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Title: Laokoon: Oder, Über die Grenzen der Malerei und Poesie
Author: Lessing, Gotthold Ephraim
Language: German
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*** Start of this LibraryBlog Digital Book "Laokoon: Oder, Über die Grenzen der Malerei und Poesie" ***


zur Verfügung gestellt.  Das Projekt ist unter der Internet-Adresse


Laokoon
oder
Über die Grenzen der Malerei und Poesie

Gotthold Ephraim Lessing

Mit beiläufigen Erläuterungen verschiedener Punkte der alten
Kunstgeschichte



Vorrede

Der erste, welcher die Malerei und Poesie miteinander verglich, war
ein Mann von feinem GefÜhle, der von beiden Künsten eine Ähnliche
Wirkung auf sich verspürte.  Beide, empfand er, stellen uns abwesende
Dinge als gegenwärtig, den Schein als Wirklichkeit vor; beide
täuschen, und beider Täuschung gefällt.

Ein zweiter suchte in das Innere dieses Gefallens einzudringen, und
entdeckte, daß es bei beiden aus einerlei Quelle fließe.  Die
SchÖnheit, deren Begriff wir zuerst von körperlichen Gegenständen
abziehen, hat allgemeine Regeln, die sich auf mehrere Dinge anwenden
lassen; auf Handlungen, auf Gedanken, sowohl als auf Formen.

Ein dritter, welcher über den Wert und über die Verteilung dieser
allgemeinen Regeln nachdachte, bemerkte, daß einige mehr in der
Malerei, andere mehr in der Poesie herrschten; daß also bei diesen
die Poesie der Malerei, bei jenen die Malerei der Poesie mit
Erläuterungen und Beispielen aushelfen könne.

Das erste war der Liebhaber; das zweite der Philosoph; das dritte der
Kunstrichter.

Jene beiden konnten nicht leicht, weder von ihrem Gefühl, noch von
ihren Schlüssen, einen unrechten Gebrauch machen.  Hingegen bei den
Bemerkungen des Kunstrichters beruhet das meiste in der Richtigkeit
der Anwendung auf den einzeln Fall; und es wäre ein Wunder, da es
gegen einen scharfsinnigen Kunstrichter funfzig witzige gegeben hat,
wenn diese Anwendung jederzeit mit aller der Vorsicht wäre gemacht
worden, welche die Wage zwischen beiden Künsten gleich erhalten muß.

Falls Apelles und Protogenes, in ihren verlornen Schriften von der
Malerei, die Regeln derselben durch die bereits festgesetzten Regeln
der Poesie bestätiget und erläutert haben, so darf man sicherlich
glauben, daß es mit der Mäßigung und Genauigkeit wird geschehen sein,
mit welcher wir noch itzt den Aristoteles, Cicero, Horaz, Quintilian,
in ihren Werken die Grundsätze und Erfahrungen der Malerei auf die
Beredsamkeit und Dichtkunst anwenden sehen.  Es ist das Vorrecht der
Alten, keiner Sache weder zu viel noch zu wenig zu tun.

Aber wir Neuern haben in mehrern Stücken geglaubt, uns weit über sie
wegzusetzen, wenn wir ihre kleinen Lustwege in Landstraßen
verwandelten; sollten auch die kürzern und sichrern Landstraßen
darüber zu Pfaden eingehen, wie sie durch Wildnisse führen.

Die blendende Antithese des griechischen Voltaire, daß die Malerei
eine stumme Poesie, und die Poesie eine redende Malerei sei, stand
wohl in keinem Lehrbuche.  Es war ein Einfall, wie Simonides mehrere
hatte; dessen wahrer Teil so einleuchtend ist, daß man das
Unbestimmte und Falsche, welches er mit sich führet, übersehen zu
müssen glaubet.

Gleichwohl übersahen es die Alten nicht.  Sondern indem sie den
Ausspruch des Simonides auf die Wirkung der beiden Künste
einschränkten, vergaßen sie nicht einzuschärfen, daß, ohngeachtet der
vollkommenen Ähnlichkeit dieser Wirkung, sie dennoch, sowohl in den
Gegenständen als in der Art ihrer Nachahmung (ulh kai tropoiV
mimhsewV) verschieden wären.

Völlig aber, als ob sich gar keine solche Verschiedenheit fände,
haben viele der neuesten Kunstrichter aus jener Übereinstimmung der
Malerei und Poesie die krudesten Dinge von der Welt geschlossen.
Bald zwingen sie die Poesie in die engern Schranken der Malerei; bald
lassen sie die Malerei die ganze weite Sphäre der Poesie füllen.
Alles was der einen recht ist, soll auch der andern vergönnt sein;
alles was in der einen gefällt oder mißfällt, soll notwendig auch in
der andern gefallen oder mißfallen; und voll von dieser Idee,
sprechen sie in dem zuversichtlichsten Tone die seichtesten Urteile,
wenn sie, in den Werken des Dichters und Malers über einerlei Vorwurf,
die darin bemerkten Abweichungen voneinander zu Fehlern machen, die
sie dem einen oder dem andern, nach dem sie entweder mehr Geschmack
an der Dichtkunst oder an der Malerei haben, zur Last legen.

Ja diese Afterkritik hat zum Teil die Virtuosen selbst verführet.
Sie hat in der Poesie die Schilderungssucht, und in der Malerei die
Allegoristerei erzeuget; indem man jene zu einem redenden Gemälde
machen wollen, ohne eigentlich zu wissen, was sie malen könne und
solle, und diese zu einem stummen Gedichte, ohne überlegt zu haben,
in welchem Maße sie allgemeine Begriffe ausdrücken könne, ohne sich
von ihrer Bestimmung zu entfernen, und zu einer willkürlichen
Schriftart zu werden.

Diesem falschen Geschmacke, und jenen ungegründeten Urteilen
entgegenzuarbeiten, ist die vornehmste Absicht folgender Aufsätze.

Sie sind zufälliger Weise entstanden, und mehr nach der Folge meiner
Lektüre, als durch die methodische Entwickelung allgemeiner
Grundsätze angewachsen.  Es sind also mehr unordentliche Kollektanea
zu einem Buche, als ein Buch.

Doch schmeichle ich mir, daß sie auch als solche nicht ganz zu
verachten sein werden.  An systematischen Büchern haben wir Deutschen
überhaupt keinen Mangel.  Aus ein paar angenommenen Worterklärungen
in der schönsten Ordnung alles, was wir nur wollen, herzuleiten,
darauf verstehen wir uns, trotz einer Nation in der Welt.

Baumgarten bekannte, einen großen Teil der Beispiele in seiner
Ästhetik Gesners Wörterbuche schuldig zu sein.  Wenn mein
Raisonnement nicht so bündig ist als das Baumgartensche, so werden
doch meine Beispiele mehr nach der Quelle schmecken.

Da ich von dem Laokoon gleichsam aussetzte, und mehrmals auf ihn
zurückkomme, so habe ich ihm auch einen Anteil an der Aufschrift
lassen wollen.  Andere kleine Ausschweifungen über verschiedene
Punkte der alten Kunstgeschichte tragen weniger zu meiner Absicht bei,
und sie stehen nur da, weil ich ihnen niemals einen bessern Platz zu
geben hoffen kann.

Noch erinnere ich, daß ich unter dem Namen der Malerei die bildenden
Künste überhaupt begreife; so wie ich nicht dafür stehe, daß ich
nicht unter dem Namen der Poesie auch auf die übrigen Künste, deren
Nachahmung fortschreitend ist, einige Rücksicht nehmen dürfte.



I.


Das allgemeine vorzügliche Kennzeichen der griechischen Meisterstücke
in der Malerei und Bildhauerkunst setzet Herr Winckelmann in eine
edele Einfalt und stille Größe, sowohl in der Stellung als im
Ausdrucke.  "So wie die Tiefe des Meeres", sagt er 1), "allezeit
ruhig bleibt, die Oberfläche mag auch noch so wüten, ebenso zeiget
der Ausdruck in den Figuren der Griechen bei allen Leidenschaften
eine große und gesetzte Seele.

{1. Von der Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und
Bildhauerkunst, S. 21. 22.}

Diese Seele schildert sich in dem Gesichte des Laokoons, und nicht in
dem Gesichte allein, bei dem heftigsten Leiden.  Der Schmerz, welcher
sich in allen Muskeln und Sehnen des Körpers entdecket, und den man
ganz allein, ohne das Gesicht und andere Teile zu betrachten, an dem
schmerzlich eingezogenen Unterleibe beinahe selbst zu empfinden
glaubt; dieser Schmerz, sage ich, äußert sich dennoch mit keiner Wut
in dem Gesichte und in der ganzen Stellung.  Er erhebt kein
schreckliches Geschrei, wie Virgil von seinem Laokoon singet; die
Öffnung des Mundes gestattet es nicht: es ist vielmehr ein
ängstliches und beklemmtes Seufzen, wie es Sadolet beschreibet.  Der
Schmerz des Körpers und die Größe der Seele sind durch den ganzen Bau
der Figur mit gleicher Stärke ausgeteilet, und gleichsam abgewogen.
Laokoon leidet, aber er leidet wie des Sophokles Philoktet: sein
Elend gehet uns bis an die Seele; aber wir wünschten, wie dieser
große Mann das Elend ertragen zu können.

Der Ausdruck einer so großen Seele geht weit über die Bildung der
schönen Natur.  Der Künstler mußte die Stärke des Geistes in sich
selbst fühlen, welche er seinem Marmor einprägte.  Griechenland hatte
Künstler und Weltweise in einer Person, und mehr als einen Metrodor.
Die Weisheit reichte der Kunst die Hand, und blies den Figuren
derselben mehr als gemeine Seelen ein, usw."

Die Bemerkung, welche hier zum Grunde liegt, daß der Schmerz sich in
dem Gesichte des Laokoon mit derjenigen Wut nicht zeige, welche man
bei der Heftigkeit desselben vermuten sollte, ist vollkommen richtig.
Auch das ist unstreitig, daß eben hierin, wo ein Halbkenner den
Künstler unter der Natur geblieben zu sein, das wahre Pathetische des
Schmerzes nicht erreicht zu haben, urteilen dürfte; daß, sage ich,
eben hierin die Weisheit desselben ganz besonders hervorleuchtet.

Nur in dem Grunde, welchen Herr Winckelmann dieser Weisheit gibt, in
der Allgemeinheit der Regel, die er aus diesem Grunde herleitet, wage
ich es, anderer Meinung zu sein.

Ich bekenne, daß der mißbilligende Seitenblick, welchen er auf den
Virgil wirft, mich zuerst stutzig gemacht hat; und nächstdem die
Vergleichung mit dem Philoktet.  Von hier will ich ausgehen, und
meine Gedanken in eben der Ordnung niederschreiben, in welcher sie
sich bei mir entwickelt.

"Laokoon leidet, wie des Sophokles Philoktet." Wie leidet dieser?  Es
ist sonderbar, daß sein Leiden so verschiedene Eindrücke bei uns
zurückgelassen.--Die Klagen, das Geschrei, die wilden Verwünschungen,
mit welchen sein Schmerz das Lager erfüllte, und alle Opfer, alle
heilige Handlungen störte, erschollen nicht minder schrecklich durch
das öde Eiland, und sie waren es, die ihn dahin verbannten.  Welche
Töne des Unmuts, des Jammers, der Verzweiflung, von welchen auch der
Dichter in der Nachahmung das Theater durchhallen ließ.--Man hat den
dritten Aufzug dieses Stücks ungleich kürzer, als die übrigen
gefunden.  Hieraus sieht man, sagen die Kunstrichter 2), daß es den
Alten um die gleiche Länge der Aufzüge wenig zu tun gewesen.  Das
glaube ich auch; aber ich wollte mich desfalls lieber auf ein ander
Exempel gründen, als auf dieses.  Die jammervollen Ausrufungen, das
Winseln, die abgebrochenen a, a, jeu, attatai, w moi, moi! die ganzen
Zeilen voller papai, papai, aus welchen dieser Aufzug bestehet, und
die mit ganz andern Dehnungen und Absetzungen deklamieret werden
mußten, als bei einer zusammenhangenden Rede nötig sind, haben in der
Vorstellung diesen Aufzug ohne Zweifel ziemlich ebensolange dauren
lassen, als die andern.  Er scheinet dem Leser weit kürzer auf dem
Papiere, als er den Zuhörern wird vorgekommen sein.

{2. Brumoy, Théât. des Grecs T. II. p. 89.}

Schreien ist der natürliche Ausdruck des körperlichen Schmerzes.
Homers verwundete Krieger fallen nicht selten mit Geschrei zu Boden.
Die geritzte Venus schreiet laut 3); nicht um sie durch dieses
Geschrei als die weichliche Göttin der Wollust zu schildern, vielmehr
um der leidenden Natur ihr Recht zu geben.  Denn selbst der eherne
Mars, als er die Lanze des Diomedes fühlet, schreiet so gräßlich, als
schrien zehntausend wütende Krieger zugleich, daß beide Heere sich
entsetzen 4).

{3. Iliad.  E. v. 343. h de mega iacousa--}

{4. Iliad.  E. v. 859.}

Soweit auch Homer sonst seine Helden über die menschliche Natur
erhebt, so treu bleiben sie ihr doch stets, wenn es auf das Gefühl
der Schmerzen und Beleidigungen, wenn es auf die Äußerung dieses
Gefühls durch Schreien, oder durch Tränen, oder durch Scheltworte
ankömmt.  Nach ihren Taten sind es Geschöpfe höherer Art; nach ihren
Empfindungen wahre Menschen.

Ich weiß es, wir feinern Europäer einer klügern Nachwelt wissen über
unsern Mund und über unsere Augen besser zu herrschen.  Höflichkeit
und Anstand verbieten Geschrei und Tränen.  Die tätige Tapferkeit des
ersten rauhen Weltalters hat sich bei uns in eine leidende verwandelt.
Doch selbst unsere Ureltern waren in dieser größer, als in jener.
Aber unsere Ureltern waren Barbaren.  Alle Schmerzen verbeißen, dem
Streiche des Todes mit unverwandtem Auge entgegensehen, unter den
Bissen der Nattern lachend sterben, weder seine Sünde noch den
Verlust seines liebsten Freundes beweinen, sind Züge des alten
nordischen Heldenmuts 5).  Palnatoko gab seinen Jomsburgern das
Gesetz, nichts zu fürchten, und das Wort Furcht auch nicht einmal zu
nennen.

{5. Th. Bartholinus de causis contemptae a Danis adhuc gentilibus
mortis, cap. I.}

Nicht so der Grieche!  Er fühlte und furchte sich; er äußerte seine
Schmerzen und seinen Kummer; er schämte sich keiner der menschlichen
Schwachheiten; keine mußte ihn aber auf dem Wege nach Ehre, und von
Erfüllung seiner Pflicht zurückhalten.  Was bei dem Barbaren aus
Wildheit und Verhärtung entsprang, das wirkten bei ihm Grundsätze.
Bei ihm war der Heroismus wie die verborgenen Funken im Kiesel, die
ruhig schlafen, solange keine äußere Gewalt sie wecket, und dem
Steine weder seine Klarheit noch seine Kälte nehmen.  Bei dem
Barbaren war der Heroismus eine helle fressende Flamme, die immer
tobte, und jede andere gute Eigenschaft in ihm verzehrte, wenigstens
schwärzte.--Wenn Homer die Trojaner mit wildem Geschrei, die Griechen
hingegen in entschloßner Stille zur Schlacht führet, so merken die
Ausleger sehr wohl an, daß der Dichter hierdurch jene als Barbaren,
diese als gesittete Völker schildern wollen.  Mich wundert, daß sie
an einer andern Stelle eine ähnliche charakteristische
Entgegensetzung nicht bemerket haben 6).  Die feindlichen Heere haben
einen Waffenstillestand getroffen; sie sind mit Verbrennung ihrer
Toten beschäftigst, welches auf beiden Teilen nicht ohne heiße Tränen
abgehet; dakrua Jerma ceonteV. Aber Priamus verbietet seinen
Trojanern zu weinen; oud' eia klaiein PriamoV megaV. Er verbietet
ihnen zu weinen, sagt die Dacier, weil er besorgt, sie möchten sich
zu sehr erweichen, und morgen mit weniger Mut an den Streit gehen.
Wohl; doch frage ich: warum muß nur Priamus dieses besorgen?  Warum
erteilet nicht auch Agamemnon seinen Griechen das nämliche Verbot?
Der Sinn des Dichters geht tiefer.  Er will uns lehren, daß nur der
gesittete Grieche zugleich weinen und tapfer sein könne; indem der
ungesittete Trojaner, um es zu sein, alle Menschlichkeit vorher
ersticken müsse.  Nemessvmai ge men ouden klaiein, läßt er an einem
andern Orte 7) den verständigen Sohn des weisen Nestors sagen.

{6. Iliad.  H. v. 421.}

{7. Odyss.  D. 195.}

Es ist merkwürdig, daß unter den wenigen Trauerspielen, die aus dem
Altertume auf uns gekommen sind, sich zwei Stücke finden, in welchen
der körperliche Schmerz nicht der kleinste Teil des Unglücks ist, das
den leidenden Helden trifft.  Außer dem Philoktet, der sterbende
Herkules.  Und auch diesen läßt Sophokles klagen, winseln, weinen und
schreien.  Dank sei unsern artigen Nachbarn, diesen Meistern des
Anständigen, daß nunmehr ein winselnder Philoktet, ein schreiender
Herkules, die lächerlichsten unerträglichsten Personen auf der Bühne
sein würden.  Zwar hat sich einer ihrer neuesten Dichter 8) an den
Philoktet gewagt.  Aber durfte er es wagen, ihnen den wahren
Philoktet zu zeigen?

{8. Chateaubrun.}

Selbst ein Laokoon findet sich unter den verlornen Stücken des
Sophokles.  Wenn uns das Schicksal doch auch diesen Laokoon gegönnet
hätte!  Aus den leichten Erwähnungen, die seiner einige alte
Grammatiker tun, läßt sich nicht schließen, wie der Dichter diesen
Stoff behandelt habe.  So viel bin ich versichert, daß er den Laokoon
nicht stoischer als den Philoktet und Herkules, wird geschildert
haben.  Alles Stoische ist untheatralisch; und unser Mitleiden ist
allezeit dem Leiden gleichmäßig, welches der interessierende
Gegenstand äußert.  Sieht man ihn sein Elend mit großer Seele
ertragen, so wird diese große Seele zwar unsere Bewunderung erwecken,
aber die Bewunderung ist ein kalter Affekt, dessen untätiges Staunen
jede andere wärmere Leidenschaft, sowie jede andere deutliche
Vorstellung ausschließet.

Und nunmehr komme ich zu meiner Folgerung.  Wenn es wahr ist, daß das
Schreien bei Empfindung körperlichen Schmerzes, besonders nach der
alten griechischen Denkungsart, gar wohl mit einer großen Seele
bestehen kann: so kann der Ausdruck einer solchen Seele die Ursache
nicht sein, warum demohngeachtet der Künstler in seinem Marmor dieses
Schreien nicht nachahmen wollen; sondern es muß einen andern Grund
haben, warum er hier von seinem Nebenbuhler, dem Dichter, abgehet,
der dieses Geschrei mit bestem Vorsatze ausdrücket.



II.


Es sei Fabel oder Geschichte, daß die Liebe den ersten Versuch in den
bildenden Künsten gemacht habe: so viel ist gewiß, daß sie den großen
alten Meistern die Hand zu führen nicht müde geworden.  Denn wird
itzt die Malerei überhaupt als die Kunst, welche Körper auf Flächen
nachahmet, in ihrem ganzen Umfange betrieben: so hatte der weise
Grieche ihr weit engere Grenzen gesetzet, und sie bloß auf die
Nachahmung schöner Körper eingeschränket.  Sein Künstler schilderte
nichts als das Schöne; selbst das gemeine Schöne, das Schöne niedrer
Gattungen, war nur sein zufälliger Vorwurf, seine Übung, seine
Erholung.  Die Vollkommenheit des Gegenstandes selbst mußte in seinem
Werke entzücken; er war zu groß, von seinen Betrachtern zu verlangen,
daß sie sich mit dem bloßen kalten Vergnügen, welches aus der
getroffenen Ähnlichkeit, aus der Erwägung seiner Geschicklichkeit
entspringet, begnügen sollten; an seiner Kunst war ihm nichts lieber,
dünkte ihm nichts edler, als der Endzweck der Kunst.

"Wer wird dich malen wollen, da dich niemand sehen will", sagt ein
alter Epigrammatist 1) über einen höchst ungestaltenen Menschen.
Mancher neuere Künstler würde sagen: "Sei so ungestalten, wie möglich;
ich will dich doch malen.  Mag dich schon niemand gern sehen: so
soll man doch mein Gemälde gern sehen; nicht insofern es dich
vorstellt, sondern insofern es ein Beweis meiner Kunst ist, die ein
solches Scheusal so ähnlich nachzubilden weiß." {1. Antiochus.
(Antholog. lib. II. cap. 43).  Harduin über den Plinius (lib. 35.
sect. 36 p. m. 698) legt dieses Epigramm einem Piso bei.  Es findet
sich aber unter allen griechischen Epigrammatisten keiner dieses
Namens.}

Freilich ist der Hang zu dieser üppigen Prahlerei mit leidigen
Geschicklichkeiten, die durch den Wert ihrer Gegenstände nicht
geadelt werden, zu natürlich, als daß nicht auch die Griechen ihren
Pauson, ihren Piräikus sollten gehabt haben.  Sie hatten sie; aber
sie ließen ihnen strenge Gerechtigkeit widerfahren.  Pauson, der sich
noch unter dem Schönen der gemeinen Natur hielt, dessen niedriger
Geschmack das Fehlerhafte und Häßliche an der menschlichen Bildung am
liebsten ausdrückte 2), lebte in der verächtlichsten Armut 3).  Und
Piräikus, der Barbierstuben, schmutzige Werkstätte, Esel und
Küchenkräuter, mit allem dem Fleiße eines niederländischen Künstlers
malte, als ob dergleichen Dinge in der Natur so viel Reiz hätten, und
so selten zu erblicken wären, bekam den Zunamen des Rhyparographen 4),
des Kotmalers; obgleich der wollüstige Reiche seine Werke mit Gold
aufwog, um ihrer Nichtigkeit auch durch diesen eingebildeten Wert zu
Hilfe zu kommen.

{2. Jungen Leuten, befiehlt daher Aristoteles, muß man seine Gemälde
nicht zeigen, um ihre Einbildungskraft, so viel möglich, von allen
Bildern des Häßlichen rein zu halten.  (Polit. lib. VIII. cap. 5. p.
526. Edit. Conring.)  Herr Boden will zwar in dieser Stelle anstatt
Pauson, Pausanias gelesen wissen, weil von diesem bekannt sei, daß er
unzüchtige Figuren gemalt habe (de umbra poetica, comment.  I. p.
XIII.).  Als ob man es erst von einem philosophischen Gesetzgeber
lernen müßte, die Jugend von dergleichen Reizungen der Wollust zu
entfernen.  Er hätte die bekannte Stelle in der Dichtkunst (cap. II.
) nur in Vergleichung ziehen dürfen, um seine Vermutung
zurückzubehalten.  Es gibt Ausleger (z.  E. Kühn, über den Älian Var.
Hist. lib. IV. cap. 3), welche den Unterschied, den Aristoteles
daselbst zwischen dem Polygnotus, Dionysius und Pauson angibt, darin
setzen, daß Polygnotus Götter und Helden, Dionysius Menschen, und
Pauson Tiere gemalt habe.  Sie malten allesamt menschliche Figuren;
und daß Pauson einmal ein Pferd malte, beweiset noch nicht, daß er
ein Tiermaler gewesen, wofür ihn Herr Boden hält.  Ihren Rang
bestimmten die Grade des Schönen, die sie ihren menschlichen Figuren
gaben, und Dionysius konnte nur deswegen nichts als Menschen malen,
und hieß nur darum vor allen andern der Anthropograph, weil er der
Natur zu sklavisch folgte, und sich nicht bis zum Ideal erheben
konnte, unter welchem Götter und Helden zu malen, ein
Religionsverbrechen gewesen wäre.}

{3. Aristophanes Plut. v. 602. et Acharnens. v. 854.}

{4. Plinius lib. XXXV. sect. 37. Edit. Hard.}

Die Obrigkeit selbst hielt es ihrer Aufmerksamkeit nicht für unwürdig,
den Künstler mit Gewalt in seiner wahren Sphäre zu erhalten.  Das
Gesetz der Thebaner, welches ihm die Nachahmung ins Schönere befahl
und die Nachahmung ins Häßlichere bei Strafe verbot, ist bekannt.  Es
war kein Gesetz wider den Stümper, wofür es gemeiniglich, und selbst
vom Junius 5), gehalten wird.  Es verdammte die griechischen Ghezzi;
den unwürdigen Kunstgriff, die Ähnlichkeit durch Übertreibung der
häßlichem Teile des Urbildes zu erreichen; mit einem Worte, die
Karikatur.

{5. De pictura vet. lib. II. cap. IV. § 1.}

Aus eben dem Geist des Schönen war auch das Gesetz der Hellanodiken
geflossen.  Jeder olympische Sieger erhielt eine Statue; aber nur dem
dreimaligen Sieger, ward eine ikonische gesetzet 6).  Der
mittelmäßigen Porträts sollten unter den Kunstwerken nicht zu viel
werden.  Denn obschon auch das Porträt ein Ideal zuläßt, so muß doch
die Ähnlichkeit darüber herrschen; es ist das Ideal eines gewissen
Menschen, nicht das Ideal eines Menschen überhaupt.

{6. Plinius lib. XXXIV. sect. 9.}

Wir lachen, wenn wir hören, daß bei den Alten auch die Künste
bürgerlichen Gesetzen unterworfen gewesen.  Aber wir haben nicht
immer recht, wenn wir lachen.  Unstreitig müssen sich die Gesetze
über die Wissenschaften keine Gewalt anmaßen; denn der Endzweck der
Wissenschaften ist Wahrheit.  Wahrheit ist der Seele notwendig; und
es wird Tyrannei, ihr in Befriedigung dieses wesentlichen
Bedürfnisses den geringsten Zwang anzutun.  Der Endzweck der Künste
hingegen ist Vergnügen; und das Vergnügen ist entbehrlich.  Also darf
es allerdings von dem Gesetzgeber abhangen, welche Art von Vergnügen,
und in welchem Maße er jede Art desselben verstatten will.

Die bildenden Künste insbesondere, außer dem unfehlbaren Einflusse,
den sie auf den Charakter der Nation haben, sind einer Wirkung fähig,
welche die nähere Aufsicht des Gesetzes heischet.  Erzeugten schöne
Menschen schöne Bildsäulen, so wirkten diese hinwiederum auf jene
zurück, und der Staat hatte schönen Bildsäulen schöne Menschen mit zu
verdanken.  Bei uns scheinet sich die zarte Einbildungskraft der
Mütter nur in Ungeheuern zu äußern.

Aus diesem Gesichtspunkte glaube ich in gewissen alten Erzählungen,
die man geradezu als Lügen verwirft, etwas Wahres zu erblicken.  Den
Müttern des Aristomenes, des Aristodamas, Alexanders des Großen, des
Scipio, des Augustus, des Galerius, träumte in ihrer Schwangerschaft
allen, als ob sie mit einer Schlange zu tun hätten.  Die Schlange war
ein Zeichen der Gottheit 7); und die schönen Bildsäulen und Gemälde
eines Bacchus, eines Apollo, eines Merkurius, eines Herkules, waren
selten ohne eine Schlange.  Die ehrlichen Weiber hatten des Tages
ihre Augen an dem Gotte geweidet, und der verwirrende Traum erweckte
das Bild des Tieres.  So rette ich den Traum, und gebe die Auslegung
preis, welche der Stolz ihrer Söhne und die Unverschämtheit des
Schmeichlers davon machten.  Denn eine Ursache mußte es wohl haben,
warum die ehebrecherische Phantasie nur immer eine Schlange war.

{7. Man irret sich, wenn man die Schlange nur für das Kennzeichen
einer medizinischen Gottheit hält, wie Spence, Polymetis p. 132.
Justinus Martyr (Apolog.  II. pag. 55. Edit. Sylburg.)  sagt
ausdrücklich: para panti tvn nomizomenwn par' umin Jevn, ojiV
sumbolon mega kai musthrion anagrajetai; und es wäre leicht eine
Reihe von Monumenten anzuführen, wo die Schlange Gottheiten begleitet,
welche nicht die geringste Beziehung auf die Gesundheit haben.}

Doch ich gerate aus meinem Wege.  Ich wollte bloß festsetzen, daß bei
den Alten die Schönheit das höchste Gesetz der bildenden Künste
gewesen sei.

Und dieses festgesetzt, folget notwendig, daß alles andere, worauf
sich die bildenden Künste zugleich mit erstrecken können, wenn es
sich mit der Schönheit nicht verträgt, ihr gänzlich weichen, und wenn
es sich mit ihr verträgt, ihr wenigstens untergeordnet sein müssen.

Ich will bei dem Ausdrucke stehen bleiben.  Es gibt Leidenschaften
und Grade von Leidenschaften, die sich in dem Gesichte durch die
häßlichsten Verzerrungen äußern, und den ganzen Körper in so
gewaltsame Stellungen setzen, daß alle die schönen Linien, die ihn in
einem ruhigern Stande umschreiben, verloren gehen.  Dieser enthielten
sich also die alten Künstler entweder ganz und gar, oder setzten sie
auf geringere Grade herunter, in welchen sie eines Maßes von
Schönheit fähig sind.

Wut und Verzweiflung schändete keines von ihren Werken.  Ich darf
behaupten, daß sie nie eine Furie gebildet haben 8).

{8. Man gehe alle die Kunstwerke durch, deren Plinius und Pausanias
und andere gedenken; man übersehe die noch itzt vorhandenen alten
Statuen, Basreliefs, Gemälde: und man wird nirgends eine Furie finden.
Ich nehme diejenigen Figuren aus; die mehr zur Bildersprache, als
zur Kunst gehören, dergleichen die auf den Münzen vornehmlich sind.
Indes hätte Spence, da er Furien haben mußte, sie doch lieber von den
Münzen erborgen sollen, (Seguini Numis. p. 178. Spanhem. de Praest.
Numism.  Dissert.  XIII. p. 639. Les Cesars de Julien, par Spanheim p.
48.), als daß er sie durch einen witzigen Einfall in ein Werk
bringen will, in welchem sie ganz gewiß nicht sind.  Er sagt in
seinem "Polymetis" (Dial.  XVI. p. 272.): "Obschon die Furien in den
Werken der alten Künstler etwas sehr Seltenes sind, so findet sich
doch eine Geschichte, in der sie durchgängig von ihnen angebracht
werden.  Ich meine den Tod des Meleager, als in dessen Vorstellung
auf Basreliefs sie öfters die Althäa aufmuntern und antreiben, den
unglücklichen Brand, von welchem das Leben ihres einzigen Sohnes
abhing, dem Feuer zu übergeben.  Denn auch ein Weib würde in ihrer
Rache so weit nicht gegangen sein, hätte der Teufel nicht ein wenig
zugeschüret.  In einem von diesen Basreliefs, bei dem Bellori (in den
Admirandis), sieht man zwei Weiber, die mit der Althäa am Altare
stehen, und allem Ansehen nach Furien sein sollen.  Denn wer sonst
als Furien, hätte einer solchen Handlung beiwohnen wollen?  Daß sie
für diesen Charakter nicht schrecklich genug sind, liegt ohne Zweifel
an der Abzeichnung.  Das Merkwürdigste aber auf diesem Werke ist die
runde Scheibe, unten gegen die Mitte, auf welcher sich offenbar der
Kopf einer Furie zeiget.  Vielleicht war es die Furie, an die Althäa,
so oft sie eine üble Tat vornahm, ihr Gebet richtete, und vornehmlich
itzt zu richten alle Ursache hatte usw."--Durch solche Wendungen kann
man aus allem alles machen.  "Wer sonst", fragt Spence, "als Furien,
hätte einer solchen Handlung beiwohnen wollen?" Ich antworte: Die
Mägde der Althäa, welche das Feuer anzünden und unterhalten mußten.
Ovid sagt: (Metamorph.  VIII. v. 460. 461.)

  Protulit hunc (stipitem) genitrix, taedasque in fragmina poni
  Imperat, et positis inimicos admovet ignes.


Dergleichen taedas, lange StÜcke von Kien, welche die Alten zu
Fackeln brauchten, haben auch wirklich beide Personen in den HÄnden,
und die eine hat eben ein solches Stück zerbrochen, wie ihre Stellung
anzeigt.  Auf der Scheibe, gegen die Mitte des Werkes, erkenne ich
die Furie ebensowenig.  Es ist ein Gesicht, welches einen heftigen
Schmerz ausdrückt.  Ohne Zweifel soll es der Kopf des Meleagers
selbst sein.  (Metamorph.  I. c. v. 515.)

  Inscius atque absens flamma Meleagros in illa
  Uritur: et caecis torreri viscera sentit
  Ignibus: et magnos superat virtute dolores.


Der KÜnstler brauchte ihn gleichsam zum Übergange in den folgenden
Zeitpunkt der nÄmlichen Geschichte, welcher den sterbenden Meleager
gleich daneben zeigt.  Was Spence zu Furien macht, hält Montfaucon
für Parzen, (Antiqu. expl.  T. I. p. 162) den Kopf auf der Scheibe
ausgenommen, den er gleichfalls für eine Furie ausgibt.  Bellori
selbst (Admirand.  Tab. 77) läßt es unentschieden, ob es Parzen oder
Furien sind.  Ein Oder, welches genugsam zeiget, daß sie weder das
eine noch das andere sind.  Auch Montfaucons übrige Auslegung sollte
genauer sein.  Die Weibsperson, welche neben dem Bette sich auf den
Ellebogen stützet, hätte er Kassandra und nicht Atalanta nennen
sollen.  Atalanta ist die, welche, mit dem Rücken gegen das Bette
gekehret, in einer traurigen Stellung sitzet.  Der Künstler hat sie
mit vielem Verstande von der Familie abgewendet, weil sie nur die
Geliebte, nicht die Gemahlin des Meleagers war, und ihre Betrübnis
über ein Unglück, das sie selbst unschuldigerweise veranlasset hatte,
die Anverwandten erbittern mußte.}

Zorn setzten sie auf Ernst herab.  Bei dem Dichter war es der zornige
Jupiter, welcher den Blitz schleuderte; bei dem Künstler nur der
ernste.

Jammer ward in Betrübnis gemildert.  Und wo diese Milderung nicht
stattfinden konnte, wo der Jammer ebenso verkleinernd als entstellend
gewesen wäre,--was tat da Timanthes?  Sein Gemälde von der Opferung
der Iphigenia, in welchem er allen Umstehenden den ihnen eigentümlich
zukommenden Grad der Traurigkeit erteilte, das Gesicht des Vaters
aber, welches den allerhÖchsten hätte zeigen sollen, verhüllete, ist
bekannt, und es sind viel artige Dinge darüber gesagt worden.  Er
hatte sich, sagt dieser 9), in den traurigen Physiognomien so
erschöpft, daß er dem Vater eine noch traurigere geben zu können
verzweifelte.  Er bekannte dadurch, sagt jener 10), daß der Schmerz
eines Vaters bei dergleichen Vorfällen über allen Ausdruck sei.  Ich
für mein Teil sehe hier weder die Unvermögenheit des Künstlers, noch
die Unvermögenheit der Kunst.  Mit dem Grade des Affekts verstärken
sich auch die ihm entsprechenden Züge des Gesichts; der höchste Grad
hat die allerentschiedensten Züge, und nichts ist der Kunst leichter,
als diese auszudrücken.  Aber Timanthes kannte die Grenzen, welche
die Grazien seiner Kunst setzen.  Er wußte, daß sich der Jammer,
welcher dem Agamemnon als Vater zukam, durch Verzerrungen äußert, die
allezeit häßlich sind.  Soweit sich Schönheit und Würde mit dem
Ausdrucke verbinden ließ, so weit trieb er ihn.  Das Häßliche wäre er
gern übergangen, hätte er gern gelindert; aber da ihm seine
Komposition beides nicht erlaubte, was blieb ihm anders übrig, als es
zu verhüllen?--Was er nicht malen durfte, ließ er erraten.  Kurz,
diese Verhüllung ist ein Opfer, das der Künstler der Schönheit
brachte.  Sie ist ein Beispiel, nicht wie man den Ausdruck über die
Schranken der Kunst treiben, sondern wie man ihn dem ersten Gesetze
der Kunst, dem Gesetze der Schönheit, unterwerfen soll.

{9. Plinius lib. XXXV. sect. 36. Cum moestos pinxisset omnes,
praecipue patruum, et tristitiae omnem imaginem consumpsisset, patris
ipsius vultum velavit, quem digne non poterat ostendere.}

{10. Summi moeroris acerbitatem arte exprimi non posse confessus est.
Valerius Maximus lib. VIII. cap. 11.}

Und dieses nun auf den Laokoon angewendet, so ist die Ursache klar,
die ich suche.  Der Meister arbeitete auf die höchste Schönheit,
unter den angenommenen Umständen des körperlichen Schmerzes.  Dieser,
in aller seiner entstellenden Heftigkeit, war mit jener nicht zu
verbinden.  Er mußte ihn also herabsetzen; er mußte Schreien in
Seufzen mildern; nicht weil das Schreien eine unedle Seele verrät,
sondern weil es das Gesicht auf eine ekelhafte Weise verstellet.
Denn man reiße dem Laokoon in Gedanken nur den Mund auf, und urteile.
Man lasse ihn schreien, und sehe.  Es war eine Bildung, die Mitleid
einflößte, weil sie Schönheit und Schmerz zugleich zeigte; nun ist es
eine häßliche, eine abscheuliche Bildung geworden, von der man gern
sein Gesicht verwendet, weil der Anblick des Schmerzes Unlust erregt,
ohne daß die Schönheit des leidenden Gegenstandes diese Unlust in das
süße Gefühl des Mitleids verwandeln kann.

Die bloße weite Öffnung des Mundes,--beiseitegesetzt, wie gewaltsam
und ekel auch die übrigen Teile des Gesichts dadurch verzerret und
verschoben werden,--ist in der Malerei ein Fleck und in der
Bildhauerei eine Vertiefung, welche die widrigste Wirkung von der
Welt tut.  Montfaucon bewies wenig Geschmack, als er einen alten
bärtigen Kopf, mit aufgerissenem Munde, für einen Orakel erteilenden
Jupiter ausgab 11).  Muß ein Gott schreien, wenn er die Zukunft
eröffnet?  Würde ein gefälliger Umriß des Mundes seine Rede
verdächtig machen?  Auch glaube ich es dem Valerius nicht, daß Ajax
in dem nur gedachten Gemälde des Timanthes sollte geschrien haben 12).
Weit schlechtere Meister aus den Zeiten der schon verfallenen Kunst
lassen auch nicht einmal die wildesten Barbaren, wenn sie unter dem
Schwerte des Siegers Schrecken und Todesangst ergreift, den Mund bis
zum Schreien öffnen 13).

{11. Antiquit. expl.  T. I. p. 50.}

{12. Er gibt nämlich die von dem Timanthes wirklich ausgedrückten
Grade der Traurigkeit so an: Calchantem tristem, moestum Ulyssem,
clamantem Ajacem, lamentantem Menelaum.--Der Schreier Ajax müßte eine
häßliche Figur gewesen sein; und da weder Cicero noch Quintilian in
ihren Beschreibungen dieses Gemäldes seiner gedenken, so werde ich
ihn um so viel eher für einen Zusatz halten dürfen, mit dem es
Valerius aus seinem Kopfe bereichern wollen.}

{13. Bellorii Admiranda.  Tab. 11. 12.}

Es ist gewiß, daß diese Herabsetzung des äußersten körperlichen
Schmerzes auf einen niedrigern Grad von Gefühl, an mehrern alten
Kunstwerken sichtbar gewesen.  Der leidende Herkules in dem
vergifteten Gewande, von der Hand eines alten unbekannten Meisters,
war nicht der Sophokleische, der so gräßlich schrie, daß die
lokrischen Felsen, und die euböischen Vorgebirge davon ertönten.  Er
war mehr finster, als wild 14).  Der Philoktet des Pythagoras
Leontinus schien dem Betrachter seinen Schmerz mitzuteilen, welche
Wirkung der geringste gräßliche Zug verhindert hätte.  Man dürfte
fragen, woher ich wisse, daß dieser Meister eine Bildsäule des
Philoktet gemacht habe.  Aus einer Stelle des Plinius, die meine
Verbesserung nicht erwartet haben sollte, so offenbar verfälscht oder
verstümmelt ist sie 15).

{14. Plinius libr. XXXIV, sect. 19.}

{15. Eundem, nämlich den Myro, lieset man bei dem Plinius (libr.
XXXIV. sect. 19) vicit et Pythagoras Leontinus, qui fecit
stadiodromon Astylon, qui Olympiae ostenditur: et Libyn puerum
tenentem tabulam, eodem loco, et mala ferentem nudum.  Syracusis
autem claudicantem: cujus hulceris dolorem sentire etiam spectantes
videntur.  Man erwäge die letzten Worte etwas genauer.  Wird nicht
darin offenbar von einer Person gesprochen, die wegen eines
schmerzhaften Geschwüres überall bekannt ist?  Cujus hulceris usw.
Und dieses cujus sollte auf das bloße claudicantem, und das
claudicantem vielleicht auf das noch entferntere puerum gehen?
Niemand hatte mehr recht, wegen eines solchen Geschwüres bekannter zu
sein, als Philoktet.  Ich lese also anstatt claudicantem, Philoctetem,
oder halte wenigstens dafür, daß das letztere durch das erstere
gleichlautende Wort verdrungen worden, und man beides zusammen
Philoctetem claudicantem lesen müsse.  Sophokles läßt ihn stibon kai
anagkan erpein, und es mußte ein Hinken verursachen, daß er auf den
kranken Fuß weniger herzhaft auftreten konnte.}



III.


Aber, wie schon gedacht, die Kunst hat in den neuern Zeiten ungleich
weitere Grenzen erhalten.  Ihre Nachahmung, sagt man, erstrecke sich
auf die ganze sichtbare Natur, von welcher das Schöne nur ein kleiner
Teil ist.  Wahrheit und Ausdruck sei ihr erstes Gesetz; und wie die
Natur selbst die Schönheit höhern Absichten jederzeit aufopfere, so
müsse sie auch der Künstler seiner allgemeinen Bestimmung unterordnen,
und ihr nicht weiter nachgehen, als es Wahrheit und Ausdruck
erlauben.  Genug, daß durch Wahrheit und Ausdruck das Häßlichste der
Natur in ein Schönes der Kunst verwandelt werde.

Gesetzt, man wollte diese Begriffe vors erste unbestritten in ihrem
Werte oder Unwerte lassen: sollten nicht andere von ihnen unabhängige
Betrachtungen zu machen sein, warum demohngeachtet der Künstler in
dem Ausdrucke Maß halten, und ihn nie aus dem höchsten Punkte der
Handlung nehmen müsse.

Ich glaube, der einzige Augenblick, an den die materiellen Schranken
der Kunst alle ihre Nachahmungen binden, wird auf dergleichen
Betrachtungen leiten.

Kann der Künstler von der immer veränderlichen Natur nie mehr als
einen einzigen Augenblick, und der Maler insbesondere diesen einzigen
Augenblick auch nur aus einem einzigen Gesichtspunkte, brauchen; sind
aber ihre Werke gemacht, nicht bloß erblickt, sondern betrachtet zu
werden, lange und wiederholtermaßen betrachtet zu werden: so ist es
gewiß, daß jener einzige Augenblick und einzige Gesichtspunkt dieses
einzigen Augenblickes, nicht fruchtbar genug gewählet werden kann.
Dasjenige aber nur allein ist fruchtbar, was der Einbildungskraft
freies Spiel läßt.  Je mehr wir sehen, desto mehr müssen wir hinzu
denken können.  Je mehr wir darzu denken, desto mehr müssen wir zu
sehen glauben.  In dem ganzen Verfolge eines Affekts ist aber kein
Augenblick, der diesen Vorteil weniger hat, als die höchste Staffel
desselben.  Über ihr ist weiter nichts, und dem Auge das Äußerste
zeigen, heißt der Phantasie die Flügel binden, und sie nötigen, da
sie über den sinnlichen Eindruck nicht hinaus kann, sich unter ihm
mit schwächern Bildern zu beschäftigen, über die sie die sichtbare
Fülle des Ausdrucks als ihre Grenze scheuet.  Wenn Laokoon also
seufzet, so kann ihn die Einbildungskraft schreien hören; wenn er
aber schreiet, so kann sie von dieser Vorstellung weder eine Stufe
höher, noch eine Stufe tiefer steigen, ohne ihn in einem leidlichern,
folglich uninteressantern Zustande zu erblicken.  Sie hört ihn erst
ächzen, oder sie sieht ihn schon tot.

Ferner.  Erhält dieser einzige Augenblick durch die Kunst eine
unveränderliche Dauer: so muß er nichts ausdrücken, was sich nicht
anders als transitorisch denken läßt.  Alle Erscheinungen, zu deren
Wesen wir es nach unsern Begriffen rechnen, daß sie plötzlich
ausbrechen und plötzlich verschwinden, daß sie das, was sie sind, nur
einen Augenblick sein können; alle solche Erscheinungen, sie mögen
angenehm oder schrecklich sein, erhalten durch die Verlängerung der
Kunst ein so widernatürliches Ansehen, daß mit jeder wiederholten
Erblickung der Eindruck schwächer wird, und uns endlich vor dem
ganzen Gegenstande ekelt oder grauet.  La Mettrie, der sich als einen
zweiten Demokrit malen und stechen lassen, lacht nur die ersten Male,
die man ihn sieht.  Betrachtet ihn öftrer, und er wird aus einem
Philosophen ein Geck; aus seinem Lachen wird ein Grinsen.  So auch
mit dem Schreien.  Der heftige Schmerz, welcher das Schreien
auspresset, läßt entweder bald nach, oder zerstörst das leidende
Subjekt.  Wann also auch der geduldigste standhafteste Mann schreiet,
so schreiet er doch nicht unabläßlich.  Und nur dieses scheinbare
Unabläßliche in der materiellen Nachahmung der Kunst ist es, was sein
Schreien zu weibischem Unvermögen, zu kindischer Unleidlichkeit
machen würde.  Dieses wenigstens mußte der Künstler des Laokoons
vermeiden, hätte schon das Schreien der Schönheit nicht geschadet,
wäre es auch seiner Kunst schon erlaubt gewesen, Leiden ohne
Schönheit auszudrücken.

Unter den alten Malern scheinet Timomachus Vorwürfe des äußersten
Affekts am liebsten gewählet zu haben.  Sein rasender Ajax, seine
Kindermörderin Medea waren berühmte Gemälde.  Aber aus den
Beschreibungen, die wir von ihnen haben, erhellet, daß er jenen Punkt,
in welchem der Betrachter das Äußerste nicht sowohl erblickt, als
hinzudenkt, jene Erscheinung, mit der wir den Begriff des
Transitorischen nicht so notwendig verbinden, daß uns die
Verlängerung derselben in der Kunst mißfallen sollte, vortrefflich
verstanden und miteinander zu verbinden gewußt hat.  Die Medea hatte
er nicht in dem Augenblicke genommen, in welchem sie ihre Kinder
wirklich ermordet; sondern einige Augenblicke zuvor, da die
mütterliche Liebe noch mit der Eifersucht kämpfet.  Wir sehen das
Ende dieses Kampfes voraus.  Wir zittern voraus, nun bald bloß die
grausame Medea zu erblicken, und unsere Einbildungskraft gehet weit
über alles hinweg, was uns der Maler in diesem schrecklichen
Augenblicke zeigen könnte.  Aber eben darum beleidiget uns die in der
Kunst fortdauernde Unentschlossenheit der Medea so wenig, daß wir
vielmehr wünschen, es wäre in der Natur selbst dabei geblieben, der
Streit der Leidenschaften hätte sich nie entschieden, oder hätte
wenigstens so lange angehalten, bis Zeit und Überlegung die Wut
entkräften und den mütterlichen Empfindungen den Sieg versichern
können.  Auch hat dem Timomachus diese seine Weisheit große und
häufige Lobsprüche zugezogen, und ihn weit über einen andern
unbekannten Maler erhoben, der unverständig genug gewesen war, die
Medea in ihrer höchsten Raserei zu zeigen, und so diesem flüchtig
überhingehenden Grade der äußersten Raserei eine Dauer zu geben, die
alle Natur empöret.  Der Dichter 1), der ihn desfalls tadelt, sagt
daher sehr sinnreich, indem er das Bild selbst anredet: "Durstest du
denn beständig nach dem Blute deiner Kinder?  Ist denn immer ein
neuer Jason, immer eine neue Kreusa da, die dich unaufhörlich
erbittern?--Zum Henker mit dir auch im Gemälde!" setzt er voller
Verdruß hinzu.

{1. Philippus (Anthol. lib. IV. cap. 9. ep. 10).

  Aiei gar diyaV brejewn jonon; h tiV Ihswn
    DeuteroV, h Glaukh tiV pali soi projasiV;
  Erre kai en khrv paidoktone--}

Von dem rasenden Ajax des Timomachus lÄßt sich aus der Nachricht des
Philostrats urteilen 2).  Ajax erschien nicht, wie er unter den
Herden wÜtet, und Rinder und BÖcke für Menschen fesselt und mordet.
Sondern der Meister zeigte ihn, wie er nach diesen wahnwitzigen
Heldentaten ermattet dasitzt, und den Anschlag fasset, sich selbst
umzubringen.  Und das ist wirklich der rasende Ajax; nicht weil er
eben itzt raset, sondern weil man siehet, daß er geraset hat; weil
man die Größe seiner Raserei am lebhaftesten aus der
verzweiflungsvollen Scham abnimmt, die er nun selbst darüber
empfindet.  Man siehet den Sturm in den Trümmern und Leichen, die er
an das Land geworfen.

{2. Vita Apoll. lib. II. cap. 22.}



IV.


Ich übersehe die angeführten Ursachen, warum der Meister des Laokoon
in dem Ausdrucke des körperlichen Schmerzes Maß halten müssen, und
finde, daß sie allesamt von der eigenen Beschaffenheit der Kunst, und
von derselben notwendigen Schranken und Bedürfnissen hergenommen sind.
Schwerlich dürfte sich also wohl irgendeine derselben auf die
Poesie anwenden lassen.

Ohne hier zu untersuchen, wie weit es dem Dichter gelingen kann,
körperliche Schönheit zu schildern: so ist so viel unstreitig, daß,
da das ganze unermeßliche Reich der Vollkommenheit seiner Nachahmung
offen stehet, diese sichtbare Hülle, unter welcher Vollkommenheit zu
Schönheit wird, nur eines von den geringsten Mitteln sein kann, durch
die er uns für seine Personen zu interessieren weiß.  Oft
vernachlässiget er dieses Mittel gänzlich; versichert, daß wenn sein
Held einmal unsere Gewogenheit gewonnen, uns dessen edlere
Eigenschaften entweder so beschäftigen, daß wir an die körperliche
Gestalt gar nicht denken, oder, wenn wir daran denken, uns so
bestechen, daß wir ihm von selbst wo nicht eine schöne, doch eine
gleichgültige erteilen.  Am wenigsten wird er bei jedem einzeln Zuge,
der nicht ausdrücklich für das Gesicht bestimmt ist, seine Rücksicht
dennoch auf diesen Sinn nehmen dürfen.  Wenn Virgils Laokoon schreiet,
wem fällt es dabei ein, daß ein großes Maul zum Schreien nötig ist,
und daß dieses große Maul häßlich läßt?  Genug, daß clamores
horrendos ad sidera tollit ein erhabner Zug für das Gehör ist, mag er
doch für das Gesicht sein, was er will.  Wer hier ein schönes Bild
verlangt, auf den hat der Dichter seinen ganzen Eindruck verfehlt.

Nichts nötiget hiernächst den Dichter sein Gemälde in einen einzigen
Augenblick zu konzentrieren.  Er nimmt jede seiner Handlungen, wenn
er will, bei ihrem Ursprunge auf, und führet sie durch alle mögliche
Abänderungen bis zu ihrer Endschaft.  Jede dieser Abänderungen, die
dem Künstler ein ganzes besonderes Stück kosten würde, kostet ihm
einen einzigen Zug; und würde dieser Zug, für sich betrachtet, die
Einbildung des Zuhörers beleidigen, so war er entweder durch das
Vorhergehende so vorbereitet, oder wird durch das Folgende so
gemildert und vergütet, daß er seinen einzeln Eindruck verlieret, und
in der Verbindung die trefflichste Wirkung von der Welt tut.  Wäre es
also auch wirklich einem Manne unanständig, in der Heftigkeit des
Schmerzes zu schreien; was kann diese kleine überhingehende
Unanständigkeit demjenigen bei uns für Nachteil bringen, dessen
andere Tugenden uns schon für ihn eingenommen haben?  Virgils Laokoon
schreiet, aber dieser schreiende Laokoon ist eben derjenige, den wir
bereits als den vorsichtigsten Patrioten, als den wärmsten Vater
kennen und lieben.  Wir beziehen sein Schreien nicht auf seinen
Charakter, sondern lediglich auf sein unerträgliches Leiden.  Dieses
allein hören wir in seinem Schreien; und der Dichter konnte es uns
durch dieses Schreien allein sinnlich machen.

Wer tadelt ihn also noch?  Wer muß nicht vielmehr bekennen: wenn der
Künstler wohl tat, daß er den Laokoon nicht schreien ließ, so tat der
Dichter ebenso wohl, daß er ihn schreien ließ?

Aber Virgil ist hier bloß ein erzählender Dichter.  Wird in seiner
Rechtfertigung auch der dramatische Dichter mitbegriffen sein?  Einen
andern Eindruck macht die Erzählung von jemands Geschrei; einen
andern dieses Geschrei selbst.  Das Drama, welches für die lebendige
Malerei des Schauspielers bestimmt ist, dürfte vielleicht eben
deswegen sich an die Gesetze der materiellen Malerei strenger halten
müssen.  In ihm glauben wir nicht bloß einen schreienden Philoktet zu
sehen und zu hören; wir hören und sehen wirklich schreien.  Je näher
der Schauspieler der Natur kömmt, desto empfindlicher müssen unsere
Augen und Ohren beleidiget werden; denn es ist unwidersprechlich, daß
sie es in der Natur werden, wenn wir so laute und heftige Äußerungen
des Schmerzes vernehmen.  Zudem ist der körperliche Schmerz überhaupt
des Mitleidens nicht fähig, welches andere Übel erwecken.  Unsere
Einbildung kann zu wenig in ihm unterscheiden, als daß die bloße
Erblickung desselben etwas von einem gleichmäßigen Gefühl in uns
hervorzubringen vermochte.  Sophokles könnte daher leicht nicht einen
bloß willkürlichen, sondern in dem Wesen unserer Empfindungen selbst
gegründeten Anstand übertreten haben, wenn er den Philoktet und
Herkules so winseln und weinen, so schreien und brüllen läßt.  Die
Umstehenden können unmöglich so viel Anteil an ihrem Leiden nehmen,
als diese ungemäßigten Ausbrüche zu erfordern scheinen.  Sie werden
uns Zuschauern vergleichungsweise kalt vorkommen, und dennoch können
wir ihr Mitleiden nicht wohl anders, als wie das Maß des unsrigen
betrachten.  Hierzu füge man, daß der Schauspieler die Vorstellung
des körperlichen Schmerzes schwerlich oder gar nicht bis zur Illusion
treiben kann: und wer weiß, ob die neuern dramatischen Dichter nicht
eher zu loben, als zu tadeln sind, daß sie diese Klippe entweder ganz
und gar vermieden, oder doch nur mit einem leichten Kahne umfahren
haben.

Wie manches würde in der Theorie unwidersprechlich scheinen, wenn es
dem Genie nicht gelungen wäre, das Widerspiel durch die Tat zu
erweisen.  Alle diese Betrachtungen sind nicht ungegründet, und doch
bleibet Philoktet eines von den Meisterstücken der Bühne.  Denn ein
Teil derselben trifft den Sophokles nicht eigentlich, und nur indem
er sich über den andern Teil hinwegsetzet, hat er Schönheiten
erreicht, von welchen dem furchtsamen Kunstrichter, ohne dieses
Beispiel, nie träumen würde.  Folgende Anmerkungen werden es näher
zeigen.

