Home
  By Author [ A  B  C  D  E  F  G  H  I  J  K  L  M  N  O  P  Q  R  S  T  U  V  W  X  Y  Z |  Other Symbols ]
  By Title [ A  B  C  D  E  F  G  H  I  J  K  L  M  N  O  P  Q  R  S  T  U  V  W  X  Y  Z |  Other Symbols ]
  By Language
all Classics books content using ISYS

Download this book: [ ASCII | HTML | PDF ]

Look for this book on Amazon


We have new books nearly every day.
If you would like a news letter once a week or once a month
fill out this form and we will give you a summary of the books for that week or month by email.

Title: Die Falkner vom Falkenhof. Zweiter Band.
Author: Adlersfeld-Ballestrem, Eufemia von
Language: German
As this book started as an ASCII text book there are no pictures available.


*** Start of this LibraryBlog Digital Book "Die Falkner vom Falkenhof. Zweiter Band." ***


[ Symbole für Schriftarten: _gesperrt_ : =Antiqua= ]



  Die
  Falkner vom Falkenhof

  Roman von
  Euf. v. Adlersfeld-Ballestrem

  Fünfundzwanzigste Auflage

  Zweiter Band

  Verlag von Philipp Reclam jun. Leipzig


  Alle Rechte vorbehalten

  Gedruckt 1922 in der Druckerei von Philipp Reclam jun.
  Leipzig



Dolores hatte in der letzten Nacht schwere, seltsame Träume. Ihr träumte,
sie müßte gegen dichte wogende Nebel ankämpfen in kalter Nacht auf einem
unebnen, steinigen Wege, dessen scharfe Kanten ihre Füße verletzten.
Endlich aber stand sie vor einer undurchdringlich grauen Wand -- sie wußte
nicht, war's Nebel, war's ein Felsen, der den Weg versperrte. Rechts und
links gähnten tiefe Abgründe, die ins Unendliche zu führen schienen, und
als sie sich wendete, um zurück zu gehen, da hatte ein rauschender Strom
den Weg überschwemmt oder fortgerissen, so daß sie verloren schien. Und
in der furchtbaren Angst, die sie befiel, klopfte sie an den Felsen wie an
eine Thür. Und siehe da -- die kahle graue Wand schien sich auseinander zu
schieben, die Nebel schienen zu zerreißen, dünner und dünner zu werden,
und endlich sah sie durch die Wand hindurch, und sah -- sich in ihrem
eignen Zimmer sitzen. Aber sie war nicht allein. Ihr gegenüber hatte
Doktor Ruß Platz genommen. Der sprach eifrig in sie hinein -- sie hörte
den musikalischen Ton seiner Stimme, aber sie verstand seine Worte nicht.
Und er schob ein auf großem, weißem Bogen entworfenes Schriftstück auf
dem Tisch zu ihr hinüber und sie sah, wie sie selbst das Dokument ergriff,
zerriß und in das Feuer warf, welches im Kamin brannte. Da erhob sich
Doktor Ruß und drückte auf den Kopf der linken Kaminmantelfigur und der
ganze Kamin drehte sich hinein in die Wand mitsamt dem Doktor Ruß wie ein
Karussell, und als er wieder mit seiner Vorderseite erschien, war Doktor
Ruß verschwunden. Da begannen wieder Nebel zu ziehen über das klare Bild
-- hastig, wie vom Sturm gejagt, und wieder zerrissen die grauen Wolken,
und wieder sah Dolores sich selbst stehen im Dämmerlicht, im weißen
Kleid, Hand in Hand mit Alfred Falkner. Und der Ort, an dem sie standen,
war das Hexenloch unten im Park. Schwarz schimmerte das scheinbar
regungslose Wasser, geheimnisvoll flüsterten die Tannen und Buchen
über ihren Häuptern, es webte in der stillen Abendluft seltsam und
geheimnisvoll, und wo im Westen der Park eine Lichtung hatte, schimmerte
blutrot ein Streifen an der Stelle, wo die Sonne eben untergegangen war.
Und Alfred Falkner ließ ihre Hände los und schritt durch die Lichtung dem
Streifen entgegen. Da ward es ganz dunkel. Und es hob sie ein Etwas empor,
und die Wasser des Hexenloches schlugen über ihr zusammen, und es ward
dunkel und dunkler um sie -- --

Und als sie die Augen aufschlug, träumte ihr weiter, da sah sie sich
langsam durch den Park schreiten, einen Brief in der Hand mit einem fremden
Poststempel. Sie zerriß das Couvert und begann den Brief zu lesen, aber
während sie dazu ihre Schritte anhielt, schlug etwas in das Briefblatt,
sie wußte nicht was, doch sie sah, daß ein erbsengroßes, rundes Loch mit
versengten Rändern in dem Papier entstanden war. Und wieder ward es
licht, und sie sah sich abermals selbst auf die Terrasse des Falkenhofes
hinaustreten, wo Frau Ruß und ihr Mann standen. Hinter ihr brachten
Diener einen fertig besetzten Theetisch, und alle nahmen Platz und Dolores
schenkte drei Tassen Thee ein. Da kam Engels hastigen Schrittes die
Terrasse herauf, die Flinte über der Schulter, einen erlegten, mächtig
großen Vogel in den Händen, und alles sprang auf, die Beute zu sehen, und
während Engels die Flügel des Vogels auseinanderlegte, sah Dolores sich
selbst die Spannweite der Flügel messen. Währenddessen schien es ihr, als
thäte Doktor Ruß ein Stück Zucker in ihre Theetasse, und sie schrie auf:
»Nicht so süß! Nicht so süß!« Aber sie trank den Thee dennoch, und
er schmeckte nicht süß, aber fremdartig, ihr ekelte es vor dem Getränk.
Während sie aber trank, sah sie die kalten, hellblauen Augen der Frau Ruß
mit seltsam forschendem, grausamem Ausdruck auf sich gerichtet, und
diese Augen bohrten ihren Blick bis _tief_ hinein in ihr Herz, daß eine
furchtbare Angst sie ergriff, und doch, der Schrei um Hilfe vor diesem
schrecklichen Augenpaar kam nicht über ihre Lippen, Angstschweiß, wahrer
Todesschweiß trat auf ihre Stirn --

Da legte sich eine sanfte, kühle Hand auf ihr Haupt -- der Alp wich, und
zitternd erwachte sie aus dem quälenden Traume --

Doch nur halb erwachte sie, um halb wachend sogleich wieder weiter zu
träumen, denn ihr war's, als ruhe die kühle Hand immer noch auf ihrer
Stirn, und als sie die Augen aufschlug, sah sie die Gestalt der Ahnfrau
Maria Dolorosa im schwachen Schein der Nachtlampe neben ihrem Bette stehen,
freundlich lächelnd, genau wie das Bild in der gefundenen Kapsel. Und
die Gestalt beugte sich herab und küßte mit kalten Lippen die Wangen der
Träumenden.

»Dolores, Erlöserin!« flüsterte es in ihr Ohr, »Gott hat dich
gewürdigt, hinter den Schleier der Zukunft zu schauen. Du kennst nun die
Gefahren, die sie für dich birgt -- aber sei stark und mutig, eine echte
Falkner. Und bleibst du hier, so bleib' auch ich dir zur Seite mit meinem
Schutz, der die Warnung ist. Mehr darf ich dir nicht geben -- o, daß du
nicht unterliegen möchtest, Dolores, Blut von meinem Blute --«

Mehr hörte Dolores nicht, denn ruhig und fest schlief sie weiter, doch als
Tereza sie am Morgen weckte, schmerzte sie der Kopf, und sie mußte
über ihren Traum nachdenken, bis er wieder in jeder Einzelheit vor ihrem
geistigen Auge stand.

»Solch' wirres, thörichtes Zeug,« schalt sie sich selbst. »Das macht
der starke Thee von gestern Abend.«

Aber es fröstelte sie trotzdem, als sie des schrecklichen Blickes
gedachte, von dem ihr geträumt, doch an den Kuß der toten Ahnfrau
dachte sie ohne Grauen. Und je mehr sie nachdachte über die Träume der
vergangenen Nacht, je mehr hätte sie darauf schwören können, daß sie
die Erscheinung der Freifrau Dolorosa wirklich gesehen, daß kein Traum ihr
dieselbe gezeigt, kein Zustand von halbem Wachen und halbem Schlafen, und
es gewährte ihr eine Beruhigung, sich diese Unmöglichkeit vorzustellen
und einzureden mit der klaren Begründung, daß es eben eine Unmöglichkeit
war.

»Ich werde nervös,« dachte sie am Ende. »Luft und Arbeit -- Arbeit,
damit die Traumgestalten weichen.« --

Als Engels dann mit seinen Rapporten und Akten erschien -- »als
vortragender Rat vor Ihrer Majestät der regierenden Herrin von
Falkenhof,« wie er sich gern scherzhaft selbst nannte -- da sah er sie
lange kopfschüttelnd an.

»Fräulein Dolores, Sie gefallen mir gar nicht,« sagte er endlich, als
ihre nervös bebenden Hände die Feder fallen ließen, mit der sie ihre
Unterschrift geben sollte.

»Aber lieber Engels, das wäre ja schrecklich,« versuchte sie zu
scherzen.

»Blasse Wangen, blaue Ränder unter den Augen -- es kleidet Sie ja, aber
richtig ist es doch nicht,« sagte er kopfschüttelnd. »Und nun gar noch
den Tadderich in den Händen -- na! na!«

»Ich habe schlecht geschlafen -- schreckliche Dinge geträumt --
Gespenster gesehen,« erwiderte sie lachend.

»Weiter nichts?« fragte er. »Na, dagegen giebt's Mittel, gute Mittel.
Erstens spazieren gehen bis Sie rechtschaffen müde sind; zweitens abends
nicht zuviel essen oder starken Thee trinken -- --«

»Und gegen die Gespenster?« fragte sie, als er einhielt.

Da holte er seinen Stock, den er an der Thür stehen gelassen hatte, und
machte eine sehr deutliche Bewegung damit.

»Lassen Sie mich mal aufpassen,« bat er, »und ich garantiere Ihnen, daß
kein Gespenst mehr erscheint.«

»O, ich bin von dem Erfolge im voraus überzeugt,« rief Dolores lachend.
»Aber seien Sie ruhig -- die Sorte von Gespenstern beschwöre ich schon
allein, und es hat sich auch noch keines an mich herangewagt.«

»Wäre auch höchst unvorsichtig,« brummte Engels und kehrte zu seinen
Papieren zurück.

Dolores setzte ihren Namen unter das letzte Aktenstück und reichte es ihm
hinüber.

»Das werden Sie nächstens allein besorgen müssen,« sagte sie leicht.

»Wieso allein?«

»Nun zum Winter mache ich mich aus dem Staube -- das heißt aus dem
nordischen Schnee nach dem Süden. Da sind Sie dann Alleinherrscher im
Falkenhofe.«

»Dazu brauchte ich aber eine Vollmacht,« brummte Engels.

»Die sollen Sie auch haben,« erwiderte Dolores. »Sogar eine
Generalvollmacht, wie sich's für den großen Besitz schickt. Apropos, Sie
waren ja Jurist, lieber Engels, und können mir eine Frage beantworten, die
in das Fach schlägt.«

»Gern. Aber ich fürchte, ich habe mein =corpus juris= längst vergessen
und pfusche mit meinem Rat unserem Justizrat bloß ins Handwerk --«

»O bewahre -- der müßte ja überdies noch gefragt werden. Also setzen
wir einmal den Fall, daß ich den Falkenhof verschenken wollte -- sagen
wir, an den nächsten männlichen Agnaten --«

»Der ihn nicht genommen hat,« unterbrach Engels trocken.

»Nein. Nun aber nehmen wir weiter an, daß dieser Agnat sich
verheiratet --«

»Mit Ihnen? Hurra!« schrie Engels, rot vor Freude.

»Nein, nicht mit mir,« unterbrach Dolores den Enthusiasmus des guten
alten Menschen etwas scharf. Sie war blaß geworden.

»Nicht mit Ihnen?« meinte Engels kleinlaut. »Na, dann ist's ja egal --
dann mag er wegen mir Teufels Großmutter heiraten.«

»Ich hoffe, er wird einen besseren Geschmack entwickeln,« sagte Dolores
und lächelte etwas gezwungen. »Auf alle Fälle aber möchte ich der
künftigen Frau von Falkner den Falkenhof als Morgengabe verschreiben. Geht
das an, lieber Engels?«

»Nee, das geht gottlob nicht,« war die prompte Erwiderung. »Das hieße
ja den Agnaten schädigen.«

»Schädigen, Engels? Schädigen, wenn ich seiner Frau verschreibe, was er
bloß aus -- aus eigenen Gründen nicht zurücknimmt, trotzdem es ihm doch
besser zukommt als mir, der Frau, die doch nur ein dürrer Ast ist an dem
Stammbaum?«

»Ich werde Ihnen mal was sagen, Fräulein Dolores,« meinte Engels
gemütlich. »Wie Sie, hab' ich ja anfangs auch gedacht. Das wissen Sie.
Aber schließlich habe ich doch noch Einsicht genug bewahrt, um mir zu
sagen, daß das alles Unsinn ist, Unsinn, der in Ihren vom Falkenhof
unabhängigen Mitteln seinen Ursprung hat. Sie sind reich -- gut für
Sie! Aber nehmen Sie an, Sie wären's nicht, da wäre der lebenslängliche
Besitz des Lehens doch ein Segen für Sie, trotz der ideal-verrückten
Ansicht, daß Reichtum nicht glücklich macht. Warum sollen Söhne alles,
Töchter nichts haben? Nein, die Primogenitur im Falkenhof ist nur eine
Gerechtigkeit. Aber davon wollten wir eigentlich nicht reden, sondern von
der Verschreibung des Besitzes an die Frau des Agnaten. Deswegen brauchen
Sie den Justizrat nicht erst zu belästigen, denn es liegt ja klar am Tage,
daß diese Idee sich zwar bei jedem ixbeliebigen Privatbesitz, nicht aber
beim Falkenhof realisieren läßt.«

»Ich sehe den Grund, der dagegen spricht, noch nicht ein.«

»Aber Fräulein Dolores, Sie haben doch sonst ein so helles Köpfchen,«
meinte Engels sanft tadelnd. »Nehmen Sie also mal an, daß der Falkenhof
wirklich der jungen Frau verschrieben wird. Nehmen Sie weiter an, daß das
junge Paar sich trennt, sich scheiden läßt --«

»Unmöglich bei Katholiken,« unterbrach Dolores.

»Gott, man hat schon erlebt, daß Religionen aus diesen Gründen
gewechselt wurden wie die Handschuhe,« entgegnete Engels achselzuckend.
»Außerdem -- wissen Sie's denn schon so genau, daß Baron Falkner auch
eine Katholikin wählen wird?«

Dolores verneinte nur stumm, denn es war ihr eingefallen, daß Prinzeß
Lolo Protestantin war.

