Lande stehen geblieben wäre; sie selbst, im königlichen
Schmuck ihrer ewigen Jugend und Schönheit, stieg herab auf die Erde;
denn sie hatte gehört, daß dort Menschen wohnen, die ihr Leben in
traurigem Ernst, unter Mühe und Arbeit hinbringen.  Diesen hatte sie
die schönsten Gaben aus ihrem Reiche mitgebracht, und seit die schöne
Königin durch die Fluren der Erde gegangen war, waren die Menschen
fröhlich bei der Arbeit, heiter in ihrem Ernst.

Auch ihre Kinder,nicht minder schön und lieblich als die königliche
Mutter, sandte sie aus, um die Menschen zu beglücken.  Einst kam
Märchen, die älteste Tochter der Königin, von der Erde zurück.  Die
Mutter bemerkte, daß Märchen traurig sei, ja, hier und da wollte ihr
bedünken, als ob sie verweinte Augen hätte.

"Was hast du, liebes Märchen", sprach die Königin zu ihr, "du bist
seit deiner Reise so traurig und niedergeschlagen, willst du deiner
Mutter nicht anvertrauen, was dir fehlt?"

"Ach, liebe Mutter", antwortete Märchen, "ich hätte gewiß nicht so
lange geschwiegen, wenn ich nicht wüßte, daß mein Kummer auch der
deinige ist."

"Sprich immer, meine Tochter", bat die schöne Königin, "der Gram ist
ein Stein, der den einzelnen niederdrückt, aber zwei tragen ihn
leicht aus dem Wege."

"Du willst es", antwortete Märchen, "so höre: Du weißt, wie gerne ich
mit den Menschen umgehe, wie ich freudig auch bei dem Ärmsten vor
seiner Hütte sitze, um nach der Arbeit ein Stündchen mit ihm zu
verplaudern; sie boten mir auch sonst gleich freundlich die Hand zum
Gruß, wenn ich kam, und sahen mir lächelnd und zufrieden nach, wenn
ich weiterging; aber in diesen Tagen ist es gar nicht mehr so!"

"Armes Märchen!" sprach die Königin und streichelte ihr die Wange,
die von einer Träne feucht war, "aber du bildest dir vielleicht dies
alles nur ein?"

"Glaube mir, ich fühle es nur zu gut", entgegnete Märchen, "sie
lieben mich nicht mehr.  Überall, wo ich hinkomme, begegnen mir
kalte Blicke; nirgends bin ich mehr gern gesehen; selbst die Kinder,
die ich doch immer so lieb hatte, lachen über mich und wenden mir
altklug den Rücken zu."

Die Königin stützte die Stirne in die Hand und schwieg sinnend.

"Und woher soll es denn", fragte die Königin, "kommen, Märchen, daß
sich die Leute da unten so geändert haben?"

"Sieh, die Menschen haben kluge Wächter aufgestellt, die alles, was
aus deinem Reich kommt, o Königin Phantasie, mit scharfem Blicke
mustern und prüfen.  Wenn nun einer kommt, der nicht nach ihrem Sinne
ist, so erheben sie ein großes Geschrei, schlagen ihn tot oder
verleumden ihn doch so sehr bei den Menschen, die ihnen aufs Wort
glauben, daß man gar keine Liebe, kein Fünkchen Zutrauen mehr findet.
Ach, wie gut haben es meine Brüder, die Träume, fröhlich und leicht
hüpfen sie auf die Erde hinab, fragen nichts nach jenen klugen
Männern, besuchen die schlummernden Menschen und weben und malen
ihnen, was das Herz beglückt und das Auge erfreut!"

"Deine Brüder sind Leichtfüße", sagte die Königin, "und du, mein
Liebling, hast keine Ursache, sie zu beneiden.  Jene Grenzwächter
kenne ich übrigens wohl; die Menschen haben so unrecht nicht, sie
aufzustellen; es kam so mancher windige Geselle und tat, als ob er
geradewegs aus meinem Reiche käme, und doch hatte er höchstens von
einem Berge zu uns herübergeschaut."

"Aber warum lassen sie dies mich, deine eigene Tochter, entgelten",
weinte Märchen.  "Ach, wenn du wüßtest, wie sie es mit mir gemacht
haben; sie schalten mich eine alte Jungfer und drohten, mich das
nächste Mal gar nicht mehr hereinzulassen."  "Wie, meine Tochter nicht
mehr einzulassen?" rief die Königin, und Zorn rötete ihre Wangen.
"Aber ich sehe schon, woher dies kommt; die böse Muhme hat uns
verleumdet!"

"Die Mode?  Nicht möglich!" rief Märchen, "sie tat ja sonst immer so
freundlich."

"Oh!  Ich kenne sie, die Falsche", antwortete die Königin, "aber
versuche es ihr zum Trotze wieder, meine Tochter, wer Gutes tun will,
darf nicht rasten."

"Ach, Mutter!  Wenn sie mich dann ganz zurückweisen, oder wenn sie
mich verleumden, daß mich die Menschen nicht ansehen oder einsam und
verachtet in der Ecke stehen lassen?"

"Wenn die Alten, von der Mode betört, dich geringschätzen, so wende
dich an die Kleinen, wahrlich, sie sind meine Lieblinge, ihnen sende
ich meine lieblichsten Bilder durch deine Brüder, die Träume, ja, ich
bin schon oft selbst zu ihnen hinabgeschwebt, habe sie geherzt und
geküßt und schöne Spiele mit ihnen gespielt; sie kennen mich auch
wohl, sie wissen zwar meinen Namen nicht, aber ich habe schon oft
bemerkt, wie sie nachts zu meinen Sternen herauflächeln und morgens,
wenn meine glänzenden Lämmer am Himmel ziehen, vor Freuden die Hände
zusammenschlagen.  Auch wenn sie größer werden, lieben sie mich noch,
ich helfe dann den lieblichen Mädchen bunte Kränze flechten, und die
wilden Knaben werden stiller, wenn ich auf hoher Felsenspitze mich zu
ihnen setze, aus der Nebelwelt der fernen, blauen Berge hohe Burgen
und glänzende Paläste auftauchen lasse und aus den rötlichen Wolken
des Abends kühne Reiterscharen und wunderliche Wallfahrtszüge bilde."

"O die guten Kinder!" rief Märchen bewegt aus.  "Ja, es sei!  Mit
ihnen will ich es noch einmal versuchen."

"Ja, du gute Tochter", sprach die Königin, "gehe zu ihnen; aber ich
will dich auch ein wenig ordentlich ankleiden, daß du den Kleinen
gefällst und die Großen dich nicht zurückstoßen; siehe, das Gewand
eines Almanachs will ich dir geben."

"Eines Almanachs, Mutter?  Ach!--Ich schäme mich, so vor den Leuten
zu prangen."

Die Königin winkte, und die Dienerinnen brachten das zierliche Gewand
eines Almanachs.  Es war von glänzenden Farben und schöne Figuren
eingewoben.

Die Zofen flochten dem schönen Mädchen das lange Haar; sie banden ihr
goldene Sandalen unter die Füße und hingen ihr dann das Gewand um.

Das bescheidene Märchen wagte nicht aufzublicken, die Mutter aber
betrachtete es mit Wohlgefallen und schloß es in ihre Arme.  "Gehe
hin", sprach sie zu der Kleinen, "mein Segen sei mit dir.  Und wenn
sie dich verachten und höhnen, so kehre zurück zu mir, vielleicht,
daß spätere Geschlechter, getreuer der Natur, ihr Herz dir wieder
zuwenden."

Also sprach die Königin Phantasie.  Märchen aber stieg hinab auf die
Erde.  Mit pochendem Herzen nahte sie dem Ort, wo die klugen Wächter
hauseten; sie senkte das Köpfchen zur Erde, sie zog das schöne Gewand
enger um sich her, und mit zagendem Schritt nahte sie dem Tor.

"Halt!" rief eine tiefe, rauhe Stimme.  "Wache heraus!  Da kommt ein
neuer Almanach!"

Märchen zitterte, als sie dies hörte; viele ältliche Männer von
finsterem Aussehen stürzten hervor; sie hatten spitzige Federn in der
Faust und hielten sie dem Märchen entgegen.  Einer aus der Schar
schritt auf sie zu und packte sie mit rauher Hand am Kinn.  "Nur auch
den Kopf aufgerichtet, Herr Almanach", schrie er, "daß man Ihm in den
Augen ansiehet, ob er was Rechtes ist oder nicht!"

Errötend richtete Märchen das Köpfchen in die Höhe und schlug das
dunkle Auge auf.

"Das Märchen!" riefen die Wächter und lachten aus vollem Hals, "das
Märchen!  Haben wunder gemeint, was da käme!  Wie kommst du nur in
diesen Rock?"

"Die Mutter hat ihn mir angezogen", antwortete Märchen.  "So?  Sie
will dich bei uns einschwärzen?  Nichts da!  Hebe dich weg, mach, daß
du fortkommst!" riefen die Wächter untereinander und erhoben die
scharfen Federn.

"Aber ich will ja nur zu den Kindern", bat Märchen, "dies könnt ihr
mir ja doch erlauben."

"Läuft nicht schon genug solches Gesindel im Land umher?" rief einer
der Wächter.  "Sie schwatzen nur unseren Kindern dummes Zeug vor."

"Laßt uns sehen, was sie diesmal weiß!" sprach ein anderer.

"Nun ja", riefen sie, "sag an, was du weißt, aber beeile dich, denn
wir haben nicht viele Zeit für dich!"

Märchen streckte die Hand aus und schrieb mit dem Zeigefinger viele
Zeichen in die Luft.  Da sah man bunte Gestalten vorüberziehen;
Karawanen mit schönen Rossen, geschmückte Reiter, viele Zelte im Sand
der Wüste; Vögel und Schiffe auf stürmischen Meeren; stille Wälder
und volkreiche Plätze und Straßen; Schlachten und friedliche Nomaden,
sie alle schwebten in belebten Bildern, in buntem Gewimmel vorüber.

Märchen hatte in dem Eifer, mit welchem sie die Bilder aufsteigen
ließ, nicht bemerkt, wie die Wächter des Tores nach und nach
eingeschlafen waren.  Eben wollte sie neue Zeichen schreiben, als ein
freundlicher Mann auf sie zutrat und ihre Hand ergriff.  "Siehe her,
gutes Märchen", sagte er, indem er auf die Schlafenden zeigte, "für
diese sind deine bunten Sachen nichts; schlüpfe schnell durch das Tor;
sie ahnen dann nicht, daß du im Lande bist, und du kannst friedlich
und unbemerkt deine Straße ziehen.  Ich will dich zu meinen Kindern
führen; in meinem Hause geb' ich dir ein stilles, freundliches
Plätzchen; dort kannst du wohnen und für dich leben; wenn dann meine
Söhne und Töchter gut gelernt haben, dürfen sie mit ihren Gespielen
zu dir kommen und dir zuhören.  Willst du so?"

"Oh, wie gerne folge ich dir zu deinen lieben Kleinen; wie will ich
mich befleißen, ihnen zuweilen ein heiteres Stündchen zu machen!"

Der gute Mann nickte ihr freundlich zu und half ihr, über die Füße
der schlafenden Wächter hinüberzusteigen.  Lächelnd sah sich Märchen
um, als sie hinüber war, und schlüpfte dann schnell in das Tor.



Die Karawane

Wilhelm Hauff


Es zog einmal eine große Karawane durch die Wüste.  Auf der
ungeheuren Ebene, wo man nichts als Sand und Himmel sieht, hörte man
schon in weiter Ferne die Glocken der Kamele und die silbernen
Röllchen der Pferde, eine dichte Staubwolke, die ihr vorherging,
verkündete ihre Nähe, und wenn ein Luftzug die Wolke teilte,
blendeten funkelnde Waffen und helleuchtende Gewänder das Auge.  So
stellte sich die Karawane einem Manne dar, welcher von der Seite her
auf sie zuritt.  Er ritt ein schönes arabisches Pferd, mit einer
Tigerdecke behängt, an dem hochroten Riemenwerk hingen silberne
Glöckchen, und auf dem Kopf des Pferdes wehte ein schöner Reiherbusch.
Der Reiter sah stattlich aus, und sein Anzug entsprach der Pracht
seines Rosses; ein weißer Turban, reich mit Gold bestickt, bedeckte
das Haupt; der Rock und die weiten Beinkleider waren von brennendem
Rot, ein gekrümmtes Schwert mit reichem Griff an seiner Seite.  Er
hatte den Turban tief ins Gesicht gedrückt; dies und die schwarzen
Augen, die unter buschigen Brauen hervorblitzten, der lange Bart, der
unter der gebogenen Nase herabhing, gaben ihm ein wildes, kühnes
Aussehen.

Als der Reiter ungefähr auf fünfzig Schritt dem Vortrab der Karawane
nahe war, spornte er sein Pferd an und war in wenigen Augenblicken an
der Spitze des Zuges angelangt.  Es war ein so ungewöhnliches
Ereignis, einen einzelnen Reiter durch die Wüste ziehen zu sehen, daß
die Wächter des Zuges, einen Überfall befürchtend, ihm ihre Lanzen
entgegenstreckten.

"Was wollt ihr", rief der Reiter, als er sich so kriegerisch
empfangen sah, "glaubt ihr, ein einzelner Mann werde eure Karawane
angreifen?"

Beschämt schwangen die Wächter ihre Lanzen wieder auf, ihr Anführer
aber ritt an den Fremden heran und fragte nach seinem Begehr.

"Wer ist der Herr der Karawane?" fragte der Reiter.

"Sie gehört nicht einem Herrn", antwortete der Gefragte, "sondern es
sind mehrere Kaufleute, die von Mekka in ihre Heimat ziehen und die
wir durch die Wüste geleiten, weil oft allerlei Gesindel die
Reisenden beunruhigt."

"So führt mich zu den Kaufleuten", begehrte der Fremde.

"Das kann jetzt nicht geschehen", antwortete der Führer, "weil wir
ohne Aufenthalt weiterziehen müssen und die Kaufleute wenigstens eine
Viertelstunde weiter hinten sind; wollt Ihr aber mit mir weiterreiten,
bis wir lagern, um Mittagsruhe zu halten, so werde ich Eurem Wunsch
willfahren."

Der Fremde sagte hierauf nichts; er zog eine lange Pfeife, die er am
Sattel festgebunden hatte, hervor und fing an in großen Zügen zu
rauchen, indem er neben dem Anführer des Vortrabs weiterritt.  Dieser
wußte nicht, was er aus dem Fremden machen sollte; er wagte es nicht,
ihn geradezu nach seinem Namen zu fragen, und so künstlich er auch
ein Gespräch anzuknüpfen suchte, der Fremde hatte auf das: "Ihr
raucht da einen guten Tabak", oder: "Euer Rapp' hat einen braven
Schritt", immer nur mit einem kurzen "Ja, ja!" geantwortet.

Endlich waren sie auf dem Platz angekommen, wo man Mittagsruhe halten
wollte.  Der Anführer hatte seine Leute als Wachen aufgestellt; er
selbst hielt mit dem Fremden, um die Karawane herankommen zu lassen.
Dreißig Kamele, schwer beladen, zogen vorüber, von bewaffneten
Führern geleitet.  Nach diesen kamen auf schönen Pferden die fünf
Kaufleute, denen die Karawane gehörte.  Es waren meistens Männer von
vorgerücktem Alter, ernst und gesetzt aussehend, nur einer schien
viel jünger als die übrigen, wie auch froher und lebhafter.  Eine
große Anzahl Kamele und Packpferde schloß den Zug.

Man hatte Zelte aufgeschlagen und die Kamele und Pferde rings
umhergestellt.  In der Mitte war ein großes Zelt von blauem
Seidenzeug.  Dorthin führte der Anführer der Wache den Fremden.  Als
sie durch den Vorhang des Zeltes getreten waren, sahen sie die fünf
Kaufleute auf goldgewirkten Polstern sitzen; schwarze Sklaven
reichten ihnen Speise und Getränke.  "Wen bringt Ihr uns da?" rief
der junge Kaufmann dem Führer zu.

Ehe noch der Führer antworten konnte, sprach der Fremde: "Ich heiße
Selim Baruch und bin aus Bagdad; ich wurde auf einer Reise nach Mekka
von einer Räuberhorde gefangen und habe mich vor drei Tagen heimlich
aus der Gefangenschaft befreit.  Der große Prophet ließ mich die
Glocken eurer Karawane in weiter Ferne hören, und so kam ich bei euch
an.  Erlaubet mir, daß ich in eurer Gesellschaft reise!  Ihr werdet
euren Schutz keinem Unwürdigen schenken, und so ihr nach Bagdad
kommet, werde ich eure Güte reichlich belohnen denn ich bin der Neffe
des Großwesirs."

Der älteste der Kaufleute nahm das Wort: "Selim Baruch", sprach er,
"sei willkommen in unserem Schatten.  Es macht uns Freude, dir
beizustehen; vor allem aber setze dich und iß und trinke mit uns."

Selim Baruch setzte sich zu den Kaufleuten und aß und trank mit ihnen.
Nach dem Essen räumten die Sklaven die Geschirre hinweg und
brachten lange Pfeifen und türkischen Sorbet.  Die Kaufleute saßen
lange schweigend, indem sie die bläulichen Rauchwolken vor sich
hinbliesen und zusahen, wie sie sich ringelten und verzogen und
endlich in die Luft verschwebten.  Der junge Kaufmann brach endlich
das Stillschweigen: "So sitzen wir seit drei Tagen", sprach er, "zu
Pferd und am Tisch, ohne uns durch etwas die Zeit zu vertreiben.  Ich
verspüre gewaltig Langeweile, denn ich bin gewohnt, nach Tisch Tänzer
zu sehen oder Gesang und Musik zu hören.  Wißt ihr gar nichts, meine
Freunde, das uns die Zeit vertreibt?"

Die vier älteren Kaufleute rauchten fort und schienen ernsthaft
nachzusinnen, der Fremde aber sprach: "Wenn es mir erlaubt ist, will
ich euch einen Vorschlag machen.  Ich meine, auf jedem Lagerplatz
könnte einer von uns den anderen etwas erzählen.  Dies könnte uns
schon die Zeit vertreiben."

"Selim Baruch, du hast wahr gesprochen", sagte Achmet, der älteste
der Kaufleute, "laßt uns den Vorschlag annehmen."

"Es freut mich, wenn euch der Vorschlag behagt", sprach Selim, "damit
ihr aber sehet, daß ich nichts Unbilliges verlange, so will ich den
Anfang machen."

Vergnügt rückten die fünf Kaufleute näher zusammen und ließen den
Fremden in ihrer Mitte sitzen.  Die Sklaven schenkten die Becher
wieder voll, stopften die Pfeifen ihrer Herren frisch und brachten
glühende Kohlen zum Anzünden.  Selim aber erfrischte seine Stimme mit
einem tüchtigen Zuge Sorbet, strich den langen Bart über dem Mund weg
und sprach:

"So hört denn die Geschichte vom Kalif Storch."

Als Selim Baruch seine Geschichte beendet hatte, bezeugten sich die
Kaufleute sehr zufrieden damit.  "Wahrhaftig, der Nachmittag ist uns
vergangen, ohne daß wir merkten wie!" sagte einer derselben, indem er
die Decke des Zeltes zurückschlug.  "Der Abendwind wehet kühl, und
wir könnten noch eine gute Strecke Weges zurücklegen."  Seine
Gefährten waren damit einverstanden, die Zelte wurden abgebrochen,
und die Karawane machte sich in der nämlichen Ordnung, in welcher sie
herangezogen war, auf den Weg.

Sie ritten beinahe die ganze Nacht hindurch, denn es war schwül am
Tage, die Nacht aber war erquicklich und sternhell.  Sie kamen
endlich an einem bequemen Lagerplatz an, schlugen die Zelte auf und
legten sich zur Ruhe.  Für den Fremden aber sorgten die Kaufleute,
wie wenn er ihr wertester Gastfreund wäre.  Der eine gab ihm Polster,
der andere Decken, ein dritter gab ihm Sklaven, kurz, er wurde so gut
bedient, als ob er zu Hause wäre.  Die heißeren Stunden des Tages
waren schon heraufgekommen, als sie sich wieder erhoben, und sie
beschlossen einmütig, hier den Abend abzuwarten.  Nachdem sie
miteinander gespeist hatten, rückten sie wieder näher zusammen, und
der junge Kaufmann wandte sich an den ältesten und sprach: "Selim
Baruch hat uns gestern einen vergnügten Nachmittag bereitet, wie wäre
es, Achmet, wenn Ihr uns auch etwas erzähltet, sei es nun aus Eurem
langen Leben, das wohl viele Abenteuer aufzuweisen hat, oder sei es
auch ein hübsches Märchen."  Achmet schwieg auf diese Anrede eine
Zeitlang, wie wenn er bei sich im Zweifel wäre, ob er dies oder jenes
sagen sollte oder nicht; endlich fing er an zu sprechen:

"Liebe Freunde!  Ihr habt euch auf dieser unserer Reise als treue
Gesellen erprobt, und auch Selim verdient mein Vertrauen; daher will
ich euch etwas aus meinem Leben mitteilen, das ich sonst ungern und
nicht jedem erzähle: die Geschichte von dem Gespensterschiff."

Die Reise der Karawane war den anderen Tag ohne Hindernis fürder
gegangen, und als man im Lagerplatz sich erholt hatte, begann Selim,
der Fremde, zu Muley, dem jüngsten der Kaufleute, also zu sprechen:

"Ihr seid zwar der Jüngste von uns, doch seid Ihr immer fröhlich und
wißt für uns gewiß irgendeinen guten Schwank.  Tischet ihn auf, daß
er uns erquicke nach der Hitze des Tages!"

"Wohl möchte ich euch etwas erzählen", antwortete Muley, "das euch
Spaß machen könnte, doch der Jugend ziemt Bescheidenheit in allen
Dingen; darum müssen meine älteren Reisegefährten den Vorrang haben.
Zaleukos ist immer so ernst und verschlossen, sollte er uns nicht
erzählen, was sein Leben so ernst machte?  Vielleicht, daß wir seinen
Kummer, wenn er solchen hat, lindern können; denn gerne dienen wir
dem Bruder, wenn er auch anderen Glaubens ist."

Der Aufgerufene war ein griechischer Kaufmann, ein Mann in mittleren
Jahren, schön und kräftig, aber sehr ernst.  Ob er gleich ein
Ungläubiger (nicht Muselmann) war, so liebten ihn doch seine
Reisegefährten, denn er hatte durch sein ganzes Wesen Achtung und
Zutrauen eingeflößt.  Er hatte übrigens nur eine Hand, und einige
seiner Gefährten vermuteten, daß vielleicht dieser Verlust ihn so
ernst stimme.

Zaleukos antwortete auf die zutrauliche Frage Muleys: "Ich bin sehr
geehrt durch euer Zutrauen; Kummer habe ich keinen, wenigstens keinen,
von welchem ihr auch mit dem besten Willen mir helfen könntet.  Doch
weil Muley mir meinen Ernst vorzuwerfen scheint, so will ich euch
einiges erzählen, was mich rechtfertigen soll, wenn ich ernster bin
als andere Leute.  Ihr sehet, daß ich meine linke Hand verloren habe.
Sie fehlt mir nicht von Geburt an, sondern ich habe sie in den
schrecklichsten Tagen meines Lebens eingebüßt.  Ob ich die Schuld
davon trage, ob ich unrecht habe, seit jenen Tagen ernster, als es
meine Lage mit sich bringt, zu sein, möget ihr beurteilen, wenn ihr
vernommen habt die Geschichte von der abgehauenen Hand."

Zaleukos, der griechische Kaufmann, hatte seine Geschichte geendigt.
Mit großer Teilnahme hatten ihm die übrigen zugehört, besonders der
Fremde schien sehr davon ergriffen zu sein; er hatte einigemal tief
geseufzt, und Muley schien es sogar, als habe er einmal Tränen in den
Augen gehabt.  Sie besprachen sich noch lange Zeit über diese
Geschichte.

"Und haßt Ihr den Unbekannten nicht, der Euch so schnöd' um ein so
edles Glied Eures Körpers, der selbst Euer Leben in Gefahr brachte?"
fragte der Fremde.

"Wohl gab es in früherer Zeit Stunden", antwortete der Grieche, "in
denen mein Herz ihn vor Gott angeklagt, daß er diesen Kummer über
mich gebracht und mein Leben vergiftet habe; aber ich fand Trost in
dem Glauben meiner Väter, und dieser befiehlt mir, meine Feinde zu
lieben; auch ist er wohl noch unglücklicher als ich."

"Ihr seid ein edler Mann!" rief der Fremde und drückte gerührt dem
Griechen die Hand.

Der Anführer der Wache unterbrach sie aber in ihrem Gespräch.  Er
trat mit besorgter Miene in das Zelt und berichtete, daß man sich
nicht der Ruhe überlassen dürfe; denn hier sei die Stelle, wo
gewöhnlich die Karawanen angegriffen würden, auch glaubten seine
Wachen, in der Entfernung mehrere Reiter zu sehen.

Die Kaufleute waren sehr bestürzt über diese Nachricht; Selim, der
Fremde, aber wunderte sich über ihre Bestürzung und meinte, daß sie
so gut geschätzt wären, daß sie einen Trupp räuberischer Araber nicht
zu fürchten brauchten.

"Ja, Herr!" entgegnete ihm der Anführer der Wache.  "Wenn es nur
solches Gesindel wäre, könnte man sich ohne Sorge zur Ruhe legen;
aber seit einiger Zeit zeigt sich der furchtbare Orbasan wieder, und
da gilt es, auf seiner Hut zu sein."

Der Fremde fragte, wer denn dieser Orbasan sei, und Achmet, der alte
Kaufmann, antwortete ihm: "Es gehen allerlei Sagen unter dem Volke
über diesen wunderbaren Mann.  Die einen halten ihn für ein
übermenschliches Wesen, weil er oft mit fünf bis sechs Männern zumal
einen Kampf besteht, andere halten ihn für einen tapferen Franken,
den das Unglück in diese Gegend verschlagen habe; von allem aber ist
nur so viel gewiß, daß er ein verruchter Mörder und Dieb ist."

"Das könnt Ihr aber doch nicht behaupten", entgegnete ihm Lezah,
einer der Kaufleute.  "Wenn er auch ein Räuber ist, so ist er doch
ein edler Mann, und als solcher hat er sich an meinem Bruder bewiesen,
wie ich Euch erzählen könnte.  Er hat seinen ganzen Stamm zu
geordneten Menschen gemacht, und so lange er die Wüste durchstreift,
darf kein anderer Stamm es wagen, sich sehen zu lassen.  Auch raubt
er nicht wie andere, sondern er erhebt nur ein Schutzgeld von den
Karawanen, und wer ihm dieses willig bezahlt, der ziehet ungefährdet
weiter; denn Orbasan ist der Herr der Wüste."

Also sprachen unter sich die Reisenden im Zelte; die Wachen aber, die
um den Lagerplatz ausgestellt waren, begannen unruhig zu werden.  Ein
ziemlich bedeutender Haufe bewaffneter Reiter zeigte sich in der
Entfernung einer halben Stunde; sie schienen gerade auf das Lager
zuzureiten.  Einer der Männer von der Wache ging daher in das Zelt,
um zu verkünden, daß sie wahrscheinlich angegriffen würden.  Die
Kaufleute berieten sich untereinander, was zu tun sei, ob man ihnen
entgegengehen oder den Angriff abwarten solle.  Achmet und die zwei
älteren Kaufleute wollten das letztere, der feurige Muley aber und
Zaleukos verlangten das erstere und riefen den Fremden zu ihrem
Beistand auf.  Dieser zog ruhig ein kleines, blaues Tuch mit roten
Sternen aus seinem Gürtel hervor, band es an eine Lanze und befahl
einem der Sklaven, es auf das Zelt zu stecken; er setze sein Leben
zum Pfand, sagte er, die Reiter werden, wenn sie dieses Zeichen sehen,
ruhig vorüberziehen.  Muley glaubte nicht an den Erfolg, der Sklave
aber steckte die Lanze auf das Zelt.  Inzwischen hatten alle, die im
Lager waren, zu den Waffen gegriffen und sahen in gespannter
Erwartung den Reitern entgegen.  Doch diese schienen das Zeichen auf
dem Zelte erblickt zu haben, sie wichen plötzlich von ihrer Richtung
auf das Lager ab und zogen in einem großen Bogen auf der Seite hin.

Verwundert standen einige Augenblicke die Reisenden und sahen bald
auf die Reiter, bald auf den Fremden.  Dieser stand ganz gleichgültig,
wie wenn nichts vorgefallen wäre, vor dem Zelte und blickte über die
Ebene hin.  Endlich brach Muley das Stillschweigen.  "Wer bist du,
mächtiger Fremdling", rief er aus, "der du die wilden Horden der
Wüste durch einen Wink bezähmst?"

"Ihr schlagt meine Kunst höher an, als sie ist", antwortete Selim
Baruch.  "Ich habe mich mit diesem Zeichen versehen, als ich der
Gefangenschaft entfloh; was es zu bedeuten hat, weiß ich selbst nicht;
nur so viel weiß ich, daß, wer mit diesem Zeichen reiset, unter
mächtigem Schutze steht."

Die Kaufleute dankten dem Fremden und nannten ihn ihren Erretter.
Wirklich war auch die Anzahl der Reiter so groß gewesen, daß wohl die
Karawane nicht lange hätte Widerstand leisten können.

Mit leichterem Herzen begab man sich jetzt zur Ruhe, und als die
Sonne zu sinken begann und der Abendwind über die Sandebene hinstrich,
brachen sie auf und zogen weiter.

Am nächsten Tage lagerten sie ungefähr nur noch eine Tagreise von dem
Ausgang der Wüste entfernt.  Als sich die Reisenden wieder in dem
großen Zelt versammelt hatten, nahm Lezah, der Kaufmann, das Wort:

"Ich habe euch gestern gesagt, daß der gefürchtete Orbasan ein edler
Mann sei, erlaubt mir, daß ich es euch heute durch die Erzählung der
Schicksale meines Bruders beweise.  Mein Vater war Kadi in Akara.  Er
hatte drei Kinder.  Ich war der Älteste, ein Bruder und eine
Schwester waren bei weitem jünger als ich.  Als ich zwanzig Jahre alt
war, rief mich ein Bruder meines Vaters zu sich.  Er setzte mich zum
Erben seiner Güter ein, mit der Bedingung, daß ich bis zu seinem Tode
bei ihm bleibe.  Aber er erreichte ein hohes Alter, so daß ich erst
vor zwei Jahren in meine Heimat zurückkehrte und nichts davon wußte,
welch schreckliches Schicksal indes mein Haus betroffen und wie gütig
Allah es gewendet hatte."  Die Errettung Fatmes

Die Karawane hatte das Ende der Wüste erreicht, und fröhlich
begrüßten die Reisenden die grünen Matten und die dichtbelaubten
Bäume, deren lieblichen Anblick sie viele Tage entbehrt hatten.  In
einem schönen Tale lag eine Karawanserei, die sie sich zum Nachtlager
wählten, und obgleich sie wenig Bequemlichkeit und Erfrischung darbot,
so war doch die ganze Gesellschaft heiterer und zutraulicher als je;
denn der Gedanke, den Gefahren und Beschwerlichkeiten, die eine Reise
durch die Wüste mit sich bringt, entronnen zu sein, hatte alle Herzen
geöffnet und die Gemüter zu Scherz und Kurzweil gestimmt.  Muley, der
junge lustige Kaufmann, tanzte einen komischen Tanz und sang Lieder
dazu, die selbst dem ernsten Griechen Zaleukos ein Lächeln entlockten.
Aber nicht genug, daß er seine Gefährten durch Tanz und Spiel
erheitert hatte, er gab ihnen auch noch die Geschichte zum besten,
die er ihnen versprochen hatte, und hub, als er von seinen
Luftsprüngen sich erholt hatte, also zu erzählen an: Die Geschichte
von dem kleinen Muck.

"So erzählte mir mein Vater; ich bezeugte ihm meine Reue über mein
rohes Betragen gegen den guten kleinen Mann, und mein Vater schenkte
mir die andere Hälfte der Strafe, die er mir zugedacht hatte.  Ich
erzählte meinen Kameraden die wunderbaren Schicksale des Kleinen, und
wir gewannen ihn so lieb, daß ihn keiner mehr schimpfte.  Im
Gegenteil, wir ehrten ihn, solange er lebte, und haben uns vor ihm
immer so tief wie vor Kadi und Mufti gebückt."

Die Reisenden beschlossen, einen Rasttag in dieser Karawanserei zu
machen, um sich und die Tiere zur weiteren Reise zu stärken.  Die
gestrige Fröhlichkeit ging auch auf diesen Tag über, und sie
ergötzten sich in allerlei Spielen.  Nach dem Essen aber riefen sie
dem fünften Kaufmann, Ali Sizah, zu, auch seine Schuldigkeit gleich
den übrigen zu tun und eine Geschichte zu erzählen.  Er antwortete,
sein Leben sei zu arm an auffallenden Begebenheiten, als daß er ihnen
etwas davon mitteilen möchte, daher wolle er ihnen etwas anderes
erzählen, nämlich: Das Märchen vom falschen Prinzen.


Mit Sonnenaufgang brach die Karawane auf und gelangte bald nach
Birket el Had oder dem Pilgrimsbrunnen, von wo es nur noch drei
Stunden Weges nach Kairo waren--Man hatte um diese Zeit die Karawane
erwartet, und bald hatten die Kaufleute die Freude, ihre Freunde aus
Kairo ihnen entgegenkommen zu sehen.  Sie zogen in die Stadt durch
das Tor Bebel Falch; denn es wird für eine glückliche Vorbedeutung
gehalten, wenn man von Mekka kommt, durch dieses Tor einzuziehen,
weil der Prophet hindurchgezogen ist.

Auf dem Markt verabschiedeten sich die vier türkischen Kaufleute von
dem Fremden und dem griechischen Kaufmann Zaleukos und gingen mit
ihren Freunden nach Haus.  Zaleukos aber zeigte dem Fremden eine gute
Karawanserei und lud ihn ein, mit ihm das Mittagsmahl zu nehmen.  Der
Fremde sagte zu und versprach, wenn er nur vorher sich umgekleidet
habe, zu erscheinen.

Der Grieche hatte alle Anstalten getroffen, den Fremden, welchen er
auf der Reise liebgewonnen hatte, gut zu bewirten, und als die
Speisen und Getränke in gehöriger Ordnung aufgestellt waren, setzte
er sich, seinen Gast zu erwarten.

Langsam und schweren Schrittes hörte er ihn den Gang, der zu seinem
Gemach führte, heraufkommen.  Er erhob sich, um ihm freundlich
entgegenzusehen und ihn an der Schwelle zu bewillkommnen; aber voll
Entsetzen fuhr er zurück, als er die Türe öffnete; denn jener
schreckliche Rotmantel trat ihm entgegen; er warf noch einen Blick
auf ihn, es war keine Täuschung; dieselbe hohe, gebietende Gestalt,
die Larve, aus welcher ihn die dunklen Augen anblitzten, der rote
Mantel mit der goldenen Stickerei waren ihm nur allzuwohl bekannt aus
den schrecklichsten Stunden seines Lebens.

Widerstreitende Gefühle wogten in Zaleukos Brust; er hatte sich mit
diesem Bild seiner Erinnerung längst ausgesöhnt und ihm vergeben, und
doch riß sein Anblick alle seine Wunden wieder auf; alle jene
qualvollen Stunden der Todesangst, jener Gram, der die Blüte seines
Lebens vergiftete, zogen im Flug eines Augenblicks an seiner Seele
vorüber.

"Was willst du, Schrecklicher?" rief der Grieche aus, als die
Erscheinung noch immer regungslos auf der Schwelle stand.  "Weiche
schnell von hinnen, daß ich dir nicht fluche!"

"Zaleukos!" sprach eine bekannte Stimme unter der Larve hervor.
"Zaleukos!  So empfängst du deinen Gastfreund?"  Der Sprechende nahm
die Larve ab, schlug den Mantel zurück; es war Selim Baruch, der
Fremde.

Aber Zaleukos schien noch nicht beruhigt, ihm graute vor dem Fremden;
denn nur zu deutlich hatte er in ihm den Unbekannten von der Ponte
vecchio erkannt; aber die alte Gewohnheit der Gastfreundschaft siegte;
er winkte schweigend dem Fremden, sich zu ihm ans Mahl zu setzen.

"Ich errate deine Gedanken", nahm dieser das Wort, als sie sich
gesetzt hatten.  "Deine Augen sehen fragend auf mich--ich hätte
schweigen und mich deinen Blicken nie mehr zeigen können, aber ich
bin dir Rechenschaft schuldig, und darum wagte ich es auch, auf die
Gefahr hin, daß du mir fluchtest, vor dir in meiner alten Gestalt zu
erscheinen.  Du sagtest einst zu mir: Der Glaube meiner Väter
befiehlt mir, ihn zu lieben, auch ist er wohl unglücklicher als ich;
glaube dieses, mein Freund, und höre meine Rechtfertigung!