1. Wie wunderbar hat der Dichter die Idee des körperlichen Schmerzes
zu verstärken und zu erweitern gewußt!  Er wählte eine Wunde--(denn
auch die Umstände der Geschichte kann man betrachten, als ob sie von
seiner Wahl abgehangen hätten, insofern er nämlich die ganze
Geschichte, eben dieser ihm vorteilhaften Umstände wegen, wählte)--er
wählte, sage ich, eine Wunde und nicht eine innerliche Krankheit;
weil sich von jener eine lebhaftere Vorstellung machen läßt, als von
dieser, wenn sie auch noch so schmerzlich ist.  Die innere
sympathetische Glut, welche den Meleager verzehrte, als ihn seine
Mutter in dem fatalen Brande ihrer schwesterlichen Wut aufopferte,
würde daher weniger theatralisch sein, als eine Wunde.  Und diese
Wunde war ein göttliches Strafgericht.  Ein mehr als natürliches Gift
tobte unaufhörlich darin, und nur ein stärkerer Anfall von Schmerzen
hatte seine gesetzte Zeit, nach welchem jedesmal der Unglückliche in
einen betäubenden Schlaf verfiel, in welchem sich seine erschöpfte
Natur erholen mußte, den nämlichen Weg des Leidens wieder antreten zu
können.  Chateaubrun läßt ihn bloß von dem vergifteten Pfeile eines
Trojaners verwundet sein.  Was kann man sich von einem so
gewöhnlichen Zufalle Außerordentliches versprechen?  Ihm war in den
alten Kriegen ein jeder ausgesetzt; wie kam es, daß er nur bei dem
Philoktet so schreckliche Folgen hatte?  Ein natürliches Gift, das
neun ganzer Jahre wirket, ohne zu töten, ist noch dazu weit
unwahrscheinlicher, als alle das fabelhafte Wunderbare, womit es der
Grieche ausgerüstet hat.

2. So groß und schrecklich er aber auch die körperlichen Schmerzen
seines Helden machte, so fühlte er es doch sehr wohl, daß sie allein
nicht hinreichend wären, einen merklichen Grad des Mitleids zu
erregen.  Er verband sie daher mit andern Übeln, die gleichfalls für
sich betrachtet nicht besonders rühren konnten, die aber durch diese
Verbindung einen ebenso melancholischen Anstrich erhielten, als sie
den körperlichen Schmerzen hinwiederum mitteilten.  Diese Übel waren,
völlige Beraubung der menschlichen Gesellschaft, Hunger und alle
Unbequemlichkeiten des Lebens, welchem man unter einem rauhen Himmel
in jener Beraubung ausgesetzet ist 1).  Man denke sich einen Menschen
in diesen Umständen, man gebe ihm aber Gesundheit, und Kräfte, und
Industrie, und es ist ein Robinson Crusoe, der auf unser Mitleid
wenig Anspruch macht, ob uns gleich sein Schicksal sonst gar nicht
gleichgültig ist.  Denn wir sind selten mit der menschlichen
Gesellschaft so zufrieden, daß uns die Ruhe, die wir außer derselben
genießen, nicht sehr reizend dünken sollte, besonders unter der
Vorstellung, welche jedes Individuum schmeichelt, daß es fremden
Beistandes nach und nach kann entbehren lernen.  Auf der andern Seite
gebe man einem Menschen die schmerzlichste unheilbarste Krankheit,
aber man denke ihn zugleich von gefälligen Freunden umgeben, die ihn
an nichts Mangel leiden lassen, die sein Übel, soviel in ihren
Kräften stehet, erleichtern, gegen die er unverhohlen klagen und
jammern darf: unstreitig werden wir Mitleid mit ihm haben, aber
dieses Mitleid dauert nicht in die Länge, endlich zucken wir die
Achsel und verweisen ihn zur Geduld.  Nur wenn beide Fälle
zusammenkommen, wenn der Einsame auch seines Körpers nicht mächtig
ist, wenn dem Kranken ebensowenig jemand anders hilft, als er sich
selbst helfen kann, und seine Klagen in der öden Luft verfliegen:
alsdann sehen wir alles Elend, was die menschliche Natur treffen kann,
über den Unglücklichen zusammenschlagen, und jeder flüchtige Gedanke,
mit dem wir uns an seiner Stelle denken, erreget Schaudern und
Entsetzen.  Wir erblicken nichts als die Verzweiflung in ihrer
schrecklichsten Gestalt vor uns, und kein Mitleid ist stärker, keines
zerschmelzet mehr die ganze Seele, als das, welches sich mit
Vorstellungen der Verzweiflung mischet.  Von dieser Art ist das
Mitleid, welches wir für den Philoktet empfinden, und in dem
Augenblicke am stärksten empfinden, wenn wir ihn auch seines Bogens
beraubt sehen, des einzigen, was ihm sein kümmerliches Leben erhalten
mußte.--O des Franzosen, der keinen Verstand, dieses zu überlegen,
kein Herz, dieses zu fühlen, gehabt hat!  Oder wann er es gehabt hat,
der klein genug war, dem armseligen Geschmacke seiner Nation alles
dieses aufzuopfern.  Chateaubrun gibt dem Philoktet Gesellschaft.  Er
läßt eine Prinzessin Tochter zu ihm in die wüste Insel kommen.  Und
auch diese ist nicht allein, sondern hat ihre Hofmeisterin bei sich;
ein Ding, von dem ich nicht weiß, ob es die Prinzessin oder der
Dichter nötiger gebraucht hat.  Das ganze vortreffliche Spiel mit dem
Bogen hat er weggelassen.  Dafür läßt er schöne Augen spielen.
Freilich würden Pfeil und Bogen der französischen Heldenjugend sehr
lustig vorgekommen sein.  Nichts hingegen ist ernsthafter als der
Zorn schöner Augen.  Der Grieche martert uns mit der greulichen
Besorgung, der arme Philoktet werde ohne seinen Bogen auf der wüsten
Insel bleiben und elendiglich umkommen müssen.  Der Franzose weiß
einen gewissern Weg zu unserm Herzen: er läßt uns fürchten, der Sohn
des Achilles werde ohne seine Prinzessin abziehen müssen.  Dieses
hießen denn auch die Pariser Kunstrichter, über die Alten
triumphieren, und einer schlug vor, das Chateaubrunsche Stück la
difficulté vaincue zu benennen 2).

{1. Wenn der Chor das Elend des Philoktet in dieser Verbindung
betrachtet, so scheinet ihn die hilflose Einsamkeit desselben ganz
besonders zu rühren.  In jedem Worte hören wir den geselligen
Griechen.  Über eine von den hierher gehörigen Stellen habe ich
indes meinen Zweifel.  Sie ist die (v. 201-205):

  In' autoV hn prosouroV, ouk ecwn basin,
  Oude tin' egcwrwn,
  Kakogeitona par' v stonon antitupon
  Barubrvt' apoklau-
  seien aimathron.


Die gemeine Winshemsche Übersetzung gibt dieses so:

  Ventis expositus et pedibus captus
  Nullum cohabitatorem
  Nec vicinum ullum saltem malum habens, apud quem gemitum mutuum
  Gravemque ac cruentum
  Ederet.


Hiervon weicht die interpolierte Übersetzung des Th. Johnson nur in
den Worten ab:

  Ubi ipse ventis erat expositus, firmum gradum non habens,
  Nec quenquam indigenarum,
  Nec malum vicinum, apud quem ploraret
  Vehementer edacem
  Sanguineum morbum, mutuo gemitu.


Man sollte glauben, er habe diese verÄnderten Worte aus der
gebundenen Übersetzung des Thomas Naogeorgus entlehnet.  Denn dieser
(sein Werk ist sehr selten, und Fabricius selbst hat es nur aus dem
Oporinschen Bücherverzeichnisse gekannt) drückt sich so aus:

 --ubi expositus fuit
  Ventis ipse, gradum firmum haud habens,
  Nec quenquam indigenam, nec vel malum
  Vicinum, ploraret apud quem
  Vehementer edacem atque cruentum
  Morbum mutuo.


Wenn diese Übersetzungen ihre Richtigkeit haben, so sagt der Chor das
StÄrkste, was man nur immer zum Lobe der menschlichen Gesellschaft
sagen kann: Der Elende hat keinen Menschen um sich; er weiß von
keinem freundlichen Nachbar; zu glücklich, wenn er auch nur einen
bÖsen Nachbar hätte!  Thomson würde sodann diese Stelle vielleicht
vor Augen gehabt haben, wenn er den gleichfalls in eine wüste Insel
von Bösewichtern ausgesetzten Melisander sagen läßt:

  Cast on the wildest of the Cyclad isles,
  Where never human foot had marked the shore,
  These ruffians left me--yet beliefe me, Arcas,
  Such is the rooted love we bear mankind,
  All ruffians as they were, I never heard
  A sound so dismal as their parting oars.


Auch ihm wÄre die Gesellschaft von BÖsewichtern lieber gewesen, als
gar keine.  Ein großer vortrefflicher Sinn!  Wenn es nur gewiß wäre,
daß Sophokles auch wirklich so etwas gesagt hätte.  Aber ich muß
ungern bekennen, daß ich nichts dergleichen bei ihm finde; es wäre
denn, daß ich lieber mit den Augen des alten Scholiasten, als mit
meinen eigenen sehen wollte, welcher die Worte des Dichters so
umschreibt: Ou monon opou kalon ouk eice tina tvn egcwriwn geitona,
alla oude kakon, par' ou amoibaion logon stenazwn akouseie.  Wie
dieser Auslegung die angefÜhrten Übersetzer gefolgt sind, so hat sich
auch ebensowohl Brumoy, als unser neuer deutscher Übersetzer daran
gehalten.  Jener sagt, sans société, même importune: und dieser
"jeder Gesellschaft, auch der beschwerlichsten beraubet".  Meine
Gründe, warum ich von ihnen allen abgehen muß, sind diese.  Erstlich
ist es offenbar, daß wenn kakogeitona von tin' egcwrwn getrennt
werden, und ein besonders Glied ausmachen sollte, die Partikel oude
vor kakogeitona notwendig wiederholt sein müßte.  Da sie es aber
nicht ist, so ist es ebenso offenbar, daß kakogeitona zu tina gehöret,
und das Komma nach egcwrwn wegfallen muß.  Dieses Komma hat sich aus
der Übersetzung eingeschlichen, wie ich denn wirklich finde, daß es
einige ganz griechische Ausgaben (z.  E. die wittenbergische von 1585
in Oktav, welche dem Fabricius völlig unbekannt geblieben) auch gar
nicht haben, und es erst, wie gehörig, nach kakogeitona setzen.
Zweitens ist das wohl ein böser Nachbar, von dem wir uns stonon
antitupon, amoibaion, wie es der Scholiast erklärt, versprechen
können?  Wechselsweise mit uns seufzen, ist die Eigenschaft eines
Freundes, nicht aber eines Feindes.  Kurz also: man hat das Wort
kakogeitona unrecht verstanden; man hat angenommen, daß es aus dem
Adjectivo kakoV zusammengesetzt sei, und es ist aus dem Substantivo
to kakon zusammengesetzt; man hat es durch einen bösen Nachbar
erklärt, und hätte es durch einen Nachbar des Bösen erklären sollen.
So wie kakomantiV nicht einen bösen, das ist falschen, unwahren
Propheten, sondern einen Propheten des Bösen, kakotecnoV nicht einen
bösen, ungeschickten Künstler, sondern einen Künstler im Bösen
bedeuten.  Unter einem Nachbar des Bösen versteht der Dichter aber
denjenigen, welcher entweder mit gleichen Unfällen, als wir, behaftet
ist, oder aus Freundschaft an unsern Unfällen Anteil nimmt; so daß
die ganzen Worte oud' ecwn tin' egcwrwn kakogeitona bloß durch neque
quenquam indigenarum mali socium habens zu übersetzen sind.  Der neue
englische Übersetzer des Sophokles, Thomas Franklin, kann nicht
anders als meiner Meinung gewesen sein, indem er den bösen Nachbar in
kakogeitwn auch nicht findet, sondern es bloß durch fellow-mourner
übersetzt:

  Expos'd to the inclement skies,
  Deserted and forlorn he lyes,
  No friend nor fellow-mourner there,
  To sooth his sorrow, and divide his care.}

{2. Mercure de France, Avril 1755. p. 177.}



3. Nach der Wirkung des Ganzen betrachte man die einzelnen Szenen, in
welchen Philoktet nicht mehr der verlassene Kranke ist; wo er
Hoffnung hat, nun bald die trostlose EinÖde zu verlassen und wieder
in sein Reich zu gelangen; wo sich also sein ganzes UnglÜck auf die
schmerzliche Wunde einschrÄnkt.  Er wimmert, er schreiet, er bekommt
die gräßlichsten Zuckungen.  Hierwider gehet eigentlich der Einwurf
des beleidigten Anstandes.  Es ist ein Engländer, welcher diesen
Einwurf macht; ein Mann also, bei welchem man nicht leicht eine
falsche Delikatesse argwöhnen darf.  Wie schon berührt, so gibt er
ihm auch einen sehr guten Grund.  Alle Empfindungen und
Leidenschaften, sagt er, mit welchen andere nur sehr wenig
sympathisieren können, werden anstößig, wenn man sie zu heftig
ausdrückt 1).  "Aus diesem Grunde ist nichts unanständiger, und einem
Manne unwürdiger, als wenn er den Schmerz, auch den allerheftigsten,
nicht mit Geduld ertragen kann, sondern weinet und schreiet.  Zwar
gibt es eine Sympathie mit dem körperlichen Schmerze.  Wenn wir sehen,
daß jemand einen Schlag auf den Arm oder das Schienbein bekommen
soll, so fahren wir natürlicherweise zusammen, und ziehen unsern
eigenen Arm, oder Schienbein, zurück; und wenn der Schlag wirklich
geschieht, so empfinden wir ihn gewissermaßen ebensowohl, als der,
den er getroffen.  Gleichwohl aber ist es gewiß, daß das Übel,
welches wir fühlen, gar nicht beträchtlich ist; wenn der Geschlagene
daher ein heftiges Geschrei erregt, so ermangeln wir nicht ihn zu
verachten, weil wir in der Verfassung nicht sind, ebenso heftig
schreien zu können, als er."--Nichts ist betrüglicher, als allgemeine
Gesetze für unsere Empfindungen.  Ihr Gewebe ist so fein und
verwickelt, daß es auch der behutsamsten Spekulation kaum möglich ist,
einen einzeln Faden rein aufzufassen und durch alle Kreuzfäden zu
verfolgen.  Gelingt es ihr aber auch schon, was für Nutzen hat es?
Es gibt in der Natur keine einzelne reine Empfindung; mit einer jeden
entstehen tausend andere zugleich, deren geringste die
Grundempfindung gänzlich verändert, so daß Ausnahmen über Ausnahmen
erwachsen, die das vermeintlich allgemeine Gesetz endlich selbst auf
eine bloße Erfahrung in wenig einzeln Fällen einschränken.--Wir
verachten denjenigen, sagt der Engländer, den wir unter körperlichen
Schmerzen heftig schreien hören.  Aber nicht immer: nicht zum ersten
Male; nicht, wenn wir sehen, daß der Leidende alles mögliche anwendet,
seinen Schmerz zu verbeißen; nicht, wenn wir ihn sonst als einen
Mann von Standhaftigkeit kennen; noch weniger, wenn wir ihn selbst
unter dem Leiden Proben von seiner Standhaftigkeit ablegen sehen,
wenn wir sehen, daß ihn der Schmerz zwar zum Schreien, aber auch zu
weiter nichts zwingen kann, daß er sich lieber der längern Fortdauer
dieses Schmerzes unterwirft, als das geringste in seiner Denkungsart,
in seinen Entschlüssen ändert, ob er schon in dieser Veränderung die
gänzliche Endschaft seines Schmerzes hoffen darf.  Das alles findet
sich bei dem Philoktet.  Die moralische Größe bestand bei den alten
Griechen in einer ebenso unveränderlichen Liebe gegen seine Freunde,
als unwandelbarem Hasse gegen seine Feinde.  Diese Größe behält
Philoktet bei allen seinen Martern.  Sein Schmerz hat seine Augen
nicht so vertrocknet, daß sie ihm keine Tränen über das Schicksal
seiner alten Freunde gewähren könnten.  Sein Schmerz hat ihn so mürbe
nicht gemacht, daß er, um ihn los zu werden, seinen Feinden vergeben,
und sich gern zu allen ihren eigennützigen Absichten brauchen lassen
möchte.  Und diesen Felsen von einem Manne hätten die Athenienser
verachten sollen, weil die Wellen, die ihn nicht erschüttern können,
ihn wenigstens ertönen machen?--Ich bekenne, daß ich an der
Philosophie des Cicero überhaupt wenig Geschmack finde; am
allerwenigsten aber an der, die er in dem zweiten Buche seiner
tuskulanischen Fragen über die Erduldung des körperlichen Schmerzes
auskramet.  Man sollte glauben, er wolle einen Gladiator abrichten,
so sehr eifert er wider den äußerlichen Ausdruck des Schmerzes.  In
diesem scheinet er allein die Ungeduld zu finden, ohne zu überlegen,
daß er oft nichts weniger als freiwillig ist, die wahre Tapferkeit
aber sich nur in freiwilligen Handlungen zeigen kann.  Er hört bei
dem Sophokles den Philoktet nur klagen und schreien, und übersieht
sein übriges standhaftes Betragen gänzlich.  Wo hätte er auch sonst
die Gelegenheit zu seinem rhetorischen Ausfalle wider die Dichter
hergenommen?  "Sie sollen uns weichlich machen, weil sie die
tapfersten Männer klagend einführen." Sie müssen sie klagen lassen;
denn ein Theater ist keine Arena.  Dem verdammten oder feilen Fechter
kam es zu, alles mit Anstand zu tun und zu leiden.  Von ihm mußte
kein kläglicher Laut gehöret, keine schmerzliche Zuckung erblickt
werden.  Denn da seine Wunden, sein Tod die Zuschauer ergötzen
sollten: so mußte die Kunst alles Gefühl verbergen lehren.  Die
geringste Äußerung desselben hätte Mitleiden erweckt, und öfters
erregtes Mitleiden würde diesen frostig grausamen Schauspielen bald
ein Ende gemacht haben.  Was aber hier nicht erregt werden sollte,
ist die einzige Absicht der tragischen Bühne, und fodert daher ein
gerade entgegengesetztes Betragen.  Ihre Helden müssen Gefühl zeigen,
müssen ihre Schmerzen äußern, und die bloße Natur in sich wirken
lassen.  Verraten sie Abrichtung und Zwang, so lassen sie unser Herz
kalt, und Klopffechter im Kothurne können höchstens nur bewundert
werden.  Diese Benennung verdienen alle Personen der sogenannten
Senecaschen Tragödien, und ich bin der festen Meinung, daß die
gladiatorischen Spiele die vornehmste Ursache gewesen, warum die
Römer in dem Tragischen noch so weit unter dem Mittelmäßigen
geblieben sind.  Die Zuschauer lernten in dem blutigen Amphitheater
alle Natur verkennen, wo allenfalls ein Ktesias seine Kunst studieren
konnte, aber nimmermehr ein Sophokles.  Das tragischste Genie, an
diese künstliche Todesszenen gewöhnet, mußte auf Bombast und
Rodomontaden verfallen.  Aber so wenig als solche Rodomontaden wahren
Heldenmut einflößen können, ebensowenig können Philoktetische Klagen
weichlich machen.  Die Klagen sind eines Menschen, aber die
Handlungen eines Helden.  Beide machen den menschlichen Helden, der
weder weichlich noch verhärtet ist, sondern bald dieses bald jenes
scheinet, so wie ihn itzt Natur, itzt Grundsätze und Pflicht
verlangen.  Er ist das Höchste, was die Weisheit hervorbringen, und
die Kunst nachahmen kann.

{1. The theory of moral sentiments, by Adam Smith.  Part.  I. sect. 2.
chap. 1. p. 41. (London 1761.)}

4. Nicht genug, daß Sophokles seinen empfindlichen Philoktet vor der
Verachtung gesichert hat; er hat auch allem andern weislich
vorgebauet, was man sonst aus der Anmerkung des Engländers wider ihn
erinnern könnte.  Denn verachten wir schon denjenigen nicht immer,
der bei körperlichen Schmerzen schreiet, so ist doch dieses
unwidersprechlich, daß wir nicht so viel Mitleiden für ihn empfinden,
als dieses Geschrei zu erfordern scheinet.  Wie sollen sich also
diejenigen verhalten, die mit dem schreienden Philoktet zu tun haben?
Sollen sie sich in einem hohen Grade gerührt stellen?  Es ist wider
die Natur.  Sollen sie sich so kalt und verlegen bezeigen, als man
wirklich bei dergleichen Fälle zu sein pflegt?  Das würde die
widrigste Dissonanz für den Zuschauer hervorbringen.  Aber, wie
gesagt, auch diesem hat Sophokles vorgebauet.  Dadurch nämlich, daß
die Nebenpersonen ihr eigenes Interesse haben; daß der Eindruck,
welchen das Schreien des Philoktet auf sie macht, nicht das einzige
ist, was sie beschäftiget, und der Zuschauer daher nicht sowohl auf
die Disproportion ihres Mitleids mit diesem Geschrei, als vielmehr
auf die Veränderung achtgibt, die in ihren eigenen Gesinnungen und
Anschlägen durch das Mitleid, sei es so schwach oder so stark es will,
entstehet, oder entstehen sollte.  Neoptolem und der Chor haben den
unglücklichen Philoktet hintergangen; sie erkennen, in welche
Verzweiflung ihn ihr Betrug stürzen werde; nun bekommt er seinen
schrecklichen Zufall vor ihren Augen; kann dieser Zufall keine
merkliche sympathetische Empfindung in ihnen erregen, so kann er sie
doch antreiben, in sich zu gehen, gegen so viel Elend Achtung zu
haben, und es durch Verräterei nicht häufen zu wollen.  Dieses
erwartet der Zuschauer, und seine Erwartung findet sich von dem
edelmütigen Neoptolem nicht getäuscht.  Philoktet, seiner Schmerzen
Meister, würde den Neoptolem bei seiner Verstellung erhalten haben.
Philoktet, den sein Schmerz aller Verstellung unfähig macht, so
höchst nötig sie ihm auch scheinet, damit seinen künftigen
Reisegefährten das Versprechen, ihn mit sich zu nehmen, nicht zu bald
gereue; Philoktet, der ganz Natur ist, bringt auch den Neoptolem zu
seiner Natur wieder zurück.  Diese Umkehr ist vortrefflich, und um so
viel rührender, da sie von der bloßen Menschlichkeit bewirket wird.
Bei dem Franzosen haben wiederum die schönen Augen ihren Teil daran
2).  Doch ich will an diese Parodie nicht mehr denken.--Des nämlichen
Kunstgriffs, mit dem Mitleiden, welches das Geschrei über körperliche
Schmerzen hervorbringen sollte, in den Umstehenden einen andern
Affekt zu verbinden, hat sich Sophokles auch in den "Trachinerinnen"
bedient.  Der Schmerz des Herkules ist kein ermattender Schmerz; er
treibt ihn bis zur Raserei, in der er nach nichts als nach Rache
schnaubet.  Schon hatte er in dieser Wut den Lichas ergriffen, und an
dem Felsen zerschmettert.  Der Chor ist weiblich; um so viel
natürlicher muß sich Furcht und Entsetzen seiner bemeistern.  Dieses,
und die Erwartung, ob noch ein Gott dem Herkules zu Hilfe eilen, oder
Herkules unter diesem Übel erliegen werde, macht hier das eigentliche
allgemeine Interesse, welches von dem Mitleiden nur eine geringe
Schattierung erhält.  Sobald der Ausgang durch die Zusammenhaltung
der Orakel entschieden ist, wird Herkules ruhig, und die Bewunderung
über seinen letzten Entschluß tritt an die Stelle aller andern
Empfindungen.  Überhaupt aber muß man bei der Vergleichung des
leidenden Herkules mit dem leidenden Philoktet nicht vergessen, daß
jener ein Halbgott, und dieser nur ein Mensch ist.  Der Mensch schämt
sich seiner Klagen nie; aber der Halbgott schämt sich, daß sein
sterblicher Teil über den unsterblichen so viel vermocht habe, daß er
wie ein Mädchen weinen und winseln müssen 3).  Wir Neuern glauben
keine Halbgötter, aber der geringste Held soll bei uns wie ein
Halbgott empfinden, und handeln.

{2. Act.  Il.  Sc.  III. De mes déguisements que penserait Sophie?
sagt der Sohn des Achilles.}

{3. Trach. v. 1088. 1089.

 --ostiV wste parJenoV
  Bebruca kleiwn--}


Ob der Schauspieler das Geschrei und die Verzuckungen des Schmerzes
bis zur Illusion bringen kÖnne, will ich weder zu verneinen noch zu
bejahen wagen.  Wenn ich fÄnde, daß es unsere Schauspieler nicht
könnten, so mÜßte ich erst wissen, ob es auch ein Garrick nicht
vermögend wäre: und wenn es auch diesem nicht gelänge, so würde ich
mir noch immer die Skävopöie und Deklamation der Alten in einer
Vollkommenheit denken dürfen, von der wir heutzutage gar keinen
Begriff haben.



V.


Es gibt Kenner des Altertums, welche die Gruppe Laokoon zwar für ein
Werk griechischer Meister, aber aus der Zeit der Kaiser halten, weil
sie glauben, daß der Virgilische Laokoon dabei zum Vorbilde gedienet
habe.  Ich will von den ältern Gelehrten, die dieser Meinung gewesen
sind, nur den Bartholomäus Marliani 1), und von den neuern den
Montfaucon 2) nennen.  Sie fanden ohne Zweifel zwischen dem
Kunstwerke und der Beschreibung des Dichters eine so besondere
Übereinstimmung, daß es ihnen unmöglich dünkte, daß beide von
ohngefähr auf einerlei Umstände sollten gefallen sein, die sich
nichts weniger, als von selbst darbieten.  Dabei setzten sie voraus,
daß wenn es auf die Ehre der Erfindung und des ersten Gedankens
ankomme, die Wahrscheinlichkeit für den Dichter ungleich größer sei,
als für den Künstler.

{1. Topographiae Urbis Romae libr. IV. cap. 14. Et quanquam hi
(Agesander et Polydorus et Athenodorus Rhodii) ex Virgilii
descriptione statuam hanc formavisse videntur etc.}

{2. Suppl. aux Ant.  Expliq.  T. I. p. 242. Il semble qu'Agésandre,
Polydore et Athénodore, qui en furent les ouvriers, aient travaillé
comme à l'envie, pour laisser un monument, qui répondait à
l'incomparable description qu'a fait Virgile de Laocoon etc.}

Nur scheinen sie vergessen zu haben, daß ein dritter Fall möglich sei.
Denn vielleicht hat der Dichter ebensowenig den Künstler, als der
Künstler den Dichter nachgeahmt, sondern beide haben aus einerlei
älteren Quelle geschöpft.  Nach dem Macrobius würde Pisander diese
ältere Quelle sein können 3).  Denn als die Werke dieses griechischen
Dichters noch vorhanden waren, war es schulkundig, pueris decantatum,
daß der Römer die ganze Eroberung und Zerstörung Iliums, sein ganzes
zweites Buch, aus ihm nicht sowohl nachgeahmt, als treulich übersetzt
habe.  Wäre nun also Pisander auch in der Geschichte des Laokoon
Virgils Vorgänger gewesen, so brauchten die griechischen Künstler
ihre Anleitung nicht aus einem lateinischen Dichter zu holen, und die
Mutmaßung von ihrem Zeitalter gründet sich auf nichts.

{3. Saturnal. lib. V. cap. 2. Quae Virgilius traxit a Graecis,
dicturumne me putetis quae vulgo nota sunt? quod Theocritum sibi
fecerit pastoralis operis autorem, ruralis Hesiodum? et quod in ipsis
Georgicis tempestatis serenitatisque signa de Arati Phaenomenis
traxerit? vel quod eversionem Trojae, cum Sinone suo, et equo ligneo,
ceterisque omnibus, quae librum secundum faciunt, a Pisandro paene ad
verbum transcripserit? qui inter Graecos poetas eminet opere, quod a
nuptiis Jovis et Junonis incipiens universas historias, quae mediis
omnibus sacculis usque ad aetatem ipsius Pisandri contigerunt, in
unam seriem coactas redegerit, et unum ex diversis hiatibus temporum
corpus effecerit? in quo opere inter historias ceteras interitus
quoque Trojae in hunc modum relatus est.  Quae fideliter Maro
interpretando, fabricatus est sibi Iliacae urbis ruinam.  Sed et haec
et talia ut pueris decantata praetereo.}

Indes wenn ich notwendig die Meinung des Marliani und Montfaucon
behaupten müßte, so würde ich ihnen folgende Ausflucht leihen.
Pisanders Gedichte sind verloren; wie die Geschichte des Laokoon von
ihm erzählet worden, läßt sich mit Gewißheit nicht sagen; es ist aber
wahrscheinlich, daß es mit eben den Umständen geschehen sei, von
welchen wir noch itzt bei griechischen Schriftstellern Spuren finden.
Nun kommen aber diese mit der Erzählung des Virgils im geringsten
nicht überein, sondern der römische Dichter muß die griechische
Tradition völlig nach seinem Gutdünken umgeschmolzen haben.  Wie er
das Unglück des Laokoon erzählet, so ist es seine eigene Erfindung;
folglich, wenn die Künstler in ihrer Vorstellung mit ihm harmonieren,
so können sie nicht wohl anders als nach seiner Zeit gelebt, und nach
seinem Vorbilde gearbeitet haben.

Quintus Calaber läßt zwar den Laokoon einen gleichen Verdacht, wie
Virgil, wider das hölzerne Pferd bezeigen; allein der Zorn der
Minerva, welchen sich dieser dadurch zuziehet, äußert sich bei ihm
ganz anders.  Die Erde erbebt unter dem warnenden Trojaner; Schrecken
und Angst überfallen ihn; ein brennender Schmerz tobet in seinen
Augen; sein Gehirn leidet; er raset; er verblindet.  Erst, da er
blind noch nicht aufhört, die Verbrennung des hölzernen Pferdes
anzuraten, sendet Minerva zwei schreckliche Drachen, die aber bloß
die Kinder des Laokoon ergreifen.  Umsonst strecken diese die Hände
nach ihrem Vater aus; der arme blinde Mann kann ihnen nicht helfen;
sie werden zerfleischt, und die Schlangen schlupfen in die Erde.  Dem
Laokoon selbst geschieht von ihnen nichts; und daß dieser Umstand dem
Quintus 4) nicht eigen, sondern vielmehr allgemein angenommen müsse
gewesen sein, bezeiget eine Stelle des Lykophron, wo diese Schlangen
5) das Beiwort der Kinderfresser führen.

{4. Paralip. lib. XII. v. 398-408 et v. 439-474.}

{5. Oder vielmehr Schlange: denn Lykophron scheinet nur eine
angenommen zu haben:

Kai paidobrvtoV porkewV nhsouV diplaV.}

War er aber, dieser Umstand, bei den Griechen allgemein angenommen,
so würden sich griechische Künstler schwerlich erkühnt haben, von ihm
abzuweichen, und schwerlich würde es sich getroffen haben, daß sie
auf eben die Art wie ein römischer Dichter abgewichen wären, wenn sie
diesen Dichter nicht gekannt hätten, wenn sie vielleicht nicht den
ausdrücklichen Auftrag gehabt hätten, nach ihm zu arbeiten.  Auf
diesem Punkte, meine ich, müßte man bestehen, wenn man den Marliani
und Montfaucon verteidigen wollte.  Virgil ist der erste und einzige
6), welcher sowohl Vater als Kinder von den Schlangen umbringen läßt;
die Bildhauer tun dieses gleichfalls, da sie es doch als Griechen
nicht hätten tun sollen: also ist es wahrscheinlich, daß sie es auf
Veranlassung des Virgils getan haben.

{6. Ich erinnere mich, daß man das Gemälde hierwider anführen könnte,
welches Eumolp bei dem Petron auslegt.  Es stellte die Zerstörung von
Troja, und besonders die Geschichte des Laokoon, vollkommen so vor,
als sie Virgil erzählet; und da in der nämlichen Galerie zu Neapel,
in der es stand, andere alte Gemälde vom Zeuxis, Protogenes, Apelles
waren, so ließe sich vermuten, daß es gleichfalls ein altes
griechisches Gemälde gewesen sei.  Allein man erlaube mir, einen
Romandichter für keinen Historikus halten zu dürfen.  Diese Galerie,
und dieses Gemälde, und dieser Eumolp haben, allem Ansehen nach,
nirgends als in der Phantasie des Petrons existieret.  Nichts verrät
ihre gänzliche Erdichtung deutlicher, als die offenbaren Spuren einer
beinahe schülermäßigen Nachahmung der Virgilischen Beschreibung.  Es
wird sich der Mühe verlohnen, die Vergleichung anzustellen.  So
Virgil: (Aeneid. lib. II. 199-224.)

  Hic aliud majus miseris multoque tremendum
  Objicitur magis, atque improvida pectora turbat.
  Laocoon, ductus Neptuno sorte sacerdos,
  Solemnis taurum ingentem mactabat ad aras.
  Ecce autem gemini a Tenedo tranquilla per alta
  (Horresco referens) immensis orbibus angues
  Incumbunt pelago, pariterque ad litora tendunt:
  Pectora quorum inter fluctus arrecta, jubaeque
  Sanguineae exsuperant undas: pars cetera pontum
  Pone legit, sinuatque immensa volumine terga.
  Fit sonitus spumante salo: jamque arva tenebant,
  Ardentesque oculos suffecti sanguine et igni
  Sibila lambebant linguis vibrantibus ora.
  Diffugimus visu exsangues. Illi agmine certo
  Laocoonta petunt, et primum parva duorum
  Corpora natorum serpens amplexus uterque
  Implicat, et miseros morsu depascitur artus.
  Post ipsum, auxilio subeuntem ac tela ferentem,
  Corripiunt, spirisque ligant ingentibus: et jam
  Bis medium amplexi, bis collo squamea circum
  Terga dati, superant capite et cervicibus altis.
  Ille simul manibus tendit divellere nodos,
  Perfusus sanie vittas atroque veneno:
  Clamores simul horrendos ad sidera tollit.
  Quales mugitus, fugit cum saucius aram
  Taurus et incertam excussit cervice securim.


Und so Eumolp, (von dem man sagen kÖnnte, daß es ihm wie allen Poeten
aus dem Stegreife ergangen sei: ihr GedÄchtnis hat immer an ihren
Versen ebensoviel Anteil, als ihre Einbildung):

  Ecce alia monstra. Celsa qua Tenedos mare
  Dorso repellit, tumida consurgunt freta,
  Undaque resultat scissa tranquillo minor.
  Qualis silenti nocte remorum sonus.
  Longe refertur, cum premunt classes mare,
  Pulsumque marmor abiete imposita gemit.
  Respicimus, angues orbibus geminis ferunt
  Ad saxa fluctus: tumida quorum pectora
  Rates ut altae, lateribus spumas agunt:
  Dant caudae sonitum; liberae ponto jubae
  Coruscant luminibus, fulmineum jubar
  Incendit aequor, sibilisque undae tremunt.
  Stupuere mentes. Infulis stabant sacri
  Phrygioque cultu gemina nati pignora
  Laocoonte, quos repente tergoribus ligant
  Angues corusci: parvulas illi manus
  Ad ora referunt: neuter auxilio sibi
  Uterque fratri transtulit pias vices,
  Morsque ipsa miseros mutuo perdit metu.
  Accumulat ecce liberûm funus parens,
  Infirmus auxiliator; invadunt virum
  Jam morte pasti, membraque ad terram trahunt.
  Jacet sacerdos inter aras victima.


Die HauptzÜge sind in beiden Stellen eben dieselben, und
verschiedenes ist mit den nÄmlichen Worten ausgedrückt.  Doch das
sind Kleinigkeiten, die von selbst in die Augen fallen.  Es gibt
andere Kennzeichen der Nachahmung, die feiner, aber nicht weniger
sicher sind.  Ist der Nachahmer ein Mann, der sich etwas zutrauet, so
ahmet er selten nach, ohne verschÖnern zu wollen; und wenn ihm dieses
Verschönern, nach seiner Meinung, geglückt ist, so ist er Fuchs genug,
seine Fußtapfen, die den Weg, welchen er hergekommen, verraten
würden, mit dem Schwanze zuzukehren.  Aber eben diese eitle Begierde
zu verschönern, und diese Behutsamkeit Original zu scheinen, entdeckt
ihn.  Denn sein Verschönern ist nichts als Übertreibung und
unnatürliches Raffinieren.  Virgil sagt, sanguineae jubae: Petron,
liberae jubae luminibus coruscant.  Virgil, ardentes oculos suffecti
sanguine er igni: Petron, fulmineum jubar incendit aequor.  Virgil,
fit sonitus spumante salo: Petron, sibilis undae tremunt.  So geht
der Nachahmer immer aus dem Großen ins Ungeheuere; aus dem
Wunderbaren ins Unmögliche.  Die von den Schlangen umwundenen Knaben
sind dem Virgil ein Parergon, das er mit wenigen bedeutenden Strichen
hinsetzt, in welchen man nichts als ihr Unvermögen und ihren Jammer
erkennet.  Petron malt dieses Nebenwerk aus, und macht aus den Knaben
ein Paar heldenmütige Seelen,

  --neuter auxilio sibi,
  Uterque fratri transtulit pias vices,
  Morsque ipsa miseros mutuo perdit metu.


Wer erwartet von Menschen, von Kindern, diese Selbstverleugnung?  Wie
viel besser kannte der Grieche die Natur, (Quintus Calaber lib. XII.
v. 459-461.)  welcher, bei Erscheinung der schrecklichen Schlangen,
sogar die MÜtter ihrer Kinder vergessen lÄßt, so sehr war jedes nur
auf seine eigene Erhaltung bedacht.

  --enJa gunaikeV
  Oimwzon, kai pou tiV ewn epelhsato teknwn,
  Auth aleuomenh stugeron moron--


Zu verbergen sucht sich der Nachahmer gemeiniglich dadurch, daß er
den GegenstÄnden eine andere Beleuchtung gibt, die Schatten des
Originals heraus-, und die Lichter zurÜcktreibt.  Virgil gibt sich
Mühe, die GrÖße der Schlangen recht sichtbar zu machen, weil von
dieser Größe die Wahrscheinlichkeit der folgenden Erscheinung abhängt;
das Geräusche, welches sie verursachen, ist nur eine Nebenidee, und
bestimmt, den Begriff der Größe auch dadurch lebhafter zu machen.
Petron hingegen macht diese Nebenidee zur Hauptsache, beschreibt das
Geräusch mit aller möglichen Üppigkeit, und vergißt die Schilderung
der Größe so sehr, daß wir sie nur fast aus dem Geräusche schließen
müssen.  Es ist schwerlich zu glauben, daß er in diese
Ungeschicklichkeit verfallen wäre, wenn er bloß aus seiner Einbildung
geschildert, und kein Muster vor sich gehabt hätte, dem er
nachzeichnen, dem er aber nachgezeichnet zu haben, nicht verraten
wollen.  So kann man zuverlässig jedes poetische Gemälde, das in
kleinen Zögen überladen, und in den großen fehlerhaft ist, für eine
verunglückte Nachahmung halten, es mag sonst so viele kleine
Schönheiten haben als es will, und das Original mag sich lassen
angeben können oder nicht.}

Ich empfinde sehr wohl, wieviel dieser Wahrscheinlichkeit zur
historischen Gewißheit mangelt.  Aber da ich auch nichts Historisches
weiter daraus schließen will, so glaube ich wenigstens, daß man sie
als eine Hypothesis kann gelten lassen, nach welcher der Kritikus
seine Betrachtungen anstellen darf.  Bewiesen oder nicht bewiesen,
daß die Bildhauer dem Virgil nachgearbeitet haben, ich will es bloß
annehmen, um zu sehen, wie sie ihm sodann nachgearbeitet hätten.
Über das Geschrei habe ich mich schon erklärt.  Vielleicht, daß
mich die weitere Vergleichung auf nicht weniger unterrichtende
Bemerkungen leitet.

Der Einfall, den Vater mit seinen beiden Söhnen durch die mördrischen
Schlangen in einen Knoten zu schürzen, ist ohnstreitig ein sehr
glücklicher Einfall, der von einer ungemein malerischen Phantasie
zeuget.  Wem gehört er?  Dem Dichter, oder den Künstlern?  Montfaucon
will ihn bei dem Dichter nicht finden 1).  Aber ich meine, Montfaucon
hat den Dichter nicht aufmerksam genug gelesen.

{1. Suppl. aux Antiq.  Expl.  T. I. p. 243. Il y a quelque petite
différence entre ce que dit Virgile, et ce que le marbre représente.
Il semble, selon ce que dit le poète, que les serpents quittèrent les
deux enfants pour venir entortiller le père, au lieu que dans ce
marbre ils lient en même temps les enfants et leur père.}

  --illi agmine certo
  Laocoonta petunt, et primum parva duorum
  Corpora natorum serpens amplexus uterque
  Implicat et miseros morsu depascitur artus.
  Post ipsum, auxilio subeuntem et tela ferentem
  Corripiunt, spirisque ligant ingentibus--


Der Dichter hat die Schlangen von einer wunderbaren LÄnge geschildert.
Sie haben die Knaben umstrickt, und da der Vater ihnen zu Hilfe
kÖmmt, ergreifen sie auch ihn (corripiunt).  Nach ihrer Größe konnten
sie sich nicht auf einmal von den Knaben loswinden; es mußte also
einen Augenblick geben, da sie den Vater mit ihren Köpfen und
Vorderteilen schon angefallen hatten, und mit ihren Hinterteilen die
Knaben noch verschlungen hielten.  Dieser Augenblick ist in der
Fortschreitung des poetischen Gemäldes notwendig; der Dichter läßt
ihn sattsam empfinden; nur ihn auszumalen, dazu war itzt die Zeit
nicht.  Daß ihn die alten Ausleger auch wirklich empfunden haben,
scheinet eine Stelle des Donatus 2) zu bezeigen.  Wieviel weniger
wird er den KÜnstlern entwischt sein, in deren verständiges Auge
alles, was ihnen vorteilhaft werden kann, so schnell und deutlich
einleuchtet?

{2. Donatus ad v. 227. lib. II. Aeneid.  Mirandum non est, clipeo et
simulacri vestigiis tegi potuisse, quos supra et longos et validos
dixit, et multiplici ambitu circumdedisse Laocoontis corpus ac
liberorum, et fuisse superfluam partem.  Mich dünkt übrigens, daß in
dieser Stelle aus den Worten mirandum non est entweder das non
wegfallen muß oder am Ende der ganze Nachsatz mangelt.  Denn da die
Schlangen so außerordentlich groß waren, so ist es allerdings zu
verwundern, daß sie sich unter dem Schilde der Göttin verbergen
können, wenn dieses Schild nicht selbst sehr groß war und zu einer
kolossalischen Figur gehörte.  Und die Versicherung hievon mußte der
mangelnde Nachsatz sein; oder das non hat keinen Sinn.}

In den Windungen selbst, mit welchen der Dichter die Schlangen um den
Laokoon führet, vermeidet er sehr sorgfältig die Arme, um den Händen
alle ihre Wirksamkeit zu lassen.

Ille simul manibus tendit divellere nodos.

Hierin mußten ihm die Künstler notwendig folgen.  Nichts gibt mehr
Ausdruck und Leben, als die Bewegung der Hände; im Affekte besonders,
ist das sprechendste Gesicht ohne sie unbedeutend.  Arme, durch die
Ringe der Schlangen fest an den Körper geschlossen, würden Frost und
Tod über die ganze Gruppe verbreitet haben.  Also sehen wir sie, an
der Hauptfigur sowohl als an den Nebenfiguren, in völliger Tätigkeit,
und da am meisten beschäftiget, wo gegenwärtig der heftigste Schmerz
ist.

Weiter aber auch nichts, als diese Freiheit der Arme, fanden die
Künstler zuträglich, in Ansehung der Verstrickung der Schlangen, von
dem Dichter zu entlehnen.  Virgil läßt die Schlangen doppelt um den
Leib, und doppelt um den Hals des Laokoon sich winden, und hoch mit
ihren Köpfen über ihn herausragen.

Bis medium amplexi, bis collo squamea circum Terga dati, superant
capite er cervicibus altis.


Dieses Bild füllet unsere Einbildungskraft vortrefflich; die edelsten
Teile sind bis zum Ersticken gepreßt, und das Gift gehet gerade nach
dem Gesichte.  Demohngeachtet war es kein Bild für Künstler, welche
die Wirkungen des Giftes und des Schmerzes in dem Körper zeigen
wollten.  Denn um diese bemerken zu können, mußten die Hauptteile so
frei sein als möglich, und durchaus mußte kein äußrer Druck auf sie
wirken, welcher das Spiel der leidenden Nerven und arbeitenden
Muskeln verändern und schwächen könnte.  Die doppelten Windungen der
Schlangen würden den ganzen Leib verdeckt haben, und jene
schmerzliche Einziehung des Unterleibes, welche so sehr ausdrückend
ist, würde unsichtbar geblieben sein.  Was man über, oder unter, oder
zwischen den Windungen, von dem Leibe noch erblickt hätte, würde
unter Pressungen und Aufschwellungen erschienen sein, die nicht von
dem innern Schmerze, sondern von der äußern Last gewirket worden.
Der ebenso oft umschlungene Hals würde die pyramidalische Zuspitzung
der Gruppe, welche dem Auge so angenehm ist, gänzlich verdorben haben;
und die aus dieser Wulst ins Freie hinausragende spitze
Schlangenköpfe hätten einen so plötzlichen Abfall von Mensur gehabt,
daß die Form des Ganzen äußerst anstößig geworden wäre.  Es gibt
Zeichner, welche unverständig genug gewesen sind, sich demohngeachtet
an den Dichter zu binden.  Was denn aber auch daraus geworden, läßt
sich unter andern aus einem Blatte des Franz Cleyn 3) mit Abscheu
erkennen.  Die alten Bildhauer übersahen es mit einem Blicke, daß
ihre Kunst hier eine gänzliche Abänderung erfordere.  Sie verlegten
alle Windungen von dem Leibe und Halse, um die Schenkel und Füße.
Hier konnten diese Windungen, dem Ausdrucke unbeschadet, so viel
decken und pressen, als nötig war.  Hier erregten sie zugleich die
Idee der gehemmten Flucht und einer Art von Unbeweglichkeit, die der
künstlichen Fortdauer des nämlichen Zustandes sehr vorteilhaft ist.

{3. In der prächtigen Ausgabe von Drydens englischem Virgil.  (London
1697 in groß Folio.)  Und doch hat auch dieser die Windungen der
Schlangen um den Leib nur einfach, und um den Hals fast gar nicht
geführt.  Wenn ein so mittelmäßiger Künstler anders eine
Entschuldigung verdient, so könnte ihm nur die zustatten kommen, daß
Kupfer zu einem Buche als bloße Erläuterungen, nicht aber als für
sich bestehende Kunstwerke zu betrachten sind.}

Ich weiß nicht, wie es gekommen, daß die Kunstrichter diese
Verschiedenheit, welche sich in den Windungen der Schlangen zwischen
dem Kunstwerke und der Beschreibung des Dichters so deutlich zeiget,
gänzlich mit Stillschweigen übergangen haben.  Sie erhebet die
Weisheit der Künstler ebensosehr als die andre, auf die sie alle
fallen, die sie aber nicht sowohl anzupreisen wagen, als vielmehr nur
zu entschuldigen suchen.  Ich meine die Verschiedenheit in der
Bekleidung.  Virgils Laokoon ist in seinem priesterlichen Ornate, und
in der Gruppe erscheinet er, mit beiden seinen Söhnen, völlig nackend.
Man sagt, es gebe Leute, welche eine große Ungereimtheit darin
fänden, daß ein Königssohn, ein Priester, bei einem Opfer, nackend
vorgestellet werde.  Und diesen Leuten antworten Kenner der Kunst in
allem Ernste, daß es allerdings ein Fehler wider das übliche sei, daß
aber die Künstler dazu gezwungen worden, weil sie ihren Figuren keine
anständige Kleidung geben können.  Die Bildhauerei, sagen sie, könne
keine Stoffe nachahmen; dicke Falten machten ein üble Wirkung; aus
zwei Unbequemlichkeiten habe man also die geringste wählen, und
lieber gegen die Wahrheit selbst verstoßen, als in den Gewändern
tadelhaft werden müssen 4).  Wenn die alten Artisten bei dem Einwurfe
lachen würden, so weiß ich nicht, was sie zu der Beantwortung sagen
dürften.  Man kann die Kunst nicht tiefer herabsetzen, als es dadurch
geschiehet.  Denn gesetzt, die Skulptur könnte die verschiednen
Stoffe ebensogut nachahmen, als die Malerei: würde sodann Laokoon
notwendig bekleidet sein müssen?  Würden wir unter dieser Bekleidung
nichts verlieren?  Hat ein Gewand, das Werk sklavischer Hände,
ebensoviel Schönheit als das Werk der ewigen Weisheit, ein
organisierter Körper?  Erfordert es einerlei Fähigkeiten, ist es
einerlei Verdienst, bringt es einerlei Ehre, jenes oder diesen
nachzuahmen?  Wollen unsere Augen nur getäuscht sein, und ist es
ihnen gleich viel, womit sie getäuscht werden?

{4. So urteilet selbst De Piles in seinen Anmerkungen über den Du
Fresnoy v. 210. Remarquez, s'il vous plaît, que les draperies tendres
et légères n'étant données qu'au sexe féminin, les anciens sculpteurs
ont évité autant qu'ils ont pu, d'habiller les figures d'hommes;
parce qu'ils ont pensé, comme nous l'avons déjà dit, qu'en sculpture
on ne pouvait imiter les étoffes et que les gros plis faisaient un
mauvais effet.  Il y a presque autant d'exemples de cette vérité,
qu'il y a parmi les antiques de figures d'hommes nus.  Je rapporterai
seulement celui du Laocoon, lequel selon la vraisemblance devrait
être vêtu.  En effet, quelle apparence y-a-t-il qu'un fils de roi,
qu'un prêtre d'Apollon se trouvât tout nu dans la cérémonie actuelle
d'un sacrifice; car les serpents passèrent de l'île de Ténédos au
rivage de Troie, et surprirent Laocoon et ses fils dans le temps même
qu'il sacrifiait à Neptune sur le bord de la mer, comme le marque
Virgile dans le second livre de son Enéide.  Cependant les artistes,
qui sont les auteurs de ce bel ouvrage, ont bien vu, qu'ils ne
pouvaient pas leur donner de vêtements convenables à leur qualité,
sans faire comme un amas de pierres, dont la masse ressemblerait à un
rocher, au lieu des trois admirables figures, qui ont été et qui sont
toujours l'admiration des siècles.  C'est pour cela que de deux
inconvénients, ils ont jugé celui des draperies beaucoup plus fâcheux,
que celui d'aller contre la vérité même.}

Bei dem Dichter ist ein Gewand kein Gewand; es verdeckt nichts;
unsere Einbildungskraft sieht überall hindurch.  Laokoon habe es bei
dem Virgil, oder habe es nicht, sein Leiden ist ihr an jedem Teile
seines Körpers einmal so sichtbar, wie das andere.  Die Stirne ist
mit der priesterlichen Binde für sie umbunden, aber nicht umhüllet.
Ja sie hindert nicht allein nicht, diese Binde; sie verstärkt auch
noch den Begriff, den wir uns von dem Unglücke des Leidenden machen.

Perfusus sanie vittas atroque veneno.

Nichts hilft ihm seine priesterliche Würde; selbst das Zeichen
derselben, das ihm überall Ansehen und Verehrung verschafft, wird von
dem giftigen Geifer durchnetzt und entheiliget.

Aber diesen Nebenbegriff mußte der Artist aufgeben, wenn das
Hauptwerk nicht leiden sollte.  Hätte er dem Laokoon auch nur diese
Binde gelassen, so würde er den Ausdruck um ein Großes geschwächt
haben.  Die Stirne wäre zum Teil verdeckt worden, und die Stirne ist
der Sitz des Ausdruckes.  Wie er also dort, bei dem Schreien, den
Ausdruck der Schönheit aufopferte, so opferte er hier das Übliche dem
Ausdrucke auf.  Überhaupt war das Übliche bei den Alten eine sehr
geringschätzige Sache.  Sie fühlten, daß die höchste Bestimmung ihrer
Kunst sie auf die völlige Entbehrung desselben führte.  Schönheit ist
diese höchste Bestimmung; Not erfand die Kleider, und was hat die
Kunst mit der Not zu tun?  Ich gebe es zu, daß es auch eine Schönheit
der Bekleidung gibt; aber was ist sie, gegen die Schönheit der
menschlichen Form?  Und wird der, der das Größere erreichen kann,
sich mit dem Kleinern begnügen?  Ich fürchte sehr, der vollkommenste
Meister in Gewändern zeigt durch diese Geschicklichkeit selbst, woran
es ihm fehlt.



VI.


Meine Voraussetzung, daß die Künstler dem Dichter nachgeahmt haben,
gereicht ihnen nicht zur Verkleinerung.  Ihre Weisheit erscheinet
vielmehr durch diese Nachahmung in dem schönsten Lichte.  Sie folgten
dem Dichter, ohne sich in der geringsten Kleinigkeit von ihm
verführen zu lassen.  Sie hatten ein Vorbild, aber da sie dieses
Vorbild aus einer Kunst in die andere hinübertragen mußten, so fanden
sie genug Gelegenheit selbst zu denken.  Und diese ihre eigene
Gedanken, welche sich in den Abweichungen von ihrem Vorbilde zeigen,
beweisen, daß sie in ihrer Kunst ebenso groß gewesen sind, als er in
der seinigen.

Nun will ich die Voraussetzung umkehren: der Dichter soll den
Künstlern nachgeahmt haben.  Es gibt Gelehrte, die diese
Voraussetzung als eine Wahrheit behaupten 1).  Daß sie historische
Gründe dazu haben könnten, wüßte ich nicht.  Aber, da sie das
Kunstwerk so überschwenglich schön fanden, so konnten sie sich nicht
bereden, daß es aus so später Zeit sein sollte.  Es mußte aus der
Zeit sein, da die Kunst in ihrer vollkommensten Blüte war, weil es
daraus zu sein verdiente.

{1. Maffei, Richardson und noch neuerlich der Herr von Hagedorn.
("Betrachtungen über die Malerei" S. 37. Richardson, Traité de la
peinture.  Tome III. p. 513.)  De Fontaines verdient es wohl nicht,
daß ich ihn diesen Männern beifüge.  Er hält zwar, in den Anmerkungen
zu seiner Übersetzung des Virgils, gleichfalls dafür, daß der Dichter
die Gruppe in Augen gehabt habe; er ist aber so unwissend, daß er sie
für ein Werk des Phidias ausgibt.}

Es hat sich gezeigt, daß, so vortrefflich das Gemälde des Virgils ist,
die Künstler dennoch verschiedene Züge desselben nicht brauchen
können.  Der Satz leidet also seine Einschränkung, daß eine gute
poetische Schilderung auch ein gutes wirkliches Gemälde geben müsse,
und daß der Dichter nur insoweit gut geschildert habe, als ihm der
Artist in allen Zügen folgen könne.  Man ist geneigt, diese
Einschränkung zu vermuten, noch ehe man sie durch Beispiele erhärtet
sieht; bloß aus Erwägung der weitern Sphäre der Poesie, aus dem
unendlichen Felde unserer Einbildungskraft, aus der Geistigkeit ihrer
Bilder, die in größter Menge und Mannigfaltigkeit nebeneinander
stehen können, ohne daß eines das andere deckt oder schändet, wie es
wohl die Dinge selbst, oder die natürlichen Zeichen derselben in den
engen Schranken des Raumes oder der Zeit tun würden.

Wenn aber das Kleinere das Größere nicht fassen kann, so kann das
Kleinere in dem Größern enthalten sein.  Ich will sagen; wenn nicht
jeder Zug, den der malende Dichter braucht, eben die gute Wirkung auf
der Fläche oder in dem Marmor haben kann: so möchte vielleicht jeder
Zug, dessen sich der Artist bedienet, in dem Werke des Dichters von
ebenso guter Wirkung sein können?  Ohnstreitig; denn was wir in einem
Kunstwerke schön finden, das findet nicht unser Auge, sondern unsere
Einbildungskraft, durch das Auge, schön.  Das nämliche Bild mag also
in unserer Einbildungskraft durch willkürliche oder natürliche
Zeichen wieder erregt werden, so muß auch jederzeit das nämliche
Wohlgefallen, obschon nicht in dem nämlichen Grade, wieder entstehen.