»Na also!« fragte Engels. »Also lassen Sie die Sache mal schief gehen
und die Ehe sich lösen, dann zieht die junge Frau ohne Schwierigkeit mit
einem anderen Mann ein in den Falkenhof, und der der nächste dazu ist,
hat das Nachsehen für immer. Auf diesen Eventualitäten basiert sich die
Unmöglichkeit, ein Lehen zu verschenken.«

»Damit muß ich mich wohl bescheiden, Sie Unglück, Scheidung und andere
schreckliche Dinge krächzender Rabe,« versetzte Dolores scherzend. »Wer
denkt denn überhaupt an solche Dinge, wenn zwei sich heiraten sollen?«

»Natürlich nur der Jurist, wenn man von den bösen Zungen von Profession
einmal absehen will,« gab Engels zurück, und da die Geschäfte für heut'
erledigt waren, so empfahl er sich auch. In der Thür machte er noch einmal
kehrt.

»Hören Sie, Fräulein Dolores,« sagte er unsicher, »das war alles ganz
gut und schön mit mir, als ich unter meines Freundes und Brotherrn stets
wachsamen Augen dem Falkenhof als Verwalter vorstand. Aber ob ich zum
Generalbevollmächtigten tauge, weiß niemand und Sie am allerletzten.
Können Sie keinen Besseren finden?«

»Nein, keinen Besseren,« erwiderte Dolores mit solch' überzeugender
Freundlichkeit, daß Engels mit leuchtenden Augen ihre kleine Hand ergriff
und sie sogar küßte. Und er sagte dann auch weiter nichts als: »=Bon!=
Mein Schaden ist's ja nicht!« -- und verließ mit dieser originellen
Danksagung »das Lokal,« wie er sich ausdrückte, das brave Herz innen
aber geschwellt von Dankbarkeit und dem gerechten Stolze eines redlichen
Mannes, der sein Brot lange in oft nicht gerade süßer Abhängigkeit
gegessen und sich dafür endlich in einer Stellung sieht, die dem
Schiffbrüchigen des Lebens als ersehntes Ziel stets vor Augen geschwebt.

Der Abend brachte dann die Gäste aus Monrepos und Arnsdorf, und Dolores
empfing sie an der Seite des Rußschen Ehepaares, das sich dem kleinen
Kreise vollkommen anpaßte, wenn ihm ja auch durch jahrelange Einsamkeit
der leichtere Konversationston abhanden gekommen war. Zwar fand sich Doktor
Ruß, der ganz ausgezeichnet gut und bedeutend aussah, ohne Übergang
leicht in den Ton hinein, der ihm von Jugend an fremd gewesen, aber er
gehörte eben zu den selten begabten Menschen, welche instinktiv gesellige
Formen und Allüren finden, sobald sie deren bedürfen, im Gegensatz zu
denen, welche neben mühsam errungener geistiger Bildung in ihrem Auftreten
stets ungeschliffen und unbeholfen bleiben. Fräulein von Drusen, die
Hofdame, welche stets sehr scharf gegen Mesalliancen eiferte und der
früheren Freifrau von Falkner die ihrige nie vergeben und vergessen
hatte, war nach einer halben Stunde entzückt von ihrem Tischnachbarn, dem
»simplen« Doktor Ruß, der nicht nur wie ein Gentleman aussah und sprach,
sondern es auch war. Und wie das Herz der alten Hofdame, so gewann er sich
auch zweifellos nicht nur die Zustimmung, sondern auch die entschiedene
Approbation der anderen. Frau Ruß sah sehr stattlich aus in der von
Theresa verfertigten schwarzen Schleierhaube, sie sprach wenig und fühlte
sich ausrangiert, trotzdem sie bei Tisch neben dem Herzog saß. Der
Herzog suchte sich viel mit ihr zu unterhalten, sie blieb aber einsilbig,
beobachtete dafür aber scharf und ihre kalten Augen schienen sich
jedermann in die Seele bohren zu wollen.

Nach Tisch begann Lolo dann eine ziemlich ungenierte Inspektion der
von Dolores bewohnten Räume, in welche man nach aufgehobener Tafel
hinaufgestiegen war. Sie fand das Erkerzimmer »reizend,« den Rokokosalon
»himmlisch,« erklärte den Ahnensaal für »bezaubernd aber gruselig,
der vielen Augen wegen, die einen aus den Rahmen ansehen,« und meinte,
den zwischen dem Saal und dem Schlafzimmer liegenden, getäfelten Raum,
den Dolores sich als Bücherei und abendliches Arbeitszimmer eingerichtet,
würde sie sicher nicht viel benutzen.

»Denn Sie wissen, ich sehe mir alles schon so genau an, weil es ja doch
mein Hochzeitsgeschenk ist,« flüsterte sie Dolores übermütig zu, doch
als letztere ihr erklärte, daß sie mehr versprochen, als sie halten
könne und den Falkenhof nicht verschenken dürfe, that dies der guten
Laune der Prinzessin keinen Eintrag.

»Er, der herrlichste von allen, ist ja doch der Erbe,« tröstete sie
sich.

»Nach meinem Tode erst,« warf Dolores ein.

»So?« machte das Prinzeßchen mit großen Augen und setzte mit dem ihr
eigenen Optimismus hinzu: »Schadet nichts! Sie können ja sterben oder
früher abdanken, wie Papa es thun will -- und wenn Sie keins von
beiden thun, so bleiben Sie unsere Erbtante und verziehen unsere Kinder.
Abgemacht?«

»Natürlich,« sagte Dolores, wider Willen zum Lachen gezwungen durch die
starke Naivetät des Herzogstöchterleins, das bei seinem weiten Blick in
die Zukunft noch nicht einmal wußte, ob »der herrlichste von allen« ihr
sein Herz überhaupt geschenkt.

Im Ahnensaal standen indes der Erbprinz und Falkner vor dem schönen Bilde
der unglücklichen Freifrau Dolorosa.

»Das ist ja eine stupende Ähnlichkeit mit unserer liebenswürdigen
Wirtin,« meinte ersterer, der sich von dem Bilde nicht trennen konnte.

»Es ist in der That eine wunderbare Laune der Natur, der Enkelin die Züge
der Ahne zu geben,« sagte Falkner. »Doch zum Glück fehlt meiner Cousine
der Zug von Schmerz, der auf dem Antlitz der ›bösen Freifrau‹ liegt.«

»Finden Sie?« fragte der Erbprinz leise. »Ich meine, diesen Ausdruck
schon in den Augen der Freiin Dolores gesehen zu haben.«

»Hoheit sind ein scharfer Beobachter,« erwiderte Falkner wider Willen
gereizt. »Ich habe davon noch nichts bemerkt -- wie käme auch Schmerz in
den Blick der Satanella?« setzte er fragend hinzu, doch ohne die scharfe
Bitterkeit von früher.

Der Erbprinz hörte den Unterschied aber nicht heraus.

»Die arme Satanella!« rief er spöttisch. »Falkner, Falkner, wie kann
man sich nur so in ein Vorurteil verbeißen!«

Aber Falkner zuckte mit den Schultern. Er hatte seine Frage anders gemeint;
daß sie anders aufgefaßt wurde, ließ ihn kalt. Die anderen traten nun
auch hinzu, und auf die Erklärung, daß dies wunderbare Ebenbild der
Schloßherrin auch des Schlosses Irrgeist sei, ruhte Prinzeß Lolo nicht
eher, bis sie die Geschichte der »bösen Freifrau« erfahren hatte.
Nun blühte Doktor Ruß' Weizen, denn Dolores mußte ihm den Band der
Familienchronik jener Zeit reichen -- man gruppierte sich um das Bild,
und er trug mit seinem weichen, leisen, musikalischen Organ den still und
erschüttert Lauschenden die todestraurige Geschichte vor, die wir schon
kennen.

»Die Arme! Was muß sie gelitten haben,« sagte Prinzeß Alexandra leise,
als die Tragödie voriger Tage verklungen war. Dies erste Wort war für
Graf Schinga das Signal, sich zu schneuzen, daß es im Saal ein vielfaches
Echo erweckte.

»Ich kann solch' trauriges Zeug gar nicht hören,« versicherte er mit
übergehenden Augen, wie einer, der niesen will und nicht darf. »In
›Maria Stuart‹ habe ich mal so heulen müssen -- wie ein Schloßhund,
wahrhaftig, daß das andere Publikum schon Mitleid mit mir hatte und der
Logenschließer mich hinausbugsieren wollte. Seitdem sehe ich mir nur noch
Lustspiele an und höchstens mal eine Oper, denn wenn der Tenor schmettert:

  Ja du bist meine Seligkeit,
  Doch er -- er sei dem Tod gewei--heit --

oder die Primadonna trillert:

  Ich lächle unter Thrä--ää--äää--äääänen --

das ist ja kolossal rührend, aber doch nicht so steinerweichend.«

Nach dieser Erklärung kam Doktor Ruß wieder auf die Freifrau Dolorosa
zurück, und er schilderte ihr traurig Ende.

»Sie soll aber noch einmal zu klarem Bewußtsein gelangt sein,« schloß
er. »Denn es wird in der Chronik berichtet, daß Gott den Schleier des
Wahnsinns kurz vor ihrem Tode von ihrer Seele nahm und ihr die Gabe des
Hellsehens verliehen habe. In diesem Zustande, in welchem sie von allem
wußte, nach allem fragte und Anordnungen traf für ihr letztes Stündlein,
in diesem Zustande soll sie dem Geschlechte der Falkner eine Prophezeiung
hinterlassen und sogar aufgezeichnet haben.«

»Eine Prophezeiung?« fragte man unwillkürlich, Falkner mit inbegriffen,
der so gesessen hatte, daß er während der ganzen Geschichte der Freifrau
Dolorosa fortwährend das Profil von Dolores sehen mußte, welches sich von
dem rubinroten Plüsch ihres Sessels klar und bleich abhob wie eine antike
Kamee.

»Und wie lautet diese Prophezeiung?« fragte Gräfin Schinga interessiert.

»Sie mag wohl verloren gegangen sein,« antwortete Doktor Ruß. »Ich
habe sie wenigstens beim Ordnen des Archivs und der Bibliothek nicht finden
können.«

»Oder sie ist überhaupt eine Fabel,« meinte der Herzog. »Und wenn sie's
ist, so wär's das beste, denn meist erwecken solche Prophezeiungen,
selbst wenn sie nachträglich gemacht werden, nur den Aberglauben und seine
traurigsten Folgen. Ich halte nicht viel davon, denn etwas Humbug ist immer
dabei im Spiel.«

»Da möchte ich zu widersprechen wagen, Hoheit,« entgegnete Doktor Ruß.
»Was wir gemeinhin Hellseherei und als deren Produkt Prophezeiung nennen,
ist ein hypnotischer Zustand, der für uns zwar heutzutage noch viel
Unerklärtes in sich schließt, wissenschaftlich beleuchtet aber immer
verständlicher wird. Und warum sollen die Leute dazumal dem Hypnotismus
weniger zugänglich gewesen sein, als heut' die vielen ›Medien‹ von
Profession? Die Prophezeiungen alter Tage sind in hypnotischem Zustand
abgegebene Erklärungen -- Reisefrüchte einer Seele in jenes ferne Land,
das wir die Zukunft nennen.«

»Hm! Hm! Ich bin hierin etwas skeptisch, lieber Doktor,« erwiderte der
Herzog, während der Erbprinz ausrief:

»Ah, also ein Bundesgenosse! Du siehst daraus, lieber Papa, daß ich nicht
allein stehe mit dem, was du gemeinhin unter die Rubrik ›Blödsinn‹
rangierst.«

»Kinder, laßt mich in Ruhe,« meinte der Herzog mit behaglichem Lächeln.
»Zu meiner Zeit, da wußte man nichts von Hypnotismus und solchem Zeug,
womit die Leute nur verrückt gemacht werden. Da ließ man die Menschen
wahrsagen und träumen, was sie Lust hatten, und man brauchte es nicht zu
glauben, wenn man nicht wollte. Aber jetzt möchte man sich abends schon
mit Angst ins Bett legen bei dem Gedanken, daß die Seele einen kleinen
Abstecher macht, Gott weiß wohin, und am Ende das Wiederkommen gar
vergißt. Denn nach meinem Herrn Sohn sind Träume auch hypnotische
Produkte, zu welcher Ansicht ich mich leider so lange nicht bekennen kann,
als ich noch jedesmal vor feierlichen Gelegenheiten träume, daß mir bei
Staatsakten allemal die notwendigsten Kleidungsstücke fehlen. Prophetisch
können die Angstträume nicht sein, denn so lange ich noch bei Verstande
bin, werde ich voraussichtlich Landtage und Ausstellungen nicht in einem
Kostüm eröffnen, das für meine afrikanischen Kollegen ganz praktisch,
bei uns aber ganz ungewöhnlich ist.«

»Papa ist eben ganz unüberzeugbar,« sagte der Erbprinz, wider Willen
einstimmend in das lustige Lachen, das die herzogliche Traumdeutung
hervorrief durch die ruhige, trockene Art, wie der hohe Herr sie vortrug.

Falkner, der nicht lachte, weil er gar nichts von des Herzogs Rede gehört
hatte, sah nur das feine bleiche Profil an der Stuhllehne ihm gegenüber
sich wenden und den schönen Mund lachen -- eigentlich nur lächeln, um
sofort wieder ernst zu werden.

»Trotz der entschieden unprophetischen Träume Eurer Hoheit gehöre ich
aber auch zu den Frondeuren gegen Ihre Ansicht,« sagte Dolores. »Darf ich
_meine_ Beweise vorbringen, daß Träume kein bedeutungsloser Unsinn sind,
oder sein können?«

»Ich bitte darum, und bin ganz Ohr,« erwiderte der Herzog, und alles
lauschte gespannt, als Dolores begann:

»O, ich werde kurz sein. Mir träumte also von der bösen Freifrau, und
ich sah sie naturgemäß, genau in derselben Kleidung, wie hier vor uns auf
dem Bilde!«

»Hu! Wie graulich,« machte Prinzeß Lolo mit kokettem Erschauern.

»Nein, mir war es nicht zum Fürchten,« fuhr Dolores fort, »denn sie
sprach sehr freundlich und liebevoll mit mir. Und mir träumte weiter, daß
sie mir ein Geheimfach zeigte, und ich sah deutlich, wie es zu öffnen
war. Daran wäre nun nichts Wunderbares -- Bedeutung erhält der Traum aber
durch den Umstand, daß ich später das Geheimfach wirklich fand und es
öffnen konnte durch den Mechanismus, welchen mir die Ahnfrau im Traume
gezeigt.«

Ein allgemeines »Ah« des Staunens durchlief den kleinen Kreis bei dieser
Erzählung, und der Herzog meinte schmunzelnd:

»Hoffentlich hat der allerdings ganz wunderbare Traum auch seine
praktische Seite, denn ich vermute, daß Sie in dem Geheimfache einen
Schatz gefunden haben.«

»Einen Schatz fand ich zwar nicht darin, wohl aber die Prophezeiung, deren
Doktor Ruß vorhin erwähnte!«

Ein plötzliches, wunderbares Naturereignis hätte den kleinen Kreis nicht
in stupenderes Staunen, in größere Aufregung versetzen können, als die
einfachen, ruhig gesprochenen Worte Dolores Falkners es thaten. Namentlich
der Erbprinz war ganz Feuer und Flamme geworden und wollte von der
Erzählerin alle Details des Traumes wissen, was sie während desselben
gefühlt, was nachher empfunden.