Ich muß weit ausholen, um mich dir ganz verständlich zu machen.  Ich
bin in Alessandria von christlichen Eltern geboren.  Mein Vater, der
jüngere Sohn eines alten, berühmten französischen Hauses, war Konsul
seines Landes in Alessandria.  Ich wurde von meinem zehnten Jahre an
in Frankreich bei einem Bruder meiner Mutter erzogen und verließ erst
einige Jahre nach dem Ausbruch der Revolution mein Vaterland, um mit
meinem Oheim, der in dem Lande seiner Ahnen nicht mehr sicher war,
über dem Meer bei meinen Eltern eine Zuflucht zu suchen.  Voll
Hoffnung, die Ruhe und den Frieden, den uns das empörte Volk der
Franzosen entrissen, im elterlichen Hause wiederzufinden, landeten
wir.  Aber ach!  Ich fand nicht alles in meines Vaters Hause, wie es
sein sollte; die äußeren Stürme der bewegten Zeit waren zwar noch
nicht bis hierher gelangt, desto unerwarteter hatte das Unglück mein
Haus im innersten Herzen heimgesucht.  Mein Bruder, ein junger,
hoffnungsvoller Mann, erster Sekretär meines Vaters, hatte sich erst
seit kurzem mit einem jungen Mädchen, der Tochter eines
florentinischen Edelmanns, der in unserer Nachbarschaft wohnte,
verheiratet; zwei Tage vor unserer Ankunft war diese auf einmal
verschwunden, ohne daß weder unsere Familie noch ihr Vater die
geringste Spur von ihr auffinden konnten.  Man glaubte endlich, sie
habe sich auf einem Spaziergang zu weit gewagt und sei in Räuberhände
gefallen.  Beinahe tröstlicher wäre dieser Gedanke für meinen armen
Bruder gewesen als die Wahrheit, die uns nur bald kund wurde.  Die
Treulose hatte sich mit einem jungen Neapolitaner, den sie im Hause
ihres Vaters kennengelernt hatte, eingeschifft.  Mein Bruder, aufs
äußerste empört über diesen Schritt, bot alles auf, die Schuldige zur
Strafe zu ziehen; doch vergebens; seine Versuche, die in Neapel und
Florenz Aufsehen erregt hatten, dienten nur dazu, sein und unser
aller Unglück zu vollenden.  Der florentinische Edelmann reiste in
sein Vaterland zurück, zwar mit dem Vorgeben, meinem Bruder Recht zu
verschaffen, der Tat nach aber, um uns zu verderben.  Er schlug in
Florenz alle jene Untersuchungen, welche mein Bruder angeknüpft hatte,
nieder und wußte seinen Einfluß, den er auf alle Art sich verschafft
hatte, so gut zu benützen, daß mein Vater und mein Bruder ihrer
Regierung verdächtig gemacht und durch die schändlichsten Mittel
gefangen, nach Frankreich geführt und dort vom Beil des Henkers
getötet wurden.  Meine arme Mutter verfiel in Wahnsinn, und erst nach
zehn langen Monaten erlöste sie der Tod von ihrem schrecklichen
Zustand, der aber in den letzten Tagen zu vollem, klarem Bewußtsein
geworden war.  So stand ich jetzt ganz allein in der Welt, aber nur
ein Gedanke beschäftigte meine Seele, nur ein Gedanke ließ mich meine
Trauer vergessen, es war jene mächtige Flamme, die meine Mutter in
ihrer letzten Stunde in mir angefacht hatte.

In den letzten Stunden war, wie ich dir sagte, ihr Bewußtsein
zurückgekehrt; sie ließ mich rufen und sprach mit Ruhe von unserem
Schicksal und ihrem Ende.  Dann aber ließ sie alle aus dem Zimmer
gehen, richtete sich mit feierlicher Miene von ihrem ärmlichen Lager
auf und sagte, ich könne mir ihren Segen erwerben, wenn ich ihr
schwöre, etwas auszuführen, das sie mir auftragen würde--Ergriffen
von den Worten der sterbenden Mutter, gelobte ich mit einem Eide zu
tun, wie sie mir sagen werde.  Sie brach nun in Verwünschungen gegen
den Florentiner und seine Tochter aus und legte mir mit den
fürchterlichsten Drohungen ihres Fluches auf, mein unglückliches Haus
an ihm zu rächen.  Sie starb in meinen Armen.  Jener Gedanke der
Rache hatte schon lange in meiner Seele geschlummert; jetzt erwachte
er mit aller Macht.  Ich sammelte den Rest meines väterlichen
Vermögens und schwor mir, alles an meine Rache zu setzen oder selbst
mit unterzugehen.

Bald war ich in Florenz, wo ich mich so geheim als möglich aufhielt;
mein Plan war um vieles erschwert worden durch die Lage, in welcher
sich meine Feinde befanden.  Der alte Florentiner war Gouverneur
geworden und hatte so alle Mittel in der Hand, sobald er das
geringste ahnte, mich zu verderben.  Ein Zufall kam mir zu Hilfe.
Eines Abends sah ich einen Menschen in bekannter Livree durch die
Straßen gehen; sein unsicherer Gang, sein finsterer Blick und das
halblaut herausgestoßene "Santo sacramento", "Maledetto diavolo"
ließen mich den alten Pietro, einen Diener des Florentiners, den ich
schon in Alessandria gekannt hatte, erkennen.  Ich war nicht in
Zweifel, daß er über seinen Herrn in Zorn geraten sei, und beschloß,
seine Stimmung zu benützen.  Er schien sehr überrascht, mich hier zu
sehen, klagte mir sein Leiden, daß er seinem Herrn, seit er
Gouverneur geworden, nichts mehr recht machen könne, und mein Gold,
unterstützt von seinem Zorn, brachte ihn bald auf meine Seite.  Das
Schwierigste war jetzt beseitigt; ich hatte einen Mann in meinem
Solde, der mir zu jeder Stunde die Türe meines Feindes öffnete, und
nun reifte mein Racheplan immer schneller heran.  Das Leben des alten
Florentiners schien mir ein zu geringes Gewicht, dem Untergang meines
Hauses gegenüber, zu haben.  Sein Liebstes mußte er gemordet sehen,
und dies war Bianka, seine Tochter.  Hatte ja sie so schändlich an
meinem Bruder gefrevelt, war ja doch sie die Ursache unseres Unglücks.
Gar erwünscht kam sogar meinem rachedürstigen Herzen die Nachricht,
daß in dieser Zeit Bianka zum zweitenmal sich vermählen wollte, es
war beschlossen, sie mußte sterben.  Aber mir selbst graute vor der
Tat, und auch Pietro traute sich zu wenig Kraft zu; darum spähten wir
umher nach einem Mann, der das Geschäft vollbringen könne.  Unter den
Florentinern wagte ich keinen zu dingen, denn gegen den Gouverneur
würde keiner etwas Solches unternommen haben.  Da fiel Pietro der
Plan ein, den ich nachher ausgeführt habe; zugleich schlug er dich
als Fremden und Arzt als den Tauglichsten vor.  Den Verlauf der Sache
weißt du.  Nur an deiner großen Vorsicht und Ehrlichkeit schien mein
Unternehmen zu scheitern.  Daher der Zufall mit dem Mantel.

Pietro öffnete uns das Pförtchen an dem Palast des Gouverneurs; er
hätte uns auch ebenso heimlich wieder hinausgeleitet, wenn wir nicht,
durch den schrecklichen Anblick, der sich uns durch die Türspalte
darbot, erschreckt, entflohen wären.  Von Schrecken und Reue gejagt,
war ich über zweihundert Schritte fortgerannt, bis ich auf den Stufen
einer Kirche niedersank.  Dort erst sammelte ich mich wieder, und
mein erster Gedanke warst du und dein schreckliches Schicksal, wenn
man dich in dem Hause fände.  Ich schlich an den Palast, aber weder
von Pietro noch von dir konnte ich eine Spur entdecken; das Pförtchen
aber war offen, so konnte ich wenigstens hoffen, daß du die
Gelegenheit zur Flucht benützt haben könntest.

Als aber der Tag anbrach, ließ mich die Angst vor der Entdeckung und
ein unabweisbares Gefühl von Reue nicht mehr in den Mauern von
Florenz.  Ich eilte nach Rom.  Aber denke dir meine Bestürzung, als
man dort nach einigen Tagen überall diese Geschichte erzählte mit dem
Beisatz, man habe den Mörder, einen griechischen Arzt, gefangen.  Ich
kehrte in banger Besorgnis nach Florenz zurück; denn schien mir meine
Rache schon vorher zu stark, so verfluchte ich sie jetzt, denn sie
war mir durch dein Leben allzu teuer erkauft.  Ich kam an demselben
Tage an, der dich der Hand beraubte.  Ich schweige von dem, was ich
fühlte, als ich dich das Schafott besteigen und so heldenmütig leiden
sah.  Aber damals, als dein Blut in Strömen aufspritzte, war der
Entschluß fest in mir, dir deine übrigen Lebenstage zu versüßen.  Was
weiter geschehen ist, weißt du, nur das bleibt mir noch zu sagen
übrig, warum ich diese Reise mit dir machte.

Als eine schwere Last drückte mich der Gedanke, daß du mir noch immer
nicht vergeben habest; darum entschloß ich mich, viele Tage mit dir
zu leben und dir endlich Rechenschaft abzulegen von dem, was ich mit
dir getan."

Schweigend hatte der Grieche seinen Gast angehört; mit sanftem Blick
bot er ihm, als er geendet hatte, seine Rechte.  "Ich wußte wohl, daß
du unglücklicher sein müßtest als ich, denn jene grausame Tat wird
wie eine dunkle Wolke ewig deine Tage verfinstern; ich vergebe dir
von Herzen.  Aber erlaube mir noch eine Frage: Wie kommst du unter
dieser Gestalt in die Wüste?  Was fingst du an, nachdem du in
Konstantinopel mir das Haus gekauft hattest?"

"Ich ging nach Alessandria zurück", antwortete der Gefragte.  "Haß
gegen alle Menschen tobte in meiner Brust, brennender Haß besonders
gegen jene Nationen, die man die gebildeten nennt.  Glaube mir, unter
meinen Moslemiten war mir wohler!  Kaum war ich einige Monate in
Alessandria, als jene Landung meiner Landsleute erfolgte.

Ich sah in ihnen nur die Henker meines Vaters und meines Bruders;
darum sammelte ich einige gleichgesinnte junge Leute meiner
Bekanntschaft und schloß mich jenen tapferen Mamelucken an, die so
oft der Schrecken des französischen Heeres wurden.  Als der Feldzug
beendigt war, konnte ich mich nicht entschließen, zu den Künsten des
Friedens zurückzukehren.  Ich lebte mit einer kleinen Anzahl
gleichdenkender Freunde ein unstetes und flüchtiges, dem Kampf und
der Jagd geweihtes Leben; ich lebe zufrieden unter diesen Leuten, die
mich wie ihren Fürsten ehren; denn wenn meine Asiaten auch nicht so
gebildet sind wie Eure Europäer, so sind sie doch weit entfernt von
Neid und Verleumdung, von Selbstsucht und Ehrgeiz."

Zaleukos dankte dem Fremden für seine Mitteilung, aber er verbarg ihm
nicht, daß er es für seinen Stand, für seine Bildung angemessener
fände, wenn er in christlichen, in europäischen Ländern leben und
wirken würde.  Er faßte seine Hand und bat ihn, mit ihm zu ziehen,
bei ihm zu leben und zu sterben.

Gerührt sah ihn der Gastfreund an.  "Daraus erkenne ich", sagte er,
"daß du mir ganz vergeben hast, daß du mich liebst.  Nimm meinen
innigsten Dank dafür!"  Er sprang auf und stand in seiner ganzen Größe
vor dem Griechen, dem vor dem kriegerischen Anstand, den dunkel
blitzenden Augen, der tiefen Stimme seines Gastes beinahe graute.
"Dein Vorschlag ist schön", sprach jener weiter, "er möchte für jeden
andern lockend sein--ich kann ihn nicht benützen.  Schon steht mein
Roß gesattelt, erwarten mich meine Diener; lebe wohl, Zaleukos!"  Die
Freunde, die das Schicksal so wunderbar zusammengeführt, umarmten
sich zum Abschied.  "Und wie nenne ich dich?  Wie heißt mein
Gastfreund, der auf ewig in meinem Gedächtnis leben wird?" fragte der
Grieche.

Der Fremde sah ihn lange an, drückte ihm noch einmal die Hand und
sprach: "Man nennt mich den Herrn der Wüste; ich bin der Räuber
Orbasan."



Kalif Storch

Wilhelm Hauff


Der Kalif Chasid zu Bagdad saß einmal an einem schönen Nachmittag
behaglich auf seinem Sofa; er hatte ein wenig geschlafen, denn es war
ein heißer Tag, und sah nun nach seinem Schläfchen recht heiter aus.
Er rauchte aus einer langen Pfeife von Rosenholz, trank hier und da
ein wenig Kaffee, den ihm ein Sklave einschenkte, und strich sich
allemal vergnügt den Bart, wenn es ihm geschmeckt hatte.  Kurz, man
sah dem Kalifen an, daß es ihm recht wohl war.  Um diese Stunde
konnte man gar gut mit ihm reden, weil er da immer recht mild und
leutselig war, deswegen besuchte ihn auch sein Großwesir Mansor alle
Tage um diese Zeit.  An diesem Nachmittage nun kam er auch, sah aber
sehr nachdenklich aus, ganz gegen seine Gewohnheit.  Der Kalif tat
die Pfeife ein wenig aus dem Mund und sprach: "Warum machst du ein so
nachdenkliches Gesicht, Großwesir?"

Der Großwesir schlug seine Arme kreuzweis über die Brust, verneigte
sich vor seinem Herrn und antwortete: "Herr, ob ich ein
nachdenkliches Gesicht mache, weiß ich nicht, aber da drunten am
Schloß steht ein Krämer, der hat so schöne Sachen, daß es mich ärgert,
nicht viel überflüssiges Geld zu haben."

Der Kalif, der seinem Großwesir schon lange gerne eine Freude gemacht
hätte, schickte seinen schwarzen Sklaven hinunter, um den Krämer
heraufzuholen.  Bald kam der Sklave mit dem Krämer zurück.  Dieser
war ein kleiner, dicker Mann, schwarzbraun im Gesicht und in
zerlumptem Anzug.  Er trug einen Kasten, in welchem er allerhand
Waren hatte, Perlen und Ringe, reichbeschlagene Pistolen, Becher und
Kämme.  Der Kalif und sein Wesir musterten alles durch, und der Kalif
kaufte endlich für sich und Mansor schöne Pistolen, für die Frau des
Wesirs aber einen Kamm.  Als der Krämer seinen Kasten schon wieder
zumachen wollte, sah der Kalif eine kleine Schublade und fragte, ob
da auch noch Waren seien.  Der Krämer zog die Schublade heraus und
zeigte darin eine Dose mit schwärzlichem Pulver und ein Papier mit
sonderbarer Schrift, die weder der Kalif noch Mansor lesen konnte.
"Ich bekam einmal diese zwei Stücke von einem Kaufmanne, der sie in
Mekka auf der Straße fand", sagte der Krämer, "Ich weiß nicht, was
sie enthalten; euch stehen sie um geringen Preis zu Dienst, ich kann
doch nichts damit anfangen."

Der Kalif, der in seiner Bibliothek gerne alte Manuskripte hatte,
wenn er sie auch nicht lesen konnte, kaufte Schrift und Dose und
entließ den Krämer.  Der Kalif aber dachte, er möchte gerne wissen,
was die Schrift enthalte, und, fragte den Wesir, ob er keinen kenne,
der es entziffern könnte.

"Gnädigster Herr und Gebieter", antwortete dieser, "an der großen
Moschee wohnt ein Mann, er heißt Selim, der Gelehrte, der versteht
alle Sprachen, laß ihn kommen, vielleicht kennt er diese
geheimnisvollen Züge."

Der Gelehrte Selim war bald herbeigeholt.  "Selim", sprach zu ihm der
Kalif, "Selim, man sagt, du seiest sehr gelehrt; guck einmal ein
wenig in diese Schrift, ob du sie lesen kannst; kannst du sie lesen,
so bekommst du ein neues Festkleid von mir, kannst du es nicht, so
bekommst du zwölf Backenstreiche und fünfundzwanzig auf die Fußsohlen,
weil man dich dann umsonst Selim, den Gelehrten, nennt."

Selim verneigte sich und sprach: "Dein Wille geschehe, o Herr!"  Lange
betrachtete er die Schrift, plötzlich aber rief er aus: "Das ist
Lateinisch, o Herr, oder ich laß mich hängen."  "Sag, was drinsteht",
befahl der Kalif, "wenn es Lateinisch ist."

Selim fing an zu übersetzen: "Mensch, der du dieses findest, preise
Allah für seine Gnade.  Wer von dem Pulver in dieser Dose schnupft
und dazu spricht: mutabor, der kann sich in jedes Tier verwandeln und
versteht auch die Sprache der Tiere.

Will er wieder in seine menschliche Gestalt zurückkehren, so neige er
sich dreimal gen Osten und spreche jenes Wort; aber hüte dich, wenn
du verwandelt bist, daß du nicht lachest, sonst verschwindet das
Zauberwort gänzlich aus deinem Gedächtnis, und du bleibst ein Tier."

Als Selim, der Gelehrte, also gelesen hatte, war der Kalif über die
Maßen vergnügt.  Er ließ den Gelehrten schwören, niemandem etwas von
dem Geheimnis zu sagen, schenkte ihm ein schönes Kleid und entließ
ihn.  Zu seinem Großwesir aber sagte er: "Das heiß' ich gut einkaufen,
Mansor!  Wie freue ich mich, bis ich ein Tier bin.  Morgen früh
kommst du zu mir; wir gehen dann miteinander aufs Feld, schnupfen
etwas Weniges aus meiner Dose und belauschen dann, was in der Luft
und im Wasser, im Wald und Feld gesprochen wird!"

Kaum hatte am anderen Morgen der Kalif Chasid gefrühstückt und sich
angekleidet, als schon der Großwesir erschien, ihn, wie er befohlen,
auf dem Spaziergang zu begleiten.  Der Kalif steckte die Dose mit dem
Zauberpulver in den Gürtel, und nachdem er seinem Gefolge befohlen,
zurückzubleiben, machte er sich mit dem Großwesir ganz allein auf den
Weg. Sie gingen zuerst durch die weiten Gärten des Kalifen, spähten
aber vergebens nach etwas Lebendigem, um ihr Kunststück zu probieren.
Der Wesir schlug endlich vor, weiter hinaus an einen Teich zu gehen,
wo er schon oft viele Tiere, namentlich Störche, gesehen habe, die
durch ihr gravitätisches Wesen und ihr Geklapper immer seine
Aufmerksamkeit erregt hatten.

Der Kalif billigte den Vorschlag seines Wesirs und ging mit ihm dem
Teich zu.  Als sie dort angekommen waren, sahen sie einen Storch
ernsthaft auf und ab gehen, Frösche suchend und hier und da etwas vor
sich hinklappernd.  Zugleich sahen sie auch weit oben in der Luft
einen anderen Storch dieser Gegend zuschweben.

"Ich wette meinen Bart, gnädigster Herr", sagte er Großwesir, "wenn
nicht diese zwei Langfüßler ein schönes Gespräch miteinander führen
werden.  Wie wäre es, wenn wir Störche würden?"

"Wohl gesprochen!" antwortete der Kalif.  "Aber vorher wollen wir
noch einmal betrachten, wie man wieder Mensch wird.--Richtig!
Dreimal gen Osten geneigt und mutabor gesagt, so bin ich wieder Kalif
und du Wesir.  Aber nur um Himmels willen nicht gelacht, sonst sind
wir verloren!"

Während der Kalif also sprach, sah er den anderen Storch über ihrem
Haupte schweben und langsam sich zur Erde lassen.  Schnell zog er die
Dose aus dem Gürtel, nahm eine gute Prise, bot sie dem Großwesir dar,
der gleichfalls schnupfte, und beide riefen: mutabor!

Da schrumpften ihre Beine ein und wurden dünn und rot, die schönen
gelben Pantoffeln des Kalifen und seines Begleiters wurden
unförmliche Storchfüße, die Arme wurden zu Flügeln, der Hals fuhr aus
den Achseln und ward eine Elle lang, der Bart war verschwunden, und
den Körper bedeckten weiche Federn.

"Ihr habt einen hübschen Schnabel, Herr Großwesir", sprach nach
langem Erstaunen der Kalif.  "Beim Bart des Propheten, so etwas habe
ich in meinem Leben nicht gesehen."  "Danke untertänigst", erwiderte
der Großwesir, indem er sich bückte, "aber wenn ich es wagen darf,
möchte ich behaupten, Eure Hoheit sehen als Storch beinahe noch
hübscher aus denn als Kalif.  Aber kommt, wenn es Euch gefällig ist,
daß wir unsere Kameraden dort belauschen und erfahren, ob wir
wirklich Storchisch können."

Indem war der andere Storch auf der Erde angekommen; er putzte sich
mit dem Schnabel seine Füße, legte seine Federn zurecht und ging auf
den ersten Storch zu.  Die beiden neuen Störche aber beeilten sich,
in ihre Nähe zu kommen, und vernahmen zu ihrem Erstaunen folgendes
Gespräch:

"Guten Morgen, Frau Langbein, so früh schon auf der Wiese?"

"Schönen Dank, liebe Klapperschnabel!  Ich habe mir nur ein kleines
Frühstück geholt.  Ist Euch vielleicht ein Viertelchen Eidechs
gefällig oder ein Froschschenkelein?"

"Danke gehorsamst; habe heute gar keinen Appetit.  Ich komme auch
wegen etwas ganz anderem auf die Wiese.  Ich soll heute vor den
Gästen meines Vaters tanzen, und da will ich mich im stillen ein
wenig üben."

Zugleich schritt die junge Störchin in wunderlichen Bewegungen durch
das Feld.  Der Kalif und Mansor sahen ihr verwundert nach; als sie
aber in malerischer Stellung auf einem Fuß stand und mit den Flügeln
anmutig dazu wedelte, da konnten sich die beiden nicht mehr halten;
ein unaufhaltsames Gelächter brach aus ihren Schnäbeln hervor, von
dem sie sich erst nach langer Zeit erholten.  Der Kalif faßte sich
zuerst wieder: "Das war einmal ein Spaß", rief er, "der nicht mit
Gold zu bezahlen ist; schade, daß die Tiere durch unser Gelächter
sich haben verscheuchen lassen, sonst hätten sie gewiß auch noch
gesungen!"

Aber jetzt fiel es dem Großwesir ein, daß das Lachen während der
Verwandlung verboten war.  Er teilte seine Angst deswegen dem Kalifen
mit.  "Potz Mekka und Medina!  Das wäre ein schlechter Spaß, wenn ich
ein Storch bleiben müßte!  Besinne dich doch auf das dumme Wort, ich
bring' es nicht heraus."

"Dreimal gen Osten müssen wir uns bücken und dazu sprechen:
mu--mu--mu--"

Sie stellten sich gegen Osten und bückten sich in einem fort, daß
ihre Schnäbel beinahe die Erde berührten; aber, o Jammer!  Das
Zauberwort war ihnen entfallen, und so oft sich auch der Kalif bückte,
so sehnlich auch sein Wesir mu--mu dazu rief, jede Erinnerung daran
war verschwunden, und der arme Chasid und sein Wesir waren und
blieben Störche.

Traurig wandelten die Verzauberten durch die Felder, sie wußten gar
nicht, was sie in ihrem Elend anfangen sollten.  Aus ihrer
Storchenhaut konnten sie nicht heraus, in die Stadt zurück konnten
sie auch nicht, um sich zu erkennen zu geben; denn wer hätte einem
Storch geglaubt, daß er der Kalif sei, und wenn man es auch geglaubt
hätte, würden die Einwohner von Bagdad einen Storch zum Kalif gewollt
haben?

So schlichen sie mehrere Tage umher und ernährten sich kümmerlich von
Feldfrüchten, die sie aber wegen ihrer langen Schnäbel nicht gut
verspeisen konnten.  Auf Eidechsen und Frösche hatten sie übrigens
keinen Appetit, denn sie befürchteten, mit solchen Leckerbissen sich
den Magen zu verderben.  Ihr einziges Vergnügen in dieser traurigen
Lage war, daß sie fliegen konnten, und so flogen sie oft auf die
Dächer von Bagdad, um zu sehen, was darin vorging.

In den ersten Tagen bemerkten sie große Unruhe und Trauer in den
Straßen; aber ungefähr am vierten Tag nach ihrer Verzauberung saßen
sie auf dem Palast des Kalifen, da sahen sie unten in der Straße
einen prächtigen Aufzug; Trommeln und Pfeifen ertönten, ein Mann in
einem goldbestickten Scharlachmantel saß auf einem geschmückten Pferd,
umgeben von glänzenden Dienern, halb Bagdad sprang ihm nach, und
alle schrien: "Heil Mizra, dem Herrscher von Bagdad!"

Da sahen die beiden Störche auf dem Dache des Palastes einander an,
und der Kalif Chasid sprach: "Ahnst du jetzt, warum ich verzaubert
bin, Großwesir?  Dieser Mizra ist der Sohn meines Todfeindes, des
mächtigen Zauberers Kaschnur, der mir in einer bösen Stunde Rache
schwur.  Aber noch gebe ich die Hoffnung nicht auf--Komm mit mir, du
treuer Gefährte meines Elends, wir wollen zum Grabe des Propheten
wandern, vielleicht, daß an heiliger Stätte der Zauber gelöst wird."

Sie erhoben sich vom Dach des Palastes und flogen der Gegend von
Medina zu.

Mit dem Fliegen wollte es aber nicht gar gut gehen; denn die beiden
Störche hatten noch wenig Übung.  "O Herr", ächzte nach ein paar
Stunden der Großwesir, "ich halte es mit Eurer Erlaubnis nicht mehr
lange aus; Ihr fliegt gar zu schnell!  Auch ist es schon Abend, und
wir täten wohl, ein Unterkommen für die Nacht zu suchen."

Chasid gab der Bitte seines Dieners Gehör; und da er unten im Tale
eine Ruine erblickte, die ein Obdach zu gewähren schien, so flogen
sie dahin.  Der Ort, wo sie sich für diese Nacht niedergelassen
hatten, schien ehemals ein Schloß gewesen zu sein.  Schöne Säulen
ragten unter den Trümmern hervor, mehrere Gemächer, die noch ziemlich
erhalten waren, zeugten von der ehemaligen Pracht des Hauses.  Chasid
und sein Begleiter gingen durch die Gänge umher, um sich ein
trockenes Plätzchen zu suchen; plötzlich blieb der Storch Mansor
stehen.  "Herr und Gebieter", flüsterte er leise, "wenn es nur nicht
töricht für einen Großwesir, noch mehr aber für einen Storch wäre,
sich vor Gespenstern zu fürchten!  Mir ist ganz unheimlich zumute;
denn hier neben hat es ganz vernehmlich geseufzt und gestöhnt."  Der
Kalif blieb nun auch stehen und hörte ganz deutlich ein leises Weinen,
das eher einem Menschen als einem Tiere anzugehören schien.  Voll
Erwartung wollte er der Gegend zugehen, woher die Klagetöne kamen;
der Wesir aber packte ihn mit dem Schnabel am Flügel und bat ihn
flehentlich, sich nicht in neue, unbekannte Gefahren zu stürzen.
Doch vergebens!  Der Kalif, dem auch unter dem Storchenflügel ein
tapferes Herz schlug, riß sich mit Verlust einiger Federn los und
eilte in einen finsteren Gang.  Bald war er an einer Tür angelangt,
die nur angelehnt schien und woraus er deutliche Seufzer mit ein
wenig Geheul vernahm.  Er stieß mit dem Schnabel die Türe auf, blieb
aber überrascht auf der Schwelle stehen.  In dem verfallenen Gemach,
das nur durch ein kleines Gitterfenster spärlich erleuchtet war, sah
er eine große Nachteule am Boden sitzen.  Dicke Tränen rollten ihr
aus den großen, runden Augen, und mit heiserer Stimme stieß sie ihre
Klagen zu dem krummen Schnabel heraus.  Als sie aber den Kalifen und
seinen Wesir, der indes auch herbeigeschlichen war, erblickte, erhob
sie ein lautes Freudengeschrei.  Zierlich wischte sie mit dem
braungefleckten Flügel die Tränen aus dem Auge, und zu dem größten
Erstaunen der beiden rief sie in gutem menschlichem Arabisch:
"Willkommen, ihr Störche!  Ihr seid mir ein gutes Zeichen meiner
Errettung; denn durch Störche werde mir ein großes Glück kommen, ist
mir einst prophezeit worden!"

Als sich der Kalif von seinem Erstaunen erholt hatte, bückte er sich
mit seinem langen Hals, brachte seine dünnen Füße in eine zierliche
Stellung und sprach: "Nachteule!  Deinen Worten nach darf ich glauben,
eine Leidensgefährtin in dir zu sehen.  Aber ach!  Deine Hoffnung,
daß durch uns deine Rettung kommen werde, ist vergeblich.  Du wirst
unsere Hilflosigkeit selbst erkennen, wenn du unsere Geschichte hörst."
Die Nachteule bat ihn zu erzählen, was der Kalif sogleich tat.

Als der Kalif der Eule seine Geschichte vorgetragen hatte, dankte sie
ihm und sagte: "Vernimm auch meine Geschichte und höre, wie ich nicht
weniger unglücklich bin als du.  Mein Vater ist der König von Indien,
ich, seine einzige unglückliche Tochter, heiße Lusa.  Jener Zauberer
Kaschnur, der euch verzauberte, hat auch mich ins Unglück gestürzt.
Er kam eines Tages zu meinem Vater und begehrte mich zur Frau für
seinen Sohn Mizra.  Mein Vater aber, der ein hitziger Mann ist, ließ
ihn die Treppe hinunterwerfen.  Der Elende wußte sich unter einer
anderen Gestalt wieder in meine Nähe zu schleichen, und als ich einst
in meinem Garten Erfrischungen zu mir nehmen wollte, brachte er mir,
als Sklave verkleidet, einen Trank bei, der mich in diese
abscheuliche Gestalt verwandelte.  Vor Schrecken ohnmächtig, brachte
er mich hierher und rief mir mit schrecklicher Stimme in die Ohren:

'Da sollst du bleiben, häßlich, selbst von den Tieren verachtet, bis
an dein Ende, oder bis einer aus freiem Willen dich, selbst in dieser
schrecklichen Gestalt, zur Gattin begehrt.  So räche ich mich an dir
und deinem stolzen Vater.'

Seitdem sind viele Monate verflossen.  Einsam und traurig lebe ich
als Einsiedlerin in diesem Gemäuer, verabscheut von der Welt, selbst
den Tieren ein Greuel; die schöne Natur ist vor mir verschlossen;
denn ich bin blind am Tage, und nur, wenn der Mond sein bleiches
Licht über dies Gemäuer ausgießt, fällt der verhüllende Schleier von
meinem Auge."

Die Eule hatte geendet und wischte sich mit dem Flügel wieder die
Augen aus, denn die Erzählung ihrer Leiden hatte ihr Tränen entlockt.

Der Kalif war bei der Erzählung der Prinzessin in tiefes Nachdenken
versunken.  "Wenn mich nicht alles täuscht", sprach er, "so findet
zwischen unserem Unglück ein geheimer Zusammenhang statt; aber wo
finde ich den Schlüssel zu diesem Rätsel?"

Die Eule antwortete ihm: "O Herr!  Auch mir ahnet dies; denn es ist
mir einst in meiner frühesten Jugend von einer weisen Frau prophezeit
worden, daß ein Storch mir ein großes Glück bringen werde, und ich
wüßte vielleicht, wie wir uns retten könnten."  Der Kalif war sehr
erstaunt und fragte, auf welchem Wege sie meine.  "Der Zauberer, der
uns beide unglücklich gemacht hat", sagte sie, "kommt alle Monate
einmal in diese Ruinen.  Nicht weit von diesem Gemach ist ein Saal.
Dort pflegt er dann mit vielen Genossen zu schmausen.  Schon oft habe
ich sie dort belauscht.  Sie erzählen dann einander ihre schändlichen
Werke; vielleicht, daß er dann das Zauberwort, das ihr vergessen habt,
ausspricht."

"O, teuerste Prinzessin", rief der Kalif, "sag an, wann kommt er, und
wo ist der Saal?"

Die Eule schwieg einen Augenblick und sprach dann: "Nehmet es nicht
ungütig, aber nur unter einer Bedingung kann ich Euern Wunsch
erfüllen."

"Sprich aus!  Sprich aus!" schrie Chasid.  "Befiehl, es ist mir jede
recht."

"Nämlich, ich möchte auch gern zugleich frei sein; dies kann aber nur
geschehen, wenn einer von euch mir seine Hand reicht."

Die Störche schienen über den Antrag etwas betroffen zu sein, und der
Kalif winkte seinem Diener, ein wenig mit ihm hinauszugehen.

"Großwesir", sprach vor der Türe der Kalif, "das ist ein dummer
Handel; aber Ihr könntet sie schon nehmen."

"So", antwortete dieser, "daß mir meine Frau, wenn ich nach Hause
komme, die Augen auskratzt?  Auch bin ich ein alter Mann, und Ihr
seid noch jung und unverheiratet und könnet eher einer jungen,
schönen Prinzessin die Hand geben."

"Das ist es eben", seufzte der Kalif, indem er traurig die Flügel
hängen ließ, "wer sagt dir denn, daß sie jung und schön ist?  Das
heißt eine Katze im Sack kaufen!"

Sie redeten einander gegenseitig noch lange zu; endlich aber, als der
Kalif sah, daß sein Wesir lieber Storch bleiben als die Eule heiraten
wollte, entschloß er sich, die Bedingung lieber selbst zu erfüllen.
Die Eule war hocherfreut.  Sie gestand ihnen, daß sie zu keiner
besseren Zeit hätten kommen können, weil wahrscheinlich in dieser
Nacht die Zauberer sich versammeln würden.

Sie verließ mit den Störchen das Gemach, um sie in jenen Saal zu
führen; sie gingen lange in einem finsteren Gang hin; endlich
strahlte ihnen aus einer halbverfallenen Mauer ein heller Schein
entgegen.  Als sie dort angelangt waren, riet ihnen die Eule, sich
ganz ruhig zu verhalten.  Sie konnten von der Lücke, an welcher sie
standen, einen großen Saal übersehen.  Er war ringsum mit Säulen
geschmückt und prachtvoll verziert.  Viele farbige Lampen ersetzten
das Licht des Tages.  In der Mitte des Saales stand ein runder Tisch,
mit vielen und ausgesuchten Speisen besetzt.  Rings um den Tisch zog
sich ein Sofa, auf welchem acht Männer saßen.  In einem dieser Männer
erkannten die Störche jenen Krämer wieder, der ihnen das Zauberpulver
verkauft hatte.  Sein Nebensitzer forderte ihn auf, ihnen seine
neuesten Taten zu erzählen.  Er erzählte unter anderen auch die
Geschichte des Kalifen und seines Wesirs.

"Was für ein Wort hast du ihnen denn aufgegeben?" fragte ihn ein
anderer Zauberer.  "Ein recht schweres lateinisches, es heißt mutabor."

Als die Störche an der Mauerlücke dieses hörten, kamen sie vor
Freuden beinahe außer sich.  Sie liefen auf ihren langen Füßen so
schnell dem Tore der Ruine zu, daß die Eule kaum folgen konnte.  Dort
sprach der Kalif gerührt zu der Eule: "Retterin meines Lebens und des
Lebens meines Freundes, nimm zum ewigen Dank für das, was du an uns
getan, mich zum Gemahl an!"  Dann aber wandte er sich nach Osten.
Dreimal bückten die Störche ihre langen Hälse der Sonne entgegen, die
soeben hinter dem Gebirge heraufstieg: "Mutabor!" riefen sie, im Nu
waren sie verwandelt, und in der hohen Freude des neugeschenkten
Lebens lagen Herr und Diener lachend und weinend einander in den
Armen.

Wer beschreibt aber ihr Erstaunen, als sie sich umsahen?  Eine schöne
Dame, herrlich geschmückt, stand vor ihnen.  Lächelnd gab sie dem
Kalifen die Hand.  "Erkennt Ihr Eure Nachteule nicht mehr?" sagte sie.
Sie war es; der Kalif war von ihrer Schönheit und Anmut entzückt.

Die drei zogen nun miteinander auf Bagdad zu.  Der Kalif fand in
seinen Kleidern nicht nur die Dose mit Zauberpulver, sondern auch
seinen Geldbeutel.  Er kaufte daher im nächsten Dorfe, was zu ihrer
Reise nötig war, und so kamen sie bald an die Tore von Bagdad.  Dort
aber erregte die Ankunft des Kalifen großes Erstaunen.  Man hatte ihn
für tot ausgegeben, und das Volk war daher hocherfreut, seinen
geliebten Herrscher wiederzuhaben.

Um so mehr aber entbrannte ihr Haß gegen den Betrüger Mizra.  Sie
zogen in den Palast und nahmen den alten Zauberer und seinen Sohn
gefangen.  Den Alten schickte der Kalif in dasselbe Gemach der Ruine,
das die Prinzessin als Eule bewohnt hatte, und ließ ihn dort
aufhängen.  Dem Sohn aber, welcher nichts von den Künsten des Vaters
verstand, ließ der Kalif die Wahl, ob er sterben oder schnupfen wolle.
Als er das letztere wählte, bot ihm der Großwesir die Dose.  Eine
tüchtige Prise, und das Zauberwort des Kalifen verwandelte ihn in
einen Storch.  Der Kalif ließ ihn in einen eisernen Käfig sperren und
in seinem Garten aufstellen.

Lange und vergnügt lebte Kalif Chasid mit seiner Frau, der Prinzessin;
seine vergnügtesten Stunden waren immer die, wenn ihn der Großwesir
nachmittags besuchte; da sprachen sie dann oft von ihrem
Storchabenteuer, und wenn der Kalif recht heiter war, ließ er sich
herab, den Großwesir nachzuahmen, wie er als Storch aussah.  Er stieg
dann ernsthaft, mit steifen Füßen im Zimmer auf und ab, klapperte,
wedelte mit den Armen wie mit Flügeln und zeigte, wie jener sich
vergeblich nach Osten geneigt und Mu--Mu--dazu gerufen habe.  Für die
Frau Kalifin und ihre Kinder war diese Vorstellung allemal eine große
Freude; wenn aber der Kalif gar zu lange klapperte und nickte und
Mu--Mu--schrie, dann drohte ihm lächelnd der Wesir: Er wolle das, was
vor der Türe der Prinzessin Nachteule verhandelt worden sei, der Frau
Kalifin mitteilen.