Dieses aber eingestanden, muß ich bekennen, daß mir die Voraussetzung,
Virgil habe die Künstler nachgeahmet, weit unbegreiflicher wird, als
mir das Widerspiel derselben geworden ist.  Wenn die Künstler dem
Dichter gefolgt sind, so kann ich mir von allen ihren Abweichungen
Rede und Antwort geben.  Sie mußten abweichen, weil die nämlichen
Züge des Dichters in ihrem Werke Unbequemlichkeiten verursacht haben
würden, die sich bei ihm nicht äußern.  Aber warum mußte der Dichter
abweichen?  Wann er der Gruppe in allen und jeden Stücken treulich
nachgegangen wäre, würde er uns nicht immer noch ein vortreffliches
Gemälde geliefert haben 2)?  Ich begreife wohl, wie seine vor sich
selbst arbeitende Phantasie ihn auf diesen und jenen Zug bringen
können; aber die Ursachen, warum seine Beurteilungskraft schöne Züge,
die er vor Augen gehabt, in diese andere Züge verwandeln zu müssen
glaubte, diese wollen mir nirgends einleuchten.

{2. Ich kann mich desfalls auf nichts Entscheidenderes berufen, als
auf das Gedichte des Sadolet.  Es ist eines alten Dichters würdig,
und da es sehr wohl die Stelle eines Kupfers vertreten kann, so
glaube ich es hier ganz einrücken zu dürfen.

  DE LAOCOONTIS STATUA
  JACOBI SADOLETI CARMEN.

  Ecce alto terrae e cumulo, ingentisque ruinae
  Visceribus, iterum reducem longinqua reduxit
  Laocoonta dies; aulis regalibus olim
  Qui stetit, atque tuos ornabat, Tite, penates.
  Divinae simulacrum artis, nec docta vetustas
  Nobilius spectabat opus, nunc celsa revisit
  Exemptum tenebris redivivae moenia Romae.
  Quid primum summumve loquar? miserumne parentem
  Et prolem geminam? an sinuatos flexibus angues
  Terribili aspectu? caudasque irasque draconum
  Vulneraque et veros, saxo moriente, dolores?
  Horret ad haec animus, mutaque ab imagine pulsat
  Pectora non parvo pietas commixta tremori.
  Prolixum bini spiris glomerantur in orbem
  Ardentes colubri, et sinuosis orbibus errant
  Ternaque multiplici constringunt corpora nexu.
  Vix oculi sufferre valent, crudele tuendo
  Exitium, casusque feros: micat alter, et ipsum
  Laocoonta petit, totumque infraque supraque
  Implicat er rabido tandem ferit ilia morsu.
  Connexum refugit corpus, torquentia sese
  Membra, latusque retro sinuatum a vulnere cernas
  Ille dolore acri, et laniatu impulsus acerbo,
  Dat gemitum ingentem, crudosque evellere dentes
  Connixus, laevam impatiens ad terga Chelydri
  Objicit: intendunt nervi, collectaque ab omni
  Corpore vis frustra summis conatibus instat.
  Ferre nequit rabiem, et de vulnere murmur anhelum est.
  At serpens lapsu crebro redeunte subintrat
  Lubricus, intortoque ligat genua infima nodo.
  Absistunt surae, spirisque prementibus arctum
  Crus tumet, obsepto turgent vitalia pulsu,
  Liventesque atro distendunt sanguine venas.
  Nec minus in natos eadem vis effera saevit
  Implexuque angit rapido, miserandaque membra
  Dilacerat: jamque alterius depasta cruentum
  Pectus, suprema genitorem voce cientis,
  Circumjectu orbis, validoque volumine fulcit.
  Alter adhuc nullo violatus corpora morsu,
  Dum parat adducta caudam divellere planta,
  Horret ad adspectum miseri patris, haeret in illo,
  Er jam jam ingentes fletus, lacrimasque cadentes
  Anceps in dubio retinet timor. Ergo perenni
  Qui tantum statuistis opus jam laude nitentes,
  Artifices magni (quanquam et melioribus actis
  Quaeritur aeternum nomen, multoque licebat
  Clarius ingenium venturae tradere famae)
  Attamen ad laudem quaecunque oblata facultas
  Egregium hanc rapere, et summa ad fastigia niti.
  Vos rigidum lapidem vivis animare figuris
  Eximii, et vivos spiranti in marmore sensus
  Inserere, aspicimus motumque iramque doloremque,
  Et paene audimus gemitus: vos extulit olim
  Clara Rhodos, vestrac jacuerunt artis honores
  Tempore ab immenso, quos rursum in luce secunda
  Roma videt, celebratque frequens: operisque vetusti
  Gratia parta recens. Quanto praestantius ergo est
  Ingenio, aut quovis extendere fata labore,
  Quam fastus et opes et inanem extendere luxum.


(v.  Leodegarii a Quercu Farrago poematum T. II. p. 63.)  Auch Gruter
hat dieses Gedicht, nebst andern des Sadolets, seiner bekannten
Sammlung (Delic.  Poet.  Italorum Parte alt. p. 582) mit einverleibet;
allein sehr fehlerhaft.  FÜr bini (v. 14) lieset er vivi; für errant
(v. 15) oram usw.}

Mich dünket sogar, wenn Virgil die Gruppe zu seinem Vorbilde gehabt
hÄtte, daß er sich schwerlich würde haben mäßigen kÖnnen, die
Verstrickung aller drei Körper in einen Knoten gleichsam nur erraten
zu lassen.  Sie würde sein Auge zu lebhaft gerührt haben, er würde
eine zu treffliche Wirkung von ihr empfunden haben, als daß sie nicht
auch in seiner Beschreibung mehr vorstechen sollte.  Ich habe gesagt:
es war itzt die Zeit nicht, diese Verstrickung auszumalen.  Nein;
aber ein einziges Wort mehr würde ihr in dem Schatten, worin sie der
Dichter lassen mußte, einen sehr entscheidenden Druck vielleicht
gegeben haben.  Was der Artist, ohne dieses Wort, entdecken konnte,
würde der Dichter, wenn er es bei dem Artisten gesehen hätte, nicht
ohne dasselbe gelassen haben.

Der Artist hatte die dringendsten Ursachen, das Leiden des Laokoon
nicht in Geschrei ausbrechen zu lassen.  Wenn aber der Dichter die so
rührende Verbindung von Schmerz und Schönheit in dem Kunstwerke vor
sich gehabt hätte, was hätte ihn ebenso unvermeidlich nötigen können,
die Idee von männlichem Anstande und großmütiger Geduld, welche aus
dieser Verbindung des Schmerzes und der Schönheit entspringt, so
völlig unangedeutet zu lassen, und uns auf einmal mit dem gräßlichen
Geschrei seines Laokoons zu schrecken?  Richardson sagt: Virgils
Laokoon muß schreien, weil der Dichter nicht sowohl Mitleid für ihn,
als Schrecken und Entsetzen bei den Trojanern, erregen will.  Ich
will es zugeben, obgleich Richardson nicht erwogen zu haben scheinet,
daß der Dichter die Beschreibung nicht in seiner eignen Person macht,
sondern sie den Aeneas machen läßt, und gegen die Dido machen läßt,
deren Mitleid Aeneas nicht genug bestürmen konnte.  Allein mich
befremdet nicht das Geschrei, sondern der Mangel aller Gradation bis
zu diesem Geschrei, auf welche das Kunstwerk den Dichter
natürlicherweise hätte bringen müssen, wann er es, wie wir
voraussetzen, zu seinem Vorbilde gehabt hätte.  Richardson füget
hinzu 3): die Geschichte des Laokoon solle bloß zu der pathetischen
Beschreibung der endlichen Zerstörung leiten; der Dichter habe sie
also nicht interessanter machen dürfen, um unsere Aufmerksamkeit,
welche diese letzte schreckliche Nacht ganz fordere, durch das
Unglück eines einzeln Bürgers nicht zu zerstreuen.  Allein das heißt
die Sache aus einem malerischen Augenpunkte betrachten wollen, aus
welchem sie gar nicht betrachtet werden kann.  Das Unglück des
Laokoon und die Zerstörung sind bei dem Dichter keine Gemälde
nebeneinander; sie machen beide kein Ganzes aus, das unser Auge auf
einmal übersehen könnte oder sollte; und nur in diesem Falle wäre es
zu besorgen, daß unsere Blicke mehr auf den Laokoon, als auf die
brennende Stadt fallen dürften.  Beider Beschreibungen folgen
aufeinander, und ich sehe nicht, welchen Nachteil es der folgenden
bringen könnte, wenn uns die vorhergehende auch noch so sehr gerührt
hätte.  Es sei denn, daß die folgende an sich selbst nicht rührend
genug wäre.

{3. De la peinture, Tome III. p. 516. C'est l'horreur que les Troiens
ont conçue contre Laocoon, qui était nécessaire à Virgile pour la
conduite de son poème; et cela le mène à cette description pathétique
de la destruction de la patrie de son héros.  Aussi Virgile n'avait
garde de diviser l'attention sur la dernière nuit, pour une grande
ville entière, par la peinture d'un petit malheur d'un particulier.}

Noch weniger Ursache würde der Dichter gehabt haben, die Windungen
der Schlangen zu verändern.  Sie beschäftigen in dem Kunstwerke die
Hände, und verstricken die Füße.  So sehr dem Auge diese Verteilung
gefällt, so lebhaft ist das Bild, welches in der Einbildung davon
zurückbleibt.  Es ist so deutlich und rein, daß es sich durch Worte
nicht viel schwächer darstellen läßt, als durch natürliche Zeichen.

  --micat alter, et ipsum
  Laocoonta petit, totumque infraque supraque
  Implicat et rabido tandem ferit ilia morsu
  ------
  At serpens lapsu crebro redeunte subintrat
  Lubricus, intortoque ligat genua infima nodo.


Das sind Zeilen des Sadolet, die von dem Virgil ohne Zweifel noch
malerischer gekommen wÄren, wenn ein sichtbares Vorbild seine
Phantasie befeuert hätte, und die alsdann gewiß besser gewesen wären,
als was er uns itzt dafÜr gibt:

  Bis medium amplexi, bis collo squamea circum
  Terga dati, superant capite et cervicibus altis.


Diese ZÜge füllen unsere Einbildungskraft allerdings; aber sie muß
nicht dabei verweilen, sie muß sie nicht aufs reine zu bringen suchen,
sie muß itzt nur die Schlangen, itzt nur den Laokoon sehen, sie muß
sich nicht vorstellen wollen, welche Figur beide zusammen machen.
Sobald sie hierauf verfÄllt, fängt ihr das Virgilische Bild an zu
mißfallen, und sie findet es hÖchst unmalerisch.

Wären aber auch schon die Veränderungen, welche Virgil mit dem ihm
geliehenen Vorbilde gemacht hätte, nicht unglücklich, so wären sie
doch bloß willkürlich.  Man ahmet nach, um ähnlich zu werden; kann
man aber ähnlich werden, wenn man über die Not verändert?  Vielmehr
wenn man dieses tut, ist der Vorsatz klar, daß man nicht ähnlich
werden wollen, daß man also nicht nachgeahmt habe.

Nicht das Ganze, könnte man einwenden, aber wohl diesen und jenen
Teil.  Gut; doch welches sind denn diese einzeln Teile, die in der
Beschreibung und in dem Kunstwerke so genau übereinstimmen, daß sie
der Dichter aus diesem entlehnet zu haben scheinen könnte?  Den Vater,
die Kinder, die Schlangen, das alles gab dem Dichter sowohl als dem
Artisten, die Geschichte.  Außer dem Historischen kommen sie in
nichts überein, als darin, daß sie Kinder und Vater in einen einzigen
Schlangenknoten verstricken.  Allein der Einfall hierzu entsprang aus
dem veränderten Umstande, daß den Vater eben dasselbe Unglück
betroffen habe, als die Kinder.  Diese Veränderung aber, wie oben
erwähnt worden, scheinet Virgil gemacht zu haben; denn die
griechische Tradition sagt ganz etwas anders.  Folglich, wenn in
Ansehung jener gemeinschaftlichen Verstrickung, auf einer oder der
andern Seite Nachahmung sein soll, so ist sie wahrscheinlicher auf
der Seite der Künstler, als des Dichters zu vermuten.  In allem
übrigen weicht einer von dem andern ab; nur mit dem Unterschiede, daß
wenn es der Künstler ist, der die Abweichungen gemacht hat, der
Vorsatz den Dichter nachzuahmen noch dabei bestehen kann, indem ihn
die Bestimmung und die Schranken seiner Kunst dazu nötigten; ist es
hingegen der Dichter, welcher dem Künstler nachgeahmt haben soll, so
sind alle die berührten Abweichungen ein Beweis wider diese
vermeintliche Nachahmung, und diejenigen, welche sie demohngeachtet
behaupten, können weiter nichts damit wollen, als daß das Kunstwerk
älter sei, als die poetische Beschreibung.



VII.


Wenn man sagt, der Künstler ahme dem Dichter, oder der Dichter ahme
dem Künstler nach, so kann dieses zweierlei bedeuten.  Entweder der
eine macht das Werk des andern zu dem wirklichen Gegenstande seiner
Nachahmung, oder sie haben beide einerlei Gegenstände der Nachahmung,
und der eine entlehnet von dem andern die Art und Weise es
nachzuahmen.

Wenn Virgil das Schild des Aeneas beschreibst, so ahmet er dem
Künstler, welcher dieses Schild gemacht hat, in der ersten Bedeutung
nach.  Das Kunstwerk, nicht das was auf dem Kunstwerke vorgestellet
worden, ist der Gegenstand seiner Nachahmung, und wenn er auch schon
das mitbeschreibt, was man darauf vorgestellet sieht, so beschreibt
er es doch nur als ein Teil des Schildes, und nicht als die Sache
selbst.  Wenn Virgil hingegen die Gruppe Laokoon nachgeahmet hätte,
so würde dieses eine Nachahmung von der zweiten Gattung sein.  Denn
er würde nicht diese Gruppe, sondern das, was diese Gruppe vorstellet,
nachgeahmt, und nur die Züge seiner Nachahmung von ihr entlehnt
haben.

Bei der ersten Nachahmung ist der Dichter Original, bei der andern
ist er Kopist.  Jene ist ein Teil der allgemeinen Nachahmung, welche
das Wesen seiner Kunst ausmacht, und er arbeitet als Genie, sein
Vorwurf mag ein Werk anderer Künste, oder der Natur sein.  Diese
hingegen setzt ihn gänzlich von seiner Würde herab; anstatt der Dinge
selbst ahmet er ihre Nachahmungen nach, und gibt uns kalte
Erinnerungen von Zügen eines fremden Genies, für ursprüngliche Züge
seines eigenen.

Wenn indes Dichter und Künstler diejenigen Gegenstände, die sie
miteinander gemein haben, nicht selten aus dem nämlichen
Gesichtspunkte betrachten müssen: so kann es nicht fehlen, daß ihre
Nachahmungen nicht in vielen Stücken übereinstimmen sollten, ohne daß
zwischen ihnen selbst die geringste Nachahmung oder Beeiferung
gewesen.  Diese Übereinstimmungen können bei zeitverwandten Künstlern
und Dichtern, über Dinge, welche nicht mehr vorhanden sind, zu
wechselsweisen Erläuterungen führen; allein dergleichen Erläuterungen
dadurch aufzustutzen suchen, daß man aus dem Zufalle Vorsatz macht,
und besonders dem Poeten bei jeder Kleinigkeit ein Augenmerk auf
diese Statue, oder auf jenes Gemälde andichtet, heißt ihm einen sehr
zweideutigen Dienst erweisen.  Und nicht allein ihm, sondern auch dem
Leser, dem man die schönste Stelle dadurch, wenn Gott will, sehr
deutlich, aber auch trefflich frostig macht.

Dieses ist die Absicht und der Fehler eines berühmten englischen
Werks.  Spence schrieb seinen "Polymetis" 1) mit vieler klassischen
Gelehrsamkeit, und in einer sehr vertrauten Bekanntschaft mit den
übergebliebenen Werken der alten Kunst.  Seinen Vorsatz, aus diesen
die römischen Dichter zu erklären, und aus den Dichtern hinwiederum
Aufschlüsse für noch unerklärte alte Kunstwerke herzuholen, hat er
öfters glücklich erreicht.  Aber demohngeachtet behaupte ich, daß
sein Buch für jeden Leser von Geschmack ein ganz unerträgliches Buch
sein muß.

{1. Die erste Ausgabe ist von 1747; die zweite von 1755 und führet
den Titel: Polymetis, or an enquiry concerning the agreement between
the works of the Roman poets, and the remains of the ancient artists,
being an attempt to illustrate them mutually from one another.  In
ten books, by the Revd.  Mr. Spence.  London, printed for Dodsley.
fol.  Auch ein Auszug, welchen N. Tindal aus diesem Werke gemacht hat,
ist bereits mehr als einmal gedruckt worden.}

Es ist natürlich, daß wenn Valerius Flaccus den geflügelten Blitz auf
den römischen Schilden beschreibt,

(Nec primus radios, miles Romane, corusci Fulminis et rutilas scutis
diffuderis alas)


mir diese Beschreibung weit deutlicher wird, wenn ich die Abbildung
eines solchen Schildes auf einem alten Denkmale erblicke 2).  Es kann
sein, daß Mars in eben der schwebenden Stellung, in welcher ihn
Addison über der Rhea auf einer Münze zu sehen glaubte 3), auch von
den alten Waffenschmieden auf den Helmen und Schilden vorgestellet
wurde, und daß Juvenal einen solchen Helm oder Schild in Gedanken
hatte, als er mit einem Worte darauf anspielte, welches bis auf den
Addison ein Rätsel für alle Ausleger gewesen.  Mich dünkt selbst, daß
ich die Stelle des Ovids, wo der ermattete Cephalus den kühlenden
Lüften ruft:

{2. Val. Flaccus lib. VI. v. 55. 56. Polymetis Dial.  VI. p. 50.}

{3. Ich sage, es kann sein.  Doch wollte ich zehne gegen eins wetten,
daß es nicht ist.--Juvenal redet von den ersten Zeiten der Republik,
als man noch von keiner Pracht und Üppigkeit wußte und der Soldat das
erbeutete Gold und Silber nur auf das Geschirr seines Pferdes und auf
seine Waffen verwandte.  (Sat.  XI. v. 100 bis 107.)

  Tunc rudis et Grajas mirari nescius artes
  Urbibus eversis praedarum in parte reperta
  Magnorum artificum frangebat pocula miles,
  Ut phaleris gauderet equus, caelataque cassis
  Romuleae simulacra ferae mansuescere jussae
  Imperii fato, geminos sub rupe Quirinos,
  Ac nudam effigiem clipeo fulgentis et hasta
  Pendentisque dei perituro ostenderet hosti.


Der Soldat zerbrach die kostbarsten Becher, die MeisterstÜcke großer
Künstler, um eine WÖlfin, einen kleinen Romulus und Remus daraus
arbeiten zu lassen, womit er seinen Helm ausschmückte.  Alles ist
verstÄndlich, bis auf die letzten zwei Zeilen, in welchen der Dichter
fortfährt, noch ein solches getriebenes Bild auf den Helmen der alten
Soldaten zu beschreiben.  So viel sieht man wohl, daß dieses Bild der
Gott Mars sein soll; aber was soll das Beiwort pendentis, welches er
ihm gibt, bedeuten?  Rigaltius fand eine alte Glosse, die es durch
quasi ad ictum se inclinantis erklärt.  Lubinus meinet, das Bild sei
auf dem Schilde gewesen, und da das Schild an dem Arme hänge, so habe
der Dichter auch das Bild hängend nennen können.  Allein dieses ist
wider die Konstruktion; denn das zu ostenderet gehörige Subjektum ist
nicht miles, sondern cassis.  Britannicus will, alles was hoch in der
Luft stehe, könne hangend heißen, und also auch dieses Bild über oder
auf dem Helme.  Einige wollen gar perdentis dafür lesen, um einen
Gegensatz mit dem folgenden perituro zu machen, den aber nur sie
allein schön finden dürften.  Was sagt nun Addison bei dieser
Ungewißheit?  Die Ausleger, sagt er, irren sich alle, und die wahre
Meinung ist ganz gewiß diese.  (S. dessen Reisen deut.  Übers.  S.
249.)  "Da die römischen Soldaten sich nicht wenig auf den Stifter und
kriegerischen Geist ihrer Republik einbildeten, so waren sie gewohnt
auf ihren Helmen die erste Geschichte des Romulus zu tragen, wie er
von einem Gotte erzeugt, und von einer Wölfin gesäuget worden.  Die
Figur des Gottes war vorgestellt, wie er sich auf die Priesterin Ilia,
oder wie sie andere nennen, Rhea Sylvia, herabläßt, und in diesem
Herablassen schien sie über der Jungfrau in der Luft zu schweben,
welches denn durch das Wort pendentis sehr eigentlich und poetisch
ausgedruckt wird.  Außer dem alten Basrelief beim Bellori, welches
mich zuerst auf diese Auslegung brachte, habe ich seitdem die
nämliche Figur auf einer Münze gefunden, die unter der Zeit des
Antoninus Pius geschlagen worden."--Da Spence diese Entdeckung des
Addison so außerordentlich glücklich findet, daß er sie als ein
Muster in ihrer Art, und als das stärkste Beispiel anführet, wie
nützlich die Werke der alten Artisten zur Erklärung der klassischen
römischen Dichter gebraucht werden können: so kann ich mich nicht
enthalten, sie ein wenig genauer zu betrachten.  (Polymetis Dial.
VII. p. 77.)--Vors erste muß ich anmerken, daß bloß das Basrelief und
die Münze dem Addison wohl schwerlich die Stelle des Juvenals in die
Gedanken gebracht haben würde, wenn er sich nicht zugleich erinnert
hätte, bei dem alten Scholiasten, der in der letzten ohn' einen Zeile
anstatt fulgentis, venientis gefunden, die Glosse gelesen zu haben:
Martis ad Iliam venientis ut concumberet.  Nun nehme man aber diese
Lesart des Scholiasten nicht an, sondern man nehme die an, welche
Addison selbst annimmt, und sage, ob man sodann die geringste Spur
findet, daß der Dichter die Rhea in Gedanken gehabt habe?  Man sage,
ob es nicht ein wahres Hysteronproteron von ihm sein würde, daß er
von der Wölfin und den jungen Knaben rede, und sodann erst von dem
Abenteuer, dem sie ihr Dasein zu danken haben?  Die Rhea ist noch
nicht Mutter, und die Kinder liegen schon unter dem Felsen.  Man sage,
ob eine Schäferstunde wohl ein schickliches Emblema auf dem Helme
eines römischen Soldaten gewesen wäre?  Der Soldat war auf den
göttlichen Ursprung seines Stifters stolz; das zeigten die Wölfin und
die Kinder genugsam; mußte er auch noch den Mars im Begriffe einer
Handlung zeigen, in der er nichts weniger als der fürchterliche Mars
war?  Seine Überraschung der Rhea mag auf noch so viel alten Marmorn
und Münzen zu finden sein, paßt sie darum auf das Stück einer
Rüstung?  Und welches sind denn die Marmor und Münzen auf welchen sie
Addison fand, und wo er den Mars in dieser schwebenden Stellung sahe?
Das alte Basrelief, worauf er sich beruft, soll Bellori haben.  Aber
die Admiranda, welches seine Sammlung der schönsten alten Basreliefs
ist, wird man vergebens darnach durchblättern.  Ich habe es nicht
gefunden, und auch Spence muß es weder da, noch sonst wo gefunden
haben, weil er es gänzlich mit Stillschweigen übergeht.  Alles kömmt
also auf die Münze an.  Nun betrachte man diese bei dem Addison
selbst.  Ich erblicke eine liegende Rhea; und da dem Stempelschneider
der Raum nicht erlaubte, die Figur des Mars mit ihr auf gleichem
Boden zu stellen, so stehet er ein wenig höher.  Das ist es alles;
Schwebendes hat sie außer diesem nicht das geringste.  Es ist wahr,
in der Abbildung, die Spence davon gibt, ist das Schweben sehr stark
ausgedruckt; die Figur fällt mit dem Oberteile weit vor; und man
sieht deutlich, daß es kein stehender Körper ist, sondern daß, wenn
es kein fallender Körper sein soll, es notwendig ein schwebender sein
muß.  Spence sagt, er besitze diese Münze selbst.  Es wäre hart,
obschon in einer Kleinigkeit, die Aufrichtigkeit eines Mannes in
Zweifel zu ziehen.  Allein ein gefaßtes Vorurteil kann auch auf
unsere Augen Einfluß haben; zudem konnte er es zum Besten seiner
Leser für erlaubt halten, den Ausdruck, welchen er zu sehen glaubte,
durch seinen Künstler so verstärken zu lassen, daß uns ebensowenig
Zweifel desfalls übrigbliebe, als ihm selbst.  So viel ist gewiß, daß
Spence und Addison eben dieselbe Münze meinen, und daß sie sonach
entweder bei diesem sehr verstellt, oder bei jenem sehr verschönert
sein muß.  Doch ich habe noch eine andere Anmerkung wider dieses
vermeintliche Schweben des Mars.  Diese nämlich: daß ein schwebender
Körper, ohne eine scheinbare Ursache, durch welche die Wirkung seiner
Schwere verhindert wird, eine Ungereimtheit ist, von der man in den
alten Kunstwerken kein Exempel findet.  Auch die neue Malerei
erlaubet sich dieselbe nie, sondern wenn ein Körper in der Luft
hangen soll, so müssen ihn entweder Flügel halten, oder er muß auf
etwas zu ruhen scheinen, und sollte es auch nur eine bloße Wolke sein.
Wenn Homer die Thetis von dem Gestade sich zu Fuße in den Olymp
erheben läßt, Thn men ar Oulumponde podes jeron (Iliad.  S. v. 148),
so verstehet der Graf Caylus die Bedürfnisse der Kunst zu wohl, als
daß er dem Maler raten sollte, die Göttin so frei die Luft
durchschreiten zu lassen.  Sie muß ihren Weg auf einer Wolke nehmen
(Tableaux tirés de l'Iliade p. 91), so wie er sie ein andermal auf
einen Wagen setzt (p. 131), obgleich der Dichter das Gegenteil von
ihr sagt.  Wie kann es auch wohl anders sein?  Ob uns schon der
Dichter die Göttin ebenfalls unter einer menschlichen Figur denken
läßt, so hat er doch alle Begriffe eines groben und schweren Stoffes
davon entfernet, und ihren menschenähnlichen Körper mit einer Kraft
belebt, die ihn von den Gesetzen unserer Bewegung ausnimmt.  Wodurch
aber könnte die Malerei die körperliche Figur einer Gottheit von der
körperlichen Figur eines Menschen so vorzüglich unterscheiden, daß
unser Auge nicht beleidiget würde, wenn es bei der einen ganz andere
Regeln der Bewegung, der Schwere, des Gleichgewichts beobachtet fände,
als bei der andern?  Wodurch anders als durch verabredete Zeichen?
In der Tat sind ein Paar Flügel, eine Wolke auch nichts andres, als
dergleichen Zeichen.  Doch von diesem ein mehreres an einem andren
Orte.  Hier ist es genug, von den Verteidigern der Addisonschen
Meinung zu verlangen, mir eine andere ähnliche Figur auf alten
Denkmälern zu zeigen, die so frei und bloß in der Luft hange.  Sollte
dieser Mars die einzige in ihrer Art sein?  Und warum?  Hatte
vielleicht die Tradition einen Umstand überliefert, der ein
dergleichen Schweben in diesem Falle notwendig macht?  Beim Ovid
(Fast. lib. 3.) läßt sich nicht die geringste Spur davon entdecken.
Vielmehr kann man zeigen, daß es keinen solchen Umstand könne gegeben
haben.  Denn es finden sich andere alte Kunstwerke, welche die
nämliche Geschichte vorstellen, und wo Mars offenbar nicht schwebet,
sondern gehet.  Man betrachte das Basrelief beim Montfaucon (Suppl.
T. I. p. 183), das sich, wenn ich nicht irre, zu Rom in dem Palast
der Mellini befindet.  Die schlafende Rhea liegt unter einem Baume,
und Mars nähert sich ihr mit leisen Schritten, und mit der
bedeutenden Zurückstreckung der rechten Hand, mit der wir denen
hinter uns, entweder zurückzubleiben, oder sachte zu folgen, befehlen.
Es ist vollkommen die nämliche Stellung in der er auf der Münze
erscheinet, nur daß er hier die Lanze in der rechten und dort in der
linken Hand führet.  Man findet öftrer berühmte Statuen und
Basreliefe auf alten Münzen kopieret, als daß es auch nicht hier
könnte geschehen sein, wo der Stempelschneider den Ausdruck der
zurückgewandten rechten Hand vielleicht nicht fühlte und sie daher
besser mit der Lanze füllen zu können glaubte.--Alles dieses nun
zusammengenommen, wie viel Wahrscheinlichkeit bleibet dem Addison
noch übrig?  Schwerlich mehr, als soviel deren die bloße Möglichkeit
hat.  Doch woher eine bessere Erklärung, wenn diese nichts taugt?  Es
kann sein, daß sich schon eine bessere unter den vom Addison
verworfenen Erklärungen findet.  Findet sich aber auch keine, was
mehr?  Die Stelle des Dichters ist verdorben; sie mag es bleiben.
Und sie wird es bleiben, wenn man auch noch zwanzig neue Vermutungen
darüber auskramen wollte.  Dergleichen könnte z.  E. diese sein, daß
pendentis in seiner figürlichen Bedeutung genommen werden müsse, nach
welcher es soviel als ungewiß, unentschlossen, unentschieden, heißet.
Mars pendens wäre alsdenn soviel als Mars incertus oder Mars
communis.  Dii communes sunt, sagt Servius, (ad v. 118. lib. XII.
Aeneid.), Mars, Bellona, Victoria, quia hi in bello utrique parti
favere possunt.  Und die ganze Zeile,

Pendentisque dei (effigiem) perituro ostenderet hosti,

würde diesen Sinn haben, daß der alte römische Soldat das Bildnis des
gemeinschaftlichen Gottes seinem demohngeachtet bald unterliegenden
Feinde unter die Augen zu tragen gewohnt gewesen sei.  Ein sehr
feiner Zug, der die Siege der alten Römer mehr zur Wirkung ihrer
eignen Tapferkeit, als zur Frucht des parteiischen Beistandes ihres
Stammvaters macht.  Demohngeachtet: non liquet.}

Aura--venias--Meque juves, intresque sinus, gratissima, nostros


und seine Prokris diese Aura für den Namen einer Nebenbuhlerin hält,
daß ich, sage ich, diese Stelle natürlicher finde, wenn ich aus den
Kunstwerken der Alten ersehe, daß sie wirklich die sanften Lüfte
personifieret, und eine Art weiblicher Sylphen, unter dem Namen Aurae,
verehret haben 4).  Ich gebe es zu, daß wenn Juvenal einen vornehmen
Taugenichts mit einer Hermessäule vergleicht, man das Ähnliche in
dieser Vergleichung schwerlich finden dürfte, ohne eine solche Säule
zu sehen, ohne zu wissen, daß es ein schlechter Pfeiler ist, der bloß
das Haupt, höchstens mit dem Rumpfe, des Gottes trägt, und weil wir
weder Hände noch Füße daran erblicken, den Begriff der Untätigkeit
erwecket 5).--Erläuterungen von dieser Art sind nicht zu verachten,
wenn sie auch schon weder allezeit notwendig noch allezeit
hinlänglich sein sollten.  Der Dichter hatte das Kunstwerk als ein
für sich bestehendes Ding, und nicht als Nachahmung, vor Augen; oder
Künstler und Dichter hatten einerlei angenommene Begriffe, demzufolge
sich auch Übereinstimmung in ihren Vorstellungen zeigen mußte, aus
welcher sich auf die Allgemeinheit jener Begriffe zurückschließen
läßt.

{4. "Ehe ich", sagt Spence (Polymetis Dialogue XIII. p. 208) "mit
diesen Aurae, Luftnymphen, bekannt ward, wußte ich mich in die
Geschichte vom Cephalus und Prokris, beim Ovid, gar nicht zu finden.
Ich konnte auf keine Weise begreifen, wie Cephalus durch seine
Ausrufung, Aura venias, sie mochte auch in einem noch so zärtlichen
schmachtenden Tone erschollen sein, jemanden auf den Argwohn bringen
können, daß er seiner Prokris untreu sei.  Da ich gewohnt war, unter
dem Worte Aura, nichts als die Luft überhaupt, oder einen sanften
Wind insbesondere, zu verstehen, so kam mir die Eifersucht der
Prokris noch weit ungegründeter vor, als auch die
allerausschweifendste gemeiniglich zu sein pflegt.  Als ich aber
einmal gefunden hatte, daß Aura ebensowohl ein schönes junges Mädchen,
als die Luft bedeuten könnte, so bekam die Sache ein ganz anderes
Ansehen, und die Geschichte dünkte mich eine ziemlich vernünftige
Wendung zu bekommen." Ich will den Beifall, den ich dieser Entdeckung,
mit der sich Spence so sehr schmeichelt, in dem Texte erteile, in
der Note nicht wieder zurücknehmen.  Ich kann aber doch nicht
unangemerkt lassen, daß auch ohne sie die Stelle des Dichters ganz
natürlich und begreiflich ist.  Man darf nämlich nur wissen, daß Aura
bei den Alten ein ganz gewöhnlicher Name für Frauenzimmer war.  So
heißt z.  E. beim Nonnus (Dionys. lib. XLVIII.) die Nymphe aus dem
Gefolge der Diana, die, weil sie sich einer männlichem Schönheit
rühmte, als selbst der Göttin ihre war, zur Strafe für ihre
Vermessenheit, schlafend den Umarmungen des Bacchus preisgegeben ward.}

{5. Juvenalis Satir.  VIII. v. 52-55.

  --At tu
  Nil nisi Cecropides; truncoque simillimus Hermae:
  Nullo quippe alio vincis discrimine, quam quod
  Illi marmoreum caput est, tua vivit imago.


Wenn Spence die griechischen Schriftsteller mit in seinen Plan
gezogen gehabt hÄtte, so wÜrde ihm vielleicht, vielleicht aber auch
nicht, eine alte Aesopische Fabel beigefallen sein, die aus der
Bildung einer solchen Hermessäule ein noch weit schÖneres, und zu
ihrem Verständnisse weit unentbehrlicheres Licht erhält, als diese
Stelle des Juvenals.  "Merkur", erzählet Aesopus, "wollte gern
erfahren, in welchem Ansehen er bei den Menschen stünde.  Er verbarg
seine Gottheit, und kam zu einem Bildhauer.  Hier erblickte er die
Statue des Jupiters, und fragte den Künstler, wie teuer er sie halte?,
Eine Drachme‘, war die Antwort.  Merkur lächelte;,Und diese Juno?‘
fragte er weiter.,Ohngefähr--ebensoviel.‘ Indem ward er sein eigenes
Bild gewahr, und dachte bei sich selbst: ich bin der Bote der Götter;
von mir kömmt aller Gewinn; mich müssen die Menschen notwendig weit
höher schätzen.,Aber hier dieser Gott?‘ (Er wies auf sein Bild.),Wie
teuer möchte wohl der sein?‘,Dieser?‘ antwortete der Künstler.,O,
wenn Ihr mir jene beide abkauft, so sollt Ihr diesen obendrein haben.
‘" Merkur war abgeführt.  Allein der Bildhauer kannte ihn nicht, und
konnte also auch nicht die Absicht haben, seine Eigenliebe zu kränken,
sondern es mußte in der Beschaffenheit der Statuen selbst gegründet
sein, warum er die letztere so geringschätzig hielt, daß er sie zur
Zugabe bestimmte.  Die geringere Würde des Gottes, welchen sie
vorstellte, konnte dabei nichts tun, denn der Künstler schätzet seine
Werke nach der Geschicklichkeit, dem Fleiße und der Arbeit, welche
sie erfordern, und nicht nach dem Range und dem Werte der Wesen,
welche sie ausdrücken.  Die Statue des Merkurs mußte weniger
Geschicklichkeit, weniger Fleiß und Arbeit verlangen, wenn sie
weniger kosten sollte, als eine Statue des Jupiters oder der Juno.
Und so war es hier wirklich.  Die Statuen des Jupiters und der Juno
zeigten die völlige Person dieser Götter; die Statue des Merkurs
hingegen war ein schlechter viereckichter Pfeiler, mit dem bloßen
Brustbilde desselben.  Was Wunder also, daß sie obendrein gehen
konnte?  Merkur übersahe diesen Umstand, weil er sein vermeintliches
überwiegendes Verdienst nur allein vor Augen hatte, und so war seine
Demütigung ebenso natürlich, als verdient.  Man wird sich vergebens
bei den Auslegern und Übersetzern und Nachahmern der Fabeln des
Aesopus nach der geringsten Spur von dieser Erklärung umsehen; wohl
aber könnte ich ihrer eine ganze Reihe anführen, wenn es sich der
Mühe lohnte, die das Märchen geradezu verstanden, das ist, ganz und
gar nicht verstanden haben.  Sie haben die Ungereimtheit, welche
darin liegt, wenn man die Statuen alle für Werke von einerlei
Ausführung annimmt, entweder nicht gefühlt, oder wohl noch gar
übertrieben.  Was sonst in dieser Fabel anstößig sein könnte, wäre
vielleicht der Preis, welchen der Künstler seinem Jupiter setzet.
Für eine Drachma kann ja wohl auch kein Töpfer eine Puppe machen.
Eine Drachma muß also hier überhaupt für etwas sehr Geringes stehen.
(Fab.  Aesop. 90. Edit. Haupt. p. 70.)}

Allein wenn Tibull die Gestalt des Apollo malet, wie er ihm im Traume
erschienen:--der schönste Jüngling, die Schläfe mit dem keuschen
Lorbeer umwunden; syrische Gerüche duften aus dem güldenen Haare, das
um den langen Nacken schwimmet; glänzendes Weiß und Purpurröte
mischen sich auf dem ganzen Körper, wie auf der zarten Wange der
Braut, die itzt ihrem Geliebten zugeführet wird:--warum müssen diese
Züge von alten berühmten Gemälden erborgt sein?  Echions nova nupta
verecundia notabilis mag in Rom gewesen sein, mag tausend- und
tausendmal sein kopieret worden, war darum die bräutliche Scham
selbst aus der Welt verschwunden?  Seit sie der Maler gesehen hatte,
war sie für keinen Dichter mehr zu sehen, als in der Nachahmung des
Malers 6)?  Oder wenn ein anderer Dichter den Vulkan ermüdet, und
sein vor der Esse erhitztes Gesicht rot, brennend nennet: mußte er es
erst aus dem Werke eines Malers lernen, daß Arbeit ermattet und Hitze
rötet 7)?  Oder wenn Lucrez den Wechsel der Jahreszeiten beschreibet,
und sie, mit dem ganzen Gefolge ihrer Wirkungen in der Luft und auf
der Erde, in ihrer natürlichen Ordnung vorüberführet: war Lucrez ein
Ephemeron, hatte er kein ganzes Jahr durchlebet, um alle die
Veränderungen selbst erfahren zu haben, daß er sie nach einer
Prozession schildern mußte, in welcher ihre Statuen herumgetragen
wurden?  Mußte er erst von diesen Statuen den alten poetischen
Kunstgriff lernen, dergleichen Abstrakta zu wirklichen Wesen zu
machen 8)?  Oder Virgils pontem indignatus Araxes, dieses
vortreffliche poetische Bild eines über seine Ufer sich ergießenden
Flusses, wie er die über ihn geschlagene Brücke zerreißt, verliert es
nicht seine ganze Schönheit, wenn der Dichter auf ein Kunstwerk damit
angespielet hat, in welchem dieser Flußgott als wirklich eine Brücke
zerbrechend vorgestellet wird 9)?--Was sollen wir mit dergleichen
Erläuterungen, die aus der klarsten Stelle den Dichter verdrängen, um
den Einfall eines Künstlers durchschimmern zu lassen?

{6. Tibullus Eleg. 4. lib. III. Polymetis Dial.  VIII. p. 84.}

{7. Statius lib. I. Silv. 5. v. 8. Polymetis Dial.  VIII. p. 81.}

{8. Lucretius de R. N. lib. V. v. 736-747

  It Ver, et Venus, et Veneris praenuntius ante
  Pinnatus graditur Zephyrus; vestigia propter
  Flora quibus mater praespargens ante viai
  Cuncta coloribus egregiis et odoribus opplet.
  Inde loci sequitur Calor aridus, et comes una
  Pulverulenta Ceres; et Etesia flabra Aquilonum.
  Inde Autumnus adit; graditur simul Evius Evan:
  Inde aliae tempestates ventique sequuntur,
  Altitonans Volturnus et Auster fulmine pollens.
  Tandem Bruma nives adfert, pigrumque rigorem
  Reddit, Hiems sequitur, crepitans ac dentibus Algus.

{9. Aeneid.  lib. VIII. v. 728. Polymetis Dial.  XIV. p. 230.}

Spence erkennet diese Stelle fÜr eine von den schÖnsten in dem ganzen
Gedichte des Lucrez.  Wenigstens ist sie eine von denen, auf welche
sich die Ehre des Lucrez als Dichter gründet.  Aber wahrlich, es
heißt ihm diese Ehre schmÄlern, ihn völlig darum bringen wollen, wenn
man sagt: Diese ganze Beschreibung scheinet nach einer alten
Prozession der vergötterten Jahreszeiten, nebst ihrem Gefolge,
gemacht zu sein.  Und warum das?  "Darum," sagt der Engeländer, "weil
bei den Römern ehedem dergleichen Prozessionen mit ihren Göttern
überhaupt, ebenso gewöhnlich waren, als noch itzt in gewissen Ländern
die Prozessionen sind, die man den Heiligen zu Ehren anstellet; und
weil hiernächst alle Ausdrücke, welche der Dichter hier braucht, auf
eine Prozession recht sehr wohl passen" (come in very aptly, if
applied to a procession).  Treffliche Gründe!  Und wie vieles wäre
gegen den letzteren noch einzuwenden.  Schon die Beiwörter, welche
der Dichter den personifierten Abstrakten gibt, Calor aridus, Ceres
pulverulenta, Volturnus altitonans, fulmine pollens Auster, Algus
dentibus crepitans, zeigen, daß sie das Wesen von ihm, und nicht von
dem Künstler haben, der sie ganz anders hätte charakterisieren müssen.
Spence scheinet übrigens auf diesen Einfall von einer Prozession
durch Abraham Preigern gekommen zu sein, welcher in seinen
Anmerkungen über die Stelle des Dichters sagt: Ordo est quasi pompae
cujusdam, Ver et Venus, Zephyrus et Flora etc. Allein dabei hätte es
auch Spence nur sollen bewenden lassen.  Der Dichter führet die
Jahreszeiten gleichsam in einer Prozession auf; das ist gut.  Aber er
hat es von einer Prozession gelernt, sie so aufzuführen; das ist sehr
abgeschmackt.}

Ich bedaure, daß ein so nützliches Buch, als "Polymetis" sonst sein
könnte, durch diese geschmacklose Grille, den alten Dichter statt
eigentümlicher Phantasie, Bekanntschaft mit fremder unterzuschieben,
so ekel, und den klassischen Schriftstellern weit nachteiliger
geworden ist, als ihnen die wäßrigen Auslegungen der schalsten
Wortforscher nimmermehr sein können.  Noch mehr bedauere ich, daß
Spencen selbst Addison hierin vorgegangen, der aus löblicher Begierde,
die Kenntnis der alten Kunstwerke zu einem Auslegungsmittel zu
erheben, die Fälle ebensowenig unterschieden hat, in welchen die
Nachahmung des Künstlers dem Dichter anständig, in welchen sie ihm
verkleinerlich ist 10).

{10. In verschiedenen Stellen seiner Reisen und seines Gespräches
über die alten Münzen.}



VIII.


Von der Ähnlichkeit, welche die Poesie und Malerei miteinander haben,
macht sich Spence die allerseltsamsten Begriffe.  Er glaubet, daß
beide Künste bei den Alten so genau verbunden gewesen, daß sie
beständig Hand in Hand gegangen, und der Dichter nie den Maler, der
Maler nie den Dichter aus den Augen verloren habe.  Daß die Poesie
die weitere Kunst ist, daß ihr Schönheiten zu Gebote stehen, welche
die Malerei nicht zu erreichen vermag; daß sie öfters Ursachen haben
kann, die unmalerischen Schönheiten den malerischen vorzuziehen:
daran scheinet er gar nicht gedacht zu haben, und ist daher bei dem
geringsten Unterschiede, den er unter den alten Dichtern und Artisten
bemerkt, in einer Verlegenheit, die ihn auf die wunderlichsten
Ausflüchte von der Welt bringt.

Die alten Dichter geben dem Bacchus meistenteils Hörner.  Es ist also
doch wunderbar, sagt Spence, daß man diese Hörner an seinen Statuen
so selten erblickt 1).  Er fällt auf diese, er fällt auf eine andere
Ursache; auf die Unwissenheit der Antiquare, auf die Kleinheit der
Hörner selbst, die sich unter den Trauben und Efeublättern, dem
beständigen Kopfputze des Gottes, möchten verkrochen haben.  Er
windet sich um die wahre Ursache herum, ohne sie zu argwöhnen.  Die
Hörner des Bacchus waren keine natürliche Hörner, wie sie es an den
Faunen und Satyren waren.  Sie waren ein Stirnschmuck, den er
aufsetzen und ablegen konnte.

{1. Polymetis Dial.  IX. p. 129.}

  --Tibi, cum sine cornibus adstas
  Virgineum caput est:--


heißt es in der feierlichen Anrufung des Bacchus beim Ovid 2).  Er
konnte sich also auch ohne HÖrner zeigen; und zeigte sich ohne Hörner,
wenn er in seiner jungfrÄulichen Schönheit erscheinen wollte.  In
dieser wollten ihn nun auch die KÜnstler darstellen, und mußten daher
alle Zusätze von übler Wirkung an ihm vermeiden.  Ein solcher Zusatz
wären die Hörner gewesen, die an dem Diadem befestiget waren, wie man
an einem Kopfe in dem königlichen Kabinett zu Berlin sehen kann 3).
Ein solcher Zusatz war das Diadem selbst, welches die schöne Stirne
verdeckte, und daher an den Statuen des Bacchus ebenso selten
vorkömmt, als die Hörner, ob es ihm schon, als seinem Erfinder, von
den Dichtern ebenso oft beigeleget wird.  Dem Dichter gaben die
Hörner und das Diadem feine Anspielungen auf die Taten und den
Charakter des Gottes: dem Künstler hingegen wurden sie Hinderungen
größere Schönheiten zu zeigen, und wenn Bacchus, wie ich glaube eben
darum den Beinamen Biformis, DimorjoV, hatte, weil er sich sowohl
schön als schrecklich zeigen konnte, so war es wohl natürlich, daß
der Künstler diejenige von seiner Gestalt am liebsten wählte, die der
Bestimmung seiner Kunst am meisten entsprach.

{2. Metamorph. lib. IV. v. 19. 20.}

{3. Begeri Thes.  Brandenb.  Vol.  III. p. 240.}

Minerva und Juno schleudern bei den römischen Dichtern öfters den
Blitz.  Aber warum nicht auch in ihren Abbildungen? fragt Spence 4).
Er antwortet: es war ein besonderes Vorrecht dieser zwei Göttinnen,
wovon man den Grund vielleicht erst in den samothracischen
Geheimnissen erfuhr; weil aber die Artisten bei den alten Römern als
gemeine Leute betrachtet, und daher zu diesen Geheimnissen selten
zugelassen wurden, so wußten sie ohne Zweifel nichts davon, und was
sie nicht wußten, konnten sie nicht vorstellen.  Ich möchte Spencen
dagegen fragen: arbeiteten diese gemeinen Leute vor ihren Kopf, oder
auf Befehl Vornehmerer, die von den Geheimnissen unterrichtet sein
konnten?  Stunden die Artisten auch bei den Griechen in dieser
Verachtung?  Waren die römischen Artisten nicht mehrenteils geborne
Griechen?  Und so weiter.

{4. Polymetis Dial.  VI. p. 63.}

Statius und Valerius Flaccus schildern eine erzürnte Venus, und mit
so schrecklichen Zügen, daß man sie in diesem Augenblicke eher für
eine Furie, als für die Göttin der Liebe halten sollte.  Spence
siehet sich in den alten Kunstwerken vergebens nach einer solchen
Venus um.  Was schließt er daraus?  Daß dem Dichter mehr erlaubt ist
als dem Bildhauer und Maler?  Das hätte er daraus schließen sollen;
aber er hat es einmal für allemal als einen Grundsatz angenommen, daß
in einer poetischen Beschreibung nichts gut sei, was unschicklich
sein würde, wenn man es in einem Gemälde, oder an einer Statue
vorstellt 5).  Folglich müssen die Dichter gefehlt haben.  "Statius
und Valerius sind aus einer Zeit, da die römische Poesie schon in
ihrem Verfalle war.  Sie zeigen auch hierin ihren verderbten
Geschmack, und ihre schlechte Beurteilungskraft.  Bei den Dichtern
aus einer bessern Zeit wird man dergleichen Verstoßungen wider den
malerischen Ausdruck nicht finden 6)."

{5. Polymetis Dialogue XX. p. 31 1. Scarce any thing can be good in a
poetical description, which would appear absurd, if represented in a
statue or picture.}

{6. Polymetis Dial.  VII. p. 74.}

So etwas zu sagen, braucht es wahrlich wenig Unterscheidungskraft.
Ich will indes mich weder des Statius noch des Valerius in diesem
Fall annehmen, sondern nur eine allgemeine Anmerkung machen.  Die
Götter und geistigen Wesen, wie sie der Künstler vorstellet, sind
nicht völlig ebendieselben, welche der Dichter braucht.  Bei dem
Künstler sind sie personifierte Abstrakta, die beständig die nämliche
Charakterisierung behalten müssen, wenn sie erkenntlich sein sollen.
Bei dem Dichter hingegen sind sie wirkliche handelnde Wesen, die über
ihren allgemeinen Charakter noch andere Eigenschaften und Affekten
haben, welche nach Gelegenheit der Umstände vor jenen vorstechen
können.  Venus ist dem Bildhauer nichts als die Liebe; er muß ihr
also alle die sittsame verschämte Schönheit, alle die holden Reize
geben, die uns an geliebten Gegenständen entzücken, und die wir daher
mit in den abgesonderten Begriff der Liebe bringen.  Die geringste
Abweichung von diesem Ideal läßt uns sein Bild verkennen.  Schönheit,
aber mit mehr Majestät als Scham, ist schon keine Venus, sondern eine
Juno.  Reize, aber mehr gebieterische, männliche, als holde Reize,
geben eine Minerva statt einer Venus.  Vollends eine zürnende Venus,
eine Venus von Rache und Wut getrieben, ist dem Bildhauer ein wahrer
Widerspruch; denn die Liebe, als Liebe, zürnet nie, rächet sich nie.
Bei dem Dichter hingegen ist Venus zwar auch die Liebe, aber die
Göttin der Liebe, die außer diesem Charakter, ihre eigne
Individualität hat, und folglich der Triebe des Abscheues ebenso
fähig sein muß, als der Zuneigung.  Was Wunder also, daß sie bei ihm
in Zorn und Wut entbrennet, besonders wenn es die beleidigte Liebe
selbst ist, die sie darein versetzet?

Es ist zwar wahr, daß auch der Künstler in zusammengesetzten Werken,
die Venus, oder jede andere Gottheit, außer ihrem Charakter, als ein
wirklich handelndes Wesen, so gut wie der Dichter, einführen kann.
Aber alsdenn müssen wenigstens ihre Handlungen ihrem Charakter nicht
widersprechen, wenn sie schon keine unmittelbare Folgen desselben
sind.  Venus übergibt ihrem Sohne die göttlichen Waffen: diese
Handlung kann der Künstler, sowohl als der Dichter, vorstellen.  Hier
hindert ihn nichts, der Venus alle die Anmut und Schönheit zu geben,
die ihr als Göttin der Liebe zukommen; vielmehr wird sie eben dadurch
in seinem Werke um so viel kenntlicher.  Allein wenn sieh Venus an
ihren Verächtern, den Männern zu Lemnos, rächen will, in vergrößerter
wilder Gestalt, mit fleckigten Wangen, in verwirrtem Haare, die
Pechfackel ergreift, ein schwarzes Gewand um sich wirft, und auf
einer finstern Wolke stürmisch herabfährt: so ist das kein Augenblick
für den Künstler, weil er sie durch nichts in diesem Augenblicke
kenntlich machen kann.  Es ist nur ein Augenblick für den Dichter,
weil dieser das Vorrecht hat, einen andern, in welchem die Göttin
ganz Venus ist, so nahe, so genau damit zu verbinden, daß wir die
Venus auch in der Furie nicht aus den Augen verlieren.  Dieses tut
Flaccus:

 --Neque enim alma videri
  Jam tumet; aut tereti crinem subnectitur auro,
  Sidereos diffusa sinus. Eadem effera et ingens
  Et maculis suffecta genas; pinumque sonantem
  Virginibus Stygiis, nigramque simillima pallam 7).

{7. Argonaut.  lib. II. v. 102-106.}


Eben dieses tut Statius:

  Illa Paphon veterem centumque altaria linquens,
  Nec vultu nec crine prior, solvisse jugalem
  Ceston, et Idalias procul ablegasse volucres
  Fertur. Erant certe, media qui noctis in umbra
  Divam, alios ignes majoraque tela gerentem,
  Tartarias inter thalamis volitasse sorores
  Vulgarent: utque implicitis arcana domorum
  Anguibus et saeva formidine cuncta replerit
  Limina 8).--

{8. Thebaid.  lib. V. v. 61-69.}


Oder man kann sagen: der Dichter allein besitzet das KunststÜck, mit
negativen Zügen zu schildern, und durch Vermischung dieser negativen
mit positiven Zügen, zwei Erscheinungen in eine zu bringen.  Nicht
mehr die holde Venus; nicht mehr das Haar mit goldenen Spangen
geheftet; von keinem azurnen Gewande umflattert; ohne ihren Gürtel;
mit andern Flammen, mit grÖßern Pfeilen bewaffnet; in Gesellschaft
ihr Ähnlicher Furien.  Aber weil der Artist dieses Kunststückes
entbehren muß, soll sich seiner darum auch der Dichter enthalten?
Wenn die Malerei die Schwester der Dichtkunst sein will: so sei sie
wenigstens keine eifersüchtige Schwester; und die jüngere untersage
der älteren nicht alle den Putz, der sie selbst nicht kleidet.



IX.


Wenn man in einzeln Fällen den Maler und Dichter miteinander
vergleichen will, so muß man vor allen Dingen wohl zusehen, ob sie
beide ihre völlige Freiheit gehabt haben, ob sie ohne allen
äußerlichen Zwang auf die höchste Wirkung ihrer Kunst haben arbeiten
können.

Ein solcher äußerlicher Zwang war dem alten Künstler öfters die
Religion.  Sein Werk, zur Verehrung und Anbetung bestimmt, konnte
nicht allezeit so vollkommen sein, als wenn er einzig das Vergnügen
des Betrachters dabei zur Absicht gehabt hätte.  Der Aberglaube
überladete die Götter mit Sinnbildern, und die schönsten von ihnen
wurden nicht überall als die schönsten verehret.

Bacchus stand in seinem Tempel zu Lemnos, aus welchem die fromme
Hypsipyle ihren Vater unter der Gestalt des Gottes rettete 1), mit
Hörnern, und so erschien er ohne Zweifel in allen seinen Tempeln,
denn die Hörner waren ein Sinnbild, welches sein Wesen mit
bezeichnete.  Nur der freie Künstler, der seinen Bacchus für keinen
Tempel arbeitete, ließ dieses Sinnbild weg; und wenn wir, unter den
noch übrigen Statuen von ihm, keine mit Hörnern finden 2), so ist
dieses vielleicht ein Beweis, daß es keine von den geheiligten sind,
in welchen er wirklich verehret worden.  Es ist ohnedem höchst
wahrscheinlich, daß auf diese letzteren die Wut der frommen Zerstörer
in den ersten Jahrhunderten des Christentums vornehmlich gefallen ist,
die nur hier und da ein Kunstwerk schonte, welches durch keine
Anbetung verunreiniget war.

{1. Valerius Flaccus lib. II. Argonaut. v. 265-273.