»O, wenn ich die Wahrheit bekennen soll, so muß ich eingestehen, daß ich
heut' noch darauf schwören möchte, alles im wachenden Zustande erlebt,
nicht geträumt zu haben,« erwiderte Dolores. »Doch das ist ja natürlich
Unsinn -- es _war_ ein Traum, das beweist die Unfähigkeit, mich zu regen,
welche ich während desselben empfand.«

»Hypnotismus!« rief der Erbprinz triumphierend. »Gnädiges Fräulein,
Sie ahnen nicht, welchen Wert Ihr Zeugnis für meine Studien hat!« --

»Ach liebes, liebes Fräulein Dolores, bitte, geben Sie uns doch diese
Prophezeiung zum besten,« schmeichelte Prinzeß Lolo und gespannt blickte
Doktor Ruß nach der Angeredeten hinüber. Sie aber schüttelte nur mit dem
Kopfe.

»Es steht nichts darin von Gift und Dolch, Mord und Totschlag -- ist also
gar nicht pikant,« sagte sie.

»Ja, aber irgend etwas muß doch darin stehen, wenn es eine Prophezeiung
ist,« beharrte die Prinzeß auf ihrem Wunsche. »Ich meine, irgend etwas
Interessantes für die Familie.«

»Es scheint so,« erwiderte Dolores kühl. »Durchlaucht werden mich aber
trotzdem entschuldigen, wenn ich es als gegenwärtige Lehnsherrin ablehnen
muß, ein Dokument zu zeigen, das ich als ›sekret‹ betrachte.«

»Wenn dies mit Grund geschieht, so kann ich Ihnen nur zustimmen,
Cousine,« sagte Falkner fest.

»Nun hetzen Sie auch noch,« schmollte die Prinzeß, der wohl noch selten
eine Bitte versagt worden war, doch Prinzeß Alexandra sagte verweisend:

»Unsere liebenswürdige Wirtin ist im Recht, Lolo, und wir haben
keines, aus bloßer Neugier oder zum Spaß Familienangelegenheiten zu
durchstöbern!«

»Meinetwegen kann die ganze, dumme Prophezeiung auch eingepökelt
werden,« sagte die junge, fürstliche Dame schmollend mit dem ganzen Trotz
eines ungezogenen Backfisches, der für gleichgültig erklärt, was ihm
verboten worden ist, und als Prinzeß Alexandra ein leis ermahnendes »Aber
Lolo« hören ließ, spannte der kleine reizende Übermut die niedlichen
Hände mit den rosigen Fingern Tandem vor ihr Näschen als Antwort,
d. h. sie machte der entthronten Autorität ihrer Schwester eine ganz
unfürstliche, schusterjungenmäßige »lange Nase.«

Als sie diese Heldenthat vollbracht, sprang der stets bizarre Sprünge
machende Geist Prinzeß Lolos sofort auf eine andere Idee über.

»Famos, solch' ein Familiengespenst,« rief sie und betrachtete das Bild
der bösen Freifrau. »Wir haben ja natürlich auch unsere graue Dame, aber
ich hab' sie leider noch nicht gesehen, auch nicht von ihr geträumt, wie
Sie! Sie geht immer die Korridore im Schlosse lang bis in die Kapelle und
steigt dann zur Ahnengruft hinab. Apropos, Baroneß, haben Sie auch eine
Ahnengruft? Und ist die Freifrau Dolorosa dort beigesetzt?«

»Ich habe wirklich noch nicht danach gefragt,« sagte Dolores.

»Da kann ich Auskunft geben,« warf Doktor Ruß ein. »Der Sarg der
Freifrau Dolorosa steht in dem verschlossenen Raum der Gruftkapelle
zwischen den Särgen der beiden Brüder Falkner, welche ihre Gatten gewesen
sind.«

»In der sogenannten Bleikammer,« ergänzte Falkner.

»Ach, gehen wir doch hinein -- bei Fackellicht! Es ist schon ganz
finster,« rief Prinzeß Lolo aufspringend.

»Unsinn, Lolo,« sagte der Erbprinz.

»Na, ich dächte, das wäre doch ein unschuldiges Vergnügen,« erwiderte
sie empört.

»Unschuldig -- ja! Vergnügen -- nein!«

»Das ist Geschmacksache,« entgegnete das blonde Prinzeßchen weise. »Mir
zum Beispiel macht es ein wonnevoll grausiges Vergnügen, nachts in eine
Ahnengruft zu steigen, um den Sarg einer spukenden Ahnfrau zu sehen. Und
die Baronin Dolores wohnt sogar in ihren Zimmern und schläft in ihrem
Bett. Aber _ihr_ gönnt mir nichts. Nicht wahr, Baronin, ich darf in die
Ahnengruft?!«

»Natürlich,« lächelte Dolores ergötzt.

»Ach, da kommen wir gleich,« rief Prinzeß Lolo und sprang auf.

»Heut' noch, Durchlaucht? Ein andermal --« --

»Nein, nein, gleich!« beharrte die Prinzeß. »Sascha würde zu Haus
bloß predigen und mir haarklein beweisen, daß einer Prinzeß von Nordland
nicht Extrawürste, wie andere Sterbliche sie speisen, gebraten werden
dürfen. Das kenne ich schon!«

»Nun denn, vorwärts, wenn Seine Hoheit nichts dagegen hat,« sagte
Dolores resigniert und amüsiert zugleich, während Prinzeß Alexandra
ihrem Bruder zuflüsterte:

»Wenn ich nur wüßte, wo Eleonore diese Ausdrücke her hat!« --

Der Herzog hatte natürlich gar nichts dagegen, und nachdem Dolores an
Ramo die nötigen Befehle gegeben hatte, brach man auf zu der alten
Gruftkapelle, welche, in einem fernen Parkwinkel gelegen, unter hohen,
uralten Eichen ein engbegrenztes, aber sehr stimmungsvolles Bild gab. In
einem früheren Stil als der Falkenhof erbaut, hatte die Gruftkapelle schon
Geschlechtern zur letzten Ruhestätte gedient, welche dahingegangen und
erloschen waren, und durch die Eichenallee, durch welche nun die kleine
Tafelrunde der Lehnsherrin Dolores lachend und plaudernd dahinschritt, war
manch' ein Falkner hinausgetragen worden zum letzten langen Schlafe.

Alfred Falkner mußte unwillkürlich an seinen letzten Gang durch diese
Eichenallee denken -- als er dem Sarge des Onkels folgte, ein entthronter
Erbe, ein bloßer Agnat im Gefolge der »Theaterprinzeß«! Auch heut'
schritt sie ihm voran, aber an der Seite eines regierenden Herzogs, und er
konnte nicht anders, als hinblicken auf sie, auf diese leicht schreitende,
schlanke Gestalt, in deren goldnem Haar sich mitunter ein Mondenstrahl
fing, der durch eine Lichtung im Gezweig huschte. Und dann glänzte dies
Haar auf und sprühte wie Feuer und leuchtete metallisch wie poliertes
Kupfer -- dies Haar, dessen »Satansfarbe« er so gehaßt hatte. Nun
freilich wußte er, daß dieser Haß Selbstbetrug gewesen -- --

Da hing sich leicht ein Arm in den seinen, und ein reizendes Gesichtchen
blickte auf zu ihm mit thränengefüllten Augen -- Prinzeß Lolo.

»Sehen Sie nicht immer nur hin nach _ihr_,« flüsterte sie mit erstickter
Stimme, »sie macht sich doch nichts aus Ihnen -- gar nichts!«

»Das wußt' ich eher, wie Sie, Prinzeß,« erwiderte er in der Bitterkeit
seines Herzens, und dann ärgerte ihn das rasche Wort. Was brauchte dies
kleine Schoßkind des Glückes davon zu wissen?

»Das wissen Sie? Gott sei Dank!« flüsterte es an seinem Arme zurück.

»Wie meinten Durchlaucht?« fragte er steif.

»Ich sagte: Gott sei Dank, daß Sie es wissen,« kam es trotzig zurück,
aber etwas lauter. »Ich _will_ nicht so laut sprechen -- was brauchen es
die andern zu hören?«

»Was hören?«

»Daß Sie umsonst den Toggenburg spielen vor dem Falkenhof:

  Ritter, treue Schwesterliebe
  Widmet Euch dies Herz --
  Fordert keine andre Liebe,
  Denn es macht mir Schmerz --«

deklamierte die kleine Prinzeß.

»Durchlaucht belieben starke Ausdrücke,« gab er hochmütig zurück.
»Denn wenn ich zu etwas _nicht_ Anlage habe, so ist es zum Toggenburg.«

»Dazu wären Sie auch zu schade --« --

»O wirklich --?«

»Ja, denn Sie sollen siegen, aber nicht schmachten. Schmachten ist für
einen Mann etwas Gräßliches -- Jämmerliches. Wenn man Sie als Prometheus
an einen Felsen schmiedete, und die Geier an Ihrem Herzen hackten --« --

»Es war die Leber, Durchlaucht!« -- unterbrach er sie ironisch.

»Und die Geier an Ihrem Herzen hackten,« fuhr sie unbeirrt fort, »dann
würde ich so viel glühende Thränen weinen auf Ihre Fesseln, bis sie
schmölzen. Aber für einen Gefangenen im Bagno mit der Kugel am Fuß
rühre ich keinen Finger!«

Die kleine, leidenschaftliche Rede verfehlte ihre Wirkung nicht. Falkner
führte gerührt und geschmeichelt -- vielleicht letzteres noch mehr, das
reizende kleine Händchen, das auf seinem Arm lag, an die Lippen.

»O, Prinzeß Lolo!« murmelte er.

»Nennen Sie mich doch nicht auch mit diesem schrecklichen Namen,« bat sie
leise mit schmeichelnder Stimme.

»Eleonore!« sagte er da, ohne Titel, ohne Prädikat.

»Alfred!« jauchzte es noch leiser zurück, aber mit solchem Herzensjubel,
daß er davor erschrak. Was war geschehen? Was hatte er gethan? Doch zum
Überlegen war keine Zeit -- man war an Ort und Stelle.

Vor der Kapelle, die grau und verwittert unter dem dichten Blätterdach der
sie umgebenden Eichen lag, standen zwei Diener mit Fackeln -- sie hatten
einen näheren Weg genommen, um die Herrschaften zu erwarten.

Der Herzog setzte sich sogleich auf eine Steinbank vor der Pforte. »So!
Nun macht, was ihr wollt, ich bleibe hier,« erklärte er behaglich; die
Lust in die Gruft hinabzusteigen, war übrigens auch bei den anderen nichts
weniger als groß und man zögerte vor der nun geöffneten Pforte, bis
Dolores zu Prinzeß Lolo sagte:

»Nun denn, so muß ich Ihnen allein die Honneurs dort unten machen,
Durchlaucht!«

Aber der kleinen Durchlaucht war längst die Lust vergangen -- sie hatte
durchgesetzt, was sie sich eingebildet hatte, mehr wollte sie eigentlich
nicht, und ihr Hasenherzchen fing merkwürdig an zu zittern und zu klopfen
vor der Kapellenthür, auf welcher das Fackellicht unheimlich flackerte.

»Gehen Sie mit?« fragte sie zaghaft, zu Falkner emporsehend.

»Gewiß,« sagte dieser. »Dort unten habe _ich_ sogar
Repräsentationspflichten und größere Rechte, als meine Cousine, die
Lehnsherrin!«

»Ein bitterer und grausiger Humor,« meinte Dolores ernst und gelassen.

»Ich schließe mich gleichfalls an,« erklärte Doktor Ruß sehr zum
Mißfallen seiner Frau, und die Vier betraten die Kapelle, gefolgt von
Ramo, der eine Stocklaterne entzündet hatte und mit derselben leuchtete.

Im Kapellenraum brannte hinter rotem Glase eine ewige Lampe, deren
herrliche Form in schwerem Silber von der Decke herabhing. Der Altar, darin
an bestimmten Tagen ein Priester Seelenmessen las für die ewige Ruhe der
hier beigesetzten Falkner, war reich und prächtig bestellt -- fromme Gaben
Hinterbliebener, welche all diese gold- und silberstrotzenden Antependien,
Leuchter, Vasen, Evangelien- und Episteltafeln als Opfer niedergelegt
hatten für die dahingeschiedenen Geliebten.

Dolores, Falkner und Ramo neigten sich bekreuzend vor dem geschlossenen
Tabernakel -- dann öffneten sie ein Gitter, das eine steile aber breite
Treppe abschloß und sie schritten, Ramo voran, dieselbe herab, hinter der
Prinzeß, welche nur zaghaft den ihr zukommenden Vortritt nahm. Die Treppe
mündete in einen hallenartigen Keller, in dessen gewölbten Nischen Särge
standen von allen Größen, viele bedeckt mit verdorrten Kränzen.

»Hu, wie schrecklich!« flüsterte die Prinzeß halb weinend.

»Das sind neuere Generationen,« erklärte Falkner. »Die eigentliche
Gruft liegt hinter jener Thür, und dieser Raum wurde ehedem als Kapelle
benutzt, ehe es da drinnen zu enge wurde und man die Vorhalle droben als
Kapelle einrichten mußte. =Tempus fugit=,« setzte er bedeutungsvoll
hinzu.

»=Tempus fugit=,« wiederholte Doktor Ruß. »Künftige Geschlechter
werden sich eine neue Stätte für ihren letzten Schlaf errichten
müssen.«

»Es ist noch Platz hier für die beiden letzten Falkner,« erwiderte
Dolores, seltsam bewegt. »Die Nischen sind gefüllt -- hier aber, mitten
im Raum, sind zwei aufgemauerte Postamente für die Särge, und hier
trifft sie früh die Morgensonne durch das Gitterfenster, und frei kann
die Waldluft sie umwehen. Es sind die besten Plätze, und niemand kann sie
›dem letzten Falkenpaare‹ wehren, denn wenn der letzte hinabgetragen
ist, dann wird die Thür oben zugemauert, und die ewige Lampe
erlischt --«

»Wer aber wird das letzte Falkenpaar sein?« fragte Prinzeß Lolo
beklommen, und als niemand antwortete, stieß sie einen leisen Schrei aus.
»Sie beiden?« flüsterte sie scheu, auf Alfred und Dolores deutend.

»Wer weiß es?« sagte ersterer und schritt der verschlossenen Thür
zu, sie zu öffnen, während Dolores die prophetischen Worte der Ahnfrau
einfielen:

  Kann sich das Edelfalkenpaar nicht finden,
  Dann wird der Stamm erlöschen und verschwinden.