Als Selim Baruch seine Geschichte beendet hatte, bezeugten sich die
Kaufleute sehr zufrieden damit.  "Wahrhaftig, der Nachmittag ist uns
vergangen, ohne daß wir merkten wie!" sagte einer derselben, indem er
die Decke des Zeltes zurückschlug.  "Der Abendwind wehet kühl, und
wir könnten noch eine gute Strecke Weges zurücklegen."  Seine
Gefährten waren damit einverstanden, die Zelte wurden abgebrochen,
und die Karawane machte sich in der nämlichen Ordnung, in welcher sie
herangezogen war, auf den Weg.

Sie ritten beinahe die ganze Nacht hindurch, denn es war schwül am
Tage, die Nacht aber war erquicklich und sternhell.  Sie kamen
endlich an einem bequemen Lagerplatz an, schlugen die Zelte auf und
legten sich zur Ruhe.  Für den Fremden aber sorgten die Kaufleute,
wie wenn er ihr wertester Gastfreund wäre.  Der eine gab ihm Polster,
der andere Decken, ein dritter gab ihm Sklaven, kurz, er wurde so gut
bedient, als ob er zu Hause wäre.  Die heißeren Stunden des Tages
waren schon heraufgekommen, als sie sich wieder erhoben, und sie
beschlossen einmütig, hier den Abend abzuwarten.  Nachdem sie
miteinander gespeist hatten, rückten sie wieder näher zusammen, und
der junge Kaufmann wandte sich an den ältesten und sprach: "Selim
Baruch hat uns gestern einen vergnügten Nachmittag bereitet, wie wäre
es, Achmet, wenn Ihr uns auch etwas erzähltet, sei es nun aus Eurem
langen Leben, das wohl viele Abenteuer aufzuweisen hat, oder sei es
auch ein hübsches Märchen."  Achmet schwieg auf diese Anrede eine
Zeitlang, wie wenn er bei sich im Zweifel wäre, ob er dies oder jenes
sagen sollte oder nicht; endlich fing er an zu sprechen:

"Liebe Freunde!  Ihr habt euch auf dieser unserer Reise als treue
Gesellen erprobt, und auch Selim verdient mein Vertrauen; daher will
ich euch etwas aus meinem Leben mitteilen, das ich sonst ungern und
nicht jedem erzähle: die Geschichte von dem Gespensterschiff."



Die Geschichte von dem Gespensterschiff

Wilhelm Hauff


Mein Vater hatte einen kleinen Laden in Balsora; er war weder arm
noch reich und einer von jenen Leuten, die nicht gerne etwas wagen,
aus Furcht, das Wenige zu verlieren, das sie haben.  Er erzog mich
schlicht und recht und brachte es bald so weit, daß ich ihm an die
Hand gehen konnte.  Gerade als ich achtzehn Jahre alt war, als er die
erste größere Spekulation machte, starb er, wahrscheinlich aus Gram,
tausend Goldstücke dem Meere anvertraut zu haben.  Ich mußte ihn bald
nachher wegen seines Todes glücklich preisen, denn wenige Wochen
hernach lief die Nachricht ein, daß das Schiff, dem mein Vater seine
Güter mitgegeben hatte, versunken sei.  Meinen jugendlichen Mut
konnte aber dieser Unfall nicht beugen.  Ich machte alles vollends zu
Geld, was mein Vater hinterlassen hatte, und zog aus, um in der
Fremde mein Glück zu probieren, nur von einem alten Diener meines
Vaters begleitet.

Im Hafen von Balsora schifften wir uns mit günstigem Winde ein.  Das
Schiff, auf dem ich mich eingemietet hatte, war nach Indien bestimmt.
Wir waren schon fünfzehn Tage auf der gewöhnlichen Straße gefahren,
als uns der Kapitän einen Sturm verkündete.  Er machte ein
bedenkliches Gesicht, denn es schien, er kenne in dieser Gegend das
Fahrwasser nicht genug, um einem Sturm mit Ruhe begegnen zu können.
Er ließ alle Segel einziehen, und wir trieben ganz langsam hin.  Die
Nacht war angebrochen, war hell und kalt, und der Kapitän glaubte
schon, sich in den Anzeichen des Sturmes getäuscht zu haben.  Auf
einmal schwebte ein Schiff, das wir vorher nicht gesehen hatten,
dicht an dem unsrigen vorbei.  Wildes Jauchzen und Geschrei erscholl
aus dem Verdeck herüber, worüber ich mich zu dieser angstvollen
Stunde vor einem Sturm nicht wenig wunderte.  Aber der Kapitän an
meiner Seite wurde blaß wie der Tod.  "Mein Schiff ist verloren",
rief er, "dort segelt der Tod!"

Ehe ich ihn noch über diesen sonderbaren Ausruf befragen konnte,
stürzten schon heulend und schreiend die Matrosen herein.  "Habt ihr
ihn gesehen?" schrien sie.  "Jetzt ist's mit uns vorbei!"

Der Kapitän aber ließ Trostsprüche aus dem Koran vorlesen und setzte
sich selbst ans Steuerruder.  Aber vergebens!  Zusehends brauste der
Sturm auf, und ehe eine Stunde verging, krachte das Schiff und blieb
sitzen.  Die Boote wurden ausgesetzt, und kaum hatten sich die
letzten Matrosen gerettet, so versank das Schiff vor unseren Augen,
und als ein Bettler fuhr ich in die See hinaus.  Aber der Jammer
hatte noch kein Ende.  Fürchterlicher tobte der Sturm; das Boot war
nicht mehr zu regieren.  Ich hatte meinen alten Diener fest
umschlungen, und wir versprachen uns, nie voneinander zu weichen.
Endlich brach der Tag an.  Aber mit dem ersten Anblick der Morgenröte
faßte der Wind das Boot, in welchem wir saßen, und stürzte es um.
Ich habe keinen meiner Schiffsleute mehr gesehen.  Der Sturz hatte
mich betäubt; und als ich aufwachte, befand ich mich in den Armen
meines alten treuen Dieners, der sich auf das umgeschlagene Boot
gerettet und mich nachgezogen hatte.  Der Sturm hatte sich gelegt.
Von unserem Schiff war nichts mehr zu sehen, wohl aber entdeckten wir
nicht weit von uns ein anderes Schiff, auf das die Wellen uns
hintrieben.  Als wir näher hinzukamen, erkannte ich das Schiff als
dasselbe, das in der Nacht an uns vorbeifuhr und welches den Kapitän
so sehr in Schrecken gesetzt hatte.  Ich empfand ein sonderbares
Grauen vor diesem Schiffe.  Die Äußerung des Kapitäns, die sich so
furchtbar bestätigt hatte, das öde Aussehen des Schiffes, auf dem
sich, so nahe wir auch herankamen, so laut wir schrien, niemand
zeigte, erschreckten mich.  Doch es war unser einziges Rettungsmittel;
darum priesen wir den Propheten, der uns so wundervoll erhalten
hatte.

Am Vorderteil des Schiffes hing ein langes Tau herab.  Mit Händen und
Füßen ruderten wir darauf zu, um es zu erfassen.  Endlich glückte es.
Noch einmal erhob ich meine Stimme, aber immer blieb es still auf
dem Schiff.  Da klimmten wir an dem Tau hinauf, ich als der Jüngste
voran.  Aber Entsetzen!  Welches Schauspiel stellte sich meinem Auge
dar, als ich das Verdeck betrat!  Der Boden war mit Blut gerötet,
zwanzig bis dreißig Leichname in türkischen Kleidern lagen auf dem
Boden, am mittleren Mastbaum stand ein Mann, reich gekleidet, den
Säbel in der Hand, aber das Gesicht war blaß und verzerrt, durch die
Stirn ging ein großer Nagel, der ihn an den Mastbaum heftete, auch er
war tot.  Schrecken fesselte meine Schritte, ich wagte kaum zu atmen.
Endlich war auch mein Begleiter heraufgekommen.  Auch ihn
überraschte der Anblick des Verdecks, das gar nichts Lebendiges,
sondern nur so viele schreckliche Tote zeigte.  Wir wagten es endlich,
nachdem wir in der Seelenangst zum Propheten gefleht hatten, weiter
vorzuschreiten.  Bei jedem Schritte sahen wir uns um, ob nicht etwas
Neues, noch Schrecklicheres sich darbiete; aber alles blieb, wie es
war; weit und breit nichts Lebendiges als wir und das Weltmeer.
Nicht einmal laut zu sprechen wagten wir, aus Furcht, der tote, am
Mast angespießte Kapitano möchte seine starren Augen nach uns
hindrehen oder einer der Getöteten möchte seinen Kopf umwenden.
Endlich waren wir bis an eine Treppe gekommen, die in den Schiffsraum
führte.  Unwillkürlich machten wir dort halt und sahen einander an,
denn keiner wagte es recht, seine Gedanken zu äußern.

"O Herr", sprach mein treuer Diener, "hier ist etwas Schreckliches
geschehen.  Doch wenn auch das Schiff da unten voll Mörder steckt, so
will ich mich ihnen doch lieber auf Gnade und Ungnade ergeben, als
längere Zeit unter diesen Toten zubringen."  Ich dachte wie er; wir
faßten uns ein Herz und stiegen voll Erwartung hinunter.  Totenstille
war aber auch hier, und nur unsere Schritte hallten auf der Treppe.
Wir standen an der Türe der Kajüte.  Ich legte mein Ohr an die Türe
und lauschte; es war nichts zu hören.  Ich machte auf.  Das Gemach
bot einen unordentlichen Anblick dar.  Kleider, Waffen und andere
Geräte lagen untereinander.  Nichts in Ordnung.  Die Mannschaft oder
wenigstens der Kapitano mußten vor kurzem gezechet haben; denn es lag
alles noch umher.  Wir gingen weiter von Raum zu Raum, von Gemach zu
Gemach, überall fanden wir herrliche Vorräte in Seide, Perlen, Zucker
usw.  Ich war vor Freude über diesen Anblick außer mir, denn da
niemand auf dem Schiff war, glaubte ich, alles mir zueignen zu dürfen,
Ibrahim aber machte mich aufmerksam darauf, daß wir wahrscheinlich
noch sehr weit vom Lande seien, wohin wir allein und ohne menschliche
Hilfe nicht kommen könnten.

Wir labten uns an den Speisen und Getränken, die wir in reichem Maß
vorfanden, und stiegen endlich wieder aufs Verdeck.  Aber hier
schauderte uns immer die Haut ob dem schrecklichen Anblick der
Leichen.  Wir beschlossen, uns davon zu befreien und sie über Bord zu
werfen; aber wie schauerlich ward uns zumut, als wir fanden, daß sich
keiner aus seiner Lage bewegen ließ.  Wie festgebannt lagen sie am
Boden, und man hätte den Boden des Verdecks ausheben müssen, um sie
zu entfernen, und dazu gebrach es uns an Werkzeugen.  Auch der
Kapitano ließ sich nicht von seinem Mast losmachen; nicht einmal
seinen Säbel konnten wir der starren Hand entwinden.  Wir brachten
den Tag in trauriger Betrachtung unserer Lage zu, und als es Nacht zu
werden anfing, erlaubte ich dem alten Ibrahim, sich schlafen zu legen,
ich selbst aber wollte auf dem Verdeck wachen, um nach Rettung
auszuspähen.  Als aber der Mond heraufkam und ich nach den Gestirnen
berechnete, daß es wohl um die elfte Stunde sei, überfiel mich ein so
unwiderstehlicher Schlaf, daß ich unwillkürlich hinter ein Faß, das
auf dem Verdeck stand, zurückfiel.  Doch war es mehr Betäubung als
Schlaf, denn ich hörte deutlich die See an der Seite des Schiffes
anschlagen und die Segel vom Winde knarren und pfeifen.  Auf einmal
glaubte ich Stimmen und Männertritte auf dem Verdeck zu hören.  Ich
wollte mich aufrichten, um danach zu schauen.  Aber eine unsichtbare
Gewalt hielt meine Glieder gefesselt; nicht einmal die Augen konnte
ich aufschlagen.  Aber immer deutlicher wurden die Stimmen, es war
mir, als wenn ein fröhliches Schiffsvolk auf dem Verdeck sich
umhertriebe; mitunter glaubte ich, die kräftige Stimme eines
Befehlenden zu hören, auch hörte ich Taue und Segel deutlich auf- und
abziehen.  Nach und nach aber schwanden mir die Sinne, ich verfiel in
einen tieferen Schlaf, in dem ich nur noch ein Geräusch von Waffen zu
hören glaubte, und erwachte erst, als die Sonne schon hoch stand und
mir aufs Gesicht brannte.  Verwundert schaute ich mich um, Sturm,
Schiff, die Toten und was ich in dieser Nacht gehört hatte, kam mir
wie ein Traum vor, aber als ich aufblickte, fand ich alles wie
gestern.  Unbeweglich lagen die Toten, unbeweglich war der Kapitano
an den Mastbaum geheftet.  Ich lachte über meinen Traum und stand auf,
um meinen Alten zu suchen.

Dieser saß ganz nachdenklich in der Kajüte.  "O Herr!" rief er aus,
als ich zu ihm hineintrat, "ich wollte lieber im tiefsten Grund des
Meeres liegen, als in diesem verhexten Schiff noch eine Nacht
zubringen."  Ich fragte ihn nach der Ursache seines Kummers, und er
antwortete mir: "Als ich einige Stunden geschlafen hatte, wachte ich
auf und vernahm, wie man über meinem Haupt hin und her lief.  Ich
dachte zuerst, Ihr wäret es, aber es waren wenigstens zwanzig, die
oben umherliefen; auch hörte ich rufen und schreien.  Endlich kamen
schwere Tritte die Treppe herab.  Da wußte ich nichts mehr von mir,
nur hie und da kehrte auf einige Augenblicke meine Besinnung zurück,
und da sah ich dann denselben Mann, der oben am Mast angenagelt ist,
an jenem Tisch dort sitzen, singend und trinkend; aber der, der in
einem roten Scharlachkleid nicht weit von ihm am Boden liegt, saß
neben ihm und half ihm trinken."  Also erzählte mir mein alter Diener.

Ihr könnt mir es glauben, meine Freunde, daß mir gar nicht wohl
zumute war; denn es war keine Täuschung, ich hatte ja auch die Toten
gar wohl gehört.  In solcher Gesellschaft zu schiffen, war mir
greulich.  Mein Ibrahim aber versank wieder in tiefes Nachdenken.
"Jetzt hab' ich's!" rief er endlich aus; es fiel ihm nämlich ein
Sprüchlein ein, das ihn sein Großvater, ein erfahrener, weitgereister
Mann, gelehrt hatte und das gegen jeden Geister- und Zauberspuk
helfen sollte; auch behauptete er, jenen unnatürlichen Schlaf, der
uns befiel, in der nächsten Nacht verhindern zu können, wenn wir
nämlich recht eifrig Sprüche aus dem Koran beteten.  Der Vorschlag
des alten Mannes gefiel mir wohl.  In banger Erwartung sahen wir die
Nacht herankommen.  Neben der Kajüte war ein kleines Kämmerchen,
dorthin beschlossen wir uns zurückzuziehen.  Wir bohrten mehrere
Löcher in die Türe, hinlänglich groß, um durch sie die ganze Kajüte
zu überschauen, dann verschlossen wir die Türe, so gut es ging, von
innen, und Ibrahim schrieb den Namen des Propheten in alle vier Ecken.
So erwarteten wir die Schrecken der Nacht.  Es mochte wieder
ungefähr elf Uhr sein, als es mich gewaltig zu schläfern anfing.
Mein Gefährte riet mir daher, einige Sprüche des Korans zu beten, was
mir auch half.  Mit einem Male schien es oben lebhaft zu werden; die
Taue knarrten, Schritte gingen über das Verdeck, und mehrere Stimmen
waren deutlich zu unterscheiden--Mehrere Minuten hatten wir so in
gespannter Erwartung gesessen, da hörten wir etwas die Treppe der
Kajüte herabkommen.  Als dies der Alte hörte, fing er an, den Spruch,
den ihn sein Großvater gegen Spuk und Zauberei gelehrt hatte,
herzusagen:

"Kommt ihr herab aus der Luft,
Steigt ihr aus tiefem Meer,
Schlieft ihr in dunkler Gruft,
Stammt ihr vom Feuer her:
Allah ist euer Herr und Meister,
ihm sind gehorsam alle Geister."

Ich muß gestehen, ich glaubte gar nicht recht an diesen Spruch, und
mir stieg das Haar zu Berg, als die Tür aufflog.  Herein trat jener
große, stattliche Mann, den ich am Mastbaum angenagelt gesehen hatte.
Der Nagel ging ihm auch jetzt mitten durchs Hirn; das Schwert aber
hatte er in die Scheide gesteckt; hinter ihm trat noch ein anderer
herein, weniger kostbar gekleidet; auch ihn hatte ich oben liegen
sehen.  Der Kapitano, denn dies war er unverkennbar, hatte ein
bleiches Gesicht, einen großen, schwarzen Bart, wildrollende Augen,
mit denen er sich im ganzen Gemach umsah.  Ich konnte ihn ganz
deutlich sehen, als er an unserer Türe vorüberging; er aber schien
gar nicht auf die Türe zu achten, die uns verbarg.  Beide setzten
sich an den Tisch, der in der Mitte der Kajüte stand, und sprachen
laut und fast schreiend miteinander in einer unbekannten Sprache.
Sie wurden immer lauter und eifriger, bis endlich der Kapitano mit
geballter Faust auf den Tisch hineinschlug, daß das Zimmer dröhnte.
Mit wildem Gelächter sprang der andere auf und winkte dem Kapitano,
ihm zu folgen.  Dieser stand auf, riß seinen Säbel aus der Scheide,
und beide verließen das Gemach.  Wir atmeten freier, als sie weg
waren; aber unsere Angst hatte noch lange kein Ende.  Immer lauter
und lauter ward es auf dem Verdeck.  Man hörte eilends hin und her
laufen und schreien, lachen und heulen.  Endlich ging ein wahrhaft
höllischer Lärm los, so daß wir glaubten, das Verdeck mit allen
Segeln komme zu uns herab, Waffengeklirr und Geschrei--auf einmal
aber tiefe Stille.  Als wir es nach vielen Stunden wagten
hinaufzugehen, trafen wir alles wie sonst; nicht einer lag anders als
früher.  Alle waren steif wie Holz.

So waren wir mehrere Tage auf dem Schiffe; es ging immer nach Osten,
wohin zu, nach meiner Berechnung, Land liegen mußte; aber wenn es
auch bei Tag viele Meilen zurückgelegt hatte, bei Nacht schien es
immer wieder zurückzukehren, denn wir befanden uns immer wieder am
nämlichen Fleck, wenn die Sonne aufging.  Wir konnten uns dies nicht
anders erklären, als daß die Toten jede Nacht mit vollem Winde
zurücksegelten.  Um nun dies zu verhüten, zogen wir, ehe es Nacht
wurde, alle Segel ein und wandten dasselbe Mittel an wie bei der Türe
in der Kajüte; wir schrieben den Namen des Propheten auf Pergament
und auch das Sprüchlein des Großvaters dazu und banden es um die
eingezogenen Segel.  Ängstlich warteten wir in unserem Kämmerchen
den Erfolg ab.  Der Spuk schien diesmal noch ärger zu toben, aber
siehe, am anderen Morgen waren die Segel noch aufgerollt, wie wir sie
verlassen hatten.  Wir spannten den Tag über nur so viele Segel auf,
als nötig waren, das Schiff sanft fortzutreiben, und so legten wir in
fünf Tagen eine gute Strecke zurück.

Endlich, am Morgen des sechsten Tages, entdeckten wir in geringer
Ferne Land, und wir dankten Allah und seinem Propheten für unsere
wunderbare Rettung.  Diesen Tag und die folgende Nacht trieben wir an
einer Küste hin, und am siebenten Morgen glaubten wir in geringer
Entfernung eine Stadt zu entdecken; wir ließen mit vieler Mühe einen
Anker in die See, der alsobald Grund faßte, setzten ein kleines Boot,
das auf dem Verdeck stand, aus und ruderten mit aller Macht der Stadt
zu.  Nach einer halben Stunde liefen wir in einen Fluß ein, der sich
in die See ergoß, und stiegen ans Ufer.  Am Stadttor erkundigten wir
uns, wie die Stadt heiße, und erfuhren, daß es eine indische Stadt
sei, nicht weit von der Gegend, wohin ich zuerst zu schiffen willens
war.  Wir begaben uns in eine Karawanserei und erfrischten uns von
unserer abenteuerlichen Reise.  Ich forschte daselbst auch nach einem
weisen und verständigen Manne, indem ich dem Wirt zu verstehen gab,
daß ich einen solchen haben möchte, der sich ein wenig auf Zauberei
verstehe.  Er führte mich in eine abgelegene Straße, an ein
unscheinbares Haus, pochte an, und man ließ mich eintreten mit der
Weisung, ich solle nur nach Muley fragen.

In dem Hause kam mir ein altes Männlein mit grauem Bart und langer
Nase entgegen und fragte nach meinem Begehr.  Ich sagte ihm, ich
suche den weisen Muley, und er antwortete mir, er sei es selbst.  Ich
fragte ihn nun um Rat, was ich mit den Toten machen solle und wie ich
es angreifen müsse, um sie aus dem Schiff zu bringen.  Er antwortete
mir, die Leute des Schiffes seien wahrscheinlich wegen irgendeines
Frevels auf das Meer verzaubert; er glaube, der Zauber werde sich
lösen, wenn man sie ans Land bringe; dies könne aber nicht geschehen,
als wenn man die Bretter, auf denen sie lägen, losmache.  Mir gehöre
von Gott und Rechts wegen das Schiff samt allen Gütern, weil ich es
gleichsam gefunden habe; doch solle ich alles sehr geheimzuhalten
trachten und ihm ein kleines Geschenk von meinem Überfluß machen; er
wolle dafür mit seinen Sklaven mir behilflich sein, die Toten
wegzuschaffen.  Ich versprach, ihn reichlich zu belohnen, und wir
machten uns mit fünf Sklaven, die mit Sägen und Beilen versehen waren,
auf den Weg. Unterwegs konnte der Zauberer Muley unseren glücklichen
Einfall, die Segel mit den Sprüchen des Korans zu umwinden, nicht
genug loben.  Er sagte, es sei dies das einzige Mittel gewesen, uns
zu retten.

Es war noch ziemlich früh am Tage, als wir beim Schiff ankamen.  Wir
machten uns alle sogleich ans Werk, und in einer Stunde lagen schon
vier in dem Nachen.  Einige der Sklaven mußten sie an Land rudern, um
sie dort zu verscharren.  Sie erzählten, als sie zurückkamen, die
Toten hätten ihnen die Mühe des Begrabens erspart, indem sie, sowie
man sie auf die Erde gelegt habe, in Staub zerfallen seien.  Wir
fuhren fort, die Toten abzusägen, und bis vor Abend waren alle an
Land gebracht.  Es war endlich keiner mehr an Bord als der, welcher
am Mast angenagelt war.  Umsonst suchten wir den Nagel aus dem Holze
zu ziehen, keine Gewalt vermochte ihn auch nur ein Haarbreit zu
verrücken.  Ich wußte nicht, was anzufangen war; man konnte doch
nicht den Mastbaum abhauen, um ihn ans Land zu führen.  Doch aus
dieser Verlegenheit half Muley.  Er ließ schnell einen Sklaven an
Land rudern, um einen Topf mit Erde zu bringen.  Als dieser
herbeigeholt war, sprach der Zauberer geheimnisvolle Worte darüber
aus und schüttete die Erde auf das Haupt des Toten.  Sogleich schlug
dieser die Augen auf, holte tief Atem, und die Wunde des Nagels in
seiner Stirne fing an zu bluten.  Wir zogen den Nagel jetzt leicht
heraus, und der Verwundete fiel einem Sklaven in die Arme.

"Wer hat mich hierhergeführt?" sprach er, nachdem er sich ein wenig
erholt zu haben schien.  Muley zeigte auf mich, und ich trat zu ihm.
"Dank dir, unbekannter Fremdling, du hast mich von langen Qualen
errettet.  Seit fünfzig Jahren schifft mein Leib durch diese Wogen,
und mein Geist war verdammt, jede Nacht in ihn zurückzukehren.  Aber
jetzt hat mein Haupt die Erde berührt, und ich kann versöhnt zu
meinen Vätern gehen."

Ich bat ihn, uns doch zu sagen, wie er zu diesem schrecklichen
Zustand gekommen sei, und er sprach: "Vor fünfzig Jahren war ich ein
mächtiger, angesehener Mann und wohnte in Algier; die Sucht nach
Gewinn trieb mich, ein Schiff auszurüsten und Seeraub zu treiben.
Ich hatte dieses Geschäft schon einige Zeit fortgeführt, da nahm ich
einmal auf Zante einen Derwisch an Bord, der umsonst reisen wollte.
Ich und meine Gesellen waren rohe Leute und achteten nicht auf die
Heiligkeit des Mannes; vielmehr trieb ich mein Gespött mit ihm.  Als
er aber einst in heiligem Eifer mir meinen sündigen Lebenswandel
verwiesen hatte, übermannte mich nachts in meiner Kajüte, als ich mit
meinem Steuermann viel getrunken hatte, der Zorn.  Wütend über das,
was mir ein Derwisch gesagt hatte und was ich mir von keinem Sultan
hätte sagen lassen, stürzte ich aufs Verdeck und stieß ihm meinen
Dolch in die Brust.  Sterbend verwünschte er mich und meine
Mannschaft, nicht sterben und nicht leben zu können, bis wir unser
Haupt auf die Erde legten.  Der Derwisch starb, und wir warfen ihn in
die See und verlachten seine Drohungen; aber noch in derselben Nacht
erfüllten sich seine Worte.  Ein Teil meiner Mannschaft empörte sich
gegen mich--Mit fürchterlicher Wut wurde gestritten, bis meine
Anhänger unterlagen und ich an den Mast genagelt wurde.  Aber auch
die Empörer erlagen ihren Wunden, und bald war mein Schiff nur ein
großes Grab.  Auch mir brachen die Augen, mein Atem hielt an, und ich
meinte zu sterben.  Aber es war nur eine Erstarrung, die mich
gefesselt hielt; in der nächsten Nacht, zur nämlichen Stunde, da wir
den Derwisch in die See geworfen, erwachten ich und alle meine
Genossen, das Leben war zurückgekehrt, aber wir konnten nichts tun
und sprechen, als was wir in jener Nacht gesprochen und getan hatten.
So segeln wir seit fünfzig Jahren, können nicht leben, nicht sterben;
denn wie konnten wir das Land erreichen?  Mit toller Freude segelten
wir allemal mit vollen Segeln in den Sturm, weil wir hofften, endlich
an einer Klippe zu zerschellen und das müde Haupt auf dem Grund des
Meeres zur Ruhe zu legen.  Es ist uns nicht gelungen.  Jetzt aber
werde ich sterben.  Noch einmal meinen Dank, unbekannter Retter, wenn
Schätze dich lohnen können, so nimm mein Schiff als Zeichen meiner
Dankbarkeit."

Der Kapitano ließ sein Haupt sinken, als er so gesprochen hatte, und
verschied.  Sogleich zerfiel er auch, wie seine Gefährten, in Staub.
Wir sammelten diesen in ein Kästchen und begruben ihn an Land; aus
der Stadt nahm ich aber Arbeiter, die mir mein Schiff in guten
Zustand setzten.  Nachdem ich die Waren, die ich an Bord hatte, gegen
andere mit großem Gewinn eingetauscht hatte, mietete ich Matrosen,
beschenkte meinen Freund Muley reichlich und schiffte mich nach
meinem Vaterlande ein.  Ich machte aber einen Umweg, indem ich an
vielen Inseln und Ländern landete und meine Waren zu Markt brachte.
Der Prophet segnete mein Unternehmen.  Nach dreiviertel Jahren lief
ich, noch einmal so reich, als mich der sterbende Kapitän gemacht
hatte, in Balsora ein.  Meine Mitbürger waren erstaunt über meine
Reichtümer und mein Glück und glaubten nicht anders, als daß ich das
Diamantental des berühmten Reisenden Sindbad gefunden habe.  Ich ließ
sie in ihrem Glauben, von nun an aber mußten die jungen Leute von
Balsora, wenn sie kaum achtzehn Jahre alt waren, in die Welt hinaus,
um gleich mir ihr Glück zu machen.  Ich aber lebte ruhig und in
Frieden, und alle fünf Jahre mache ich eine Reise nach Mekka, um dem
Herrn an heiliger Stätte für seinen Segen zu danken und für den
Kapitano und seine Leute zu bitten, daß er sie in sein Paradies
aufnehme.

--------------------------Die Reise der Karawane war den anderen Tag
ohne Hindernis fürder gegangen, und als man im Lagerplatz sich erholt
hatte, begann Selim, der Fremde, zu Muley, dem jüngsten der Kaufleute,
also zu sprechen:

"Ihr seid zwar der Jüngste von uns, doch seid Ihr immer fröhlich und
wißt für uns gewiß irgendeinen guten Schwank.  Tischet ihn auf, daß
er uns erquicke nach der Hitze des Tages!"

"Wohl möchte ich euch etwas erzählen", antwortete Muley, "das euch
Spaß machen könnte, doch der Jugend ziemt Bescheidenheit in allen
Dingen; darum müssen meine älteren Reisegefährten den Vorrang haben.
Zaleukos ist immer so ernst und verschlossen, sollte er uns nicht
erzählen, was sein Leben so ernst machte?  Vielleicht, daß wir seinen
Kummer, wenn er solchen hat, lindern können; denn gerne dienen wir
dem Bruder, wenn er auch anderen Glaubens ist."

Der Aufgerufene war ein griechischer Kaufmann, ein Mann in mittleren
Jahren, schön und kräftig, aber sehr ernst.  Ob er gleich ein
Ungläubiger (nicht Muselmann) war, so liebten ihn doch seine
Reisegefährten, denn er hatte durch sein ganzes Wesen Achtung und
Zutrauen eingeflößt.  Er hatte übrigens nur eine Hand, und einige
seiner Gefährten vermuteten, daß vielleicht dieser Verlust ihn so
ernst stimme.

Zaleukos antwortete auf die zutrauliche Frage Muleys: "Ich bin sehr
geehrt durch euer Zutrauen; Kummer habe ich keinen, wenigstens keinen,
von welchem ihr auch mit dem besten Willen mir helfen könntet.  Doch
weil Muley mir meinen Ernst vorzuwerfen scheint, so will ich euch
einiges erzählen, was mich rechtfertigen soll, wenn ich ernster bin
als andere Leute.  Ihr sehet, daß ich meine linke Hand verloren habe.
Sie fehlt mir nicht von Geburt an, sondern ich habe sie in den
schrecklichsten Tagen meines Lebens eingebüßt.  Ob ich die Schuld
davon trage, ob ich unrecht habe, seit jenen Tagen ernster, als es
meine Lage mit sich bringt, zu sein, möget ihr beurteilen, wenn ihr
vernommen habt die Geschichte von der abgehauenen Hand."



Die Geschichte von der abgehauenen Hand

Wilhelm Hauff


Ich bin in Konstantinopel geboren; mein Vater war ein Dragoman
(Dolmetscher) bei der Pforte (dem türkischen Hof) und trieb nebenbei
einen ziemlich einträglichen Handel mit wohlriechenden Essenzen und
seidenen Stoffen.  Er gab mir eine gute Erziehung, indem er mich
teils selbst unterrichtete, teils von einem unserer Priester mir
Unterricht geben ließ.  Er bestimmte mich anfangs, seinen Laden
einmal zu übernehmen, als ich aber größere Fähigkeiten zeigte, als er
erwartet hatte, bestimmte er mich auf das Anraten seiner Freunde zum
Arzt; weil ein Arzt, wenn er etwas mehr gelernt hat als die
gewöhnlichen Marktschreier, in Konstantinopel sein Glück machen kann.
Es kamen viele Franken in unser Haus, und einer davon überredete
meinen Vater, mich in sein Vaterland, nach der Stadt Paris, reisen zu
lassen, wo man solche Sachen unentgeltlich und am besten lernen könne.
Er selbst aber wolle mich, wenn er zurückreise, umsonst mitnehmen.
Mein Vater, der in seiner Jugend auch gereist war, schlug ein, und
der Franke sagte mir, ich könne mich in drei Monaten bereithalten.
Ich war außer mir vor Freude, fremde Länder zu sehen.

Der Franke hatte endlich seine Geschäfte abgemacht und sich zur Reise
bereitet; am Vorabend der Reise führte mich mein Vater in sein
Schlafkämmerlein.  Dort sah ich schöne Kleider und Waffen auf dem
Tische liegen.  Was meine Blicke aber noch mehr anzog, war ein großer
Haufe Goldes, denn ich hatte noch nie so viel beieinander gesehen.
Mein Vater umarmte mich und sagte: "Siehe, mein Sohn, ich habe dir
Kleider zu der Reise besorgt.  Jene Waffen sind dein, es sind die
nämlichen, die mir dein Großvater umhing, als ich in die Fremde
auszog.  Ich weiß, du kannst sie fuhren; gebrauche sie aber nie, als
wenn du angegriffen wirst; dann aber schlage auch tüchtig drauf.
Mein Vermögen ist nicht groß; siehe, ich habe es in drei Teile
geteilt, einer davon ist dein; einer davon ist mein Unterhalt und
Notpfennig, der dritte aber sei mir ein heiliges, unantastbares Gut,
er diene dir in der Stunde der Not!"  So sprach mein alter Vater, und
Tränen hingen ihm im Auge, vielleicht aus Ahnung, denn ich habe ihn
nie wiedergesehen.

Die Reise ging gut vonstatten; wir waren bald im Lande der Franken
angelangt, und sechs Tagreisen nachher kamen wir in die große Stadt
Paris.  Hier mietete mir mein fränkischer Freund ein Zimmer und riet
mir, mein Geld, das in allem zweitausend Taler betrug, vorsichtig
anzuwenden.  Ich lebte drei Jahre in dieser Stadt und lernte, was ein
tüchtiger Arzt wissen muß; ich müßte aber lügen, wenn ich sagte, daß
ich gerne dort gewesen sei; denn die Sitten dieses Volkes gefielen
mir nicht; auch hatte ich nur wenige gute Freunde dort, diese aber
waren edle, junge Männer.

Die Sehnsucht nach der Heimat wurde endlich mächtig in mir; in der
ganzen Zeit hatte ich nichts von meinem Vater gehört, und ich ergriff
daher eine günstige Gelegenheit, nach Hause zu kommen.

Es ging nämlich eine Gesandtschaft aus Frankenland nach der Hohen
Pforte.  Ich verdingte mich als Wundarzt in das Gefolge des Gesandten
und kam glücklich wieder nach Stambul.  Das Haus meines Vaters aber
fand ich verschlossen, und die Nachbarn staunten, als sie mich sahen,
und sagten mir, mein Vater sei vor zwei Monaten gestorben.  Jener
Priester, der mich in meiner Jugend unterrichtet hatte, brachte nur
den Schlüssel; allein und verlassen zog ich in das verödete Haus ein.
Ich fand noch alles, wie es mein Vater verlassen hatte; nur das Gold,
das er mir zu hinterlassen versprach, fehlte.  Ich fragte den
Priester darüber, und dieser verneigte sich und sprach: "Euer Vater
ist als ein heiliger Mann gestorben; denn er hat sein Gold der Kirche
vermacht."  Dies war und blieb mir unbegreiflich; doch was wollte ich
machen; ich hatte keine Zeugen gegen den Priester und mußte froh sein,
daß er nicht auch das Haus und die Waren meines Vaters als
Vermächtnis angesehen hatte.

Dies war das erste Unglück, das mich traf.  Von jetzt an aber kam es
Schlag auf Schlag.  Mein Ruf als Arzt wollte sich gar nicht
ausbreiten, weil ich mich schämte, den Marktschreier zu machen, und
überall fehlte mir die Empfehlung meines Vaters, der mich bei den
Reichsten und Vornehmsten eingeführt hätte, die jetzt nicht mehr an
den armen Zaleukos dachten.  Auch die Waren meines Vaters fanden
keinen Abgang; denn die Kunden hatten sich nach seinem Tode verlaufen,
und neue bekommt man nur langsam.  Als ich einst trostlos über meine
Lage nachdachte, fiel mir ein, daß ich oft in Franken Männer meines
Volkes gesehen hatte, die das Land durchzogen und ihre Waren auf den
Märkten der Städte auslegten; ich erinnerte mich, daß man ihnen gerne
abkaufte, weil sie aus der Fremde kamen, und daß man bei solchem
Handel das Hundertfache erwerben könne.  Sogleich war auch mein
Entschluß gefaßt.  Ich verkaufte mein väterliches Haus, gab einen
Teil des gelösten Geldes einem bewährten Freunde zum Aufbewahren, von
dem übrigen aber kaufte ich, was man in Franken selten hat, wie
Schals, seidene Zeuge, Salben und Öle, mietete einen Platz auf einem
Schiff und trat so meine zweite Reise nach Franken an.

Es schien, als ob das Glück, sobald ich die Schlösser der Dardanellen
im Rücken hatte, mir wieder günstig geworden wäre.  Unsere Fahrt war
kurz und glücklich.  Ich durchzog die großen und kleinen Städte der
Franken und fand überall willige Käufer meiner Waren.  Mein Freund in
Stambul sandte mir immer wieder frische Vorräte, und ich wurde von
Tag zu Tag wohlhabender.  Als ich endlich so viel erspart hatte, daß
ich glaubte, ein größeres Unternehmen wagen zu können, zog ich mit
meinen Waren nach Italien.  Etwas muß ich aber noch gestehen, was mir
auch nicht wenig Geld einbrachte: ich nahm auch meine Arzneikunst zu
Hilfe.  Wenn ich in eine Stadt kam, ließ ich durch Zettel verkünden,
daß ein griechischer Arzt da sei, der schon viele geheilt habe; und
wahrlich, mein Balsam und meine Arzneien haben mir manche Zechine
eingebracht.