  Serta patri, juvenisque comam vestesque Lyaei
  Induit, et medium curru locat; aeraque circum
  Tympanaque et plenas tacita formidine cistas.
  Ipsa sinus hederisque ligat famularibus artus:
  Pampineamque quatit ventosis ictibus hastam,
  Respiciens; teneat virides velatus habenas
  Ut pater, et nivea tumeant ut cornua mitra,
  Et sacer ut Bacchum referat scyphus.

{2. Der sogenannte Bacchus in dem Mediceischen Garten zu Rom (beim
Montfaucon Suppl. aux Ant.  Expl.  T. I. p. 154) hat kleine aus der
Stirne hervorsprossende HÖrner; aber es gibt Kenner, die ihn eben
darum lieber zu einem Faune machen wollen.  In der Tat sind solche
natÜrliche Hörner eine SchÄndung der menschlichen Gestalt, und können
nur Wesen geziemen, denen man eine Art von Mittelgestalt zwischen
Menschen und Tier erteilte.  Auch ist die Stellung, der lüsterne
Blick nach der über sich gehaltenen Traube, einem Begleiter des
Weingottes anständiger als dem Gotte selbst.  Ich erinnere mich hier,
was Clemens Alexandrinus von Alexander dem Großen sagt (Protrept. p.
48. Edit. Pott.) Ebouleto de kai AlexandroV AmmwnoV uioV einai
dokein, kai kerasjoroV anaplattesJai proV tvn agalmatopoivn, to kalon
anJrwpou ubrisai speudwn kerati.  Es war Alexanders ausdrücklicher
Wille, daß ihn der Bildhauer mit Hörnern vorstellen sollte: er war es
gern zufrieden, daß die menschliche Schönheit in ihm mit Hörnern
beschimpft ward, wenn man ihn nur eines göttlichen Ursprunges zu sein
glaubte.}


Das Wort tumeant, in der letzten ohn' einen Zeile, scheinet übrigens
anzuzeigen, daß man die Hörner des Bacchus nicht so klein gemacht,
als sich Spence einbildet.}

Da indes unter den aufgegrabenen Antiken sich Stücke sowohl von der
einen als von der andern Art finden, so wünschte ich, daß man den
Namen der Kunstwerke nur denjenigen beilegen möchte, in welchen sich
der Künstler wirklich als Künstler zeigen können, bei welchen die
Schönheit seine erste und letzte Absicht gewesen.  Alles andere,
woran sich zu merkliche Spuren gottesdienstlicher Verabredungen
zeigen, verdienet diesen Namen nicht, weil die Kunst hier nicht um
ihrer selbst willen gearbeitet, sondern ein bloßes Hilfsmittel der
Religion war, die bei den sinnlichen Vorstellungen, die sie ihr
aufgab, mehr auf das Bedeutende als auf das Schöne sahe; ob ich schon
dadurch nicht sagen will, daß sie nicht auch öfters alles Bedeutende
in das Schöne gesetzt, oder aus Nachsicht für die Kunst und den
feinern Geschmack des Jahrhunderts, von jenem so viel nachgelassen
habe, daß dieses allein zu herrschen scheinen können.

Macht man keinen solchen Unterschied, so werden der Kenner und der
Antiquar beständig miteinander im Streite liegen, weil sie einander
nicht verstehen.  Wenn jener, nach seiner Einsicht in die Bestimmung
der Kunst, behauptet, daß dieses oder jenes der alte Künstler nie
gemacht habe, nämlich als Künstler nicht, freiwillig nicht: so wird
dieser es dahin ausdehnen, daß es auch weder die Religion, noch sonst
eine außer dem Gebiete der Kunst liegende Ursache, von dem Künstler
habe machen lassen, von dem Künstler nämlich als Handarbeiter.  Er
wird also mit der ersten mit der besten Figur den Kenner widerlegen
zu können glauben, die dieser ohne Bedenken, aber zu großem
Ärgernisse der gelehrten Welt, wieder zu dem Schutte verdammt, woraus
sie gezogen worden 3).

{3. Als ich oben behauptete, daß die alten Künstler keine Furien
gebildet hätten, war es mir nicht entfallen, daß die Furien mehr als
einen Tempel gehabt, die ohne ihre Statuen gewiß nicht gewesen sind.
In dem zu Cerynea fand Pausanias dergleichen von Holz; sie waren
weder groß, noch sonst besonders merkwürdig; es schien, daß die Kunst,
die sich nicht an ihnen zeigen können, es an den Bildsäulen ihrer
Priesterinnen, die in der Halle des Tempels standen, einbringen
wollen, als welche von Stein, und von sehr schöner Arbeit waren.
(Pausanias Achaic. cap. XXV. p. 589. Edit. Kuhn.)  Ich hatte
ebensowenig vergessen, daß man Köpfe von ihnen auf einem Abraxas, den
Chiffletius bekannt gemacht, und auf einer Lampe beim Licetus zu
sehen glaube.  (Dissertat. sur les Furies par Banier, Mémoires de
l'Académie des Inscript.  T. V. p. 48.)  Auch sogar die Urne von
hetrurischer Arbeit beim Gorius (Tabl. 151 Musei Etrusci), auf
welcher Orestes und Pylades erscheinen, wie ihnen zwei Furien mit
Fackeln zusetzen, war mir nicht unbekannt.  Allein ich redete von
Kunstwerken, von welchen ich alle diese Stücke ausschließen zu können
glaubte.  Und wäre auch das letztere nicht sowohl als die übrigen
davon auszuschließen, so dienet es von einer andern Seite, mehr meine
Meinung zu bestärken, als zu widerlegen.  Denn so wenig auch die
hetrurischen Künstler überhaupt auf das Schöne gearbeitet, so
scheinen sie doch auch die Furien nicht sowohl durch schreckliche
Gesichtszüge, als vielmehr durch ihre Tracht und Attributa
ausgedrückt zu haben.  Diese stoßen mit so ruhigem Gesichte dem
Orestes und Pylades ihre Fackeln unter die Augen, daß sie fast
scheinen, sie nur im Scherze erschrecken zu wollen.  Wie fürchterlich
sie dem Orestes und Pylades vorgekommen, läßt sich nur aus ihrer
Furcht, keineswegs aber aus der Bildung der Furien selbst abnehmen.
Es sind also Furien, und sind auch keine; sie verrichten das Amt der
Furien, aber nicht in der Verstellung von Grimm und Wut, welche wir
mit ihrem Namen zu verbinden gewohnt sind; nicht mit der Stirne, die,
wie Catull sagt, expirantis praeportat pectoris iras.--Noch kürzlich
glaubte Herr Winckelmann, auf einem Karniole in dem Stoschischen
Kabinette, eine Furie im Laufe mit fliegendem Rocke und Haaren, und
einem Dolche in der Hand, gefunden zu haben.  (Bibliothek der sch.
Wiss.  V Band S. 30.)  Der Herr von Hagedorn riet hierauf auch den
Künstlern schon an, sich diese Anzeige zunutze zu machen und die
Furien in ihren Gemälden so vorzustellen.  (Betrachtungen über die
Malerei S. 222.)  Allein Herr Winckelmann hat hernach diese seine
Entdeckung selbst wiederum ungewiß gemacht, weil er nicht gefunden,
daß die Furien, anstatt mit Fackeln, auch mit Dolchen von den Alten
bewaffnet worden.  (Descript. des pierres gravées p. 84.)  Ohne
Zweifel erkennt er also die Figuren, auf Münzen der Städte Lyrba und
Mastaura, die Spanheim für Furien ausgibt (Les Césars de Julien p.
44) nicht dafür, sondern für eine Hekate triformis; denn sonst fände
sich allerdings hier eine Furie, die in jeder Hand einen Dolch führet,
und es ist sonderbar, daß eben diese auch in bloßen ungebundenen
Haaren erscheint, die an den andern mit einem Schleier bedeckt sind.
Doch gesetzt auch, es wäre wirklich so, wie es dem Herrn Winckelmann
zuerst vorgekommen: so würde es auch mit diesem geschnittenen Steine
eben die Bewandtnis haben, die es mit der hetrurischen Urne hat, es
wäre denn, daß sich wegen Kleinheit der Arbeit gar keine Gesichtszüge
erkennen ließen.  Überdem gehören auch die geschnittenen Steine
überhaupt, wegen ihres Gebrauchs als Siegel, schon mit zur
Bildersprache, und ihre Figuren mögen öfterer eigensinnige Symbola
der Besitzer, als freiwillige Werke der Künstler sein.}

Gegenteils kann man sich aber auch den Einfluß der Religion auf die
Kunst zu groß vorstellen.  Spence gibt hiervon ein sonderbares
Beispiel.  Er fand beim Ovid, daß Vesta in ihrem Tempel unter keinem
persönlichen Bilde verehret worden; und dieses dünkte ihm genug,
daraus zu schließen, daß es überhaupt keine Bildsäulen von dieser
Göttin gegeben habe, und daß alles, was man bisher dafür gehalten,
nicht die Vesta, sondern eine Vestalin vorstelle 4).  Eine seltsame
Folge!  Verlor der Künstler darum sein Recht, ein Wesen, dem die
Dichter eine bestimmte Persönlichkeit geben, das sie zur Tochter des
Saturnus und der Ops machen, das sie in Gefahr kommen lassen, unter
die Mißhandlungen des Priapus zu fallen, und was sie sonst von ihr
erzählen, verlor er, sage ich, darum sein Recht, dieses Wesen auch
nach seiner Art zu personifieren, weil es in einem Tempel nur unter
dem Sinnbilde des Feuers verehret ward?  Denn Spence begehet dabei
noch diesen Fehler, daß er das, was Ovid nur von einem gewissen
Tempel der Vesta, nämlich von dem zu Rom sagt5), auf alle Tempel
dieser Göttin ohne Unterschied, und auf ihre Verehrung überhaupt,
ausdehnet.  Wie sie in diesem Tempel zu Rom verehret ward, so ward
sie nicht überall verehret, so war sie selbst nicht in Italien
verehret worden, ehe ihn Numa erbaute.  Numa wollte keine Gottheit in
menschlicher oder tierischer Gestalt vorgestellet wissen; und darin
bestand ohne Zweifel die Verbesserung, die er in dem Dienste der
Vesta machte, daß er alle persönliche Vorstellung von ihr daraus
verbannte.  Ovid selbst lehret uns, daß es vor den Zeiten des Numa
Bildsäulen der Vesta in ihrem Tempel gegeben habe, die, als ihre
Priesterin Sylvia Mutter ward, vor Scham die jungfräulichen Hände vor
die Augen hoben6).  Daß sogar in den Tempeln, welche die Göttin außer
der Stadt in den römischen Provinzen hatte, ihre Verehrung nicht
völlig von der Art gewesen, als die Numa verordnet, scheinen
verschiedene alte Inschriften zu beweisen, in welchen eines
Pontificis Vestae gedacht wird7).  Auch zu Korinth war ein Tempel der
Vesta ohne alle Bildsäule, mit einem bloßen Altare, worauf der Göttin
geopfert ward8).  Aber hatten die Griechen darum gar keine Statuen
der Vesta?  Zu Athen war eine im Prytaneo, neben der Statue des
Friedens9).  Die Jasseer rühmten von einer, die bei ihnen unter
freiem Himmel stand, daß weder Schnee noch Regen jemals auf sie
falle10).  Plinius gedenkt einer sitzenden, von der Hand des Skopas,
die sich zu seiner Zeit in den Servilianischen Gärten zu Rom
befand11).  Zugegeben, daß es uns itzt schwer wird, eine bloße
Vestalin von einer Vesta selbst zu unterscheiden, beweiset dieses,
daß sie auch die Alten nicht unterscheiden können, oder wohl gar
nicht unterscheiden wollen?  Gewisse Kennzeichen sprechen offenbar
mehr für die eine, als für die andere.  Das Zepter, die Fackel, das
Palladium, lassen sich nur in der Hand der Göttin vermuten.  Das
Tympanum, welches ihr Codinus beileget, kömmt ihr vielleicht nur als
der Erde zu; oder Codinus wußte selbst nicht recht, was er sahe12).

{4. Polymetis Dial.  VII. p. 81.}

{5. Fast. lib. VI. v. 295-98.

  Esse diu stultus Vestae simulacra putavi:
      Mox didici curvo nulla subesse tholo.
  Ignis inexstinctus templo celatur in illo.
      Effigiem nullam Vesta, nec ignis habet.


Ovid redet nur von dem Gottesdienste der Vesta in Rom, nur von dem
Tempel, den ihr Numa daselbst erbauet hatte, von dem er kurz zuvor (v.
259. 260) sagt:

  Regis opus placidi, quo non metuentius ullum
      Numinis ingenium terra Sabina tulit.}

{6. Fast. lib. III. v. 45. 46.

  Sylvia fit mater: Vestae simulacra feruntur
      Virgineas oculis opposuisse manus.


Auf diese Weise hÄtte Spence den Ovid mit sich selbst vergleichen
sollen.  Der Dichter redet von verschiedenen Zeiten.  Hier von den
Zeiten vor dem Numa, dort von den Zeiten nach ihm.  In jenen ward sie
in Italien unter persÖnlichen Vorstellungen verehret, so wie sie in
Troja war verehret worden, von wannen Aeneas ihren Gottesdienst mit
herÜbergebracht hatte.

 --Manibus vittas, Vestamque potentem,
  Aeternumque adytis effert penetralibus ignem:


sagt Virgil von dem Geiste des Hektors, nachdem er dem Aeneas zur
Flucht geraten.  Hier wird das ewige Feuer von der Vesta selbst, oder
ihrer BildsÄule, ausdrÜcklich unterschieden.  Spence muß die
rÖmischen Dichter zu seinem Behufe doch noch nicht aufmerksam genug
durchgelesen haben, weil ihm diese Stelle entwischt ist.}

{7. Lipsius de Vesta et Vestalibus cap. 13.}


{8. Pausanias Corinth. cap. XXXV. p. 198. Edit. Kuh.}

{9. Idem Attic. cap. XVIII. p. 41.}

{10. Polyb. Hist. lib. XVI. §. 11. Op. T. II. p. 443. Edit.
Ernest.}

{11. Plinius lib. XXXVI sec. 4. p. 727. Edit. Hard.  Scopas
fecit--Vestam sedentem laudatam in Servilianis hortis.  Diese Stelle
muß Lipsius in Gedanken gehabt haben als er (de Vesta cap. 3.)
schrieb: Plinius Vestam sedentem effingi solitam ostendit, a
stabilitate.  Allein was Plinius von einem einzeln Stücke des Skopas
sagt, hätte er nicht für einen allgemein angenommenen Charakter
ausgeben sollen.  Er merkt selbst an, daß auf den Münzen die Vesta
ebensooft stehend als sitzend erscheine.  Allein er verbessert
dadurch nicht den Plinius, sondern seine eigne falsche Einbildung.}

{12. Georg. Codinus de Originib. Constant. Edit. Venet. p. 12.
Thn ghn legousin Estian, kai plattousi authn gunaika, tumpanon
bastazousan, epeidh touV anemouV h gh uj' eathn sugkleiei.  Suidas,
aus ihm, oder beide aus einem ältern, sagt unter dem Worte Estia eben
dieses.  "Die Erde wird unter dem Namen Vesta als eine Frau gebildet,
welche ein Tympanon trägt, weil sie die Winde in sich verschlossen
hält." Die Ursache ist ein wenig abgeschmackt.  Es würde sich eher
haben hören lassen, wenn er gesagt hätte, daß ihr deswegen ein
Tympanon beigegeben werde, weil die Alten zum Teil geglaubt, daß ihre
Figur damit übereinkomme; schma authV tumpanoeideV einai.
(Plutarchus de placitis philos. cap. 10. id. de facie in orbe Lunae.)
Wo sich aber Codinus nur nicht entweder in der Figur, oder in dem
Namen, oder gar in beiden geirret hat.  Er wußte vielleicht, was er
die Vesta tragen sahe, nicht besser zu nennen, als ein Tympanum; oder
hörte es ein Tympanum nennen, und konnte sich nichts anders dabei
gedenken, als das Instrument, welches wir eine Heerpauke nennen.
Tympana waren aber auch eine Art von Rädern:

  Hinc radios trivere rotis, hinc tympana plaustris
  Agricolae--


(Virgilius Georgic. lib. II. v. 444.)  Und einem solchen Rade
scheinet mir das, was sich an der Vesta des Fabretti zeiget (Ad
tabulam Iliadis p. 339.) und dieser Gelehrte fÜr eine Handmühle hÄlt,
sehr ähnlich zu sein.}



X.


Ich merke noch eine Befremdung des Spence an, welche deutlich zeiget,
wie wenig er über die Grenzen der Poesie und Malerei muß nachgedacht
haben.

"Was die Musen überhaupt betrifft", sagt er, "so ist es doch
sonderbar, daß die Dichter in Beschreibung derselben so sparsam sind,
weit sparsamer, als man es bei GÖttinnen, denen sie so große
Verbindlichkeit haben, erwarten sollte 1).

{1. Polymetis Dial.  VIII. p. 91.}

Was heißt das anders, als sich wundern, daß wenn die Dichter von
ihnen reden, sie es nicht in der stummen Sprache der Maler tun?
Urania ist den Dichtern die Muse der Sternkunst; aus ihrem Namen, aus
ihren Verrichtungen erkennen wir ihr Amt.  Der Künstler, um es
kenntlich zu machen, muß sie mit einem Stabe auf eine Himmelskugel
weisen lassen; dieser Stab, diese Himmelskugel, diese ihre Stellung
sind seine Buchstaben, aus welchen er uns den Namen Urania
zusammensetzen läßt.  Aber wenn der Dichter sagen will: Urania hatte
seinen Tod längst aus den Sternen vorhergesehn;

Ipsa diu positis lethum praedixerat astris.  Uranie--2)

{2. Statius Theb.  VIII. v. 551.}

warum soll er, in Rücksicht auf den Maler, darzusetzen: Urania, den
Radius in der Hand, die Himmelskugel vor sich?  Wäre es nicht, als ob
ein Mensch, der laut reden kann und darf, sich noch zugleich der
Zeichen bedienen sollte, welche die Stummen im Serraglio des Türken,
aus Mangel der Stimme, unter sich erfunden haben?

Eben dieselbe Befremdung äußert Spence nochmals bei den moralischen
Wesen, oder denjenigen Gottheiten, welche die Alten den Tugenden und
der Führung des menschlichen Lebens vorsetzten 3).  "Es verdient
angemerkt zu werden", sagt er, "daß die römischen Dichter von den
besten dieser moralischen Wesen weit weniger sagen, als man erwarten
sollte.  Die Artisten sind in diesem Stücke viel reicher, und wer
wissen will, was jedes derselben für einen Aufzug gemacht, darf nur
die Münzen der römischen Kaiser zu Rate ziehen 4).--Die Dichter
sprechen von diesen Wesen zwar öfters, als von Personen; überhaupt
aber sagen sie von ihren Attributen, ihrer Kleidung und übrigem
Ansehen sehr wenig."-{3. Polym.  Dial.  X. p. 137.}

{4. Ibid. p. 139.}

Wenn der Dichter Abstrakta personifieret, so sind sie durch den Namen,
und durch das, was er sie tun läßt, genugsam charakterisierst.

Dem Künstler fehlen diese Mittel.  Er muß also seinen personifierten
Abstraktis Sinnbilder zugeben, durch welche sie kenntlich werden.
Diese Sinnbilder weil sie etwas anders sind, und etwas anders
bedeuten, machen sie zu allegorischen Figuren.

Eine Frauensperson mit einem Zaum in der Hand; eine andere an eine
Säule gelehnet, sind in der Kunst allegorische Wesen.  Allein die
Mäßigung, die Standhaftigkeit bei dem Dichter, sind keine
allegorische Wesen, sondern bloß personifierte Abstrakta.

Die Sinnbilder dieser Wesen bei dem Künstler hat die Not erfunden.
Denn er kann sich durch nichts anders verständlich machen, was diese
oder jene Figur bedeuten soll.  Wozu aber den Künstler die Not
treibet, warum soll sich das der Dichter aufdringen lassen, der von
dieser Not nichts weiß?

Was Spencen so sehr befremdet, verdienet den Dichtern als eine Regel
vorgeschrieben zu werden.  Sie müssen die Bedürfnisse der Malerei
nicht zu ihrem Reichtume machen.  Sie müssen die Mittel, welche die
Kunst erfunden hat, um der Poesie nachzukommen, nicht als
Vollkommenheiten betrachten, auf die sie neidisch zu sein Ursache
hätten.  Wenn der Künstler eine Figur mit Sinnbildern auszieret, so
erhebt er eine bloße Figur zu einem höhern Wesen.  Bedienet sich aber
der Dichter dieser malerischen Ausstaffierungen, so macht er aus
einem höhern Wesen eine Puppe.

So wie diese Regel durch die Befolgung der Alten bewähret ist, so ist
die geflissentliche Übertretung derselben ein Lieblingsfehler der
neuern Dichter.  Alle ihre Wesen der Einbildung gehen in Maske, und
die sich auf diese Maskeraden am besten verstehen, verstehen sich
meistenteils auf das Hauptwerk am wenigsten: nämlich, ihre Wesen
handeln zu lassen, und sie durch die Handlungen derselben zu
charakterisieren.

Doch gibt es unter den Attributen, mit welchen die Künstler ihre
Abstrakta bezeichnen, eine Art, die des poetischen Gebrauchs fähiger
und würdiger ist.  Ich meine diejenigen, welche eigentlich nichts
Allegorisches haben, sondern als Werkzeuge zu betrachten sind, deren
sich die Wesen, welchen sie beigeleget werden, falls sie als
wirkliche Personen handeln sollten, bedienen würden oder könnten.
Der Zaum in der Hand der Mäßigung, die Säule, an welche sich die
Standhaftigkeit lehnet, sind lediglich allegorisch, für den Dichter
also von keinem Nutzen.  Die Wage in der Hand der Gerechtigkeit, ist
es schon weniger, weil der rechte Gebrauch der Wage wirklich ein
Stück der Gerechtigkeit ist.  Die Leier oder Flöte aber in der Hand
einer Muse, die Lanze in der Hand des Mars, Hammer und Zange in den
Händen des Vulkans, sind ganz und gar keine Sinnbilder, sind bloße
Instrumente, ohne welche diese Wesen die Wirkungen, die wir ihnen
zuschreiben, nicht hervorbringen können.  Von dieser Art sind die
Attribute, welche die alten Dichter in ihre Beschreibungen etwa noch
einflechten, und die ich deswegen, zum Unterschiede jener
allegorischen, die poetischen nennen möchte.  Diese bedeuten die
Sache selbst, jene nur etwas Ähnliches 5).

{5. Man mag in dem Gemälde, welches Horaz von der Notwendigkeit macht,
und welches vielleicht das an Attributen reichste Gemälde bei allen
alten Dichtern ist: (lib. I. Od. 35.)

  Te semper anteit saeva Necessitas:
  Clavos trabales et cuneos manu
    Gestans ahenea; nec severus
        Uncus abest liquidumque plumbum--


man mag, sage ich, in diesem GemÄlde die Nägel, die Klammern, das
fließende Blei, fÜr Mittel der Befestigung oder für Werkzeuge der
Bestrafung annehmen, so gehÖren sie doch immer mehr zu den poetischen,
als allegorischen Attributen.  Aber auch als solche sind sie zu sehr
gehäuft, und die Stelle ist eine von den frostigsten des Horaz.
Sanadon sagt: J'ose dire que ce tableau pris dans le détail serait
plus beau sur la toile que dans une ode héroïque.  Je ne puis
souffrir cet attirail patibulaire de clous, de coins, de crocs, et de
plomp fondu.  J'ai cru en devoir décharger la traduction, en
substituant les idées générales aux idées singulières.  C'est dommage
que le poète ait eu besoin de ce correctif.  Sanadon hatte ein feines
und richtiges Gefühl, nur der Grund, womit er es bewähren will, ist
nicht der rechte.  Nicht weil die gebrauchten Attributa ein attirail
patibulaire sind; denn es stand nur bei ihm, die andere Auslegung
anzunehmen, und das Galgengeräte in die festesten Bindemittel der
Baukunst zu verwandeln: sondern, weil alle Attributa eigentlich für
das Auge, und nicht für das Gehör gemacht sind, und alle Begriffe,
die wir durch das Auge erhalten sollten, wenn man sie uns durch das
Gehör beibringen will, eine größere Anstrengung erfordern, und einer
geringern Klarheit fähig sind.--Der Verfolg von der angeführten
Strophe des Horaz erinnert mich übrigens an ein paar Versehen des
Spence, die von der Genauigkeit, mit welcher er die angezogenen
Stellen der alten Dichter will erwogen haben, nicht den
vorteilhaftesten Begriff erwecken.  Er redet von dem Bilde, unter
welchem die Römer die Treue oder Ehrlichkeit vorstellten.  (Dial.  X.
p. 145.)  "Die Römer", sagt er, "nannten sie Fides; und wenn sie sie
Sola Fides nannten, so scheinen sie den hohen Grad dieser Eigenschaft,
den wir durch grundehrlich (im Englischen downright honesty)
ausdrücken, darunter verstanden zu haben.  Sie wird mit einer freien
offenen Gesichtsbildung und in nichts als einem dünnen Kleide
vorgestellet, welches so fein ist, daß es für durchsichtig gelten
kann.  Horaz nennet sie daher, in einer von seinen Oden,
dünnbekleidet; und in einer anderen, durchsichtig." In dieser kleinen
Stelle sind nicht mehr als drei ziemlich grobe Fehler.  Erstlich ist
es falsch, daß sola ein besonderes Beiwort sei, welches die Römer der
Göttin Fides gegeben.  In den beiden Stellen des Livius, die er
desfalls zum Beweise anführt (lib. I. c. 21. lib. II. c. 3.),
bedeutet es weiter nichts, als was es überall bedeutet, die
Ausschließung alles übrigen.  In der einen Stelle scheinet den
Criticis das soli sogar verdächtig und durch einen Schreibefehler,
der durch das gleich danebenstehende solenne veranlasset worden, in
den Text gekommen zu sein.  In der andern aber ist nicht von der
Treue, sondern von der Unschuld, der Unsträflichkeit, Innocentia, die
Rede.  Zweitens: Horaz soll, in einer seiner Oden, der Treue das
Beiwort dünnbekleidet geben, nämlich in der oben angezogenen
fünfunddreißigsten des ersten Buchs:

Te spes, et albo rara fides colit Velata panno.


Es ist wahr, rarus heißt auch dünne; aber hier heißt es bloß selten,
was wenig vorkömmt, und ist das Beiwort der Treue selbst, und nicht
ihrer Bekleidung.  Spence würde recht haben, wenn der Dichter gesagt
hätte: Fides raro velata panno.  Drittens, an einem andern Orte soll
Horaz die Treue oder Redlichkeit durchsichtig nennen; um eben das
damit anzudeuten, was wir in unsern gewöhnlichen
Freundschaftsversicherungen zu sagen pflegen: ich wünschte, Sie
könnten mein Herz sehen.  Und dieser Ort soll die Zeile der
achtzehnten Ode des ersten Buchs sein:

  Arcanique Fides prodiga, pellucidior vitro.

Wie kann man sich aber von einem bloßen Worte so verfÜhren lassen?
Heißt denn Fides arcani prodiga die Treue?  Oder heißt es nicht
vielmehr, die Treulosigkeit?  Von dieser sagt Horaz, und nicht von
der Treue, daß sie durchsichtig wie Glas sei, weil sie die ihr
anvertrauten Geheimnisse eines jeden Blicke bloßstellet.}



XI.


Auch der Graf Caylus scheinet zu verlangen, daß der Dichter seine
Wesen der Einbildung mit allegorischen Attributen ausschmücken solle
1).  Der Graf verstand sich besser auf die Malerei, als auf die
Poesie.

{1. Apollo übergibt den gereinigten und balsamierten Leichnam des
Sarpedon dem Tode und dem Schlafe, ihn nach seinem Vaterlande zu
bringen.  (Il. p. v. 681. 82.)

  Pempe de min pompoisin ama kraipnoisi jeresJai
  Upnw kai QanaJw didumaosin.


Caylus empfiehlt diese Erdichtung dem Maler, fÜgt aber hinzu: Il est
fâcheux, qu'Homère ne nous ait rien laissé sur les attributs qu'on
donnait de son temps au Sommeil; nous ne connaissons, pour
caractériser ce dieu, que son action même, et nous le couronnons de
pavots.  Ces idées sont modernes; la première est d'un médiocre
service, mais elle ne peut être employée dans le cas présent, où même
les fleurs me paraissent déplacées, surtout pour une figure qui
groupe avec la mort.  (S. Tableaux tirés de l'Iliade, de l'Odyssée
d'Homère et de l'Enéide de Virgile, avec des observations générales
sur le costume, à Paris 1757. 8.)  Das heißt von dem Homer eine von
den kleinen Zieraten verlangen, die am meisten mit seiner großen
Manier streiten.  Die sinnreichsten Attributa, die er dem Schlafe
hÄtte geben kÖnnen, würden ihn bei weitem nicht so vollkommen
charakterisierst, bei weitem kein so lebhaftes Bild bei uns erregt
haben, als der einzige Zug, durch den er ihn zum Zwillingsbruder des
Todes macht.  Diesen Zug suche der Künstler auszudrücken, und er wird
alle Attributa entbehren können.  Die alten Künstler haben auch
wirklich den Tod und den Schlaf mit der Ähnlichkeit unter sich
vorgestellet, die wir an Zwillingen so natürlich erwarten.  Auf einer
Kiste von Zedernholz, in dem Tempel der Juno zu Elis, ruhten sie
beide als Knaben in den Armen der Nacht.  Nur war der eine weiß, der
andere schwarz; jener schlief, dieser schien zu schlafen; beide mit
übereinander geschlagenen Füßen.  Denn so wollte ich die Worte des
Pausanias (Eliac. cap. XVIII. p. 422. Edit. Kuh.) amjoterouV
diestrammenouV touV podaV lieber übersetzen, als mit krummen Füßen,
oder wie es Gedoyn in seiner Sprache gegeben hat: les pieds
contrefaits.  Was sollten die krummen Füße hier ausdrücken?
Übereinander geschlagene Füße hingegen sind die gewöhnliche Lage
der Schlafenden, und der Schlaf beim Maffei (Raccol.  Pl. 151) liegt
nicht anders.  Die neuen Artisten sind von dieser Ähnlichkeit, welche
Schlaf und Tod bei den Alten miteinander haben, gänzlich abgegangen,
und der Gebrauch ist allgemein geworden, den Tod als ein Skelett,
höchstens als ein mit Haut bekleidetes Skelett vorzustellen.  Vor
allen Dingen hätte Caylus dem Künstler also hier raten müssen, ob er
in Vorstellung des Todes dem alten oder dem neuen Gebrauche folgen
solle.  Doch er scheinet sich für den neuern zu erklären, da er den
Tod als eine Figur betrachtet, gegen die eine andere mit Blumen
gekrönet, nicht wohl gruppieren möchte.  Hat er aber hierbei auch
bedacht, wie unschicklich diese moderne Idee in einem Homerischen
Gemälde sein dürfte?  Und wie hat ihm das Ekelhafte derselben nicht
anstößig sein können?  Ich kann mich nicht bereden, daß das kleine
metallene Bild in der herzoglichen Galerie zu Florenz, welches ein
liegendes Skelett vorstellet, das mit dem einen Arme auf einem
Aschenkruge ruhet (Spence's Polymetis Tab.  XLI.), eine wirkliche
Antike sei.  Den Tod überhaupt kann es wenigstens nicht vorstellen
sollen, weil ihn die Alten anders vorstellten.  Selbst ihre Dichter
haben ihn unter diesem widerlichen Bilde nie gedacht.}

Doch ich habe in seinem Werke, in welchem er dieses Verlangen äußert,
Anlaß zu erheblichern Betrachtungen gefunden, wovon ich das
Wesentlichste, zu besserer Erwägung, hier anmerke.

Der Künstler, ist des Grafen Absicht, soll sich mit dem größten
malerischen Dichter, mit dem Homer, mit dieser zweiten Natur, näher
bekannt machen.  Er zeigt ihm, welchen reichen noch nie genutzten
Stoff zu den trefflichsten Schildereien die von dem Griechen
behandelte Geschichte darbiete, und wie so viel vollkommner ihm die
Ausführung gelingen müsse, je genauer er sich an die kleinsten von
dem Dichter bemerkten Umstände halten könne.

In diesem Vorschlage vermischt sich also die oben genannte doppelte
Nachahmung.  Der Maler soll nicht allein das nachahmen, was der
Dichter nachgeahmt hat, sondern er soll es auch mit den nämlichen
Zügen nachahmen; er soll den Dichter nicht bloß als Erzähler, er soll
ihn als Dichter nutzen.

Diese zweite Art der Nachahmung aber, die für den Dichter so
verkleinerlich ist, warum ist sie es nicht auch für den Künstler?
Wenn vor dem Homer eine solche Folge von Gemälden, als der Graf
Caylus aus ihm angibt, vorhanden gewesen wäre, und wir wüßten, daß
der Dichter aus diesen Gemälden sein Werk genommen hätte: würde er
nicht von unserer Bewunderung unendlich verlieren?  Wie kömmt es, daß
wir dem Künstler nichts von unserer Hochachtung entziehen, wenn er
schon weiter nichts tut, als daß er die Worte des Dichters mit
Figuren und Farben ausdrücket?

Die Ursach' scheinet diese zu sein.  Bei dem Artisten dünket uns die
Ausführung schwerer, als die Erfindung; bei dem Dichter hingegen ist
es umgekehrt, und seine Ausführung dünket uns gegen die Erfindung das
Leichtere.  Hätte Virgil die Verstrickung des Laokoon und seiner
Kinder von der Gruppe genommen, so würde ihm das Verdienst, welches
wir bei diesem seinem Bilde für das schwerere und größere halten,
fehlen, und nur das geringere übrigbleiben.  Denn diese Verstrickung
in der Einbildungskraft erst schaffen, ist weit wichtiger, als sie in
Worten ausdrücken.  Hätte hingegen der Künstler diese Verstrickung
von dem Dichter entlehnet, so würde er in unsern Gedanken doch noch
immer Verdienst genug behalten, ob ihm schon das Verdienst der
Erfindung abgehet.  Denn der Ausdruck in Marmor ist unendlich
schwerer als der Ausdruck in Worten; und wenn wir Erfindung und
Darstellung gegeneinander abwägen, so sind wir jederzeit geneigt, dem
Meister an der einen so viel wiederum zu erlassen, als wir an der
andern zu viel erhalten zu haben meinen.

Es gibt sogar Fälle, wo es für den Künstler ein größeres Verdienst
ist, die Natur durch das Medium der Nachahmung des Dichters
nachgeahmt zu haben, als ohne dasselbe.  Der Maler, der nach der
Beschreibung eines Thomsons eine schöne Landschaft darstellet, hat
mehr getan, als der sie gerade von der Natur kopieret.  Dieser siehet
sein Urbild vor sich; jener muß erst seine Einbildungskraft so
anstrengen, bis er es vor sich zu sehen glaubst.  Dieser macht aus
lebhaften sinnlichen Eindrücken etwas Schönes; jener aus schwanken
und schwachen Vorstellungen willkürlicher Zeichen.

So natürlich aber die Bereitwilligkeit ist, dem Künstler das
Verdienst der Erfindung zu erlassen, ebenso natürlich hat daraus die
Lauigkeit gegen dasselbe bei ihm entspringen müssen.  Denn da er sahe,
daß die Erfindung seine glänzende Seite nie werden könne, daß sein
größtes Lob von der Ausführung abhange, so ward es ihm gleich viel,
ob jene alt oder neu, einmal oder unzähligmal gebraucht sei, ob sie
ihm oder einem anderen zugehöre.  Er blieb in dem engen Bezirke
weniger, ihm und dem Publico geläufig gewordener Vorwürfe, und ließ
seine ganze Erfindsamkeit auf die bloße Veränderung in dem Bekannten
gehen, auf neue Zusammensetzungen alter Gegenstände.  Das ist auch
wirklich die Idee, welche die Lehrbücher der Malerei mit dem Worte
Erfindung verbinden.  Denn ob sie dieselbe schon sogar in malerische
und dichterische einteilen, so gehet doch auch die dichterische nicht
auf die Hervorbringung des Vorwurfs selbst, sondern lediglich auf die
Anordnung oder den Ausdruck 2).  Es ist Erfindung, aber nicht
Erfindung des Ganzen, sondern einzelner Teile, und ihrer Lage
untereinander.  Es ist Erfindung, aber von jener geringern Gattung,
die Horaz seinem tragischen Dichter anriet:

{2. v.  Hagedorn, "Betrachtungen über die Malerei" S. 159 u. f.}

     --Tuque
  Rectius Iliacum carmen deducis in actus,
  Quam si proferres ignota indictaque primus 3).

{3. Ad.  Pisones v. 128-130.}

Anriet, sage ich, aber nicht befahl.  Anriet, als fÜr ihn leichter,
bequemer, zutrÄglicher; aber nicht befahl, als besser und edler an
sich selbst.

In der Tat hat der Dichter einen großen Schritt voraus, welcher eine
bekannte Geschichte, bekannte Charaktere behandelt.  Hundert frostige
Kleinigkeiten, die sonst zum Verständnisse des Ganzen unentbehrlich
sein würden, kann er übergehen; und je geschwinder er seinen ZuhÖrern
verständlich wird, desto geschwinder kann er sie intressieren.
Diesen Vorteil hat auch der Maler, wenn uns sein Vorwurf nicht fremd
ist, wenn wir mit dem ersten Blicke die Absicht und Meinung seiner
ganzen Komposition erkennen, wenn wir auf eins seine Personen nicht
bloß sprechen sehen, sondern auch hören, was sie sprechen.  Von dem
ersten Blicke hangt die größte Wirkung ab, und wenn uns dieser zu
mühsamen Nachsinnen und Raten nötiget, so erkaltet unsere Begierde
gerühret zu werden; um uns an dem unverständlichen Künstler zu rächen,
verhärten wir uns gegen den Ausdruck, und weh ihm, wann er die
Schönheit dem Ausdrucke aufgeopfert hat!  Wir finden sodann gar
nichts, was uns reizen könnte, vor seinem Werke zu verweilen; was wir
sehen, gefällt uns nicht, und was wir dabei denken sollen, wissen wir
nicht.

Nun nehme man beides zusammen; einmal, daß die Erfindung und Neuheit
des Vorwurfs das Vornehmste bei weitem nicht ist, was wir von dem
Maler verlangen; zweitens, daß ein bekannter Vorwurf die Wirkung
seiner Kunst befördert und erleichtert: und ich meine, man wird die
Ursache, warum er sich so selten zu neuen Vorwürfen entschließt,
nicht mit dem Grafen Caylus, in seiner Bequemlichkeit, in seiner
Unwissenheit, in der Schwierigkeit des mechanischen Teiles der Kunst,
welche allen seinen Fleiß, alle seine Zeit erfordert, suchen dürfen;
sondern man wird sie tiefer gegründet finden, und vielleicht gar, was
anfangs Einschränkung der Kunst, Verkümmerung unsers Vergnügens, zu
sein scheinet, als eine weise und uns selbst nützliche Enthaltsamkeit
an dem Artisten zu loben geneigt sein.  Ich fürchte auch nicht, daß
mich die Erfahrung widerlegen werde.  Die Maler werden dem Grafen für
seinen guten Willen danken, aber ihn schwerlich so allgemein nutzen,
als er es erwartet.  Geschähe es jedoch: so würde über hundert Jahr'
ein neuer Caylus nötig sein, der die alten Vorwürfe wieder ins
Gedächtnis brächte, und den Künstler in das Feld zurückführte, wo
andere vor ihm so unsterbliche Lorbeeren gebrochen haben.  Oder
verlangt man, daß das Publikum so gelehrt sein soll, als der Kenner
aus seinen Büchern ist?  Daß ihm alle Szenen der Geschichte und der
Fabel, die ein schönes Gemälde geben können, bekannt und geläufig
sein sollen?  Ich gebe es zu, daß die Künstler besser getan hätten,
wenn sie seit Raffaels Zeiten, anstatt des Ovids, den Homer zu ihrem
Handbuche gemacht hätten.  Aber da es nun einmal nicht geschehen ist,
so lasse man das Publikum in seinem Gleise, und mache ihm sein
Vergnügen nicht saurer, als ein Vergnügen zu stehen kommen muß, um
das zu sein, was es sein soll.

Protogenes hatte die Mutter des Aristoteles gemalt.  Ich weiß nicht
wie viel ihm der Philosoph dafür bezahlte.  Aber entweder anstatt der
Bezahlung, oder noch über die Bezahlung, erteilte er ihm einen Rat,
der mehr als die Bezahlung wert war.  Denn ich kann mir nicht
einbilden, daß sein Rat eine bloße Schmeichelei gewesen sei.  Sondern
vornehmlich weil er das Bedürfnis der Kunst erwog, allen verständlich
zu sein, riet er ihm, die Taten des Alexanders zu malen; Taten, von
welchen damals alle Welt sprach, und von welchen er voraussehen
konnte, daß sie auch der Nachwelt unvergeßlich sein würden.  Doch
Protogenes war nicht gesetzt genug, diesem Rate zu folgen; impetus
animi, sagt Plinius, et quaedam artis libido 4), ein gewisser Übermut
der Kunst, eine gewisse Lüsternheit nach dem Sonderbaren und
Unbekannten, trieben ihn zu ganz andern Vorwürfen.  Er malte lieber
die Geschichte eines Jalysus 5), einer Cydippe und dergleichen, von
welchen man itzt auch nicht einmal mehr erraten kann, was sie
vorgestellet haben.

{4. lib. XXXV. sect. 36. p. 700. Edit. Hard.}

{5. Richardson nennet dieses Werk, wenn er die Regel erläutern will,
daß in einem Gemälde die Aufmerksamkeit des Betrachters durch nichts,
es möge auch noch so vortrefflich sein, von der Hauptfigur abgezogen
werden müsse.  "Protogenes", sagt er, "hatte in seinem berühmten
Gemälde Jalysus ein Rebhuhn mit angebracht, und es mit so vieler
Kunst ausgemalet, daß es zu leben schien, und von ganz Griechenland
bewundert ward; weil es aber aller Augen, zum Nachteil des Hauptwerks,
zu sehr an sich zog, so löschte er es gänzlich wieder aus." (Traité
de la peinture T. I. p. 46.)  Richardson hat sich geirret.  Dieses
Rebhuhn war nicht in dem Jalysus, sondern in einem andern Gemälde des
Protogenes gewesen, welches der ruhende oder müßige Satyr, SaturoV
anapauomenoV, hieß.  Ich würde diesen Fehler, welcher aus einer
mißverstandenen Stelle des Plinius entsprungen ist, kaum anmerken,
wenn ich ihn nicht auch beim Meursius fände: (Rhodi lib. I. cap. 14.
p. 38.)  In eadem, tabula sc. in qua Ialysus, Satyrus erat, quem
dicebant Anapauomenon, tibias tenens.  Desgleichen bei dem Herrn
Winckelmann selbst.  (Von der Nachahm. der Gr.  W. in der Mal. und
Bildh.  S. 56.)  Strabo ist der eigentliche Währmann dieses
Histörchens mit dem Rebhuhne, und dieser unterscheidet den Jalysus,
und den an eine Säule sich lehnenden Satyr, auf welcher das Rebhuhn
saß, ausdrücklich.  (lib. XIV. p. 750. Edit. Xyl.)  Die Stelle des
Plinius (lib. XXXV. sect. 36. p. 699) haben Meursius und Richardson
und Winckelmann deswegen falsch verstanden, weil sie nicht
achtgegeben, daß von zwei verschiedenen Gemälden daselbst die Rede
ist: dem einen, dessenwegen Demetrius die Stadt nicht überkam, weil
er den Ort nicht angreifen wollte, wo es stand; und dem andern,
welches Protogenes während dieser Belagerung malte.  Jenes war der
Jalysus, und dieses der Satyr.}



XII.


Homer bearbeitet eine doppelte Gattung von Wesen und Handlungen;
sichtbare und unsichtbare.  Diesen Unterschied kann die Malerei nicht
angeben: bei ihr ist alles sichtbar; und auf einerlei Art sichtbar.

Wenn also der Graf Caylus die Gemälde der unsichtbaren Handlungen in
unzertrennter Folge mit den sichtbaren fortlaufen läßt; wenn er in
den Gemälden der vermischten Handlungen, an welchen sichtbare und
unsichtbare Wesen teilnehmen, nicht angibt, und vielleicht nicht
angeben kann, wie die letztern, welche nur wir, die wir das Gemälde
betrachten, darin entdecken sollten, so anzubringen sind, daß die
Personen des Gemäldes sie nicht sehen, wenigstens sie nicht notwendig
sehen zu müssen scheinen können: so muß notwendig sowohl die ganze
Folge, als auch manches einzelne Stück dadurch äußerst verwirrt,
unbegreiflich und widersprechend werden.

Doch diesem Fehler wäre, mit dem Buche in der Hand, noch endlich
abzuhelfen.  Das Schlimmste dabei ist nur dieses, daß durch die
malerische Aufhebung des Unterschiedes der sichtbaren und
unsichtbaren Wesen, zugleich alle die charakteristischen Züge
verloren gehen, durch welche sich diese höhere Gattung über jene
geringere erhebet.

Z. E. Wenn endlich die über das Schicksal der Trojaner geteilten
Götter unter sich selbst handgemein werden: so gehet bei dem Dichter
1) dieser ganze Kampf unsichtbar vor, und diese Unsichtbarkeit
erlaubet der Einbildungskraft die Szene zu erweitern, und läßt ihr
freies Spiel, sich die Personen der Götter und ihre Handlungen so
groß, und über das gemeine Menschliche so weit erhaben zu denken, als
sie nur immer will.  Die Malerei aber muß eine sichtbare Szene
annehmen, deren verschiedene notwendige Teile der Maßstab für die
darauf handelnden Personen werden; ein Maßstab, den das Auge gleich
darneben hat, und dessen Unproportion gegen die höhern Wesen, diese
höhern Wesen, die bei dem Dichter groß waren, auf der Fläche des
Künstlers ungeheuer macht.

{1. Iliad.  F. v. 385 et s.}

Minerva, auf welche Mars in diesem Kampfe den ersten Angriff waget,
tritt zurück, und fasset mit mächtiger Hand von dem Boden einen
schwarzen, rauhen, großen Stein auf, den vor alten Zeiten vereinigte
Männerhände zum Grenzsteine hingewälzet hatten:

  H d' anacassamenh liJon eileto ceiri paceih,
  Keimenon en pediw, melana, trhcun te, megan te,
  Ton r' andres proteroi Jesan emmenai ouron arourhV.


Um die GrÖße dieses Steins gehörig zu schÄtzen, erinnere man sich,
daß Homer seine Helden noch einmal so stark macht, als die stärksten
Männer seiner Zeit, jene aber von den Männern, wie sie Nestor in
seiner Jugend gekannt hatte, noch weit an Stärke Übertreffen läßt.
Nun frage ich, wenn Minerva einen Stein, den nicht ein Mann, den
Männer aus Nestors Jugendjahren zum Grenzsteine aufgerichtet hatten,
wenn Minerva einen solchen Stein gegen den Mars schleudert, von
welcher Statur soll die Göttin sein?  Soll ihre Statur der Größe des
Steins proportioniert sein, so fällt das Wunderbare weg. Ein Mensch,
der dreimal größer ist als ich, muß natürlicherweise auch einen
dreimal größern Stein schleudern können.  Soll aber die Statur der
Göttin der Größe des Steins nicht angemessen sein, so entstehet eine
anschauliche Unwahrscheinlichkeit in dem Gemälde, deren Anstößigkeit
durch die kalte Überlegung, daß eine Göttin übermenschliche Stärke
haben müsse, nicht gehoben wird.  Wo ich eine größere Wirkung sehe,
will ich auch größere Werkzeuge wahrnehmen.

Und Mars, von diesem gewaltigen Steine niedergeworfen,

Epta d' epesce peleJra-bedeckte sieben Hufen.  Unmöglich kann der
Maler dem Gotte diese außerordentliche Größe geben.  Gibt er sie ihm
aber nicht, so liegt nicht Mars zu Boden, nicht der Homerische Mars,
sondern ein gemeiner Krieger 2).

{2. Diesen unsichtbaren Kampf der Götter hat Quintus Calaber in
seinem zwölften Buche (v. 158-185) nachgeahmt, mit der nicht
undeutlichen Absicht, sein Vorbild zu verbessern.  Es scheinet
nämlich, der Grammatiker habe es unanständig gefunden, daß ein Gott
mit einem Steine zu Boden geworfen werde.  Er läßt also zwar auch die
Götter große Felsenstücke, die sie von dem Ida abreißen,
gegeneinander schleudern; aber diese Felsen zerschellen an den
unsterblichen Gliedern der Götter und stieben wie Sand um sie her:

  --Oi de kolwnaV
  Cersin aporrhxanteV ap' oudeoV Idaioio
  Ballon ep' allhlouV· ai de yamaJoisi omoiai
  Reia dieskidnanto· Jevn peri d' asceta guia
  Rhgnumenai dia tutJa--


Eine KÜnstelei, welche die Hauptsache verdirbt.  Sie erhÖhet unsern
Begriff von den Körpern der Götter und macht die Waffen, welche sie
gegeneinander brauchen, lÄcherlich.  Wenn Götter einander mit Steinen
werfen, so müssen diese Steine auch die Götter beschädigen können,
oder wir glauben mutwillige Buben zu sehen, die sich mit Erdklößen
werfen.  So bleibt der alte Homer immer der Weisere, und aller Tadel,
mit dem ihn der alte Kunstrichter belegt, aller Wettstreit, in
welchen sich geringere Genies mit ihm einlassen, dienen zu weiter
nichts, als seine Weisheit in ihr bestes Licht zu setzen.  Indes will
ich nicht leugnen, daß in der Nachahmung des Quintus nicht auch sehr
treffliche Züge vorkommen, und die ihm eigen sind.  Doch sind es Züge,
die nicht sowohl der bescheidenen Größe des Homers geziemen, als dem
stürmischen Feuer eines neuern Dichters Ehre machen würden.  Daß das
Geschrei der Götter, welches hoch bis in den Himmel und tief bis in
den Abgrund ertönet, welches den Berg und die Stadt und die Flotte
erschüttert, von den Menschen nicht gehöret wird, dünket mich eine
sehr vielbedeutende Wendung zu sein.  Das Geschrei war größer, als
daß es die kleinen Werkzeuge des menschlichen Gehörs fassen konnten.}

Longin sagt, es komme ihm öfters vor, als habe Homer seine Menschen
zu Göttern erheben, und seine Götter zu Menschen herabsetzen wollen.
Die Malerei vollführet diese Herabsetzung.  In ihr verschwindet
vollends alles, was bei dem Dichter die Götter noch über die
göttlichen Menschen setzet.  Größe, Stärke, Schnelligkeit, wovon
Homer noch immer einen höhern, wunderbarern Grad für seine Götter in
Vorrat hat, als er seinen vorzüglichsten Helden beileget 3), müssen
in dem Gemälde auf das gemeine Maß der Menschheit herabsinken, und
Jupiter und Agamemnon, Apollo und Achilles, Ajax und Mars, werden
vollkommen einerlei Wesen, die weiter an nichts als an äußerlichen
verabredeten Merkmalen zu kennen sind.

{3. In Ansehung der Stärke und Schnelligkeit wird niemand, der den
Homer auch nur ein einziges Mal flüchtig durchlaufen hat, diese
Assertion in Abrede sein.  Nur dürfte er sich vielleicht der Exempel
nicht gleich erinnern, aus welchen es erhellet, daß der Dichter
seinen Göttern auch eine körperliche Größe gegeben, die alle
natürliche Maße weit übersteiget.  Ich verweise ihn also, außer der
angezogenen Stelle von dem zu Boden geworfnen Mars, der sieben Hufen
bedecket, auf den Helm der Minerva (Kunehn ekaton polewn pruleess'
araruian.  Iliad.  E. v. 744), unter welchem sich so viel Streiter,
als hundert Städte in das Feld zu stellen vermögen, verbergen können;
auf die Schritte des Neptunus (Iliad.  N. v. 20), vornehmlich aber
auf die Zeilen aus der Beschreibung des Schildes, wo Mars und Minerva
die Truppen der belagerten Stadt anführen: (Iliad.  S. v. 516-519.)

  --Hrce d' ara sjin ArhV kai PallaV AJhnh
  Amjw cruseiw, cruseia de eimata esJhn,
  Kalw kai megalw sun teucesin, wV te Jew per,
  AmjiV arizhlw· laoi d' upolizoneV hsan.


Selbst Ausleger des Homers, alte sowohl als neue, scheinen sich nicht
allezeit dieser wunderbaren Statur seiner GÖtter genugsam erinnert zu
haben; welches aus den lindernden ErklÄrungen abzunehmen, die sie
Über den großen Helm der Minerva geben zu müssen glauben.  (S. die
Clarkisch-Ernestische Ausgabe des Homers an der angezogenen Stelle.)
Man verliert aber von der Seite des Erhabenen unendlich viel, wenn
man sich die Homerischen Götter nur immer in der gewöhnlichen Größe
denkt, in welcher man sie, in Gesellschaft der Sterblichen, auf der
Leinewand zu sehen verwöhnet wird.  Ist es indes schon nicht der
Malerei vergönnet, sie in diesen übersteigenden Dimensionen
darzustellen, so darf es doch die Bildhauerei gewissermaßen tun; und
ich bin überzeugt, daß die alten Meister, so wie die Bildung der
Götter überhaupt, also auch das Kolossalische, das sie öfters ihren
Statuen erteilten, aus dem Homer entlehnet haben.  (Herodot. lib. II.
p. 130. Edit. Wessel.)  Verschiedene Anmerkungen über dieses
Kolossalische insbesondere, und warum es in der Bildhauerei von so
großer, in der Malerei aber von gar keiner Wirkung ist, verspare ich
auf einen andern Ort.}

Das Mittel, dessen sich die Malerei bedienet, uns zu verstehen zu
geben, daß in ihren Kompositionen dieses oder jenes als unsichtbar
betrachtet werden müsse, ist eine dünne Wolke, in welche sie es von
der Seite der mithandelnden Personen einhüllet.  Diese Wolke scheinet
aus dem Homer selbst entlehnet zu sein.  Denn wenn im Getümmel der
Schlacht einer von den wichtigern Helden in Gefahr kömmt, aus der ihn
keine andere, als göttliche Macht retten kann: so läßt der Dichter
ihn von der schützenden Gottheit in einen dicken Nebel, oder in Nacht
verhüllen, und so davon führen; als den Paris von der Venus 4), den
Idäus vom Neptuns 5), den Hektor vom Apollo 6).  Und diesen Nebel,
diese Wolke, wird Caylus nie vergessen, dem Künstler bestens zu
empfehlen, wenn er ihm die Gemälde von dergleichen Begebenheiten
vorzeichnet.  Wer sieht aber nicht, daß bei dem Dichter das Einhüllen
in Nebel und Nacht weiter nichts, als eine poetische Redensart für
unsichtbar machen, sein soll?  Es hat mich daher jederzeit befremdet,
diesen poetischen Ausdruck realisieret, und eine wirkliche Wolke in
dem Gemälde angebracht zu finden, hinter welcher der Held, wie hinter
einer spanischen Wand, vor seinem Feinde verborgen stehet.  Das war
nicht die Meinung des Dichters.  Das heißt aus den Grenzen der
Malerei herausgehen; denn diese Wolke ist hier eine wahre Hieroglyphe,
ein bloßes symbolisches Zeichen, das den befreiten Held nicht
unsichtbar macht, sondern den Betrachtern zuruft: ihr müßt ihn euch
als unsichtbar vorstellen.  Sie ist hier nichts besser, als die
beschriebenen Zettelchen, die auf alten gotischen Gemälden den
Personen aus dem Munde gehen.