»Verschwinden,« schien das Echo zu sagen, welches das gedachte Wort gar
nicht erweckt hatte.

Der Raum, den sie jetzt betraten, war bedeutend kleiner, und die feuchte
Grabesluft des großen Gruftgewölbes fehlte ihm, denn die Wände waren
mit Blei bedeckt, von dessen blinden Flächen noch schwarze Tuchfetzen
herabhingen, mit denen die Wände ehedem zum »=pompe funèbre=« behangen
waren.

»Der Luxus unserer Vorväter hatte dieselben mehr konserviert als es
jede Einbalsamierung thun konnte,« sagte Doktor Ruß, indem er auf die
Bleiwände deutete. »Deshalb können wir auch heute noch beurteilen, ob
der Maler der ›bösen Freifrau‹ geschmeichelt hat oder nicht.«

Er winkte Ramo, und dieser beleuchtete drei nebeneinander stehende
reichbeschlagene, mit Samt bekleidete Prachtsärge, auf deren mittelsten
eine Tafel angebracht war zu Füßen des Kruzifixes, auf welcher man
deutlich den Namen: »Dolorosa, Freifrau von Falknerin« lesen konnte.
Doktor Ruß und Falkner faßten den Deckel bei den Handhaben, hoben
ihn herab und enthüllten einen zweiten Bleisarg, der in dem Prunksarg
eingelassen war. Auch dessen Deckel wich und Dolores sah mit einem Ausruf
höchster Überraschung eine Gestalt in dem Sarge liegen, von deren Haupt
das Haar zwar glanzlos, aber genau so kupferrot leuchtete, wie auf dem
ihren, und näher tretend konnte sie die von der Zeit zwar vergilbten, aber
wunderbar erhaltenen Züge der »bösen Freifrau« erkennen, wie sie hier
so friedlich zu schlafen schien im silbergestickten, weißen Damastkleide,
das sich über einem goldgestickten, mattgrünen Unterkleide von Atlas
öffnete. Die schmalen, schlanken Hände, welche aus den übergeschlagenen
Spitzenmanschetten der hochgepufften Ärmel hervorragten und nun wie
vergilbtes Elfenbein aussahen, waren über der Brust gefaltet, welche
ein tiefer Ausschnitt des Kleides halb entblößte, der feingestickte,
spitzenbesetzte mächtige Kragen aber leicht bedeckte. Um den Hals lag ein
dünnes Goldkettlein, die rotgoldenen Haare waren dicht gekräuselt und
in den leichten Federlöckchen lag im seltsamen Gegensatze zu dem grünen
Unterkleide, eine spitze, lange, schwarze Witwenschneppe.

Mächtig erschüttert sah Dolores auf die Ahne herab, deren Züge sie trug,
diese Züge, auf denen die Bleibekleidung der Wände und der bleierne
Sarg dies Wunder der Erhaltung ihrer irdischen Reste bewirkt -- sie hatte
unwillkürlich die Hände gefaltet, und ihre Augen wurden feucht, als sie
den Körper der Unglücklichen vor sich sah, die im Leben so heiß geliebt,
so schwer gelitten hatte --

Da tönte ein gellender Schrei durch die stille Gruft --

»Die Augen -- sie hat die Augen aufgemacht --« kam es in Tönen des
Entsetzens von Prinzeß Lolos Lippen, und die Arme wild emporgereckt, die
Augen stier und die Lippen blaß, flog sie auf Falkner zu und brach zu
seinen Füßen zusammen.

»Das ist die Folge, wenn Backfische das Gruseln lernen wollen,« murmelte
Doktor Ruß vor sich hin, während Dolores sagte:

»Schnell -- schaffen Sie sie hinauf, Alfred! Das arme Kind kann Krämpfe
davon tragen von ihrer Angst --«

Falkner hatte sich schon gebückt und hob die Prinzeß empor, welche
krampfhaft schluchzend die Arme um seinen Hals schlang und das blonde
Köpfchen an seine Wange drückte wie ein kleines Kind, das man mit dem
schwarzen Mann in Schrecken gejagt. Der gellende Schrei hatte auch die vor
der Kapelle Zurückgebliebenen aufgeschreckt.

»Das war Lolo --! O, ich dachte es wohl!« rief Prinzeß Alexandra und
trat in die Kapelle. Doch da erschien schon Falkner oben an der Treppe mit
seiner Bürde, die sich schluchzend fest an seinen Hals klammerte.

»Sie wird sich in der frischen Luft bald erholen,« sagte er auf den
fragenden Blick der älteren Schwester.

Aber Prinzeß Lolo erholte sich nicht so schnell. Sie war von Falkners
Halse nicht loszureißen und weinte Ströme von Thränen.

»Sie hat die Augen aufgemacht und mir gewinkt,« schluchzte sie, »aber
ich will nicht sterben, Alfred, ich lasse dich nicht -- laß du mich auch
nicht -- du bist mir gut -- nicht wahr? Laß mich nicht sterben -- nicht
sterben -- nicht sterben!«

Jetzt riß dem Erbprinzen die Geduld.

»Eleonore!« sagte er streng und scharf, daß das Schluchzen sofort
nachließ, wie oft bei grundlos weinenden Kindern. »Eleonore, was soll
das? Schäme dich!«

Langsam lösten sich die runden, weichen Arme von Falkners Hals, aber
das verweinte Gesichtchen blieb an seine Brust gelehnt, bis der Herzog
hinzutrat und, seine Tochter an der Hand fassend, diese hinwegzog.

»Fräulein von Drusen,« sagte er, »haben Sie die Güte, die Prinzeß
nach Hause zu begleiten und dort zu Bett bringen zu lassen!«

»Papa!« schrie sie empört auf.

»Du weißt, ich liebe Scenen nicht,« entgegnete der Herzog ärgerlich.
»Außerdem wünsche ich nicht, mir den schönen Abend weiter zu verderben.
-- Sie werden uns nämlich noch nicht los,« wandte er sich an Dolores,
»denn Sie haben uns ein Lied versprochen.«

»Und ich hoffe, meine Schuld mit Zinsen einlösen zu können, Hoheit,«
erwiderte Dolores liebenswürdig, und nur ein feiner Kenner hätte in ihrer
Stimme ein leises Schwanken wahrnehmen können. Und so ging es die Allee
zurück nach dem Falkenhof -- fast in der alten Ordnung -- Dolores voran
mit dem Herzog, Ruß mit Fräulein von Drusen, der Kammerherr mit Frau
Ruß, welche leichenblaß war und vor Aufregung zitterte infolge der Scene
vor der Kapelle. Dem ersten Paare hatte sich Gräfin Schinga, dem zweiten
ihr Gatte zugesellt, Prinzeß Alexandra folgte, den Arm um ihre Schwester
geschlungen und leise mit dieser flüsternd, zuletzt, etwas weiter zurück,
folgten der Erbprinz und Falkner.

Nach einer Pause ergriff ersterer das Wort.

»Baron Falkner,« sagte er, »wie soll ich mir diese Scene mit meiner
Schwester deuten?«

»Genau wie Hoheit sie sahen. Es liegt nichts dahinter,« erwiderte
Falkner ruhig. Daß man eine Erklärung fordern würde, dessen hatte er
von Anbeginn sicher sein können, und er sah ihr gefaßt entgegen mit dem
Gefühl eines Mannes, dem das hingebende Anschmiegen, das rückhaltlose
Hervorbrechen der Zuneigung eines reizenden Weibes wohlgethan hatte,
nachdem die Zärtlichkeit einer Mutter für ihn unter Kontrolle stand, und
er verscherzt glaubte, was niemals sein gewesen.

»Es liegt nichts dahinter?« wiederholte der Erbprinz. »Meinen Sie damit,
daß die Reden meiner Schwester spontane Eingebungen waren, welche Sie
selbst überraschten?«

»Zum Teil thaten sie dies allerdings, Hoheit,« war die ebenso ruhige und
sichere Antwort.

»Zum Teil! Und zum anderen Teil?« war die heftigere Frage.

»Zum anderen Teil bekenne ich mich schuldig, auf dem Wege zur Kapelle
durch ein unvorsichtiges Wort Hoffnungen in dem jungen Herzen erweckt zu
haben, welche, so fürcht' ich, nur auf Sand gebaut sind.«

»Wie soll ich das verstehen?«

»Fürstentöchter sind schon zu Vasallen herabgestiegen -- doch diese
hatten dann mehr zu bieten als Äquivalent, als ich.«

»Darauf kommt es nicht an, Falkner,« erwiderte der Erbprinz ruhiger. »Es
handelt sich für mich nur darum, zu wissen, wessen Neigung stärker ist --
die meiner Schwester für Sie, oder die Ihrige für meine Schwester!«

»Dann fragen Hoheit die Prinzessin Eleonore selbst -- ihre Antwort ist die
meinige,« entgegnete Falkner.

Der Erbprinz seufzte, aber schwieg. Er konnte sich's ungefähr erklären,
wie alles gekommen war, er kannte seine »kleine Schwester,« und im Grunde
seines Herzens lebte die feste Überzeugung, daß Prinzeß Lolo bei ihrer
Neigung »zum Durchgehen« besser aus der Sphäre herausgedrängt wurde,
in welcher sie geboren war, und an der Seite eines Mannes wie Falkner die
Festigkeit erlangte und die Stütze fände, deren sie so sehr bedurfte,
als daß sie in einer Konvenienzehe, sich selbst überlassen, dem Abgrunde
zutrieb, von dem vielleicht nichts mehr sie retten konnte.

Im Falkenhof wieder angelangt, blieb man, Prinzeß Lolo inbegriffen, noch
versammelt, aber die Konversation blieb gezwungen und die Gemütlichkeit
war entflohen, und während Gräfin Schinga eine der wundervollen
ungarischen Rhapsodien von Liszt spielte, beobachtete Doktor Ruß,
scheinbar in den Kunstgenuß versunken, wie es in den Zügen des kleinen
Kreises nacharbeitete von der Scene an der Grabkapelle. Denn der sonst
stets gutgelaunte Herzog suchte ersichtlich Herr seiner Mißstimmung zu
werden, und mitunter flog ein Blick aus seinen gutmütigen Augen hinüber
nach seiner zweiten Tochter, der so ernst und mißbilligend war, als er's
überhaupt zuwege bringen konnte. Der reizenden Delinquentin sah man's an,
daß Zorn und Thränen in ihr kämpften. Prinzeß Alexandra sah bekümmert
aus, Frau Ruß rang nach Atem, und Falkner stand da wie einer, der den
drohenden Sturm gefaßt erwartet. Die Unbefangenen waren Keppler und Graf
Schinga -- unbefangener und ganz gelassen _schien_ Dolores, als ginge
der Sturm im Wasserglase sie gar nichts an. Und wirklich hatte die Scene
draußen sie nicht in dem Maße überrascht, als die anderen -- sie war ja
die Vertraute der kleinen Prinzeß --

»Sie wird weinen, er wird sich in Stolz hüllen, und dann wächst Gras
über die ganze alberne Sache,« dachte sie, nicht ohne Bitterkeit.

Und dabei ahnte sie nicht einmal, was diese Selbstbeherrschung ihr wert
war. Denn Doktor Ruß beobachtete scharf, und hätte er _ein_ Zucken in
ihren schönen Zügen entdeckt, _einen_ verräterischen Blick erhascht
-- -- was alles hängt nicht im Leben oft an einem »wenn!« Und als
Gräfin Schinga ihre leidenschaftliche Rhapsodie geschlossen, da sang
Dolores einige Lieder mit fester, klarer Stimme, und als ihre Gäste dann
die Heimkehr antraten, nahm sie Abschied von ihnen, als sei niemals etwas
geschehen, was die Harmonie des heutigen Abends stören konnte.

»Das war ein interessanter Abend,« sagte Doktor Ruß, als er Dolores gute
Nacht wünschte.

»Ach ja -- die Herrschaften sind wirklich sehr angenehme Nachbarn,«
erwiderte sie, ohne den doppelten Sinn verstehen zu wollen.

»Schade nur, daß das blonde Prinzeßchen ihre romantische Idee, nachts
die Gruft zu besuchen, so schwer büßen mußte,« setzte er lächelnd
hinzu. »Aber wer weiß, wozu es gut war, daß sie ihr Herzensgeheimnis
dabei verriet,« meinte er sinnend. »Es wird wohl einen Sturm geben,
drüben in Monrepos, aber nach Stürmen pflegt die Sonne gemeiniglich viel
heller zu scheinen.«

»Man muß es hoffen,« entgegnete Dolores.

       *       *       *       *       *

Zu einem richtigen Sturm kam es aber in Monrepos doch nicht, kaum daß ein
Donnerwetter die nötige Luftreinigung besorgte. Der Herzog hatte am selben
Abend noch eine längere Unterredung mit seinen beiden ältesten Kindern
und darauf eine bedeutend kürzere mit Falkner, der abermals hier alle
Schuld auf sich selbst lud und die Neigung der Prinzeß für sich selbst
also in ein ideales Licht stellte.

Und die dem Idealen stets so geistig nahe Prinzeß Alexandra brachte ihrer
Überzeugung und ihrer an das Erhabene streifenden Schwesterliebe ihre
hohen Ideen vom Fürstenberuf zum Opfer und ward die Fürsprecherin einer
Verbindung, welche der Erbprinz aus Prinzip, der Herzog aber in dem
vagen Gefühl bekämpfte, daß es seine Pflicht sei, eine Mesalliance zu
verhindern. Daß Falkner keinen Reichtum zu bieten hatte, machte ihm nicht
die größten Sorgen.

»Seine Kinder sind versorgt, die erben den Falkenhof,« meinte er. »Und
Gott sei Dank, ich hab's ja, um meine Tochter ihr Leben lang ganz passabel
glänzend zu stellen.«

Prinzeß Alexandra aber siegte mit ihren Argumenten. Sie zeichnete
dem Vater rückhaltlos den Charakter ihrer Schwester mit all' seinen
Schwächen, sie stellte ihm all' die Gefahren vor, welchen ein solcher
Charakter ausgesetzt ist, Gefahren, die eine Konvenienzehe geradezu
beschwört, und die nur eine Herzensneigung abwenden kann. Und als der
Herzog immer noch ablehnend sich verhielt, da wagte sie das letzte, das
stärkste.

»Papa, denke an unsere Mutter, und wie sehr Lolo ihr in allem und jedem
gleicht,« sagte sie leise und mit glühenden Wangen.