So war ich endlich nach der Stadt Florenz in Italien gekommen.  Ich
nahm mir vor, längere Zeit in dieser Stadt zu bleiben, teils weil sie
mir so wohl gefiel, teils auch, weil ich mich von den Strapazen
meines Umherziehens erholen wollte.  Ich mietete mir ein Gewölbe in
dem Stadtviertel St. Croce und nicht weit davon ein paar schöne
Zimmer, die auf einen Altan führten, in einem Wirtshaus.  Sogleich
ließ ich auch meine Zettel umhertragen, die mich als Arzt und
Kaufmann ankündigten.  Ich hatte kaum mein Gewölbe eröffnet, so
strömten auch die Käufer herzu, und ob ich gleich ein wenig hohe
Preise hatte, so verkaufte ich doch mehr als andere, weil ich
gefällig und freundlich gegen meine Kunden war.  Ich hatte schon vier
Tage vergnügt in Florenz verlebt, als ich eines Abends, da ich schon
mein Gewölbe schließen und nur die Vorräte in meinen Salbenbüchsen
nach meiner Gewohnheit noch einmal mustern wollte, in einer kleinen
Büchse einen Zettel fand, den ich mich nicht erinnerte, hineingetan
zu haben.  Ich öffnete den Zettel und fand darin eine Einladung,
diese Nacht Punkt zwölf Uhr auf der Brücke, die man Ponte vecchio
heißt, mich einzufinden.  Ich sann lange darüber nach, wer es wohl
sein könnte, der mich dorthin einlud, da ich aber keine Seele in
Florenz kannte, dachte ich, man werde mich vielleicht heimlich zu
irgendeinem Kranken führen wollen, was schon öfter geschehen war.
Ich beschloß also hinzugehen, doch hing ich zur Vorsicht den Säbel um,
den mir einst mein Vater geschenkt hatte.

Als es stark gegen Mitternacht ging, machte ich mich auf den Weg und
kam bald auf die Ponte vecchio.  Ich fand die Brücke verlassen und
öde und beschloß zu warten, bis er erscheinen würde, der mich rief.
Es war eine kalte Nacht; der Mond schien hell, und ich schaute hinab
in die Wellen des Arno, die weithin im Mondlicht schimmerten.  Auf
den Kirchen der Stadt schlug es jetzt zwölf Uhr; ich richtete mich
auf, und vor mir stand ein großer Mann, ganz in einen roten Mantel
gehüllt, dessen einen Zipfel er vor das Gesicht hielt.

Ich war von Anfang etwas erschrocken, weil er so plötzlich hinter mir
stand, faßte mich aber sogleich wieder und sprach: "Wenn Ihr mich
habt hierher bestellt, so sagt an, was steht zu Eurem Befehl?"

Der Rotmantel wandte sich um und sagte langsam: "Folge!"  Da ward
mir's doch etwas unheimlich zumute, mit diesem Unbekannten allein zu
gehen; ich blieb stehen und sprach: "Nicht also, lieber Herr, wollet
mir vorerst sagen, wohin; auch könnet Ihr mir Euer Gesicht ein wenig
zeigen, daß ich sehe, ob Ihr Gutes mit mir vorhabt."

Der Rote aber schien sich nicht darum zu kümmern.  "Wenn du nicht
willst, Zaleukos, so bleibe!" antwortete er und ging weiter.

Da entbrannte mein Zorn.  "Meinet Ihr", rief ich aus, "ein Mann wie
ich lasse sich von jedem Narren foppen, und ich werde in dieser
kalten Nacht umsonst gewartet haben?"  In drei Sprüngen hatte ich ihn
erreicht, packte ihn an seinem Mantel und schrie noch lauter, indem
ich die andere Hand an den Säbel legte; aber der Mantel blieb mir in
der Hand, und der Unbekannte war um die nächste Ecke verschwunden.
Mein Zorn legte sich nach und nach; ich hatte doch den Mantel, und
dieser sollte mir schon den Schlüssel zu diesem wunderlichen
Abenteuer geben.

Ich hing ihn um und ging meinen Weg weiter nach Hause.  Als ich kaum
noch hundert Schritte davon entfernt war, streifte jemand dicht an
mir vorüber und flüsterte in fränkischer Sprache: "Nehmt Euch in acht,
Graf, heute nacht ist nichts zu machen."  Ehe ich mich aber umsehen
konnte, war dieser Jemand schon vorbei, und ich sah nur noch einen
Schatten an den Häusern hinschweben.  Daß dieser Zuruf den Mantel und
nicht mich anging, sah ich ein; doch gab er mir kein Licht über die
Sache.  Am anderen Morgen überlegte ich, was zu tun sei.  Ich war von
Anfang gesonnen, den Mantel ausrufen zu lassen, als hätte ich ihn
gefunden; doch da konnte der Unbekannte ihn durch einen Dritten holen
lassen, und ich hätte dann keinen Aufschluß über die Sache gehabt.
Ich besah, indem ich so nachdachte, den Mantel näher.  Er war von
schwerem genuesischem Samt, purpurrot, mit astrachanischem Pelz
verbrämt und reich mit Gold bestickt.  Der prachtvolle Anblick des
Mantels brachte mich auf einen Gedanken, den ich auszuführen beschloß.

Ich trug ihn in mein Gewölbe und legte ihn zum Verkauf aus, setzte
aber auf ihn einen so hohen Preis, daß ich gewiß war, keinen Käufer
zu finden.  Mein Zweck dabei war, jeden, der nach dem Pelz fragen
würde, scharf ins Auge zu fassen; denn die Gestalt des Unbekannten,
die sich mir nach Verlust des Mantels, wenn auch nur flüchtig, doch
bestimmt zeigte, wollte ich aus Tausenden erkennen.  Es fanden sich
viele Kauflustige zu dem Mantel, dessen außerordentliche Schönheit
alle Augen auf sich zog; aber keiner glich entfernt dem Unbekannten,
keiner wollte den hohen Preis von zweihundert Zechinen dafür bezahlen.
Auffallend war mir dabei, daß, wenn ich einen oder den anderen
fragte, ob denn sonst kein solcher Mantel in Florenz sei, alle mit
"Nein!" antworteten und versicherten, eine so kostbare und
geschmackvolle Arbeit nie gesehen zu haben.

Es wollte schon Abend werden, da kam endlich ein junger Mann, der
schon oft bei mir gewesen war und auch heute viel auf den Mantel
geboten hatte, warf einen Beutel mit Zechinen auf den Tisch und rief:
"Bei Gott!  Zaleukos, ich muß deinen Mantel haben, und sollte ich zum
Bettler darüber werden."  Zugleich begann er, seine Goldstücke
aufzuzählen.  Ich kam in große Not; ich hatte den Mantel nur
ausgehängt, um vielleicht die Blicke meines Unbekannten darauf zu
ziehen, und jetzt kam ein junger Tor, um den ungeheuren Preis zu
zahlen.  Doch was blieb mir übrig; ich gab nach, denn es tat mir auf
der anderen Seite der Gedanke wohl, für mein nächtliches Abenteuer so
schön entschädigt zu werden.  Der Jüngling hing sich den Mantel um
und ging; er kehrte aber auf der Schwelle wieder um, indem er ein
Papier, das am Mantel befestigt war, losmachte, mir zuwarf und sagte:
"Hier, Zaleukos, hängt etwas, das wohl nicht zu dem Mantel gehört."

Gleichgültig nahm ich den Zettel; aber siehe da, dort stand
geschrieben: "Bringe heute nacht um die bewußte Stunde den Mantel auf
die Ponte vecchio, vierhundert Zechinen warten deiner."

Ich stand wie niedergedonnert.  So hatte ich also mein Glück selbst
verscherzt und meinen Zweck gänzlich verfehlt!  Doch ich besann mich
nicht lange, raffte die zweihundert Zechinen zusammen, sprang dem,
der den Mantel gekauft hatte, nach und sprach: "Nehmt Eure Zechinen
wieder, guter Freund, und laßt mir den Mantel, ich kann ihn unmöglich
hergeben."  Dieser hielt die Sache von Anfang für Spaß, als er aber
merkte, daß es Ernst war, geriet er in Zorn über meine Forderung,
schalt mich einen Narren, und so kam es endlich zu Schlägen.  Doch
ich war so glücklich, im Handgemenge ihm den Mantel zu entreißen, und
wollte schon mit ihm davoneilen, als der junge Mann die Polizei zu
Hilfe rief und mich mit sich vor Gericht zog.  Der Richter war sehr
erstaunt über die Anklage und sprach meinem Gegner den Mantel zu.
Ich aber bot dem Jünglinge zwanzig, fünfzig, achtzig, ja hundert
Zechinen über seine zweihundert, wenn er mir den Mantel ließe.  Was
meine Bitten nicht vermochten, bewirkte mein Gold.  Er nahm meine
guten Zechinen, ich aber zog mit dem Mantel triumphierend ab und
mußte mir gefallen lassen, daß man mich in ganz Florenz für einen
Wahnsinnigen hielt.  Doch die Meinung der Leute war mir gleichgültig;
ich wußte es ja besser als sie, daß ich an dem Handel noch gewann.

Mit Ungeduld erwartete ich die Nacht.  Um dieselbe Zeit wie gestern
ging ich, den Mantel unter dem Arm, auf die Ponte vecchio.  Mit dem
letzten Glockenschlag kam die Gestalt aus der Nacht heraus auf mich
zu.  Es war unverkennbar der Mann von gestern.  "Hast du den Mantel?"
wurde ich gefragt.

"Ja, Herr", antwortete ich, "aber er kostete mich bar hundert
Zechinen."

"Ich weiß es", entgegnete jener.  "Schau auf, hier sind vierhundert."
Er trat mit mir an das breite Geländer der Brücke und zählte die
Goldstücke hin.  Vierhundert waren es; prächtig blitzten sie im
Mondschein, ihr Glanz erfreute mein Herz, ach!  Es ahnete nicht, daß
es seine letzte Freude sein werde.  Ich steckte mein Geld in die
Tasche und wollte mir nun auch den gütigen Unbekannten recht
betrachten; aber er hatte eine Larve vor dem Gesicht, aus der mich
dunkle Augen furchtbar anblitzten.

"Ich danke Euch, Herr, für Eure Güte", sprach ich zu ihm, "was
verlangt Ihr jetzt von mir?  Das sage ich Euch aber vorher, daß es
nichts Unrechtes sein darf."

"Unnötige Sorge", antwortete er, indem er den Mantel um die Schultern
legte, "ich bedarf Eurer Hilfe als Arzt; doch nicht für einen
Lebenden, sondern für einen Toten."

"Wie kann das sein?" rief ich voll Verwunderung.

"Ich kam mit meiner Schwester aus fernen Landen", erzählte er und
winkte mir zugleich, ihm zu folgen.  "Ich wohnte hier mit ihr bei
einem Freund meines Hauses.  Meine Schwester starb gestern schnell an
einer Krankheit, und die Verwandten wollen sie morgen begraben.  Nach
einer alten Sitte unserer Familie aber sollen alle in der Gruft der
Väter ruhen; viele, die in fremden Landen starben, ruhen dennoch dort
einbalsamiert.  Meinen Verwandten gönne ich nun ihren Körper; meinem
Vater aber muß ich wenigstens den Kopf seiner Tochter bringen, damit
er sie noch einmal sehe."  Diese Sitte, die Köpfe geliebter
Anverwandten abzuschneiden, kam mir zwar etwas schrecklich vor; doch
wagte ich nichts dagegen einzuwenden aus Furcht, den Unbekannten zu
beleidigen.  Ich sagte ihm daher, daß ich mit dem Einbalsamieren der
Toten wohl umgehen könne, und bat ihn, mich zu der Verstorbenen zu
führen.  Doch konnte ich mich nicht enthalten zu fragen, warum denn
dies alles so geheimnisvoll und in der Nacht geschehen müsse.  Er
antwortete mir, daß seine Anverwandten, die seine Absicht für grausam
hielten, bei Tage ihn abhalten würden; sei aber nur erst einmal der
Kopf abgenommen, so könnten sie wenig mehr darüber sagen.  Er hätte
mir zwar den Kopf bringen können; aber ein natürliches Gefühl halte
ihn ab, ihn selbst abzunehmen.

Wir waren indes bis an ein großes, prachtvolles Haus gekommen.  Mein
Begleiter zeigte es mir als das Ziel unseres nächtlichen
Spazierganges.  Wir gingen an dem Haupttor des Hauses vorbei, traten
in eine kleine Pforte, die der Unbekannte sorgfältig hinter sich
zumachte, und stiegen nun im Finstern eine enge Wendeltreppe hinan.
Sie führte in einen spärlich erleuchteten Gang, aus welchem wir in
ein Zimmer gelangten, das eine Lampe, die an der Decke befestigt war,
erleuchtete.

In diesem Gemach stand ein Bett, in welchem der Leichnam lag.  Der
Unbekannte wandte sein Gesicht ab und schien Tränen verbergen zu
wollen.  Er deutete nach dem Bett, befahl mir, mein Geschäft gut und
schnell zu verrichten, und ging wieder zur Türe hinaus.

Ich packte meine Messer, die ich als Arzt immer bei mir führte, aus
und näherte mich dem Bett.  Nur der Kopf war von der Leiche sichtbar;
aber dieser war so schön, daß mich unwillkürlich das innigste
Mitleiden ergriff.  In langen Flechten hing das dunkle Haar herab,
das Gesicht war bleich, die Augen geschlossen.  Ich machte zuerst
einen Einschnitt in die Haut, nach der Weise der Ärzte, wenn sie ein
Glied abschneiden.  Sodann nahm ich mein schärfstes Messer und
schnitt mit einem Zug die Kehle durch.  Aber welcher Schrecken!  Die
Tote schlug die Augen auf, schloß sie aber gleich wieder, und in
einem tiefen Seufzer schien sie jetzt erst ihr Leben auszuhauchen.
Zugleich schoß mir ein Strahl heißen Blutes aus der Wunde entgegen.
Ich überzeugte mich, daß ich erst die Arme getötet hatte; denn daß
sie tot sei, war kein Zweifel, da es von dieser Wunde keine Rettung
gab.  Ich stand einige Minuten in banger Beklommenheit über das, was
geschehen war.  Hatte der Rotmantel mich betrogen, oder war die
Schwester vielleicht nur scheintot gewesen?  Das letztere schien mir
wahrscheinlicher.  Aber ich durfte dem Bruder der Verstorbenen nicht
sagen, daß vielleicht ein weniger rascher Schnitt sie erweckt hätte,
ohne sie zu töten, darum wollte ich den Kopf vollends ablösen; aber
noch einmal stöhnte die Sterbende, streckt sich in schmerzhafter
Bewegung aus und starb.  Da übermannte mich der Schrecken, und ich
stürzte schaudernd aus dem Gemach.  Aber draußen im Gang war es
finster; denn die Lampe war verlöscht.  Keine Spur von meinem
Begleiter war zu entdecken, und ich mußte aufs ungefähr mich im
Finstern an der Wand fortbewegen, um an die Wendeltreppe zu gelangen.
Ich fand sie endlich und kam halb fallend, halb gleitend hinab.
Auch unten war kein Mensch.  Die Türe fand ich nur angelehnt, und ich
atmete freier, als ich auf der Straße war; denn in dem Hause war mir
ganz unheimlich geworden.  Von Schrecken gespornt, rannte ich in
meine Wohnung und begrub mich in die Polster meines Lagers, um das
Schreckliche zu vergessen, das ich getan hatte.  Aber der Schlaf floh
mich, und erst der Morgen ermahnte mich wieder, mich zu fassen.  Es
war mir wahrscheinlich, daß der Mann, der mich zu dieser verruchten
Tat, wie sie mir jetzt erschien, verführt hatte, mich nicht angeben
würde.  Ich entschloß mich, gleich in mein Gewölbe an mein Geschäft
zu gehen und womöglich eine sorglose Miene anzunehmen.  Aber ach!
Ein neuer Umstand, den ich jetzt erst bemerkte, vermehrte noch meinen
Kummer.  Meine Mütze und mein Gürtel wie auch meine Messer fehlten
mir, und ich war ungewiß, ob ich sie in dem Zimmer der Getöteten
gelassen oder erst auf meiner Flucht verloren hatte.  Leider schien
das erste wahrscheinlicher, und man konnte mich also als Mörder
entdecken.

Ich öffnete zur gewöhnlichen Zeit mein Gewölbe.  Mein Nachbar trat zu
mir her, wie er alle Morgen zu tun pflegte, denn er war ein
gesprächiger Mann.  "Ei, was sagt Ihr zu der schrecklichen
Geschichte", hub er an, "die heute nacht vorgefallen ist?"  Ich tat,
als ob ich nichts wüßte.  "Wie, solltet Ihr nicht wissen, von was die
ganze Stadt erfüllt ist?  Nicht wissen, daß die schönste Blume von
Florenz, Bianka, die Tochter des Gouverneurs, in dieser Nacht
ermordet wurde?  Ach!  Ich sah sie gestern noch so heiter durch die
Straßen fahren mit ihrem Bräutigam, denn heute hätten sie Hochzeit
gehabt."

Jedes Wort des Nachbarn war mir ein Stich ins Herz.  Und wie oft
kehrte meine Marter wieder; denn jeder meiner Kunden erzählte mir die
Geschichte, immer einer schrecklicher als der andere, und doch konnte
keiner so Schreckliches sagen, als ich selbst gesehen hatte.  Um
Mittag ungefähr trat ein Mann vom Gericht in mein Gewölbe und bat
mich, die Leute zu entfernen.  "Signore Zaleukos", sprach er, indem
er die Sachen, die ich vermißte, hervorzog, "gehören diese Sachen
Euch zu?"  Ich besann mich, ob ich sie nicht gänzlich ableugnen sollte;
aber als ich durch die halbgeöffnete Tür meinen Wirt und mehrere
Bekannte, die wohl gegen mich zeugen konnten, erblickte, beschloß ich,
die Sache nicht noch durch eine Lüge zu verschlimmern, und bekannte
mich zu den vorgezeigten Dingen.  Der Gerichtsmann bat mich, ihm zu
folgen, und führte mich in ein großes Gebäude, das ich bald für das
Gefängnis erkannte.  Dort wies er mir bis auf weiteres ein Gemach an.

Meine Lage war schrecklich, als ich so in der Einsamkeit darüber
nachdachte.  Der Gedanke, gemordet zu haben, wenn auch ohne Willen,
kehrte immer wieder.  Auch konnte ich mir nicht verhehlen, daß der
Glanz des Goldes meine Sinne befangen gehalten hatte; sonst hätte ich
nicht so blindlings in die Falle gehen können.  Zwei Stunden nach
meiner Verhaftung wurde ich aus meinem Gemach geführt.  Mehrere
Treppen ging es hinab, dann kam man in einen großen Saal.  Um einen
langen, schwarzbehängten Tisch saßen dort zwölf Männer, meistens
Greise.  An den Seiten des Saales zogen sich Bänke herab, angefüllt
mit den Vornehmsten von Florenz; auf den Galerien, die in der Höhe
angebracht waren, standen dicht gedrängt die Zuschauer.  Als ich bis
vor den schwarzen Tisch getreten war, erhob sich ein Mann mit
finsterer, trauriger Miene; es war der Gouverneur.  Er sprach zu den
Versammelten, daß er als Vater in dieser Sache nicht richten könne
und daß er seine Stelle für diesmal an den ältesten der Senatoren
abtrete.  Der älteste der Senatoren war ein Greis von wenigstens
neunzig Jahren.  Er stand gebückt, und seine Schläfen waren mit
dünnem, weißem Haar umhängt; aber feurig brannten noch seine Augen,
und seine Stimme war stark und sicher.  Er hub an, mich zu fragen, ob
ich den Mord gestehe.  Ich bat ihn um Gehör und erzählte
unerschrocken und mit vernehmlichen Stimme, was ich getan hatte und
was ich wußte.  Ich bemerkte, daß der Gouverneur während meiner
Erzählung bald blaß, bald rot wurde, und als ich geschlossen, fuhr er
wütend auf: "Wie, Elender!" rief er mir zu, "so willst du ein
Verbrechen, das du aus Habgier begangen, noch einem anderen
aufbürden?"

Der Senator verwies ihm seine Unterbrechung, da er sich freiwillig
seines Rechtes begeben habe; auch sei es gar nicht so erwiesen, daß
ich aus Habgier gefrevelt; denn nach seiner eigenen Aussage sei ja
der Getöteten nichts gestohlen worden.  Ja, er ging noch weiter; er
erklärte dem Gouverneur, daß er über das frühere Leben seiner Tochter
Rechenschaft geben müsse; denn nur so könne man schließen, ob ich die
Wahrheit gesagt habe oder nicht.  Zugleich hob er für heute das
Gericht auf, um sich, wie er sagte, aus den Papieren der Verstorbenen,
die ihm der Gouverneur übergeben werde, Rat zu holen.  Ich wurde
wieder in mein Gefängnis zurückgeführt, wo ich einen schaurigen Tag
verlebte, immer mit dem heißen Wunsch beschäftigt, daß man doch
irgendeine Verbindung zwischen der Toten und dem Rotmantel entdecken
möchte.  Voll Hoffnung trat ich den anderen Tag in den Gerichtssaal.
Es lagen mehrere Briefe auf dem Tisch.  Der alte Senator fragte mich,
ob sie meine Handschrift seien.  Ich sah sie an und fand, daß sie von
derselben Hand sein müßten wie jene beiden Zettel, die ich erhalten.
Ich äußerte dies den Senatoren; aber man schien nicht darauf zu
achten und antwortete, daß ich beides geschrieben haben könne und
müsse; denn der Namenszug unter den Briefen sei unverkennbar ein Z,
der Anfangsbuchstabe meines Namens.  Die Briefe aber enthielten
Drohungen an die Verstorbene und Warnungen vor der Hochzeit, die sie
zu vollziehen im Begriff war.

Der Gouverneur schien sonderbare Aufschlüsse in Hinsicht auf meine
Person gegeben zu haben; denn man behandelte mich an diesem Tage
mißtrauischer und strenger.  Ich berief mich zu meiner Rechtfertigung
auf meine Papiere, die sich in meinem Zimmer finden müßten; aber man
sagte mir, man habe nachgesucht und nichts gefunden.  So schwand mir
am Schlusse dieses Gerichts alle Hoffnung, und als ich am dritten Tag
wieder in den Saal geführt wurde, las man mir das Urteil vor, daß ich,
eines vorsätzlichen Mordes überwiesen, zum Tode verurteilt sei.
Dahin also war es mit mir gekommen.  Verlassen von allem, was mir auf
Erden noch teuer war, fern von meiner Heimat, sollte ich unschuldig
in der Blüte meiner Jahre vom Beile sterben.

Ich saß am Abend dieses schrecklichen Tages, der über mein Schicksal
entschieden hatte, in meinem einsamen Kerker; meine Hoffnungen waren
dahin, meine Gedanken ernsthaft auf den Tod gerichtet.  Da tat sich
die Türe meines Gefängnisses auf, und ein Mann trat herein, der mich
lange schweigend betrachtete.  "So finde ich dich wieder, Zaleukos?"
sagte er; ich hatte ihn bei dem matten Schein meiner Lampe nicht
erkannt, aber der Klang seiner Stimme erweckte alte Erinnerungen in
mir, es war Valetty, einer jener wenigen Freunde, die ich in der
Stadt Paris während meiner Studien kannte.  Er sagte, daß er zufällig
nach Florenz gekommen sei, wo sein Vater als angesehener Mann wohne,
er habe von meiner Geschichte gehört und sei gekommen, um mich noch
einmal zu sehen und von mir selbst zu erfahren, wie ich mich so
schwer habe verschulden können.  Ich erzählte ihm die ganze
Geschichte.  Er schien darüber sehr verwundert und beschwor mich, ihm,
meinem einzigen Freunde, alles zu sagen, um nicht mit einer Lüge von
hinnen zu gehen.  Ich schwor ihm mit dem teuersten Eid, daß ich wahr
gesprochen und daß keine andere Schuld mich drücke, als daß ich, von
dem Glanze des Goldes geblendet, das Unwahrscheinliche der Erzählung
des Unbekannten nicht erkannt habe.  "So hast du Bianka nicht
gekannt?" fragte jener.  Ich beteuerte ihm, sie nie gesehen zu haben.
Valetty erzählte mir nun, daß ein tiefes Geheimnis auf der Tat liege,
daß der Gouverneur meine Verurteilung sehr hastig betrieben habe,
und es sei nun ein Gerücht unter die Leute gekommen, daß ich Bianka
schon längst gekannt und aus Rache über ihre Heirat mit einem anderen
sie ermordet habe.  Ich bemerkte ihm, daß dies alles ganz auf den
Rotmantel passe, daß ich aber seine Teilnahme an der Tat mit nichts
beweisen könne.  Valetty umarmte mich weinend und versprach mir,
alles zu tun, um wenigstens mein Leben zu retten.  Ich hatte wenig
Hoffnung; doch wußte ich, daß Valetty ein weiser und der Gesetze
kundiger Mann sei und daß er alles tun werde, mich zu retten.  Zwei
lange Tage war ich in Ungewißheit: Endlich erschien auch Valetty.
"Ich bringe Trost, wenn auch einen schmerzlichen.  Du wirst leben und
frei sein; aber mit Verlust einer Hand."  Gerührt dankte ich meinem
Freunde für mein Leben.  Er sagte mir, daß der Gouverneur
unerbittlich gewesen sei, die Sache noch einmal untersuchen zu lassen;
daß er aber endlich, um nicht ungerecht zu erscheinen, bewilligt
habe, wenn man in den Büchern der florentinischen Geschichte einen
ähnlichen Fall finde, so solle meine Strafe sich nach der Strafe, die
dort ausgesprochen sei, richten.  Er und sein Vater haben nun Tag und
Nacht in den alten Büchern gelesen und endlich einen ganz dem
meinigen ähnlichen Fall gefunden.  Dort laute die Strafe: Es soll ihm
die linke Hand abgehauen, seine Güter eingezogen, er selbst auf ewig
verbannt werden.  So laute jetzt auch meine Strafe, und ich solle
mich jetzt bereiten zu der schmerzhaften Stunde, die meiner warte.
Ich will euch nicht diese schreckliche Stunde vor das Auge führen, wo
ich auf offenem Markt meine Hand auf den Block legte, wo mein eigenes
Blut in weitem Bogen mich überströmte!

Valetty nahm mich in sein Haus auf, bis ich genesen war, dann versah
er mich edelmütig mit Reisegeld; denn alles, was ich mir so mühsam
erworben, war eine Beute des Gerichts geworden.  Ich reiste von
Florenz nach Sizilien und von da mit dem ersten Schiff, das ich fand,
nach Konstantinopel.  Meine Hoffnung war auf die Summe gerichtet, die
ich meinem Freunde übergeben hatte, auch bat ich ihn, bei ihm wohnen
zu dürfen; aber wie erstaunte ich, als dieser mich fragte, warum ich
denn nicht mein Haus beziehe!  Er sagte mir, daß ein fremder Mann
unter meinem Namen ein Haus in dem Quartier der Griechen gekauft habe;
derselbe habe auch den Nachbarn gesagt, daß ich bald selbst kommen
werde.  Ich ging sogleich mit meinem Freunde dahin und wurde von
allen meinen Bekannten freudig empfangen.  Ein alter Kaufmann gab mir
einen Brief, den der Mann, der für mich gekauft hatte, hiergelassen
habe.

Ich las: "Zaleukos!  Zwei Hände stehen bereit, rastlos zu schaffen,
daß Du nicht fühlest den Verlust der einen.  Das Haus, das Du siehest,
und alles, was darin ist, ist Dein, und alle Jahre wird man Dir so
viel reichen, daß Du zu den Reichen Deines Volkes gehören wirst.
Mögest Du dem vergeben, der unglücklicher ist als Du."  Ich konnte
ahnen, wer es geschrieben, und der Kaufmann sagte mir auf meine Frage:
Es sei ein Mann gewesen, den er für einen Franken gehalten, er habe
einen roten Mantel angehabt.  Ich wußte genug, um mir zu gestehen,
daß der Unbekannte doch nicht ganz von aller edlen Gesinnung entblößt
sein müsse.  In meinem neuen Haus fand ich alles aufs beste
eingerichtet, auch ein Gewölbe mit Waren, schöner als ich sie je
gehabt.  Zehn Jahre sind seitdem verstrichen; mehr aus alter
Gewohnheit, als weil ich es nötig habe, setze ich meine Handelsreisen
fort; doch habe ich jenes Land, wo ich so unglücklich wurde, nie mehr
gesehen.  Jedes Jahr erhielt ich seitdem tausend Goldstücke; aber,
wenn es mir auch Freude macht, jenen Unglücklichen edel zu wissen, so
kann er mir doch den Kummer meiner Seele nicht abkaufen, denn ewig
lebt in mir das grauenvolle Bild der ermordeten Bianka.

--------------------------Zaleukos, der griechische Kaufmann, hatte
seine Geschichte geendigt.  Mit großer Teilnahme hatten ihm die
übrigen zugehört, besonders der Fremde schien sehr davon ergriffen zu
sein; er hatte einigemal tief geseufzt, und Muley schien es sogar,
als habe er einmal Tränen in den Augen gehabt.  Sie besprachen sich
noch lange Zeit über diese Geschichte.

"Und haßt Ihr den Unbekannten nicht, der Euch so schnöd' um ein so
edles Glied Eures Körpers, der selbst Euer Leben in Gefahr brachte?"
fragte der Fremde.

"Wohl gab es in früherer Zeit Stunden", antwortete der Grieche, "in
denen mein Herz ihn vor Gott angeklagt, daß er diesen Kummer über
mich gebracht und mein Leben vergiftet habe; aber ich fand Trost in
dem Glauben meiner Väter, und dieser befiehlt mir, meine Feinde zu
lieben; auch ist er wohl noch unglücklicher als ich."

"Ihr seid ein edler Mann!" rief der Fremde und drückte gerührt dem
Griechen die Hand.

Der Anführer der Wache unterbrach sie aber in ihrem Gespräch.  Er
trat mit besorgter Miene in das Zelt und berichtete, daß man sich
nicht der Ruhe überlassen dürfe; denn hier sei die Stelle, wo
gewöhnlich die Karawanen angegriffen würden, auch glaubten seine
Wachen, in der Entfernung mehrere Reiter zu sehen.

Die Kaufleute waren sehr bestürzt über diese Nachricht; Selim, der
Fremde, aber wunderte sich über ihre Bestürzung und meinte, daß sie
so gut geschätzt wären, daß sie einen Trupp räuberischer Araber nicht
zu fürchten brauchten.

"Ja, Herr!" entgegnete ihm der Anführer der Wache.  "Wenn es nur
solches Gesindel wäre, könnte man sich ohne Sorge zur Ruhe legen;
aber seit einiger Zeit zeigt sich der furchtbare Orbasan wieder, und
da gilt es, auf seiner Hut zu sein."

Der Fremde fragte, wer denn dieser Orbasan sei, und Achmet, der alte
Kaufmann, antwortete ihm: "Es gehen allerlei Sagen unter dem Volke
über diesen wunderbaren Mann.  Die einen halten ihn für ein
übermenschliches Wesen, weil er oft mit fünf bis sechs Männern zumal
einen Kampf besteht, andere halten ihn für einen tapferen Franken,
den das Unglück in diese Gegend verschlagen habe; von allem aber ist
nur so viel gewiß, daß er ein verruchter Mörder und Dieb ist."

"Das könnt Ihr aber doch nicht behaupten", entgegnete ihm Lezah,
einer der Kaufleute.  "Wenn er auch ein Räuber ist, so ist er doch
ein edler Mann, und als solcher hat er sich an meinem Bruder bewiesen,
wie ich Euch erzählen könnte.  Er hat seinen ganzen Stamm zu
geordneten Menschen gemacht, und so lange er die Wüste durchstreift,
darf kein anderer Stamm es wagen, sich sehen zu lassen.  Auch raubt
er nicht wie andere, sondern er erhebt nur ein Schutzgeld von den
Karawanen, und wer ihm dieses willig bezahlt, der ziehet ungefährdet
weiter; denn Orbasan ist der Herr der Wüste."

Also sprachen unter sich die Reisenden im Zelte; die Wachen aber, die
um den Lagerplatz ausgestellt waren, begannen unruhig zu werden.  Ein
ziemlich bedeutender Haufe bewaffneter Reiter zeigte sich in der
Entfernung einer halben Stunde; sie schienen gerade auf das Lager
zuzureiten.  Einer der Männer von der Wache ging daher in das Zelt,
um zu verkünden, daß sie wahrscheinlich angegriffen würden.  Die
Kaufleute berieten sich untereinander, was zu tun sei, ob man ihnen
entgegengehen oder den Angriff abwarten solle.  Achmet und die zwei
älteren Kaufleute wollten das letztere, der feurige Muley aber und
Zaleukos verlangten das erstere und riefen den Fremden zu ihrem
Beistand auf.  Dieser zog ruhig ein kleines, blaues Tuch mit roten
Sternen aus seinem Gürtel hervor, band es an eine Lanze und befahl
einem der Sklaven, es auf das Zelt zu stecken; er setze sein Leben
zum Pfand, sagte er, die Reiter werden, wenn sie dieses Zeichen sehen,
ruhig vorüberziehen.  Muley glaubte nicht an den Erfolg, der Sklave
aber steckte die Lanze auf das Zelt.  Inzwischen hatten alle, die im
Lager waren, zu den Waffen gegriffen und sahen in gespannter
Erwartung den Reitern entgegen.  Doch diese schienen das Zeichen auf
dem Zelte erblickt zu haben, sie wichen plötzlich von ihrer Richtung
auf das Lager ab und zogen in einem großen Bogen auf der Seite hin.

Verwundert standen einige Augenblicke die Reisenden und sahen bald
auf die Reiter, bald auf den Fremden.  Dieser stand ganz gleichgültig,
wie wenn nichts vorgefallen wäre, vor dem Zelte und blickte über die
Ebene hin.  Endlich brach Muley das Stillschweigen.  "Wer bist du,
mächtiger Fremdling", rief er aus, "der du die wilden Horden der
Wüste durch einen Wink bezähmst?"

"Ihr schlagt meine Kunst höher an, als sie ist", antwortete Selim
Baruch.  "Ich habe mich mit diesem Zeichen versehen, als ich der
Gefangenschaft entfloh; was es zu bedeuten hat, weiß ich selbst nicht;
nur so viel weiß ich, daß, wer mit diesem Zeichen reiset, unter
mächtigem Schutze steht."

Die Kaufleute dankten dem Fremden und nannten ihn ihren Erretter.
Wirklich war auch die Anzahl der Reiter so groß gewesen, daß wohl die
Karawane nicht lange hätte Widerstand leisten können.

Mit leichterem Herzen begab man sich jetzt zur Ruhe, und als die
Sonne zu sinken begann und der Abendwind über die Sandebene hinstrich,
brachen sie auf und zogen weiter.

Am nächsten Tage lagerten sie ungefähr nur noch eine Tagreise von dem
Ausgang der Wüste entfernt.  Als sich die Reisenden wieder in dem
großen Zelt versammelt hatten, nahm Lezah, der Kaufmann, das Wort:

"Ich habe euch gestern gesagt, daß der gefürchtete Orbasan ein edler
Mann sei, erlaubt mir, daß ich es euch heute durch die Erzählung der
Schicksale meines Bruders beweise.  Mein Vater war Kadi in Akara.  Er
hatte drei Kinder.  Ich war der Älteste, ein Bruder und eine
Schwester waren bei weitem jünger als ich.  Als ich zwanzig Jahre alt
war, rief mich ein Bruder meines Vaters zu sich.  Er setzte mich zum
Erben seiner Güter ein, mit der Bedingung, daß ich bis zu seinem Tode
bei ihm bleibe.  Aber er erreichte ein hohes Alter, so daß ich erst
vor zwei Jahren in meine Heimat zurückkehrte und nichts davon wußte,
welch schreckliches Schicksal indes mein Haus betroffen und wie gütig
Allah es gewendet hatte."