{4. Iliad.  G. v. 381.}

{5. Iliad.  E. v. 23.}

{6. Iliad.  Y. v. 444.}

Es ist wahr, Homer läßt den Achilles, indem ihm Apollo den Hektor
entrücket, noch dreimal nach dem dicken Nebel mit der Lanze stoßen:
triV d' hera tuye baJeian 7).  Allein auch das heißt in der Sprache
des Dichters weiter nichts, als daß Achilles so wütend gewesen, daß
er noch dreimal gestoßen, ehe er es gemerkt, daß er seinen Feind
nicht mehr vor sich habe.  Keinen wirklichen Nebel sahe Achilles
nicht, und das ganze Kunststück, womit die Götter unsichtbar machten,
bestand auch nicht in dem Nebel, sondern in der schnellen Entrückung.
Nur um zugleich mit anzuzeigen, daß die Entrückung so schnell
geschehen, daß kein menschliches Auge dem entrückten Körper
nachfolgen können, hüllet ihn der Dichter vorher in Nebel ein; nicht
weil man anstatt des entrückten Körpers einen Nebel gesehen, sondern
weil wir das, was in einem Nebel ist, als nicht sichtbar denken.
Daher kehrt er es auch bisweilen um, und läßt, anstatt das Objekt
unsichtbar zu machen, das Subjekt mit Blindheit geschlagen werden.
So verfinstert Neptun die Augen des Achilles, wenn er den Aeneas aus
seinen mörderischen Händen errettet, den er mit einem Rucke mitten
aus dem Gewühle auf einmal in das Hintertreffen versetzt 8).  In der
Tat aber sind des Achilles Augen hier ebensowenig verfinstert, als
dort die entrückten Helden in Nebel gehüllet; sondern der Dichter
setzt das eine und das andere nur bloß hinzu, um die äußerste
Schnelligkeit der Entrückung, welche wir das Verschwinden nennen,
dadurch sinnlicher zu machen.

{7. Ibid. v. 446.}

{8. Iliad.  Y. v. 321.}

Den homerischen Nebel aber haben sich die Maler nicht bloß in den
Fällen zu eigen gemacht, wo ihn Homer selbst gebraucht hat, oder
gebraucht haben würde: bei Unsichtbarwerdungen, bei Verschwindungen,
sondern überall, wo der Betrachter etwas in dem Gemälde erkennen soll,
was die Personen des Gemäldes entweder alle, oder zum Teil, nicht
erkennen.  Minerva war dem Achilles nur allein sichtbar, als sie ihn
zurückhielt, sich mit Tätigkeiten gegen den Agamemnon zu vergehen.
Dieses auszudrücken, sagt Caylus, weiß ich keinen andern Rat, als daß
man sie von der Seite der übrigen Ratsversammlung in eine Wolke
verhülle.  Ganz wider den Geist des Dichters.  Unsichtbar sein, ist
der natürliche Zustand seiner Götter; es bedarf keiner Blendung,
keiner Abschneidung der Lichtstrahlen, daß sie nicht gesehen werden
9); sondern es bedarf einer Erleuchtung, einer Erhöhung des
sterblichen Gesichts, wenn sie gesehen werden sollen.  Nicht genug
also, daß die Wolke ein willkürliches, und kein natürliches Zeichen
bei den Malern ist; dieses willkürliche Zeichen hat auch nicht einmal
die bestimmte Deutlichkeit, die es als ein solches haben könnte; denn
sie brauchen es ebensowohl, um das Sichtbare unsichtbar, als um das
Unsichtbare sichtbar zu machen.

{9. Zwar läßt Homer auch Gottheiten sich dann und wann in eine Wolke
hüllen, aber nur alsdenn, wenn sie von andern Gottheiten nicht wollen
gesehen werden.  Z. E. Iliad.  X. v. 282, wo Juno und der Schlaf hera
essamenw sich nach dem Ida verfügen, war es der schlauen Göttin
höchste Sorge, von der Venus nicht entdeckt zu werden, die ihr, nur
unter dem Vorwande einer ganz andern Reise, ihren Gürtel geliehen
hatte.  In eben dem Buche (v. 344.) muß eine güldene Wolke den
wollusttrunkenen Jupiter mit seiner Gemahlin umgeben, um ihren
züchtigen Weigerungen abzuhelfen:

  PvV k' eoi, ei tiV nvi Jevn aieigenetawn
  Eudont' aJrhseie;--


Sie fÜrchte sich nicht von den Menschen gesehen zu werden; sondern
von den GÖttern.  Und wenn schon Homer den Jupiter einige Zeilen
darauf sagen lÄßt:

  Hrh, mhte Jevn toge deidiJi, mhte tin' andrvn
  OyesJai· toion toi egw nejoV amjikaluyw
  Cruseon·


so folgt doch daraus nicht, daß sie erst diese Wolke vor den Augen
der Menschen wÜrde verborgen haben; sondern es will nur so viel, daß
sie in dieser Wolke ebenso unsichtbar den GÖttern werden solle, als
sie es nur immer den Menschen sei.  So auch, wenn Minerva sich den
Helm des Pluto aufsetzet (Iliad.  E. v. 845.), welches mit dem
Verhüllen in eine Wolke einerlei Wirkung hatte, geschieht es nicht,
um von den Trojanern nicht gesehen zu werden, die sie entweder gar
nicht, oder unter der Gestalt des Sthenelus erblicken, sondern
lediglich, damit sie Mars nicht erkennen möge.}



XIII.


Wenn Homers Werke gÄnzlich verloren wären, wenn wir von seiner Ilias
und Odyssee nichts übrig hätten, als eine ähnliche Folge von Gemälden,
dergleichen Caylus daraus vorgeschlagen: würden wir wohl aus diesen
Gemälden,--sie sollen von der Hand des vollkommensten Meisters
sein--ich will nicht sagen, von dem ganzen Dichter, sondern bloß von
seinem malerischen Talente, uns den Begriff bilden können, den wir
itzt von ihm haben?

Man mache einen Versuch mit dem ersten dem besten Stücke.  Es sei das
Gemälde der Pest 1).  Was erblicken wir auf der Fläche des Künstlers?
Tote Leichname, brennende Scheiterhaufen, Sterbende mit Gestorbenen
beschäftiget, den erzürnten Gott auf einer Wolke, seine Pfeile
abdrückend.  Der größte Reichtum dieses Gemäldes ist Armut des
Dichters.  Denn sollte man den Homer aus diesem Gemälde
wiederherstellen: was könnte man ihn sagen lassen?  "Hierauf
ergrimmte Apollo, und schoß seine Pfeile unter das Heere der Griechen.
Viele Griechen sturben und ihre Leichname wurden verbrannt." Nun
lese man den Homer selbst:

{1. Iliad.  A. v. 44-53. Tableaux tirés de l'Iliade p. 7.}

  Bh de kat' Oulumpoio karhnwn cwomenoV khr,
  Tox' wmoisin ecwn, amjhrejea te jaretrhn.
  Eklagxan d' ar' oistoi ep' wmwn cwomenoio,
  Autou kinhJentoV· o d' hie nukti eoikwV·
  Ezet' epeit' apaneuJe nevn, meta d' ion ehken·
  Deinh de klaggh genet' argureoio bioio.
  OurhaV men prvton epwceto, kai kunaV argouV·
  Autar epeit' autoisi beloV ecepeukeV ejieiV
  Ball'· aiei de purai nekuwn kaionto Jameiai.


So weit das Leben Über das GemÄlde ist, so weit ist der Dichter hier
über den Maler.  Ergrimmt, mit Bogen und KÖcher, steiget Apollo von
den Zinnen des Olympus.  Ich sehe ihn nicht allein herabsteigen, ich
höre ihn.  Mit jedem Tritte erklingen die Pfeile um die Schultern des
Zornigen.  Er gehet einher, gleich der Nacht.  Nun sitzt er gegen den
Schiffen über, und schnellet--fürchterlich erklingt der silberne
Bogen--den ersten Pfeil auf die Maultiere und Hunde.  Sodann faßt er
mit dem giftigern Pfeile die Menschen selbst; und überall lodern
unaufhörlich Holzstöße mit Leichnamen.--Es ist unmöglich, die
musikalische Malerei, welche die Worte des Dichters mit hören lassen,
in eine andere Sprache überzutragen.  Es ist ebenso unmöglich, sie
aus dem materiellen Gemälde zu vermuten, ob sie schon nur der
allerkleineste Vorzug ist, den das poetische Gemälde vor selbigem hat.
Der Hauptvorzug ist dieser, daß uns der Dichter zu dem, was das
materielle Gemälde aus ihm zeiget, durch eine ganze Galerie von
Gemälden führet.

Aber vielleicht ist die Pest kein vorteilhafter Vorwurf für die
Malerei.  Hier ist ein anderer, der mehr Reize für das Auge hat.  Die
ratpflegenden trinkenden Götter 2).  Ein goldner offener Palast,
willkürliche Gruppen der schönsten und verehrungswürdigsten Gestalten,
den Pokal in der Hand, von Heben, der ewigen Jugend, bedienet.
Welche Architektur, welche Massen von Licht und Schatten, welche
Kontraste, welche Mannigfaltigkeit des Ausdruckes!  Wo fange ich an,
wo höre ich auf, mein Auge zu weiden?  Wann mich der Maler so
bezaubert, wieviel mehr wird es der Dichter tun!  Ich schlage ihn auf,
und ich finde--mich betrogen.  Ich finde vier gute plane Zeilen, die
zur Unterschrift eines Gemäldes dienen können, in welchen der Stoff
zu einem Gemälde liegt, aber die selbst kein Gemälde sind.

{2. Iliad.  D. v. 1-4. Tableaux tirés de l'Iliade p. 30.}

  Oi de Jeoi par Zhni kaJhmenoi hgorownto
  Crusew en dapedw, meta de sjisi potnia Hbh
  Nektar ewnocoei· toi de cruseoiV depaessi
  Deidecat' allhlouV, Trwwn polin eisorownteV.


Das wÜrde ein Apollonius, oder ein noch mittelmÄßigerer Dichter,
nicht schlechter gesagt haben; und Homer bleibt hier ebensoweit unter
dem Maler, als der Maler dort unter ihm blieb.

Noch dazu findet Caylus in dem ganzen vierten Buche der Ilias sonst
kein einziges Gemälde, als nur eben in diesen vier Zeilen.  So sehr
sich, sagt er, das vierte Buch durch die mannigfaltigen Ermunterungen
zum Angriffe, durch die Fruchtbarkeit glänzender und abstechender
Charaktere, und durch die Kunst ausnimmt, mit welcher uns der Dichter
die Menge, die er in Bewegung setzen will, zeiget: so ist es doch für
die Malerei gänzlich unbrauchbar.  Er hätte dazu setzen kÖnnen: so
reich es auch sonst an dem ist, was man poetische Gemälde nennet.
Denn wahrlich, es kommen derer in dem vierten Buche so häufige und so
vollkommene vor, als nur in irgend einem andern.  Wo ist ein
ausgeführteres, täuschenderes Gemälde als das vom Pandarus, wie er
auf Anreizen der Minerva den Waffenstillestand bricht, und seinen
Pfeil auf den Menelaus losdrückt?  Als das, von dem Anrücken des
griechischen Heeres?  Als das, von dem beiderseitigen Angriffe?  Als
das, von der Tat des Ulysses, durch die er den Tod seines Leukus
rächet?

Was folgt aber hieraus, daß nicht wenige der schönsten Gemälde des
Homers kein Gemälde für den Artisten geben? daß der Artist Gemälde
aus ihm ziehen kann, wo er selbst keine hat? daß die, welche er hat,
und der Artist gebrauchen kann, nur sehr armselige Gemälde sein
würden, wenn sie nicht mehr zeigten, als der Artist zeiget?  Was
sonst, als die Verneinung meiner obigen Frage?  Daß aus den
materiellen Gemälden, zu welchen die Gedichte des Homers Stoff geben,
wann ihrer auch noch so viele, wann sie auch noch so vortrefflich
wären, sich dennoch auf das malerische Talent des Dichters nichts
schließen läßt.



XIV.


Ist dem aber so, und kann ein Gedicht sehr ergiebig für den Maler,
dennoch aber selbst nicht malerisch, hinwiederum ein anderes sehr
malerisch, und dennoch nicht ergiebig für den Maler sein: so ist es
auch um den Einfall des Grafen Caylus getan, welcher die
Brauchbarkeit für den Maler zum Probiersteine der Dichter machen, und
ihre Rangordnung nach der Anzahl der Gemälde, die sie dem Artisten
darbieten, bestimmen wollen 1).

{1. Tableaux tirés de l'Iliade, Avert. p.  V. On est toujours convenu,
que plus un poème fournissait d'images et d'actions, plus il avait
de supériorité en poésie.  Cette réflexion m'avait conduit à penser
que le calcul des différents tableaux, qu'offrent les poèmes, pouvait
servir à comparer le mérite respectif des poàmes et des poètes.  Le
nombre et le genre des tableaux que présentent ces grands ouvrages,
auraient été une espèce de pierre de touche, en plutôt une balance
certaine du mérite de ces poèmes et du génie de leurs auteurs.}

Fern sei es, diesem Einfalle, auch nur durch unser Stillschweigen,
das Ansehen einer Regel gewinnen zu lassen.  Milton würde als das
erste unschuldige Opfer derselben fallen.  Denn es scheinet wirklich,
daß das verächtliche Urteil, welches Caylus über ihn spricht, nicht
sowohl Nationalgeschmack, als eine Folge seiner vermeinten Regel
gewesen.  Der Verlust des Gesichts, sagt er, mag wohl die größte
Ähnlichkeit sein, die Milton mit dem Homer gehabt hat.  Freilich kann
Milton keine Galerien füllen.  Aber müßte, solange ich das leibliche
Auge hätte, die Sphäre desselben auch die Sphäre meines innern Auges
sein, so würde ich, um von dieser Einschränkung frei zu werden, einen
großen Wert auf den Verlust des erstern legen.

Das Verlorne Paradies ist darum nicht weniger die erste Epopöe nach
dem Homer, weil es wenig Gemälde liefert, als die Leidensgeschichte
Christi deswegen ein Poem ist, weil man kaum den Kopf einer Nadel in
sie setzen kann, ohne auf eine Stelle zu treffen, die nicht eine
Menge der größten Artisten beschäftiget hätte.  Die Evangelisten
erzählen das Faktum mit aller möglichen trockenen Einfalt, und der
Artist nutzet die mannigfaltigen Teile desselben, ohne daß sie
ihrerseits den geringsten Funken von malerischem Genie dabei gezeigt
haben.  Es gibt malbare und unmalbare Fakta, und der
Geschichtschreiber kann die malbarsten ebenso unmalerisch erzählen,
als der Dichter die unmalbarsten malerisch darzustellen vermögend ist.

Man läßt sich bloß von der Zweideutigkeit des Wortes verführen, wenn
man die Sache anders nimmt.  Ein poetisches Gemälde ist nicht
notwendig das, was in ein materielles Gemälde zu verwandeln ist;
sondern jeder Zug, jede Verbindung mehrerer Züge, durch die uns der
Dichter seinen Gegenstand so sinnlich macht, daß wir uns dieses
Gegenstandes deutlicher bewußt werden, als seiner Worte, heißt
malerisch, heißt ein Gemälde, weil es uns dem Grade der Illusion
näher bringt, dessen das materielle Gemälde besonders fähig ist, der
sich von dem materiellen Gemälde am ersten und leichtesten
abstrahieren lassen 2).

{2. Was wir poetische Gemälde nennen, nannten die Alten Phantasien,
wie man sich aus dem Longin erinnern wird.  Und was wir die Illusion,
das Täuschende dieser Gemälde heißen, hieß bei ihnen die Enargie.
Daher hatte einer, wie Plutarchus meldet, (Erot. T. II. Edit. Henr.
Steph. p. 1351.) gesagt: die poetischen Phantasien wären, wegen
ihrer Enargie, Träume der Wachenden; Ai poihtikai jantasiai dia thn
enargeian egrhgorotwn enupnia eisin.  Ich wünschte sehr, die neuern
Lehrbücher der Dichtkunst hätten sich dieser Benennung bedienen, und
des Worts Gemälde gänzlich enthalten wollen.  Sie würden uns eine
Menge halbwahrer Regeln erspart haben, deren vornehmster Grund die
Übereinstimmung eines willkürlichen Namens ist.  Poetische Phantasien
würde kein Mensch so leicht den Schranken eines materiellen Gemäldes
unterworfen haben; aber sobald man die Phantasien poetische Gemälde
nannte, so war der Grund zur Verführung gelegt.}



XV.


Nun kann der Dichter zu diesem Grade der Illusion, wie die Erfahrung
zeiget, auch die Vorstellungen anderer, als sichtbarer Gegenstände
erheben.  Folglich müssen notwendig dem Artisten ganze Klassen von
Gemälden abgehen, die der Dichter vor ihm voraus hat.  Drydens Ode
auf den Cäcilienstag ist voller musikalischen Gemälde, die den Pinsel
müßig lassen.  Doch ich will mich in dergleichen Exempel nicht
verlieren, aus welchen man am Ende doch wohl nicht viel mehr lernet,
als daß die Farben keine Töne, und die Ohren keine Augen sind.

Ich will bei den Gemälden bloß sichtbarer Gegenstände stehen bleiben,
die dem Dichter und Maler gemein sind.  Woran liegt es, daß manche
poetische Gemälde von dieser Art, für den Maler unbrauchbar sind, und
hinwiederum manche eigentliche Gemälde unter der Behandlung des
Dichters den größten Teil ihrer Wirkung verlieren?

Exempel mögen mich leiten.  Ich wiederhole es: das Gemälde des
Pandarus im vierten Buche der Ilias ist eines von den ausgeführtesten,
täuschendsten im ganzen Homer.  Von dem Ergreifen des Bogens bis zu
dem Fluge des Pfeiles, ist jeder Augenblick gemalt, und alle diese
Augenblicke sind so nahe und doch so unterschieden angenommen, daß,
wenn man nicht wüßte, wie mit dem Bogen umzugehen wäre, man es aus
diesem Gemälde allein lernen könnte 1).  Pandarus zieht seinen Bogen
hervor, legt die Sehne an, öffnet den Köcher, wählet einen noch
ungebrauchten wohlbefiederten Pfeil, setzt den Pfeil an die Sehne,
zieht die Sehne mitsamt dem Pfeile unten an dem Einschnitte zurück,
die Sehne nahet sich der Brust, die eiserne Spitze des Pfeiles dem
Bogen, der große gerundete Bogen schlägt tönend auseinander, die
Sehne schwirret, ab sprang der Pfeil, und gierig fliegt er nach
seinem Ziele.

{1. Iliad.  D. v. 105.

  Autik' esula toxon euxoon--
  Kai to men eu kateJhke tanussamenoV, poti gaih
  AgklinaV--
  Autar o sula pvma jaretrhV· ek d' elet' ion
  Ablhta, pteroenta, melainvn erm' odunawn,
  Aiya d' epi neurh katekosmei pikron oiston,--
  Elke d' omou glujidaV te labwn kai neura boeia.
  Neurhn men mazv pelasen, toxw de sidhron.--
  Autar epei dh kuklotereV mega toxon eteine,
  Ligxe bioV, neurh de meg' iacen, alto d' oistoV
  OxubelhV, kaJ' omilon epiptesJai meneainwn.}


Übersehen kann Caylus dieses vortreffliche GemÄlde nicht haben.  Was
fand er also darin, warum er es für unfähig achtete, seinen Artisten
zu beschäftigen?  Und was war es, warum ihm die Versammlung der
ratpflegenden zechenden GÖtter zu dieser Absicht tauglicher dünkte?
Hier sowohl als dort sind sichtbare Vorwürfe, und was braucht der
Maler mehr, als sichtbare Vorwürfe, um seine Fläche zu füllen?

Der Knoten muß dieser sein.  Obschon beide Vorwürfe, als sichtbar,
der eigentlichen Malerei gleich fähig sind: so findet sich doch
dieser wesentliche Unterschied unter ihnen, daß jener eine sichtbare
fortschreitende Handlung ist, deren verschiedene Teile sich nach und
nach, in der Folge der Zeit, ereignen, dieser hingegen eine sichtbare
stehende Handlung, deren verschiedene Teile sich nebeneinander im
Raume entwickeln.  Wenn nun aber die Malerei, vermöge ihrer Zeichen
oder der Mittel ihrer Nachahmung, die sie nur im Raume verbinden kann,
der Zeit gänzlich entsagen muß: so können fortschreitende Handlungen,
als fortschreitend, unter ihre Gegenstände nicht gehören, sondern
sie muß sich mit Handlungen nebeneinander, oder mit bloßen Körpern,
die durch ihre Stellungen eine Handlung vermuten lassen, begnügen.
Die Poesie hingegen-



XVI.


Doch ich will versuchen, die Sache aus ihren ersten Gründen
herzuleiten.

Ich schließe so.  Wenn es wahr ist, daß die Malerei zu ihren
Nachahmungen ganz andere Mittel, oder Zeichen gebrauchet, als die
Poesie; jene nämlich Figuren und Farben in dem Raume, diese aber
artikulierte Töne in der Zeit; wenn unstreitig die Zeichen ein
bequemes Verhältnis zu dem Bezeichneten haben müssen: so können
nebeneinander geordnete Zeichen auch nur Gegenstände, die
nebeneinander, oder deren Teile nebeneinander existieren,
aufeinanderfolgende Zeichen aber auch nur Gegenstände ausdrücken, die
aufeinander, oder deren Teile aufeinander folgen.

Gegenstände, die nebeneinander oder deren Teile nebeneinander
existieren, heißen Körper.  Folglich sind Körper mit ihren sichtbaren
Eigenschaften die eigentlichen Gegenstände der Malerei.

Gegenstände, die aufeinander, oder deren Teile aufeinander folgen,
heißen überhaupt Handlungen.  Folglich sind Handlungen der
eigentliche Gegenstand der Poesie.

Doch alle Körper existieren nicht allein in dem Raume, sondern auch
in der Zeit.  Sie dauern fort, und können in jedem Augenblicke ihrer
Dauer anders erscheinen, und in anderer Verbindung stehen.  Jede
dieser augenblicklichen Erscheinungen und Verbindungen ist die
Wirkung einer vorhergehenden, und kann die Ursache einer folgenden,
und sonach gleichsam das Zentrum einer Handlung sein.  Folglich kann
die Malerei auch Handlungen nachahmen, aber nur andeutungsweise durch
Körper.

Auf der andern Seite können Handlungen nicht für sich selbst bestehen,
sondern müssen gewissen Wesen anhängen.  Insofern nun diese Wesen
Körper sind, oder als Körper betrachtet werden, schildert die Poesie
auch Körper, aber nur andeutungsweise durch Handlungen.

Die Malerei kann in ihren koexistierenden Kompositionen nur einen
einzigen Augenblick der Handlung nutzen, und muß daher den
prägnantesten wählen, aus welchem das Vorhergehende und Folgende am
begreiflichsten wird.

Ebenso kann auch die Poesie in ihren fortschreitenden Nachahmungen
nur eine einzige Eigenschaft der Körper nutzen, und muß daher
diejenige wählen, welche das sinnlichste Bild des Körpers von der
Seite erwecket, von welcher sie ihn braucht.

Hieraus fließt die Regel von der Einheit der malerischen Beiwörter,
und der Sparsamkeit in den Schilderungen körperlicher Gegenstände.

Ich würde in diese trockene Schlußkette weniger Vertrauen setzen,
wenn ich sie nicht durch die Praxis des Homers vollkommen bestätiget
fände, oder wenn es nicht vielmehr die Praxis des Homers selbst wäre,
die mich darauf gebracht hätte.  Nur aus diesen Grundsätzen läßt sich
die große Manier des Griechen bestimmen und erklären, sowie der
entgegengesetzten Manier so vieler neuern Dichter ihr Recht erteilen,
die in einem Stücke mit dem Maler wetteifern wollen, in welchem sie
notwendig von ihm überwunden werden müssen.

Ich finde, Homer malet nichts als fortschreitende Handlungen, und
alle Körper, alle einzelne Dinge malet er nur durch ihren Anteil an
diesen Handlungen, gemeiniglich nur mit einem Zuge.  Was Wunder also,
daß der Maler, da wo Homer malet, wenig oder nichts für sich zu tun
siehet, und daß seine Ernte nur da ist, wo die Geschichte eine Menge
schöner Körper, in schönen Stellungen, in einem der Kunst
vorteilhaften Raume zusammenbringt, der Dichter selbst mag diese
Körper, diese Stellungen, diesen Raum so wenig malen, als er will?
Man gehe die ganze Folge der Gemälde, wie sie Caylus aus ihm
vorschlägt, Stück vor Stück durch, und man wird in jedem den Beweis
von dieser Anmerkung finden.

Ich lasse also hier den Grafen, der den Farbenstein des Malers zum
Probiersteine des Dichters machen will, um die Manier des Homers
näher zu erklären.

Für ein Ding, sage ich, hat Homer gemeiniglich nur einen Zug.  Ein
Schiff ist ihm bald das schwarze Schiff, bald das hohle Schiff, bald
das schnelle Schiff, höchstens das wohlberuderte schwarze Schiff.
Weiter läßt er sich in die Malerei des Schiffes nicht ein.  Aber wohl
das Schiffen, das Abfahren, das Anlanden des Schiffes, macht er zu
einem ausführlichen Gemälde, zu einem Gemälde, aus welchem der Maler
fünf, sechs besondere Gemälde machen müßte, wenn er es ganz auf seine
Leinwand bringen wollte.

Zwingen den Homer ja besondere Umstände, unsern Blick auf einen
einzeln körperlichen Gegenstand länger zu heften: so wird
demohngeachtet kein Gemälde daraus, dem der Maler mit dem Pinsel
folgen könnte; sondern er weiß durch unzählige Kunstgriffe diesen
einzeln Gegenstand in eine Folge von Augenblicken zu setzen, in deren
jedem er anders erscheinet, und in deren letztem ihn der Maler
erwarten muß, um uns entstanden zu zeigen, was wir bei dem Dichter
entstehen sehn.  Z. E. Will Homer uns den Wagen der Juno sehen lassen,
so muß ihn Hebe vor unsern Augen Stück vor Stück zusammensetzen.
Wir sehen die Räder, die Achsen, den Sitz, die Deichsel und Riemen
und Stränge, nicht sowohl wie es beisammen ist, als wie es unter den
Händen der Hebe zusammenkommt.  Auf die Räder allein verwendet der
Dichter mehr als einen Zug, und weiset uns die ehernen acht Speichen,
die goldenen Felgen, die Schienen von Erzt, die silberne Nabe, alles
insbesondere.  Man sollte sagen: da der Räder mehr als eines war, so
mußte in der Beschreibung ebensoviel Zeit mehr auf sie gehen, als
ihre besondere Anlegung deren in der Natur selbst mehr erforderte 1).

{1. Iliad.  E. v. 722-731.}

  Hbh d' amj' oceessi JovV bale kampula kukla
  Calkea, oktaknhma, sidhrew axoni amjiV·
  Tvn h toi cruseh ituV ajJitoV, autar uperJen
  Calke episswtra, prosarhrota, Jauma idesJai·
  Plhmnai d' argurou eisi peridromoi amjoterwJen·
  DijroV de cruseoisi kai argureoisin imasin
  Entetatai· doiai de peridromoi antugeV eisin·
  Tou d' ex argureoV rumoV pelen· autar ep' akrw
  Dhse cruseion kalon zugon, en de lepadna
  Kal' ebale, cruseia·--


Will uns Homer zeigen, wie Agamemnon bekleidet gewesen, so muß sich
der KÖnig vor unsern Augen seine völlige Kleidung StÜck vor Stück
umtun; das weiche Unterkleid, den großen Mantel, die schönen
Halbstiefeln, den Degen; und so ist er fertig, und ergreift das
Zepter.  Wir sehen die Kleider, indem der Dichter die Handlung des
Bekleidens malet; ein anderer würde die Kleider bis auf die geringste
Franze gemalet haben, und von der Handlung hÄtten wir nichts zu sehen
bekommen 2).

{2. Iliad.  B. v. 43-47.}

  --malakon d' endune citvna,
  Kalon, nhgateon, peri d' au mega balleto jaroV·
  Possi d' upai liparoisin edhsato kala pedila·
  Amji d' ar' wmoisin baleto xijoV argurohlon,
  Eileto de skhptron patrwion, ajJiton aiei.


Und wenn wir von diesem Zepter, welches hier bloß das vÄterliche,
unvergängliche Zepter heißt, so wie ein ähnliches ihm an einem andern
Orte bloß crouseioiV hloisi peparmenon, das mit goldenen Stiften
beschlagene Zepter ist, wenn wir, sage ich, von diesem wichtigen
Zepter ein vollständigeres, genaueres Bild haben sollen: was tut
sodann Homer?  Malt er uns, außer den goldenen Nägeln, nun auch das
Holz, den geschnitzten Knopf?  Ja, wenn die Beschreibung in eine
Heraldik sollte, damit einmal in den folgenden Zeiten ein anderes
genau darnach gemacht werden kÖnne.  Und doch bin ich gewiß, daß
mancher neuere Dichter eine solche Wappenkönigsbeschreibung daraus
wÜrde gemacht haben, in der treuherzigen Meinung, daß er wirklich
selber gemalt habe, weil der Maler ihm nachmalen kann.  Was bekümmert
sich aber Homer, wie weit er den Maler hinter sich läßt?  Statt einer
Abbildung gibt er uns die Geschichte des Zepters: erst ist es unter
der Arbeit des Vulkans; nun glänzt es in den Händen des Jupiters; nun
bemerkt es die Würde Merkurs; nun ist es der Kommandostab des
kriegerischen Pelops; nun der Hirtenstab des friedlichen Atreus usw.

 --Skhptron ecwn· to men HjaistoV kame teucwn·
  HjaistoV men dvke Dii Kroniwni anakti·
  Autar ara ZeuV dvke diaktorw Argeijonth·
  ErmeiaV de anax dvken Pelopi plhxippw·
  Autar o aute Peloy dvk' Atrei, poimeni lavn·
  AtreuV de Jnhskwn elipe poluarni Questh·
  Autar o aute Quest' Agamemnoni leipe jorhnai,
  Pollhsi nhsoisi kai Argei panti anassein 3)

{3. Iliad. B. v. 101-108.}


So kenne ich endlich dieses Zepter besser, als mir es der Maler vor
Augen legen, oder ein zweiter Vulkan in die HÄnde liefern kÖnnte.--Es
wÜrde mich nicht befremden, wenn ich fände, daß einer von den alten
Auslegern des Homers diese Stelle als die vollkommenste Allegorie von
dem Ursprunge, dem Fortgange, der Befestigung und endlichen
Beerbfolgung der königlichen Gewalt unter den Menschen bewundert
hätte.  Ich würde zwar lächeln, wenn ich läse, daß Vulkan, welcher
das Zepter gearbeitet, als das Feuer, als das, was dem Menschen zu
seiner Erhaltung das Unentbehrlichste ist, die Abstellung der
Bedürfnisse überhaupt anzeige, welche die ersten Menschen, sich einem
einzigen zu unterwerfen, bewogen; daß der erste König ein Sohn der
Zeit, (ZeuV Kroniwn) ein ehrwürdiger Alte gewesen sei, welcher seine
Macht mit einem beredten klugen Manne, mit einem Merkur, (Diaktorw
Argeijonth) teilen, oder gänzlich auf ihn übertragen wollen; daß der
kluge Redner zur Zeit, als der junge Staat von auswärtigen Feinden
bedrohet worden, seine oberste Gewalt dem tapfersten Krieger (Pelopi
plhxippw) überlassen habe; daß der tapfere Krieger, nachdem er die
Feinde gedämpfet und das Reich gesichert, es seinem Sohne in die
Hände spielen können, welcher als ein friedliebender Regent, als ein
wohltätiger Hirte seiner Völker (poimhn lavn), sie mit Wohlleben und
Überfluß bekannt gemacht habe, wodurch nach seinem Tode dem reichsten
seiner Anverwandten (poluarni Questh) der Weg gebahnet worden, das
was bisher das Vertrauen erteilet, und das Verdienst mehr für eine
Bürde als Würde gehalten hatte, durch Geschenke und Bestechungen an
sich zu bringen, und es hernach als ein gleichsam erkauftes Gut
seiner Familie auf immer zu versichern.  Ich würde lächeln, ich würde
aber demohngeachtet in meiner Achtung für den Dichter bestärket
werden, dem man so vieles leihen kann.  Doch dieses liegt außer
meinem Wege, und ich betrachte itzt die Geschichte des Zepters bloß
als einen Kunstgriff, uns bei einem einzeln Dinge verweilen zu machen,
ohne sich in die frostige Beschreibung seiner Teile einzulassen.
Auch wenn Achilles bei seinem Zepter schwöret, die Geringschätzung,
mit welcher ihm Agamemnon begegnet, zu rächen, gibt uns Homer die
Geschichte dieses Zepters.  Wir sehen ihn auf den Bergen grünen, das
Eisen trennet ihn von dem Stamme, entblättert und entrindet ihn, und
macht ihn bequem, den Richtern des Volkes zum Zeichen ihrer
göttlichen Würde zu dienen 4).

{4. Iliad.  A. v. 234-239.}

  Nai ma tode skhptron, to men oupote julla kai ozouV
  Fusei, epei dh prvta tomhn en oressi leloipen,
  Oud' anaJhlhsei· peri gar ra e calkoV eleye,
  Fulla te kai jloion· nun aute min uieV Acaivn
  En palamhV joreousi dikaspoloi, oi te JemistaV
  ProV DioV eiruatai·--


Dem Homer war nicht sowohl daran gelegen, zwei StÄbe von
verschiedener Materie und Figur zu schildern, als uns von der
Verschiedenheit der Macht, deren Zeichen diese Stäbe waren, ein
sinnliches Bild zu machen.  Jener, ein Werk des Vulkans; dieser, von
einer unbekannten Hand auf den Bergen geschnitten: jener der alte
Besitz eines edeln Hauses; dieser bestimmt, die erste die beste Faust
zu fÜllen: jener, von einem Monarchen über viele Inseln und über ganz
Argos erstrecket; dieser, von einem aus dem Mittel der Griechen
geführet, dem man nebst andern die Bewahrung der Gesetze anvertrauet
hatte.  Dieses war wirklich der Abstand, in welchem sich Agamemnon
und Achill voneinander befanden; ein Abstand, den Achill selbst, bei
allem seinem blinden Zorne, einzugestehen, nicht umhin konnte.

Doch nicht bloß da, wo Homer mit seinen Beschreibungen dergleichen
weitere Absichten verbindet, sondern auch da, wo es ihm um das bloße
Bild zu tun ist, wird er dieses Bild in eine Art von Geschichte des
Gegenstandes verstreuen, um die Teile desselben, die wir in der Natur
nebeneinander sehen, in seinem Gemälde ebenso natürlich aufeinander
folgen, und mit dem Flusse der Rede gleichsam Schritt halten zu
lassen.  Z. E. Er will uns den Bogen des Pandarus malen; einen Bogen
von Horn, von der und der Länge, wohl polieret, und an beiden Spitzen
mit Goldblech beschlagen.  Was tut er?  Zählt er uns alle diese
Eigenschaften so trocken eine nach der andern vor?  Mit nichten; das
würde einen solchen Bogen angeben, vorschreiben, aber nicht malen
heißen.  Er fängt mit der Jagd des Steinbockes an, aus dessen HÖrnern
der Bogen gemacht worden; Pandarus hatte ihm in den Felsen aufgepaßt,
und ihn erlegt; die Hörner waren von außerordentlicher Größe,
deswegen bestimmte er sie zu einem Bogen; sie kommen in die Arbeit,
der Künstler verbindet sie, polieret sie, beschlägt sie.  Und so, wie
gesagt, sehen wir bei dem Dichter entstehen, was wir bei dem Maler
nicht anders als entstanden sehen können 5).

{5. Iliad.  D. v. 105-111.}

  --toxon, euxoon, ixalou aigoV
  Agriou, on ra pot' autoV, upo sternoio tuchsaV,
  PetrhV ekbainonta dedegmenoV en prodokhsin,
  Beblhkei proV sthJoV· o d' uptioV empese petrh·
  Tou kera ek kejalhV ekkaidekadwra pejukai.
  Kai ta men askhsaV keraoxooV hrare tektwn,
  Pan d' eu leihnaV, krusehn epeJhke korwnhn.


Ich wÜrde nicht fertig werden, wenn ich alle Exempel dieser Art
ausschreiben wollte.  Sie werden jedem, der seinen Homer innehat, in
Menge beifallen.



XVII.


Aber, wird man einwenden, diese Zeichen der Poesie sind nicht bloß
aufeinanderfolgend, sie sind auch willkürlich; und als willkürliche
Zeichen sind sie allerdings fÄhig, KÖrper, so wie sie im Raume
existieren, auszudrücken.  In dem Homer selbst fänden sich hiervon
Exempel, an dessen Schild des Achilles man sich nur erinnern dürfe,
um das entscheidendste Beispiel zu haben, wie weitläuftig und doch
poetisch man ein einzelnes Ding nach seinen Teilen nebeneinander
schildern könne.

Ich will auf diesen doppelten Einwurf antworten.  Ich nenne ihn
doppelt, weil ein richtiger Schluß auch ohne Exempel gelten muß, und
Gegenteils das Exempel des Homers bei mir von Wichtigkeit ist, auch
wenn ich es noch durch keinen Schluß zu rechtfertigen weiß.

Es ist wahr; da die Zeichen der Rede willkürlich sind, so ist es gar
wohl möglich, daß man durch sie die Teile eines Körpers ebensowohl
aufeinanderfolgen lassen kann, als sie in der Natur nebeneinander
befindlich sind.  Allein dieses ist eine Eigenschaft der Rede und
ihrer Zeichen überhaupt, nicht aber insoferne sie der Absicht der
Poesie am bequemsten sind.  Der Poet will nicht bloß verständlich
werden, seine Vorstellungen sollen nicht bloß klar und deutlich sein;
hiermit begnügt sich der Prosaist.  Sondern er will die Ideen, die er
in uns erwecket, so lebhaft machen, daß wir in der Geschwindigkeit
die wahren sinnlichen Eindrücke ihrer Gegenstände zu empfinden
glauben, und in diesem Augenblicke der Täuschung uns der Mittel, die
er dazu anwendet, seiner Worte, bewußt zu sein aufhören.  Hierauf
lief oben die Erklärung des poetischen Gemäldes hinaus.  Aber der
Dichter soll immer malen; und nun wollen wir sehen, inwieferne Körper
nach ihren Teilen nebeneinander sich zu dieser Malerei schicken.

Wie gelangen wir zu der deutlichen Vorstellung eines Dinges im Raume?
Erst betrachten wir die Teile desselben einzeln, hierauf die
Verbindung dieser Teile, und endlich das Ganze.  Unsere Sinne
verrichten diese verschiedene Operationen mit einer so erstaunlichen
Schnelligkeit, daß sie uns nur eine einzige zu sein bedünken, und
diese Schnelligkeit ist unumgänglich notwendig, wann wir einen
Begriff von dem Ganzen, welcher nichts mehr als das Resultat von den
Begriffen der Teile und ihrer Verbindung ist, bekommen sollen.
Gesetzt nun also auch, der Dichter führe uns in der schönsten Ordnung
von einem Teile des Gegenstandes zu dem andern; gesetzt, er wisse uns
die Verbindung dieser Teile auch noch so klar zu machen: wie viel
Zeit gebraucht er dazu?  Was das Auge mit einmal übersiehet, zählt er
uns merklich langsam nach und nach zu, und oft geschieht es, daß wir
bei dem letzten Zuge den ersten schon wiederum vergessen haben.
Jedennoch sollen wir uns aus diesen Zügen ein Ganzes bilden; dem Auge
bleiben die betrachteten Teile beständig gegenwärtig; es kann sie
abermals und abermals überlaufen: für das Ohr hingegen sind die
vernommenen Teile verloren, wann sie nicht in dem Gedächtnisse
zurückbleiben.  Und bleiben sie schon da zurück: welche Mühe, welche
Anstrengung kostet es, ihre Eindrücke alle in eben der Ordnung so
lebhaft zu erneuern, sie nur mit einer mäßigen Geschwindigkeit auf
einmal zu überdecken, um zu einem etwanigen Begriffe des Ganzen zu
gelangen!

Man versuche es an einem Beispiele, welches ein Meisterstück in
seiner Art heißen kann 1).

{1. S. des Herrn v.  Hallers Alpen.}

  Dort ragt das hohe Haupt vom edeln Enziane
  Weit übern niedern Chor der Pöbelkräuter hin,
  Ein ganzes Blumenvolk dient unter seiner Fahne,
  Sein blauer Bruder selbst bückt sich und ehret ihn.
  Der Blumen helles Gold, in Strahlen umgebogen,
  Türmt sich am Stengel auf und krönt sein grau Gewand,
  Der Blätter glattes Weiß, mit tiefem Grün durchzogen,
  Strahlt von dem bunten Blitz von feuchtem Diamant.
  Gerechtestes Gesetz! daß Kraft sich Zier vermähle,
  In einem schönen Leib wohnt eine schönre Seele.

  Hier kriecht ein niedrig Kraut, gleich einem grauen Nebel,
  Dem die Natur sein Blatt im Kreuze hingelegt;
  Die holde Blume zeigt die zwei vergöldten Schnäbel,
  Die ein von Amethyst gebildter Vogel trägt.
  Dort wirft ein glänzend Blatt, in Finger ausgekerbet,
  Auf einen hellen Bach den grünen Widerschein;
  Der Blumen zarten Schnee, den matter Purpur färbet,
  Schließt ein gestreifter Stern in weiße Strahlen ein.
  Smaragd und Rosen blühn auch auf zertretner Heide,
  Und Felsen decken sich mit einem Purpurkleide.



Es sind KrÄuter und Blumen, welche der gelehrte Dichter mit großer
Kunst und nach der Natur malet.  Malt, aber ohne alle Täuschung malet.
Ich will nicht sagen, daß wer diese Kräuter und Blumen nie gesehen,
sich auch aus seinem Gemälde so gut als gar keine Vorstellung davon
machen kÖnne.  Es mag sein, daß alle poetische Gemälde eine
vorläufige Bekanntschaft mit ihren Gegenständen erfordern.  Ich will
auch nicht leugnen, daß demjenigen, dem eine solche Bekanntschaft
hier zustatten kömmt, der Dichter nicht von einigen Teilen eine
lebhaftere Idee erwecken könnte.  Ich frage ihn nur, wie steht es um
den Begriff des Ganzen?  Wenn auch dieser lebhafter sein soll, so
mÜssen keine einzelne Teile darin vorstechen, sondern das höhere
Licht muß auf alle gleich verteilet scheinen; unsere Einbildungskraft
muß alle gleich schnell überlaufen können, um sich das aus ihnen mit
eins zusammenzusetzen, was in der Natur mit eins gesehen wird.  Ist
dieses hier der Fall?  Und ist er es nicht, wie hat man sagen können,
"daß die ähnlichste Zeichnung eines Malers gegen diese poetische
Schilderung ganz matt und düster sein würde" 2)?  Sie bleibet
unendlich unter dem, was Linien und Farben auf der Fläche ausdrücken
können, und der Kunstrichter, der ihr dieses übertriebene Lob
erteilet, muß sie aus einem ganz falschen Gesichtspunkte betrachtet
haben; er muß mehr auf die fremden Zieraten, die der Dichter darein
verwebet hat, auf die Erhöhung über das vegetative Leben, auf die
Entwickelung der innern Vollkommenheiten, welchen die äußere
Schönheit nur zur Schale dienet, als auf diese Schönheit selbst, und
auf den Grad der Lebhaftigkeit und Ähnlichkeit des Bildes, welches
uns der Maler, und welches uns der Dichter davon gewähren kann,
gesehen haben.  Gleichwohl kömmt es hier lediglich nur auf das
letztere an, und wer da sagt, daß die bloßen Zeilen:

{2. Breitingers Kritische Dichtkunst T. II. S. 807.}

  Der Blumen helles Gold, in Strahlen umgebogen,
  Türmt sich am Stengel auf und krönt sein grau Gewand,
  Der Blätter glattes Weiß, mit tiefem Grün durchzogen,
  Strahlt von dem bunten Blitz von feuchtem Diamant--


daß diese Zeilen, in Ansehung ihres Eindrucks, mit der Nachahmung
eines Huysum wetteifern kÖnnen, muß seine Empfindung nie befragt
haben, oder sie vorsetzlich verleugnen wollen.  Sie mögen sich, wenn
man die Blume selbst in der Hand hat, sehr schön dagegen rezitieren
lassen; nur vor sich allein sagen sie wenig oder nichts.  Ich höre in
jedem Worte den arbeitenden Dichter, aber das Ding selbst bin ich
weit entfernet zu sehen.

Nochmals also: ich spreche nicht der Rede Überhaupt das Vermögen ab,
ein körperliches Ganze nach seinen Teilen zu schildern; sie kann es,
weil ihre Zeichen, ob sie schon aufeinander folgen, dennoch
willkürliche Zeichen sind: sondern ich spreche es der Rede als dem
Mittel der Poesie ab, weil dergleichen wörtlichen Schilderungen der
Körper das TÄuschende gebracht, worauf die Poesie vornehmlich gehet;
und dieses Täuschende, sage ich, muß ihnen darum gebrechen, weil das
Koexistierende des Körpers mit dem Konsekutiven der Rede dabei in
Kollision kömmt, und indem jenes in dieses aufgelöset wird, uns die
Zergliederung des Ganzen in seine Teile zwar erleichtert, aber die
endliche Wiederzusammensetzung dieser Teile in das Ganze ungemein
schwer, und nicht selten unmöglich gemacht wird.

Überall, wo es daher auf das Täuschende nicht ankömmt, wo man nur mit
dem Verstande seiner Leser zu tun hat, und nur auf deutliche und
soviel möglich vollständige Begriffe gehet: können diese aus der
Poesie ausgeschlossene Schilderungen der Körper gar wohl Platz haben,
und nicht allein der Prosaist, sondern auch der dogmatische Dichter
(denn da wo er dogmatisieret, ist er kein Dichter), können sich ihrer
mit vielem Nutzen bedienen.  So schildert z.  E. Virgil in seinem
Gedichte vom Landbaue eine zur Zucht tüchtige Kuh:

  --Optima torvae
  Forma bovis, cui turpe caput, cui plurima cervix,
  Et crurum tenus a mento palearia pendent.
  Tum longo nullus lateri modus: omnia magna:
  Pes etiam, et camuris hirtae sub cornibus aures.
  Nec mihi displiceat maculis insignis et albo,
  Aut juga detractans interdumque aspera cornu,
  Et faciem tauro propior; quaeque ardua tota,
  Et gradiens ima verrit vestigia cauda.


Oder ein schönes Füllen:

  --Illi ardua cervix
  Argutumque caput, brevis alvus, obesaque terga
  Luxuriatque toris animosum pectus etc. 3)

{3. Georg. lib. III. v. 51 et 79.}


Denn wer sieht nicht, daß dem Dichter hier mehr an der
Auseinandersetzung der Teile, als an dem Ganzen gelegen gewesen?  Er
will uns die Kennzeichen eines schÖnen FÜllens, einer tüchtigen Kuh
zuzÄhlen, um uns in den Stand zu setzen, nachdem wir deren mehrere
oder wenigere antreffen, von der Güte der einen oder des andern
urteilen zu können; ob sich aber alle diese Kennzeichen in ein
lebhaftes Bild leicht zusammenfassen lassen, oder nicht, das konnte
ihm sehr gleichgültig sein.

Außer diesem Gebrauche sind die ausführlichen Gemälde körperlicher
Gegenstände, ohne den oben erwähnten Homerischen Kunstgriff, das
Koexistierende derselben in ein wirkliches Sukzessives zu verwandeln,
jederzeit von den feinsten Richtern für ein frostiges Spielwerk
erkannt worden, zu welchem wenig oder gar kein Genie gehöret.  Wenn
der poetische Stümper, sagt Horaz, nicht weiter kann, so fängt er an,
einen Hain, einen Altar, einen durch anmutige Fluren sich
schlängelnden Bach, einen rauschenden Strom, einen Regenbogen zu
malen:

  --Lucus et ara Dianae,
  Et properantis aquae per amoenos ambitus agros,
  Aut flumen Rhenum, aut pluvius describitur arcus 4)

{4. De A. P. v. 16.}


Der mÄnnliche Pope sahe auf die malerischen Versuche seiner
poetischen Kindheit mit großer Geringschätzung zurÜck.  Er verlangte
ausdrücklich, daß wer den Namen eines Dichters nicht unwürdig führen
wolle, der Schilderungssucht so früh wie mÖglich entsagen müsse, und
erklärte ein bloß malendes Gedichte für ein Gastgebot auf lauter
Brühen 5).  Von dem Herrn von Kleist kann ich versichern, daß er sich
auf seinen Frühling das wenigste einbildete.  Hätte er länger gelebt,
so würde er ihm eine ganz andere Gestalt gegeben haben.  Er dachte
darauf, einen Plan hinein zu legen, und sann auf Mittel, wie er die
Menge von Bildern, die er aus dem unendlichen Raume der verjüngten
Schöpfung, auf Geratewohl, bald hier bald da, gerissen zu haben
schien, in einer natürlichen Ordnung vor seinen Augen entstehen und
aufeinanderfolgen lassen wolle.  Er würde zugleich das getan haben,
was Marmontel, ohne Zweifel mit auf Veranlassung seiner Eklogen,
mehrern deutschen Dichtern geraten hat; er würde aus einer mit
Empfindungen nur sparsam durchwebten Reihe von Bildern, eine mit
Bildern nur sparsam durchflochtene Folge von Empfindungen gemacht
haben 6).

{5. Prologue to the satires. v. 340.

  That not in Fancy's maze he wander'd long,
  But stoop'd to truth, and moraliz'd his song.


Ibid. v. 148.

  --who could take offence,
  While pure description held the place of sense?


Die Anmerkung, welche Warburton Über die letzte Stelle macht, kann
für eine authentische ErklÄrung des Dichters selbst gelten.  He uses
PURE equivocally, to signify either chaste or empty; and has given in
this line what he esteemed the true character of descriptive poetry,
as it is called.  A composition, in his opinion, as absurd as a feast
made up of sauces.  The use of a pictoresque imagination is to
brighten and adorn good sense; so that to employ it only in
description, is like children's delighting in a prism for the sake of
its gaudy colours; which when frugally managed, and artifully
disposed, rnight be made to represent and illustrate the noblest
objects in nature.  Sowohl der Dichter als Kommentator scheinen zwar
die Sache mehr auf der moralischen als kunstmäßigen Seite betrachtet
zu haben.  Doch desto besser, daß sie von der einen ebenso nichtig
als von der andern erscheinet.}

{6. Poétique française.  T. II. p. 501. J'écrivais ces réflexions
avant que les essais des Allemands dans ce genre (l'eglogue) fussent
connus parmi nous.  Ils ont exécuté ce que j'avais conçu; et s'ils
parviennent à donner plus au moral et moins au détail des peintures
physiques, ils excelleront dans ce genre, plus riche, plus vaste,
plus fécond, et infiniment plus naturel et plus moral que celui de la
galanterie champêtre.}



XVIII.


Und dennoch sollte selbst Homer in diese frostigen Ausmalungen
kÖrperlicher Gegenstände verfallen sein?-Ich will hoffen, daß es nur
sehr wenige Stellen sind, auf die man sich desfalls berufen kann; und
ich bin versichert, daß auch diese wenige Stellen von der Art sind,
daß sie die Regel, von der sie eine Ausnahme zu sein scheinen,
vielmehr bestätigen.

Es bleibt dabei: die Zeitfolge ist das Gebiete des Dichters, so wie
der Raum das Gebiete des Malers.

Zwei notwendig entfernte Zeitpunkte in ein und ebendasselbe Gemälde
bringen, so wie Fr.  Mazzuoli den Raub der sabinischen Jungfrauen,
und derselben Aussöhnung ihrer Ehemänner mit ihren Anverwandten; oder
wie Tizian die ganze Geschichte des verlornen Sohnes, sein
liederliches Leben und sein Elend und seine Reue: heißt ein Eingriff
des Malers in das Gebiete des Dichters, den der gute Geschmack nie
billigen wird.

Mehrere Teile oder Dinge, die ich notwendig in der Natur auf einmal
übersehen muß, wenn sie ein Ganzes hervorbringen sollen, dem Leser
nach und nach zuzählen, um ihm dadurch ein Bild von dem Ganzen machen
zu wollen: heißt ein Eingriff des Dichters in das Gebiete des Malers,
wobei der Dichter viel Imagination ohne allen Nutzen verschwendet.

Doch, so wie zwei billige freundschaftliche Nachbarn zwar nicht
verstatten, daß sich einer in des andern innerstem Reiche
ungeziemende Freiheiten herausnehme, wohl aber auf den äußersten
Grenzen eine wechselseitige Nachsicht herrschen lassen, welche die
kleinen Eingriffe, die der eine in des andern Gerechtsame in der
Geschwindigkeit sich durch seine Umstände zu tun genötiget siehet,
friedlich von beiden Teilen kompensieret: so auch die Malerei und
Poesie.

Ich will in dieser Absicht nicht anführen, daß in großen historischen
Gemälden der einzige Augenblick fast immer um etwas erweitert ist,
und daß sich vielleicht kein einziges an Figuren sehr reiches Stück
findet, in welchem jede Figur vollkommen die Bewegung und Stellung
hat, die sie in dem Augenblicke der Haupthandlung haben sollte; die
eine hat eine etwas frühere, die andere eine etwas spätere.  Es ist
dieses eine Freiheit, die der Meister durch gewisse Feinheiten in der
Anordnung rechtfertigen muß, durch die Verwendung oder Entfernung
seiner Personen, die ihnen an dem, was vorgehet, einen mehr oder
weniger augenblicklichen Anteil zu nehmen erlaubet.  Ich will mich
bloß einer Anmerkung bedienen, welche Herr Mengs über die Draperie
des Raffaels macht 1).  "Alle Falten", sagt er, "haben bei ihm ihre
Ursachen, es sei durch ihr eigen Gewichte, oder durch die Ziehung der
Glieder.  Manchmal siehet man in ihnen, wie sie vorher gewesen;
Raffael hat auch sogar in diesem Bedeutung gesucht.  Man siehet an
den Falten, ob ein Bein oder Arm vor dieser Regung vor oder hinten
gestanden, ob das Glied von Krümme zur Ausstreckung gegangen, oder
gehet, oder ob es ausgestreckt gewesen, und sich krümmet." Es ist
unstreitig, daß der Künstler in diesem Falle zwei verschiedene
Augenblicke in einen einzigen zusammenbringt.  Denn da dem Fuße,
welcher hinten gestanden und sich vorbewegt, der Teil des Gewands,
welcher auf ihm liegt, unmittelbar folget, das Gewand wäre denn von
sehr steifem Zeuge, der aber eben darum zur Malerei ganz unbequem ist:
so gibt es keinen Augenblick, in welchem das Gewand im geringsten
eine andere Falte machte, als es der itzige Stand des Gliedes
erfodert; sondern läßt man es eine andere Falte machen, so ist es der
vorige Augenblick des Gewandes und der itzige des Gliedes.
Demohngeachtet, wer wird es mit dem Artisten so genau nehmen, der
seinen Vorteil dabei findet, uns diese beiden Augenblicke zugleich zu
zeigen?  Wer wird ihn nicht vielmehr rühmen, daß er den Verstand und
das Herz gehabt hat, einen solchen geringen Fehler zu begehen, um
eine größere Vollkommenheit des Ausdruckes zu erreichen?

{1. Gedanken über die Schönheit und über den Geschmack in der Malerei.
S. 69.}

Gleiche Nachsicht verdienet der Dichter.  Seine fortschreitende
Nachahmung erlaubet ihm eigentlich, auf einmal nur eine einzige Seite,
eine einzige Eigenschaft seiner körperlichen Gegenstände zu berühren.
Aber wenn die glückliche Einrichtung seiner Sprache ihm dieses mit
einem einzigen Worte zu tun verstattet; warum sollte er nicht auch
dann und wann ein zweites solches Wort hinzufügen dürfen?  Warum
nicht auch, wann es die Mühe verlohnet, ein drittes?  Oder wohl gar
ein viertes?  Ich habe gesagt, dem Homer sei zum Exempel ein Schiff,
entweder nur das schwarze Schiff, oder das hohle Schiff, oder das
schnelle Schiff, höchstens das wohlberuderte schwarze Schiff.  Zu
verstehen von seiner Manier überhaupt.  Hier und da findet sich eine
Stelle, wo er das dritte malende Epitheton hinzusetzet: Kampula kukla,
calkea, oktaknhma 2), "runde, eherne, achtspeichigte Räder".  Auch
das vierte: aspida pantose ishn, kalhn, calkeihn, exhlaton 3) "ein
überall glattes, schönes, ehernes, getriebenes Schild".  Wer wird ihn
darum tadeln?  Wer wird ihm diese kleine Üppigkeit nicht vielmehr
Dank wissen, wenn er empfindet, welche gute Wirkung sie an wenigen
schicklichen Stellen haben kann?