Da senkte der alte Herzog traurig sein graues Haupt, und die vergangene
schwere Zeit, da die hochselige Herzogin ohne Liebe seine Gemahlin wurde,
und ihr heißes Herz erwacht war, diese Zeit kam mit Gewalt zu ihm zurück.
Aber er wußte auch, was es seiner Tochter kosten mußte, um ein Bild
herauf zu beschwören, das er und seine Kinder mit dem Schleier der
Vergebung und der Pietät verhüllt hatten, und er begriff jetzt ihre
Herzensangst um das Wesen, dem sie mehr als eine Schwester, dem sie eine
Mutter gewesen war. Sie hatte die wilden Triebe in der jungen Seele nicht
ganz ausrotten können, sie wußte, daß sie eines Tages emporschießen
würden, und hoffte, daß die Liebe allein mit starker Hand und ohne
Schmerz zurückhalten würde, was ohne ihren Sonnenglanz nicht zu gedeihen
vermag.

Und so kam es, daß Falkner nach Mitternacht sich zur Ruhe begab als
verlobter Bräutigam und als anerkannter künftiger Schwiegersohn des
Herzogs von Nordland. Der Wahrheit die Ehre zu geben, er fühlte sich
in beiden Eigenschaften gehoben, denn einmal that ihm die rückhaltlos
offenbarte Liebe des reizenden Fürstenkindes wohl, und dann schmeichelte
ihm der Gedanke, einem regierenden Hause so nahe zu treten.

Drüben im Falkenhof war alles still und umfangen vom nächtlichen Frieden,
und wirklich schlief die junge Lehnsherrin einen erquickenden Schlaf,
unbehelligt durch schwere Träume, während Doktor Ruß seinerseits sich
leise erhoben hatte, als seine furchtbar von den Ereignissen des Abends
aufgeregte Gattin endlich zur Ruhe gekommen war, ahnungslos über das, was
sich drüben »bei Hofe« indes vollzog. Rastlos und leise, als schritte er
auf Gummisohlen, ging er im Wohnzimmer auf und nieder und dachte, dachte,
dachte, bis das erste Flimmern des jungen Tages durch die Ritzen der
geschlossenen Vorhänge drang -- da erst legte er sich nieder und stand ein
paar Stunden später mit der Miene eines Mannes auf, der die ganze Nacht
wie ein Heiliger geschlafen, und als er, nach seinem kalten Bade frisch
und bis zum Tüpfelchen auf dem i jeder Zoll ein gutgekleideter Gentleman,
seine Gattin am Frühstückstisch fand, da hätte diese sicher am letzten
geahnt, daß er die ganze, liebe, lange Nacht hindurch nicht nur nicht
geschlafen, sondern anstrengend gedacht hatte.

Als der Morgen dann zu einer decenten Stunde vorgeschritten war, stieg
er hinauf zu Dolores und ließ sich bei ihr melden. Er fand sie in dem
Turmzimmer am Schreibtische vor, Bücher und Belege vor sich.

»Immer thätig, immer bei der Arbeit,« sagte er, und küßte ihre Hand.

»Was hilft's? Engels zwingt mich ja zu diesem reizlosen Geschäft,«
lächelte Dolores und seufzte dazu resigniert. »Er giebt keine Ruhe, ehe
ich nicht selbst die Bücher vergleiche und die Belege revidiere. Und dabei
hasse ich nichts mehr, wie Rechnen und Zahlen. Aber ›ich bin des trocknen
Tons nun satt,‹« setzte sie mit dem übermütigen Blick früherer Tage
hinzu, indem sie das Buch zuklappte und ihre Hand darauf legte.

»Ich wundre mich nur, daß Sie den ›trocknen Ton‹ so lange ertragen
haben,« gab Doktor Ruß zurück.

»Nun, was Mephisto konnte, wird doch von Satanella nachzuahmen sein?«
sagte sie leicht.

»Wer weiß,« erwiderte er und setzte dann hinzu: »Wissen Sie, Dolores,
daß Sie mich damit unbewußt auf das Thema gebracht haben, wegen dessen
ich eben zu Ihnen heraufkam? Ich habe, offen gesagt, nicht recht gewußt,
wie beginnen, denn ich möchte Ihr Mißtrauen nicht erwecken und
nicht selber die Rolle einer mißgünstigen Rothaut in Ihren Augen
spielen --« --

»Das ist ja eine schreckliche Vorrede,« lachte Dolores, sichtlich
sympathisch berührt von dem Tone des Biedermanns, den Doktor Ruß so
meisterhaft beherrschte.

»Eine schreckliche Vorrede, nicht wahr?« gab er mit komisch-kläglichem
Tone zu, fügte aber gleich wieder ernst hinzu: »Aber sie ist noch nicht
zu Ende, meine Vorrede. Denn sehen Sie, Dolores, Sie müssen mich nicht
mißverstehen, nicht glauben wollen, daß ich Ihnen einen Rat aufdränge,
dessen Sie nicht bedürfen und den Sie nicht wünschen, oder gar, daß ich
mich von irgend welchem Übelwollen leiten lasse -- von einem Übelwollen
gegen Engels, der mich nicht leiden mag. Denn um Engels handelt es sich.«

»Ach bitte, sagen Sie nichts gegen ihn,« bat Dolores so treuherzig, daß
ein anderer, als Doktor Ruß, sicher still gewesen wäre.

»Nein, o nein,« beeilte er sich zu versichern. »Sie müssen nicht
denken, daß ich ihn verdächtigen will, denn die Offenheit, mit welcher
er seine Abneigung gegen mich zur Schau trägt, gemahnt an das klassische
Vorbild der Nibelungenzeiten und hat mich immer mehr ergötzt als
beleidigt. Denn gegen seine Antipathie kann kein Mensch, nur daß sie in
diesem Falle wirklich nicht auf Gegenseitigkeit beruhte --« --

»Jetzt fang' ich aber wirklich an, neugierig zu werden, um was es sich
handelt,« sagte Dolores amüsiert.

»Ich komme schon zur Sache, aber diese Einleitung hielt ich eben für
nötig, denn meine Angelegenheit ist zu ernst, um mit der Thür ins Haus
zu fallen,« erwiderte Doktor Ruß. »Es handelt sich also um den guten
Engels, oder, wenn Sie wollen, um den Falkenhof. Sie wissen ja, wie der
verstorbene Freiherr, Ihr Onkel, stets in die Verwaltungsgeschäfte selbst
mit eingegriffen hat und Engels in allem und jedem dareinredete, als
wäre derselbe nichts gewesen, als ein subalterner Beamter und nicht
der selbständige Verwalter eines solch' enormen Güterkomplexes wie der
Falkenhof. Das aber lähmt die Thatkraft, schwächt das Selbstvertrauen,
und Engels, dessen landwirtschaftliche Kenntnisse und Ansichten noch von
Anno Tobak datieren, hat nichts dazu gelernt, wie ich gern zugebe, aus dem
obengenannten Grunde. Und in der That ist er nichts weiter, als ein guter,
tüchtiger Inspektor, dem seine Buchführung nachgerade sauer genug wird
und sie, wie =figura= zeigt, gern teilweise auf Sie abholzen möchte.«

»Und der langen Rede kurzer Sinn ist, daß ich Engels pensionieren soll,«
warf Dolores kühl und scharf ein.

»Da -- hatt' ich unrecht, wenn meine ›schreckliche Vorrede‹ Ihrem
Mißtrauen vorbeugen sollte?« fragte Doktor Ruß lächelnd und in ganz
harmlosem Tone. »Also für's erste und letzte -- nein, tausendmal nein,
ich will nicht, daß Sie Engels pensionieren sollen, denn das hieße den
Besitz schädigen. Was ich meine, betrifft nur die rentamtliche Verwaltung.
Die hat Ihr Onkel stets besorgt, wie Sie aus den Büchern ersehen werden,
und wenn Engels dazu jetzt nicht taugt, so ist's nicht seine Schuld, denn
woher soll ihm plötzlich eine Wissenschaft kommen, die er nie gepflegt
hat. Nun aber sind Sie, liebe Dolores, gleichfalls unerfahren in der
Verwaltung eines solchen Besitzes, Sie halten Engels für Ihre beste,
zuverlässigste Stütze und haben darin auch nicht unrecht. Aber Sie
vergessen, daß die Kopfarbeit ihm auch über den Kopf wachsen muß, und
daher halte ich es für meine Pflicht, mögen Sie es so oder so deuten,
Sie darauf aufmerksam zu machen, daß der Falkenhof nicht vorwärts
kommen kann, wenn, bei aller Sorgfalt und Pflichttreue des Verwalters, das
geistige Oberhaupt mangelt. Verstehen Sie, was ich meine?«

Dolores hatte sehr aufmerksam zugehört und antwortete nicht sogleich.

»Ich verstehe all' das vollkommen, mehr noch, ich sehe ein, daß die ganze
Last für Engels zu groß ist,« sagte sie dann. »Aber nichtsdestoweniger
danke ich Ihnen herzlich für den guten Rat, der mir Ihre freundschaftliche
Gesinnung so warm dokumentiert.«

»Sie wälzen einen Stein von meinem Herzen, wenngleich Sie mir deshalb
nicht zu danken brauchen,« erwiderte Ruß lebhaft -- eine seltene
Kundgebung bei ihm.

»Doch, doch,« rief Dolores. »Hat doch der König seine Räte! Aber,
aber, die ganze Vorrede hat mir doch gezeigt, daß die kleine Scene drüben
im Ahnensaal Sie verletzt hat, daß Sie meinen Abweis jeglicher Einmischung
in _persönliche_ Angelegenheiten falsch oder doch zu scharf aufgefaßt
haben. Denn wirklich, es galt nur dem Persönlichen, galt einer delikaten
Frage, welche ich abgethan und begraben wähnte --« --

»Ihre Entschuldigung beschämt mich nur noch mehr,« fiel Ruß ein und
reichte ihr seine Hand herüber, in die sie flüchtig die ihre legte. »Und
um nun auf unser früheres Thema zurückzukommen --« --

»O, in diesem Falle bin ich sehr stolz, daß mein Instinkt mit Ihrer
Fachkenntnis und Ihrer tiefen Einsicht im Einklange steht,« unterbrach
ihn Dolores freundlich, »denn ich selbst habe längst gefunden, daß
die Regierungsmaschine des Falkenhofes geordnet und einer Autorität
unterstellt werden muß --« --

»Ah, sehen Sie wohl --!« rief Doktor Ruß mit einem Blick des Triumphes.

»Und gewissermaßen ist diese Angelegenheit schon geordnet,« fuhr Dolores
fort, nicht ohne eine gewisse, sie sehr gut kleidende Wichtigkeit in Ton
und Miene zu legen. »Ich habe Engels zum Generalbevollmächtigten ernannt
und werde ihm einen Inspektor speciell für den Falkenhof unterstellen und
damit den Stab seiner Inspektoren um einen leitenden technischen Beamten
vermehren. Die nötigen Gehilfen für Engels auf dem Rentamte wird
Justizrat Müller auf meinen Wunsch anwerben und mir verpflichten.«

Sie hatte all' das mit Eifer und, wie gesagt, mit einer sehr reizenden
Wichtigthuerei berichtet, und, obgleich sie sich damit direkt an Doktor
Ruß wendete, nicht bemerkt, daß er um einen Schatten blässer wurde
und seine, den Bart drehende, weiße und wohlgepflegte Hand plötzlich
so unsicher ward, daß er sie herabnehmen mußte und, um ihr Zittern zu
verbergen, tief in seine Rocktasche vergrub.

»Und nun, was sagen Sie zu diesem excellenten Plan, auf den _ich_ sehr
stolz bin?« schloß Dolores heiter.

»Ich auch,« erwiderte Ruß mit seltsam schwerer Zunge, so daß sie ihn
verwundert anschaute. »Und ist alles schon legal und perfekt?« fragte er
dann in seiner gewöhnlichen, gewinnenden Weise.

»Ja. Ich erwarte den Justizrat heut' oder morgen. Aber,« fuhr
sie liebenswürdig fort, sichtlich bemüht, für den anscheinend so
uneigennützig und bieder gegebenen Rat Dankbarkeit zu zeigen, »aber ich
rechne beim Einrichten der neuen Verwaltung auf Ihren Rat. Da Sie mir die
Freude machen wollen, bis zum Herbst mein Gast zu sein, so hoffe ich noch
viel von Ihrem praktischen, sowie auch nicht minder von Ihrem theoretischen
Wissen zu profitieren.«

Doktor Ruß verbeugte sich.

»Es macht mich stolz, mein geringes Können von Ihnen so hoch gestellt
zu sehen,« sagte er mit seinem musikalischen Tonfall. »Aber,« setzte
er lebhafter hinzu: »Aber ich fürchte, fürchte, daß Engels meinen Rat
nicht begehren, mehr noch, nicht dulden wird --«

»Nein, da thun Sie ihm unrecht. Er ist so einsichtsvoll und weiß sehr
genau, wo es ihm fehlt. Er wird sich freuen, bezüglich der Verwaltung
wertvolle Winke von Ihnen zu erhalten.«

Doktor Ruß wiegte lächelnd den Kopf.

»Ich zweifle dennoch,« meinte er.

»Aber ich bitte Sie, wenn ich es wünsche!« rief Dolores, deren
Widerspruch und Machtgefühl eine kleine Reizung erhielt. Doch Doktor Ruß
wehrte ihr mit leisem Lachen mit beiden Händen ab.

»Ich den guten Engels unterrichten, der Vorurteile hat wie ein Italiener
und eigensinnig ist wie gewisse graue Tiere -- nein, liebe Dolores, so weit
reicht Ihre Macht nicht. Das müßten Sie mir schriftlich geben, wenn Sie
mich wünschen.«

»Nun, wenn Sie meinen, daß mein geschriebenes Wort Engels mit größerer
Ehrfurcht erfüllt, so sollen Sie's haben,« lachte Dolores, auf den
Scherz, für den sie das Ganze hielt, eingehend. Dabei ergriff sie einen
großen Bogen Papier, warf hastig ein paar Zeilen daraus und reichte sie
lächelnd Ruß herüber.

»Ich ernenne hiermit den Herrn Doktor Ruß zum Bureauvorsteher meines
Rentamtes,« las er unterhalb des Datums. »Sehr gut. Sie haben nur die
Unterschrift vergessen.« Und damit legte Ruß das Papierblatt wieder vor
Dolores auf den Schreibtisch, welche sich höchlich über den »Spaß«
amüsierte.

»Und die zwei Zeugen!« meinte sie, die Feder über den leeren Platz
gleiten lassend. »Dolores Freiin von Falkner,« schrieb sie mit ihren
großen, kräftigen Zügen, die so viel Charakter verrieten.

Doch als Doktor Ruß wieder nach dem Blatte griff, nahm sie es schnell fort
und zerriß es noch rascher in mehrere Stücke.

»Nehmen Sie den Unsinn mit dem ›Bureauvorsteher‹ nicht übel,« sagte
sie und warf die Fragmente in den Kamin.

Wieder lachte Doktor Ruß, aber diesmal ging Dolores der Ton durch und
durch, daß sie zusammenzuckte.