Die Errettung Fatmes

Wilhelm Hauff


Mein Bruder Mustapha und meine Schwester Fatme waren beinahe in
gleichem Alter; jener hatte höchstens zwei Jahre voraus.  Sie liebten
einander innig und trugen vereint alles bei, was unserem kränklichen
Vater die Last seines Alters erleichtern konnte.  An Fatmes
sechzehntem Geburtstage veranstaltete der Bruder ein Fest.  Er ließ
alle ihre Gespielinnen einladen, setzte ihnen in dem Garten des
Vaters ausgesuchte Speisen vor, und als es Abend wurde, lud er sie
ein, auf einer Barke, die er gemietet und festlich geschmückt hatte,
ein wenig hinaus in die See zu fahren.  Fatme und ihre Gespielinnen
willigten mit Freuden ein; denn der Abend war schön, und die Stadt
gewährte besonders abends, von dem Meere aus betrachtet, einen
herrlichen Anblick.  Den Mädchen aber gefiel es so gut auf der Barke,
daß sie meinen Bruder bewogen, immer weiter in die See hinauszufahren.
Mustapha gab aber ungern nach, weil sich vor einigen Tagen ein
Korsar hatte sehen lassen.  Nicht weit von der Stadt zieht sich ein
Vorgebirge in das Meer.  Dorthin wollten noch die Mädchen, um von da
die Sonne in das Meer sinken zu sehen.  Als sie um das Vorgebirg'
herumruderten, sahen sie in geringer Entfernung eine Barke, die mit
Bewaffneten besetzt war.  Nichts Gutes ahnend, befahl mein Bruder den
Ruderern, sein Schiff zu drehen und dem Lande zuzurudern.  Wirklich
schien sich auch seine Besorgnis zu bestätigen; denn jene Barke kam
der meines Bruders schnell nach, überholte sie, da sie mehr Ruder
hatte, und hielt sich immer zwischen dem Land, und unserer Barke.
Die Mädchen aber, als sie die Gefahr erkannten, in der sie schwebten,
sprangen auf und schrien und klagten; umsonst suchte sie Mustapha zu
beruhigen, umsonst stellte er ihnen vor, ruhig zu bleiben, weil sie
durch ihr Hin- und Herrennen die Barke in Gefahr brächten
umzuschlagen.  Es half nichts, und da sie sich endlich bei Annäherung
des anderen Bootes alle auf die hintere Seite der Barke stürzten,
schlug diese um.  Indessen aber hatte man vom Land aus die Bewegungen
des fremden Bootes beobachtet, und da man schon seit einiger Zeit
Besorgnisse wegen Korsaren hegte, hatte dieses Boot Verdacht erregt,
und mehrere Barken stießen vom Lande, um den Unsrigen beizustehen.
Aber sie kamen nur noch zu rechter Zeit, um die Untersinkenden
aufzunehmen.  In der Verwirrung war das feindliche Boot entwischt,
auf den beiden Barken aber, welche die Geretteten aufgenommen hatten,
war man ungewiß, ob alle gerettet seien.  Man näherte sich
gegenseitig, und ach!  Es fand sich, daß meine Schwester und eine
ihrer Gespielinnen fehlten; zugleich entdeckte man aber einen Fremden
in einer der Barken, den niemand kannte.  Auf die Drohungen Mustaphas
gestand er, daß er zu dem feindlichen Schiff, das zwei Meilen
ostwärts vor Anker liege, gehöre, und daß ihn seine Gefährten auf
ihrer eiligen Flucht im Stich gelassen hätten, indem er im Begriff
gewesen sei, die Mädchen auffischen zu helfen; auch sagte er aus, daß
er gesehen habe, wie man zwei derselben in das Schiff gezogen.

Der Schmerz meines alten Vaters war grenzenlos, aber auch Mustapha
war bis zum Tod betrübt, denn nicht nur, daß seine geliebte Schwester
verloren war und daß er sich anklagte, an ihrem Unglück schuld zu
sein--jene Freundin Fatmes, die ihr Unglück teilte, war von ihren
Eltern ihm zur Gattin zugesagt gewesen, und nur unserem Vater hatte
er es noch nicht zu gestehen gewagt, weil ihre Eltern arm und von
geringer Abkunft waren.  Mein Vater aber war ein strenger Mann; als
sein Schmerz sich ein wenig gelegt hatte, ließ er Mustapha vor sich
kommen und sprach zu ihm: "Deine Torheit hat mir den Trost meines
Alters und die Freude meiner Augen geraubt.  Gehe hin, ich verbanne
dich auf ewig von meinem Angesicht, ich fluche dir und deinen
Nachkommen, aber nur, wenn du mir Fatme wiederbringst, soll dein
Haupt rein sein von dem Fluche des Vaters."

Dies hatte mein armer Bruder nicht erwartet; schon vorher hatte er
sich entschlossen gehabt, seine Schwester und ihre Freundin
aufzusuchen, und wollte sich nur noch den Segen des Vaters dazu
erbitten, und jetzt schickte er ihn, mit dem Fluch beladen, in die
Welt.  Aber hatte ihn jener Jammer vorher gebeugt, so stählte jetzt
die Fülle des Unglücks, das er nicht verdient hatte, seinen Mut.

Er ging zu dem gefangenen Seeräuber und befragte ihn, wohin die Fahrt
seines Schiffes ginge, und erfuhr, daß sie Sklavenhandel trieben und
gewöhnlich in Balsora großen Markt hielten.

Als er wieder nach Hause kam, um sich zur Reise anzuschicken, schien
sich der Zorn des Vaters ein wenig gelegt zu haben, denn er sandte
ihm einen Beutel mit Gold zur Unterstützung auf der Reise.  Mustapha
aber nahm weinend von den Eltern Zoraides, so hieß seine geliebte
Braut, Abschied und machte sich auf den Weg nach Balsora.

Mustapha machte die Reise zu Land, weil von unserer kleinen Stadt aus
nicht gerade ein Schiff nach Balsora ging.  Er mußte daher sehr
starke Tagreisen machen, um nicht zu lange nach den Seeräubern nach
Balsora zu kommen; doch da er ein gutes Roß und kein Gepäck hatte,
konnte er hoffen, diese Stadt am Ende des sechsten Tages zu erreichen.
Aber am Abend des vierten Tages, als er ganz allein seines Weges
ritt, fielen ihn plötzlich drei Männer an.  Da er merkte, daß sie gut
bewaffnet und stark seien und daß es mehr auf sein Geld und sein Roß
als auf sein Leben abgesehen war, so rief er ihnen zu, daß er sich
ihnen ergeben wolle.  Sie stiegen von ihren Pferden ab und banden ihm
die Füße unter dem Bauch seines Tieres zusammen; ihn selbst aber
nahmen sie in die Mitte und trabten, indem einer den Zügel seines
Pferdes ergriff, schnell mit ihm davon, ohne jedoch ein Wort zu
sprechen.

Mustapha gab sich einer dumpfen Verzweiflung hin, der Fluch seines
Vaters schien schon jetzt an dem Unglücklichen in Erfüllung zu gehen,
und wie konnte er hoffen, seine Schwester und Zoraide zu retten, wenn
er, aller Mittel beraubt, nur sein ärmliches Leben zu ihrer Befreiung
aufwenden konnte.  Mustapha und seine stummen Begleiter mochten wohl
eine Stunde geritten sein, als sie in ein kleines Seitental einbogen.
Das Tälchen war von hohen Bäumen eingefaßt; ein weicher dunkelgrüner
Rasen, ein Bach, der schnell durch seine Mitte hinrollte, luden zur
Ruhe ein.  Wirklich sah er auch fünfzehn bis zwanzig Zelte dort
aufgeschlagen; an den Pflöcken der Zelte waren Kamele und schöne
Pferde angebunden, aus einem der Zelte hervor tönte die lustige Weise
einer Zither und zweier schöner Männerstimmen.  Meinem Bruder schien
es, als ob Leute, die ein so fröhliches Lagerplätzchen sich erwählt
hatten, nichts Böses gegen ihn im Sinne haben könnten, und er folgte
also ohne Bangigkeit dem Ruf seiner Führer, die, als sie seine Bande
gelöst hatten, ihm winkten, abzusteigen.  Man führte ihn in ein Zelt,
das größer als die übrigen und im Innern hübsch, fast zierlich
aufgeputzt war.  Prächtige, goldbestickte Polster, gewirkte
Fußteppiche, übergoldete Rauchpfannen hätten anderswo Reichtum und
Wohlleben verraten; hier schienen sie nur kühner Raub.  Auf einem der
Polster saß ein alter kleiner Mann; sein Gesicht war häßlich, seine
Haut schwarzbraun und glänzend, und ein widriger Zug von tückischer
Schlauheit um Augen und Mund machte seinen Anblick verhaßt.  Obgleich
sich dieser Mann einiges Ansehen zu geben suchte, so merkte doch
Mustapha bald, daß nicht für ihn das Zelt so reich geschmückt sei,
und die Unterredung seiner Führer schien seine Bemerkung zu
bestätigen.  "Wo ist der Starke?" fragten sie den Kleinen.

"Er ist auf der kleinen Jagd", antwortete jener, "aber er hat mir
aufgetragen, seine Stelle zu versehen."

"Das hat er nicht gescheit gemacht", entgegnete einer der Räuber,
"denn es muß sich bald entscheiden, ob dieser Hund sterben oder
zahlen soll, und das weiß der Starke besser als du."

Der kleine Mann erhob sich im Gefühl seiner Würde, streckte sich lang
aus, um mit der Spitze seiner Hand das Ohr seines Gegners zu
erreichen, denn er schien Lust zu haben, sich durch einen Schlag zu
rächen, als er aber sah, daß seine Bemühung fruchtlos sei, fing er an
zu schimpfen (und wahrlich!  Die anderen blieben ihm nichts schuldig),
daß das Zelt von ihrem Streit erdröhnte.  Da tat sich auf einmal die
Türe des Zeltes auf, und herein trat ein hoher, stattlicher Mann,
jung und schön wie ein Perserprinz; seine Kleidung und seine Waffen
waren, außer einem reichbesetzten Dolch und einem glänzenden Säbel,
gering und einfach; aber sein ernstes Auge, sein ganzer Anstand gebot
Achtung, ohne Furcht einzuflößen.

"Wer ist's, der es wagt, in meinem Zelte Streit zu beginnen?" rief er
den Erschrockenen zu.  Eine Zeitlang herrschte tiefe Stille; endlich
erzählte einer von denen, die Mustapha hergebracht hatten, wie es
gegangen sei.  Da schien sich das Gesicht "des Starken", wie sie ihn
nannten, vor Zorn zu röten.  "Wann hätte ich dich je an meine Stelle
gesetzt, Hassan?" schrie er mit furchtbarer Stimme dem Kleinen zu.
Dieser zog sich vor Furcht in sich selbst zusammen, daß er noch viel
kleiner aussah als zuvor, und schlich sich der Zelttüre zu.  Ein
hinlänglicher Tritt des Starken machte, daß er in einem großen
sonderbaren Sprung zur Zelttüre hinausflog.

Als der Kleine verschwunden war, führten die drei Männer Mustapha vor
den Herrn des Zeltes, der sich indes auf die Polster gelegt hatte.
"Hier bringen wir den, welchen du uns zu fangen befohlen hast."

Jener blickte den Gefangenen lange an und sprach sodann: "Bassa von
Sulieika!  Dein eigenes Gewissen wird dir sagen, warum du vor Orbasan
stehst."

Als mein Bruder dies hörte, warf er sich nieder vor jenem und
antwortete: "O Herr!  Du scheinst im Irrtum zu sein.  Ich bin ein
armer Unglücklicher, aber nicht der Bassa, den du suchst!"

Alle im Zelt waren über diese Rede erstaunt.  Der Herr des Zeltes
aber sprach: "Es kann dir wenig helfen, dich zu verstellen; denn ich
will die Leute vorführen, die dich wohl kennen."  Er befahl, Zuleima
vorzufahren.  Man brachte ein altes Weib in das Zelt, das auf die
Frage, ob sie in meinem Bruder nicht den Bassa von Sulieika erkenne,
antwortete: "Jawohl!"  Und sie schwöre es beim Grab des Propheten, es
sei der Bassa und kein anderer.

"Siehst du, Erbärmlicher, wie deine List zu Wasser geworden ist!"
begann zürnend der Starke.  "Du bist mir zu elend, als daß ich meinen
guten Dolch mit deinem Blut besudeln sollte, aber an den Schweif
meines Rosses will ich dich binden, morgen, wenn die Sonne aufgeht,
und durch die Wälder mit dir jagen, bis sie scheidet hinter die Hügel
von Sulieika!"

Da sank meinem armen Bruder der Mut.  "Das ist der Fluch meines
harten Vaters, der mich zum schmachvollen Tode treibt", rief er
weinend, "und auch du bist verloren, süße Schwester, auch du, Zoraide!"

"Deine Verstellung hilft dir nichts", sprach einer der Räuber, indem
er ihm die Hände auf den Rücken band, "mach, daß du aus dem Zelte
kommst!  Denn der Starke beißt sich in die Lippen und blickt nach
seinem Dolch.  Wenn du noch eine Nacht leben willst, so komm!"

Als die Räuber gerade meinen Bruder aus dem Zelt führen wollten,
begegneten sie drei anderen, die einen Gefangenen vor sich hintrieben.
Sie traten mit ihm ein.  "Hier bringen wir den Bassa, wie du uns
befohlen hast", sprachen sie und führten den Gefangenen vor das
Polster des Starken.  Als der Gefangene dorthin geführt wurde, hatte
mein Bruder Gelegenheit, ihn zu betrachten, und ihm selbst fiel die
Ähnlichkeit auf, die dieser Mann mit ihm hatte, nur war er dunkler im
Gesicht und hatte einen schwärzeren Bart.

Der Starke schien sehr erstaunt über die Erscheinung des zweiten
Gefangenen.  "Wer von euch ist denn der Rechte?" sprach er, indem er
bald meinen Bruder, bald den anderen Mann ansah.

"Wenn du den Bassa von Sulieika meinst", antwortete in stolzem Ton
der Gefangene, "der bin ich!"  Der Starke sah ihn lange mit seinem
ernsten, furchtbaren Blick an; dann winkte er schweigend, den Bassa
wegzuführen.

Als dies geschehen war, ging er auf meinen Bruder zu, zerschnitt
seine Bande mit dem Dolch und winkte ihm, sich zu ihm aufs Polster zu
setzen.  "Es tut mir leid, Fremdling", sagte er, "daß ich dich für
jenes Ungeheuer hielt; schreibe es aber einer sonderbaren Fügung des
Himmels zu, die dich gerade in der Stunde, welche dem Untergang jenes
Verruchten geweiht war, in die Hände meiner Brüder führte."  Mein
Bruder bat ihn um die einzige Gunst, ihn gleich wieder weiterreisen
zu lassen, weil jeder Aufschub ihm verderblich werden könne.  Der
Starke erkundigte sich nach seinen eiligen Geschäften, und als ihm
Mustapha alles erzählt hatte, überredete ihn jener, diese Nacht in
seinem Zelt zu bleiben, er und sein Roß werden der Ruhe bedürfen; den
folgenden Tag aber wolle er ihm einen Weg zeigen, der ihn in
anderthalb Tagen nach Balsora bringe--Mein Bruder schlug ein, wurde
trefflich bewirtet und schlief sanft bis zum Morgen in dem Zelt des
Räubers.

Als er aufgewacht war, sah er sich ganz allein im Zelt; vor dem
Vorhang des Zeltes aber hörte er mehrere Stimmen zusammen sprechen,
die dem Herrn des Zeltes und dem kleinen schwarzbraunen Mann
anzugehören schienen.  Er lauschte ein wenig und hörte zu seinem
Schrecken, daß der Kleine dringend den anderen aufforderte, den
Fremden zu töten, weil er, wenn er freigelassen würde, sie alle
verraten könnte.

Mustapha merkte gleich, daß der Kleine ihm gram sei, weil er die
Ursache war, daß er gestern so übel behandelt wurde; der Starke
schien sich einige Augenblicke zu besinnen.  "Nein", sprach er, "er
ist mein Gastfreund, und das Gastrecht ist mir heilig; auch sieht er
mir nicht aus, als ob er uns verraten wollte."

Als er so gesprochen, schlug er den Vorhang zurück und trat ein.
"Friede sei mit dir, Mustapha!" sprach er, "laß uns den Morgentrunk
kosten, und rüste dich dann zum Aufbruch!"  Er reichte meinem Bruder
einen Becher Sorbet, und als sie getrunken hatten, zäumten sie die
Pferde auf, und wahrlich, mit leichterem Herzen, als er gekommen war,
schwang sich Mustapha aufs Pferd.  Sie hatten bald die Zelte im
Rücken und schlugen dann einen breiten Pfad ein, der in den Wald
führte.  Der Starke erzählte meinem Bruder, daß jener Bassa, den sie
auf der Jagd gefangen hätten, ihnen versprochen habe, sie ungefährdet
in seinem Gebiete zu dulden; vor einigen Wochen aber habe er einen
ihrer tapfersten Männer aufgefangen und nach den schrecklichsten
Martern aufhängen lassen.  Er habe ihm nun lange auflauern lassen,
und heute noch müsse er sterben.  Mustapha wagte es nicht, etwas
dagegen einzuwenden; denn er war froh, selbst mit heiler Haut
davongekommen zu sein.

Am Ausgang des Waldes hielt der Starke sein Pferd an, beschrieb
meinem Bruder den Weg, bot ihm die Hand zum Abschied und sprach:
"Mustapha, du bist auf sonderbare Weise der Gastfreund des Räubers
Orbasan geworden; ich will dich nicht auffordern, nicht zu verraten,
was du gesehen und gehört hast.  Du hast ungerechterweise Todesangst
ausgestanden, und ich bin dir Vergütung schuldig.  Nimm diesen Dolch
als Andenken, und so du Hilfe brauchst, so sende ihn mir zu, und ich
will eilen, dir beizustehen.  Diesen Beutel aber kannst du vielleicht
zu deiner Reise brauchen."  Mein Bruder dankte ihm für seinen Edelmut;
er nahm den Dolch, den Beutel aber schlug er aus.  Doch Orbasan
drückte ihm noch einmal die Hand, ließ den Beutel auf die Erde fallen
und sprengte mit Sturmeseile in den Wald.  Als Mustapha sah, daß er
ihn doch nicht mehr werde einholen können, stieg er ab, um den Beutel
aufzuheben, und erschrak über die Größe von seines Gastfreundes
Großmut; denn der Beutel enthielt eine Menge Gold.  Er dankte Allah
für seine Rettung, empfahl ihm den edlen Räuber in seine Gnade und
zog dann heiteren Mutes weiter auf seinem Wege nach Balsora.

Lezah schwieg und sah Achmet, den alten Kaufmann, fragend an.  "Nein,
wenn es so ist", sprach dieser, "so verbessere ich gern mein Urteil
von Orbasan; denn wahrlich, an deinem Bruder hat er schön gehandelt."

"Er hat getan wie ein braver Muselmann", rief Muley; "aber ich hoffe,
du hast deine Geschichte damit nicht geschlossen; denn wie mich
bedünkt, sind wir alle begierig, weiter zu hören, wie es deinem
Bruder erging und ob er Fatme, deine Schwester, und die schöne
Zoraide befreit hat."

"Wenn ich euch nicht damit langweile, erzähle ich gerne weiter",
entgegnete Lezah, "denn die Geschichte meines Bruders ist allerdings
abenteuerlich und wundervoll."

Am Mittag des siebenten Tages nach seiner Abreise zog Mustapha in die
Tore von Balsora ein.  Sobald er in einer Karawanserei abgestiegen
war, fragte er, wann der Sklavenmarkt, der alljährlich hier gehalten
werde, anfange.  Aber er erhielt die Schreckensantwort, daß er zwei
Tage zu spät komme.  Man bedauerte seine Verspätung und erzählte ihm,
daß er viel verloren habe; denn noch an dem letzten Tage des Marktes
seien zwei Sklavinnen angekommen, von so hoher Schönheit, daß sie die
Augen aller Käufer auf sich gezogen hätten.  Man habe sich ordentlich
um sie gerissen und geschlagen, und sie seien freilich auch zu einem
so hohen Preise verkauft worden, daß ihn nur ihr jetziger Herr nicht
habe scheuen können.  Er erkundigte sich näher nach diesen beiden,
und es blieb ihm kein Zweifel, daß es die Unglücklichen seien, die er
suchte.  Auch erfuhr er, daß der Mann, der sie beide gekauft habe,
vierzig Stunden von Balsora wohne und Thiuli-Kos heiße, ein vornehmer,
reicher, aber schon ältlicher Mann, der früher Kapudan-Bassa des
Großherrn gewesen, jetzt aber sich mit seinen gesammelten Reichtümern
zur Ruhe gesetzt habe.

Mustapha wollte von Anfang sich gleich wieder zu Pferd setzen, um dem
Thiuli-Kos, der kaum einen Tag Vorsprung haben konnte, nachzueilen.
Als er aber bedachte, daß er als einzelner Mann dem mächtigen
Reisenden doch nichts anhaben noch weniger seine Beute ihm abjagen
konnte, sann er auf einen anderen Plan und hatte ihn auch bald
gefunden.  Die Verwechslung mit dem Bassa von Sulieika, die ihm
beinahe so gefährlich geworden wäre, brachte ihn auf den Gedanken,
unter diesem Namen in das Haus des Thiuli-Kos zu gehen und so einen
Versuch zur Rettung der beiden unglücklichen Mädchen zu wagen.  Er
mietete daher einige Diener und Pferde, wobei ihm Orbasans Geld
trefflich zustatten kam, schaffte sich und seinen Dienern prächtige
Kleider an und machte sich auf den Weg nach dem Schlosse Thiulis.
Nach fünf Tagen war er in die Nähe dieses Schlosses gekommen.  Es lag
in einer schönen Ebene und war rings von hohen Mauern umschlossen,
die nur ganz wenig von den Gebäuden überragt wurden.  Als Mustapha
dort angekommen war, färbte er Haar und Bart schwarz, sein Gesicht
aber bestrich er mit dem Saft einer Pflanze, die ihm eine bräunliche
Farbe gab, ganz wie sie jener Bassa gehabt hatte.  Er schickte
hierauf einen seiner Diener in das Schloß und ließ im Namen des Bassa
von Sulieika um ein Nachtlager bitten.  Der Diener kam bald wieder,
und mit ihm vier schöngekleidete Sklaven, die Mustaphas Pferd am
Zügel nahmen und in den Schloßhof führten.  Dort halfen sie ihm
selbst vom Pferd, und vier andere geleiteten ihn eine breite
Marmortreppe hinauf zu Thiuli.

Dieser, ein alter, lustiger Geselle, empfing meinen Bruder
ehrerbietig und ließ ihm das Beste, was sein Koch zubereiten konnte,
aufsetzen.  Nach Tisch brachte Mustapha das Gespräch nach und nach
auf die neuen Sklavinnen, und Thiuli rühmte ihre Schönheit und
beklagte nur, daß sie immer so traurig seien; doch er glaubte, dieses
würde sich bald geben.  Mein Bruder war sehr vergnügt über diesen
Empfang und legte sich mit den schönsten Hoffnungen zur Ruhe nieder.

Er mochte ungefähr eine Stunde geschlafen haben, da weckte ihn der
Schein einer Lampe, der blendend auf sein Auge fiel.  Als er sich
aufrichtete, glaubte er noch zu träumen; denn vor ihm stand jener
kleine, schwarzbraune Kerl aus Orbasans Zelt, eine Lampe in der Hand,
sein breites Maul zu einem widrigen Lächeln verzogen.  Mustapha
zwickte sich in den Arm, zupfte sich an der Nase, um sich zu
überzeugen, ob er denn wache; aber die Erscheinung blieb wie zuvor.
"Was willst du an meinem Bette?" rief Mustapha, als er sich von
seinem Erstaunen erholt hatte.

"Bemühet Euch doch nicht so, Herr!" sprach der Kleine.  "Ich habe
wohl erraten, weswegen Ihr hierherkommt.  Auch war mir Euer wertes
Gesicht noch wohl erinnerlich; doch wahrlich, wenn ich nicht den
Bassa mit eigener Hand hätte erhängen helfen, so hättet Ihr mich
vielleicht getäuscht.  Jetzt aber bin ich da, um eine Frage zu machen."

"Vor allem sage, wie du hierherkommst", entgegnete ihm Mustapha voll
Wut, daß er verraten war.

"Das will ich Euch sagen", antwortete jener, "ich konnte mich mit dem
Starken nicht länger vertragen, deswegen floh ich; aber du, Mustapha,
warst eigentlich die Ursache unseres Streites, und dafür mußt du mir
deine Schwester zur Frau geben, und ich will Euch zur Flucht
behilflich sein; gibst du sie nicht, so gehe ich zu meinem neuen
Herrn und erzähle ihm etwas von dem neuen Bassa."

Mustapha war vor Schrecken und Wut außer sich; jetzt, wo er sich am
sicheren Ziel seiner Wünsche glaubte, sollte dieser Elende kommen und
sie vereiteln; es war nur ein Mittel, das seinen Plan retten konnte:
Er mußte das kleine Ungetüm töten.  Mit einem Sprung fuhr er daher
aus dem Bette auf den Kleinen zu; doch dieser, der etwas Solches
geahnt haben mochte, ließ die Lampe fallen, daß sie verlöschte, und
entsprang im Dunkeln, indem er mörderisch um Hilfe schrie.

Jetzt war guter Rat teuer; die Mädchen mußte er für den Augenblick
aufgeben und nur auf die eigene Rettung denken; daher ging er an das
Fenster, um zu sehen, ob er nicht entspringen könnte.  Es war eine
ziemliche Tiefe bis zum Boden, und auf der anderen Seite stand eine
hohe Mauer, die zu übersteigen war.  Sinnend stand er an dem Fenster;
da hörte er viele Stimmen sich seinem Zimmer nähern; schon waren sie
an der Türe; da faßte er verzweiflungsvoll seinen Dolch und seine
Kleider und schwang sich zum Fenster hinaus.  Der Fall war hart; aber
er fühlte, daß er kein Glied gebrochen hatte; drum sprang er auf und
lief der Mauer zu, die den Hof umschloß, stieg, zum Erstaunen seiner
Verfolger, hinauf und befand sich bald im Freien.  Er floh, bis er an
einen kleinen Wald kam, wo er sich erschöpft niederwarf.  Hier
überlegte er, was zu tun sei.

Seine Pferde und seine Diener hatte er im Stiche lassen müssen; aber
sein Geld, das er in dem Gürtel trug, hatte er gerettet.

Sein erfinderischer Kopf zeigte ihm bald einen anderen Weg zur
Rettung.  Er ging in dem Wald weiter, bis er an ein Dorf kam, wo er
um geringen Preis ein Pferd kaufte, das ihn in Bälde in eine Stadt
trug.  Dort forschte er nach einem Arzt, und man riet ihm einen alten,
erfahrenen Mann.  Diesen bewog er durch einige Goldstücke, daß er
ihm eine Arznei mitteilte, die einen todähnlichen Schlaf herbeiführte,
der durch ein anderes Mittel augenblicklich wieder gehoben werden
könnte.  Als er im Besitz dieses Mittels war, kaufte er sich einen
langen falschen Bart, einen schwarzen Talar und allerlei Büchsen und
Kolben, so daß er füglich einen reisenden Arzt vorstellen konnte, lud
seine Sachen auf einen Esel und reiste in das Schloß des Thiuli-Kos
zurück.  Er durfte gewiß sein, diesmal nicht erkannt zu werden, denn
der Bart entstellte ihn so, daß er sich selbst kaum mehr kannte.  Bei
Thiuli angekommen, ließ er sich als den Arzt Chakamankabudibaba
anmelden, und, wie er es gedacht hatte, geschah es; der prachtvolle
Namen empfahl ihn bei dem alten Narren ungemein, so daß er ihn gleich
zur Tafel einlud.

Chakamankabudibaba erschien vor Thiuli, und als sie sich kaum eine
Stunde besprochen hatten, beschloß der Alte, alle seine Sklavinnen
der Kur des weisen Arztes zu unterwerfen.  Dieser konnte seine Freude
kaum verbergen, daß er jetzt seine geliebte Schwester wiedersehen
solle, und folgte mit klopfendem Herzen Thiuli, der ihn ins Serail
führte.  Sie waren in ein Zimmer gekommen, das schön ausgeschmückt
war, worin sich aber niemand befand.  "Chambaba oder wie du heißt,
lieber Arzt", sprach Thiuli-Kos, "betrachte einmal jenes Loch dort in
der Mauer, dort wird jede meiner Sklavinnen einen Arm herausstrecken,
und du kannst dann untersuchen, ob der Puls krank oder gesund ist."
Mustapha mochte einwenden, was er wollte, zu sehen bekam er sie nicht;
doch willigte Thiuli ein, daß er ihm allemal sagen wolle, wie sie
sich sonst gewöhnlich befänden.  Thiuli zog nun einen langen Zettel
aus dem Gürtel und begann mit lauter Stimme seine Sklavinnen einzeln
beim Namen zu rufen, worauf allemal eine Hand aus der Mauer kam und
der Arzt den Puls untersuchte.  Sechs waren schon abgelesen und
sämtlich für gesund erklärt; da las Thiuli als die siebente "Fatme"
ab, und eine kleine weiße Hand schlüpfte aus der Mauer.  Zitternd vor
Freude, ergreift Mustapha diese Hand und erklärt sie mit wichtiger
Miene für bedeutend krank.  Thiuli ward sehr besorgt und befahl
seinem weisen Chakamankabudibaba, schnell eine Arznei für sie zu
bereiten.  Der Arzt ging hinaus, schrieb auf einen kleinen Zettel:
Fatme!  Ich will Dich retten, wenn Du Dich entschließen kannst, eine
Arznei zu nehmen, die Dich auf zwei Tage tot macht; doch ich besitze
das Mittel, Dich wieder zum Leben zu bringen.  Willst Du, so sage nur,
dieser Trank habe nicht geholfen, und es soll mir ein Zeichen sein,
daß Du einwilligst.

Bald kam er in das Zimmer zurück, wo Thiuli seiner harrte.  Er
brachte ein unschädliches Tränklein mit, fühlte der kranken Fatme
noch einmal den Puls und schob ihr zugleich den Zettel unter ihr
Armband; das Tränklein aber reichte er ihr durch die Öffnung in der
Mauer.  Thiuli schien in großen Sorgen wegen Fatme zu sein und schob
die Untersuchung der übrigen bis auf eine gelegenere Zeit auf.  Als
er mit Mustapha das Zimmer verlassen hatte, sprach er in traurigem
Ton: "Chadibaba, sage aufrichtig, was hältst du von Fatmes Krankheit?"

Chakamankabudibaba antwortete mit einem tiefen Seufzer: "Ach Herr,
möge der Prophet dir Trost verleihen!  Sie hat ein schleichendes
Fieber, das ihr wohl den Garaus machen kann."  Da entbrannte der Zorn
Thiulis: "Was sagst du, verfluchter Hund von einem Arzt?  Sie, um die
ich zweitausend Goldstücke gab, soll mir sterben wie eine Kuh?  Wisse,
wenn du sie nicht rettest, so hau' ich dir den Kopf ab!"  Da merkte
mein Bruder, daß er einen dummen Streich gemacht habe, und gab Thiuli
wieder Hoffnung.  Als sie noch so sprachen, kam ein schwarzer Sklave
aus dem Serail, dem Arzt zu sagen, daß das Tränklein nicht geholfen
habe.  "Biete deine ganze Kunst auf, Chakamdababelba, oder wie du
dich schreibst, ich zahle dir, was du willst", schrie Thiuli-Kos,
fast heulend vor Angst, so viel Gold zu verlieren.

"Ich will ihr ein Säftlein geben, das sie von aller Not befreit",
antwortete der Arzt.

"Ja!  Ja!  Gib ihr ein Säftlein", schluchzte der alte Thiuli.

Frohen Mutes ging Mustapha, seinen Schlaftrunk zu holen, und als er
ihn dem schwarzen Sklaven gegeben und gezeigt hatte, wieviel man auf
einmal nehmen müsse, ging er zu Thiuli und sagte, er müsse noch
einige heilsame Kräuter am See holen, und eilte zum Tor hinaus.  An
dem See, der nicht weit von dem Schloß entfernt war, zog er seine
falschen Kleider aus und warf sie ins Wasser, daß sie lustig
umherschwammen; er selbst aber verbarg sich im Gesträuch, wartete die
Nacht ab und schlich sich dann in den Begräbnisplatz an dem Schlosse
Thiulis.

Als Mustapha kaum eine Stunde lang aus dem Schloß abwesend sein
mochte, brachte man Thiuli die schreckliche Nachricht, daß seine
Sklavin Fatme im Sterben liege.  Er schickte hinaus an den See, um
schnell den Arzt zu holen; aber bald kehrten seine Boten allein
zurück und erzählten ihm, daß der arme Arzt ins Wasser gefallen und
ertrunken sei; seinen schwarzen Talar sehe man im See schwimmen, und
hier und da gucke auch sein stattlicher Bart aus den Wellen hervor.
Als Thiuli keine Rettung mehr sah, verwünschte er sich und die ganze
Welt, raufte sich den Bart aus und rannte mit dem Kopf gegen die
Mauer.  Aber alles dies konnte nichts helfen; denn Fatme gab bald
unter den Händen der übrigen Weiber den Geist auf.  Als Thiuli die
Nachricht ihres Todes hörte, befahl er, schnell einen Sarg zu machen;
denn er konnte keinen Toten im Hause leiden und ließ den Leichnam in
das Begräbnishaus tragen.  Die Träger brachten den Sarg dorthin,
setzten ihn schnell nieder und entflohen, denn sie hatten unter den
übrigen Särgen Stöhnen und Seufzen gehört.

Mustapha, der sich hinter den Särgen verborgen und von dort aus die
Träger des Sarges in die Flucht gejagt hatte, kam hervor und zündete
sich eine Lampe an, die er zu diesem Zweck mitgebracht hatte.  Dann
zog er ein Glas hervor, das die erweckende Arznei enthielt, und hob
dann den Deckel von Fatmes Sarg.  Aber welches Entsetzen befiel ihn,
als sich ihm beim Scheine der Lampe ganz fremde Züge zeigten!  Weder
meine Schwester noch Zoraide, sondern eine ganz andere lag in dem
Sarg.  Er brauchte lange, um sich von dem neuen Schlag des Schicksals
zu fassen; endlich überwog doch Mitleid seinen Zorn.  Er öffnete sein
Glas und flößte ihr die Arznei ein.  Sie atmete, sie schlug die Augen
auf und schien sich lange zu besinnen, wo sie sei.  Endlich erinnerte
sie sich des Vorgefallenen; sie stand auf aus dem Sarg und stürzte zu
Mustaphas Füßen.  "Wie kann ich dir danken, gütiges Wesen", rief sie
aus, "daß du mich aus meiner schrecklichen Gefangenschaft befreitest!"
Mustapha unterbrach ihre Danksagungen mit der Frage, wie es denn
geschehen sei, daß sie und nicht Fatme, seine Schwester, gerettet
worden sei?  Jene sah ihn staunend an.  "Jetzt wird mir meine Rettung
erst klar, die mir vorher unbegreiflich war", antwortete sie; "wisse,
man hieß mich in jenem Schloß Fatme, und mir hast du deinen Zettel
und den Rettungstrank gegeben."  Mein Bruder forderte die Gerettete
auf, ihm von seiner Schwester und Zoraide Nachricht zu geben, und
erfuhr, daß sie sich beide im Schloß befanden, aber nach der
Gewohnheit Thiulis andere Namen bekommen hatten; sie hießen jetzt
Mirza und Nurmahal."

Als Fatme, die gerettete Sklavin, sah, daß mein Bruder durch diesen
Fehlgriff so niedergeschlagen sei, sprach sie ihm Mut ein und
versprach, ihm ein Mittel zu sagen, wie er jene beiden Mädchen
dennoch retten könne.  Aufgeweckt durch diesen Gedanken, schöpfte
Mustapha von neuem Hoffnung und bat sie, dieses Mittel ihm zu nennen,
und sie sprach:

"Ich bin zwar erst seit fünf Monaten die Sklavin Thiulis, doch habe
ich gleich von Anfang auf Rettung gesonnen; aber für mich allein war
sie zu schwer.  In dem inneren Hof des Schlosses wirst du einen
Brunnen bemerkt haben, der aus zehn Röhren Wasser speit; dieser
Brunnen fiel mir auf.  Ich erinnerte mich, in dem Hause meines Vaters
einen ähnlichen gesehen zu haben, dessen Wasser durch eine geräumige
Wasserleitung herbeiströmt; um nun zu erfahren, ob dieser Brunnen
auch so gebaut ist, rühmte ich eines Tages vor Thiuli seine Pracht
und fragte nach seinem Baumeister. *Ich selbst habe ihn gebaut*,
antwortete er, *und das, was du hier siehst, ist noch das Geringste;
aber das Wasser dazu kommt wenigstens tausend Schritte weit von einem
Bach her und geht durch eine gewölbte Wasserleitung, die wenigstens
mannshoch ist; und alles dies habe ich selbst angegeben.* Als ich
dies gehört hatte, wünschte ich mir oft, nur auf einen Augenblick die
Stärke eines Mannes zu haben, um einen Stein an der Seite des
Brunnens ausheben zu können; dann könnte ich fliehen, wohin ich
wollte.  Die Wasserleitung nun will ich dir zeigen; durch sie kannst
du nachts in das Schloß gelangen und jene befreien.  Aber du mußt
wenigstens noch zwei Männer bei dir haben, um die Sklaven, die das
Serail bei Nacht bewachen, zu überwältigen."

So sprach sie; mein Bruder Mustapha aber, obgleich schon zweimal in
seinen Hoffnungen getäuscht, faßte noch einmal Mut und hoffte mit
Allahs Hilfe den Plan der Sklavin auszuführen.  Er versprach ihr, für
ihr weiteres Fortkommen in ihre Heimat zu sorgen, wenn sie ihm
behilflich sein wollte, ins Schloß zu gelangen.  Aber ein Gedanke
machte ihm noch Sorge, nämlich der, woher er zwei oder drei treue
Gehilfen bekommen könnte.  Da fiel ihm Orbasans Dolch ein und das
Versprechen, das ihm jener gegeben hatte, ihm, wo er seiner bedürfe,
zu Hilfe zu eilen, und er machte sich daher mit Fatme aus dem
Begräbnis auf, um den Räuber aufzusuchen.