{2. Iliad.  E. v. 722.}

{3. Iliad.  M. v. 294.}

Des Dichters sowohl als des Malers eigentliche Rechtfertigung
hierüber will ich aber nicht aus dem vorangeschickten Gleichnisse von
zwei freundschaftlichen Nachbarn hergeleitet wissen.  Ein bloßes
Gleichnis beweiset und rechtfertiget nichts.  Sondern dieses muß sie
rechtfertigen: so wie dort bei dem Maler die zwei verschiednen
Augenblicke so nahe und unmittelbar aneinander grenzen, daß sie ohne
Anstoß für einen einzigen gelten können; so folgen auch hier bei dem
Dichter die mehrern Züge für die verschiednen Teile und Eigenschaften
im Raume in einer solchen gedrängten Kürze so schnell aufeinander,
daß wir sie alle auf einmal zu hören glauben.

Und hierin, sage ich, kömmt dem Homer seine vortreffliche Sprache
ungemein zustatten.  Sie läßt ihm nicht allein alle mögliche Freiheit
in Häufung und Zusammensetzung der Beiwörter, sondern sie hat auch
für diese gehäufte Beiwörter eine so glückliche Ordnung, daß der
nachteiligen Suspension ihrer Beziehung dadurch abgeholfen wird.  An
einer oder mehreren dieser Bequemlichkeiten fehlt es den neuern
Sprachen durchgängig.  Diejenigen, als die französische, welche z.  E.
jenes Kampula kukla, calkea, oktaknhma umschreiben müssen: "die
runden Räder, welche von Erzt waren und acht Speichen hatten",
drücken den Sinn aus, aber vernichten das Gemälde.  Gleichwohl ist
der Sinn hier nichts, und das Gemälde alles; und jener ohne dieses
macht den lebhaftesten Dichter zum langweiligsten Schwätzer.  Ein
Schicksal, das den guten Homer unter der Feder der gewissenhaften
Frau Dacier oft betroffen hat.  Unsere deutsche Sprache hingegen kann
zwar die Homerischen Beiwörter meistens in ebenso kurze
gleichgeltende Beiwörter verwandeln, aber die vorteilhafte Ordnung
derselben kann sie der griechischen nicht nachmachen.  Wir sagen zwar
"die runden, ehernen, achtspeichigten"--aber Räder' schleppt hinten
nach.  Wer empfindet nicht, daß drei verschiedne Prädikate, ehe wir
das Subjekt erfahren, nur ein sehr schwankes verwirrtes Bild machen
können?  Der Grieche verbindet das Subjekt gleich mit dem ersten
Prädikate, und läßt die andern nachfolgen; er sagt: "runde Räder,
eherne, achtspeichigte".  So wissen wir mit eins wovon er redet, und
werden, der natürlichen Ordnung des Denkens gemäß, erst mit dem Dinge,
und dann mit seinen Zufälligkeiten bekannt.  Diesen Vorteil hat
unsere Sprache nicht.  Oder soll ich sagen, sie hat ihn, und kann ihn
nur selten ohne Zweideutigkeit nutzen?  Beides ist eins.  Denn wenn
wir Beiwörter hintennach setzen wollen, so müssen sie im statu
absoluto stehen; wir müssen sagen: runde Räder, ehern und
achtspeichigt.  Allein in diesem statu kommen unsere Adjektiva völlig
mit den Adverbiis überein, und müssen, wenn man sie als solche zu dem
nächsten Zeitworte, das von dem Dinge prädizieret wird, ziehet, nicht
selten einen ganz falschen, allezeit aber einen sehr schielenden Sinn
verursachen.

Doch ich halte mich bei Kleinigkeiten auf, und scheine das Schild
vergessen zu wollen, das Schild des Achilles; dieses berühmte Gemälde,
in dessen Rücksicht vornehmlich Homer vor alters als ein Lehrer der
Malerei 4) betrachtet wurde.  Ein Schild, wird man sagen, ist doch
wohl ein einzelner körperlicher Gegenstand, dessen Beschreibung nach
seinen Teilen nebeneinander dem Dichter nicht vergönnet sein soll?
Und dieses Schild hat Homer, in mehr als hundert prächtigen Versen,
nach seiner Materie, nach seiner Form, nach allen Figuren, welche die
ungeheure Fläche desselben füllten, so umständlich, so genau
beschrieben, daß es neuern Künstlern nicht schwer gefallen, eine in
allen Stücken übereinstimmende Zeichnung darnach zu machen.

{4. Dionysius Halicarnass. in vita Homeri apud Th. Gale in Opusc.
Mythol. p. 401.}

Ich antworte auf diesen besondern Einwurf,--daß ich bereits darauf
geantwortet habe.  Homer malet nämlich das Schild nicht als ein
fertiges vollendetes, sondern als ein werdendes Schild.  Er hat also
auch hier sich des gepriesenen Kunstgriffes bedienet, das
Koexistierende seines Vorwurfs in ein Konsekutives zu verwandeln, und
dadurch aus der langweiligen Malerei eines Körpers das lebendige
Gemälde einer Handlung zu machen.  Wir sehen nicht das Schild,
sondern den göttlichen Meister, wie er das Schild verfertiget.  Er
tritt mit Hammer und Zange vor seinen Amboß, und nachdem er die
Platten aus dem Gröbsten geschmiedet, schwellen die Bilder, die er zu
dessen Auszierung bestimmt, vor unsern Augen, eines nach dem andern,
unter seinen feinern Schlägen aus dem Erzte hervor.  Eher verlieren
wir ihn nicht wieder aus dem Gesichte, bis alles fertig ist.  Nun ist
es fertig, und wir erstaunen über das Werk, aber mit dem gläubigen
Erstaunen eines Augenzeugens, der es machen sehen.

Dieses läßt sich von dem Schilde des Aeneas beim Virgil nicht sagen.
Der römische Dichter empfand entweder die Feinheit seines Musters
hier nicht, oder die Dinge, die er auf sein Schild bringen wollte,
schienen ihm von der Art zu sein, daß sie die Ausführung vor unsern
Augen nicht wohl verstatteten.  Es waren Prophezeiungen, von welchen
es freilich unschicklich gewesen wäre, wenn sie der Gott in unserer
Gegenwart ebenso deutlich geäußert hätte, als sie der Dichter hernach
ausleget.  Prophezeiungen, als Prophezeiungen, verlangen eine
dunkelere Sprache, in welche die eigentlichen Namen der Personen aus
der Zukunft, die sie betreffen, nicht passen.  Gleichwohl lag an
diesen wahrhaften Namen, allem Ansehen nach, dem Dichter und Hofmanne
hier das meiste 5).  Wenn ihn aber dieses entschuldiget, so hebt es
darum nicht auch die üble Wirkung auf, welche seine Abweichung von
dem Homerischen Wege hat.  Leser von einem feinern Geschmacke werden
mir recht geben.  Die Anstalten, welche Vulkan zu seiner Arbeit macht,
sind bei dem Virgil ungefähr eben die, welche ihn Homer machen läßt.
Aber anstatt daß wir bei dem Homer nicht bloß die Anstalten zur
Arbeit, sondern auch die Arbeit selbst zu sehen bekommen, läßt Virgil,
nachdem er uns nur den geschäftigen Gott mit seinem Cyklopen
überhaupt gezeiget,

{5. Ich finde, daß Servius dem Virgil eine andere Entschuldigung
leihet.  Denn auch Servius hat den Unterschied, der zwischen beiden
Schilden ist, bemerkt: Sane interest inter hunc er Homeri clipeum:
illic enim singula dum fiunt narrantur; hic vero perfecto opere
noscuntur: nam et hic arma prius accipit Aeneas, quam spectaret; ibi
postquam omnia narrata sunt, sic a Thetide deferuntur ad Achillem (ad
v. 625 lib. VIII. Aeneid.).  Und warum dieses?  Darum, meinet
Servius, weil auf dem Schilde des Aeneas nicht bloß die wenigen
Begebenheiten, die der Dichter anführet, sondern

  --genus omne futurae
  Stirpis ab Ascanio, pugnataque in ordine bella


abgebildet waren.  Wie wÄre es also mÖglich gewesen, daß mit eben der
Geschwindigkeit, in welcher Vulkan das Schild arbeiten mußte, der
Dichter die ganze lange Reihe von Nachkommen hätte namhaft machen,
und alle von ihnen nach der Ordnung gefÜhrte Kriege hätte erwähnen
können?  Dieses ist der Verstand der etwas dunkeln Worte des Servius:
Opportune ergo Virgilius, quia non videtur simul et narrationis
celeritas potuisse connecti, et opus tam velociter expediri, ut ad
verbum posset occurrere.  Da Virgil nur etwas weniges von dem non
enarrabili texto Clipei beibringen konnte, so konnte er es nicht
während der Arbeit des Vulkanus selbst tun; sondern er mußte es
versparen, bis alles fertig war.  Ich wünschte für den Virgil sehr,
dieses Raisonnement des Servius wäre ganz ohne Grund; meine
Entschuldigung würde ihm weit rühmlicher sein.  Denn wer hieß ihm,
die ganze römische Geschichte auf ein Schild bringen?  Mit wenig
Gemälden machte Homer sein Schild zu einem Inbegriffe von allem, was
in der Welt vorgehet.  Scheinet es nicht, als ob Virgil, da er den
Griechen nicht in den Vorwürfen und in der Ausführung der Gemälde
übertreffen können, ihn wenigstens in der Anzahl derselben
übertreffen wollen?  Und was wäre kindischer gewesen?}

  Ingentem clipeum informant--
  --Alii ventosis follibus auras
  Accipiunt, redduntque: alii stridentia tingunt
  Aera lacu. Gemit impositis incudibus antrum.
  Illi inter sese multa vi brachia tollunt
  In numerum, versantque tenaci forcipe massam 6).


den Vorhang auf einmal niederfallen, und versetzt uns in eine ganz
andere Szene, von da er uns allmÄhlich in das Tal bringt, in welchem
die Venus mit den indes fertig gewordenen Waffen bei dem Aeneas
anlangt.  Sie lehnet sie an den Stamm einer Eiche, und nachdem sie
der Held genug begaffet, und bestaunet, und betastet, und versuchet,
hebt sich die Beschreibung, oder das Gemälde des Schildes an, welches
durch das ewige: Hier ist, und Da ist, Nahe dabei stehet, und Nicht
weit davon siehet man--so kalt und langweilig wird, daß alle der
poetische Schmuck, den ihm ein Virgil geben konnte, nÖtig war, um es
uns nicht unerträglich finden zu lassen.  Da dieses Gemälde
hiernächst nicht Aeneas macht, als welcher sich an den bloßen Figuren
ergötzet, und von der Bedeutung derselben nichts weiß,

 --rerumque ignarus imagine gaudet;

auch nicht Venus, ob sie schon von den kÜnftigen Schicksalen ihrer
lieben Enkel vermutlich ebensoviel wissen mußte, als der gutwillige
Ehemann; sondern da es aus dem eigenen Munde des Dichters kÖmmt: so
bleibet die Handlung offenbar wÄhrend demselben stehen.  Keine
einzige von seinen Personen nimmt daran teil; es hat auch auf das
Folgende nicht den geringsten Einfluß, ob auf dem Schilde dieses,
oder etwas anders, vorgestellet ist; der witzige Hofmann leuchtet
überall durch, der mit allerlei schmeichelhaften Anspielungen seine
Materie aufstutzet, aber nicht das große Genie, das sich auf die
eigene innere Stärke seines Werks verläßt, und alle äußere Mittel,
interessant zu werden, verachtet.  Das Schild des Aeneas ist folglich
ein wahres Einschiebsel, einzig und allein bestimmt, dem
Nationalstolze der Römer zu schmeicheln; ein fremdes Bächlein, das
der Dichter in seinen Strom leitet, um ihn etwas reger zu machen.
Das Schild des Achilles hingegen ist Zuwachs des eigenen fruchtbaren
Bodens; denn ein Schild mußte gemacht werden, und da das Notwendige
aus der Hand der Gottheit nie ohne Anmut kömmt, so mußte das Schild
auch Verzierungen haben.  Aber die Kunst war, diese Verzierungen als
bloße Verzierungen zu behandeln, sie in den Stoff einzuweben, um sie
uns nur bei Gelegenheit des Stoffes zu zeigen; und dieses ließ sich
allein in der Manier des Homers tun.  Homer läßt den Vulkan Zieraten
künsteln, weil und indem er ein Schild machen soll, das seiner würdig
ist.  Virgil hingegen scheinet ihn das Schild wegen der Zieraten
machen zu lassen, da er die Zieraten für wichtig genug hält, um sie
besonders zu beschreiben, nachdem das Schild lange fertig ist.

{6. Aeneid. lib. VIII. 447-454.}



XIX.


Die Einwürfe, welche der ältere Scaliger, Perrault, Terrasson und
andere gegen das Schild des Homers machen, sind bekannt.  Ebenso
bekannt ist das, was Dacier, Boivin und Pope darauf antworten.  Mich
dünkt aber, daß diese letztern sich manchmal zu weit einlassen, und
in Zuversicht auf ihre gute Sache, Dinge behaupten, die ebenso
unrichtig sind, als wenig sie zur Rechtfertigung des Dichters
beitragen.

Um dem Haupteinwurfe zu begegnen, daß Homer das Schild mit einer
Menge Figuren anfülle, die auf dem Umfange desselben unmöglich Raum
haben könnten, unternahm Boivin, es mit Bemerkung der erforderlichen
Maße, zeichnen zu lassen.  Sein Einfall mit den verschiedenen
konzentrischen Zirkeln ist sehr sinnreich, obschon die Worte des
Dichters nicht den geringsten Anlaß dazu geben, auch sich sonst keine
Spur findet, daß die Alten auf diese Art abgeteilte Schilder gehabt
haben.  Da es Homer selbst sakoV pantose dedaidalmenon, ein auf allen
Seiten künstlich ausgearbeitetes Schild nennet, so würde ich lieber,
um mehr Raum auszusparen, die konkave Fläche mit zu Hilfe genommen
haben; denn es ist bekannt, daß die alten Künstler diese nicht leer
ließen, wie das Schild der Minerva vom Phidias beweiset 1).  Doch
nicht genug, daß sich Boivin dieses Vorteils nicht bedienen wollte;
er vermehrte auch ohne Not die Vorstellungen selbst, denen er auf dem
sonach um die Hälfte verringerten Raume Platz verschaffen mußte,
indem er das, was bei dem Dichter offenbar nur ein einziges Bild ist,
in zwei bis drei besondere Bilder zerteilte.  Ich weiß wohl, was ihn
dazu bewog; aber es hätte ihn nicht bewegen sollen: sondern, anstatt
daß er sich bemühte, den Forderungen seiner Gegner ein Gnüge zu
leisten, hätte er ihnen zeigen sollen, daß ihre Forderungen
unrechtmäßig wären.

{1.--scuto ejus, in quo Amazonum proelium caelavit intumescente
ambitu parmae; ejusdem concava parte Deorum et Gigantum dimicationem.
Plinius lib. XXXVI. sect. 4. p. 726. Edit. Hard.}

Ich werde mich an einem Beispiele faßlicher erklären können.  Wenn
Homer von der einen Stadt sagt 2):

{2. Iliad.  S. v. 497-508.}

  Laoi d' ein agorh esan aJrooi· enJa de neikoV
  Wrwrei· duo d' andreV eneikeon eineka poinhV
  AndroV apojJimenou· o men euceto, pant' apodounai,
  Dhmw pijauskwn· o d' anaineto, mhden elesJai·
  Amjw d' iesJhn, epi istori peirar elesJai.
  Laoi d' amjoteroisin ephpuon, amjiV arwgoi·
  KhrukeV d' ara laon erhtuon· oi de geronteV
  Eiat' epi xestoisi liJoiV, ierw eni kuklw·
  Skhptra de khrukwn en cers' econ herojwnwn.
  Toisin epeit' hisson, amoibhdiV d' edikazon.
  Keito d' ar' en messoisi duo crusoio talanta--


so, glaube ich, hat er nicht mehr als ein einziges GemÄlde angeben
wollen: das Gemälde eines Öffentlichen Rechtshandels Über die
streitige Erlegung einer ansehnlichen Geldbuße für einen verübten
Todschlag.  Der Künstler, der diesen Vorwurf ausführen soll, kann
sich auf einmal nicht mehr als einen einzigen Augenblick desselben
zunutze machen; entweder den Augenblick der Anklage, oder der
Abhörung der Zeugen, oder des Urtelspruches, oder welchen er sonst,
vor oder nach, oder zwischen diesen Augenblicken für den bequemsten
hält.  Diesen einzigen Augenblick macht er so prägnant wie möglich,
und führt ihn mit allen den Täuschungen aus, welche die Kunst in
Darstellung sichtbarer Gegenstände vor der Poesie voraus hat.  Von
dieser Seite aber unendlich zurückgelassen, was kann der Dichter, der
eben diesen Vorwurf mit Worten malen soll, und nicht gänzlich
verunglücken will, anders tun, als daß er sich gleichfalls seiner
eigentümlichen Vorteile bedienet?  Und welches sind diese?  Die
Freiheit sich sowohl über das Vergangene als über das Folgende des
einzigen Augenblickes in dem Kunstwerke auszubreiten, und das
Vermögen, sonach uns nicht allein das zu zeigen, was uns der Künstler
zeiget, sondern auch das, was uns dieser nur kann erraten lassen.
Durch diese Freiheit, durch dieses Vermögen allein, kömmt der Dichter
dem Künstler wieder bei, und ihre Werke werden einander alsdenn am
ähnlichsten, wenn die Wirkung derselben gleich lebhaft ist; nicht
aber, wenn das eine der Seele durch das Ohr nicht mehr oder weniger
beibringet, als das andere dem Auge darstellen kann.  Nach diesem
Grundsatze hätte Boivin die Stelle des Homers beurteilen sollen, und
er würde nicht so viel besondere Gemälde daraus gemacht haben, als
verschiedene Zeitpunkte er darin zu bemerken glaubte.  Es ist wahr,
es konnte nicht wohl alles, was Homer sagt, in einem einzigen Gemälde
verbunden sein; die Beschuldigung und Ableugnung, die Darstellung der
Zeugen und der Zuruf des geteilten Volkes, das Bestreben der Herolde
den Tumult zu stillen, und die Äußerungen der Schiedesrichter, sind
Dinge, die auf einanderfolgen, und nicht nebeneinander bestehen
können.  Doch was, um mich mit der Schule auszudrücken, nicht actu in
dem Gemälde enthalten war, das lag virtute darin, und die einzige
wahre Art, ein materielles Gemälde mit Worten nachzuschildern, ist
die, daß man das letztere mit dem wirklich Sichtbaren verbindet, und
sich nicht in den Schranken der Kunst hält, innerhalb welchen der
Dichter zwar die Data zu einem Gemälde herzählen, aber nimmermehr ein
Gemälde selbst hervorbringen kann.

Gleicherweise zerteilt Boivin das Gemälde der belagerten Stadt 3) in
drei verschiedene Gemälde.  Er hätte es ebensowohl in zwölfe teilen
können, als in drei.  Denn da er den Geist des Dichters einmal nicht
faßte und von ihm verlangte, daß er den Einheiten des materiellen
Gemäldes sich unterwerfen müsse: so hätte er weit mehr Übertretungen
dieser Einheiten finden können, daß es fast nötig gewesen wäre, jedem
besondern Zuge des Dichters ein besonderes Feld auf dem Schilde zu
bestimmen.  Meines Erachtens aber hat Homer überhaupt nicht mehr als
zehn verschiedene Gemälde auf dem ganzen Schilde; deren jedes er mit
einem en men eteuxe, oder en de poihse, oder en d' etiJei, oder en de
poikille AmjigueiV anfängt 4).  Wo diese Eingangsworte nicht stehen,
hat man kein Recht, ein besonderes Gemälde anzunehmen; im Gegenteil
muß alles, was sie verbinden, als ein einziges betrachtet werden, dem
nur bloß die willkürliche Konzentration in einen einzigen Zeitpunkt
mangelt, als welchen der Dichter mit anzugeben, keinesweges gehalten
war.  Vielmehr, hätte er ihn angegeben, hätte er sich genau daran
gehalten, hätte er nicht den geringsten Zug einfließen lassen, der in
der wirklichen Ausführung nicht damit zu verbinden wäre; mit einem
Worte, hätte er so verfahren, wie seine Tadler es verlangen: es ist
wahr, so würden diese Herren hier an ihm nichts auszusetzen, aber in
der Tat auch kein Mensch von Geschmack etwas zu bewundern gefunden
haben.

{3. v. 509-540.}

{4. Das erste fängt an mit der 483. Zeile, und gehet bis zur 489.;
das zweite von 490-509; das dritte von 510-540; das vierte von
541-549; das fünfte von 550-560; das sechste von 561-572; das
siebente von 573-586; das achte von 587-589; das neunte von 590 bis
605; und das zehnte von 606-608. Bloß das dritte Gemälde hat die
angegebenen Eingangsworte nicht: es ist aber aus den bei dem zweiten,
en de duw poihse poleiV, und aus der Beschaffenheit der Sache selbst,
deutlich genug, daß es ein besonders Gemälde sein muß.}

Pope ließ sich die Einteilung und Zeichnung des Boivin nicht allein
gefallen, sondern glaubte noch etwas ganz Besonders zu tun, wenn er
nunmehr auch zeigte, daß ein jedes dieser so zerstückten Gemälde nach
den strengsten Regeln der heutiges Tages üblichen Malerei angegeben
sei.  Kontrast, Perspektiv, die drei Einheiten; alles fand er darin
auf das beste beobachtet.  Und ob er schon gar wohl wußte, daß
zufolge guter glaubwürdiger Zeugnisse, die Malerei zu den Zeiten des
Trojanischen Krieges noch in der Wiege gewesen, so mußte doch
entweder Homer, vermöge seines göttlichen Genies, sich nicht sowohl
an das, was die Malerei damals oder zu seiner Zeit leisten konnte,
gehalten, als vielmehr das erraten haben, was sie überhaupt zu
leisten imstande sei; oder auch jene Zeugnisse selbst mußten so
glaubwürdig nicht sein, daß ihnen die augenscheinliche Aussage des
künstlichen Schildes nicht vorgezogen zu werden verdiene.  Jenes mag
annehmen, wer da will; dieses wenigstens wird sich niemand überreden
lassen, der aus der Geschichte der Kunst etwas mehr, als die bloßen
Data der Historienschreiber weiß.  Denn daß die Malerei zu Homers
Zeiten noch in ihrer Kindheit gewesen, glaubt er nicht bloß deswegen,
weil es ein Plinius oder so einer sagt, sondern vornehmlich weil er
aus den Kunstwerken, deren die Alten gedenken, urteilet, daß sie
viele Jahrhunderte nachher noch nicht viel weiter gekommen, und z.  E.
die Gemälde eines Polygnotus noch lange die Probe nicht aushalten,
welche Pope die Gemälde des Homerischen Schildes bestehen zu können
glaubt.  Die zwei großen Stücke dieses Meisters zu Delphi, von
welchen uns Pausanias eine so umständliche Beschreibung hinterlassen
5), waren offenbar ohne alle Perspektiv.  Dieser Teil der Kunst ist
den Alten gänzlich abzusprechen, und was Pope beibringt, um zu
beweisen, daß Homer schon einen Begriff davon gehabt habe, beweiset
weiter nichts, als daß ihm selbst nur ein sehr unvollständiger
Begriff davon beigewohnet 6).  "Homer", sagt er, "kann kein Fremdling
in der Perspektiv gewesen sein, weil er die Entfernung eines
Gegenstandes von dem andern ausdrücklich angibt.  Er bemerkt, z.  E.
daß die Kundschafter ein wenig weiter als die andern Figuren gelegen,
und daß die Eiche, unter welcher den Schnittern das Mahl zubereitet
worden, beiseite gestanden.  Was er von dem mit Herden und Hütten und
Ställen übersäeten Tale sagt, ist augenscheinlich die Beschreibung
einer großen perspektivischen Gegend.  Ein allgemeiner Beweisgrund
dafür kann auch schon aus der Menge der Figuren auf dem Schilde
gezogen werden, die nicht alle in ihrer vollen Größe ausgedruckt
werden konnten; woraus es denn gewissermaßen unstreitig, daß die
Kunst, sie nach der Perspektiv zu verkleinern, damaliger Zeit schon
bekannt gewesen." Die bloße Beobachtung der optischen Erfahrung, daß
ein Ding in der Ferne kleiner erscheinet, als in der Nähe, macht ein
Gemälde noch lange nicht perspektivisch.  Die Perspektiv erfordert
einen einzigen Augenpunkt, einen bestimmten natürlichen Gesichtskreis,
und dieses war es, was den alten Gemälden fehlte.  Die Grundfläche
in den Gemälden des Polygnotus war nicht horizontal, sondern nach
hinten zu so gewaltig in die Höhe gezogen, daß die Figuren, welche
hintereinander zu stehen scheinen sollten, übereinander zu stehen
schienen.  Und wenn diese Stellung der verschiednen Figuren und ihrer
Gruppen allgemein gewesen, wie aus den alten Basreliefs, wo die
hintersten allezeit höher stehen als die vodersten, und über sie
wegsehen, sich schließen läßt: so ist es natürlich, daß man sie auch
in der Beschreibung des Homers annimmt, und diejenigen von seinen
Bildern, die sich nach selbiger in ein Gemälde verbinden lassen,
nicht unnötigerweise trennet.  Die doppelte Szene der friedfertigen
Stadt, durch deren Straßen der fröhliche Aufzug einer Hochzeitfeier
ging, indem auf dem Markte ein wichtiger Prozeß entschieden ward,
erfordert diesem zufolge kein doppeltes Gemälde, und Homer hat es gar
wohl als ein einziges denken können, indem er sich die ganze Stadt
aus einem so hohen Augenpunkte vorstellte, daß er die freie Aussicht
zugleich in die Straßen und auf den Markt dadurch erhielt.

{5. Phocic. cap. XXV-XXXI.}

{6. Um zu zeigen, daß dieses nicht zu viel von Popen gesagt ist, will
ich den Anfang der folgenden aus ihm angeführten Stelle (Iliad.  Vol.
V. Obs. p. 61) in der Grundsprache anführen: That he was no stranger
to aerial perspective, appears in his expressly marking the distance
of object from object: he tells us etc. Ich sage, hier hat Pope den
Ausdruck aerial perspective, die Luftperspektiv (perspective
aërienne), ganz unrichtig gebraucht, als welche mit den nach
Maßgebung der Entfernung verminderten Größen gar nichts zu tun hat,
sondern unter der man lediglich die Schwächung und Abänderung der
Farben nach Beschaffenheit der Luft oder des Medii, durch welches wir
sie sehen, verstehet.  Wer diesen Fehler machen konnte, dem war es
erlaubt, von der ganzen Sache nichts zu wissen.}

Ich bin der Meinung, daß man auf das eigentliche Perspektivische in
den Gemälden nur gelegentlich durch die Szenenmalerei gekommen ist;
und auch als diese schon in ihrer Vollkommenheit war, muß es noch
nicht so leicht gewesen sein, die Regeln derselben auf eine einzige
Fläche anzuwenden, indem sich noch in den spätern Gemälden unter den
Altertümern des Herkulanums so häufige und mannigfaltige Fehler gegen
die Perspektiv finden, als man itzo kaum einem Lehrlinge vergeben
würde 7).

{7. Betracht. über die Malerei S. 185.}

Doch ich entlasse mich der Mühe, meine zerstreuten Anmerkungen über
einen Punkt zu sammeln, über welchen ich in des Herrn Winckelmanns
versprochener Geschichte der Kunst die völligste Befriedigung zu
erhalten hoffen darf 8).

{8. Geschrieben im Jahr 1763.}



XX.


Ich lenke mich vielmehr wieder in meinen Weg, wenn ein Spaziergänger
anders einen Weg hat.

Was ich von körperlichen Gegenständen überhaupt gesagt habe, das gilt
von körperlichen schönen Gegenständen um so viel mehr.

Körperliche Schönheit entspringt aus der übereinstimmenden Wirkung
mannigfaltiger Teile, die sich auf einmal übersehen lassen.  Sie
erfodert also, daß diese Teile nebeneinander liegen müssen; und da
Dinge, deren Teile nebeneinander liegen, der eigentliche Gegenstand
der Malerei sind; so kann sie, und nur sie allein, körperliche
Schönheit nachahmen.

Der Dichter, der die Elemente der Schönheit nur nacheinander zeigen
könnte, enthält sich daher der Schilderung körperlicher Schönheit,
als Schönheit, gänzlich.  Er fühlt es, daß diese Elemente,
nacheinander geordnet, unmöglich die Wirkung haben können, die sie,
nebeneinander geordnet, haben; daß der konzentrierende Blick, den wir
nach ihrer Enumeration auf sie zugleich zurücksenden wollen, uns doch
kein übereinstimmendes Bild gewähret; daß es über die menschliche
Einbildung gehet, sich vorzustellen, was dieser Mund, und diese Nase,
und diese Augen zusammen für einen Effekt haben, wenn man sich nicht
aus der Natur oder Kunst einer ähnlichen Komposition solcher Teile
erinnern kann.

Und auch hier ist Homer das Muster aller Muster.  Er sagt: Nireus war
schön; Achilles war noch schöner; Helena besaß eine göttliche
Schönheit.  Aber nirgends läßt er sich in die umständlichere
Schilderung dieser Schönheiten ein.  Gleichwohl ist das ganze Gedicht
auf die Schönheit der Helena gebauet.  Wie sehr würde ein neuerer
Dichter darüber luxuriert haben!

Schon ein Constantinus Manasses wollte seine kahle Chronik mit einem
Gemälde der Helena auszieren.  Ich muß ihn für seinen Versuch danken.
Denn ich wüßte wirklich nicht, wo ich sonst ein Exempel auftreiben
sollte, aus welchem augenscheinlicher erhelle, wie töricht es sei,
etwas zu wagen, das Homer so weislich unterlassen hat.  Wenn ich bei
ihm lese 1):

{1. Constantinus Manasses Compend. Chron. p. 20. Edit. Venet.  Die
Frau Dacier war mit diesem Porträt des Manasses, bis auf die
Tautologien, sehr wohl zufrieden: De Helenae pulchritudine omnium
optime Constantinus Manasses, nisi in eo tautologiam reprehendas.
(Ad Dictyn Cretensem lib. I. cap. 3. p. 5.)  Sie führet nach dem
Mezeriac (Comment sur les épîtres d'Ovide T. II. p. 361) auch die
Beschreibungen an, welche Dares Phrygius und Cedrenus von der
Schönheit der Helena geben.  In der erstern kömmt ein Zug vor, der
ein wenig seltsam klingt.  Dares sagt nämlich von der Helena, sie
habe ein Mal zwischen den Augenbraunen gehabt: notam inter duo
supercilia habentem.  Das war doch wohl nichts Schönes?  Ich wollte,
daß die Französin ihre Meinung darüber gesagt hätte.  Meinesteiles
halte ich das Wort nota hier für verfälscht, und glaube, daß Dares
von dem reden wollen, was bei den Griechen mesojruon und bei den
Lateinern glabella hieß.  Die Augenbraunen der Helena, will er sagen,
liefen nicht zusammen, sondern waren durch einen kleinen Zwischenraum
abgesondert.  Der Geschmack der Alten war in diesem Punkte
verschieden.  Einigen gefiel ein solcher Zwischenraum, andern nicht.
(Junius de pictura vet. lib. III. cap. 9. p. 245.)  Anakreon hielt
die Mittelstraße; die Augenbraunen seines geliebten Mädchens waren
weder merklich getrennt, noch völlig ineinander verwachsen, sie
verliefen sich sanft in einem einzigen Punkte.  Er sagt zu dem
Künstler, welcher sie malen sollte: (Od. 28.)

  To mesojruon de mh moi
  Diakopte, mhte misge,
  Ecetw d' opwV ekeinh
  To lelhJotwV sunojrun
  Blejarwn itun kelainhn.


Nach der Lesart des Pauw, obschon auch ohne sie der Verstand der
nämliche ist, und von Henr. Stephano nicht verfehlet worden:

  Supercilii nigrantes
  Discrimina nec arcus,
  Confundito nec illos:
  Sed junge sic ut anceps
  Divortium relinquas,
  Quale esse cernis ipsi.


Wenn ich aber den Sinn des Dares getroffen hÄtte, was mÜßte man wohl
sodann, anstatt des Wortes notam, lesen?  Vielleicht moram?  Denn so
viel ist gewiß, daß mora nicht allein den Verlauf der Zeit, ehe etwas
geschieht, sondern auch die Hinderung, den Zwischenraum von einem zum
andern, bedeutet.

  Ego inquieta montium jaceam mora,

wÜnschet sich der rasende Herkules beim Seneca, (v. 1215) welche
Stelle Gronovius sehr wohl erklÄrt: Optat se medium jacere inter duas
Symplegades, illarum velut moram, impedimentum, obicem; qui eas
moretur, vetet aut satis arcte conjungi, aut rursus distrahi.  So
heißen auch bei eben demselben Dichter lacertorum morae soviel als
juncturae.  (Schroederus ad v. 762 Thyest.)}

  Hn h gunh perikallhV, euojruV, eucroustath,
  EupareioV, euproswpoV, bovpiV, cionocrouV,
  ElikoblejaroV, abra, caritwn gemon alsoV,
  Leukobraciwn, trujera, kalloV antikruV, empnoun,
  To proswpon kataleukon, h pareia rodocrouV,
  To proswpon epicari, to blejaron wraion,
  KalloV anepithdeuton, abaptiston, autocroun,
  Ebapte thn leukothta rodocria purinh
  WV ei tiV ton elejanta bayei lampra porjura.
  Deirh makra, kataleukoV, oJen emuJourghJh
  Kuknogenh thn euopton Elenhn crhmatizein--


so dÜnkt mich, ich sehe Steine auf einen Berg wÄlzen, aus welchen auf
der Spitze desselben ein prächtiges Gebäude aufgeführet werden soll,
die aber alle auf der andern Seite von selbst wieder herabrollen.
Was für ein Bild hinterläßt er, dieser Schwall von Worten?  Wie sahe
Helena nun aus?  Werden nicht, wenn tausend Menschen dieses lesen,
sich alle tausend eine eigene Vorstellung von ihr machen?

Doch es ist wahr, politische Verse eines MÖnches sind keine Poesie.
Man höre also den Ariost, wenn er seine bezaubernde Alcina schildert
2):

{2. Orlando Furioso, Canto VII. St. 11-15. "Die Bildung ihrer Gestalt
war so reizend, als nur künstliche Maler sie dichten können.  Gegen
ihr blondes, langes, aufgeknüpftes Haar ist kein Gold, das nicht
seinen Glanz verliere.  Über ihre zarten Wangen verbreitete sich
die vermischte Farbe der Rosen und der Lilien.  Ihre fröhliche Stirn,
in die gehörigen Schranken geschlossen, war von glattem Helfenbein.
Unter zween schwarzen, äußerst feinen Bögen glänzen zwei schwarze
Augen, oder vielmehr zwo leuchtende Sonnen, die mit Holdseligkeit um
sich blickten und sich langsam drehten.  Rings um sie her schien Amor
zu spielen und zu fliegen; von da schien er seinen ganzen Köcher
abzuschießen, und die Herzen sichtbar zu rauben.  Weiter hinab steigt
die Nase mitten durch das Gesicht, an welcher selbst der Neid nichts
zu bessern findet.  Unter ihr zeigt sich der Mund, wie zwischen zwei
kleinen Tälern, mit seinem eigentümlichen Zinnober bedeckt; hier
stehen zwo Reihen auserlesener Perlen, die eine schöne sanfte Lippe
verschließt und öffnet.  Hieraus kommen die holdseligen Worte, die
jedes rauhe, schändliche Herz erweichen; hier wird jenes liebliche
Lächeln gebildet, welches für sich schon ein Paradies auf Erden
eröffnet.  Weißer Schnee ist der schöne Hals, und Milch die Brust,
der Hals rund, die Brust voll und breit.  Zwo zarte, von Helfenbein
gerundete Kugeln wallen sanft auf und nieder, wie die Wellen am
äußersten Rande des Ufers, wenn ein spielender Zephir die See
bestreitet.  (Die übrigen Teile würde Argus selbst nicht haben sehen
können.  Doch war leicht zu urteilen, daß das, was versteckt lag, mit
dem, was dem Auge bloß stand, übereinstimme.)  Die Arme zeigen sich in
ihrer gehörigen Länge, die weiße Hand etwas länglich, und schmal in
ihrer Breite, durchaus eben, keine Ader tritt über ihre glatte Fläche.
Am Ende dieser herrlichen Gestalt sieht man den kleinen, trocknen,
gerundeten Fuß.  Die englischen Mienen, die aus dem Himmel stammen,
kann kein Schleier verbergen."--(Nach der Übersetzung des Herrn
Meinhard in dem Versuche über den Charakter und die Werke der besten
ital.  Dicht.  B. II. S. 228.)}

  Di persona era tanto ben formata,
  Quanto mai finger san pittori industri:
  Con bionda chioma, lunga e annodata,
  Oro non è, che più risplenda, e lustri,
  Spargeasi per la guancia delicata
  Misto color di rose e di ligustri.
  Di terso avorio era la fronte lieta,
  Che lo spazio finia con giusta meta.

  Sotto due negri, e sottilissimi archi
  Son due negri occhi, anzi due chiari soli,
  Pietosi a riguardar, a mover parchi,
  Intorno a cui par ch' Amor scherzi, e voli,
  E ch' indi tutta la faretra scarchi,
  E che visibilmente i cori involi.
  Quindi il naso per mezzo il viso scende
  Che non trova l'invidia ove l'emende.

  Sotto quel sta, quasi fra due vallette,
  La bocca sparsa di natio cinabro,
  Quivi due filze son di perle elette,
  Che chiude, ed apre un bello e dolce labro;
  Quindi escon le cortesi parolette,
  Da render molle ogni cor rozzo e scabro;
  Quivi si forma quel soave riso,
  Ch' apre a sua posta in terra il paradiso.

  Bianca neve è il bel collo, e'l petto latte,
  Il collo è tondo, il petto colmo e largo;
  Due pome acerbe, e pur d'avorio fatte,
  Vengono e van, come onda al primo margo,
  Quando piacevole aura il mar combatte.
  Non potria l'altre parti veder Argo,
  Ben si può giudicar, che corrisponde,
  A quel ch' appar di fuor, quel che s'ascondo.

  Mostran le braccia sua misura giusta,
  Et la candida man spesso si vede,
  Lunghetta alquanto, e di larghezza angusta,
  Dove nè nodo appar, nè vena eccede.
  Si vede al fin de la persona augusta
  Il breve, asciutto, e ritondetto piede.
  Gli angelici sembianti nati in cielo
  Non si ponno celar sotto alcun velo.



Milton sagt bei Gelegenheit des PandÄmoniums: einige lobten das Werk,
andere den Meister des Werks.  Das Lob des einen ist also nicht
allezeit auch das Lob des andern.  Ein Kunstwerk kann allen Beifall
verdienen, ohne daß sich zum Ruhme des KÜnstlers viel Besonders sagen
läßt.  Wiederum kann ein Künstler mit Recht unsere Bewunderung
verlangen, auch wenn sein Werk uns die vÖllige Gnüge nicht tut.
Dieses vergesse man nie, und es werden sich öfters ganz
widersprechende Urteile vergleichen lassen.  Eben wie hier.  Dolce,
in seinem Gespräche von der Malerei, läßt den Aretino von den
angeführten Stanzen des Ariost ein außerordentliches Aufheben machen
3); ich hingegen, wähle sie als ein Exempel eines Gemäldes ohne
Gemälde.  Wir haben beide recht.  Dolce bewundert darin die
Kenntnisse, welche der Dichter von der körperlichen Schönheit zu
haben zeiget; ich aber sehe bloß auf die Wirkung, welche diese
Kenntnisse, in Worte ausgedrückt, auf meine Einbildungskraft haben
können.  Dolce schließt aus jenen Kenntnissen, daß gute Dichter nicht
minder gute Maler sind; und ich aus dieser Wirkung, daß sich das, was
die Maler durch Linien und Farben am besten ausdrücken können, durch
Worte gerade am schlechtesten ausdrücken läßt.  Dolce empfiehlet die
Schilderung des Ariost allen Malern als das vollkommenste Vorbild
einer schönen Frau; und ich empfehle es allen Dichtern als die
lehrreichste Warnung, was einem Ariost mißlingen müssen, nicht noch
unglücklicher zu versuchen.  Es mag sein, daß wenn Ariost sagt:

{3. (Dialogo della pittura, intitolato l'Aretino, Firenze 1735. p.
178.)  Se vogliono i pittori senza fatica trovare un perfetto esempio
di bella donna, leggano quelle stanze dell' Ariosto, nelle quali egli
discrive mirabilmente le bellezze della fata Alcina: e vedranno
parimente, quanto i buoni poeti siano ancora essi pittori.--}

  Di persona era tanto ben formata
  Quanto mai finger san pittori industri,


er die Lehre von den Proportionen, so wie sie nur immer der
fleißigste KÜnstler in der Natur und aus den Antiken studieret,
vollkommen verstanden zu haben, dadurch beweiset 4).  Er mag sich
immerhin, in den bloßen Worten:

{4. (Ibid.) Ecco, che, quanto alla proportione, l'ingeniosissimo
Ariosto assegna la migliore, che sappiano formar le mani de' più
eccellenti pittori, usando questa voce industri, per dinotar la
diligenza, die conviene al buono artefice.}

  Spargeasi per la guancia delicata
  Misto color di rose e di ligustri,


als den vollkommensten Koloristen, als einen Tizian, zeigen 5).  Man
mag daraus, daß er das Haar der Alcina nur mit dem Golde vergleicht,
nicht aber gÜldenes Haar nennet, noch so deutlich schließen, daß er
den Gebrauch des wirklichen Goldes in der Farbengebung gemißbilliget
6).  Man mag sogar in seiner herabsteigenden Nase,

{5. (Ibid. p. 182.) Qui l'Ariosto colorisce, e in questo suo colorire
dimostra essere un Tiziano.}

{6. (Ibid. p. 180.) Poteva l'Ariosto nella guisa, che ha detto chioma
bionda, dir chioma d'oro: ma gli parve forse, che avrebbe avuto
troppo del poetico.  Da che si puo ritrar, che'l pittore dee imitar
l'oro, e non metterlo (come fanno i miniatori) nelle sue pitture, in
modo, che si possa dire, que' capelli non sono d'oro, ma par che
risplendano, come l'oro.  Was Dolce, in dem Nachfolgenden, aus dem
AthenÄus anführet, ist merkwürdig, nur daß es sich nicht vÖllig so
daselbst findet.  Ich rede an einem andern Orte davon.}

  Quindi il naso per mezzo il viso scende,

das Profil jener alten griechischen, und von griechischen KÜnstlern
auch RÖmern geliehenen Nasen finden 7).  Was nutzt alle diese
Gelehrsamkeit und Einsicht uns Lesern, die wir eine schöne Frau zu
sehen glauben wollen, die wir etwas von der sanften Wallung des
Geblüts dabei empfinden wollen, die den wirklichen Anblick der
Schönheit begleitet?  Wenn der Dichter weiß, aus welchen
VerhÄltnissen eine schöne Gestalt entspringet, wissen wir es darum
auch?  Und wenn wir es auch wüßten, läßt er uns hier diese
Verhältnisse sehen?  Oder erleichtert er uns auch nur im geringsten
die Mühe, uns ihrer auf eine lebhafte anschauende Art zu erinnern?
Eine Stirn, in die gehörigen Schranken geschlossen, la fronte,

{7. (Ibid. p. 182.) Il naso, che discende giù, avendo peraventura la
considerazione a quelle forme de' nasi, che si veggono ne' ritratti
delle belle Romane antiche.}

  Che lo spazio finia con giusta meta;

eine Nase, an welcher selbst der Neid nichts zu bessern findet,

  Che non trova l'invidia, ove l'emende;

eine Hand, etwas länglich und schmal in ihrer Breite,

  Lunghetta alquanto, e di larghezza angusta:

was fÜr ein Bild geben diese allgemeine Formeln?  In dem Munde eines
Zeichenmeisters, der seine Schüler auf die SchÖnheiten des
akademischen Modells aufmerksam machen will, möchten sie noch etwas
sagen; denn ein Blick auf dieses Modell, und sie sehen die gehörigen
Schranken der fröhlichen Stirne, sie sehen den schönsten Schnitt der
Nase, die schmale Breite der niedlichen Hand.  Aber bei dem Dichter
sehe ich nichts, und empfinde mit Verdruß die Vergeblichkeit meiner
besten Anstrengung, etwas sehen zu wollen.

In diesem Punkte, in welchem Virgil dem Homer durch Nichtstun
nachahmen können, ist auch Virgil ziemlich glücklich gewesen.  Auch
seine Dido ist ihm weiter nichts als pulcherrima Dido.  Wenn er ja
umstÄndlicher etwas an ihr beschreibet, so ist es ihr reicher Putz,
ihr prächtiger Aufzug:

  Tandem progreditur--
  Sidoniam picto chlamydem circumdata limbo:
  Cui pharetra ex auro, crines nodantur in aurum,
  Aurea purpuream subnectit fibula vestem 8).

{8. Aeneid. IV. v. 136.}


Wollte man darum auf ihn anwenden, was jener alte KÜnstler zu einem
Lehrlinge sagte, der eine sehr geschmückte Helena gemalt hatte, "da
du sie nicht schÖn malen können, hast du sie reich gemalt": so würde
Virgil antworten, "es liegt nicht an mir, daß ich sie nicht schön
malen können; der Tadel trifft die Schranken meiner Kunst; mein Lob
sei, mich innerhalb diesen Schranken gehalten zu haben."

Ich darf hier die beiden Lieder des Anakreons nicht vergessen, in
welchen er uns die Schönheit seines MÄdchens und seines Bathylls
zergliedert 9).  Die Wendung, die er dabei nimmt, macht alles gut.
Er glaubt einen Maler vor sich zu haben, und läßt ihn unter seinen
Augen arbeiten.  So, sagt er, mache mir das Haar, so die Stirne, so
die Augen, so den Mund, so Hals und Busen, so Hüft' und Hände!  Was
der Künstler nur teilweise zusammensetzen kann, konnte ihm der
Dichter auch nur teilweise vorschreiben.  Seine Absicht ist nicht,
daß wir in dieser mündlichen Direktion des Malers die ganze Schönheit
der geliebten Gegenstände erkennen und fühlen sollen; er selbst
empfindet die Unfähigkeit des wörtlichen Ausdrucks, und nimmt eben
daher den Ausdruck der Kunst zu Hilfe, deren Täuschung er so sehr
erhebet, daß das ganze Lied mehr ein Lobgedicht auf die Kunst, als
auf sein Mädchen zu sein scheinet.  Er sieht nicht das Bild, er sieht
sie selbst, und glaubt, daß es nun eben den Mund zum Reden eröffnen
werde:

{9. Od. XXVIII. XXIX.}

  Apecei· blepw gar authn.
  Taca, khre, kai lalhseiV.


Auch in der Angabe des Bathylls, ist die Anpreisung des schÖnen
Knabens mit der Anpreisung der Kunst und des KÜnstlers so ineinander
geflochten, daß es zweifelhaft wird, wem zu Ehren Anakreon das Lied
eigentlich bestimmt habe.  Er sammelt die schönsten Teile aus
verschiednen GemÄlden, an welchen eben die vorzügliche Schönheit
dieser Teile das Charakteristische war; den Hals nimmt er von einem
Adonis, Brust und Hände von einem Merkur, die Hüfte von einem Pollux,
den Bauch von einem Bacchus; bis er den ganzen Bathyll in einem
vollendeten Apollo des Künstlers erblickt.

  Meta de proswpon estw,
  Ton AdwnidoV parelJwn,
  ElejantinoV trachloV·
  Metamazion de poiei
  DidumaV te ceiraV Ermou,
  PoludeukeoV de mhrouV,
  Dionusihn de nhdun--
  Ton Apollwna de touton
  KaJelwn, poiei BaJullon.


So weiß auch Lucian von der SchÖnheit der Panthea anders keinen
Begriff zu machen, als durch Verweisung auf die schönsten weiblichen
BildsÄulen alter KÜnstler 10).  Was heißt aber dieses sonst, als
bekennen, daß die Sprache vor sich selbst hier ohne Kraft ist; daß
die Poesie stammelt und die Beredsamkeit verstummet, wenn ihnen nicht
die Kunst noch einigermaßen zur Dolmetscherin dienet?

{10. EikoneV § 3. T. II. p. 461. Edit. Reitz.}



XXI.


Aber verliert die Poesie nicht zu viel, wenn man ihr alle Bilder
körperlicher Schönheit nehmen will?--Wer will ihr die nehmen?  Wenn
man ihr einen einzigen Weg zu verleiden sucht, auf welchem sie zu
solchen Bildern zu gelangen gedenket, indem sie die Fußtapfen einer
verschwisterten Kunst aufsucht, in denen sie ängstlich herumirret,
ohne jemals mit ihr das gleiche Ziel zu erreichen: verschließt man
ihr darum auch jeden andern Weg, wo die Kunst hinwiederum ihr
nachsehen muß?

Eben der Homer, welcher sich aller stückweisen Schilderung
körperlicher Schönheiten so geflissentlich enthält, von dem wir kaum
einmal im Vorbeigehen erfahren, daß Helena weiße Arme 1) und schönes
Haar 2) gehabt; eben der Dichter weiß demohngeachtet uns von ihrer
Schönheit einen Begriff zu machen, der alles weit übersteiget, was
die Kunst in dieser Absicht zu leisten imstande ist.  Man erinnere
sich der Stelle, wo Helena in die Versammlung der Ältesten des
trojanischen Volkes tritt.  Die ehrwürdigen Greise sehen sie, und
einer sprach zu den andern 3):

{1. Iliad.  G. v. 121.}

{2. Ibid. v. 329.}

{3. Ibid. v. 156-158.}

  Ou nemesiV, TrvaV kai euknhmidaV AcaiouV,
  Toihd' amji gunaiki polun cronon algea pascein·
  AinvV aJanathsi JehV eiV vpa eoiken.


Was kann eine lebhaftere Idee von SchÖnheit gewÄhren, als das kalte
Alter sie des Krieges wohl wert erkennen lassen, der so viel Blut und
so viele Tränen kostet?

Was Homer nicht nach seinen Bestandteilen beschreiben konnte, läßt er
uns in seiner Wirkung erkennen.  Malet uns, Dichter, das Wohlgefallen,
die Zuneigung, die Liebe, das EntzÜcken, welches die Schönheit
verursachet, und ihr habt die Schönheit selbst gemalet.  Wer kann
sich den geliebten Gegenstand der Sappho, bei dessen Erblickung sie
Sinne und Gedanken zu verlieren bekennet, als häßlich denken?  Wer
glaubt nicht die schönste vollkommenste Gestalt zu sehen, sobald er
mit dem Gefühle sympathisieret, welches nur eine solche Gestalt
erregen kann?  Nicht weil uns Ovid den schönen Körper seiner Lesbia
Teil vor Teil zeiget:

  Quos humeros, quales vidi tetigique lacertos!
    Forma papillarum quam fuit apta premi!
  Quam castigato planus sub pectore venter!
    Quantum et quale latus! quam juvenile femur!


sondern weil er es mit der wollÜstigen Trunkenheit tut, nach der
unsere Sehnsucht so leicht zu erwecken ist, glauben wir eben des
Anblickes zu genießen, den er genoß.

Ein andrer Weg, auf welchem die Poesie die Kunst in Schilderung
kÖrperlicher Schönheit wiederum einholet, ist dieser, daß sie
Schönheit in Reiz verwandelt.  Reiz ist Schönheit in Bewegung, und
eben darum dem Maler weniger bequem als dem Dichter.  Der Maler kann
die Bewegung nur erraten lassen, in der Tat aber sind seine Figuren
ohne Bewegung.  Folglich wird der Reiz bei ihm zur Grimasse.  Aber in
der Poesie bleibt er was er ist; ein transitorisches Schönes, das wir
wiederholt zu sehen wünschen.  Es kömmt und geht; und da wir uns
überhaupt einer Bewegung leichter und lebhafter erinnern können, als
bloßer Formen oder Farben: so muß der Reiz in dem nÄmlichen
Verhältnisse stärker auf uns wirken, als die Schönheit.  Alles, was
noch in dem Gemälde der Alcina gefällt und rühret, ist Reiz.  Der
Eindruck, den ihre Augen machen, kömmt nicht daher, daß sie schwarz
und feurig sind, sondern daher, daß sie,

Pietosi a riguardar, a mover parchi,

mit Holdseligkeit um sich blicken, und sich langsam drehen; daß Amor
sie umflattert und seinen ganzen Köcher aus ihnen abschießt.  Ihr
Mund entzücket, nicht weil von eigentümlichem Zinnober bedeckte
Lippen zwei Reihen auserlesener Perlen verschließen; sondern weil
hier das liebliche Lächeln gebildet wird, welches, für sich schon,
ein Paradies auf Erden eröffnet; weil er es ist, aus dem die
freundlichen Worte tönen, die jedes rauhe Herz erweichen.  Ihr Busen
bezaubert, weniger weil Milch und Helfenbein und Apfel uns seine
Weiße und niedliche Figur vorbilden, als vielmehr weil wir ihn sanft
auf und nieder wallen sehen, wie die Wellen am äußersten Rande des
Ufers, wenn ein spielender Zephir die See bestreitet:

  Due pome acerbe, e pur d'avorio fatte,
  Vengono e van, come onda al primo margo,
  Quando piacevole aura il mar combatte.


Ich bin versichert, daß lauter solche ZÜge des Reizes, in eine oder
zwei Stanzen zusammengedrÄnget, weit mehr tun würden, als die fünfe
alle, in welche sie Ariost zerstreuet und mit kalten Zügen der
schÖnen Form, viel zu gelehrt für unsere Empfindungen, durchflochten
hat.

Selbst Anakreon wollte lieber in die anscheinende Unschicklichkeit
verfallen, eine Untunlichkeit von dem Maler zu verlangen, als das
Bild seines Mädchens nicht mit Reiz beleben.

  Trujerou d' esw geneiou,
  Peri lugdinw trachlw
  CariteV petointo pasai.


Ihr sanftes Kinn, befiehlt er dem KÜnstler, ihren marmornen Nacken
laß alle Grazien umflattern!  Wie das?  Nach dem genauesten
Wortverstande?  Der ist keiner malerischen Ausführung fÄhig.  Der
Maler konnte dem Kinne die schÖnste Ründung, das schönste Grübchen,
Amoris digitulo impressum, (denn das esw scheinet mir ein Grübchen
andeuten zu wollen)--er konnte dem Halse die schönste Karnation geben;
aber weiter konnte er nichts.  Die Wendungen dieses schönen Halses,
das Spiel der Muskeln, durch das jenes Grübchen bald mehr bald
weniger sichtbar wird, der eigentliche Reiz, war über seine Kräfte.
Der Dichter sagte das Höchste, wodurch uns seine Kunst die Schönheit
sinnlich zu machen vermag, damit auch der Maler den höchsten Ausdruck
in seiner Kunst suchen möge.  Ein neues Beispiel zu der obigen
Anmerkung, daß der Dichter, auch wenn er von Kunstwerken redet,
dennoch nicht verbunden ist, sich mit seiner Beschreibung in den
Schranken der Kunst zu halten.



XXII.


Zeuxis malte eine Helena, und hatte das Herz, jene berühmte Zeilen
des Homers, in welchen die entzückten Greise ihre Empfindung bekennen,
darunter zu setzen.  Nie sind Malerei und Poesie in einen gleichern
Wettstreit gezogen worden.  Der Sieg blieb unentschieden, und beide
verdienten gekrönt zu werden.

Denn so wie der weise Dichter uns die Schönheit, die er nach ihren
Bestandteilen nicht schildern zu können fühlte, bloß in ihrer Wirkung
zeigte: so zeigte der nicht minder weise Maler uns die Schönheit nach
nichts als ihren Bestandteilen, und hielt es seiner Kunst für
unanständig, zu irgendeinem andern Hilfsmittel Zuflucht zu nehmen.
Sein Gemälde bestand aus der einzigen Figur der Helena, die nackend
dastand.  Denn es ist wahrscheinlich, daß es eben die Helena war,
welche er für die zu Krotona malte 1).