»Was sich liebt, neckt sich,« sagte er und mußte sich räuspern, weil
seine Stimme heiser geworden war. »Doch verzeihen Sie, daß ich Sie so
lange belästigt habe, ja?« --

»Nein, es war ja so sehr freundlich von Ihnen,« erwiderte sie ganz
überzeugt, worauf Doktor Ruß wieder ihre schlanke, feine Hand küßte und
sich empfahl.

Draußen im Korridor aber kam es ein-, zweimal röchelnd aus seiner Brust,
daß er den Knopf seines Leinenkragens lösen mußte, weil er ihm zu eng
wurde.

»Es war der letzte Versuch,« stöhnte er. »Vom Hoffen zum Fehlschlagen,
von der dann erreichten ersten Staffel in den Abgrund zurückgeschleudert
-- das macht die Nerven kaput. O Dolores!«

Und wieder schloß er den Knopf, denn die Selbstbeherrschung war sein
oberstes Lebensprinzip.

»Ich hab's ehrlich gemeint -- was kann ich dafür, wenn es nicht
angenommen wurde?« sagte er im Weiterschreiten zu sich selbst.

»Ehrlich, wirklich ehrlich, denn ich bin kein Zulukafferhäuptling und
kein Schusterle, dem's nur um das Abschlachten zu thun ist. Also jetzt
Geduld, Geduld! Damit hat Napoleon die Welt unterjocht, und mit ihm sage
ich: =Tout le monde vient à celui qui sait attendre.=«

O du stolze Frau Ruß, der das bloße Brot der Duldung in diesem Hause
stets so hart und bitter war, dich hätte der Schlag getroffen, wenn du
geahnt hättest, daß nach dem fehlgeschlagenen Versuch deines Gatten, sich
zum Generaldirektor des Falkenhofs zu machen, dieser den »Scherz« der
Lehnsherrin mit dem Bureauvorsteherposten für bitteren Ernst genommen
hatte! »Denn,« so hatte er gerechnet, »wer das Kleine nicht ehrt, ist
des Großen nicht wert,« und einmal im Nest, wäre der unbequeme Engels
schon herauszudrücken, und der lockende Posten, der das Einkommen jeder
Professur weit überschritt, dann dennoch sein gewesen. Denn darin machen's
die Menschen nicht besser als die Tiere -- es drückt einer den anderen
fort, wenn er dessen Nest für das wärmere und bessere hält. »Nur die
Lumpe sind bescheiden,« sagte Altmeister Goethe, und der hat das Leben
doch sicher verstanden.

Daß dem Doktor Ruß nichts daran lag, den Falkenhof und mithin die
Fleischtöpfe Ägyptens zu verlassen, um in einer Welt, der er fremd
geworden, ein Brot zu suchen, dessen Sicherheit und Güte er durchaus nicht
gewiß war, war ihm am Ende nicht zu verargen. Es schreibt sich am täglich
kostenlos gedeckten Tisch, der unter dem Regimente der neuen
Lehnsherrin bedeutend besser geworden war, leichter hin und wieder ein
geistreich-ästhetisches Essay, als beim ängstlich eingeteilten Brot ums
liebe Leben, und wenn Doktor Ruß auch zu denen gehörte, welche selbst
in der Einsamkeit nicht rückwärts schreiten, weil sie den Drang zur
Fortbildung in sich tragen, so wußte er doch sehr genau, daß die Zeit
manche Lücken in seinem Wissen verursacht hatte, und daß es ihm
blutsauer werden würde, in der Welt einigermaßen anständig fortzukommen.
Andererseits aber hatte Dolores auch keinen Grund, die Familie Ruß dauernd
als notwendiges Übel unter ihrem Dach zu behalten, denn wenn sein Wissen
sie auch anregte und seine Person ihr nicht gerade unsympathisch war, so
konnte sie an Frau Ruß doch keine Spur von Sympathie verschwenden, und
im Gegenteil war ihr deren Gegenwart so antipathisch, daß sie ihr, wo nur
thunlich, gern auswich. Die kalten, hellen, harten Fischaugen dieser Frau
schafften ihr ein Unbehagen, das sie nicht überwinden konnte, und wenn sie
sich auch gelobt hatte, späterhin wieder eine Einladung an das Ehepaar aus
verwandtschaftlichen Rücksichten ergehen zu lassen, so hatte sie sich doch
darauf gefreut, der Frau nicht mehr zu begegnen. Und nun wollten sie noch
bis zum Herbst bleiben -- mehr als ein Vierteljahr vielleicht? Dolores
hatte zwar über diese gezwungene Gastfreundschaft geseufzt, sich aber fest
vorgenommen, sich zu bezwingen und beiden den Aufenthalt im Falkenhof,
so lange sie ihre Gäste waren, so angenehm als möglich zu gestalten und
ihnen zu beweisen, daß sie hierin nicht in die Fußstapfen ihres seligen
Onkels trat, der dem _geduldeten_ Paare das _Gnadenbrot_ gab. Sie nahm also
mit ihnen ein gemeinschaftliches, spätes Mittagbrot und oft das zweite,
das Gabelfrühstück ein, ohne sich gegebenenfalls in dieser Hinsicht Zwang
aufzulegen. Im übrigen wurde die Bedienung des Paares bedeutend besser.
-- Dolores hatte, als Doktor Ruß sie droben in ihrem Turmboudoir verlassen
hatte, mechanisch eine Streichholzbüchse ergriffen und die Fragmente der
im Scherz ausgestellten Urkunde im Kamin entzündet. Sie wußte selbst
nicht, weshalb sie es that, aber es kommt ja oftmals vor, daß die Hände
etwas vornehmen, wovon der mit anderem beschäftigte Geist keine Ahnung
hat. Und wie sie sich so vor den Kamin kauerte und zusah, wie die Flamme
die einzelnen Papierstücke zu verzehren begann, da fiel ihr mit einem
Mal der erste Teil des seltsamen Traumes ein, daß ihr neulich nachts
geträumt, wie Doktor Ruß ihr das große Blatt Papier gereicht, wie sie
es zerrissen und dann verbrannt. »Das ist seltsam,« dachte sie, und dann
erinnerte sie sich daran, wie ihr weiter geträumt, daß Doktor Ruß durch
den Kamin verschwunden sei. »Und das ist der Unsinn dabei,« sagte sie
vor sich hin, doch stand sie trotzdem auf und begann den Mantel des Kamins
genau zu untersuchen, hier drückend, dort zu schieben versuchend, aber
ohne Erfolg. Nun überlegte sie, welcher Raum wohl an den Turm stoßen
mochte, und da sie den nördlichen Flügel noch nicht betreten, so
beschloß sie sofort, eine Expedition in denselben zu unternehmen --
vielleicht, daß sich die seit geraumen Zeiten unbewohnten Räume irgendwie
ausstatten und als Fortsetzung ihrer eigenen Zimmerflucht mit derselben
verbinden ließen. Da einmal gefaßte Entschlüsse bei Dolores stets zur
raschen Ausführung kamen, so läutete sie Ramo, dem sie alsbald ihren
Wunsch mitteilte, und der wiederum seinerseits mit dem notwendigen
Schlüsselbunde erschien, eigentlich mit nur zwei notwendigen Schlüsseln,
indem er Dolores respektvoll mitteilte, Mamsell Köhler sei sehr froh, die
Expedition nicht mitmachen zu müssen, da es im nördlichen Flügel umgehe,
denn sie habe, auch in letzter Zeit, deutlich bei später Arbeit in den
zur ebenen Erde liegenden Vorratsräumen eben dieses Flügels gehört, wie
leise Schritte durch die unbewohnten Räume gegangen waren.

»Ratten,« schloß Ramo bedeutungsvoll.

»Natürlich,« nickte Dolores, »der guten Mamsell Köhler ist's ja gar
nicht wohl, wenn sie sich nicht vor irgend einem Gespenst fürchten kann.«

Ramo öffnete, voranschreitend, die eiserne Thür, welche dicht neben
dem Turmzimmerausgange den nördlichen Flügel beinahe hermetisch von der
übrigen Außenwelt abschloß. Es bot sich ihren Augen nun vor allem ein
eichengetäfelter Korridor, dessen Fenster nach dem Hofe herausgingen, wie
die der anderen Korridore des Falkenhofs. Die Thüren, welche in die Zimmer
selbst führten, waren aber alle fest verschlossen und widerstanden jedem
Öffnungsversuche. Am Ende des Korridors endlich schloß der zweite der von
Mamsell Köhler bezeichneten Schlüssel eine schmale, einfache Thür auf,
und diese, in den nördlichen Turm führend, gestattete den Eintritt in den
verlassenen Flügel, dessen weite und hohe Räume es sicher nicht verdient
hatten, von den Herren vom Falkenhof so stiefmütterlich behandelt zu
werden. Daran aber war die Überfülle an Raum schuld, welche dies feudale
Schloß barg, und -- --

»Aber Ramo, sind das nicht die Zimmer, in denen meine Eltern wohnten?«
fragte Dolores erstaunt beim Weiterdringen, während Ramo vorausging, die
meist ganz verschlossenen Fensterläden zu öffnen.

»Ja, Herrin,« erwiderte der alte Diener mit einem Seufzer, in welchen
Dolores einstimmte. Denn wohl waren diese Zimmer groß und teilweise
sogar mit wertvollen alten Möbeln ausgestattet, aber sie entbehrten des
Sonnenlichts, und eine beklemmende Moderluft lag in den Räumen, in denen
die Stille des Todes herrschte.

»Arme Mutter,« dachte Dolores wehmütig, »und sie hatten keinen anderen
Raum hier für dich, als diese gruftartige Zimmerflucht, in der du,
des Südens sonnengewohnte Tochter, jahrelang dahinsiechen und welken
mußtest -- -- -- --«

Sie waren jetzt in einem Gemach angelangt, das, vollkommen eingerichtet mit
schweren, geschnitzten, schwarzen Eichenmöbeln, nur diesen einen
Eingang zu haben schien, und durch dessen letztes Fenster ein schräger
Sonnenstreifen hineinfiel, direkt auf einen tiefen gepolsterten Sessel,
welcher in der Fensternische stand.

»Hier hat die Herrin immer gesessen und auf die Sonne gewartet, und
die Sonne dann solange auf ihr Gesicht scheinen lassen, bis sie wieder
fortging,« erklärte Ramo bewegt und deutete auf den Sessel am Fenster.

Da wurde es Dolores recht schwer ums Herz, und auch sie setzte sich an den
Platz, auf dem ihre Mutter die vielgeliebte Sonne erwartet hatte, welche
ihr nur einen so kurzen und spärlichen Besuch machte zur Sommerszeit,
während sie im Winter diese verlorene Ecke gar nicht erreichte.

»Stößt dies Zimmer nicht an meinen Turm?« fragte Dolores nach
einer Pause, und als Ramo bejahte, sprach sie die Absicht aus, die
Verbindungswand durchbrechen zu lassen, um wenigstens diesen Raum mit dem
von ihr bewohnten Flügel zu verbinden. Doch statt aller Antwort sagte Ramo
mit einem Mal:

»Mamsell Köhler hat doch Schritte gehört, keine Ratten. Und hier sind
die Fußspuren!«

Er deutete nach dem Fußboden, auf dessen Parkett, wie in den anderen
Zimmern auch, dichter Staub lag; Staub, der so alt war, als die Falkners
damals nach dem Streite der Brüder den Falkenhof verlassen hatten. Und
in dieser dicken, grauen Decke waren in der That Fußspuren zu sehen,
augenscheinlich von dem Fuße eines Mannes, der in absatzlosen Schuhen
durch das Zimmer gegangen war, und zwar führten diese Spuren aus der
linken Ecke der nördlichen Schmalseite des Zimmers erst planlos und
vielfach durchkreuzt durch das Zimmer, dann aber nach dem Kamin zu,
der, wie Dolores sich's berechnete, genau mit dem ihres Turmzimmers
zusammenstoßen, und dessen Feuerstätte in denselben Schornstein münden
mußte.

»Ramo, wie alt sind diese Fußstapfen?« fragte sie nach einer Weile,
nicht sehr erbaut über diese ungebetene und unheimliche Nachbarschaft.

»Die sind ganz frisch,« erklärte Ramo kopfschüttelnd. »Hier sind noch
mehr Spuren, aber sie sind schon wieder halb verstaubt.«

Mit diesen Worten ging er den direkt zum Kamin führenden Schritten nach
und entdeckte, daß die Fußspuren sich jenseits des vergoldeten Gitters
in dem weiten Feuerschlunde fortsetzten, und ein schnell entzündetes
Streichholz zeigte ihm nun auch Fingerabdrücke an der verräucherten
eisernen Rückwand des Feuerplatzes.

Diesen Spuren folgend, tastete er ohne Rücksicht auf seine tadellos
weißen Manschetten an der Wand entlang, bis er unten einen Knopf fand,
welcher, seinem kräftigen Drucke nachgebend, leise, wie frisch geölt,
sich bewegte, worauf die Wand leicht und lautlos sich nach oben bewegte
und, einen Raum lassend, daß ein Mensch tiefgebückt durchschreiten
konnte, die Aussicht freigab auf einen zweiten Feuerplatz, der in demselben
Rauchfang mündete, und von diesem in -- das Turmzimmer, welches Dolores
als ihre ureigenste Domäne betrachtete.

»Höre, Ramo, das ist ja eine recht unangenehme Entdeckung,« rief sie
nach der ersten Pause des Erstaunens. »Wer weiß, wer mir da schon manch'
ungebetenen Besuch und zu Gott weiß welchem Zweck abgestattet hat.«

Ramo betrachtete seine rußigen Hände und schüttelte den Kopf.

»Herrin,« sagte er dann, »vor allen Dingen werde ich selbst den
Schlosser aus dem Dorfe holen und so hereinbringen, daß er nicht gesehen
wird. Der mag die Feder hier zusammenschweißen mit der Thür, und niemand
kann mehr durch -- oder er mag die Thür im Zimmer der Herrin mit dem Boden
zusammennieten. Dann aber will ich suchen, wo die Fußspuren hereingekommen
sind.«

Dolores war damit zufrieden und dankte innerlich ihrem Schöpfer, daß sie
in Ramo solch' treuen und intelligenten Wächter besaß, doch das hatte
er ihr freilich nicht gesagt, daß er eines Fuchseisens Aufstellung in dem
diesseitigen Kaminschlunde plante, »denn wenn man soviel entdeckt, will
man den Lump doch auch haben,« meinte er voll gerechter Entrüstung.

Dolores aber dachte an ihren Traum von dem sich drehenden Kamin, und es
überlief sie ein leiser Schauer, als sie die Wirklichkeit mit demselben
verglich. Und da sie allzeit ein guter Denker gewesen, so trat die Figur
des Doktor Ruß vor ihr geistig Auge.

Sollte ihr dadurch zur Warnung dienen, daß Doktor Ruß -- --?