In der nämlichen Stadt, wo er sich zum Arzt umgewandelt hatte, kaufte
er um sein letztes Geld ein Roß und mietete Fatme bei einer armen
Frau in der Vorstadt ein.  Er selbst aber eilte dem Gebirge zu, wo er
Orbasan zum erstenmal getroffen hatte, und gelangte in drei Tagen
dahin.  Er fand bald wieder jene Zelte und trat unverhofft vor
Orbasan, der ihn freundlich bewillkommnete.  Er erzählte ihm seine
mißlungenen Versuche, wobei sich der ernsthafte Orbasan nicht
enthalten konnte, hier und da ein wenig zu lachen, besonders, wenn er
sich den Arzt Chakamankabudibaba dachte.  Über die Verräterei des
Kleinen aber war er wütend; er schwur, ihn mit eigener Hand
aufzuhängen, wo er ihn finde.  Meinem Bruder aber versprach er,
sogleich zur Hilfe bereit zu sein, wenn er sich vorher von der Reise
gestärkt haben würde.  Mustapha blieb daher diese Nacht wieder in
Orbasans Zelt; mit dem ersten Frührot aber brachen sie auf, und
Orbasan nahm drei seiner tapfersten Männer, wohl beritten und
bewaffnet, mit sich.  Sie ritten stark zu und kamen nach zwei Tagen
in die kleine Stadt, wo Mustapha die gerettete Fatme zurückgelassen
hatte.  Von da aus reisten sie mit dieser weiter bis zu dem kleinen
Wald, von wo aus man das Schloß Thiulis in geringer Entfernung sehen
konnte; dort lagerten sie sich, um die Nacht abzuwarten.

Sobald es dunkel wurde, schlichen sie sich, von Fatme geführt, an den
Bach, wo die Wasserleitung anfing, und fanden diese bald.  Dort
ließen sie Fatme und einen Diener mit den Rossen zurück und schickten
sich an, hinabzusteigen; ehe sie aber hinabstiegen, wiederholte ihnen
Fatme noch einmal alles genau, nämlich: daß sie durch den Brunnen in
den inneren Schloßhof kämen, dort seien rechts und links in der Ecke
zwei Türme, in der sechsten Türe, vom Turme rechts gerechnet,
befänden sich Fatme und Zoraide, bewacht von zwei schwarzen Sklaven.
Mit Waffen und Brecheisen wohl versehen, stiegen Mustapha, Orbasan
und zwei andere Männer hinab in die Wasserleitung; sie sanken zwar
bis an den Gürtel ins Wasser; aber nichtsdestoweniger gingen sie
rüstig vorwärts.  Nach einer halben Stunde kamen sie an den Brunnen
selbst und setzten sogleich ihre Brecheisen an.  Die Mauer war dick
und fest; aber den vereinten Kräften der vier Männer konnte sie nicht
lange widerstehen; bald hatten sie eine Öffnung eingebrochen, groß
genug, um bequem durchschlüpfen zu können.  Orbasan schlüpfte zuerst
durch und half den anderen nach.  Als sie alle im Hof waren,
betrachteten sie die Seite des Schlosses, die vor ihnen lag, um die
beschriebene Türe zu erforschen.  Aber sie waren nicht einig, welche
es sei; denn als sie von dem rechten Turm zum linken zählten, fanden
sie eine Türe, die zugemauert war, und wußten nun nicht, ob Fatme
diese übersprungen oder mitgezählt habe.  Aber Orbasan besann sich
nicht lange.  "Mein gutes Schwert wird mir jede Tür öffnen", rief er
aus, ging auf die sechste Türe zu, und die anderen folgten ihm.

Sie öffneten die Türe und fanden sechs schwarze Sklaven auf dem Boden
liegend und schlafend; sie wollten schon wieder leise sich
zurückziehen, weil sie sahen, daß sie die rechte Türe verfehlt hatten,
als eine Gestalt in der Ecke sich aufrichtete und mit wohlbekannter
Stimme um Hilfe rief.  Es war der Kleine aus Orbasans Lager.  Aber
ehe noch die Schwarzen recht wußten, wie ihnen geschah, stürzte
Orbasan auf den Kleinen zu, riß seinen Gürtel entzwei, verstopfte ihm
den Mund und band ihm die Hände auf den Rücken; dann wandte er sich
an die Sklaven, wovon schon einige von Mustapha und den zwei anderen
halb gebunden waren, und half sie vollends überwältigen.  Man setzte
den Sklaven den Dolch auf die Brust und fragte sie, wo Nurmahal und
Nürza wären, und sie gestanden, daß sie im Gemach nebenan seien.
Mustapha stürzte in das Gemach und fand Fatme und Zoraide, die der
Lärm erweckt hatte.  Schnell rafften diese ihren Schmuck und ihre
Kleider zusammen und folgten Mustapha; die beiden Räuber schlugen
indes Orbasan vor, zu plündern, was man fände; doch dieser verbot es
ihnen und sprach: "Man soll nicht von Orbasan sagen können, daß er
nachts in die Häuser steige, um Gold zu stehlen!"  Mustapha und die
Geretteten schlüpften schnell in die Wasserleitung, wohin ihnen
Orbasan sogleich zu folgen versprach.  Als jene in die Wasserleitung
hinabgestiegen waren, nahmen Orbasan und einer der Räuber den Kleinen
und führten ihn hinaus in den Hof; dort banden sie ihm eine seidene
Schnur, die sie deshalb mitgenommen hatten, um den Hals und hingen
ihn an der höchsten Spitze des Brunnens auf.  Nachdem sie so den
Verrat des Elenden bestraft hatten, stiegen sie selbst hinab in die
Wasserleitung und folgten Mustapha.  Mit Tränen dankten die beiden
ihrem edelmütigen Retter Orbasan; doch dieser trieb sie eilends zur
Flucht an, denn es war sehr wahrscheinlich, daß sie Thiuli-Kos nach
allen Seiten verfolgen ließ.  Mit tiefer Rührung trennten sich am
anderen Tag Mustapha und seine Geretteten von Orbasan; wahrlich, sie
werden ihn nie vergessen.  Fatme aber, die befreite Sklavin, ging
verkleidet nach Balsora, um sich dort in ihre Heimat einzuschiffen.

Nach einer kurzen und vergnügten Reise kamen die Meinigen in die
Heimat.  Meinen alten Vater tötete beinahe die Freude des
Wiedersehens; den anderen Tag nach ihrer Ankunft veranstaltete er ein
großes Fest, an welchem die ganze Stadt teilnahm.  Vor einer großen
Versammlung von Verwandten und Freunden mußte mein Bruder seine
Geschichte erzählen, und einstimmig priesen sie ihn und den edlen
Räuber.

Als aber mein Bruder geschlossen hatte, stand mein Vater auf und
führte Zoraide ihm zu.  "So löse ich denn", sprach er mit feierlicher
Stimme, "den Fluch von deinem Haupte; nimm diese hin als die
Belohnung, die du dir durch deinen rastlosen Eifer erkämpft hast;
nimm meinen väterlichen Segen, und möge es nie unserer Stadt an
Männern fehlen, die an brüderlicher Liebe, an Klugheit und Eifer dir
gleichen!"

Die Karawane hatte das Ende der Wüste erreicht, und fröhlich
begrüßten die Reisenden die grünen Matten und die dichtbelaubten
Bäume, deren lieblichen Anblick sie viele Tage entbehrt hatten.  In
einem schönen Tale lag eine Karawanserei, die sie sich zum Nachtlager
wählten, und obgleich sie wenig Bequemlichkeit und Erfrischung darbot,
so war doch die ganze Gesellschaft heiterer und zutraulicher als je;
denn der Gedanke, den Gefahren und Beschwerlichkeiten, die eine Reise
durch die Wüste mit sich bringt, entronnen zu sein, hatte alle Herzen
geöffnet und die Gemüter zu Scherz und Kurzweil gestimmt.  Muley, der
junge lustige Kaufmann, tanzte einen komischen Tanz und sang Lieder
dazu, die selbst dem ernsten Griechen Zaleukos ein Lächeln entlockten.
Aber nicht genug, daß er seine Gefährten durch Tanz und Spiel
erheitert hatte, er gab ihnen auch noch die Geschichte zum besten,
die er ihnen versprochen hatte, und hub, als er von seinen
Luftsprüngen sich erholt hatte, also zu erzählen an: Die Geschichte
von dem kleinen Muck.



Die Geschichte von dem kleinen Muck

Wilhelm Hauff


In Nicea, meiner lieben Vaterstadt, wohnte ein Mann, den man den
kleinen Muck hieß.  Ich kann mir ihn, ob ich gleich damals noch sehr
jung war, noch recht wohl denken, besonders weil ich einmal von
meinem Vater wegen seiner halbtot geprügelt wurde.  Der kleine Muck
nämlich war schon ein alter Geselle, als ich ihn kannte; doch war er
nur drei bis vier Schuh hoch, dabei hatte er eine sonderbare Gestalt,
denn sein Leib, so klein und zierlich er war, mußte einen Kopf tragen,
viel größer und dicker als der Kopf anderer Leute; er wohnte ganz
allein in einem großen Haus und kochte sich sogar selbst, auch hätte
man in der Stadt nicht gewußt, ob er lebe oder gestorben sei, denn er
ging nur alle vier Wochen einmal aus, wenn nicht um die Mittagsstunde
ein mächtiger Dampf aus dem Hause aufgestiegen wäre, doch sah man ihn
oft abends auf seinem Dache auf und ab gehen, von der Straße aus
glaubte man aber, nur sein großer Kopf allein laufe auf dem Dache
umher.  Ich und meine Kameraden waren böse Buben, die jedermann gerne
neckten und belachten, daher war es uns allemal ein Festtag, wenn der
kleine Muck ausging; wir versammelten uns an dem bestimmten Tage vor
seinem Haus und warteten, bis er herauskam; wenn dann die Türe
aufging und zuerst der große Kopf mit dem noch größeren Turban
herausguckte, wenn das übrige Körperlein nachfolgte, angetan mit
einem abgeschabten Mäntelein, weiten Beinkleidern und einem breiten
Gürtel, an welchem ein langer Dolch hing, so lang, daß man nicht
wußte, ob Muck an dem Dolch, oder der Dolch an Muck stak, wenn er so
heraustrat, da ertönte die Luft von unserem Freudengeschrei, wir
warfen unsere Mützen in die Höhe und tanzten wie toll um ihn her.
Der kleine Muck aber grüßte uns mit ernsthaftem Kopfnicken und ging
mit langsamen Schritten die Straße hinab.  Wir Knaben liefen hinter
ihm her und schrien immer: "Kleiner Muck, kleiner Muck!"  Auch hatten
wir ein lustiges Verslein, das wir ihm zu Ehren hier und da sangen;
es hieß:

"Kleiner Muck, kleiner Muck,
Wohnst in einem großen Haus,
Gehst nur all vier Wochen aus,
Bist ein braver, kleiner Zwerg,
Hast ein Köpflein wie ein Berg,
Schau dich einmal um und guck,
Lauf und fang uns, kleiner Muck!"

So hatten wir schon oft unsere Kurzweil getrieben, und zu meiner
Schande muß ich es gestehen, ich trieb's am ärgsten; denn ich zupfte
ihn oft am Mäntelein, und einmal trat ich ihm auch von hinten auf die
großen Pantoffeln, daß er hinfiel.  Dies kam mir nun höchst
lächerlich vor, aber das Lachen verging mir, als ich den kleinen Muck
auf meines Vaters Haus zugehen sah.  Er ging richtig hinein und blieb
einige Zeit dort.  Ich versteckte mich an der Haustüre und sah den
Muck wieder herauskommen, von meinem Vater begleitet, der ihn
ehrerbietig an der Hand hielt und an der Türe unter vielen Bücklingen
sich von ihm verabschiedete.  Mir war gar nicht wohl zumute; ich
blieb daher lange in meinem Versteck; endlich aber trieb mich der
Hunger, den ich ärger fürchtete als Schläge, heraus, und demütig und
mit gesenktem Kopf trat ich vor meinen Vater.  "Du hast, wie ich höre,
den guten Muck beschimpft?" sprach er in sehr ernstem Tone.  "Ich
will dir die Geschichte dieses Muck erzählen, und du wirst ihn gewiß
nicht mehr auslachen; vor- und nachher aber bekommst du das
Gewöhnliche."  Das Gewöhnliche aber waren fünfundzwanzig Hiebe, die er
nur allzu richtig aufzuzählen pflegte.  Er nahm daher sein langes
Pfeifenrohr, schraubte die Bernsteinmundspitze ab und bearbeitete
mich ärger als je zuvor.

Als die Fünfundzwanzig voll waren, befahl er mir, aufzumerken, und
erzählte mir von dem kleinen Muck:

Der Vater des kleinen Muck, der eigentlich Muckrah heißt, war ein
angesehener, aber armer Mann hier in Nicea.  Er lebte beinahe so
einsiedlerisch wie jetzt sein Sohn.  Diesen konnte er nicht wohl
leiden, weil er sich seiner Zwerggestalt schämte, und ließ ihn daher
auch in Unwissenheit aufwachsen.  Der kleine Muck war noch in seinem
sechzehnten Jahr ein lustiges Kind, und der Vater, ein ernster Mann,
tadelte ihn immer, daß er, der schon längst die Kinderschuhe
zertreten haben sollte, noch so dumm und läppisch sei.

Der Alte tat aber einmal einen bösen Fall, an welchem er auch starb
und den kleinen Muck arm und unwissend zurückließ.  Die harten
Verwandten, denen der Verstorbene mehr schuldig war, als er bezahlen
konnte, jagten den armen Kleinen aus dem Hause und rieten ihm, in die
Welt hinauszugehen und sein Glück zu suchen.  Der kleine Muck
antwortete, er sei schon reisefertig, bat sich aber nur noch den
Anzug seines Vaters aus, und dieser wurde ihm auch bewilligt.  Sein
Vater war ein großer, starker Mann gewesen, daher paßten die Kleider
nicht.  Muck aber wußte bald Rat; er schnitt ab, was zu lang war, und
zog dann die Kleider an.  Er schien aber vergessen zu haben, daß er
auch in der Weite davon schneiden müsse, daher sein sonderbarer
Aufzug, wie er noch heute zu sehen ist; der große Turban, der breite
Gürtel, die weiten Hosen, das blaue Mäntelein, alles dies sind
Erbstücke seines Vaters, die er seitdem getragen; den langen
Damaszenerdolch seines Vaters aber steckte er in den Gürtel, ergriff
ein Stöcklein und wanderte zum Tor hinaus.

Fröhlich wanderte er den ganzen Tag; denn er war ja ausgezogen, um
sein Glück zu suchen; wenn er eine Scherbe auf der Erde im
Sonnenschein glänzen sah, so steckte er sie gewiß zu sich, im Glauben,
daß sie sich in den schönsten Diamanten verwandeln werde; sah er in
der Ferne die Kuppel einer Moschee wie Feuer strahlen, sah er einen
See wie einen Spiegel blinken, so eilte er voll Freude darauf zu;
denn er dachte, in einem Zauberland angekommen zu sein.  Aber ach!
Jene Trugbilder verschwanden in der Nähe, und nur allzubald
erinnerten ihn seine Müdigkeit und sein vor Hunger knurrender Magen,
daß er noch im Lande der Sterblichen sich befinde.  So war er zwei
Tage gereist unter Hunger und Kummer und verzweifelte, sein Glück zu
finden; die Früchte des Feldes waren seine einzige Nahrung, die harte
Erde sein Nachtlager.  Am Morgen des dritten Tages erblickte er von
einer Anhöhe eine große Stadt.

Hell leuchtete der Halbmond auf ihren Zinnen, bunte Fahnen
schimmerten auf den Dächern und schienen den kleinen Muck zu sich
herzuwinken.  Überrascht stand er stille und betrachtete Stadt und
Gegend.  "Ja, dort wird Klein-Muck sein Glück finden", sprach er zu
sich und machte trotz seiner Müdigkeit einen Luftsprung, "dort oder
nirgends."  Er raffte alle seine Kräfte zusammen und schritt auf die
Stadt zu.  Aber obgleich sie ganz nahe schien, konnte er sie doch
erst gegen Mittag erreichen; denn seine kleinen Glieder versagten ihm
beinahe gänzlich ihren Dienst, und er mußte sich oft in den Schatten
einer Palme setzen, um auszuruhen.  Endlich war er an dem Tor der
Stadt angelangt.  Er legte sein Mäntelein zurecht, band den Turban
schöner um, zog den Gürtel noch breiter an und steckte den langen
Dolch schiefer; dann wischte er den Staub von den Schuhen, ergriff
sein Stöcklein und ging mutig zum Tor hinein.

Er hatte schon einige Straßen durchwandert; aber nirgends öffnete
sich ihm die Türe, nirgends rief man, wie er sich vorgestellt hatte:
"Kleiner Muck, komm herein und iß und trink und laß deine Füßlein
ausruhen!"

Er schaute gerade auch wieder recht sehnsüchtig an einem großen,
schönen Haus hinauf; da öffnete sich ein Fenster, eine alte Frau
schaute heraus und rief mit singender Stimme:

"Herbei, herbei!
Gekocht ist der Brei,
Den Tisch ließ ich decken,
Drum laßt es euch schmecken;
Ihr Nachbarn herbei,
Gekocht ist der Brei."

Die Türe des Hauses öffnete sich, und Muck sah viele Hunde und Katzen
hineingehen.  Er stand einige Augenblicke in Zweifel, ob er der
Einladung folgen sollte; endlich aber faßte er sich ein Herz und ging
in das Haus.  Vor ihm her gingen ein paar junge Kätzlein, und er
beschloß, ihnen zu folgen, weil sie vielleicht die Küche besser
wüßten als er.

Als Muck die Treppe hinaufgestiegen war, begegnete er jener alten
Frau, die zum Fenster herausgeschaut hatte.  Sie sah ihn mürrisch an
und fragte nach seinem Begehr.  "Du hast ja jedermann zu deinem Brei
eingeladen", antwortete der kleine Muck, "und weil ich so gar hungrig
bin, bin ich auch gekommen."

Die Alte lachte und sprach: "Woher kommst du denn, wunderlicher
Gesell?  Die ganze Stadt weiß, daß ich für niemand koche als für
meine lieben Katzen, und hier und da lade ich ihnen Gesellschaft aus
der Nachbarschaft ein, wie du siehst."

Der kleine Muck erzählte der alten Frau, wie es ihm nach seines
Vaters Tod so hart ergangen sei, und bat sie, ihn heute mit ihren
Katzen speisen zu lassen.  Die Frau, welcher die treuherzige
Erzählung des Kleinen wohl gefiel, erlaubte ihm, ihr Gast zu sein,
und gab ihm reichlich zu essen und zu trinken.  Als er gesättigt und
gestärkt war, betrachtete ihn die Frau lange und sagte dann: "Kleiner
Muck, bleibe bei mir in meinem Dienste!  Du hast geringe Mühe und
sollst gut gehalten sein."

Der kleine Muck, dem der Katzenbrei geschmeckt hatte, willigte ein
und wurde also der Bedienstete der Frau Ahavzi.  Er hatte einen
leichten, aber sonderbaren Dienst.  Frau Ahavzi hatte nämlich zwei
Kater und vier Katzen, diesen mußte der kleine Muck alle Morgen den
Pelz kämmen und mit köstlichen Salben einreiben; wenn die Frau
ausging, mußte er auf die Katzen Achtung geben, wenn sie aßen, mußte
er ihnen die Schüsseln vorlegen, und nachts mußte er sie auf seidene
Polster legen und sie mit samtenen Decken einhüllen.  Auch waren noch
einige kleine Hunde im Haus, die er bedienen mußte, doch wurden mit
diesen nicht so viele Umstände gemacht wie mit den Katzen, welche
Frau Ahavzi wie ihre eigenen Kinder hielt.  Übrigens führte Muck
ein so einsames Leben wie in seines Vaters Haus, denn außer der Frau
sah er den ganzen Tag nur Hunde und Katzen.  Eine Zeitlang ging es
dem kleinen Muck ganz gut; er hatte immer zu essen und wenig zu
arbeiten, und die alte Frau schien recht zufrieden mit ihm zu sein,
aber nach und nach wurden die Katzen unartig, wenn die Alte
ausgegangen war, sprangen sie wie besessen in den Zimmern umher,
warfen alles durcheinander und zerbrachen manches schöne Geschirr,
das ihnen im Weg stand.  Wenn sie aber die Frau die Treppe
heraufkommen hörten, verkrochen sie sich auf ihre Polster und
wedelten ihr mit den Schwänzen entgegen, wie wenn nichts geschehen
wäre.  Die Frau Ahavzi geriet dann in Zorn, wenn sie ihre Zimmer so
verwüstet sah, und schob alles auf Muck, er mochte seine Unschuld
beteuern, wie er wollte, sie glaubte ihren Katzen, die so unschuldig
aussahen, mehr als ihrem Diener.

Der kleine Muck war sehr traurig, daß er also auch hier sein Glück
nicht gefunden hatte, und beschloß bei sich, den Dienst der Frau
Ahavzi zu verlassen.  Da er aber auf seiner ersten Reise erfahren
hatte, wie schlecht man ohne Geld lebt, so beschloß er, den Lohn, den
ihm seine Gebieterin immer versprochen, aber nie gegeben hatte, sich
auf irgendeine Art zu verschaffen.  Es befand sich in dem Hause der
Frau Ahavzi ein Zimmer, das immer verschlossen war und dessen Inneres
er nie gesehen hatte.  Doch hatte er die Frau oft darin rumoren
gehört, und er hätte oft für sein Leben gern gewußt, was sie dort
versteckt habe.  Als er nun an sein Reisegeld dachte, fiel ihm ein,
daß dort die Schätze der Frau versteckt sein könnten.  Aber immer war
die Tür fest verschlossen, und er konnte daher den Schätzen nie
beikommen.

Eines Morgens, als die Frau Ahavzi ausgegangen war, zupfte ihn eines
der Hundlein, welches von der Frau immer sehr stiefmütterlich
behandelt wurde, dessen Gunst er sich aber durch allerlei
Liebesdienste in hohem Grade erworben hatte, an seinen weiten
Beinkleidern und gebärdete sich dabei, wie wenn Muck ihm folgen
sollte.  Muck, welcher gerne mit den Hunden spielte, folgte ihm, und
siehe da, das Hundlein führte ihn in die Schlafkammer der Frau Ahavzi
vor eine kleine Türe, die er nie zuvor dort bemerkt hatte.  Die Türe
war halb offen.  Das Hundlein ging hinein, und Muck folgte ihm, und
wie freudig war er überrascht, als er sah, daß er sich in dem Gemach
befand, das schon lange das Ziel seiner Wünsche war.  Er spähte
überall umher, ob er kein Geld finden könne, fand aber nichts.  Nur
alte Kleider und wunderlich geformte Geschirre standen umher.  Eines
dieser Geschirre zog seine besondere Aufmerksamkeit auf sich.  Es war
von Kristall, und schöne Figuren waren darauf ausgeschnitten.  Er hob
es auf und drehte es nach allen Seiten.  Aber, o Schrecken!  Er hatte
nicht bemerkt, daß es einen Deckel hatte, der nur leicht darauf
hingesetzt war.  Der Deckel fiel herab und zerbrach in tausend Stücke.

Lange stand der kleine Muck vor Schrecken leblos.  Jetzt war sein
Schicksal entschieden, jetzt mußte er entfliehen, sonst schlug ihn
die Alte tot.  Sogleich war auch seine Reise beschlossen, und nur
noch einmal wollte er sich umschauen, ob er nichts von den
Habseligkeiten der Frau Ahavzi zu seinem Marsch brauchen könnte.  Da
fielen ihm ein Paar mächtig große Pantoffeln ins Auge; sie waren zwar
nicht schön; aber seine eigenen konnten keine Reise mehr mitmachen;
auch zogen ihn jene wegen ihrer Größe an; denn hatte er diese am Fuß,
so mußten ihm hoffentlich alle Leute ansehen, daß er die Kinderschuhe
vertreten habe.  Er zog also schnell seine Töffelein aus und fuhr in
die großen hinein.  Ein Spazierstöcklein mit einem schön
geschnittenen Löwenkopf schien ihm auch hier allzu müßig in der Ecke
zu stehen; er nahm es also mit und eilte zum Zimmer hinaus.  Schnell
ging er jetzt auf seine Kammer, zog sein Mäntelein an, setzte den
väterlichen Turban auf, steckte den Dolch in den Gürtel und lief, so
schnell ihn seine Füße trugen, zum Haus und zur Stadt hinaus.  Vor
der Stadt lief er, aus Angst vor der Alten, immer weiter fort, bis er
vor Müdigkeit beinahe nicht mehr konnte.  So schnell war er in seinem
Leben nicht gegangen; ja, es schien ihm, als könne er gar nicht
aufhören zu rennen; denn eine unsichtbare Gewalt schien ihn
fortzureißen.  Endlich bemerkte er, daß es mit den Pantoffeln eine
eigene Bewandtnis haben müsse; denn diese schossen immer fort und
führten ihn mit sich.  Er versuchte auf allerlei Weise stillzustehen;
aber es wollte nicht gelingen; da rief er in der höchsten Not, wie
man den Pferden zuruft, sich selbst zu: "Oh--oh, halt, oh!"  Da
hielten die Pantoffeln, und Muck warf sich erschöpft auf die Erde
nieder.

Die Pantoffeln freuten ihn ungemein.  So hatte er sich denn doch
durch seine Verdienste etwas erworben, das ihm in der Welt auf seinem
Weg das Glück zu suchen, forthelfen konnte.  Er schlief trotz seiner
Freude vor Erschöpfung ein; denn das Körperlein des kleinen Muck, das
einen so schweren Kopf zu tragen hatte, konnte nicht viel aushalten.
Im Traum erschien ihm das Hundlein, welches ihm im Hause der Frau
Ahavzi zu den Pantoffeln verholfen hatte, und sprach zu ihm: "Lieber
Muck, du verstehst den Gebrauch der Pantoffeln noch nicht recht;
wisse, wenn du dich in ihnen dreimal auf dem Absatz herumdrehst, so
kannst du hinfliegen, wohin du nur willst, und mit dem Stöcklein
kannst du Schätze finden, denn wo Gold vergraben ist, da wird es
dreimal auf die Erde schlagen, bei Silber zweimal."  So träumte der
kleine Muck.  Als er aber aufwachte, dachte er über den wunderbaren
Traum nach und beschloß, alsbald einen Versuch zu machen.  Er zog die
Pantoffeln an, lupfte einen Fuß und begann sich auf dem Absatz
umzudrehen.  Wer es aber jemals versucht hat, in einem ungeheuer
weiten Pantoffel dieses Kunststück dreimal hintereinander zu machen,
der wird sich nicht wundern, wenn es dem kleinen Muck nicht gleich
glückte, besonders wenn man bedenkt, daß ihn sein schwerer Kopf bald
auf diese, bald auf jene Seite hinüberzog.

Der arme Kleine fiel einigemal tüchtig auf die Nase; doch ließ er
sich nicht abschrecken, den Versuch zu wiederholen, und endlich
glückte es.  Wie ein Rad fuhr er auf seinem Absatz herum, wünschte
sich in die nächste große Stadt, und--die Pantoffeln ruderten hinauf
in die Lüfte, liefen mit Windeseile durch die Wolken, und ehe sich
der kleine Muck noch besinnen konnte, wie ihm geschah, befand er sich
schon auf einem großen Marktplatz, wo viele Buden aufgeschlagen waren
und unzählige Menschen geschäftig hin und her liefen.  Er ging unter
den Leuten hin und her, hielt es aber für ratsamer, sich in eine
einsamere Straße zu begeben; denn auf dem Markt trat ihm bald da
einer auf die Pantoffeln, daß er beinahe umfiel, bald stieß er mit
seinem weit hinausstehenden Dolch einen oder den anderen an, daß er
mit Mühe den Schlägen entging.

Der kleine Muck bedachte nun ernstlich, was er wohl anfangen könnte,
um sich ein Stück Geld zu verdienen; er hatte zwar ein Stäblein, das
ihm verborgene Schätze anzeigte, aber wo sollte er gleich einen Platz
finden, wo Gold oder Silber vergraben wäre?  Auch hätte er sich zur
Not für Geld sehen lassen können; aber dazu war er doch zu stolz.
Endlich fiel ihm die Schnelligkeit seiner Füße ein, "vielleicht",
dachte er, "können mir meine Pantoffeln Unterhalt gewähren", und er
beschloß, sich als Schnelläufer zu verdingen.  Da er aber hoffen
durfte, daß der König dieser Stadt solche Dienste am besten bezahle,
so erfragte er den Palast.  Unter dem Tor des Palastes stand eine
Wache, die ihn fragte, was er hier zu suchen habe.  Auf seine Antwort,
daß er einen Dienst suche, wies man ihn zum Aufseher der Sklaven.
Diesem trug er sein Anliegen vor und bat ihn, ihm einen Dienst unter
den königlichen Boten zu besorgen.  Der Aufseher maß ihn mit seinen
Augen von Kopf bis zu den Füßen und sprach: "Wie, mit deinen Füßlein,
die kaum so lang als eine Spanne sind, willst du königlicher
Schnelläufer werden?  Hebe dich weg, ich bin nicht dazu da, mit jedem
Narren Kurzweil zu machen."  Der kleine Muck versicherte ihm aber, daß
es ihm vollkommen ernst sei mit seinem Antrag und daß er es mit dem
Schnellsten auf eine Wette ankommen lassen wollte.  Dem Aufseher kam
die Sache gar lächerlich vor; er befahl ihm, sich bis auf den Abend
zu einem Wettlauf bereitzuhalten, führte ihn in die Küche und sorgte
dafür, daß ihm gehörig Speis' und Trank gereicht wurde; er selbst
aber begab sich zum König und erzählte ihm vom kleinen Muck und
seinem Anerbieten.  Der König war ein lustiger Herr, daher gefiel es
ihm wohl, daß der Aufseher der Sklaven den kleinen Menschen zu einem
Spaß behalten habe, er befahl ihm, auf einer großen Wiese hinter dem
Schloß Anstalten zu treffen, daß das Wettlaufen mit Bequemlichkeit
von seinem ganzen Hofstaat könnte gesehen werden, und empfahl ihm
nochmals, große Sorgfalt für den Zwerg zu haben.  Der König erzählte
seinen Prinzen und Prinzessinnen, was sie diesen Abend für ein
Schauspiel haben würden, diese erzählten es wieder ihren Dienern, und
als der Abend herankam, war man in gespannter Erwartung, und alles,
was Füße hatte, strömte hinaus auf die Wiese, wo Gerüste
aufgeschlagen waren, um den großsprecherischen Zwerg laufen zu sehen.

Als der König und seine Söhne und Töchter auf dem Gerüst Platz
genommen hatten, trat der kleine Muck heraus auf die Wiese und machte
vor den hohen Herrschaften eine überaus zierliche Verbeugung.  Ein
allgemeines Freudengeschrei ertönte, als man des Kleinen ansichtig
wurde; eine solche Figur hatte man dort noch nie gesehen.  Das
Körperlein mit dem mächtigen Kopf, das Mäntelein und die weiten
Beinkleider, der lange Dolch in dem breiten Gürtel, die kleinen
Füßlein in den weiten Pantoffeln--nein!  Es war zu drollig anzusehen,
als daß man nicht hätte laut lachen sollen.  Der kleine Muck ließ
sich aber durch das Gelächter nicht irremachen.  Er stellte sich
stolz, auf sein Stöcklein gestützt, hin und erwartete seinen Gegner.
Der Aufseher der Sklaven hatte nach Mucks eigenem Wunsche den besten
Läufer ausgesucht.  Dieser trat nun heraus, stellte sich neben den
Kleinen, und beide harrten auf das Zeichen.  Da winkte Prinzessin
Amarza, wie es ausgemacht war, mit ihrem Schleier, und wie zwei
Pfeile, auf dasselbe Ziel abgeschossen, flogen die beiden Wettläufer
über die Wiese hin.

Von Anfang hatte Mucks Gegner einen bedeutenden Vorsprung, aber
dieser jagte ihm auf seinem Pantoffelfuhrwerk nach, holte ihn ein,
überfing ihn und stand längst am Ziele, als jener noch, nach Luft
schnappend, daherlief.  Verwunderung und Staunen fesselten einige
Augenblicke die Zuschauer, als aber der König zuerst in die Hände
klatschte, da jauchzte die Menge, und alle riefen: "Hoch lebe der
kleine Muck, der Sieger im Wettlauf!"

Man hatte indes den kleinen Muck herbeigebracht; er warf sich vor dem
König nieder und sprach: "Großmächtigster König, ich habe dir hier
nur eine kleine Probe meiner Kunst gegeben; wolle nur gestatten, daß
man mir eine Stelle unter deinen Läufern gebe!"

Der König aber antwortete ihm: "Nein, du sollst mein Leibläufer und
immer um meine Person sein, lieber Muck, jährlich sollst du hundert
Goldstücke erhalten als Lohn, und an der Tafel meiner ersten Diener
sollst du speisen."

So glaubte denn Muck, endlich das Glück gefunden zu haben, das er so
lange suchte, und war fröhlich und wohlgemut in seinem Herzen.  Auch
erfreute er sich der besonderen Gnade des Königs, denn dieser
gebrauchte ihn zu seinen schnellsten und geheimsten Sendungen, die er
dann mit der größten Genauigkeit und mit unbegreiflicher Schnelle
besorgte.

Aber die übrigen Diener des Königs waren ihm gar nicht zugetan, weil
sie sich ungern durch einen Zwerg, der nichts verstand, als schnell
zu laufen, in der Gunst ihres Herrn zurückgesetzt sahen.  Sie
veranstalteten daher manche Verschwörung gegen ihn, um ihn zu stürzen;
aber alle schlugen fehl an dem großen Zutrauen, das der König in
seinen geheimen Oberleibläufer (denn zu dieser Würde hatte er es in
so kurzer Zeit gebracht) setzte.

Muck, dem diese Bewegungen gegen ihn nicht entgingen, sann nicht auf
Rache, dazu hatte er ein zu gutes Herz, nein, auf Mittel dachte er,
sich bei seinen Feinden notwendig und beliebt zu machen.  Da fiel ihm
sein Stäblein, das er in seinem Glück außer acht gelassen hatte, ein;
wenn er Schätze finde, dachte er, würden ihm die Herren schon
geneigter werden.  Er hatte schon oft gehört, daß der Vater des
jetzigen Königs viele seiner Schätze vergraben habe, als der Feind
sein Land überfallen; man sagte auch, er sei darüber gestorben, ohne
daß er sein Geheimnis habe seinem Sohn mitteilen können.  Von nun an
nahm Muck immer sein Stöcklein mit, in der Hoffnung, einmal an einem
Ort vorüberzugehen, wo das Geld des alten Königs vergraben sei.
Eines Abends führte ihn der Zufall in einen entlegenen Teil des
Schloßgartens, den er wenig besuchte, und plötzlich fühlte er das
Stöcklein in seiner Hand zucken, und dreimal schlug es gegen den
Boden.  Nun wußte er schon, was dies zu bedeuten hatte.  Er zog daher
seinen Dolch heraus, machte Zeichen in die umstellenden Bäume und
schlich sich wieder in das Schloß; dort verschaffte er sich einen
Spaten und wartete die Nacht zu seinem Unternehmen ab.

Das Schatzgraben selbst machte übrigens dem kleinen Muck mehr zu
schaffen, als er geglaubt hatte.

Seine Arme waren gar zu schwach, sein Spaten aber groß und schwer;
und er mochte wohl schon zwei Stunden gearbeitet haben, ehe er ein
paar Fuß tief gegraben hatte.  Endlich stieß er auf etwas Hartes, das
wie Eisen klang.  Er grub jetzt emsiger, und bald hatte er einen
großen eisernen Deckel zutage gefördert; er stieg selbst in die Grube
hinab, um nachzuspähen, was wohl der Deckel könnte bedeckt haben, und
fand richtig einen großen Topf, mit Goldstücken angefüllt.  Aber
seine schwachen Kräfte reichten nicht hin, den Topf zu heben, daher
steckte er in seine Beinkleider und seinen Gürtel, so viel er zu
tragen vermochte, und auch sein Mäntelein füllte er damit, bedeckte
das übrige wieder sorgfältig und lud es auf den Rücken.  Aber
wahrlich, wenn er die Pantoffeln nicht an den Füßen gehabt hätte, er
wäre nicht vom Fleck gekommen, so zog ihn die Last des Goldes nieder.
Doch unbemerkt kam er auf sein Zimmer und verwahrte dort sein Gold
unter den Polstern seines Sofas.

Als der kleine Muck sich im Besitz so vielen Goldes sah, glaubte er,
das Blatt werde sich jetzt wenden und er werde sich unter seinen
Feinden am Hofe viele Gönner und warme Anhänger erwerben.  Aber schon
daran konnte man erkennen, daß der gute Muck keine gar sorgfältige
Erziehung genossen haben mußte, sonst hätte er sich wohl nicht
einbilden können, durch Gold wahre Freunde zu gewinnen.  Ach, daß er
damals seine Pantoffeln geschmiert und sich mit seinem Mäntelein voll
Gold aus dem Staub gemacht hätte!

Das Gold, das der kleine Muck von jetzt an mit vollen Händen
austeilte, erweckte den Neid der übrigen Hofbediensteten.  Der
Küchenmeister Ahuli sagte: "Er ist ein Falschmünzer."

Der Sklavenaufseher Achmet sagte: "Er hat's dem König abgeschwatzt."

Archaz, der Schatzmeister, aber, sein ärgster Feind, der selbst hier
und da einen Griff in des Königs Kasse tun mochte, sagte geradezu:
"Er hat's gestohlen."

Um nun ihrer Sache gewiß zu sein, verabredeten sie sich, und der
Obermundschenk Korchuz stellte sich eines Tages recht traurig und
niedergeschlagen vor die Augen des Königs.  Er machte seine traurigen
Gebärden so auffallend, daß ihn der König fragte, was ihm fehle.

"Ah", antwortete er, "ich bin traurig, daß ich die Gnade meines Herrn
verloren habe."

"Was fabelst du, Freund Korchuz?" entgegnete ihm der König.  "Seit
wann hätte ich die Sonne meiner Gnade nicht über dich leuchten
lassen?"  Der Obermundschenk antwortete ihm, daß er ja den geheimen
Oberleibläufer mit Gold belade, seinen armen, treuen Dienern aber
nichts gebe.