{1. Val. Maximus lib. III. cap. 7. Dionysius Halicarnass. Art.
Rhet. cap. 12 peri logwn exetasewV.}

Man vergleiche hiermit, wundershalber, das Gemälde, welches Caylus
dem neuern Künstler aus jenen Zeilen des Homers vorzeichnet: "Helena,
mit einem weißen Schleier bedeckt, erscheinet mitten unter
verschiedenen alten Männern, in deren Zahl sich auch Priamus befindet,
der an den Zeichen seiner königlichen Würde zu erkennen ist.  Der
Artist muß sich besonders angelegen sein lassen, uns den Triumph der
Schönheit in den gierigen Blicken und in allen den Äußerungen einer
staunenden Bewunderung auf den Gesichtern dieser kalten Greise
empfinden zu lassen.  Die Szene ist über einem von den Toren der
Stadt.  Die Vertiefung des Gemäldes kann sich in den freien Himmel,
oder gegen höhere Gebäude der Stadt verlieren; jenes würde kühner
lassen, eines aber ist so schicklich wie das andere."

Man denke sich dieses Gemälde von dem größten Meister unserer Zeit
ausgeführet, und stelle es gegen das Werk des Zeuxis.  Welches wird
den wahren Triumph der Schönheit zeigen?  Dieses, wo ich ihn selbst
fühle, oder jenes, wo ich ihn aus den Grimassen gerührter Graubärte
schließen soll?  Turpe senilis amor; ein gieriger Blick macht das
ehrwürdigste Gesicht lächerlich, und ein Greis, der jugendliche
Begierden verrät, ist sogar ein ekler Gegenstand.  Den Homerischen
Greisen ist dieser Vorwurf nicht zu machen; denn der Affekt, den sie
empfinden, ist ein augenblicklicher Funke, den ihre Weisheit sogleich
erstickt; nur bestimmt, der Helena Ehre zu machen, aber nicht, sie
selbst zu schänden.  Sie bekennen ihr Gefühl, und fügen sogleich
hinzu:

  Alla kai vV, toih per eous', en nhusi neesJw,
  Mhd' hmin tekeessi t' opissw phma lipoito


Ohne diesen Entschluß wÄren es alte Gecke; wären sie das, was sie in
dem Gemälde des Caylus erscheinen.  Und worauf richten sie denn da
ihre gierigen Blicke?  Auf eine vermummte, verschleierte Figur.  Das
ist Helena?  Es ist mir unbegreiflich, wie ihr Caylus hier den
Schleier lassen kÖnnen.  Zwar Homer gibt ihr denselben ausdrÜcklich:

  Autika d' argennhsi kaluyamenh oJonhsin
  Wrmat' ek Jalamoio--


aber, um Über die Straßen damit zu gehen; und wenn auch schon bei ihm
die Alten ihre Bewunderung zeigen, noch ehe sie den Schleier wieder
abgenommen oder zurückgeworfen zu haben scheinet, so war es nicht das
erstemal, daß sie die Alten sahen; ihr Bekenntnis durfte also nicht
aus dem itzigen augenblicklichen Anschauen entstehen, sondern sie
konnten schon oft empfunden haben, was sie zu empfinden, bei dieser
Gelegenheit nur zum erstenmal bekannten.  In dem GemÄlde findet so
etwas nicht statt.  Wenn ich hier entzückte Alte sehe, so will ich
auch zugleich sehen, was sie in Entzückung setzt; und ich werde
äußerst betroffen, wenn ich weiter nichts, als, wie gesagt, eine
vermummte, verschleierte Figur wahrnehme, die sie brünstig angaffen.
Was hat dieses Ding von der Helena?  Ihren weißen Schleier, und etwas
von ihrem proportionierten Umrisse, soweit Umriß unter Gewändern
sichtbar werden kann.  Doch vielleicht war es auch des Grafen Meinung
nicht, daß ihr Gesicht verdeckt sein sollte, und er nennet den
Schleier bloß als ein Stück ihres Anzuges.  Ist dieses (seine Worte
sind einer solchen Auslegung zwar nicht wohl fähig: Hélène couverte
d'un voile blanc), so entstehet eine andere Verwunderung bei mir: er
empfiehlt dem Artisten so sorgfältig den Ausdruck auf den Gesichtern
der Alten; nur über die SchÖnheit in dem Gesichte der Helena verliert
er kein Wort.  Diese sittsame Schönheit, im Auge den feuchten
Schimmer einer reuenden Träne, furchtsam sich nähernd--Wie?  Ist die
höchste Schönheit unsern Künstlern so etwas Geläufiges, daß sie auch
nicht daran erinnert zu werden brauchen?  Oder ist Ausdruck mehr als
Schönheit?  Und sind wir auch in Gemälden schon gewohnt, so wie auf
der Bühne, die häßlichste Schauspielerin für eine entzückende
Prinzessin gelten zu lassen, wenn ihr Prinz nur recht warme Liebe
gegen sie zu empfinden äußert?

In Wahrheit: das Gemälde des Caylus würde sich gegen das Gemälde des
Zeuxis wie Pantomime zur erhabensten Poesie verhalten.

Homer ward vor alters ohnstreitig fleißiger gelesen, als itzt.
Dennoch findet man so gar vieler Gemälde nicht erwähnet, welche die
alten Künstler aus ihm gezogen hätten 2).  Nur den Fingerzeig des
Dichters auf besondere körperliche Schönheiten scheinen sie fleißig
genutzt zu haben; diese malten sie; und in diesen Gegenständen,
fühlten sie wohl, war es ihnen allein vergönnet, mit dem Dichter
wetteifern zu wollen.  Außer der Helena, hatte Zeuxis auch die
Penelope gemalt; und des Apelles Diana war die Homerische in
Begleitung ihrer Nymphen.  Bei dieser Gelegenheit will ich erinnern,
daß die Stelle des Plinius, in welcher von der letztern die Rede ist,
einer Verbesserung bedarf 3).  Handlungen aber aus dem Homer zu malen,
bloß weil sie eine reiche Komposition, vorzügliche Kontraste,
künstliche Beleuchtungen darbieten, schien der alten Artisten ihr
Geschmack nicht zu sein; und konnte es nicht sein, solange sich noch
die Kunst in den engern Grenzen ihrer höchsten Bestimmung hielt.  Sie
nährten sich dafür mit dem Geiste des Dichters; sie füllten ihre
Einbildungskraft mit seinen erhabensten Zügen; das Feuer seines
Enthusiasmus entflammte den ihrigen; sie sahen und empfanden wie er:
und so wurden ihre Werke Abdrücke der Homerischen, nicht in dem
Verhältnisse eines Porträts zu seinem Originale, sondern in dem
Verhältnisse eines Sohnes zu seinem Vater; ähnlich, aber verschieden.
Die Ähnlichkeit liegt öfters nur in einem einzigen Zuge; die übrigen
alle haben unter sich nichts Gleiches, als daß sie mit dem ähnlichen
Zuge, in dem einen sowohl als in dem andern harmonieren.

{2. Fabricii Biblioth. Graec. lib. II. cap. 6. p. 345.}

{3. Plinius sagt von dem Apelles (Libr. XXXV. sect. 36. p. 698. Edit.
Hard.): Fecit et Dianam sacrificantium virginum choro mixtam:
quibus vicisse Homeri versus videtur id ipsum describentis.  Nichts
kann wahrer, als dieser Lobspruch gewesen sein.  Schöne Nymphen um
eine schöne Göttin her, die mit der ganzen majestätischen Stirne über
sie hervorragt, sind freilich ein Vorwurf, der der Malerei
angemessener ist, als der Poesie.  Das sacrificantium nur ist mir
höchst verdächtig.  Was macht die Göttin unter opfernden Jungfrauen?
Und ist dieses die Beschäftigung, die Homer den Gespielinnen der
Diana gibt?  Mit nichten; sie durchstreifen mit ihr Berge und Wälder,
sie jagen, sie spielen, sie tanzen (Odyss.  Z. v. 102-106):

  Oih d' ArtemiV eisi kat' oureoV ioceaira
  H kata Thugeton perimhketon, h ErumanJon
  Terpomenh kaproisi kai wkeihV elajoisi·
  Th de J' ama Numjai, kourai DioV Aigiocoio,
  Agronomoi paizousi·--


Plinius wird also nicht sacrificantium, er wird venantium, oder etwas
Ähnliches geschrieben haben; vielleicht silvis vagantium, welche
Verbesserung die Anzahl der veränderten Buchstaben ohngefähr hätte.
Dem paizousi beim Homer wÜrde saltantium am nächsten kommen, und auch
Virgil läßt, in seiner Nachahmung dieser Stelle, die Diana mit ihren
Nymphen tanzen (Aeneid.  I. v. 497. 498):

  Qualis in Eurotae ripis, aut per juga Cynthi
  Exercet Diana choros--


Spence hat hierbei einen seltsamen Einfall (Polymetis Dial.  VIII. p.
102.): This Diana, sagt er, both in the picture and in the
descriptions, was the Diana Venatrix, tho' she was not represented
either by Virgil, or Apelles, or Homer, as hunting with her nymphs;
bot as employed with them in that sort of dances, which of old were
regarded as very solemn acts of devotion.  In seiner Anmerkung fÜgt
er hinzu: The expression of paizein, used by Homer on this occasion,
is scarce proper for hunting; as that of, choros exercere in Virgil,
should be understood of the religious dances of old, because dancing,
in the old Roman idea of it, was indecent even for men, in public;
unless it were the sort of dances used in honour of Mars, or Bacchus,
or some other of their gods.  Spence will nÄmlich jene feierliche
Tänze verstanden wissen, welche bei den Alten mit unter die
gottesdienstlichen Handlungen gerechnet wurden.  Und daher, meinet er,
brauche denn auch Plinius das Wort sacrificare: It is in consequence
of this that Pliny, in speaking of Diana's nymphs on this very
occasion, uses the word, sacrificare, of them; which quite determines
these dances of theirs to have been of the religious kind.  Er
vergißt, daß bei dem Virgil die Diana selbst mittanzet: exercet Diana
choros.  Sollte nun dieser Tanz ein gottesdienstlicher Tanz sein: zu
wessen Verehrung tanzte ihn die Diana?  Zu ihrer eignen?  Oder zur
Verehrung einer andern Gottheit?  Beides ist widersinnig.  Und wenn
die alten RÖmer das Tanzen überhaupt einer ernsthaften Person nicht
für sehr anständig hielten, mußten darum ihre Dichter die Gravität
ihres Volkes auch in die Sitten der Götter übertragen, die von den
ältern griechischen Dichtern ganz anders festgesetzet waren?  Wenn
Horaz von der Venus sagt (Od.  IV. lib. 1):

  Jam Cytherea choros ducit Venus, imminente luna:
    Junctaeque Nymphis Gratiae decentes.
  Alterno terram quatiunt pede--


waren dieses auch heilige gottesdienstliche TÄnze?  Ich verliere zu
viele Worte Über eine solche Grille.}

Da übrigens die Homerischen Meisterstücke der Poesie älter waren als
irgendein Meisterstück der Kunst; da Homer die Natur eher mit einem
malerischen Auge betrachtet hatte, als ein Phidias und Apelles: so
ist es nicht zu verwundern, daß die Artisten verschiedene ihnen
besonders nützliche Bemerkungen, ehe sie Zeit hatten, sie in der
Natur selbst zu machen, schon bei dem Homer gemacht fanden, wo sie
dieselben begierig ergriffen, um durch den Homer die Natur
nachzuahmen.  Phidias bekannte, daß die Zeilen 4):

{4. Iliad. A. v. 528. Valerius Maximus lib. III. cap. 7.}

  H, kai kuanehsin ep' ojrusi neuse Kroniwn·
  Ambrosiai d' ara caitai eperrwsanto anaktoV,
  KratoV ap' aJanatoio· megan d' elelixen Olumpon·


ihm bei seinem olympischen Jupiter zum Vorbilde gedienet, und daß ihm
nur durch ihre Hilfe ein gÖttliches Antlitz, propemodum ex ipso coelo
petitum, gelungen sei.  Wem dieses nichts mehr gesagt heißt, als daß
die Phantasie des KÜnstlers durch das erhabene Bild des Dichters
befeuert, und ebenso erhabener Vorstellungen fÄhig gemacht worden,
der, dünkt mich, übersieht das Wesentlichste, und begnügt sich mit
etwas ganz Allgemeinem, wo sich, zu einer weit gründlichern
Befriedigung, etwas sehr Spezielles angeben läßt.  Soviel ich urteile,
bekannte Phidias zugleich, daß er in dieser Stelle zuerst bemerkt
habe, wie viel Ausdruck in den Augenbraunen liege, quanta pars animi
5) sich in ihnen zeige.  Vielleicht, daß sie ihn auch auf das Haar
mehr Fleiß zu wenden bewegte, um das einigermaßen auszudrücken, was
Homer ambrosisches Haar nennet.  Denn es ist gewiß, daß die alten
Künstler vor dem Phidias das Sprechende und Bedeutende der Mienen
wenig verstanden, und besonders das Haar sehr vernachlässiget hatten.
Noch Myron war in beiden Stücken tadelhaft, wie Plinius anmerkt 6),
und nach ebendemselben war Pythagoras Leontinus der erste, der sich
durch ein zierliches Haar hervortat 7).  Was Phidias aus dem Homer
lernte, lernten die andern Künstler aus den Werken des Phidias.

{5. Plinius lib. XI. sect. 51. p. 616. Edit. Hard.}

{6. Idem lib. XXXIV. sect. 19. p. 651. Ipse tamen corporum tenus
curiosus, animi sensus non expressisse videtur, capillum quoque et
pubem non emendatius fecisse, quam rudis antiquitas instituisset.}

{7. Ibid.  Hic primus nervos et venas expressit, capillumque
diligentius.}

Ich will noch ein Beispiel dieser Art anführen, welches mich allezeit
sehr vergnügt hat.  Man erinnere sich, was Hogarth über den Apollo zu
Belvedere anmerkt 8).  "Dieser Apollo", sagt er, "und der Antinous
sind beide in ebendemselben Palaste zu Rom zu sehen.  Wenn aber
Antinous den Zuschauer mit Verwunderung erfüllet, so setzet ihn der
Apollo in Erstaunen; und zwar, wie sich die Reisenden ausdrücken,
durch einen Anblick, welcher etwas mehr als Menschliches zeiget,
welches sie gemeiniglich gar nicht zu beschreiben imstande sind.  Und
diese Wirkung ist, sagen sie, um desto bewundernswürdiger, da, wenn
man es untersucht, das Unproportionierliche daran auch einem gemeinen
Auge klar ist.  Einer der besten Bildhauer, welche wir in England
haben, der neulich dahin reisete, diese Bildsäule zu sehen,
bekräftigte mir das, was itzo gesagt worden, besonders, daß die Füße
und Schenkel, in Ansehung der obern Teile, zu lang und zu breit sind.
Und Andreas Sacchi, einer der größten italienischen Maler, scheinet
eben dieser Meinung gewesen zu sein, sonst würde er schwerlich (in
einem berühmten Gemälde, welches itzo in England ist) seinem Apollo,
wie er den Tonkünstler Pasquilini krönet, das völlige Verhältnis des
Antinous gegeben haben, da er übrigens wirklich eine Kopie von dem
Apollo zu sein scheinet.  Ob wir gleich an sehr großen Werken oft
sehen, daß ein geringerer Teil aus der Acht gelassen worden, so kann
dieses doch hier der Fall nicht sein; denn an einer schönen Bildsäule
ist ein richtiges Verhältnis eine von ihren wesentlichen Schönheiten.
Daher ist zu schließen, daß diese Glieder mit Fleiß müssen sein
verlängert worden, sonst würde es leicht haben können vermieden
werden.  Wenn wir also die Schönheiten dieser Figur durch und durch
untersuchen, so werden wir mit Grunde urteilen, daß das, was man
bisher für unbeschreiblich vortrefflich an ihrem allgemeinen Anblicke
gehalten, von dem hergerühret hat, was ein Fehler in einem Teile
derselben zu sein geschienen."--Alles dieses ist sehr einleuchtend;
und schon Homer, füge ich hinzu, hat es empfunden und angedeutet, daß
es ein erhabenes Ansehen gibt, welches bloß aus diesem Zusatze von
Größe in den Abmessungen der Füße und Schenkel entspringet.  Denn
wenn Antenor die Gestalt des Ulysses mit der Gestalt des Menelaus
vergleichen will, so läßt er ihn sagen 9):

{8. "Zergliederung der Schönheit". S. 47. Berl. Ausg.}

{9. Iliad. G. 210. 211.}

  Stantwn men MenelaoV upeirecen eureaV wmouV,
  Amjw d' ezomenw, gerarwteroV hen OdusseuV.


"Wann beide standen, ragte Menelaus mit den breiten Schultern hoch
hervor; wann aber beide saßen, war Ulysses der Ansehnlichere." Da
Ulysses also das Ansehen im Sitzen gewann, welches Menelaus im Sitzen
verlor, so ist das VerhÄltnis leicht zu bestimmen, welches beider
Oberleib zu den FÜßen und Schenkeln gehabt.  Ulysses hatte einen
Zusatz von GrÖße in den Proportionen des erstern, Menelaus in den
Proportionen der letztern.



XXIII.


Ein einziger unschicklicher Teil kann die übereinstimmende Wirkung
vieler zur Schönheit stören.  Doch wird der Gegenstand darum noch
nicht häßlich.  Auch die Häßlichkeit erfodert mehrere unschickliche
Teile, die wir ebenfalls auf einmal müssen übersehen können, wenn wir
dabei das Gegenteil von dem empfinden sollen, was uns die Schönheit
empfinden läßt.

Sonach würde auch die Häßlichkeit, ihrem Wesen nach, kein Vorwurf der
Poesie sein können; und dennoch hat Homer die äußerste Häßlichkeit in
dem Thersites geschildert, und sie nach ihren Teilen nebeneinander
geschildert.  Warum war ihm bei der Häßlichkeit vergönnet, was er bei
der Schönheit so einsichtsvoll sich selbst untersagte?  Wird die
Wirkung der Häßlichkeit, durch die aufeinanderfolgende Enumeration
ihrer Elemente, nicht ebensowohl gehindert, als die Wirkung der
Schönheit durch die ähnliche Enumeration ihrer Elemente vereitelt
wird?

Allerdings wird sie das; aber hierin liegt auch die Rechtfertigung
des Homers.  Eben weil die Häßlichkeit in der Schilderung des
Dichters zu einer minder widerwärtigen Erscheinung körperlicher
Unvollkommenheiten wird, und gleichsam, von der Seite ihrer Wirkung,
Häßlichkeit zu sein aufhöret, wird sie dem Dichter brauchbar; und was
er vor sich selbst nicht nutzen kann, nutzt er als ein Ingrediens, um
gewisse vermischte Empfindungen hervorzubringen und zu verstärken,
mit welchen er uns, in Ermangelung rein angenehmer Empfindungen,
unterhalten muß.

Diese vermischte Empfindungen sind das Lächerliche, und das
Schreckliche.

Homer macht den Thersites häßlich, um ihn lächerlich zu machen.  Er
wird aber nicht durch seine bloße Häßlichkeit lächerlich; denn
Häßlichkeit ist Unvollkommenheit, und zu dem Lächerlichen wird ein
Kontrast von Vollkommenheiten und Unvollkommenheiten erfodert 1).
Dieses ist die Erklärung meines Freundes, zu der ich hinzusetzen
möchte, daß dieser Kontrast nicht zu krall und zu schneidend sein muß,
daß die Opposita, um in der Sprache der Maler fortzufahren, von der
Art sein müssen, daß sie sich ineinander verschmelzen lassen.  Der
weise und rechtschaffene Aesop wird dadurch, daß man ihm die
Häßlichkeit des Thersites gegeben, nicht lächerlich.  Es war eine
alberne Mönchsfratze, das Geloion seiner lehrreichen Märchen,
vermittelst der Ungestaltheit auch in seine Person verlegen zu wollen.
Denn ein mißgebildeter Körper und eine schöne Seele sind wie Öl und
Essig, die, wenn man sie schon ineinander schlägt, für den Geschmack
doch immer getrennet bleiben.  Sie gewähren kein Drittes; der Körper
erweckt Verdruß, die Seele Wohlgefallen; jedes das seine für sich.
Nur wenn der mißgebildete Körper zugleich gebrechlich und kränklich
ist, wenn er die Seele in ihren Wirkungen hindert, wenn er die Quelle
nachteiliger Vorurteile gegen sie wird: alsdenn fließen Verdruß und
Wohlgefallen ineinander; aber die neue daraus entspringende
Erscheinung ist nicht Lachen, sondern Mitleid, und der Gegenstand,
den wir ohne dieses nur hochgeachtet hätten, wird interessant.  Der
mißgebildete gebrechliche Pope mußte seinen Freunden weit
interessanter sein, als der schöne und gesunde Wycherley den seinigen.
--So wenig aber Thersites durch die bloße Häßlichkeit lächerlich wird,
ebensowenig würde er es ohne dieselbe sein.  Die Häßlichkeit; die
Übereinstimmung dieser Häßlichkeit mit seinem Charakter; der
Widerspruch, den beide mit der Idee machen, die er von seiner eigenen
Wichtigkeit heget; die unschädliche, ihn allein demütigende Wirkung
seines boshaften Geschwätzes: alles muß zusammen zu diesem Zwecke
wirken.  Der letztere Umstand ist das Ou jJartikon, welches
Aristoteles 2) unumgänglich zu dem Lächerlichen verlanget; so wie es
auch mein Freund zu einer notwendigen Bedingung macht, daß jener
Kontrast von keiner Wichtigkeit sein, und uns nicht sehr
interessieren müsse.  Denn man nehme auch nur an, daß dem Thersites
selbst seine hämische Verkleinerung des Agamemnons teurer zu stehen
gekommen wäre, daß er sie, anstatt mit ein paar blutigen Schwielen,
mit dem Leben bezahlen müssen: und wir würden aufhören, über ihn zu
lachen.  Denn dieses Scheusal von einem Menschen ist doch ein Mensch,
dessen Vernichtung uns stets ein größeres Übel scheinet, als alle
seine Gebrechen und Laster.  Um die Erfahrung hiervon zu machen, lese
man sein Ende bei dem Quintus Calaber 3).  Achilles bedauert, die
Penthesilea getötet zu haben: die Schönheit in ihrem Blute, so tapfer
vergossen, fodert die Hochachtung und das Mitleid des Helden; und
Hochachtung und Mitleid werden Liebe.  Aber der schmähsüchtige
Thersites macht ihm diese Liebe zu einem Verbrechen.  Er eifert wider
die Wollust, die auch den wackersten Mann zu Unsinnigkeiten verleite;

{1. Philos.  Schriften des Hrn. Moses Mendelssohn T. II. S. 23.}

{2. De poetica cap. V.}

{3. Paralipom. lib. I. v. 720-775.}

  --ht' ajrona jvta tiJhsi
  Kai pinuton per eonta.--


Achilles ergrimmt, und ohne ein Wort zu versetzen, schlÄgt er ihn so
unsanft zwischen Back' und Ohr, daß ihm Zähne, und Blut und Seele mit
eins aus dem Halse stÜrzen.  Zu grausam!  Der jachzornige mÖrderische
Achilles wird mir verhaßter, als der tückische knurrende Thersites;
das Freudengeschrei, welches die Griechen über diese Tat erheben,
beleidiget mich; ich trete auf die Seite des Diomedes, der schon das
Schwert zucket, seinen Anverwandten an dem Mörder zu rächen: denn ich
empfinde es, daß Thersites auch mein Anverwandter ist, ein Mensch.

Gesetzt aber gar, die Verhetzungen des Thersites wären in Meuterei
ausgebrochen, das aufrührerische Volk wäre wirklich zu Schiffe
gegangen und hätte seine Heerführer verräterisch zurückgelassen, die
Heerführer wären hier einem rachsüchtigen Feinde in die Hände
gefallen, und dort hätte ein göttliches Strafgerichte über Flotte und
Volk ein gänzliches Verderben verhangen: wie würde uns alsdenn die
Häßlichkeit des Thersites erscheinen?  Wenn unschädliche Häßlichkeit
lächerlich werden kann, so ist schädliche Häßlichkeit allezeit
schrecklich.  Ich weiß dieses nicht besser zu erläutern, als mit ein
paar vortrefflichen Stellen des Shakespeare: Edmund, der Bastard des
Grafen von Gloster, im "König Lear", ist kein geringerer Bösewicht,
als Richard, Herzog von Gloucester, der sich durch die
abscheulichsten Verbrechen den Weg zum Throne bahnte, den er unter
dem Namen Richard der Dritte bestieg. Aber wie kommt es, daß jener
bei weitem nicht so viel Schaudern und Entsetzen erwecket als dieser?
Wenn ich den Bastard sagen höre 4):

{4. King Lear. Act. I. Sc. II.}

  Thou, nature, art my goddess, to thy law
  My services are bound; wherefore should I
  Stand in the plague of custom, and permit
  The courtesy of nations to deprive me,
  For that I am some twelve, or fourteen moonshines
  Lag of a brother? Why bastard? wherefore base?
  When my dimensions are as well compact,
  My mind as gen'rous, and my shape as true
  As honest madam's issue? Why brand they thus
  With base? with baseness? bastardy, base? base?
  Who, in the lusty stealth of nature, take
  More composition and fierce quality,
  Than doth, within a dull, stale, tired bed,
  Go to creating, a whole tribe of fops,
  Got' 'tween a-sleep and wake?


so hÖre ich einen Teufel, aber ich sehe ihn in der Gestalt eines
Engels des Lichts.  Höre ich hingegen den Grafen von Gloucester sagen
5):

{5. The life and death of Richard III. Act. I. Sc. 1.}

  But I, that am not shap'd for sportive tricks
  Nor made to court an am'rous looking-glass,
  I, that am rudely stampt, and want love's majesty
  To strut before a wanton, ambling nymph;
  I, that am curtail'd of this fair proportion,
  Cheated of feature by dissembling nature,
  Deform'd, unfinish'd, sent before my time
  Into this breathing world, scarce half made up,
  And that so lamely and unfashionably,
  That dogs bark at me, as I halt by them:
  Why I (in this weak piping time of peace)
  Have no delight to pass away the time;
  Unless to spy my shadow in the sun,
  And descant on mine own deformity.
  And therefore, since I cannot prove a lover,
  To entertain these fair well-spoken days,
  I am determined, to prove a villain!


so hÖre ich einen Teufel, und sehe einen Teufel; in einer Gestalt,
die der Teufel allein haben sollte.



XXIV.


So nutzt der Dichter die HÄßlichkeit der Formen: welchen Gebrauch ist
dem Maler davon zu machen vergönnet?

Die Malerei, als nachahmende Fertigkeit, kann die Häßlichkeit
ausdrÜcken; die Malerei, als schöne Kunst, will sie nicht ausdrücken.
Als jener, gehören ihr alle sichtbare Gegenstände zu; als diese,
schließt sie sich nur auf diejenigen sichtbaren Gegenstände ein,
welche angenehme Empfindungen erwecken.

Aber gefallen nicht auch die unangenehmen Empfindungen in der
Nachahmung?  Nicht alle.  Ein scharfsinniger Kunstrichter 1) hat
dieses bereits von dem Ekel bemerkt.  "Die Vorstellungen der Furcht,"
sagt er, "der Traurigkeit, des Schreckens, des Mitleids usw. können
nur Unlust erregen, insoweit wir das Übel für wirklich halten.  Diese
können also durch die Erinnerung, daß es ein künstlicher Betrug sei,
in angenehme Empfindungen aufgelöset werden.  Die widrige Empfindung
des Ekels aber erfolgt, vermöge des Gesetzes der Einbildungskraft auf
die bloße Vorstellung in der Seele, der Gegenstand mag für wirklich
gehalten werden, oder nicht.  Was hilft's dem beleidigten Gemüte also,
wenn sich die Kunst der Nachahmung noch so sehr verrät?  Ihre Unlust
entsprang nicht aus der Voraussetzung, daß das Übel wirklich sei,
sondern aus der bloßen Vorstellung desselben, und diese ist wirklich
da.  Die Empfindungen des Ekels sind also allezeit Natur, niemals
Nachahmung."

{1. Briefe die neueste Literatur betreffend, T. V. S. 102.}

Eben dieses gilt von der Häßlichkeit der Formen.  Diese Häßlichkeit
beleidiget unser Gesicht, widerstehet unserm Geschmacke an Ordnung
und Übereinstimmung, und erwecket Abscheu, ohne Rücksicht auf die
wirkliche Existenz des Gegenstandes, an welchem wir sie wahrnehmen.
Wir mögen den Thersites weder in der Natur noch im Bilde sehen; und
wenn schon sein Bild weniger mißfällt, so geschieht dieses doch nicht
deswegen, weil die Häßlichkeit seiner Form in der Nachahmung
Häßlichkeit zu sein aufhöret, sondern weil wir das Vermögen besitzen,
von dieser Häßlichkeit zu abstrahieren, und uns bloß an der Kunst des
Malers zu vergnügen.  Aber auch dieses Vergnügen wird alle
Augenblicke durch die Überlegung unterbrochen, wie übel die Kunst
angewendet worden, und diese Überlegung wird selten fehlen, die
Geringschätzung des Künstlers nach sich zu ziehen.

Aristoteles gibt eine andere Ursache an 2), warum Dinge, die wir in
der Natur mit Widerwillen erblicken, auch in der getreuesten
Abbildung Vergnügen gewähren; die allgemeine Wißbegierde des Menschen.
Wir freuen uns, wenn wir entweder aus der Abbildung lernen können,
ti ekaston, was ein jedes Ding ist, oder wenn wir daraus schließen
können, oti outoV ekeinoV, daß es dieses oder jenes ist.  Allein auch
hieraus folget, zum Besten der Häßlichkeit in der Nachahmung, nichts.
Das Vergnügen, welches aus der Befriedigung unserer Wißbegierde
entspringt, ist momentan, und dem Gegenstande, über welchen sie
befriediget wird, nur zufällig; das Mißvergnügen hingegen, welches
den Anblick der Häßlichkeit begleitet, permanent, und dem Gegenstande,
der es erweckt, wesentlich.  Wie kann also jenes diesem das
Gleichgewicht halten?  Noch weniger kann die kleine angenehme
Beschäftigung, welche uns die Bemerkung der Ähnlichkeit macht, die
unangenehme Wirkung der Häßlichkeit besiegen.  Je genauer ich das
häßliche Nachbild mit dem häßlichen Urbilde vergleiche, desto mehr
stelle ich mich dieser Wirkung bloß, so daß das Vergnügen der
Vergleichung gar bald verschwindet, und mir nichts als der widrige
Eindruck der verdoppelten Häßlichkeit übrig bleibet.  Nach den
Beispielen, welche Aristoteles gibt, zu urteilen, scheinet es, als
habe er auch selbst die Häßlichkeit der Formen nicht mit zu den
mißfälligen Gegenständen rechnen wollen, die in der Nachahmung
gefallen können.  Diese Beispiele sind: reißende Tiere und Leichname.
Reißende Tiere erregen Schrecken, wenn sie auch nicht häßlich sind;
und dieses Schrecken, nicht ihre Häßlichkeit, ist es, was durch die
Nachahmung in angenehme Empfindung aufgelöset wird.  So auch mit den
Leichnamen; das schärfere Gefühl des Mitleids, die schreckliche
Erinnerung an unsere eigene Vernichtung ist es, welche uns einen
Leichnam in der Natur zu einem widrigen Gegenstande macht; in der
Nachahmung aber verlieret jenes Mitleid, durch die Überzeugung des
Betrugs, das Schneidende, und von dieser fatalen Erinnerung kann uns
ein Zusatz von schmeichelhaften Umständen entweder gänzlich abziehen,
oder sich so unzertrennlich mit ihr vereinen, daß wir mehr
Wünschenswürdiges als Schreckliches darin zu bemerken glauben.

{2. De poetica cap. IV.}

Da also die Häßlichkeit der Formen, weil die Empfindung, welche sie
erregt, unangenehm, und doch nicht von derjenigen Art unangenehmer
Empfindungen ist, welche sich durch die Nachahmung in angenehme
verwandeln, an und vor sich selbst kein Vorwurf der Malerei, als
schöner Kunst, sein kann: so käme es noch darauf an, ob sie ihr,
nicht ebensowohl wie der Poesie, als Ingrediens, um andere
Empfindungen zu verstärken, nützlich sein könne.

Darf die Malerei, zu Erreichung des Lächerlichen und Schrecklichen,
sich häßlicher Formen bedienen?

Ich will es nicht wagen, so gradezu mit Nein hierauf zu antworten.
Es ist unleugbar, daß unschädliche Häßlichkeit auch in der Malerei
lächerlich werden kann; besonders wenn eine Affektation nach Reiz und
Ansehen damit verbunden wird.  Es ist ebenso unstreitig, daß
schädliche Häßlichkeit, so wie in der Natur, also auch im Gemälde
Schrecken erwecket; und daß jenes Lächerliche und dieses Schreckliche,
welches schon vor sich vermischte Empfindungen sind, durch die
Nachahmung einen neuen Grad von Anzüglichkeit und Vergnügung erlangen.

Ich muß aber zu bedenken geben, daß demohngeachtet sich die Malerei
hier nicht völlig mit der Poesie in gleichem Falle befindet.  In der
Poesie, wie ich angemerket, verlieret die Häßlichkeit der Form, durch
die Veränderung ihrer koexistierenden Teile in sukzessive, ihre
widrige Wirkung fast gänzlich; sie höret von dieser Seite gleichsam
auf, Häßlichkeit zu sein, und kann sich daher mit andern
Erscheinungen desto inniger verbinden, um eine neue besondere Wirkung
hervorzubringen.  In der Malerei hingegen hat die Häßlichkeit alle
ihre Kräfte beisammen, und wirket nicht viel schwächer, als in der
Natur selbst.  Unschädliche Häßlichkeit kann folglich nicht wohl
lange lächerlich bleiben; die unangenehme Empfindung gewinnet die
Oberhand, und was in den ersten Augenblicken possierlich war, wird in
der Folge bloß abscheulich.  Nicht anders gehet es mit der
schädlichen Häßlichkeit; das Schreckliche verliert sich nach und nach,
und das Unförmliche bleibt allein und unveränderlich zurück.

Dieses überlegt, hatte der Graf Caylus vollkommen recht, die Episode
des Thersites aus der Reihe seiner Homerischen Gemälde wegzulassen.
Aber hat man darum auch recht, sie aus dem Homer selbst
wegzuwünschen?  Ich finde ungern, daß ein Gelehrter, von sonst sehr
richtigem und feinem Geschmacke, dieser Meinung ist 3).  Ich verspare
es auf einen andern Ort, mich weitläufiger darüber zu erklären.

{3. Klotzii epistolae Homericae, p. 32. et seq.}



XXV.


Auch der zweite Unterschied, welchen der angeführte Kunstrichter
zwischen dem Ekel und andern unangenehmen Leidenschaften der Seele
findet, äußert sich bei der Unlust, welche die Häßlichkeit der Formen
in uns erwecket.

"Andere unangenehme Leidenschaften", sagte er 1), "können auch außer
der Nachahmung, in der Natur selbst, dem Gemüte öfters schmeicheln,
indem sie niemals reine Unlust erregen, sondern ihre Bitterkeit
allezeit mit Wollust vermischen.  Unsere Furcht ist selten von aller
Hoffnung entblößt; der Schrecken belebt alle unsere Kräfte, der
Gefahr auszuweichen; der Zorn ist mit der Begierde sich zu rächen,
die Traurigkeit mit der angenehmen Vorstellung der vorigen
Glückseligkeit verknüpft, und das Mitleiden ist von den zärtlichen
Empfindungen der Liebe und Zuneigung unzertrennlich.  Die Seele hat
die Freiheit, sich bald bei dem vergnüglichen, bald bei dem widrigen
Teile einer Leidenschaft zu verweilen, und sich eine Vermischung von
Lust und Unlust selbst zu schaffen, die reizender ist, als das
lauterste Vergnügen.  Es braucht nur sehr wenig Achtsamkeit auf sich
selber, um dieses vielfältig beobachtet zu haben; und woher käme es
denn sonst, daß dem Zornigen sein Zorn, dem Traurigen seine Unmut
lieber ist, als alle freudige Vorstellungen, dadurch man ihn zu
beruhigen gedenket?  Ganz anders aber verhält es sich mit dem Ekel
und den ihm verwandten Empfindungen.  Die Seele erkennet in demselben
keine merkliche Vermischung von Lust.  Das Mißvergnügen gewinnet die
Oberhand, und daher ist kein Zustand, weder in der Natur noch in der
Nachahmung, zu erdenken, in welchem das Gemüt nicht von diesen
Vorstellungen mit Widerwillen zurückweichen sollte."

{1. Klotzii epistolae Homericae, p. 103.}

Vollkommen richtig; aber da der Kunstrichter selbst, noch andere mit
dem Ekel verwandten Empfindungen erkennet, die gleichfalls nichts als
Unlust gewähren, welche kann ihm näher verwandt sein, als die
Empfindung des Häßlichen in den Formen?  Auch diese ist in der Natur
ohne die geringste Mischung von Lust; und da sie deren ebensowenig
durch die Nachahmung fähig wird, so ist auch von ihr kein Zustand zu
erdenken, in welchem das Gemüt von ihrer Vorstellung nicht mit
Widerwillen zurückweichen sollte.

Ja dieser Widerwille, wenn ich anders mein Gefühl sorgfältig genug
untersucht habe, ist gänzlich von der Natur des Ekels.  Die
Empfindung, welche die Häßlichkeit der Form begleitet, ist Ekel, nur
in einem geringern Grade.  Dieses streitet zwar mit einer andern
Anmerkung des Kunstrichters, nach welcher er nur die allerdunkelsten
Sinne, den Geschmack, den Geruch und das Gefühl, dem Ekel ausgesetzet
zu sein glaubet.  "Jene beide" sagt er, "durch eine übermäßige
Süßigkeit, und dieses durch eine allzugroße Weichheit der Körper, die
den berührenden Fibern nicht genugsam widerstehen.  Diese Gegenstände
werden sodann auch dem Gesichte unerträglich, aber bloß durch die
Assoziation der Begriffe, indem wir uns des Widerwillens erinnern,
den sie dem Geschmacke, dem Geruche oder dem Gefühle verursachen.
Denn eigentlich zu reden, gibt es keine Gegenstände des Ekels für das
Gesicht." Doch mich dünkt, es lassen sich dergleichen allerdings
nennen.  Ein Feuermal in dem Gesichte, eine Hasenscharte, eine
gepletschte Nase mit vorragenden Löchern, ein gänzlicher Mangel der
Augenbraunen, sind Häßlichkeiten, die weder dem Geruche, noch dem
Geschmacke, noch dem Gefühle zuwider sein können.  Gleichwohl ist es
gewiß, daß wir etwas dabei empfinden, welches dem Ekel schon viel
näher kömmt, als das, was uns andere Unförmlichkeiten des Körpers,
ein krummer Fuß, ein hoher Rücken, empfinden lassen; je zärtlicher
das Temperament ist, desto mehr werden wir von den Bewegungen in dem
Körper dabei fühlen, welche vor dem Erbrechen vorhergehen.  Nur daß
diese Bewegungen sich sehr bald wieder verlieren, und schwerlich ein
wirkliches Erbrechen erfolgen kann; wovon man allerdings die Ursache
darin zu suchen hat, daß es Gegenstände des Gesichts sind, welches in
ihnen, und mit ihnen zugleich, eine Menge Realitäten wahrnimmt, durch
deren angenehme Vorstellungen jene unangenehme so geschwächt und
verdunkelt wird, daß sie keinen merklichen Einfluß auf den Körper
haben kann.  Die dunkeln Sinne hingegen, der Geschmack, der Geruch,
das Gefühl, können dergleichen Realitäten, indem sie von etwas
Widerwärtigem gerühret werden, nicht mitbemerken; das Widerwärtige
wirkt folglich allein und in seiner ganzen Stärke, und kann nicht
anders als auch in dem Körper von einer weit heftigern Erschütterung
begleitet sein.

Übrigens verhält sich auch zur Nachahmung das Ekelhafte vollkommen so,
wie das Häßliche.  Ja, da seine unangenehme Wirkung die heftigere
ist, so kann es noch weniger als das Häßliche an und vor sich selbst
ein Gegenstand weder der Poesie, noch der Malerei werden.  Nur weil
es ebenfalls durch den wörtlichen Ausdruck sehr gemildert wird,
getrauete ich mich doch wohl zu behaupten, daß der Dichter,
wenigstens einige ekelhafte Züge als ein Ingrediens zu den nämlichen
vermischten Empfindungen brauchen könne, die er durch das Häßliche
mit so gutem Erfolge verstärket.

Das Ekelhafte kann das Lächerliche vermehren; oder Vorstellungen der
Würde, des Anstandes, mit dem Ekelhaften in Kontrast gesetzet, werden
lächerlich.  Exempel hiervon lassen sich bei dem Aristophanes in
Menge finden.  Das Wiesel fällt mir ein, welches den guten Sokrates
in seinen astronomischen Beschauungen unterbrach 2).

{2. Nubes v. 169-174.}

  MAQ.   Prwhn de ge gnwmhn megalhn ajhreJh
  Up' askalabwtou.   STR.   Tina tropon; kateipe moi.
  MAQ.   ZhtountoV autou thV selhnhV tas odouV
  Kai taV perijoraV, eit' anw kechnotoV
  Apo thV orojhV nuktwr galewthV katecesen.
  STR.   HsJhn galewth katacesanti SwkratouV.


Man lasse es nicht ekelhaft sein, was ihm in den offenen Mund fÄllt,
und das Lächerliche ist verschwunden.  Die drolligsten ZÜge von
dieser Art hat die hottentottische Erzählung: Tquassouw und
Knonmquaiha, in dem "Kenner", einer englischen Wochenschrift voller
Laune, die man dem Lord Chesterfield zuschreibet.  Man weiß, wie
schmutzig die Hottentotten sind; und wie vieles sie für schÖn und
zierlich und heilig halten, was uns Ekel und Abscheu erwecket.  Ein
gequetschter Knorpel von Nase, schlappe bis auf den Nabel
herabhängende Brüste, den ganzen Körper mit einer Schminke aus
Ziegenfett und Ruß an der Sonne durchbeizet, die Haarlocken von
Schmer triefend, Füße und Arme mit frischem Gedärme umwunden: dies
denke man sich an dem Gegenstande einer feurigen, ehrfurchtsvollen,
zärtlichen Liebe; dies höre man in der edeln Sprache des Ernstes und
der Bewunderung ausgedrückt, und enthalte sich des Lachens 3)!

{3. The Connoisseur, Vol. I. No. 21. Von der Schönheit der
Knonmquaiha heißt es: He was struck with the glossy hue of her
complexion, which shone like the jetty down on the black hogs of
Hessaqua; he was ravished with the prest gristle of her nose; and his
eys dwelt with admiration on the flaccid beauties of her breasts,
which descended to her navel.  Und was trug die Kunst bei, so viel
Reize in ihr vorteilhaftes Licht zu setzen?  She made a varnish of
the fat of goats mixed with soot, with which she anointed her whole
body, as she stood beneath the rays of the sun; her locks were
clotted with melted grease, and powdered with the yellow dust of
Buchu; her face, which shone like the polished ebony, was beautifully
varied with spots of red earth, and appeared like the sable curtain
of the night bespangled with stars: she sprinkled her limbs with
woodashes, and perfumed them with the dung of Stinkbingsem.  Her arms
and legs were entwined with the shining entrails of an heifer: from
her neck there hung a pouch composed of the stomach of a kid: the
wings of an ostrich overshadowed the fleshy promontories behind; and
before she wore an apron formed of the shaggy ears of a lion.  Ich
füge noch die Zeremonie der Zusammengebung des verliebten Paares
hinzu: The Surri or chief priest approached them, and in a deep voice
chanted the nuptial rites to the melodious grumbling of the Gom-Gom;
and at the same time (according to the manner of Caffraria) bedewed
them plentifully with the urinary benediction.  The bride and
bridegroom rubbed in the precious stream with extasy, while the briny
drops trikled from their bodies; like the oozy surge from the rocks
of Chirigriqua.}

Mit dem Schrecklichen scheinet sich das Ekelhafte noch inniger
vermischen zu können.  Was wir das Gräßliche nennen, ist nichts als
ein ekelhaftes Schreckliche.  Dem Longin 4) mißfällt zwar in dem
Bilde der Traurigkeit beim Hesiodus 5) das ThV ek men rinvn muxai
reon; doch mich dünkt, nicht sowohl weil es ein ekler Zug ist, als
weil es ein bloß ekler Zug ist, der zum Schrecklichen nichts beiträgt.
Denn die langen über die Finger hervorragenden Nägel (makroi d'
onuceV ceiressin uphsan) scheinet er nicht tadeln zu wollen.
Gleichwohl sind lange Nägel nicht viel weniger ekel, als eine
fließende Nase.  Aber die langen Nägel sind zugleich schrecklich;
denn sie sind es, welche die Wangen zerfleischen, daß das Blut davon
auf die Erde rinnet:

{4. Peri uyouV, tmhma h, p. 18. edit. T. Fabri.}

{5. Scut. Hercul. v. 266.}

  --ek de pareivn
  Aim' apeleibet' eraze--


Hingegen eine fließende Nase, ist weiter nichts als eine fließende
Nase; und ich rate der Traurigkeit nur, das Maul zuzumachen.  Man
lese bei dem Sophokles die Beschreibung der Öden Höhle des
unglÜcklichen Philoktet.  Da ist nichts von Lebensmitteln, nichts von
Bequemlichkeiten zu sehen; außer eine zertretene Streu von dürren
BlÄttern, ein unförmlicher hölzerner Becher, ein Feuergerät.  Der
ganze Reichtum des kranken verlassenen Mannes!  Womit vollendet der
Dichter dieses traurige fürchterliche Gemälde.  Mit einem Zusatze von
Ekel.  "Ha!" fährt Neoptolem auf einmal zusammen, "hier trockenen
zerrissene Lappen voll Blut und Eiter 6)!"

{6. Philoct. v. 31-39.}

  NE.  Orv kenhn oikhsin anJrwpwn dica.
  OD.  Oud' endon oikopoioV esti tiV trojh;
  NE.  Steipth ge jullaV wV enaulizonti tw.
  OD.  Ta d' all' erhma, kouden esJ' upostegon;
  NE.  Autoxulon g' ekpwma, jaulourgou tinoV
  Tecnhmat' androV, kai purei' omou tade.
  OD.  Keinou to Jhsaurisma shmaineiV tode.
  NE.  Iou, iou· kai tauta g' alla Jalpetai
  Rakh, bareiaV tou noshleiaV plea.


So wird auch beim Homer der geschleifte Hektor, durch das von Blut
und Staub entstellte Gesicht, und zusammenverklebte Haar,

  Squallentem barbam et concretos sanguine crines,

(wie es Virgil ausdrÜckt 7)) ein ekler Gegenstand, aber eben dadurch
um so viel schrecklicher, um so viel rührender.  Wer kann die Strafe
des Marsyas, beim Ovid, sich ohne Empfindung des Ekels denken 8)?

{7. Aeneid. lib. II. v. 277.}

{8. Metamorph. VI. v. 387.}

  Clamanti cutis est summos derepta per artus:
  Nec quidquam, nisi vulnus erat: cruor undique manat:
  Detectique patent nervi: trepidaeque sine ulla
  Pelle micant venae: salientia viscera possis,
  Et perlucentes numerare in pectore fibras.


Aber wer empfindet auch nicht, daß das Ekelhafte hier an seiner
Stelle ist?  Es macht das Schreckliche grÄßlich; und das Gräßliche
ist selbst in der Natur, wenn unser Mitleid dabei interessieret wird,
nicht ganz unangenehm; wie viel weniger in der Nachahmung?  Ich will
die Exempel nicht häufen.  Doch dieses muß ich noch anmerken, daß es
eine Art von Schrecklichem gibt, zu dem der Weg dem Dichter fast
einzig und allein durch das Ekelhafte offen stehet.  Es ist das
Schreckliche des Hungers.  Selbst im gemeinen Leben drÜcken wir die
äußerste Hungersnot nicht anders als durch die Erzählungen aller der
unnahrhaften, ungesunden und besonders ekeln Dinge aus, mit welchen
der Magen befriediget werden müssen.  Da die Nachahmung nichts von
dem Gefühle des Hungers selbst in uns erregen kann, so nimmt sie zu
einem andern unangenehmen Gefühle ihre Zuflucht, welches wir im Falle
des empfindlichsten Hungers für das kleinere Übel erkennen.  Dieses
sucht sie zu erregen, um uns aus der Unlust desselben schließen zu
lassen, wie stark jene Unlust sein müsse, bei der wir die
gegenwärtige gern aus der Acht schlagen würden.  Ovid sagt von der
Oreade, welche Ceres an den Hunger abschickte 9):

{9. Ibid. lib. VIII. v. 809.}

  Hanc (famem) procul ut vidit--
  --refert mandata deae; paulumque morata,
  Quanquam aberat longe, quanquam modo venerat illuc,
  Visa tamen sensisse famem--


Eine unnatÜrliche Übertreibung!  Der Anblick eines Hungrigen, und
wenn es auch der Hunger selbst wÄre, hat diese ansteckende Kraft
nicht; Erbarmen, und Greul, und Ekel, kann er empfinden lassen, aber
keinen Hunger.  Diesen Greul hat Ovid in dem Gemälde der Fames nicht
gesparet, und in dem Hunger des Eresichthons sind, sowohl bei ihm,
als bei dem Kallimachus 10), die ekelhaften Züge die stärksten.
Nachdem Eresichthon alles aufgezehret, und auch der Opferkuh nicht
verschonet hatte, die seine Mutter der Vesta auffütterte, läßt ihn
Kallimachus über Pferde und Katzen herfallen, und auf den Straßen die
Brocken und schmutzigen Überbleibsel von fremden Tischen betteln:

{10. Hym. in Cererem. v. 109-116.}

  Kai tan bvn ejagen, tan Estia etreje mathr,
  Kai ton aeJlojoron kai ton polemhion ippon,
  Kai tan ailouron, tan etreme Jeria mikka--
  Kai toJ' o tv basilhoV eni triodoisi kaJhsto
  Aitizwn akolwV te kai ekbola lumata daitoV--


Und Ovid lÄßt ihn zuletzt die Zähne in seine eigene Glieder setzen,
um seinen Leib mit seinem Leibe zu nähren.

  Vis tamen illa mali postquam consumserat omnem
  Materiam--
  Ipse suos artus lacero divellere morsu
  Coepit; et infelix minuendo corpus alebat.


Nur darum waren die hÄßlichen Harpyen so stinkend, so unflätig, daß
der Hunger, welchen ihre EntfÜhrung der Speisen bewirken sollte,
desto schrecklicher würde.  Man hÖre die Klage des Phineus, beim
Apollonius 11):

{11. Argonaut. lib. II. v. 228-233.}

  TutJon d' hn ara dh pot' edhtuoV ammi lipwsi,
  Pnei tode mudaleon te kai ou tlhton menoV odmhV.
  Ou ke tiV oude minunJa brotvn anscoito pelassaV,
  Oud' ei oi adamantoV elhlamenon kear eih.
  Alla me pikrh dhta ke daitoV episcei anagkh
  Mimnein, kai mimnonta kakh en gasteri JesJai.


Ich mÖchte gern aus diesem Gesichtspunkte die ekele EinfÜhrung der
Harpyen beim Virgil entschuldigen; aber es ist kein wirklicher
gegenwÄrtiger Hunger, den sie verursachen, sondern nur ein
instehender, den sie prophezeien; und noch dazu löset sich die ganze
Prophezeiung endlich in ein Wortspiel auf.  Auch Dante bereitet uns
nicht nur auf die Geschichte von der Verhungerung des Ugolino, durch
die ekelhafteste, gräßlichste Stellung, in die er ihn mit seinem
ehemaligen Verfolger in der Hölle setzet; sondern auch die
Verhungerung selbst ist nicht ohne Züge des Ekels, der uns besonders
da sehr merklich überfällt, wo sich die Söhne dem Vater zur Speise
anbieten.  In der Note will ich noch eine Stelle aus einem
Schauspiele von Beaumont und Fletcher anführen, die statt aller
andern Beispiele hätte sein können, wenn ich sie nicht für ein wenig
zu übertrieben erkennen müßte 12).

{12. The Sea-Voyage Act. III. Sc. 1. Ein französischer Seeräuber
wird mit seinem Schiffe an eine wüste Insel verschlagen.  Habsucht
und Neid entzweien seine Leute und schaffen ein paar Elenden, welche
auf dieser Insel geraume Zeit der äußersten Not ausgesetzt gewesen,
Gelegenheit, mit dem Schiffe in die See zu stechen.  Alles Vorrates
an Lebensmitteln sonach auf einmal beraubet, sehen jene Nichtswürdige
gar bald den schmählichsten Tod vor Augen, und einer drückt gegen den
andern seinen Hunger und seine Verzweiflung folgendergestalt aus:

  Lamure.
    Oh, what a tempest have I in my stomach!
    How my empty guts cry out! My wounds ake,
    Would they would bleed again, that I might get
    Something to quench my thirst.

  Franville.
    O Lamure, the happiness my dogs had
    When I kept house at home! They had a storehouse,
    A storehouse of most blessed bones and crusts,
    Happy crusts. Oh, how sharp hunger pinches me!--

  Franville.
    How now, what news?

  Morillat.
    Hast any meat yet?

  Franville.
    Not a bit that I can see;
    Here be goodly quarries, but they be cruel hard
    To gnaw: I ha' got some mud, we'll eat it with spoons,
    Very good thick mud; bot it stinks damnably,
    There's old rotten trunks of trees too,
    Bot not a leaf nor blossom in all the island.

  Lamure.
    How it looks!

  Morillat.
    It stinks too.

  Lamure.
    It may be poison.

  Franville.
    Let it be any thing;
    So I can get it down. Why man,
    Poison's a princely dish.

  Morillat.
    Hast thou no bisket?
    No crumbs left in thy pocket? Here is my doublet,
    Give me but three small crumbs.

  Franville.
    Not for three kingdoms,
    If I were master of 'em. Oh, Lamure,
    But one poor joint of mutton, we ha' scorn'd, man.

  Lamure.
    Thou speak'st of paradise;
    Or but the snuffs of those healths,
    We have lewdly at midnight flang away.

  Morillat.
    Ah! but to lick the glasses.

Doch alles dieses ist noch nichts gegen den folgenden Auftritt, wo
der Schiffschirurgus dazu kommt.

  Franville.
    Here comes the surgeon. What
    Hast thou discover'd? Smile, smile and comfort us.

  Surgeon.
    I am expiring,
    Smile they that can. I can find nothing, gentlemen,
    Here 's nothing can be meat, without a miracle
    Oh that I had my boxes and my lints now,
    My stupes, my tents, and those sweet helps of nature,
    What dainty dishes could I make of 'em.

  Morillat.
    Hast ne'er an old suppository?

  Surgeon.
    Oh would I had, sir.

  Lamure.
    Or but the paper where such a cordial
    Potion, or pills hath been entomb'd?

  Franville.
    Or the best bladder where a cooling-glister.

  Morillat.
    Hast thou no searcloths left?
    Nor any old pultesses?

  Franville.
    We care not to what it hath been ministred.

  Surgeon.
    Sure I have none of these dainties, gentlemen.

  Franville.
    Where's the great wen
    Thou cut'st from Hugh the sailor's shoulder?
    That would serve now for a most princely banquet.

  Surgeon.
    Ay if we had it, gentlemen.
    I flung it over-bord, slave that I was.

  Lamure.
    A most improvident villain.}

Ich komme auf die ekelhaften GegenstÄnde in der Malerei.  Wenn es
auch schon ganz unstreitig wäre, daß es eigentlich gar keine
ekelhafte Gegenstände fÜr das Gesicht gäbe, von welchen es sich von
sich selbst verstünde, daß die Malerei, als schÖne Kunst, ihrer
entsagen würde: so müßte sie dennoch die ekelhaften Gegenstände
überhaupt vermeiden, weil die Verbindung der Begriffe sie auch dem
Gesichte ekel macht.  Pordenone läßt, in einem Gemälde von dem
Begräbnisse Christi, einen von den Anwesenden die Nase sich zuhalten.
Richardson mißbilliget dieses deswegen 13), weil Christus noch nicht
so lange tot gewesen, daß sein Leichnam in Fäulung übergehen können.
Bei der Auferweckung des Lazarus hingegen, glaubt er, sei es dem
Maler erlaubt, von den Umstehenden einige so zu zeigen, weil es die
Geschichte ausdrücklich sage, daß sein Körper schon gerochen habe.
Mich dünkt diese Vorstellung auch hier unerträglich; denn nicht bloß
der wirkliche Gestank, auch schon die Idee des Gestankes erwecket
Ekel.  Wir fliehen stinkende Orte, wenn wir schon den Schnupfen haben.
Doch die Malerei will das Ekelhafte, nicht des Ekelhaften wegen;
sie will es, so wie die Poesie, um das Lächerliche und Schreckliche
dadurch zu verstärken.  Auf ihre Gefahr!  Was ich aber von dem
Häßlichen in diesem Falle angemerkt habe, gilt von dem Ekelhaften um
so viel mehr.  Es verlieret in einer sichtbaren Nachahmung von seiner
Wirkung ungleich weniger, als in einer hörbaren; es kann sich also
auch dort mit den Bestandteilen des Lächerlichen und Schrecklichen
weniger innig vermischen, als hier; sobald die Überraschung vorbei,
sobald der erste gierige Blick gesättiget, trennet es sich wiederum
gänzlich, und liegt in seiner eigenen kruden Gestalt da.