Aber mit großer Willenskraft wies sie diesen unwürdigen Gedanken von
sich, und sie schämte sich dieses momentanen Verdachtes gegen einen
Menschen, der gut erzogen und gebildet wie sie selbst, ihr noch keine
Beweise gegeben hatte, daß er ein feindlicher Eindringling sei, der
nächtlicherweile kam, um ihre Papiere zu durchstöbern. Denn was anders
hätte _er_ wollen können? Nein, dem diese Fußspuren im Staube gehörten,
er war gekommen oder wollte kommen, um zu stehlen -- ein niedriger Mensch,
ein Dieb, denn wenn er auch vielleicht noch nicht vollführt, was er
geplant -- -- schon der Gedanke, schon die Absicht, nicht die That allein
macht zu dem, was man werden will.

Fröstelnd wendete sie sich ab, den nördlichen Flügel zu verlassen, aus
dessen düsteren Räumen aller Ecken Schatten zu kriechen schienen wie
Gespenster, und so stark wurde dies Gefühl des Unheimlichen in ihr, daß
sie schnellen Schrittes hinauseilte und erst aufatmete, als im Korridor
das helle Licht sie umwogte, und sie in die sonnengebadete Landschaft
hinausblickte.

Und dennoch -- sie fühlte es über sich hängen, wie die Wolke
kommenden Unheils, und wenn die Sonne auch jenes eben gespürte Unbehagen
fortscheuchte aus ihrem Herzen, die Wolke blieb, die hatte sie mitgebracht
aus den verlassenen Räumen, in denen das Verbrechen einherschritt und sein
lichtscheues Wesen trieb.

Aber sie schalt sich selbst ernsthaft wegen dieser Ahnung nahenden Unheils,
sie nannte sich hysterisch, unvernünftig, thöricht. Freilich, der Wille
thut's auch nicht immer, und die Wolke blieb, und sie sah nach ihr aus,
wie der Landmann, der einen vernichtenden Hagelschlag fürchtet und die
drohende Angst nicht los werden kann.

Und wie sie am Fenster ihres Schlafgemaches stand, in welchem ihr die
früher ganz ungekannte Gewohnheit des Träumens gekommen war, da sah
sie Alfred Falkner von Monrepos herüberkommen, mit festem Schritt, hoch,
stolz, jeder Zoll der Sproß eines edlen Hauses. Und es kam ihr die Frage
an das Schicksal: »Warum hat er mich hassen gemußt, daß ich den Panzer
des Stolzes wider ihn anlegen mußte? Er, der einzige Mensch, an dessen
Liebe mir gelegen gewesen wäre? Warum? Warum?«

Und sie versank in ein Grübeln und dachte darüber nach, was sie
gethan haben mußte, das zu verscherzen, was sie ihr Glück genannt
hätte -- -- --

Nach einer halben Stunde wurde der Freiherr von Falkner ihr gemeldet, und
sie empfing ihn im Ahnensaal. Ihm fiel auf, daß sie ungewöhnlich blaß
war.

»Ich komme wegen zweierlei Dingen,« sagte er, als sie ihn unbefangen,
aber ein wenig hochmütig begrüßte, jede Vertraulichkeit von vornherein
ausschließend, denn sie hatte eine stolze Seele, die zwar bereitwillig
vergab, aber so schnell nicht vergessen konnte und -- wollte.

»Sie machen mich neugierig,« antwortete sie Platz nehmend.

»Ja, das erste ist eine Mitteilung, das zweite eine Bitte.«

»Eine Bitte?« wiederholte sie erstaunt und setzte mit dem alten Spott,
der ihn stets so sehr verletzt hatte, hinzu: »Also eine natürliche, von
vornherein sichere Angelegenheit, die von meinem Gewähren oder Versagen
unabhängig ist, nicht wahr?«

»Vielleicht doch nicht,« erwiderte er ruhig. »Eine ganz richtige
Bitte,« fügte er mit leisem Lächeln hinzu.

»Das ist ja fast, als ob ein Eskimo seinen Antipoden um einen Trunk aus
der Feldflasche bitten wollte,« gab sie ebenso zurück. »Oder sollte das
Ende der Welt nahe sein?«

Einen Moment gab er keine Antwort, denn es stieg eine tiefe Röte in seinen
braunen Wangen auf, welche erst herabgekämpft werden mußte.

»Ich denke, wir haben Frieden geschlossen?« fragte er dann ruhig und
nicht ohne Humor.

»Ach ja, richtig!« rief sie lachend. »Schieben Sie das Vergessen auf das
Ungewohnte. Also zur Sache!«

»Zur Sache,« erwiderte er. »Zuerst nun meine Mitteilung. Ich habe mich,
unter Zustimmung des Herzogs, mit der Prinzessin Eleonore von Nordland
verlobt.«

Also doch! Aber Dolores kämpfte tapfer ein seltsames Gefühl von
Hoffnungslosigkeit nieder, das ihr ans Herz griff, und sie reichte Falkner
lächelnd die Hand. Nur so weit reichte ihre Beherrschung nicht, daß sie
dieser kalten Hand ihre natürliche Wärme hätte wiedergeben können.

»Ich gratuliere,« sagte sie und setzte, scheinbar heiter, hinzu: »Aber
Sie überraschen mich nicht --«

»O, nach dem, was gestern Abend vorgefallen ist --« warf er ein.

»Ich hatte daran gar nicht gedacht,« meinte sie. »Doch da Ihre Prinzeß
Braut mich schon vorher zur Vertrauten zu machen geruhte, so war mir das
Neue in der That nicht mehr ganz neu. Ich freue mich aber sehr, daß die
Zustimmung des Herzogs zu diesem glücklichen Ausgange geführt hat.«

»Es ist sehr großmütig von Ihnen, sich überhaupt mit mir zu freuen,«
erwiderte Falkner in einem Ton, von dem Dolores nicht genau wußte, wie sie
ihn deuten sollte, ob ironisch, ob einfach konversationsmäßig, oder ob
beziehungsvoll.

»Gehört wirklich Großmut dazu, anderer Leute Freude zu begreifen?«
fragte sie mit einem matten Lächeln. »Mir scheint, Ihr Glaube an meine
vielgerühmte Herzlosigkeit hat seinen Umsturzprozeß doch noch nicht ganz
vollzogen.«

Ein bitteres Gefühl hatte ihn seine Worte nicht ohne Ironie meinen lassen,
jetzt aber bereute er dieselbe sofort.

»=Mea culpa=,« sagte er bittend. »Aber,« setzte er lächelnd hinzu,
»Sie selbst sind auch nicht ganz ohne Schuld, denn wenn man meint,
Ihr wahres Ich zu erblicken, so setzen Sie flugs die berühmten zwei
Satanellahörnchen auf, die einen so schadenfroh anfunkeln, daß man ein
kaltes Sturzbad zu erhalten meint.«

»Nun gestehen Sie selbst Ihr Unrecht,« entgegnete sie. »Kalt Wasser
ist allzeit wohlthuend -- ich dachte aber, daß es in der Hölle -- heiß
sei.«

»O, allzu heiß und allzu kalt -- das sind Gegensätze, die entschieden
in der Hölle erfunden worden sind,« sagte er mit einem Seufzer und fügte
warm hinzu, wie sie ihn nie sprechen gehört: »Nein, wirklich, Dolores,
auch Sie müssen an meine schwer errungene, bessere Überzeugung glauben!«

»Soll das ein Kompliment sein?« fragte sie neckend.

»Nein,« erwiderte er ehrlich. »Aber warum auch nicht das? Eine schwer
errungene Sache zeugt von einem Siege gegen manche menschliche Schwachheit,
und da ich die gewonnene Überzeugung eine bessere nannte, so kann dies
auch ein Kompliment sein, nur ums Himmels willen nicht im gewöhnlichen
Sinne gedankenlosen Salongeschwätzes.«

Da sah Dolores ihn ernst an und freundlich dazu.

»Sie haben recht,« sagte sie mit gänzlich verändertem Ton. »Ich
will mich bemühen, stets dieser Auffassung eingedenk zu sein nach dem
Wahlspruch unseres Hauses: ›Alle Falken ehrlich.‹ Und mehr noch --
heut', da Sie mir die Nachricht bringen, daß die Freifrau von Falkner
gewählt worden ist von Ihnen, heut' verspreche ich, Vergangenes vergangen,
vergessen und begraben sein zu lassen!«

»Dolores!« rief er und ergriff ihre Hand und küßte sie, die willig aber
ohne Druck in der seinen lag, und dann sah er sie an, lange, mit seltsam
verschleiertem Blick: »Das also war der Preis, die Bedingung unseres
Friedens?« fragte er langsam.

»Ja,« sagte sie mit fester, aber freundlicher, beinahe freudiger Stimme.

Da ließ er ihre Hand los. »Ich fange an, Sie zu verstehen, Dolores!«

Nun reichte sie ihm die Hand von selbst.

»Das freut mich von Herzen,« sagte sie so warm, so schlicht und voll
wirklicher Anmut, wie er nie geahnt hatte, daß sie sich geben konnte. Und
all' das war nicht für ihn, zu hoch, zu unerreichbar, und wie das Auge
von ferne nur glorreiche, wunderbare Berggipfel anzustaunen vermag, die
unzugänglich sind für Menschenwitz, Menschenneugierde und Menschenfuß,
so auch wurde ihm gezeigt, was er ohne die goldene Fessel, die ihn
gefesselt hatte, nicht schauen gedurft.

»Und nun zu Ihrer Bitte, Vetter Alfred,« rief sie heiter nach einer
langen Pause, die ihr das innere Gleichgewicht wiedergeben mußte. »Ich
bin furchtbar stolz darauf, die Erfüllung eines Ihrer Wünsche in meiner
Macht zu haben!«

»Ich bin nur nicht ganz sicher, ob Sie meine Bitte nicht für Neugierde
=sans phrase= halten,« erwiderte Falkner, mühsam auf ihren Ton eingehend.

»Jetzt machen Sie mich aber unverhältnismäßig neugierig!«

»Ich möchte gern die Prophezeiung der Ahnfrau hören,« erwiderte er
bittend. »Ist das eine große Schwäche?«

Da wechselte die Blässe ihres Gesichtes mit jäher Röte.

»Nein, nein,« sagte sie erschreckt, aber sie erhob sich im Moment.
»Einen Augenblick Geduld,« fügte sie hinzu, »ich hole meinen Fund
sogleich.«

Im Nebenzimmer aber stand sie einen Moment still und preßte die Hände
gegen die Schläfen.

»Das also war's,« dachte sie mit Bezug auf das Gefühl nahenden Unheils,
das sie vorhin beschlichen.

Dann holte sie das Missale der Ahnfrau aus seinem Versteck.

»Vorwärts!« sagte sie sich. »Auch das muß noch überwunden werden.«

Und wieder trat sie in den Saal, wo Falkner vor dem Bilde der Freifrau
Dolorosa stand.

»Es war doch ihr Ernst mit dem Bericht von dem wunderbaren Funde der
Prophezeiung?« fragte er, als sie vor ihm stand.

»Ja gewiß,« und nochmals erzählte sie ihm ausführlich von ihrem Traume
und versprach, ihm das dadurch entdeckte Geheimfach zu zeigen.

Und nun nahm er mit einem gewissen Gefühl von Ehrfurcht und Rührung das
Buch mit den verblichenen, vielfarbigen Bändern aus ihrer Hand und schlug
den Deckel auf, und las laut und langsam die steilen, krausen Schriftzüge:

  Wenn sich die Bas' dem Vetter soll vermählen,
  Wird sich der Falk' ein dauernd Nestlein wählen.
  Die letzte Falkin muß in Schmerzen büßen,
  Die Grabesruh' der Ahne zu versüßen.
  Wenn neu sie auflebt in der Huldgestalt,
  Die einst im Brautgewande ward gemalt,
  Kann diese Falkin siegen ob dem Bösen.
  Wird meine arme Seele sie erlösen,
  Kann sie des Falken Herz zu sich bekehren,
  Werd' ich der Engel Alleluja hören.
  Dann ist ein tausendjährig Blühn beschieden
  Dem Stamm der Falkner auf der Erd' hienieden.
  Kann sich das Edelfalkenpaar nicht finden,
  So wird ihr Stamm erlöschen und verschwinden.

       *       *       *       *       *

Und dieses Edelfalkenpaar, die letzten Falken aus dem alten Nest, für
die drei Jahrhunderte früher die Hand einer Unglücklichen diese Zeilen
niedergeschrieben zu haben schien -- sie standen sich jetzt gegenüber
unter dem Bilde der unseligen Prophetin -- Falkner wunderbar erregt,
Dolores blaß zwar, aber scheinbar unbewegt und kühl.

»Ein seltsames Elaborat,« unterbrach er dann die herrschende Stille. »Es
fällt, angesichts dieser verworrenen, gereimten Andeutungen schwer, an
den klaren Geisteszustand der Schreiberin zu glauben, den sie selbst so
feierlich betont, doch das Geheimnisvolle, Unklare ist ja das Zeichen aller
Sybillen.«

Dolores nickte.

»Wollen Sie das Geheimfach sehen?« fragte sie etwas unvermittelt. Er
schien die Frage gar nicht gehört zu haben.

»Dolores, Sie und ich, wir sind die letzten Falkner,« sagte er, sie voll
anblickend.

Sie versuchte zu lächeln.

»Uns hat sie aber nicht gemeint,« rief sie, auf das Bild deutend.

»Abergläubische würden das trotzdem glauben,« entgegnete er, »denn
drei Zeilen dieses wunderbaren Ergusses zeigen ja geradezu mit Fingern auf
uns. Die erste ist auch der Beginn der Prophezeiung, wenn man's überhaupt
eine solche nennen will -- die andern beiden Zeilen:

  Wenn neu sie auflebt in der Huldgestalt,
  Die einst im Brautgewande ward gemalt, --

diese Zeilen werden ja lebendig, wenn Sie neben dies Bild treten!«

»Das ist Zufall,« sagte sie lächelnd. »Denn wenn auch diese Zeilen
anwendbar sind auf Sie und mich, so wissen wir's doch nicht, ob wir die
letzten Falken sind, weil eine Freifrau von Falkner =in spe= alle Lust
bezeugt, die dritte im Bunde zu werden.«

»Ah, das ist freilich ein schlagender Beweis,« erwiderte Falkner, indem
er das Buch in ihre Hände zurücklegte.

»Ich hebe es als Familienreliquie auf für --« für Ihre Kinder, wollte
sie sagen, brach aber ab und fügte hinzu: »Für Sie.«

Und dann zeigte sie ihm das Geheimfach hinter dem Madonnenbilde des
Beato Angelico, und nachdem sie davon noch harmlos eine Viertelstunde
verplaudert, empfahl er sich, und sie gab ihm das Geleit bis zur Thür.

»Sie haben Ihrer Mutter von Ihrer Verlobung natürlich schon Mitteilung
gemacht?« fragte sie während des kurzen Ganges.