Der König war sehr erstaunt über diese Nachricht, ließ sich die
Goldausteilungen des kleinen Muck erzählen, und die Verschworenen
brachten ihm leicht den Verdacht bei, daß Muck auf irgendeine Art das
Geld aus der Schatzkammer gestohlen habe.  Sehr lieb war diese
Wendung der Sache dem Schatzmeister, der ohnehin nicht gerne Rechnung
ablegte.  Der König gab daher den Befehl, heimlich auf alle Schritte
des kleinen Muck achtzugeben, um ihn womöglich auf der Tat zu
ertappen.  Als nun in der Nacht, die auf diesen Unglückstag folgte,
der kleine Muck, da er durch seine Freigebigkeit seine Kasse sehr
erschöpft sah, den Spaten nahm und in den Schloßgarten schlich, um
dort von seinem geheimen Schatze neuen Vorrat zu holen, folgten ihm
von weitem die Wachen, von dem Küchenmeister Ahuli und Archaz, dem
Schatzmeister, angeführt, und in dem Augenblick, da er das Gold aus
dem Topf in sein Mäntelein legen wollte, fielen sie über ihn her,
banden ihn und führten ihn sogleich vor den König.  Dieser, den
ohnehin die Unterbrechung seines Schlafes mürrisch gemacht hatte,
empfing seinen armen Oberleibläufer sehr ungnädig und stellte
sogleich das Verhör über ihn an.  Man hatte den Topf vollends aus der
Erde gegraben und mit dem Spaten und mit dem Mäntelein voll Gold vor
die Füße des Königs gesetzt.  Der Schatzmeister sagte aus, daß er mit
seinen Wachen den Muck überrascht habe, wie er diesen Topf mit Gold
gerade in die Erde gegraben habe.

Der König befragte hierauf den Angeklagten, ob es wahr sei und woher
er das Gold, das er vergraben, bekommen habe.

Der kleine Muck, im Gefühl seiner Unschuld, sagte aus, daß er diesen
Topf im Garten entdeckt habe, daß er ihn habe nicht ein-, sondern
ausgraben wollen.

Alle Anwesenden lachten laut über diese Entschuldigung, der König
aber, aufs höchste erzürnt über die vermeintliche Frechheit des
Kleinen, rief aus: "Wie, Elender!  Du willst deinen König so dumm und
schändlich belügen, nachdem du ihn bestohlen hast?  Schatzmeister
Archaz!  Ich fordere dich auf, zu sagen, ob du diese Summe Goldes für
die nämliche erkennst, die in meinem Schatze fehlt."

Der Schatzmeister aber antwortete, er sei seiner Sache ganz gewiß, so
viel und noch mehr fehle seit einiger Zeit von dem königlichen Schatz,
und er könne einen Eid darauf ablegen, daß dies das Gestohlene sei.

Da befahl der König, den kleinen Muck in enge Ketten zu legen und in
den Turm zu führen; dem Schatzmeister aber übergab er das Gold, um es
wieder in den Schatz zu tragen.  Vergnügt über den glücklichen
Ausgang der Sache, zog dieser ab und zählte zu Haus die blinkenden
Goldstücke; aber das hat dieser schlechte Mann niemals angezeigt, daß
unten in dem Topf ein Zettel lag, der sagte: "Der Feind hat mein Land
überschwemmt, daher verberge ich hier einen Teil meiner Schätze; wer
es auch finden mag, den treffe der Fluch seines Königs, wenn er es
nicht sogleich meinem Sohne ausliefert!  König Sadi."

Der kleine Muck stellte in seinem Kerker traurige Betrachtungen an;
er wußte, daß auf Diebstahl an königlichen Sachen der Tod gesetzt war,
und doch mochte er das Geheimnis mit dem Stäbchen dem König nicht
verraten, weil er mit Recht fürchtete, dieses und seiner Pantoffeln
beraubt zu werden.  Seine Pantoffeln konnten ihm leider auch keine
Hilfe bringen; denn da er in engen Ketten an die Mauer geschlossen
war, konnte er, so sehr er sich quälte, sich nicht auf dem Absatz
umdrehen.  Als ihm aber am anderen Tage sein Tod angekündigt wurde,
da gedachte er doch, es sei besser, ohne das Zauberstäbchen zu leben
als mit ihm zu sterben, ließ den König um geheimes Gehör bitten und
entdeckte ihm das Geheimnis.  Der König maß von Anfang an seinem
Geständnis keinen Glauben bei; aber der kleine Muck versprach eine
Probe, wenn ihm der König zugestünde, daß er nicht getötet werden
solle.

Der König gab ihm sein Wort darauf und ließ, von Muck ungesehen,
einiges Gold in die Erde graben und befahl diesem, mit seinem
Stäbchen zu suchen.  In wenigen Augenblicken hatte er es gefunden;
denn das Stäbchen schlug deutlich dreimal auf die Erde.  Da merkte
der König, daß ihn sein Schatzmeister betrogen hatte, und sandte ihm,
wie es im Morgenland gebräuchlich ist, eine seidene Schnur, damit er
sich selbst erdroßle.  Zum kleinen Muck aber sprach er: "Ich habe dir
zwar dein Leben versprochen; aber es scheint mir, als ob du nicht
allein dieses Geheimnis mit dem Stäbchen besitzest; darum bleibst du
in ewiger Gefangenschaft, wenn du nicht gestehst, was für eine
Bewandtnis es mit deinem Schnellaufen hat."  Der kleine Muck, den die
einzige Nacht im Turm alle Lust zu längerer Gefangenschaft benommen
hatte, bekannte, daß seine ganze Kunst in den Pantoffeln liege, doch
lehrte er den König nicht das Geheimnis von dem dreimaligen Umdrehen
auf dem Absatz.  Der König schlüpfte selbst in die Pantoffeln, um die
Probe zu machen, und jagte wie unsinnig im Garten umher; oft wollte
er anhalten; aber er wußte nicht, wie man die Pantoffeln zum Stehen
brachte, und der kleine Muck, der diese kleine Rache sich nicht
versagen konnte, ließ ihn laufen, bis er ohnmächtig niederfiel.

Als der König wieder zur Besinnung zurückgekehrt war, war er
schrecklich aufgebracht über den kleinen Muck, der ihn so ganz außer
Atem hatte laufen lassen.  "Ich habe dir mein Wort gegeben, dir
Freiheit und Leben zu schenken; aber innerhalb zwölf Stunden mußt du
mein Land verlassen, sonst lasse ich dich aufknöpfen!"  Die Pantoffeln
und das Stäbchen aber ließ er in seine Schatzkammer legen.

So arm als je wanderte der kleine Muck zum Land hinaus, seine Torheit
verwünschend, die ihm vorgespiegelt hatte, er könne eine bedeutende
Rolle am Hofe spielen.  Das Land, aus dem er gejagt wurde, war zum
Glück nicht groß, daher war er schon nach acht Stunden auf der Grenze,
obgleich ihn das Gehen, da er an seine lieben Pantoffeln gewöhnt war,
sehr sauer ankam.

Als er über der Grenze war, verließ er die gewöhnliche Straße, um die
dichteste Einöde der Wälder aufzusuchen und dort nur sich zu leben;
denn er war allen Menschen gram.  In einem dichten Walde traf er auf
einen Platz, der ihm zu dem Entschluß, den er gefaßt hatte, ganz
tauglich schien.  Ein klarer Bach, von großen, schattigen
Feigenbäumen umgeben, ein weicher Rasen luden ihn ein; hier warf er
sich nieder mit dem Entschluß, keine Speise mehr zu sich zu nehmen,
sondern hier den Tod zu erwarten.  Über traurigen
Todesbetrachtungen schlief er ein; als er aber wieder aufwachte und
der Hunger ihn zu quälen anfing, bedachte er doch, daß der Hungertod
eine gefährliche Sache sei, und sah sich um, ob er nirgends etwas zu
essen bekommen könnte.

Köstliche reife Feigen hingen an dem Baume, unter welchem er
geschlafen hatte; er stieg hinauf, um sich einige zu pflücken, ließ
es sich trefflich schmecken und ging dann hinunter an den Bach, um
seinen Durst zu löschen.  Aber wie groß war sein Schrecken, als ihm
das Wasser seinen Kopf mit zwei gewaltigen Ohren und einer dicken,
langen Nase geschmückt zeigte!  Bestürzt griff er mit den Händen nach
den Ohren, und wirklich, sie waren über eine halbe Elle lang.

"Ich verdiene Eselsohren!" rief er aus; "denn ich habe mein Glück wie
ein Esel mit Füßen getreten."  Er wanderte unter den Bäumen umher, und
als er wieder Hunger fühlte, mußte er noch einmal zu den Feigen seine
Zuflucht nehmen; denn sonst fand er nichts Eßbares an den Bäumen.
Als ihm über der zweiten Portion Feigen einfiel, ob wohl seine Ohren
nicht unter seinem großen Turban Platz hätten, damit er doch nicht
gar zu lächerlich aussehe, fühlte er, daß seine Ohren verschwunden
waren.  Er lief gleich an den Bach zurück, um sich davon zu
überzeugen, und wirklich, es war so, seine Ohren hatten ihre vorige
Gestalt, seine lange, unförmliche Nase war nicht mehr.  Jetzt merkte
er aber, wie dies gekommen war; von dem ersten Feigenbaum hatte er
die lange Nase und Ohren bekommen, der zweite hatte ihn geheilt;
freudig erkannte er, daß sein gütiges Geschick ihm noch einmal die
Mittel in die Hand gebe, glücklich zu sein.  Er pflückte daher von
jedem Baum so viel, wie er tragen konnte, und ging in das Land zurück,
das er vor kurzem verlassen hatte.  Dort machte er sich in dem
ersten Städtchen durch andere Kleider ganz unkenntlich und ging dann
weiter auf die Stadt zu, die jener König bewohnte, und kam auch bald
dort an.

Es war gerade zu einer Jahreszeit, wo reife Früchte noch ziemlich
selten waren; der kleine Muck setzte sich daher unter das Tor des
Palastes; denn ihm war von früherer Zeit her wohl bekannt, daß hier
solche Seltenheiten von dem Küchenmeister für die königliche Tafel
eingekauft wurden.  Muck hatte noch nicht lange gesessen, als er den
Küchenmeister über den Hof herüberschreiten sah.  Er musterte die
Waren der Verkäufer, die sich am Tor des Palastes eingefunden hatten;
endlich fiel sein Blick auch auf Mucks Körbchen.  "Ah, ein seltener
Bissen", sagte er, "der Ihro Majestät gewiß behagen wird.  Was willst
du für den ganzen Korb?"  Der kleine Muck bestimmte einen mäßigen
Preis, und sie waren bald des Handels einig.  Der Küchenmeister
übergab den Korb einem Sklaven und ging weiter; der kleine Muck aber
macht sich einstweilen aus dem Staub, weil er befürchtete, wenn sich
das Unglück an den Köpfen des Hofes zeigte, möchte man ihn als
Verkäufer aufsuchen und bestrafen.

Der König war über Tisch sehr heiter gestimmt und sagte seinem
Küchenmeister einmal über das andere Lobsprüche wegen seiner guten
Küche und der Sorgfalt, mit der er immer das Seltenste für ihn
aussuche; der Küchenmeister aber, welcher wohl wußte, welchen
Leckerbissen er noch im Hintergrund habe, schmunzelte gar freundlich
und ließ nur einzelne Worte fallen, als: "Es ist noch nicht aller
Tage Abend", oder "Ende gut, alles gut", so daß die Prinzessinnen
sehr neugierig wurden, was er wohl noch bringen werde.  Als er aber
die schönen, einladenden Feigen aufsetzen ließ, da entfloh ein
allgemeines Ah! dem Munde der Anwesenden.

"Wie reif, wie appetitlich!" rief der König.  "Küchenmeister, du bist
ein ganzer Kerl und verdienst unsere ganz besondere Gnade!"  Also
sprechend, teilte der König, der mit solchen Leckerbissen sehr
sparsam zu sein pflegte, mit eigener Hand die Feigen an seiner Tafel
aus.  Jeder Prinz und jede Prinzessin bekam zwei, die Hofdamen und
die Wesire und Agas eine, die übrigen stellte er vor sich hin und
begann mit großem Behagen sie zu verschlingen.

"Aber, lieber Gott, wie siehst du so wunderlich aus, Vater?" rief auf
einmal die Prinzessin Amarza.  Alle sahen den König erstaunt an;
ungeheure Ohren hingen ihm am Kopf, eine lange Nase zog sich über
sein Kinn herunter; auch sich selbst betrachteten sie untereinander
mit Staunen und Schrecken; alle waren mehr oder minder mit dem
sonderbaren Kopfputz geschmeckt.

Man denke sich den Schrecken des Hofes!  Man schickte sogleich nach
allen Ärzten der Stadt; sie kamen haufenweise, verordneten Pillen und
Mixturen; aber die Ohren und die Nasen blieben.  Man operierte einen
der Prinzen; aber die Ohren wuchsen nach.

Muck hatte die ganze Geschichte in seinem Versteck, wohin er sich
zurückgezogen hatte, gehört und erkannte, daß es jetzt Zeit sei zu
handeln.  Er hatte sich schon vorher von dem aus den Feigen gelösten
Geld einen Anzug verschafft, der ihn als Gelehrten darstellen konnte;
ein langer Bart aus Ziegenhaaren vollendete die Täuschung.  Mit einem
Säckchen voll Feigen wanderte er in den Palast des Königs und bot als
fremder Arzt seine Hilfe an.  Man war von Anfang sehr ungläubig; als
aber der kleine Muck eine Feige einem der Prinzen zu essen gab und
Ohren und Nase dadurch in den alten Zustand zurückbrachte, da wollte
alles von dem fremden Arzte geheilt sein.  Aber der König nahm ihn
schweigend bei der Hand und führte ihn in sein Gemach; dort schloß er
eine Türe auf, die in die Schatzkammer führte, und winkte Muck, ihm
zu folgen.  "Hier sind meine Schätze", sprach der König, "wähle dir,
was es auch sei, es soll dir gewährt werden, wenn du mich von diesem
schmachvollen Übel befreist."

Das war süße Musik in des kleinen Muck Ohren; er hatte gleich beim
Eintritt seine Pantoffeln auf dem Boden stehen sehen, gleich daneben
lag auch sein Stäbchen.  Er ging nun umher in dem Saal, wie wenn er
die Schätze des Königs bewundern wollte; kaum aber war er an seine
Pantoffeln gekommen, so schlüpfte er eilends hinein, ergriff sein
Stäbchen, riß seinen falschen Bart herab und zeigte dem erstaunten
König das wohlbekannte Gesicht seines verstoßenen Muck.  "Treuloser
König", sprach er, "der du treue Dienste mit Undank lohnst, nimm als
wohlverdiente Strafe die Mißgestalt, die du trägst.  Die Ohren laß
ich dir zurück, damit sie dich täglich erinnern an den kleinen Muck."
Als er so gesprochen hatte, drehte er sich schnell auf dem Absatz
herum, wünschte sich weit hinweg, und ehe noch der König um Hilfe
rufen konnte, war der kleine Muck entflohen.  Seitdem lebt der kleine
Muck hier in großem Wohlstand, aber einsam; denn er verachtet die
Menschen.  Er ist durch Erfahrung ein weiser Mann geworden, welcher,
wenn auch sein Äußeres etwas Auffallendes haben mag, deine
Bewunderung mehr als deinen Spott verdient.

"So erzählte mir mein Vater; ich bezeugte ihm meine Reue über mein
rohes Betragen gegen den guten kleinen Mann, und mein Vater schenkte
mir die andere Hälfte der Strafe, die er mir zugedacht hatte.  Ich
erzählte meinen Kameraden die wunderbaren Schicksale des Kleinen, und
wir gewannen ihn so lieb, daß ihn keiner mehr schimpfte.  Im
Gegenteil, wir ehrten ihn, solange er lebte, und haben uns vor ihm
immer so tief wie vor Kadi und Mufti gebückt."

Die Reisenden beschlossen, einen Rasttag in dieser Karawanserei zu
machen, um sich und die Tiere zur weiteren Reise zu stärken.  Die
gestrige Fröhlichkeit ging auch auf diesen Tag über, und sie
ergötzten sich in allerlei Spielen.  Nach dem Essen aber riefen sie
dem fünften Kaufmann, Ali Sizah, zu, auch seine Schuldigkeit gleich
den übrigen zu tun und eine Geschichte zu erzählen.  Er antwortete,
sein Leben sei zu arm an auffallenden Begebenheiten, als daß er ihnen
etwas davon mitteilen möchte, daher wolle er ihnen etwas anderes
erzählen, nämlich: Das Märchen vom falschen Prinzen.



Das Märchen vom falschen Prinzen

Wilhelm Hauff


Es war einmal ein ehrsamer Schneidergeselle, namens Labakan, der bei
einem geschickten Meister in Alessandria sein Handwerk lernte.  Man
konnte nicht sagen, daß Labakan ungeschickt mit der Nadel war, im
Gegenteil, er konnte recht feine Arbeit machen.  Auch tat man ihm
unrecht, wenn man ihn geradezu faul schalt; aber ganz richtig war es
doch nicht mit dem Gesellen, denn er konnte oft stundenweis in einem
fort nähen, daß ihm die Nadel in der Hand glühend ward und der Faden
rauchte, da gab es ihm dann ein Stück wie keinem anderen; ein
andermal aber, und dies geschah leider öfters, saß er in tiefen
Gedanken, sah mit starren Augen vor sich hin und hatte dabei in
Gesicht und Wesen etwas so Eigenes, daß sein Meister und die übrigen
Gesellen von diesem Zustand nie anders sprachen als: "Labakan hat
wieder sein vornehmes Gesicht."

Am Freitag aber, wenn andere Leute vom Gebet ruhig nach Haus an ihre
Arbeit gingen, trat Labakan in einem schönen Kleid, das er sich mit
vieler Mühe zusammengespart hatte, aus der Moschee, ging langsam und
stolzen Schrittes durch die Plätze und Straßen der Stadt, und wenn
ihm einer seiner Kameraden ein "Friede sei mit dir", oder "Wie geht
es, Freund Labakan?" bot, so winkte er gnädig mit der Hand oder
nickte, wenn es hoch kam, vornehm mit dem Kopf.  Wenn dann sein
Meister im Spaß zu ihm sagte: "An dir ist ein Prinz verlorengegangen,
Labakan", so freute er sich darüber und antwortete: "Habt Ihr das
auch bemerkt?" oder: "Ich habe es schon lange gedacht!"

So trieb es der ehrsame Schneidergeselle Labakan schon eine geraume
Zeit, sein Meister aber duldete seine Narrheit, weil er sonst ein
guter Mensch und geschickter Arbeiter war.  Aber eines Tages schickte
Selim, der Bruder des Sultans, der gerade durch Alessandria reiste,
ein Festkleid zu dem Meister, um einiges daran verändern zu lassen,
und der Meister gab es Labakan, weil dieser die feinste Arbeit machte.
Als abends der Meister und die Gesellen sich hinwegbegeben hatten,
um nach des Tages Last sich zu erholen, trieb eine unwiderstehliche
Sehnsucht Labakan wieder in die Werkstatt zurück, wo das Kleid des
kaiserlichen Bruders hing.  Er stand lange sinnend davor, bald den
Glanz der Stickerei, bald die schillernden Farben des Samts und der
Seide an dem Kleide bewundernd.  Er konnte nicht anders, er mußte es
anziehen, und siehe da, es paßte ihm so trefflich, wie wenn es für
ihn wäre gemacht worden.  "Bin ich nicht so gut ein Prinz als einer?"
fragte er sich, indem er im Zimmer auf und ab schritt.  "Hat nicht
der Meister selbst schon gesagt, daß ich zum Prinzen geboren sei?"
Mit den Kleidern schien der Geselle eine ganz königliche Gesinnung
angezogen zu haben; er konnte sich nicht anders denken, als er sei
ein unbekannter Königssohn, und als solcher beschloß er, in die Welt
zu reisen und einen Ort zu verlassen, wo die Leute bisher so töricht
gewesen waren, unter der Hülle seines niederen Standes nicht seine
angebotene Würde zu erkennen.  Das prachtvolle Kleid schien ihm von
einer gütigen Fee geschickt, er hütete sich daher wohl, ein so teures
Geschenk zu verschmähen, steckte seine geringe Barschaft zu sich und
wanderte, begünstigt von dem Dunkel der Nacht, aus Alessandrias Toren.

Der neue Prinz erregte überall auf seiner Wanderschaft Verwunderung,
denn das prachtvolle Kleid und sein ernstes, majestätisches Wesen
wollten gar nicht passen für einen Fußgänger.  Wenn man ihn darüber
befragte, pflegte er mit geheimnisvoller Miene zu antworten, daß das
seine eigenen Ursachen habe.  Als er aber merkte, daß er sich durch
seine Fußwanderungen lächerlich machte, kaufte er um geringen Preis
ein altes Roß, welches sehr für ihn paßte, da es ihn mit seiner
gesetzten Ruhe und Sanftmut nie in die Verlegenheit brachte, sich als
geschickter Reiter zeigen zu müssen, was gar nicht seine Sache war.

Eines Tages, als er Schritt vor Schritt auf seinem Murva, so hatte er
sein Roß genannt,; seine Straße zog, schloß sich ein Reiter an ihn an
und bat ihn, in seiner Gesellschaft reiten zu dürfen, weil ihm der
Weg viel kürzer werde im Gespräch mit einem anderen.  Der Reiter war
ein fröhlicher, junger Mann, schön und angenehm im Umgang.  Er hatte
mit Labakan bald ein Gespräch angeknüpft über Woher und Wohin, und es
traf sich, daß auch er, wie der Schneidergeselle, ohne Plan in die
Welt hinauszog.  Er sagte, er heiße Omar, sei der Neffe Elfi Beys,
des unglücklichen Bassas von Kairo, und reise nun umher, um einen
Auftrag, den ihm sein Oheim auf dem Sterbebette erteilt habe,
auszurichten.  Labakan ließ sich nicht so offenherzig über seine
Verhältnisse aus, er gab ihm zu verstehen, daß er von hoher Abkunft
sei und zu seinem Vergnügen reise.

Die beiden jungen Herren fanden Gefallen aneinander und zogen fürder.
Am zweiten Tage ihrer gemeinschaftlichen Reise fragte Labakan seinen
Gefährten Omar nach den Aufträgen, die er zu besorgen habe, und
erfuhr zu seinem Erstaunen folgendes: Elfi Bey, der Bassa von Kairo,
hatte den Omar seit seiner frühesten Kindheit erzogen, und dieser
hatte seine Eltern nie gekannt.  Als nun Elfi Bey von seinen Feinden
überfallen worden war und nach drei unglücklichen Schlachten, tödlich
verwundet, fliehen mußte, entdeckte er seinem Zögling, daß er nicht
sein Neffe sei, sondern der Sohn eines mächtigen Herrschers, welcher
aus Furcht vor den Prophezeiungen seiner Sterndeuter den jungen
Prinzen von seinem Hofe entfernt habe, mit dem Schwur, ihn erst an
seinem zweiundzwanzigsten Geburtstage wiedersehen zu wollen.  Elfi
Bey habe ihm den Namen seines Vaters nicht genannt, sondern ihm nur
aufs bestimmteste aufgetragen, am fünften Tage des kommenden Monats
Ramadan, an welchem Tage er zweiundzwanzig Jahre alt werde, sich an
der berühmten Säule El-Serujah, vier Tagreisen östlich von
Alessandria, einzufinden; dort soll er den Männern, die an der Säule
stehen würden, einen Dolch, den er ihm gab, überreichen mit den
Worten: "leer bin ich, den ihr suchet"; wenn sie antworteten: "Gelobt
sei der Prophet, der dich erhielt!", so solle er ihnen folgen, sie
würden ihn zu seinem Vater führen.

Der Schneidergeselle Labakan war sehr erstaunt über diese Mitteilung,
er betrachtete von jetzt an den Prinzen Omar mit neidischen Augen,
erzürnt darüber, daß das Schicksal jenem, obgleich er schon für den
Neffen eines mächtigen Bassa galt, noch die Würde eines Fürstensohnes
verliehen, ihm aber, den es mit allem, was einem Prinzen nottut,
ausgerüstet, gleichsam zum Hohn eine dunkle Geburt und einen
gewöhnlichen Lebensweg verliehen habe.  Er stellte Vergleichungen
zwischen sich und dem Prinzen an.  Er mußte sich gestehen, es sei
jener ein Mann von sehr vorteilhafter Gesichtsbildung; schöne,
lebhafte Augen, eine kühngebogene Nase, ein sanftes, zuvorkommendes
Benehmen, kurz, so viele Vorzüge des Äußeren, die jemand empfehlen
können, waren jenem eigen.  Aber so viele Vorzüge er auch an seinem
Begleiter fand, so gestand er sich doch bei diesen Beobachtungen, daß
ein Labakan dem fürstlichen Vater wohl noch willkommener sein dürfte
als der wirkliche Prinz.

Diese Betrachtungen verfolgten Labakan den ganzen Tag, mit ihnen
schlief er im nächsten Nachtlager ein, aber als er morgens aufwachte
und sein Blick auf den neben ihm schlafenden Omar fiel, der so ruhig
schlafen und von seinem gewissen Glück träumen konnte, da erwachte in
ihm der Gedanke, sich durch List oder Gewalt zu erstreben, was ihm
das ungünstige Schicksal versagt hatte.  Der Dolch, das
Erkennungszeichen des heimkehrenden Prinzen, sah aus dem Gürtel des
Schlafenden hervor, leise zog er ihn hervor, um ihn in die Brust des
Eigentümers zu stoßen.  Doch vor dem Gedanken des Mordes entsetzte
sich die friedfertige Seele des Gesellen; er begnügte sich, den Dolch
zu sich zu stecken, das schnellere Pferd des Prinzen für sich
aufzäumen zu lassen, und ehe Omar aufwachte und sich aller seiner
Hoffnungen beraubt sah, hatte sein treuloser Gefährte schon einen
Vorsprung von mehreren Meilen.

Es war gerade der erste Tag des heiligen Monats Ramadan, an welchem
Labakan den Raub an dem Prinzen begangen hatte, und er hatte also
noch vier Tage, um zu der Säule El Serujah, welche ihm wohlbekannt
war, zu gelangen.  Obgleich die Gegend, worin sich diese Säule befand,
höchstens noch zwei Tagreisen entfernt sein konnte, so beeilte er
sich doch hinzukommen, weil er immer fürchtete, von dem wahren
Prinzen eingeholt zu werden.

Am Ende des zweiten Tages erblickte Labakan die Säule El-Serujah.
Sie stand auf einer kleinen Anhöhe in einer weiten Ebene und konnte
auf zwei bis drei Stunden gesehen werden.  Labakans Herz pochte
lauter bei diesem Anblick; obgleich er die letzten zwei Tage hindurch
Zeit genug gehabt, über die Rolle, die er zu spielen hatte,
nachzudenken, so machte ihn doch das böse Gewissen etwas ängstlich,
aber der Gedanke, daß er zum Prinzen geboren sei, stärkte ihn wieder,
so daß er getrösteter seinem Ziele entgegenging.

Die Gegend um die Säule El-Serujah war unbewohnt und öde, und der
neue Prinz wäre wegen seines Unterhalts etwas in Verlegenheit
gekommen, wenn er sich nicht auf mehrere Tage versehen hätte.  Er
lagerte sich also neben seinem Pferd unter einigen Palmen und
erwartete dort sein ferneres Schicksal.

Gegen die Mitte des anderen Tages sah er einen großen Zug von Pferden
und Kamelen über die Ebene her auf die Säule El-Serujah zuziehen.
Der Zug hielt am Fuße des Hügels, auf welchem die Säule stand, man
schlug prächtige Zelte auf, und das Ganze sah aus wie der Reisezug
eines reichen Bassa oder Scheik.  Labakan ahnte, daß die vielen Leute,
welche er sah, sich seinetwegen hierher bemüht hatten, und hätte
ihnen gerne schon heute ihren künftigen Gebieter gezeigt; aber er
mäßigte seine Begierde, als Prinz aufzutreten, da ja doch der nächste
Morgen seine kühnsten Wünsche vollkommen befriedigen mußte.

Die Morgensonne weckte den überglücklichen Schneider zu dem
wichtigsten Augenblick seines Lebens, welcher ihn aus einem niederen,
unbekannten Sterblichen an die Seite eines fürstlichen Vaters erheben
sollte; zwar fiel ihm, als er sein Pferd aufzäumte, um zu der Säule
hinzureiten, wohl auch das Unrechtmäßige seines Schrittes ein; zwar
führten ihm seine Gedanken den Schmerz des in seinen schönen
Hoffnungen betrogenen Fürstensohnes vor, aber--der Würfel war
geworfen, er konnte nicht mehr ungeschehen machen, was geschehen war,
und seine Eigenliebe flüsterte ihm zu, daß er stattlich genug aussehe,
um dem mächtigsten König sich als Sohn vorzustellen; ermutigt durch
diesen Gedanken, schwang er sich auf sein Roß, nahm alle seine
Tapferkeit zusammen, um es in einen ordentlichen Galopp zu bringen,
und in weniger als einer Viertelstunde war er am Fuße des Hügels
angelangt.  Er stieg ab von seinem Pferd und band es an eine Staude,
deren mehrere an dem Hügel wuchsen; hierauf zog er den Dolch des
Prinzen Omar hervor und stieg den Hügel hinan.  Am Fuß der Säule
standen sechs Männer um einen Greis von hohem, königlichem Ansehen;
ein prachtvoller Kaftan von Goldstoff, mit einem weißen Kaschmirschal
umgürtet, der weiße, mit blitzenden Edelsteinen geschmückte Turban
bezeichneten ihn als einen Mann von Reichtum und Würde.

Auf ihn ging Labakan zu, neigte sich tief vor ihm und sprach, indem
er den Dolch darreichte: "Hier bin ich, den Ihr suchet. "

"Gelobt sei der Prophet, der dich erhielt!" antwortete der Greis mit
Freudentränen.  "Umarme deinen alten Vater, mein geliebter Sohn Omar!"
Der gute Schneider war sehr gerührt durch diese feierlichen Worte
und sank mit einem Gemisch von Freude und Scham in die Arme des alten
Fürsten.

Aber nur einen Augenblick sollte er ungetrübt die Wonne seines neuen
Standes genießen; als er sich aus den Armen des fürstlichen Greises
aufrichtete, sah er einen Reiter über die Ebene her auf den Hügel
zueilen.  Der Reiter und sein Roß gewährten einen sonderbaren Anblick;
das Roß schien aus Eigensinn oder Müdigkeit nicht vorwärts zu wollen,
in einem stolpernden Gang, der weder Schritt noch Trab war, zog es
daher, der Reiter aber trieb es mit Händen und Füßen zu schnellerem
Laufe an.  Nur zu bald erkannte Labakan sein Roß Murva und den echten
Prinzen Omar, aber der böse Geist der Lüge war einmal in ihn gefahren,
und er beschloß, wie es auch kommen möge, mit eiserner Stirne seine
angemaßten Rechte zu behaupten.

Schon aus der Ferne hatte man den Reiter winken gesehen; jetzt war er
trotz des schlechten Trabes des Rosses Murva am Fuße des Hügels
angekommen, warf sich vom Pferd und stürzte den Hügel hinan.  "Haltet
ein!" rief er.  "Wer ihr auch sein möget, haltet ein und laßt euch
nicht von dem schändlichsten Betrüger täuschen; ich heiße Omar, und
kein Sterblicher wage es, meinen Namen zu mißbrauchen!"

Auf den Gesichtern der Umstehenden malte sich tiefes Erstaunen über
diese Wendung der Dinge; besonders schien der Greis sehr betroffen,
indem er bald den einen, bald den anderen fragend ansah; Labakan aber
sprach mit mühsam errungener Ruhe: "Gnädigster Herr und Vater, laßt
Euch nicht irremachen durch diesen Menschen da!  Es ist, soviel ich
weiß, ein wahnsinniger Schneidergeselle aus Alessandria, Labakan
geheißen, der mehr unser Mitleid als unseren Zorn verdient."

Bis zur Raserei aber brachten diese Worte den Prinzen; schäumend vor
Wut wollte er auf Labakan eindringen, aber die Umstehenden warfen
sich dazwischen und hielten ihn fest, und der Fürst sprach:
"Wahrhaftig, mein lieber Sohn, der arme Mensch ist verrückt; man
binde ihn und setze ihn auf eines unserer Dromedare, vielleicht, daß
wir dem Unglücklichen Hilfe schaffen können."

Die Wut des Prinzen hatte sich gelegt, weinend rief er dem Fürsten zu:
"Mein Herz sagt mir, daß Ihr mein Vater seid; bei dem Andenken
meiner Mutter beschwöre ich Euch, hört mich an!"

"Ei, Gott bewahre uns!" antwortete dieser, "er fängt schon wieder an,
irre zu reden, wie doch der Mensch auf so tolle Gedanken kommen kann!"
Damit ergriff er Labakans Arm und ließ sich von ihm den Hügel
hinuntergeleiten; sie setzten sich beide auf schöne, mit reichen
Decken behängte Pferde und ritten an der Spitze des Zuges über die
Ebene hin.  Dem unglücklichen Prinzen aber fesselte man die Hände und
band ihn auf einem Dromedar fest, und zwei Reiter waren ihm immer zur
Seite, die ein wachsames Auge auf jede seiner Bewegungen hatten.

Der fürstliche Greis war Saaud, der Sultan der Wechabiten.  Er hatte
lange ohne Kinder gelebt, endlich wurde ihm ein Prinz geboren, nach
dem er sich so lange gesehnt hatte; aber die Sterndeuter, welche er
um die Vorbedeutungen des Knaben befragte, taten den Ausspruch, "daß
er bis ins zweiundzwanzigste Jahr in Gefahr stehe, von einem Feinde
verdrängt zu werden", deswegen, um recht sicherzugehen, hatte der
Sultan den Prinzen seinem alten, erprobten Freunde Elfi-Bey zum
Erziehen gegeben und zweiundzwanzig schmerzliche Jahre auf seinen
Anblick geharrt.

Dieses hatte der Sultan seinem (vermeintlichen) Sohne erzählt und
sich ihm außerordentlich zufrieden mit seiner Gestalt und seinem
würdevollen Benehmen gezeigt.

Als sie in das Land des Sultans kamen, wurden sie überall von den
Einwohnern mit Freudengeschrei empfangen; denn das Gerücht von der
Ankunft des Prinzen hatte sich wie ein Lauffeuer durch alle Städte
und Dörfer verbreitet.  Auf den Straßen, durch welche sie zogen,
waren Bögen von Blumen und Zweigen errichtet, glänzende Teppiche von
allen Farben schmeckten die Häuser, und das Volk pries laut Gott und
seinen Propheten, der ihnen einen so schönen Prinzen gesandt habe.
Alles dies erfüllte das stolze Herz des Schneiders mit Wonne; desto
unglücklicher mußte sich aber der echte Omar fühlen, der, noch immer
gefesselt, in stiller Verzweiflung dem Zuge folgte.  Niemand kümmerte
sich um ihn bei dem allgemeinen Jubel, der doch ihm galt; den Namen
Omar riefen tausend und wieder tausend Stimmen, aber ihn, der diesen
Namen mit Recht trug, ihn beachtete keiner; höchstens fragte einer
oder der andere, wen man denn so fest gebunden mit fortfahre, und
schrecklich tönte in das Ohr des Prinzen die Antwort seiner Begleiter,
es sei ein wahnsinniger Schneider.

Der Zug war endlich in die Hauptstadt des Sultans gekommen, wo alles
noch glänzender zu ihrem Empfang bereitet war als in den übrigen
Städten.  Die Sultanin, eine ältliche, ehrwürdige Frau, erwartete sie
mit ihrem ganzen Hofstaat in dem prachtvollsten Saal des Schlosses.
Der Boden dieses Saales war mit einem ungeheuren Teppich bedeckt, die
Wände waren mit hellblauem Tuch geschmeckt, das in goldenen Quasten
und Schnüren an großen, silbernen Haken hing.

Es war schon dunkel, als der Zug anlangte, daher waren im Saale viele
kugelrunde, farbige Lampen angezündet, welche die Nacht zum Tag
erhellten.  Am klarsten und vielfarbigsten strahlten sie aber im
Hintergrund des Saales, wo die Sultanin auf einem Throne saß.  Der
Thron stand auf vier Stufen und war von lauterem Golde und mit großen
Amethysten ausgelegt.  Die vier vornehmsten Emire hielten einen
Baldachin von roter Seide über dem Haupte der Sultanin, und der
Scheik von Medina fächelte ihr mit einer Windfuchtel von weißen
Pfauenfedern Kühlung zu.

So erwartete die Sultanin ihren Gemahl und ihren Sohn, auch sie hatte
ihn seit seiner Geburt nicht mehr gesehen, aber bedeutsam Träume
hatten ihr den Ersehnten gezeigt, daß sie ihn aus Tausenden erkennen
wollte.  Jetzt hörte man das Geräusch des nahenden Zuges, Trompeten
und Trommeln mischten sich in das Zujauchzen der Menge, der Hufschlag
der Rosse tönte im Hof des Palastes, näher und näher rauschten die
Tritte der Kommenden, die Türen des Saales flogen auf, und durch die
Reihen der niederfallenden Diener eilte der Sultan an der Hand seines
Sohnes vor den Thron der Mutter.

"Hier", sprach er, "bringe ich dir den, nach welchem du dich so lange
gesehnet."

Die Sultanin aber fiel ihm in die Rede: "Das ist mein Sohn nicht!"
rief sie aus, "das sind nicht die Züge, die mir der Prophet im Traume
gezeigt hat!"

Gerade, als ihr der Sultan ihren Aberglauben verweisen wollte, sprang
die Türe des Saales auf.  Prinz Omar stürzte herein, verfolgt von
seinen Wächtern, denen er sich mit Anstrengung aller seiner Kraft
entrissen hatte, er warf sich atemlos vor dem Throne nieder: "leer
will ich sterben, laßt mich töten, grausamer Vater; denn diese
Schmach dulde ich nicht länger!"