{13. Richardson de la peinture T. I. p. 74.}



XXVI.


Des Herrn Winckelmanns "Geschichte der Kunst des Altertums" ist
erschienen.  Ich wage keinen Schritt weiter, ohne dieses Werk gelesen
zu haben.  Bloß aus allgemeinen Begriffen über die Kunst vernünfteln,
kann zu Grillen verführen, die man über lang oder kurz, zu seiner
Beschämung, in den Werken der Kunst widerlegt findet.  Auch die Alten
kannten die Bande, welche die Malerei und Poesie miteinander
verknüpfen, und sie werden sie nicht enger zugezogen haben, als es
beiden zuträglich ist.  Was ihre Künstler getan, wird mich lehren,
was die Künstler überhaupt tun sollen; und wo so ein Mann die Fackel
der Geschichte vorträgt, kann die Spekulation kühnlich nachtreten.

Man pfleget in einem wichtigen Werke zu blättern, ehe man es
ernstlich zu lesen anfängt.  Meine Neugierde war, vor allen Dingen
des Verfassers Meinung von dem Laokoon zu wissen; nicht zwar von der
Kunst des Werkes, über welche er sich schon anderwärts erkläret hat,
als nur von dem Alter desselben.  Wem tritt er darüber bei?  Denen,
welchen Virgil die Gruppe vor Augen gehabt zu haben scheinet?  Oder
denen, welche die Künstler dem Dichter nacharbeiten lassen?

Es ist sehr nach meinem Geschmacke, daß er von einer gegenseitigem
Nachahmung gänzlich schweiget.  Wo ist die absolute Notwendigkeit
derselben?  Es ist gar nicht unmöglich, daß die Ähnlichkeiten, die
ich oben zwischen dem poetischen Gemälde und dem Kunstwerke in
Erwägung gezogen habe, zufällige und nicht vorsätzliche Ähnlichkeiten
sind; und daß das eine so wenig das Vorbild des andern gewesen, daß
sie auch nicht einmal beide einerlei Vorbild gehabt zu haben brauchen.
Hätte indes auch ihn ein Schein dieser Nachahmung geblendet, so
würde er sich für die erstern haben erklären müssen.  Denn er nimmt
an, daß der Laokoon aus den Zeiten sei, da sich die Kunst unter den
Griechen auf dem höchsten Gipfel ihrer Vollkommenheit befunden habe,
aus den Zeiten Alexanders des Großen.

"Das gütige Schicksal", sagt er 1), "welches auch über die Künste bei
ihrer Vertilgung noch gewachet, hat aller Welt zum Wunder ein Werk
aus dieser Zeit der Kunst erhalten, zum Beweise von der Wahrheit der
Geschichte von der Herrlichkeit so vieler vernichteten Meisterstücke.
Laokoon, nebst seinen beiden Söhnen, vom Agesander, Apollodorus 2)
und Athenodorus aus Rhodus gearbeitet, ist nach aller
Wahrscheinlichkeit aus dieser Zeit, ob man gleich dieselbe nicht
bestimmen, und wie einige getan haben, die Olympias, in welcher diese
Künstler geblühet haben, angeben kann."

{1. Geschichte der Kunst, S. 347.}

{2. Nicht Apollodorus, sondern Polydorus.  Plinius ist der einzige,
der diese Künstler nennet, und ich wüßte nicht, daß die Handschriften
in diesem Namen voneinander abgingen.  Harduin würde es gewiß sonst
angemerkt haben.  Auch die ältern Ausgaben lesen alle Polydorus.
Herr Winckelmann muß sich in dieser Kleinigkeit bloß verschrieben
haben.}

In einer Anmerkung setzet er hinzu: "Plinius meldet kein Wort von der
Zeit, in welcher Agesander und die Gehilfen an seinem Werke gelebet
haben; Maffei aber, in der Erklärung alter Statuen, hat wissen wollen,
daß diese Künstler in der achtundachtzigsten Olympias geblühet haben,
und auf dessen Wort haben andere, als Richardson, nachgeschrieben.
Jener hat, wie ich glaube, einen Athenodorus unter des Polykletus
Schülern für einen von unsern Künstlern genommen, und da Polykletus
in der siebenundachtzigsten Olympias geblühet, so hat man seinen
vermeinten Schüler eine Olympias später gesetzet: andere Gründe kann
Maffei nicht haben."

Er konnte ganz gewiß keine andere haben.  Aber warum läßt es Herr
Winckelmann dabei bewenden, diesen vermeinten Grund des Maffei bloß
anzuführen?  Widerlegt er sich von sich selbst?  Nicht so ganz.  Denn
wenn er auch schon von keinen andern Gründen unterstützt ist, so
macht er doch schon für sich selbst eine kleine Wahrscheinlichkeit,
wo man nicht sonst zeigen kann, daß Athenodorus, des Polyklets
Schüler, und Athenodorus, der Gehilfe des Agesander und Polydorus,
unmöglich eine und ebendieselbe Person können gewesen sein.  Zum
Glücke läßt sich dieses zeigen, und zwar aus ihrem verschiedenen
Vaterlande.  Der erste Athenodorus war, nach dem ausdrücklichen
Zeugnisse des Pausanias 3), aus Klitor in Arkadien; der andere
hingegen, nach dem Zeugnisse des Plinius, aus Rhodus gebürtig.

{3. AJhnoJvroV de kai DamiaV--outoi de ArkadeV eisin ek KleitoroV.
Phoc. cap. 9. p. 819. Edit. Kuh.}

Herr Winckelmann kann keine Absicht dabei gehabt haben, daß er das
Vorgeben des Maffei, durch Beifügung dieses Umstandes, nicht
unwidersprechlich widerlegen wollen.  Vielmehr müssen ihm die Gründe,
die er aus der Kunst des Werks, nach seiner unstreitigen Kenntnis,
ziehet, von solcher Wichtigkeit geschienen haben, daß er sich
unbekümmert gelassen, ob die Meinung des Maffei noch einige
Wahrscheinlichkeit behalte oder nicht.  Er erkennet, ohne Zweifel, in
dem Laokoon zu viele von den argutiis 4), die dem Lysippus so eigen
waren, mit welchen dieser Meister die Kunst zuerst bereicherte, als
daß er ihn für ein Werk vor desselben Zeit halten sollte.

{4. Plinius lib. XXXIV. sect. 19. p. 653. Edit. Hard.}

Allein, wenn es erwiesen ist, daß der Laokoon nicht älter sein kann,
als Lysippus, ist dadurch auch zugleich erwiesen, daß er ungefähr aus
seiner Zeit sein müsse? daß er unmöglich ein weit späteres Werk sein
könne?  Damit ich die Zeiten, in welchen die Kunst in Griechenland,
bis zum Anfange der römischen Monarchie, ihr Haupt bald wiederum
emporhob, bald wiederum sinken ließ, übergehe: warum hätte nicht
Laokoon die glückliche Frucht des Wetteifers sein können, welchen die
verschwenderische Pracht der ersten Kaiser unter den Künstlern
entzünden mußte?  Warum könnten nicht Agesander und seine Gehilfen
die Zeitverwandten eines Strongylion, eines Arcesilaus, eines
Pasiteles, eines Posidonius, eines Diogenes sein?  Wurden nicht die
Werke auch dieser Meister zum Teil dem Besten, was die Kunst jemals
hervorgebracht hatte, gleich geschätzet?  Und wann noch ungezweifelte
Stücke von selbigen vorhanden wären, das Alter ihrer Urheber aber
wäre unbekannt, und ließe sich aus nichts schließen, als aus ihrer
Kunst, welche göttliche Eingebung müßte den Kenner verwahren, daß er
sie nicht ebensowohl in jene Zeiten setzen zu müssen glaubte, die
Herr Winckelmann allein des Laokoons würdig zu sein achtet?

Es ist wahr, Plinius bemerkt die Zeit, in welcher die Künstler des
Laokoons gelebt haben, ausdrücklich nicht.  Doch wenn ich aus dem
Zusammenhange der ganzen Stelle schließen sollte, ob er sie mehr
unter die alten oder unter die neuern Artisten gerechnet wissen
wollen: so bekenne ich, daß ich für das letztere eine größere
Wahrscheinlichkeit darin zu bemerken glaube.  Man urteile.

Nachdem Plinius von den ältesten und größten Meistern in der
Bildhauerkunst, dem Phidias, dem Praxiteles, dem Skopas, etwas
ausführlicher gesprochen, und hierauf die übrigen, besonders solche,
von deren Werken in Rom etwas vorhanden war, ohne alle chronologische
Ordnung namhaft gemacht: so fährt er folgendergestalt fort 5): Nec
multo plurium fama est, quorundam claritati in operibus eximiis
obstante numero artificum, quoniam nec unus occupat gloriam, nec
plures pariter nuncupari possunt, sicut in Laocoonte, qui est in Titi
Imperatoris domo, opus omnibus et picturae et statuariae artis
praeponendum.  Ex uno lapide eum et liberos draconumque mirabiles
nexus de consilii sententia fecere summi artifices, Agesander et
Polydorus et Athenodorus Rhodii.  Similiter Palatinas domus Caesarum
replevere probatissimis signis Craterus cum Pythodoro, Polydectes cum
Hermolao, Pythodorus alius cum Artemone, et singularis Aphrodisius
Trallianus.  Agrippae Pantheum decoravit Diogenes Atheniensis, et
Caryatides in columnis templi ejus probantur inter pauca operum:
sicut in fastigio posita signa, sed propter altitudinem loci minus
celebrata.

{5. Libr. XXXVI. sect. 4. p. 730.}

Von allen den Künstlern, welche in dieser Stelle genennet werden, ist
Diogenes von Athen derjenige, dessen Zeitalter am
unwidersprechlichsten bestimmt ist.  Er hat das Pantheum des Agrippa
ausgezieret; er hat also unter dem Augustus gelebt.  Doch man erwäge
die Worte des Plinius etwas genauer, und ich denke, man wird auch das
Zeitalter des Kraterus und Pythodorus, des Polydektes und Hermolaus,
des zweiten Pythodorus und Artemons, sowie des Aphrodisius Trallianus,
ebenso unwidersprechlich bestimmt finden.  Er sagt von ihnen:
Palatinas domus Caesarum replevere probatissimis signis.  Ich frage:
kann dieses wohl nur so viel heißen, daß von ihren vortrefflichen
Werken die Paläste der Kaiser angefüllet gewesen?  In dem Verstande
nämlich, daß die Kaiser sie überall zusammensuchen und nach Rom in
ihre Wohnungen versetzen lassen?  Gewiß nicht.  Sondern sie müssen
ihre Werke ausdrücklich für diese Paläste der Kaiser gearbeitet, sie
müssen zu den Zeiten dieser Kaiser gelebt haben.  Daß es späte
Künstler gewesen, die nur in Italien gearbeitet, läßt sich auch schon
daher schließen, weil man ihrer sonst nirgends gedacht findet.
Hätten sie in Griechenland in frühern Zeiten gearbeitet, so würde
Pausanias ein oder das andere Werk von ihnen gesehen, und ihr
Andenken uns aufbehalten haben.  Ein Pythodorus kömmt zwar bei ihm
vor 6), allein Harduin hat sehr unrecht, ihn für den Pythodorus in
der Stelle des Plinius zu halten.  Denn Pausanias nennet die
Bildsäule der Juno, die er von der Arbeit des erstern zu Koronea in
Böotien sahe, agalma arcaion, welche Benennung er nur den Werken
derjenigen Meister gibet, die in den allerersten und raschesten
Zeiten der Kunst, lange vor einem Phidias und Praxiteles, gelebt
hatten.  Und mit Werken solcher Art werden die Kaiser gewiß nicht
ihre Paläste ausgezieret haben.  Noch weniger ist auf die andere
Vermutung des Harduins zu achten, daß Artemon vielleicht der Maler
gleiches Namens sei, dessen Plinius an einer andern Stelle gedenket.
Name und Name geben nur eine sehr geringe Wahrscheinlichkeit,
derenwegen man noch lange nicht befugt ist, der natürlichen Auslegung
einer unverfälschten Stelle Gewalt anzutun.

{6. Boeotic. cap. XXXIV. p. 778. Edit. Kuhn.}

Ist es aber sonach außer allem Zweifel, daß Kraterus und Pythodorus,
daß Polydektes und Hermolaus, mit den übrigen, unter den Kaisern
gelebet, deren Paläste sie mit ihren trefflichen Werken angefüllet:
so dünkt mich, kann man auch denjenigen Künstlern kein ander
Zeitalter geben, von welchen Plinius auf jene durch ein Similiter
übergehet.  Und dieses sind die Meister des Laokoon.  Man überlege es
nur: wären Agesander, Polydorus und Athenodorus so alte Meister, als
wofür sie Herr Winckelmann hält; wie unschicklich würde ein
Schriftsteller, dem die Präzision des Ausdruckes keine Kleinigkeit
ist, wenn er von ihnen auf einmal auf die allerneuesten Meister
springen müßte, diesen Sprung mit einem Gleichergestalt tun?

Doch man wird einwenden, daß sich dieses Similiter nicht auf die
Verwandtschaft in Ansehung des Zeitalters, sondern auf einen andern
Umstand beziehe, welchen diese, in Betrachtung der Zeit so unähnliche
Meister, miteinander gemein gehabt hätten.  Plinius rede nämlich von
solchen Künstlern, die in Gemeinschaft gearbeitet, und wegen dieser
Gemeinschaft unbekannter geblieben wären, als sie verdienten.  Denn
da keiner sich die Ehre des gemeinschaftlichen Werks allein anmaßen
können, alle aber, die daran teilgehabt, jederzeit zu nennen, zu
weitläuftig gewesen wäre (quoniam nec unus occupat gloriam, nec
plures pariter nuncupari possunt): so wären ihre sämtliche Namen
darüber vernachlässiget worden.  Dieses sei den Meistern des Laokoons,
dieses sei so manchen andern Meistern widerfahren, welche die Kaiser
für ihre Paläste beschäftiget hätten.

Ich gebe dieses zu.  Aber auch so noch ist es höchst wahrscheinlich,
daß Plinius nur von neuern Künstlern sprechen wollen, die in
Gemeinschaft gearbeitet.  Denn hätte er auch von älteren reden wollen,
warum hätte er nur allein der Meister des Laokoons erwähnet?  Warum
nicht auch anderer?  Eines Onatas und Kalliteles; eines Timokles und
Timarchides, oder der Söhne dieses Timarchides, von welchen ein
gemeinschaftlich gearbeiteter Jupiter in Rom war 7).  Herr
Winckelmann sagt selbst, daß man von dergleichen älteren Werken, die
mehr als einen Vater gehabt, ein langes Verzeichnis machen könne 8).
Und Plinius sollte sich nur auf die einzigen Agesander, Polydorus und
Athenodorus besonnen haben, wenn er sich nicht ausdrücklich nur auf
die neuesten Zeiten hätte einschränken wollen?

{7. Plinius lib. XXXVI. sect. 4. p. 730.}

{8. Geschichte der Kunst, T. II. S. 332.}

Wird übrigens eine Vermutung um so viel wahrscheinlicher, je mehrere
und größere Unbegreiflichkeiten sich daraus erklären lassen, so ist
es die, daß die Meister des Laokoons unter den ersten Kaisern
geblühet haben, gewiß in einem sehr hohen Grade.  Denn hätten sie in
Griechenland zu den Zeiten, in welche sie Herr Winckelmann setzet,
gearbeitet; hätte der Laokoon selbst in Griechenland ehedem gestanden:
so müßte das tiefe Stillschweigen, welches die Griechen von einem
solchen Werke (opere omnibus et picturae et statuariae artis
praeponendo) beobachtet hätten, äußerst befremden.  Es müßte äußerst
befremden, wenn so große Meister weiter gar nichts gearbeitet hätten,
oder wenn Pausanias von ihren übrigen Werken in ganz Griechenland
ebensowenig wie von dem Laokoon zu sehen bekommen hätte.  In Rom
hingegen konnte das größte Meisterstück lange im Verborgenen bleiben,
und wenn Laokoon auch bereits unter dem Augustus wäre verfertiget
worden, so dürfte es doch gar nicht sonderbar scheinen, daß erst
Plinius seiner gedacht, seiner zuerst und zuletzt gedacht.  Denn man
erinnere sich nur, was er von einer Venus des Skopas sagt 9), die zu
Rom in einem Tempel des Mars stand, quemcunque alium locum
nobilitatura.  Romae quidem magnitudo operum eam obliterat, ac magni
officiorum negotiorumque acervi omnes a contemplatione talium
abducunt: quoniam otiosorum et in magno loci silentio apta admiratio
talis est.

{9. Plinius 1. c. p. 727.}

Diejenigen, welche in der Gruppe Laokoon so gern eine Nachahmung des
Virgilischen Laokoons sehen wollen, werden, was ich bisher gesagt,
mit Vergnügen ergreifen.  Noch fiele mir eine Mutmaßung bei, die sie
gleichfalls nicht sehr mißbilligen dürften.  Vielleicht, könnten sie
denken, war es Asinius Pollio, der den Laokoon des Virgils durch
griechische Künstler ausführen ließ.  Pollio war ein besonderer
Freund des Dichters, überlebte den Dichter, und scheinet sogar ein
eigenes Werk über die Aeneis geschrieben zu haben.  Denn wo sonst,
als in einem eigenen Werke über dieses Gedicht, können so leicht die
einzeln Anmerkungen gestanden haben, die Servius aus ihm anführt 10)?
Zugleich war Pollio ein Liebhaber und Kenner der Kunst, besaß eine
reiche Sammlung der trefflichsten alten Kunstwerke, ließ von
Künstlern seiner Zeit neue fertigen, und dem Geschmacke, den er in
seiner Wahl zeigte, war ein so kühnes Stück, als Laokoon, vollkommen
angemessen 11): ut fuit acris vehementiae, sic quoque spectari
monumenta sua voluit.  Doch da das Kabinett des Pollio, zu den Zeiten
des Plinius, als Laokoon in dem Palaste des Titus stand, noch ganz
unzertrennet an einem besondern Orte beisammen gewesen zu sein
scheinet: so möchte diese Mutmaßung von ihrer Wahrscheinlichkeit
wiederum etwas verlieren.  Und warum könnte es nicht Titus selbst
getan haben, was wir dem Pollio zuschreiben wollen?

{10. Ad ver. 7. lib. II. Aeneid. und besonders ad ver. 183 lib. XI.
Man dürfte also wohl nicht unrecht tun, wenn man das Verzeichnis der
verlornen Schriften dieses Mannes mit einem solchen Werke vermehrte.}

{11. Plinius lib. XXXVI. sect. 4. p. 729.}



XXVII.


Ich werde in meiner Meinung, daß die Meister des Laokoons unter den
ersten Kaisern gearbeitet haben, wenigstens so alt gewiß nicht sein
können, als sie Herr Winckelmann ausgibt, durch eine kleine Nachricht
bestärket, die er selbst zuerst bekannt macht.  Sie ist diese 1):

{1. Geschichte der Kunst, T. II. S. 347.}

"Zu Nettuno, ehemals Antium, hat der Herr Kardinal Alexander Albani,
im Jahre 1717, in einem großen Gewölbe, welches im Meere versunken
lag, eine Vase entdecket, welche von schwarz greulichem Marmor ist,
den man itzo Bigio nennet, in welche die Figur eingefüget war; auf
derselben befindet sich folgende Inschrift:

  AQANODWROS AGHSANDROU
  RODIOS EPOIHSE

"Athanodorus, des Agesanders Sohn, aus Rhodus, hat es gemacht." Wir
lernen aus dieser Inschrift, daß Vater und Sohn am Laokoon gearbeitet
haben, und vermutlich war auch Apollodorus (Polydorus) des Agesanders
Sohn; denn dieser Athanodorus kann kein anderer gewesen sein, als der,
welchen Plinius nennet.  Es beweiset ferner diese Inschrift, daß
sich mehr Werke der Kunst, als nur allein drei, wie Plinius will,
gefunden haben, auf welche die KÜnstler das Wort,gemacht‘ in
vollendeter und bestimmter Zeit gesetzet, nÄmlich epoihse, fecit: er
berichtet, daß die übrigen Künstler aus Bescheidenheit sich in
unbestimmter Zeit ausgedrücket, epoiei, faciebat."

Darin wird Herr Winckelmann wenig Widerspruch finden, daß der
Athanodorus in dieser Inschrift kein anderer, als der Athenodorus
sein kÖnne, dessen Plinius unter den Meistern des Laokoons gedenket.
Athenodorus und Athanodorus ist auch völlig ein Name; denn die
Rhodier bedienten sich des dorischen Dialekts.  Allein über das, was
er sonst daraus folgern will, muß ich einige Anmerkungen machen.

Das erste, daß Athenodorus ein Sohn des Agesanders gewesen sei, mag
hingehen.  Es ist sehr wahrscheinlich, nur nicht unwidersprechlich.
Denn es ist bekannt, daß es alte Künstler gegeben, die, anstatt sich
nach ihrem Vater zu nennen, sich lieber nach ihrem Lehrmeister nennen
wollen.  Was Plinius von den Gebrüdern Apollonius und Tauriskus saget,
leidet nicht wohl eine andere Auslegung 2).

{2. Libr. XXXVI. sect. 4. p. 730.}

Aber wie?  Diese Inschrift soll zugleich das Vorgeben des Plinius
widerlegen, daß sich nicht mehr als drei Kunstwerke gefunden, zu
welchen sich ihre Meister in der vollendeten Zeit (anstatt des epoiei,
durch epoihse) bekannt hätten?  Diese Inschrift?  Warum sollen wir
erst aus dieser Inschrift lernen, was wir längst aus vielen andern
hätten lernen können?  Hat man nicht schon auf der Statue des
Germanicus KleomenhV--epoihse gefunden?  Auf der sogenannten
Vergötterung des Homers ArcelaoV epoihse?  Auf der bekannten Vase zu
Gaeta Salpiwn epoihse 3)? usw.

{3. Man sehe das Verzeichnis der Aufschriften alter Kunstwerke beim
Mar. Gudius (ad Phaedri fab. V. lib. I.) und ziehe zugleich die
Berichtigung desselben vom Gronov (Praef. ad tom.  IX. Thesauri
antiqu.  Graec.) zu Rate.}

Herr Winckelmann kann sagen: "Wer weiß dieses besser als ich?  Aber",
wird er hinzusetzen, "desto schlimmer für den Plinius.  Seinem
Vorgeben ist also um so öfterer widersprochen; es ist um so gewisser
widerlegt."

Noch nicht.  Denn wie, wenn Herr Winckelmann den Plinius mehr sagen
ließe, als er wirklich sagen wollen?  Wenn also die angeführten
Beispiele nicht das Vorgeben des Plinius, sondern bloß das Mehrere,
welches Herr Winckelmann in dieses Vorgeben hineingetragen,
widerlegten?  Und so ist es wirklich.  Ich muß die ganze Stelle
anführen.  Plinius will in seiner Zueignungsschrift an den Titus, von
seinem Werke mit der Bescheidenheit eines Mannes sprechen, der es
selbst am besten weiß, wie viel demselben zur Vollkommenheit noch
fehle.  Er findet ein merkwürdiges Exempel einer solchen
Bescheidenheit bei den Griechen, über deren prahlende,
vielversprechende Büchertitel (inscriptiones, propter quas vadimonium
deseri possit) er sich vorher ein wenig aufgehalten, und sagt 4): Et
ne in totum videar Graecos insectari, ex illis mox velim intelligi
pingendi fingendique conditoribus, quos in libellis his invenies,
absoluta opera, et illa quoque quae mirando non satiamur, pendenti
titulo inscripsisse: ut APELLES FACIEBAT, aut POLYCLETUS: tanquam
inchoata semper arte et imperfecta: ut contra judiciorum varietates
superesset artifici regressus ad veniam, velut emendaturo quidquid
desideraretur, si non esset interceptus.  Quare plenum verecundiae
illud est, quod omnia opera tamquam novissima inscripsere, et tamquam
singulis fato adempti.  Tria non amplius, ut opinor, absolute
traduntur inscripta ILLE FECIT, quae suis locis reddam: quo apparuit,
summam artis securitatem auctori placuisse, et ob id magna invidia
fuere omnia ea.  Ich bitte auf die Worte des Plinius, pingendi
fingendique conditoribus, aufmerksam zu sein.  Plinius sagt nicht,
daß die Gewohnheit, in der unvollendeten Zeit sich zu seinem Werke zu
bekennen, allgemein gewesen; daß sie von allen Künstlern, zu allen
Zeiten beobachtet worden: er sagt ausdrücklich, daß nur die ersten
alten Meister, jene Schöpfer der bildenden Künste, pingendi
fingendique conditores, ein Apelles, ein Polyklet, und ihre
Zeitverwandte, diese kluge Bescheidenheit gehabt hätten; und da er
diese nur allein nennet, so gibt er stillschweigend, aber deutlich
genug, zu verstehen, daß ihre Nachfolger, besonders in den spätern
Zeiten, mehr Zuversicht auf sich selber geäußert.

{4. Libr. I. p. 5. Edit. Hard.}

Dieses aber angenommen, wie man es annehmen muß, so kann die
entdeckte Aufschrift von dem einen der drei Künstler des Laokoons
ihre völlige Richtigkeit haben, und es kann demohngeachtet wahr sein,
daß, wie Plinius sagt, nur etwa drei Werke vorhanden gewesen, in
deren Aufschriften sich ihre Urheber der vollendeten Zeit bedienet;
nämlich unter den ältern Werken, aus den Zeiten des Apelles, des
Polyklets, des Nicias, des Lysippus.  Aber das kann sodann seine
Richtigkeit nicht haben, daß Athenodorus und seine Gehilfen,
Zeitverwandte des Apelles und Lysippus gewesen sind, zu welchen sie
Herr Winckelmann machen will.  Man muß vielmehr so schließen: Wenn es
wahr ist, daß unter den Werken der ältern Künstler, eines Apelles,
eines Polyklets und der übrigen aus dieser Klasse, nur etwa drei
gewesen sind, in deren Aufschriften die vollendete Zeit von ihnen
gebraucht worden; wenn es wahr ist, daß Plinius diese drei Werke
selbst namhaft gemacht hat 5): so kann Athenodorus, von dem keines
dieser drei Werke ist, und der sich demohngeachtet auf seinen Werken
der vollendeten Zeit bedienet, zu jenen alten Künstlern nicht gehören;
er kann kein Zeitverwandter des Apelles, des Lysippus sein, sondern
er muß in spätere Zeiten gesetzt werden.

{5. Er verspricht wenigstens ausdrücklich, es zu tun: quae suis locis
reddam.  Wenn er es aber nicht gänzlich vergessen, so hat er es doch
sehr im Vorbeigehen und gar nicht auf eine Art getan, als man nach
einem solchen Versprechen erwartet.  Wenn er z.  E. schreibet (Lib.
XXXV. sect. 39.): Lysippus quoque Aeginae picturae suae inscripsit,
enekausen: quod profecto non fecisset, nisi encaustica inventa: so
ist es offenbar, daß er dieses enekausen zum Beweise einer ganz
andern Sache braucht.  Hat er aber, wie Harduin glaubt, auch zugleich
das eine von den Werken dadurch angeben wollen, deren Aufschrift in
dem Aoristo abgefaßt gewesen: so hätte es sich wohl der Mühe
verlohnet, ein Wort davon mit einfließen zu lassen.  Die andern zwei
Werke dieser Art, findet Harduin in folgender Stelle: Idem (Divus
Augustus) in curia quoque, quam in comitio consecrabat, duas tabulas
impressit parieti: Nemeam sedentem supra leonem, palmigeram ipsam,
adstante cum baculo sene, cujus supra caput tabula bigae dependet.
Nicias scripsit se inussisse: tali enim usus est verbo.  Alterius
tabulae admiratio est, puberem filium seni patri similem esse, salva
aetatis differentia, supervolante aquila draconem complexa.
Philochares hoc suum opus esse testatus est.  (lib. XXXV. sect. 10.)
Hier werden zwei verschiedene Gemälde beschrieben, welche Augustus in
dem neuerbauten Rathause aufstellen lassen.  Das zweite ist vom
Philochares, das erste vom Nicias.  Was von jenem gesagt wird, ist
klar und deutlich.  Aber bei diesem finden sich Schwierigkeiten.  Es
stellte die Nemea vor, auf einem Löwen sitzend, einen Palmenzweig in
der Hand, neben ihr ein alter Mann mit einem Stabe; cujus supra caput
tabula bigae dependet.  Was heißt das?  Über dessen Haupte eine
Tafel hing, worauf ein zweispänniger Wagen gemalt war?  Das ist noch
der einzige Sinn, den man diesen Worten geben kann.  Also war auf das
Hauptgemälde noch ein anderes kleineres Gemälde gehangen?  Und beide
waren von dem Nicias?  So muß es Harduin genommen haben.  Denn wo
wären hier sonst zwei Gemälde des Nicias, da das andere ausdrücklich
dem Philochares zugeschrieben wird?  Inscripsit Nicias igitur geminae
huic tabulae suum nomen in hunc modum: O NIKIAS ENEKAUSEN; atque adeo
e tribus operibus, quae absolute fuisse inscripta, ILLE FECIT,
indicavit praefatio ad Titum, duo haec sunt Niciae.  Ich möchte den
Harduin fragen: wenn Nicias nicht den Aoristum, sondern wirklich das
Imperfektum gebraucht hätte, Plinius hätte aber bloß bemerken wollen,
daß der Meister, anstatt des grajein, egkaiein gebraucht hätte; würde
er in seiner Sprache auch nicht noch alsdenn haben sagen müssen,
Nicias scripsit se inussisse?  Doch ich will hierauf nicht bestehen;
es mag wirklich des Plinius Wille gewesen sein, eines von den Werken,
wovon die Rede ist, dadurch anzudeuten.  Wer aber wird sich das
doppelte Gemälde einreden lassen, deren eines über dem andern
gehangen?  Ich mir nimmermehr.  Die Worte cujus supra caput tabula
bigae dependet, können also nicht anders als verfälscht sein.  Tabula
bigae, ein Gemälde, worauf ein zweispänniger Wagen gemalet, klingt
nicht sehr Plinianisch, wenn auch Plinius schon sonst den Singularem
von bigae braucht.  Und was für ein zweispänniger Wagen?  Etwan,
dergleichen zu den Wettrennen in den Nemeäischen Spielen gebraucht
wurden; so daß dieses kleinere Gemälde in Ansehung dessen, was es
vorstellte, zu dem Hauptgemälde gehört hätte?  Das kann nicht sein;
denn in den Nemeäischen Spielen waren nicht zweispännige, sondern
vierspännige Wagen gewöhnlich.  (Schmidius in prol. ad Nemeonicas, p.
2.)  Einsmals kam ich auf die Gedanken, daß Plinius anstatt des bigae
vielleicht ein griechisches Wort geschrieben, welches die Abschreiber
nicht verstanden, ich meine ptucion.  Wir wissen nämlich aus einer
Stelle des Antigonus Karystius, beim Zenobius (conf.  Gronovius T. IX.
Antiquit.  Graec.  Praef. p. 8), daß die alten Künstler nicht immer
ihre Namen auf ihre Werke selbst, sondern auch wohl auf besondere
Täfelchen gesetzet, welche dem Gemälde, oder der Statue angehangen
wurden.  Und ein solches Täfelchen hieß ptucion.  Dieses griechische
Wort fand sich vielleicht in einer Handschrift durch die Glosse,
tabula, tabella erkläret; und das tabula kam endlich mit in den Text.
Aus ptucion ward bigae; und so entstand das tabula bigae.  Nichts
kann zu dem Folgenden besser passen, als dieses ptucion; denn das
Folgende eben ist es, was darauf stand.  Die ganze Stelle wäre also
so zu lesen: cujus supra caput ptucion dependet, quo Nicias scripsit
se inussisse.  Doch diese Korrektur, ich bekenne es, ist ein wenig
kühn.  Muß man denn auch alles verbessern können, was man verfälscht
zu sein beweisen kann?  Ich begnüge mich, das letztere hier geleistet
zu haben, und überlasse das erstere einer geschicktern Hand.  Doch
nunmehr wiederum zur Sache zurückzukommen; wenn Plinius also nur von
einem Gemälde des Nicias redet, dessen Aufschrift im Aoristo abgefaßt
gewesen, und das zweite Gemälde dieser Art das obige des Lysippus ist:
welches ist denn nun das dritte?  Das weiß ich nicht.  Wenn ich es
bei einem andern alten Schriftsteller finden dürfte, als bei dem
Plinius, so würde ich nicht sehr verlegen sein.  Aber es soll bei dem
Plinius gefunden werden; und noch einmal: bei diesem weiß ich es
nicht zu finden.}

Kurz; ich glaube, es ließe sich als ein sehr zuverlässiges Kriterium
angeben, daß alle Künstler, die das epoihse gebraucht, lange nach den
Zeiten Alexanders des Großen, kurz vor oder unter den Kaisern,
geblühet haben.  Von dem Kleomenes ist es unstreitig; von dem
Archelaus ist es höchst wahrscheinlich; und von dem Salpion kann
wenigstens das Gegenteil auf keine Weise erwiesen werden.  Und so von
den übrigen; den Athenodorus nicht ausgeschlossen.

Herr Winckelmann selbst mag hierüber Richter sein!  Doch protestiere
ich gleich im voraus wider den umgekehrten Satz.  Wenn alle Künstler,
welche epoihse gebraucht, unter die späten gehören: so gehören darum
nicht alle, die sich des epoiei bedienet, unter die ältern.  Auch
unter den spätern Künstlern können einige diese einem großen Manne so
wohl anstehende Bescheidenheit wirklich besessen, und andere sie zu
besitzen sich gestellet haben.



XXVIII.


Nach dem Laokoon war ich auf nichts neugieriger, als auf das, was
Herr Winckelmann von dem sogenannten Borghesischen Fechter sagen
möchte.  Ich glaube eine Entdeckung über diese Statue gemacht zu
haben, auf die ich mir alles einbilde, was man sich auf dergleichen
Entdeckungen einbilden kann.

Ich besorgte schon, Herr Winckelmann würde mir damit zuvorgekommen
sein.  Aber ich finde nichts dergleichen bei ihm; und wenn nunmehr
mich etwas mißtrauisch in ihre Richtigkeit machen könnte, so würde es
eben das sein, daß meine Besorgnis nicht eingetroffen.

"Einige", sagt Herr Winckelmann 1), "machen aus dieser Statue einen
Discobolus, das ist, der mit dem Disco, oder mit einer Scheibe von
Metall, wirft, und dieses war die Meinung des berühmten Herrn von
Stosch in einem Schreiben an mich, aber ohne genugsame Betrachtung
des Standes, worin dergleichen Figur will gesetzt sein.  Denn
derjenige, welcher etwas werfen will, muß sich mit dem Leibe
hinterwärts zurückziehen, und indem der Wurf geschehen soll, liegt
die Kraft auf dem nächsten Schenkel, und das linke Bein ist müßig:
hier aber ist das Gegenteil.  Die ganze Figur ist vorwärts geworfen,
und ruhet auf dem linken Schenkel, und das rechte Bein ist
hinterwärts auf das äußerste ausgestrecket.  Der rechte Arm ist neu,
und man hat ihm in die Hand ein Stück von einer Lanze gegeben, auf
dem linken Arme sieht man den Riem von dem Schilde, welchen er
gehalten hat.  Betrachtet man, daß der Kopf und die Augen aufwärts
gerichtet sind, und daß die Figur sich mit dem Schilde vor etwas, das
von oben her kommt, zu verwahren scheint, so könnte man diese Statue
mit mehrerem Rechte für eine Vorstellung eines Soldaten halten,
welcher sich in einem gefährlichen Stande besonders verdient gemacht
hat: denn Fechtern in Schauspielen ist die Ehre einer Statue unter
den Griechen vermutlich niemals widerfahren: und dieses Werk scheinet
älter als die Einführung der Fechter unter den Griechen zu sein."

{1. Geschichte der Kunst, T. II. S. 394.}

Man kann nicht richtiger urteilen.  Diese Statue ist ebensowenig ein
Fechter, als ein Discobolus; es ist wirklich die Vorstellung eines
Kriegers, der sich in einer solchen Stellung bei einer gefährlichen
Gelegenheit hervortat.  Da Herr Winckelmann aber dieses so glücklich
erriet: wie konnte er hier stehen bleiben?  Wie konnte ihm der
Krieger nicht beifallen, der vollkommen in dieser nämlichen Stellung
die völlige Niederlage eines Heeres abwandte, und dem sein
erkenntliches Vaterland eine Statue vollkommen in der nämlichen
Stellung setzen ließ?

Mit einem Worte: die Statue ist Chabrias.

Der Beweis ist folgende Stelle des Nepos in dem Leben dieses
Feldherrn 2).  Hic quoque in summis habitus est ducibus: resque
multas memoria dignas gessit.  Sed ex his elucet maxime inventum ejus
in proelio, quod apud Thebas fecit, quum Boeotiis subsidio venisset.
Namque in eo victoriae fidente summo duce Agesilao, fugatis jam ab eo
conductitiis catervis, reliquam phalangem loco vetuit cedere,
obnixoque genu scuto, projectaque hasta impetum excipere hostium
docuit.  Id novum Agesilaus contuens, progredi non est ausus, suosque
jam incurrentes tuba revocavit.  Hoc usque eo tota Graecia fama
celebratum est, ut illo statu Chabrias sibi statuam fieri voluerit,
quae publice ei ab Atheniensibus in foro constituta est.  Ex quo
factum est, ut postea athletae, ceterique artifices his statibus in
statuis ponendis uterentur, in quibus victoriam essent adepti.

{2. cap. I.}

Ich weiß es, man wird noch einen Augenblick anstehen, mir Beifall zu
geben; aber ich hoffe, auch wirklich nur einen Augenblick.  Die
Stellung des Chabrias scheinet nicht vollkommen die nämliche zu sein,
in welcher wir die Borghesische Statue erblicken.  Die vorgeworfene
Lanze, projecta hasta, ist beiden gemein, aber das obnixo genu scuto
erklären die Ausleger durch obnixo in scutum, obfirmato genu ad
scutum: Chabrias wies seinen Soldaten, wie sie sich mit dem Knie
gegen das Schild stemmen, und hinter demselben den Feind abwarten
sollten; die Statue hingegen hält das Schild hoch.  Aber wie, wenn
die Ausleger sich irrten?  Wie, wenn die Worte obnixo genu scuto
nicht zusammen gehörten, und man obnixo genu besonders, und scuto
besonders, oder mit dem darauf folgenden projectaque hasta zusammen
lesen müßte?  Man mache ein einziges Komma, und die Gleichheit ist
nunmehr so vollkommen als möglich.  Die Statue ist ein Soldat, qui
obnixo genu 3), scuto projectaque hasta impetum hostis excipit; sie
zeigt, was Chabrias tat, und ist die Statue des Chabrias.  Daß das
Komma wirklich fehle, beweiset das dem projecta angehängte que,
welches, wenn obnixo genu scuto zusammengehörten, überflüssig sein
würde, wie es denn auch wirklich einige Ausgaben daher weglassen.

{3. So sagt Statius obnixa pectora (Thebaid. lib. VI. v. 863).

  --rumpunt obnixa furentes
  Pectora.


welches der alte Glossator des Barths durch summa vi contra nitentia
erklÄrt.  So sagt Ovid (Halieut. v. 11) obnixa fronte, wenn er von
der Meerbramse (Scaro) spricht, die sich nicht mit dem Kopfe, sondern
mit dem Schwanze durch die Reusen zu arbeiten sucht:

  Non audet radiis obnixa occurrere fronte.}


Mit dem hohen Alter, welches dieser Statue sonach zukÄme, stimmt die
Form der Buchstaben in der darauf befindlichen Aufschrift des
Meisters vollkommen Überein; und Herr Winckelmann selbst hat aus
derselben geschlossen, daß es die älteste von den gegenwärtigen
Statuen in Rom sei, auf welchen sich der Meister angegeben hat.
Seinem scharfsichtigen Blicke überlasse ich es, ob er sonst in
Ansehung der Kunst etwas daran bemerket, welches mit meiner Meinung
streiten kÖnnte.  Sollte er sie seines Beifalles würdigen, so dürfte
ich mich schmeicheln, ein besseres Exempel gegeben zu haben, wie
glücklich sich die klassischen Schriftsteller durch die alten
Kunstwerke, und diese hinwiederum aus jenen aufklären lassen, als in
dem ganzen Folianten des Spence zu finden ist.



XXIX.


Bei der unermeßlichen Belesenheit, bei den ausgebreitetsten feinsten
Kenntnissen der Kunst, mit welchen sich Herr Winckelmann an sein Werk
machte, hat er mit der edeln Zuversicht der alten Artisten gearbeitet,
die allen ihren Fleiß auf die Hauptsache verwandten, und was
Nebendinge waren, entweder mit einer gleichsam vorsätzlichen
Nachlässigkeit behandelten, oder gänzlich der ersten der besten
fremden Hand überließen.

Es ist kein geringes Lob, nur solche Fehler begangen zu haben, die
ein jeder hätte vermeiden können.  Sie stoßen bei der ersten
flüchtigen Lektüre auf, und wenn man sie anmerken darf, so muß es nur
in der Absicht geschehen, um gewisse Leute, welche allein Augen zu
haben glauben, zu erinnern, daß sie nicht angemerkt zu werden
verdienen.

Schon in seinen Schriften über die Nachahmung der griechischen
Kunstwerke ist Herr Winckelmann einige Male durch den Junius verführt
worden.  Junius ist ein sehr verfänglicher Autor; sein ganzes Werk
ist ein Cento, und da er immer mit den Worten der Alten reden will,
so wendet er nicht selten Stellen aus ihnen auf die Malerei an, die
an ihrem Orte von nichts weniger als von der Malerei handeln.  Wenn
zum Exempel Herr Winckelmann lehren will, daß sich durch die bloße
Nachahmung der Natur das Höchste in der Kunst, ebensowenig wie in der
Poesie erreichen lasse, daß sowohl Dichter als Maler lieber das
Unmögliche, welches wahrscheinlich ist, als das bloß Mögliche wählen
müsse: so setzt er hinzu: "Die Möglichkeit und Wahrheit, welche
Longin von einem Maler im Gegensatze des Unglaublichen bei dem
Dichter fodert, kann hiermit sehr wohl bestehen." Allein dieser
Zusatz wäre besser weggeblieben; denn er zeiget die zwei größten
Kunstrichter in einem Widerspruche, der ganz ohne Grund ist.  Es ist
falsch, daß Longin so etwas jemals gesagt hat.  Er sagt etwas
Ähnliches von der Beredsamkeit und Dichtkunst, aber keinesweges von
der Dichtkunst und Malerei.  WV d' eteron ti h rhtorikh jantasia
bouletai, kai eteron h para poihtaiV, ouk an laJoi se, schreibt er an
seinen Terentian 1); oud' oti thV men en poihsei teloV estin ekplhxiV,
thV d' en logoiV enargeia.  Und wiederum: Ou mhn alla ta men para
toiV poihtaiV muJikwteran ecei thn uperekptwsin, kai panth to piston
uperairousan· thV de rhtorikhV jantasiaV, kalliston aei to emprakton
kai enalhJeV. Nur Junius schiebt, anstatt der Beredsamkeit, die
Malerei hier unter; und bei ihm war es, nicht bei dem Longin, wo Herr
Winckelmann gelesen hatte 2): Praesertim cum poeticae phantasiae
finis sit ekplhxiV, pictoriae vero, enargeia.  Kai ta men para toiV
poihtaiV, ut loquitur idem Longinus, usw.  Sehr wohl; Longins Worte,
aber nicht Longins Sinn!

{1. Peri uyouV. tmhma id'.  Edit. T. Fabri. p. 36. 39.}

{2. De pictura vet. lib. I. cap. 4. p. 33.}

Mit folgender Anmerkung muß es ihm ebenso gegangen sein: "Alle
Handlungen", sagt er 3), "und Stellungen der griechischen Figuren,
die mit dem Charakter der Weisheit nicht bezeichnet, sondern gar zu
feurig und zu wild waren, verfielen in einen Fehler, den die alten
Künstler Parenthyrsus nannten." Die alten Künstler?  Das dürfte nur
aus dem Junius zu erweisen sein.  Denn Parenthyrsus war ein
rhetorisches Kunstwort, und vielleicht, wie die Stelle des Longins zu
verstehen zu geben scheinet, auch nur dem einzigen Theodor eigen 4).
Toutw parakeitai triton ti kakiaV eidoV en toiV paJhtikoiV, oper o
QeodwroV parenJurson ekalei· esti de paJoV akairon kai kenon, enJa mh
dei paJouV· h ametron, enJa metriou dei.  Ja ich zweifle sogar, ob
sich überhaupt dieses Wort in die Malerei übertragen läßt.  Denn in
der Beredsamkeit und Poesie gibt es ein Pathos, das so hoch getrieben
werden kann als möglich, ohne Parenthyrsus zu werden; und nur das
höchste Pathos an der unrechten Stelle, ist Parenthyrsus.  In der
Malerei aber würde das höchste Pathos allezeit Parenthyrsus sein,
wenn es auch durch die Umstände der Person, die es äußert, noch so
wohl entschuldigt werden könnte.

{3. Von der Nachahmung der griech. Werke usw. S. 23.}

{4. Tmhma b'.}

Dem Ansehen nach werden also auch verschiedene Unrichtigkeiten in der
"Geschichte der Kunst" bloß daher entstanden sein, weil Herr
Winckelmann in der Geschwindigkeit nur den Junius und nicht die
Quellen selbst zu Rate ziehen wollen.  Z. E.: Wenn er durch Beispiele
zeigen will, daß bei den Griechen alles Vorzügliche in allerlei Kunst
und Arbeit besonders geschätzet worden, und der beste Arbeiter in der
geringsten Sache zur Verewigung seines Namens gelangen können: so
führet er unter andern auch dieses an 5): "Wir wissen den Namen eines
Arbeiters von sehr richtigen Wagen, oder Wageschalen; er hieß
Parthenius." Herr Winckelmann muß die Worte des Juvenals, auf die er
sich desfalls beruft, lances Parthenio factas, nur in dem Katalogo
des Junius gelesen haben.  Denn hätte er den Juvenal selbst
nachgesehen, so würde er sich nicht von der Zweideutigkeit des Wortes
lanx haben verführen lassen, sondern sogleich aus dem Zusammenhange
erkannt haben, daß der Dichter nicht Wagen oder Wageschalen, sondern
Teller und Schüsseln meine.  Juvenal rühmt nämlich den Catullus, daß
er es bei einem gefährlichen Sturme zur See wie der Biber gemacht,
welcher sich die Geilen abbeißt, um das Leben davon zu bringen; daß
er seine kostbarsten Sachen ins Meer werfen lassen, um nicht mitsamt
dem Schiffe unterzugehen.  Diese kostbaren Sachen beschreibt er, und
sagt unter anderm:

{5. Geschichte der Kunst, T. I. S. 136.}

  Ille nec argentum dubitabat mittere, lances
  Parthenio factas, urnae cratera capacem
  Et dignum sitiente Pholo, vel conjuge Fusci.
  Adde et bascaudas et mille escaria, multum
  Caelati, biberat quo callidus emtor Olynthi.


Lances, die hier mitten unter Bechern und Schwenkkesseln stehen, was
kÖnnen es anders sein, als Teller und SchÜsseln?  Und was will
Juvenal anders sagen, als daß Catull sein ganzes silbernes Eßgeschirr,
unter welchem sich auch Teller von getriebener Arbeit des Parthenius
befanden, ins Meer werfen lassen.  Parthenius, sagt der alte
Scholiast, caelatoris nomen.  Wenn aber GrangÄus, in seinen
Anmerkungen, zu diesem Namen hinzusetzt: sculptor, de quo Plinius, so
muß er dieses wohl nur auf gutes Glück hingeschrieben haben: denn
Plinius gedenkt keines Künstlers dieses Namens.

"Ja," fährt Herr Winckelmann fort, "es hat sich der Name des Sattlers,
wie wir ihn nennen würden, erhalten, der den Schild des Ajax von
Leder machte." Aber auch dieses kann er nicht daher genommen haben,
wohin er seine Leser verweiset; aus dem Leben des Homers, vom
Herodotus.  Denn hier werden zwar die Zeilen aus der Iliade
angeführet, in welchen der Dichter diesem Lederarbeiter den Namen
Tychius beilegt; es wird aber auch zugleich ausdrücklich gesagt, daß
eigentlich ein Lederarbeiter von des Homers Bekanntschaft so geheißen,
dem er durch Einschaltung seines Namens seine Freundschaft und
Erkenntlichkeit bezeigen wollen 6): Apedwke de carin kai Tuciw tv
skutei, oV edexato auton en tv New teicei, proselJonta proV to
skuteion, en toiV epesi katazeuxaV en th Iliadi toisde.

{6. Herodotus de vita Homeri, p. 756. Edit. Wessel.}

  AiaV d' egguJen hlJe, jerwn sakoV hute purgon,
  Calkeon, eptaboeion· o oi TucioV kame teucwn
  Skutotomwn oc' aristoV, Ulh eni oikia naiwn.


Es ist also grade das Gegenteil von dem, was uns Herr Winckelmann
versichern will; der Name des Sattlers, welcher das Schild des Ajax
gemacht hatte, war schon zu des Homers Zeiten so vergessen, daß der
Dichter die Freiheit hatte, einen ganz fremden Namen dafÜr
unterzuschieben.

Verschiedene andere kleine Fehler sind bloße Fehler des GedÄchtnisses,
oder betreffen Dinge, die er nur als beiläufige Erläuterungen
anbringst. Z. E.

Es war Herkules, und nicht Bacchus, von welchem sich Parrhasius
rühmte, daß er ihm in der Gestalt erschienen sei, in welcher er ihn
gemalt 7).

{7. Gesch. der Kunst, T. I. S. 167. Plinius lib. XXXV. sect. 36.
Athenaeus lib. XII. p. 543.}

Tauriskus war nicht aus Rhodus, sondern aus Tralles in Lydien 8).

{8. Gesch. der Kunst, T. II. S. 353. Plinius lib. XXXVI. sect. 4. p.
729.1. 17.}

Die Antigone ist nicht die erste TragÖdie des Sophokles 9).

{9. Gesch. der Kunst, T. II. S. 328. "Er führte die Antigone, sein
erstes Trauerspiel, im dritten Jahre der siebenundsiebenzigsten
Olympias auf." Die Zeit ist ungefähr richtig, aber daß dieses erste
Trauerspiel die "Antigone" gewesen sei, das ist ganz unrichtig.
Samuel Petit, den Herr Winckelmann in der Note anführt, hat dieses
auch gar nicht gesagt; sondern die "Antigone" ausdrücklich in das
dritte Jahr der vierundachtzigsten Olympias gesetzt.  Sophokles ging
das Jahr darauf mit dem Perikles nach Samos, und das Jahr dieser
Expedition kann zuverlässig bestimmt werden.  Ich zeige in meinem
"Leben des Sophokles", aus der Vergleichung mit einer Stelle des
älteren Plinius, daß das erste Trauerspiel dieses Dichters,
wahrscheinlicherweise, "Triptolemus" gewesen.  Plinius redet nämlich
(libr. XVIII. sect. 12. p. 107. Edit. Hard.) von der verschiedenen
Güte des Getreides in verschiednen Ländern und schließt: Hae fuere
sententiae, Alexandro magno regnante, cum clarissima fuit Graecia,
atque in toto terrarum orbe potentissima; ita tamen ut ante mortem
ejus annis fere CXLV Sophocles poeta in fabula "Triptolemo" frumentum
Italicum ante cuncta laudaverit, ad verbum translata sententia:

  Et fortunatam Italiam frumento canere candido.

Nun ist zwar hier nicht ausdrücklich von dem ersten Trauerspiele des
Sophokles die Rede; allein es stimmt die Epoche desselben, welche
Plutarch und der Scholiast und die Arundelschen Denkmäler einstimmig
in die siebenundsiebzigste Olympias setzen, mit der Zeit, in welche
Plinius den "Triptolemus" setzet, so genau überein, daß man nicht
wohl anders als diesen "Triptolemus" selbst für das erste Trauerspiel
des Sophokles erkennen kann.  Die Berechnung ist gleich geschehen.
Alexander starb in der hundertundvierzehnten Olympias;
hundertundfünfundvierzig Jahr betragen sechsunddreißig Olympiaden und
ein Jahr, und diese Summe von jener abgerechnet, gibt
siebenundsiebzig.  In die siebenundsiebzigste Olympias fällt also der
Triptolemus des Sophokles, und da in eben diese Olympias, und zwar,
wie ich beweise, in das letzte Jahr derselben, auch das erste
Trauerspiel desselben fällt: so ist der Schluß ganz natürlich, daß
beide Trauerspiele eines sind.  Ich zeige zugleich ebendaselbst, daß
Petit die ganze Hälfte des Kapitels seiner Miscellaneorum (XVIII. lib.
III. eben dasselbe, welches Herr Winckelmann anführt) sich hätte
ersparen können.  Es ist unnötig, in der Stelle des Plutarchs, die er
daselbst verbessern will, den Archon Aphepsion, in Demotion, oder
aneyioV zu verwandeln.  Er hätte aus dem dritten Jahr der 77ten
Olympias nur in das vierte derselben gehen dürfen, und er würde
gefunden haben, daß der Archon dieses Jahres von den Schriftstellern
ebenso oft, wo nicht noch öftrer, Aphepsion, als Phädon genennet wird.
Phädon nennet ihn Diodorus Siculus, Dionysius Halicarnasseus und
der Ungenannte in seinem Verzeichnisse der Olympiaden.  Aphepsion
hingegen nennen ihn die Arundelschen Marmor, Apollodorus, und der
diesen anführt, Diogenes Laërtius.  Plutarchus aber nennet ihn auf
beide Weise; im Leben des Theseus Phädon, und in dem Leben des Cimons,
Aphepsion.  Es ist also wahrscheinlich, wie Palmerius vermutet,
Aphepsionem et Phaedonem archontas fuisse eponymos: scilicet uno in
magistratu mortuo, suffectus fuit alter.  (Exercit. p. 452.)--Vom
Sophokles, erinnere ich noch gelegentlich, hatte Herr Winckelmann
auch schon in seiner ersten Schrift von der Nachahmung der
griechischen Kunstwerke (S. 8) eine Unrichtigkeit einfließen lassen.
"Die schönsten jungen Leute tanzten unbekleidet auf dem Theater und
Sophokles, der große Sophokles, war der erste, der in seiner Jugend
dieses Schauspiel seinen Bürgern gab." Auf dem Theater hat Sophokles
nie nackend getanzt; sondern um die Tropäen nach dem salaminischen
Siege, und auch nur nach einigen nackend, nach andern aber bekleidet
(Athen. lib. I. p. m. 20.).  Sophokles war nämlich unter den Knaben,
die man nach Salamis in Sicherheit gebracht hatte; und hier auf
dieser Insul war es, wo es damals der tragischen Muse alle ihre drei
Lieblinge, in einer vorbildenden Gradation, zu versammeln beliebte.
Der kühne Aeschylus half siegen; der blühende Sophokles tanzte um die
Tropäen, und Euripides ward an eben dem Tage des Sieges, auf eben der
glücklichen Insel geboren.}

Doch ich enthalte mich, dergleichen Kleinigkeiten auf einen Haufen zu
tragen.  Tadelsucht könnte es zwar nicht scheinen; aber wer meine
Hochachtung für den Herrn Winckelmann kennet, dürfte es für
Krokylegmus halten.


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Lessing.





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