Alles war bestürzt über diese Reden; man drängte sich um den
Unglücklichen her, und schon wollten ihn die herbeieilenden Wachen
ergreifen und ihm wieder seine Bande anlegen, als die Sultanin, die
in sprachlosem Erstaunen dieses alles mit angesehen hatte, von dem
Throne aufsprang.  "Haltet ein!" rief sie, "dieser und kein anderer
ist der Rechte, dieser ist's, den meine Augen nie gesehen und den
mein Herz doch gekannt hat!"

Die Wächter hatten unwillkürlich von Omar abgelassen, aber der Sultan,
entflammt von wütendem Zorn, rief ihnen zu, den Wahnsinnigen zu
binden: "Ich habe hier zu entscheiden", sprach er mit gebietender
Stimme, "und hier richtet man nicht nach den Träumen der Weiber,
sondern nach gewissen, untrüglichen Zeichen.  Dieser hier (indem er
auf Labakan zeigte) ist mein Sohn; denn er hat mir das Wahrzeichen
meines Freundes Elfi, den Dolch, gebracht."

"Gestohlen hat er ihn", schrie Omar, "mein argloses Vertrauen hat er
zum Verrat mißbraucht!"  Der Sultan aber hörte nicht auf die Stimme
seines Sohnes; denn er war in allen Dingen gewohnt, eigensinnig nur
seinem Urteil zu folgen; daher ließ er den unglücklichen Omar mit
Gewalt aus dem Saal schleppen.  Er selbst aber begab sich mit Labakan
in sein Gemach, voll Wut über die Sultanin, seine Gemahlin, mit der
er doch seit fünfundzwanzig Jahren in Frieden gelebt hatte.

Die Sultanin aber war voll Kummer über diese Begebenheiten; sie war
vollkommen überzeugt, daß ein Betrüger sich des Herzens des Sultans
bemächtigt hatte, denn jenen Unglücklichen hatten ihr so viele
bedeutsam Träume als ihren Sohn gezeigt.

Als sich ihr Schmerz ein wenig gelegt hatte, sann sie auf Mittel, um
ihren Gemahl von seinem Unrecht zu überzeugen.  Es war dies
allerdings schwierig; denn jener, der sich für ihren Sohn ausgab,
hatte das Erkennungszeichen, den Dolch, überreicht und hatte auch,
wie sie erfuhr, so viel von Omars früherem Leben von diesem selbst
sich erzählen lassen, daß er seine Rolle, ohne sich zu verraten,
spielte.

Sie berief die Männer zu sich, die den Sultan zu der Säule El-Serujah
begleitet hatten, um sich alles genau erzählen zu lassen, und hielt
dann mit ihren vertrautesten Sklavinnen Rat.  Sie wählten und
verwarfen dies und jenes Mittel; endlich sprach Melechsalah, eine
alte, kluge Zierkassierin: "Wenn ich recht gehört habe, verehrte
Gebieterin, so nannte der Überbringer des Dolches den, welchen du für
deinen Sohn hältst, Labakan, einen verwirrten Schneider?"

"Ja, so ist es", antwortete die Sultanin, "aber was willst du damit?"

"Was meint Ihr", fuhr jene fort, "wenn dieser Betrüger Eurem Sohn
seinen eigenen Namen aufgeheftet hätte?--Und wenn dies ist, so gibt
es ein herrliches Mittel, den Betrüger zu fangen, das ich Euch ganz
im geheimen sagen will."  Die Sultanin bot ihrer Sklavin das Ohr, und
diese flüsterte ihr einen Rat zu, der ihr zu behagen schien, denn sie
schickte sich an, sogleich zum Sultan zu gehen.

Die Sultanin war eine kluge Frau, welche wohl die schwachen Seiten
des Sultans kannte und sie zu benützen verstand.  Sie schien daher,
ihm nachgeben und den Sohn anerkennen zu wollen, und bat sich nur
eine Bedingung aus; der Sultan, dem sein Aufbrausen gegen seine Frau
leid tat, gestand die Bedingung zu, und sie sprach: "Ich möchte gerne
den beiden eine Probe ihrer Geschicklichkeit auferlegen; eine andere
würde sie vielleicht reiten, fechten oder Speere werfen lassen, aber
das sind Sachen, die ein jeder kann; nein, ich will ihnen etwas geben,
wozu Scharfsinn gehört!  Es soll nämlich jeder von ihnen einen
Kaftan und ein Paar Beinkleider verfertigen, und da wollen wir einmal
sehen, wer die schönsten macht."

Der Sultan lachte und sprach: "Ei, da hast du ja etwas recht Kluges
ausgesonnen.  Mein Sohn sollte mit deinem wahnsinnigen Schneider
wetteifern, wer den besten Kaftan macht?  Nein, das ist nichts."

Die Sultanin aber berief sich darauf, daß er ihr die Bedingung zum
Voraus zugesagt habe, und der Sultan, welcher ein Mann von Wort war,
gab endlich nach, obgleich er schwor, wenn der wahnsinnige Schneider
seinen Kaftan auch noch so schön mache, könne er ihn doch nicht für
seinen Sohn erkennen.

Der Sultan ging selbst zu seinem Sohn und bat ihn, sich in die
Grillen seiner Mutter zu schicken, die nun einmal durchaus einen
Kaftan von seiner Hand zu sehen wünsche.  Dem guten Labakan lachte
das Herz vor Freude; wenn es nur an dem fehlt, dachte er bei sich, da
soll die Frau Sultanin bald Freude an mir erleben.

Man hatte zwei Zimmer eingerichtet, eines für den Prinzen, das andere
für den Schneider; dort sollten sie ihre Kunst erproben, und man
hatte jedem nur ein hinlängliches Stück Seidenzeug, Schere, Nadel und
Faden gegeben.

Der Sultan war sehr begierig, was für ein Ding von Kaftan wohl sein
Sohn zutage fördern werde, aber auch der Sultanin pochte unruhig das
Herz, ob ihre List wohl gelingen werde oder nicht.  Man hatte den
beiden zwei Tage zu ihrem Geschäft ausgesetzt, am dritten ließ der
Sultan seine Gemahlin rufen, und als sie erschienen war, schickte er
in jene zwei Zimmer, um die beiden Kaftane und ihre Verfertiger holen
zu lassen.  Triumphierend trat Labakan ein und breitete seinen Kaftan
vor den erstaunten Blicken des Sultans aus.  "Siehe her, Vater",
sprach er, "siehe her, verehrte Mutter, ob dies nicht ein
Meisterstück von einem Kaftan ist?  Da laß ich es mit dem
geschicktesten Hofschneider auf eine Wette ankommen, ob er einen
solchen herausbringt."

Die Sultanin lächelte und wandte sich zu Omar: "Und was hast du
herausgebracht, mein Sohn?"

Unwillig warf dieser den Seidenstoff und die Schere auf den Boden:
"Man hat mich gelehrt, ein Roß zu bändigen und einen Säbel zu
schwingen, und meine Lanze trifft auf sechzig Gänge ihr Ziel--aber
die Künste der Nadel sind mir fremd, sie wären auch unwürdig für
einen Zögling Elfi Beys, des Beherrschers von Kairo."

"Oh, du echter Sohn meines Herrn", rief die Sultanin, "ach, daß ich
dich umarmen, dich Sohn nennen dürfte!  Verzeihet, mein Gemahl und
Gebieter", sprach sie dann, indem sie sich zum Sultan wandte, "daß
ich diese List gegen Euch gebraucht habe; sehet Ihr jetzt noch nicht
ein, wer Prinz und wer Schneider ist; fürwahr, der Kaftan ist
köstlich, den Euer Herr Sohn gemacht hat, und ich möchte ihn gerne
fragen, bei welchem Meister er gelernt habe."

Der Sultan saß in tiefen Gedanken, mißtrauisch bald seine Frau, bald
Labakan anschauend, der umsonst sein Erröten und seine Bestürzung,
daß er sich so dumm verraten habe, zu bekämpfen suchte.  "Auch dieser
Beweis genügt nicht", sprach er, "aber ich weiß, Allah sei es gedankt,
ein Mittel, zu erfahren, ob ich betrogen bin oder nicht."

Er befahl, sein schnellstes Pferd vorzufahren, schwang sich auf und
ritt in einen Wald, der nicht weit von der Stadt begann.  Dort wohnte
nach einer alten Sage eine gütige Fee, Adolzaide geheißen, welche oft
schon den Königen seines Stammes in der Stunde der Not mit ihrem Rat
beigestanden war; dorthin eilte der Sultan.

In der Mitte des Waldes war ein freier Platz, von hohen Zedern
umgeben.  Dort wohnte nach der Sage die Fee, und selten betrat ein
Sterblicher diesen Platz, denn eine gewisse Scheu davor hatte sich
aus alten Zeiten vom Vater auf den Sohn vererbt.

Als der Sultan dort angekommen war, stieg er ab, band sein Pferd an
einen Baum, stellte sich in die Mitte des Platzes und sprach mit
lauter Stimme: "Wenn es wahr ist, daß du meinen Vätern gütigen Rat
erteiltest in der Stunde der Not, so verschmähe nicht die Bitte ihres
Enkels und rate mir, wo menschlicher Verstand zu kurzsichtig ist!"

Er hatte kaum die letzten Worte gesprochen, als sich eine der Zedern
öffnete und eine verschleierte Frau in langen, weißen Gewändern
hervortrat.  "Ich weiß, warum du zu mir kommst, Sultan Saaud, dein
Wille ist redlich; darum soll dir auch meine Hilfe werden.  Nimm
diese zwei Kistchen!  Laß jene beiden, welche deine Söhne sein wollen,
wählen!  Ich weiß, daß der, welcher der echte ist, das rechte nicht
verfehlen wird."  So sprach die Verschleierte und reichte ihm zwei
kleine Kistchen von Elfenbein, reich mit Gold und Perlen verziert;
auf den Deckeln, die der Sultan vergebens zu öffnen versuchte,
standen Inschriften von eingesetzten Diamanten.

Der Sultan besann sich, als er nach Hause ritt, hin und her, was wohl
in den Kistchen sein könnte, welche er mit aller Mühe nicht zu öffnen
vermochte.  Auch die Aufschrift gab ihm kein Licht in der Sache; denn
auf dem einen stand: "Ehre und Ruhm", auf dem anderen: "Glück und
Reichtum".  Der Sultan dachte bei sich, da würde auch ihm die Wahl
schwer werden unter diesen beiden Dingen, die gleich anziehend,
gleich lockend seien.

Als er in seinen Palast zurückgekommen war, ließ er die Sultanin
rufen und sagte ihr den Ausspruch der Fee, und eine wunderbare
Hoffnung erfüllte sie, daß jener, zu dem ihr Herz sie hinzog, das
Kistchen wählen Würde, welches seine königliche Abkunft beweisen
sollte.

Vor dem Ibrone des Sultans wurden zwei Tische aufgestellt; auf sie
setzte der Sultan mit eigener Hand die beiden Kistchen, bestieg dann
den Thron und winkte einem seiner Sklaven, die Pforte des Saales zu
öffnen.  Eine glänzende Versammlung von Bassas und Emiren des Reiches,
die der Sultan berufen hatte, strömte durch die geöffnete Pforte.
Sie ließen sich auf prachtvollen Polstern nieder, welche die Wände
entlang aufgestellt waren.

Als sie sich alle niedergelassen hatten, winkte der König zum
zweitenmal, und Labakan wurde hereingeführt.  Mit stolzem Schritte
ging er durch den Saal, warf sich vor dem Throne nieder und sprach:
"Was befiehlt mein Herr und Vater?"

Der Sultan erhob sich auf seinem Thron und sprach: "Mein Sohn!  Es
sind Zweifel an der Echtheit deiner Ansprüche auf diesen Namen
erhoben worden; eines jener Kistchen enthält die Bestätigung deiner
echten Geburt, wähle!  Ich zweifle nicht, du wirst das rechte wählen!"

Labakan erhob sich und trat vor die Kistchen, er erwog lange, was er
wählen sollte, endlich sprach er: "Verehrter Vater!  Was kann es
Höheres geben als das Glück, dein Sohn zu sein, was Edleres als den
Reichtum deiner Gnade?  Ich wähle das Kistchen, das die Aufschrift
"Gliick und Reichtum" zeigt."

"Wir werden nachher erfahren, ob du recht gewählt hast; einstweilen
setze dich dort auf das Polster zum Bassa von Medina", sagte der
Sultan und winkte seinen Sklaven.

Omar wurde hereingeführt; sein Blick war düster, seine Miene traurig,
und sein Anblick erregte allgemeine Teilnahme unter den Anwesenden.
Er warf sich vor dem Throne nieder und fragte nach dem Willen des
Sultans.

Der Sultan deutete ihm an, daß er eines der Kistchen zu wählen habe,
er stand auf und trat vor den Tisch.

Er las aufmerksam beide Inschriften und sprach: "Die letzten Tage
haben mich gelehrt, wie unsicher das Glück, wie vergänglich der
Reichtum ist; sie haben mich aber auch gelehrt, daß ein
unzerstörbares Gut in der Brust des Tapferen wohnt, die Ehre, und daß
der leuchtende Stern des Ruhmes nicht mit dem Glück zugleich vergeht.
Und sollte ich einer Krone entsagen, der Würfel liegt--Ehre und Ruhm,
ich wähle euch!"

Er setzte seine Hand auf das Kistchen, das er erwählt hatte; aber der
Sultan befahl ihm, einzuhalten; er winkte Labakan, gleichfalls vor
seinen Tisch zu treten, und auch dieser legte seine Hand auf sein
Kistchen.

Der Sultan aber ließ sich ein Becken mit Wasser von dem heiligen
Brunnen Zemzem in Mekka bringen, wusch seine Hände zum Gebet, wandte
sein Gesicht nach Osten, warf sich nieder und betete: "Gott meiner
Väter!  Der du seit Jahrhunderten unsern Stamm rein und unverfälscht
bewahrtest, gib nicht zu, daß ein Unwürdiger den Namen der Abassiden
schände, sei mit deinem Schutze meinem echten Sohne nahe in dieser
Stunde der Prüfung!"

Der Sultan erhob sich und bestieg seinen Thron wieder; allgemeine
Erwartung fesselte die Anwesenden, man wagte kaum zu atmen, man hätte
ein Mäuschen über den Saal gehen hören können, so still und gespannt
waren alle, die hintersten machten lange Hälse, um über die vorderen
nach den Kistchen sehen zu können.  Jetzt sprach der Sultan: "Öffnet
die Kistchen", und diese, die vorher keine Gewalt zu öffnen vermochte,
sprangen von selbst auf.

In dem Kistchen, das Omar gewählt hatte, lagen auf einem samtenen
Kissen eine kleine goldene Krone und ein Zepter; in Labakans
Kistchen--eine große Nadel und ein wenig Zwirn!  Der Sultan befahl
den beiden, ihre Kistchen vor ihn zu bringen.  Er nahm das Krönchen
von dem Kissen in seine Hand, und wunderbar war es anzusehen, wie er
es nahm, wurde es größer und größer, bis es die Größe einer rechten
Krone erreicht hatte.  Er setzte die Krone seinem Sohn Omar, der vor
ihm kniete, auf das Haupt, küßte ihn auf die Stirne und hieß ihn zu
seiner Rechten sich niedersetzen.  Zu Labakan aber wandte er sich und
sprach: "Es ist ein altes Sprichwort: Der Schuster bleibe bei seinem
Leisten!  Es scheint, als solltest du bei der Nadel bleiben.  Zwar
hast du meine Gnade nicht verdient, aber es hat jemand für dich
gebeten, dem ich heute nichts abschlagen kann; drum schenke ich dir
dein armseliges Leben, aber wenn ich dir guten Rates bin, so beeile
dich, daß du aus meinem Lande kommst!"

Beschämt, vernichtet, wie er war, vermochte der arme Schneidergeselle
nichts zu erwidern; er warf sich vor dem Prinzen nieder, und Tränen
drangen ihm aus den Augen: "Könnt Ihr mir vergeben, Prinz?" sagte er.

"Treue gegen den Freund, Großmut gegen den Feind ist des Abassiden
Stolz", antwortete der Prinz, indem er ihn aufhob, "gehe hin in
Frieden!"

"O du mein echter Sohn!" rief gerührt der alte Sultan und sank an die
Brust des Sohnes; die Emire und Bassa und alle Großen des Reiches
standen auf von ihren Sitzen und riefen: "Heil dem neuen Königssohn!"
Und unter dem allgemeinen Jubel schlich sich Labakan, sein Kistchen
unter dem Arm, aus dem Saal.

Er ging hinunter in die Ställe des Sultans, zäumte sein Roß Murva auf
und ritt zum Tore hinaus, Alessandria zu.  Sein ganzes Prinzenleben
kam ihm wie ein Traum vor, und nur das prachtvolle Kistchen, reich
mit Perlen und Diamanten geschmückt, erinnerte ihn, daß er doch nicht
geträumt habe.

Als er endlich wieder nach Alessandria kam, ritt er vor das Haus
seines alten Meisters, stieg ab, band sein Rößlein an die Türe und
trat in die Werkstatt.  Der Meister, der ihn nicht gleich kannte,
machte ein großes Wesen und fragte, was ihm zu Dienst stehe; als er
aber den Gast näher ansah und seinen alten Labakan erkannte, rief er
seine Gesellen und Lehrlinge herbei, und alle stürzten sich wie
wütend auf den armen Labakan, der keines solchen Empfangs gewärtig
war, stießen und schlugen ihn mit Bügeleisen und Ellenmaß, stachen
ihn mit Nadeln und zwickten ihn mit scharfen Scheren, bis er
erschöpft auf einen Haufen alter Kleider niedersank.

Als er nun so dalag, hielt ihm der Meister eine Strafrede über das
gestohlene Kleid; vergebens versicherte Labakan, daß er nur deswegen
wiedergekommen sei, um ihm alles zu ersetzen, vergebens bot er ihm
den dreifachen Schadenersatz, der Meister und seine Gesellen fielen
wieder über ihn her, schlugen ihn weidlich und warfen ihn zur Türe
hinaus; zerschlagen und zerfetzt stieg er auf das Roß Murva und ritt
in eine Karawanserei.  Dort legte er sein müdes, zerschlagenes Haupt
nieder und stellte Betrachtungen an über die Leiden der Erde, über
das so oft verkannte Verdienst und über die Nichtigkeit und
Flüchtigkeit aller Güter.  Er schlief mit dem Entschluß ein, aller
Größe zu entsagen und ein ehrsamer Bürger zu werden.

Und den andere Tag gereute ihn sein Entschluß nicht; denn die
schweren Hände des Meisters und seiner Gesellen schienen alle Hoheit
aus ihm herausgeprügelt zu haben.

Er verkaufte um einen hohen Preis sein Kistchen an einen
Juwelenhändler, kaufte sich ein Haus und richtete sich eine Werkstatt
zu seinem Gewerbe ein.  Als er alles eingerichtet und auch ein Schild
mit der Aufschrift Labakan, Kleidermacher vor sein Fenster gehängt
hatte, setzte er sich und begann mit jener Nadel und dem Zwirn, die
er in dem Kistchen gefunden, den Rock zu flicken, welchen ihm sein
Meister so grausam zerfetzt hatte.  Er wurde von seinem Geschäft
abgerufen, und als er sich wieder an die Arbeit setzen wollte, welch
sonderbarer Anblick bot sich ihm dar!  Die Nadel nähte emsig fort,
ohne von jemand geführt zu werden; sie machte feine, zierliche Stiche,
wie sie selbst Labakan in seinen kunstreichsten Augenblicken nicht
gemacht hatte!

Wahrlich, auch das geringste Geschenk einer gütigen Fee ist nützlich
und von großem Wert!  Noch einen andere Wert hatte aber dies Geschenk,
nämlich: Das Stückchen Zwirn ging nie aus, die Nadel mochte so
fleißig sein, als sie wollte.

Labakan bekam viele Kunden und war bald der berühmteste Schneider
weit und breit; er schnitt die Gewänder zu und machte den ersten
Stich mit der Nadel daran, und flugs arbeitete diese weiter ohne
Unterlaß, bis das Gewand fertig war.  Meister Labakan hatte bald die
ganze Stadt zu Kunden; denn er arbeitete schön und außerordentlich
billig, und nur über eines schüttelten die Leute von Alessandria den
Kopf, nämlich: daß er ganz ohne Gesellen und bei verschlossenen Türen
arbeitete.

So war der Spruch des Kistchens, Glück und Reichtum verheißend, in
Erfüllung gegangen; Glück und Reichtum begleiteten, wenn auch in
bescheidenem Maße, die Schritte des guten Schneiders, und wenn er von
dem Ruhm des jungen Sultans Omar, der in aller Munde lebte, hörte,
wenn er hörte, daß dieser Tapfere der Stolz und die Liebe seines
Volkes und der Schrecken seiner Feinde sei, da dachte der ehemalige
Prinz bei sich: "Es ist doch besser, daß ich ein Schneider geblieben
bin; denn um die Ehre und den Ruhm ist es eine gar gefährliche Sache."
So lebte Labakan, zufrieden mit sich, geachtet von seinen
Mitbürgern, und wenn die Nadel indes nicht ihre Kraft verloren, so
näht sie noch jetzt mit dem ewigen Zwirn der gütigen Fee Adolzaide.

Mit Sonnenaufgang brach die Karawane auf und gelangte bald nach
Birket el Had oder dem Pilgrimsbrunnen, von wo es nur noch drei
Stunden Weges nach Kairo waren--Man hatte um diese Zeit die Karawane
erwartet, und bald hatten die Kaufleute die Freude, ihre Freunde aus
Kairo ihnen entgegenkommen zu sehen.  Sie zogen in die Stadt durch
das Tor Bebel Falch; denn es wird für eine glückliche Vorbedeutung
gehalten, wenn man von Mekka kommt, durch dieses Tor einzuziehen,
weil der Prophet hindurchgezogen ist.

Auf dem Markt verabschiedeten sich die vier türkischen Kaufleute von
dem Fremden und dem griechischen Kaufmann Zaleukos und gingen mit
ihren Freunden nach Haus.  Zaleukos aber zeigte dem Fremden eine gute
Karawanserei und lud ihn ein, mit ihm das Mittagsmahl zu nehmen.  Der
Fremde sagte zu und versprach, wenn er nur vorher sich umgekleidet
habe, zu erscheinen.

Der Grieche hatte alle Anstalten getroffen, den Fremden, welchen er
auf der Reise liebgewonnen hatte, gut zu bewirten, und als die
Speisen und Getränke in gehöriger Ordnung aufgestellt waren, setzte
er sich, seinen Gast zu erwarten.

Langsam und schweren Schrittes hörte er ihn den Gang, der zu seinem
Gemach führte, heraufkommen.  Er erhob sich, um ihm freundlich
entgegenzusehen und ihn an der Schwelle zu bewillkommnen; aber voll
Entsetzen fuhr er zurück, als er die Türe öffnete; denn jener
schreckliche Rotmantel trat ihm entgegen; er warf noch einen Blick
auf ihn, es war keine Täuschung; dieselbe hohe, gebietende Gestalt,
die Larve, aus welcher ihn die dunklen Augen anblitzten, der rote
Mantel mit der goldenen Stickerei waren ihm nur allzuwohl bekannt aus
den schrecklichsten Stunden seines Lebens.

Widerstreitende Gefühle wogten in Zaleukos Brust; er hatte sich mit
diesem Bild seiner Erinnerung längst ausgesöhnt und ihm vergeben, und
doch riß sein Anblick alle seine Wunden wieder auf; alle jene
qualvollen Stunden der Todesangst, jener Gram, der die Blüte seines
Lebens vergiftete, zogen im Flug eines Augenblicks an seiner Seele
vorüber.

"Was willst du, Schrecklicher?" rief der Grieche aus, als die
Erscheinung noch immer regungslos auf der Schwelle stand.  "Weiche
schnell von hinnen, daß ich dir nicht fluche!"

"Zaleukos!" sprach eine bekannte Stimme unter der Larve hervor.
"Zaleukos!  So empfängst du deinen Gastfreund?" Der Sprechende nahm
die Larve ab, schlug den Mantel zurück; es war Selim Baruch, der
Fremde.

Aber Zaleukos schien noch nicht beruhigt, ihm graute vor dem Fremden;
denn nur zu deutlich hatte er in ihm den Unbekannten von der Ponte
vecchio erkannt; aber die alte Gewohnheit der Gastfreundschaft siegte;
er winkte schweigend dem Fremden, sich zu ihm ans Mahl zu setzen.

"Ich errate deine Gedanken", nahm dieser das Wort, als sie sich
gesetzt hatten.  "Deine Augen sehen fragend auf mich--ich hätte
schweigen und mich deinen Blicken nie mehr zeigen können, aber ich
bin dir Rechenschaft schuldig, und darum wagte ich es auch, auf die
Gefahr hin, daß du mir fluchtest, vor dir in meiner alten Gestalt zu
erscheinen.  Du sagtest einst zu mir: Der Glaube meiner Väter
befiehlt mir, ihn zu lieben, auch ist er wohl unglücklicher als ich;
glaube dieses, mein Freund, und höre meine Rechtfertigung!

Ich muß weit ausholen, um mich dir ganz verständlich zu machen.  Ich
bin in Alessandria von christlichen Eltern geboren.  Mein Vater, der
jüngere Sohn eines alten, berühmten französischen Hauses, war Konsul
seines Landes in Alessandria.  Ich wurde von meinem zehnten Jahre an
in Frankreich bei einem Bruder meiner Mutter erzogen und verließ erst
einige Jahre nach dem Ausbruch der Revolution mein Vaterland, um mit
meinem Oheim, der in dem Lande seiner Ahnen nicht mehr sicher war,
über dem Meer bei meinen Eltern eine Zuflucht zu suchen.  Voll
Hoffnung, die Ruhe und den Frieden, den uns das empörte Volk der
Franzosen entrissen, im elterlichen Hause wiederzufinden, landeten
wir.  Aber ach!  Ich fand nicht alles in meines Vaters Hause, wie es
sein sollte; die äußeren Stürme der bewegten Zeit waren zwar noch
nicht bis hierher gelangt, desto unerwarteter hatte das Unglück mein
Haus im innersten Herzen heimgesucht.  Mein Bruder, ein junger,
hoffnungsvoller Mann, erster Sekretär meines Vaters, hatte sich erst
seit kurzem mit einem jungen Mädchen, der Tochter eines
florentinischen Edelmanns, der in unserer Nachbarschaft wohnte,
verheiratet; zwei Tage vor unserer Ankunft war diese auf einmal
verschwunden, ohne daß weder unsere Familie noch ihr Vater die
geringste Spur von ihr auffinden konnten.  Man glaubte endlich, sie
habe sich auf einem Spaziergang zu weit gewagt und sei in Räuberhände
gefallen.  Beinahe tröstlicher wäre dieser Gedanke für meinen armen
Bruder gewesen als die Wahrheit, die uns nur bald kund wurde.  Die
Treulose hatte sich mit einem jungen Neapolitaner, den sie im Hause
ihres Vaters kennengelernt hatte, eingeschifft.  Mein Bruder, aufs
äußerste empört über diesen Schritt, bot alles auf, die Schuldige zur
Strafe zu ziehen; doch vergebens; seine Versuche, die in Neapel und
Florenz Aufsehen erregt hatten, dienten nur dazu, sein und unser
aller Unglück zu vollenden.  Der florentinische Edelmann reiste in
sein Vaterland zurück, zwar mit dem Vorgeben, meinem Bruder Recht zu
verschaffen, der Tat nach aber, um uns zu verderben.  Er schlug in
Florenz alle jene Untersuchungen, welche mein Bruder angeknüpft hatte,
nieder und wußte seinen Einfluß, den er auf alle Art sich verschafft
hatte, so gut zu benützen, daß mein Vater und mein Bruder ihrer
Regierung verdächtig gemacht und durch die schändlichsten Mittel
gefangen, nach Frankreich geführt und dort vom Beil des Henkers
getötet wurden.  Meine arme Mutter verfiel in Wahnsinn, und erst nach
zehn langen Monaten erlöste sie der Tod von ihrem schrecklichen
Zustand, der aber in den letzten Tagen zu vollem, klarem Bewußtsein
geworden war.  So stand ich jetzt ganz allein in der Welt, aber nur
ein Gedanke beschäftigte meine Seele, nur ein Gedanke ließ mich meine
Trauer vergessen, es war jene mächtige Flamme, die meine Mutter in
ihrer letzten Stunde in mir angefacht hatte.

In den letzten Stunden war, wie ich dir sagte, ihr Bewußtsein
zurückgekehrt; sie ließ mich rufen und sprach mit Ruhe von unserem
Schicksal und ihrem Ende.  Dann aber ließ sie alle aus dem Zimmer
gehen, richtete sich mit feierlicher Miene von ihrem ärmlichen Lager
auf und sagte, ich könne mir ihren Segen erwerben, wenn ich ihr
schwöre, etwas auszufahren, das sie mir auftragen würde--Ergriffen
von den Worten der sterbenden Mutter, gelobte ich mit einem Eide zu
tun, wie sie mir sagen werde.  Sie brach nun in Verwünschungen gegen
den Florentiner und seine Tochter aus und legte mir mit den
fürchterlichsten Drohungen ihres Fluches auf, mein unglückliches Haus
an ihm zu rächen.  Sie starb in meinen Armen.  Jener Gedanke der
Rache hatte schon lange in meiner Seele geschlummert; jetzt erwachte
er mit aller Macht.  Ich sammelte den Rest meines väterlichen
Vermögens und schwor mir, alles an meine Rache zu setzen oder selbst
mit unterzugehen.

Bald war ich in Florenz, wo ich mich so geheim als möglich aufhielt;
mein Plan war um vieles erschwert worden durch die Lage, in welcher
sich meine Feinde befanden.  Der alte Florentiner war Gouverneur
geworden und hatte so alle Mittel in der Hand, sobald er das
geringste ahnte, mich zu verderben.  Ein Zufall kam mir zu Hilfe.
Eines Abends sah ich einen Menschen in bekannter Livree durch die
Straßen gehen; sein unsicherer Gang, sein finsterer Blick und das
halblaut herausgestoßene "Santo sacramento", "Maledetto diavolo"
ließen mich den alten Pietro, einen Diener des Florentiners, den ich
schon in Alessandria gekannt hatte, erkennen.  Ich war nicht in
Zweifel, daß er über seinen Herrn in Zorn geraten sei, und beschloß,
seine Stimmung zu benützen.  Er schien sehr überrascht, mich hier zu
sehen, klagte mir sein Leiden, daß er seinem Herrn, seit er
Gouverneur geworden, nichts mehr recht machen könne, und mein Gold,
unterstützt von seinem Zorn, brachte ihn bald auf meine Seite.  Das
Schwierigste war jetzt beseitigt; ich hatte einen Mann in meinem
Solde, der mir zu jeder Stunde die Türe meines Feindes öffnete, und
nun reifte mein Racheplan immer schneller heran.  Das Leben des alten
Florentiners schien mir ein zu geringes Gewicht, dem Untergang meines
Hauses gegenüber, zu haben.  Sein Liebstes mußte er gemordet sehen,
und dies war Bianka, seine Tochter.  Hatte ja sie so schändlich an
meinem Bruder gefrevelt, war ja doch sie die Ursache unseres Unglücks.
Gar erwünscht kam sogar meinem rachedürstigen Herzen die Nachricht,
daß in dieser Zeit Bianka zum zweitenmal sich vermählen wollte, es
war beschlossen, sie mußte sterben.  Aber mir selbst graute vor der
Tat, und auch Pietro traute sich zu wenig Kraft zu; darum spähten wir
umher nach einem Mann, der das Geschäft vollbringen könne.  Unter den
Florentinern wagte ich keinen zu dingen, denn gegen den Gouverneur
würde keiner etwas Solches unternommen haben.  Da fiel Pietro der
Plan ein, den ich nachher ausgeführt habe; zugleich schlug er dich
als Fremden und Arzt als den Tauglichsten vor.  Den Verlauf der Sache
weißt du.  Nur an deiner großen Vorsicht und Ehrlichkeit schien mein
Unternehmen zu scheitern.  Daher der Zufall mit dem Mantel.

Pietro öffnete uns das Pförtchen an dem Palast des Gouverneurs; er
hätte uns auch ebenso heimlich wieder hinausgeleitet, wenn wir nicht,
durch den schrecklichen Anblick, der sich uns durch die Türspalte
darbot, erschreckt, entflohen wären.  Von Schrecken und Reue gejagt,
war ich über zweihundert Schritte fortgerannt, bis ich auf den Stufen
einer Kirche niedersank.  Dort erst sammelte ich mich wieder, und
mein erster Gedanke warst du und dein schreckliches Schicksal, wenn
man dich in dem Hause fände.  Ich schlich an den Palast, aber weder
von Pietro noch von dir konnte ich eine Spur entdecken; das Pförtchen
aber war offen, so konnte ich wenigstens hoffen, daß du die
Gelegenheit zur Flucht benützt haben könntest.

Als aber der Tag anbrach, ließ mich die Angst vor der Entdeckung und
ein unabweisbares Gefühl von Reue nicht mehr in den Mauern von
Florenz.  Ich eilte nach Rom.  Aber denke dir meine Bestürzung, als
man dort nach einigen Tagen überall diese Geschichte erzählte mit dem
Beisatz, man habe den Mörder, einen griechischen Arzt, gefangen.  Ich
kehrte in banger Besorgnis nach Florenz zurück; denn schien mir meine
Rache schon vorher zu stark, so verfluchte ich sie jetzt, denn sie
war mir durch dein Leben allzu teuer erkauft.  Ich kam an demselben
Tage an, der dich der Hand beraubte.  Ich schweige von dem, was ich
fühlte, als ich dich das Schafott besteigen und so heldenmütig leiden
sah.  Aber damals, als dein Blut in Strömen aufspritzte, war der
Entschluß fest in mir, dir deine übrigen Lebenstage zu versüßen.  Was
weiter geschehen ist, weißt du, nur das bleibt mir noch zu sagen
übrig, warum ich diese Reise mit dir machte.

Als eine schwere Last drückte mich der Gedanke, daß du mir noch immer
nicht vergeben habest; darum entschloß ich mich, viele Tage mit dir
zu leben und dir endlich Rechenschaft abzulegen von dem, was ich mit
dir getan."

Schweigend hatte der Grieche seinen Gast angehört; mit sanftem Blick
bot er ihm, als er geendet hatte, seine Rechte.  "Ich wußte wohl, daß
du unglücklicher sein müßtest als ich, denn jene grausame Tat wird
wie eine dunkle Wolke ewig deine Tage verfinstern; ich vergebe dir
von Herzen.  Aber erlaube mir noch eine Frage: Wie kommst du unter
dieser Gestalt in die Wüste?  Was fingst du an, nachdem du in
Konstantinopel mir das Haus gekauft hattest?"

"Ich ging nach Alessandria zurück", antwortete der Gefragte.  "Haß
gegen alle Menschen tobte in meiner Brust, brennender Haß besonders
gegen jene Nationen, die man die gebildeten nennt.  Glaube mir, unter
meinen Moslemiten war mir wohler!  Kaum war ich einige Monate in
Alessandria, als jene Landung meiner Landsleute erfolgte.

Ich sah in ihnen nur die Henker meines Vaters und meines Bruders;
darum sammelte ich einige gleichgesinnte junge Leute meiner
Bekanntschaft und schloß mich jenen tapferen Mamelucken an, die so
oft der Schrecken des französischen Heeres wurden.  Als der Feldzug
beendigt war, konnte ich mich nicht entschließen, zu den Künsten des
Friedens zurückzukehren.  Ich lebte mit einer kleinen Anzahl
gleichdenkender Freunde ein unstetes und flüchtiges, dem Kampf und
der Jagd geweihtes Leben; ich lebe zufrieden unter diesen Leuten, die
mich wie ihren Fürsten ehren; denn wenn meine Asiaten auch nicht so
gebildet sind wie Eure Europäer, so sind sie doch weit entfernt von
Neid und Verleumdung, von Selbstsucht und Ehrgeiz."

Zaleukos dankte dem Fremden für seine Mitteilung, aber er verbarg ihm
nicht, daß er es für seinen Stand, für seine Bildung angemessener
fände, wenn er in christlichen, in europäischen Ländern leben und
wirken würde.  Er faßte seine Hand und bat ihn, mit ihm zu ziehen,
bei ihm zu leben und zu sterben.

Gerührt sah ihn der Gastfreund an.  "Daraus erkenne ich", sagte er,
"daß du mir ganz vergeben hast, daß du mich liebst.  Nimm meinen
innigsten Dank dafür!"  Er sprang auf und stand in seiner ganzen Größe
vor dem Griechen, dem vor dem kriegerischen Anstand, den dunkel
blitzenden Augen, der tiefen Stimme seines Gastes beinahe graute.
"Dein Vorschlag ist schön", sprach jener weiter, "er möchte für jeden
andern lockend sein--ich kann ihn nicht benützen.  Schon steht mein
Roß gesattelt, erwarten mich meine Diener; lebe wohl, Zaleukos!"  Die
Freunde, die das Schicksal so wunderbar zusammengeführt, umarmten
sich zum Abschied.  "Und wie nenne ich dich?  Wie heißt mein
Gastfreund, der auf ewig in meinem Gedächtnis leben wird?" fragte der
Grieche.

Der Fremde sah ihn lange an, drückte ihm noch einmal die Hand und
sprach: "Man nennt mich den Herrn der Wüste; ich bin der Räuber
Orbasan."


Ende dieses Projekt Gutenberg Etextes "Märchen-Almanach auf das Jahr
1826", von Wilhelm Hauff.





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