»Gewiß. Ich war zuerst bei ihr.«

»Und sie freute sich natürlich sehr?«

»Soweit sie Gefühle äußern kann und darf, glaube ich es annehmen zu
dürfen,« erwiderte Falkner bitter, fügte aber gleich in anderem Tone
hinzu: »Und werden Sie kommen, in Monrepos zu gratulieren?«

»Ich komme heut' noch,« versprach sie, und als sie ihm dann die Hand
reichte, sagte er:

»Also unser Bündnis gilt von heut' an? Denn ich habe Ihr Versprechen des
Vergebens und -- des Vergessens.«

»Ja,« antwortete sie, ihm frei ins Auge sehend: »Alle Falken ehrlich!«

Und Falkner ging, aber nicht so leichten Herzens, wie er gedacht hatte.
Er wußte, sie würde ihr Versprechen halten; das war ihm ein wahrhaft
freudiges Gefühl, als hätte er dadurch etwas Dunkles, Schweres
abgestreift, das ihn befleckt hatte, und er fühlte sich frei und
erfrischt. Aber das Weh im tiefsten Herzen -- das Weh war zurückgeblieben,
und am liebsten wäre er umgekehrt auf der Treppe und wäre wieder vor sie
hingetreten und hätte gesagt: »Dolores, wir sind das Edelfalkenpaar, das
letzte! Wann werden wir uns finden?« -- Aber er durfte nicht mehr, seine
Ehre war verpflichtet, sein Wort gegeben. »Arme Lolo!« dachte er. »Aber
du sollst nicht leiden darunter, denn nun, da sie vergeben und vergessen
hat, werd' ich dir leichteren Herzens so viel Glück geben, wie mir übrig
geblieben ist.« -- Und während er nicht ohne Rührung der rückhaltlosen
Liebe des Fürstenkindes für ihn gedachte, war es sein heißer Wunsch, das
kleine, elfengleiche Wesen wirklich glücklich zu machen.

Am Fuß der Treppe begegnete ihm »zufällig« sein Stiefvater.

»Ei der Tausend! Das war ja ein langer Besuch -- wenn das durchlauchtige
Bräutchen dadurch nur nicht eifersüchtig gemacht wird,« sagte Doktor
Ruß scherzend.

»Das könnte passieren, wenn du es ihr in geschickter Weise plausibel
machst,« gab Falkner gereizt zurück, denn der zweite Gatte seiner Mutter
machte ihn nervös. Er ärgerte sich selbst stets darüber, aber immer
wieder brach die unsägliche Antipathie durch.

Doktor Ruß lachte leise vor sich hin, wie er's gleichfalls unabwendlich
gewohnt war, wenn sein Stiefsohn unter seinen Worten wie ein gestochenes
Roß sich emporbäumte. Was aber die Worte nicht thaten, vollendete dann
dieses Lachen -- wütend ließ Falkner den Doktor stehen und ging zu seiner
Mutter, um ihr Lebewohl zu sagen.

»Meine Braut wird zu dir kommen mit Fräulein von Drusen,« sagte er
ihr, und über die blassen, käsigen Züge der Frau Ruß flog ein Rot des
Stolzes, und die kalten Augen blitzten triumphierend und fast zärtlich zu
dem Sohne hinüber.

»Ich freue mich so sehr,« sagte sie im heftigsten Stricken, »besonders
aber, weil du den Rotkopf nicht hast zu heiraten brauchen.«

»Ist Dolores dir so unsympathisch?« fragte er erstaunt.

»Ich kann sie nicht leiden,« stieß Frau Ruß hervor. »Ich habe sie
schon als Kind nicht gemocht, den wilden, ungezogenen Balg. Und daß Ruß
wieder versprochen hat, bis zum Herbst hier zu bleiben, ist mir gar nicht
recht. Aber was ist da zu machen -- er will eben!«

Falkner konnte sich's schon denken, warum »er« wollte, denn er wußte es
so gut wie jener, daß sich hier besser und bequemer die gesuchte Professur
erwarten ließe. Aber er überging dies Thema wohlweislich, denn einmal
hatte seiner Mutter langer Aufenthalt das Peinliche für ihn verloren, und
dann war es sein Grundsatz, die Wege des Doktor Ruß so wenig wie möglich
zu kreuzen.

»Dolores ist aber eigentlich sehr nett dir gegenüber,« sagte er deshalb
nur. »Ich begreife deine Abneigung nicht.«

Frau Ruß ließ den Strickstrumpf sinken, sah sich um, ob niemand
Unberufenes in der Nähe war, überzeugte sich auch, daß ihr Gatte
draußen immer noch vor einer seltenen Zierpflanze stand, und sagte dann
flüsternd:

»Ich bin eifersüchtig auf sie, Alfred!«

»Aber Mutter -- --«

»Eifersüchtig, sage ich dir,« fuhr sie leidenschaftlich fort.
»Freilich, noch weiß ich's nicht gewiß, ob sie _ihn_ verführen will,
oder ob _er_ Feuer gefangen hat an den roten Satanshaaren. Aber so oder so
-- sie stört meinen Frieden!«

»Da kannst du ruhig sein, Mutter -- _sie_ wird deinen Frieden nicht
antasten,« entgegnete Falkner, warm für Dolores eintretend und zugleich
voll Mitleid für die arme Frau, die sich das elende Leben, das sie
führte, selbst noch zu verbittern versuchte in der schlimmsten Weise.

Hinten herum, um Doktor Ruß nicht noch einmal zu begegnen, ging er nach
Monrepos zurück, und Ekel erfaßte ihn bei dem Gedanken, daß das
Herz seines Stiefvaters wirklich schneller schlagen könnte für seine
Gastfreundin. Und dann mußte er lachen, als er der anderen Version seiner
Mutter gedachte. Vor einem Monat hätte er vielleicht noch daran geglaubt
und die Achseln dazu gezuckt, aber heute konnte er darüber lachen,
gottlob.

Wohin aber mit seiner Mutter, wenn der Aufenthalt im Falkenhofe endlich
einmal zu Ende ging? Sie zu sich nehmen? Gern, obwohl er und sie sich nicht
verstanden, nie verstanden hatten. Aber das hätte ihn nicht zum Gegenteil
bestimmt. Doch _mit_ ihrem Gatten sie aufnehmen -- nun und nimmermehr! Und
Falkner überlegte, wo er darauf wirken konnte, daß Ruß eine unabhängige
Stellung irgendwo erhielt, die ihm eine anständige Subsistenz für
seine Frau ermöglichte und deren Lebensstellung nicht herabdrückte zur
Unerträglichkeit für die stolze Frau.

Als er nach Monrepos kam, sah er den Herzog im Gartenkostüm, mit einer
Riesenschere bewaffnet, den Hut im Genick, vor seiner jüngsten Tochter
stehen, welche auf einem niedrigen Gartenstuhle mehr lag als saß, das
Gesicht mit beiden Händen verhüllt hatte, anscheinend weinend, und von
Zeit zu Zeit den Fußboden mit den niedlich bekleideten Füßchen stampfte
und schlug. Erstaunt blieb er einen Augenblick an der Pforte stehen -- was
war da vorgegangen?

»Höre, Lolo,« hörte er den Herzog sagen, »das ist eine Unvernunft!«

Die Antwort schien nur erneutes Schluchzen zu sein.

Anscheinend ratlos schnappte der hohe Herr ein paarmal mit der Gartenschere
in die leere Luft.

»Und außerdem blamierst du dich vor den anderen und machst dich vor den
Dienstboten lächerlich,« fuhr er fort, und als ihm darauf ein leiser
Schrei, etwa wie ungezogene Kinder zu schreien pflegen, antwortete, da
sagte er ganz ärgerlich: »Wo hat denn nur der Kuckuck diesen Falkner?«

»Hier, Hoheit,« antwortete der vom Gitter her, das er nun hinter sich
schloß und der Gruppe zuschritt. Seine Stimme aber gab nur das Signal zu
einem Schrei- und Weinkonzert, welches nun bei Prinzeß Lolo unaufhaltsam
losbrach und zwar mit einer Vehemenz, daß der Herzog sich die Stirn
zu trocknen begann und Falkner nicht wußte, ob er stehen bleiben oder
vorwärts gehen sollte. Als er letzterem denn doch den Vorzug gab, neben
die Prinzeß trat, den Arm um ihre Schultern legte und leise sagte: »Lolo!
Ich bin hier,« da sprang sie empor, ballte die niedlichen Fäustchen und
stampfte wütend den Boden.

»Du kannst bleiben, wo du warst! Wohl bei ihr, der rotköpfigen
Komödiantin! Mich so warten zu lassen -- und am ersten Tage unserer
Verlobung -- geh'. Ich mag dich nicht mehr sehen!«

Ganz erstaunt hatte Falkner diesen Ausbruch über sich ergehen lassen --
jetzt zog er ruhig die Uhr hervor.

»Als ich heut' früh nach dem Falkenhofe fortging, sagte mir Lolos
Kammerfrau, daß Durchlaucht vor zwölf Uhr mittags _niemals_ draußen
erschienen und zu sprechen sei. Es ist jetzt zehn Minuten _vor_ zwölf
Uhr,« sagte er.

»Das ist nicht wahr! Es ist mindestens zwei Uhr! Ihr habt die Uhren
zurückgestellt, um mich zu täuschen!« tobte das Prinzeßchen weiter,
aber nicht mehr so heftig als vorher.

»Kommen Sie, Falkner,« rief der Herzog, dessen Geduld entschieden zu Ende
zu gehen schien. »Gegen die Unvernunft giebt's kein Mittel!«

Falkner zögerte einen Moment.

»Lolo! Aber Lolo!« sagte er leise.

Da flog sie an seine Brust und in seine offenen Arme, und vergnügt
schmunzelnd ging der Herzog seiner Wege.

»Ja, ja, Sascha hat recht,« dachte er, »für dieses Köpfchen brauchten
wir einen Petrucchio. Und fürstliche Petrucchios giebt's nicht. Habe
wenigstens nie etwas davon gehört. Wird ja Grund zum Gerede geben, diese
Heirat -- billiges Vergnügen das -- kann man sich gefallen lassen.«

Indes hielt Falkner seine kleine, blonde Braut in den Armen und streichelte
ihr weiches, lichtes Haar.

»Ich hatte mich heut' schon so auf dich gefreut,« gestand sie ihm, »ich
war schon um halb elf Uhr draußen -- da warst du fort, und nun habe ich
gewartet, gewartet, gewartet -- o, so schrecklich lange!«

»Eine halbe Ewigkeit,« ergänzte Falkner lächelnd und küßte das
reizende Gesichtchen, das sich so innig an seine Brust schmiegte, aus
dessen Augen er las, daß er wirklich geliebt sei, geliebt, wie kein
anderer Mensch auf der weiten Welt ihn liebte. Was also nützte es, nach
einer anderen Liebe zu verlangen, die für ihn nicht erreichbar war?
Und während er auf das leidenschaftliche Geschöpfchen an seiner Brust
herabsah, gelobte er sich, es zu führen und zu leiten und dessen nicht
mehr zu gedenken, was hätte sein können.

Auf Monrepos war nun mit der Verlobung des jüngsten Prinzeßchens ein
neues Leben eingezogen. Der Herzog hatte die Vermählung seiner Tochter
für den Herbst fixiert, ehe man den Landbesitz, fern von der großen
Straße, verließ, um in die Residenz zurückzukehren. Dann sollte das
junge Paar eine Hochzeitsreise machen, und bis dahin gedachte der Herzog
seinem Schwiegersohn einen Gesandtschaftsposten zu erwirken, oder besser
gesagt, einen Posten als Gesandter. Außerdem war Monrepos als Morgengabe
der fürstlichen Braut zugedacht und diese Schenkung schon verbrieft, und
der Herzog dachte nicht daran, an diesen längst getroffenen Bestimmungen
zu ändern oder zu rütteln.

Daneben gestaltete sich der Verkehr zwischen Monrepos und dem Falkenhofe
immer nachbarlicher und freundschaftlicher, denn der Umstand, daß Prinzeß
Sascha sich mehr und mehr zu Dolores hingezogen fühlte und auch der
Erbprinz sich sehr wohl in ihrer Gesellschaft befand und dieselbe häufig
auch suchte, ließ viel von den Schranken fallen, welche die Etikette sonst
aufrichten mußte. Aber die fürstliche Familie kannte in der Sommerfrische
keinen Etikettenzwang, von dem sie im Winter noch genug verspürte, denn
gewöhnlich werden die starren Gesetze aus dem Codex der Etikette an
kleinen Höfen viel strenger und verschärfter befolgt, als an großen
Hoflagern -- wahrscheinlich ist der Grund dafür der, daß man fürchtet,
der heilsame »Zug,« der das eintönige Leben zusammenhält, möchte
bei milderer Anwendung nach und nach einschlafen und der »Hof« zu einem
einfachen adeligen Haushalt herabsinken. Aber zu Monrepos war man, wie
gesagt, nur Gutsnachbar, nicht regierender Herr, um so mehr und um so
lieber, als Schloß und Gut auf fremdem Boden lagen. Im Bunde die Dritten
waren oft Graf und Gräfin Schinga, und wenn ersterem auch, wie er daheim
unverblümt versicherte, die Leute in Monrepos und Falkenhof zu »gebildet
waren,« »ihm zu viel auf dem Flügel droschen, grölten und sogenanntes
ästhetisches Blech quasselten,« so fühlte er sich doch, wie er sich
allein gestand, »kolossal gekratzt,« in ihrem exklusiven Kreise, der sich
über ihn amüsierte, ein ständiges Glied zu sein. Dabei versicherte
er seiner Frau unverblümt und mit naivster Offenheit, daß er in das
»prachtvolle Weib,« Dolores Falkner, bis über die Ohren »verschossen«
sei und ihr »riesig die Cour schneiden« müsse. Die Gräfin rührte dies
Bekenntnis nicht weiter, geschweige denn, daß es sie eifersüchtig machte,
denn da ihr Gehirn entschieden ausgebildeter war, als das ihres Gatten,
Eifersucht außerdem ein Luxus war, den ihre Ehe nicht kannte, und Dolores
ihr sympathisch war, so nahm sie des Grafen in Hyperbeln sich bewegenden
Enthusiasmus so kühl hin, wie alles andere von ihm. Dolores hingegen bat
recht oft um den Besuch der Arnsdorfer Herrschaften, erklärte der Gräfin
aber die positive Unmöglichkeit, zu ihr kommen zu können wegen
der Schlangen. Gleichmütig wie alles und absolut erhaben über die
Kleinlichkeiten eines Kerbholzes über abgestattete und abzustattende
Besuche nahm Gräfin Schinga auch diese Erklärung auf, versprach recht
oft von selbst zu kommen und nahm Dolores den angegebenen Grund gar nicht
übel.

»Ich begreife nur nicht, wie Sie mit dieser Aversion gegen Schlangen in
Brasilien existieren können,« meinte sie, und Dolores gestand, daß
ihr diese exotische Landplage den Aufenthalt im Heimatlande ihrer Mutter
allerdings unerträglich machen würde.

Das freundnachbarliche Verhältnis zwischen Falkenhof und Arnsdorf wurde
aber noch durch den Umstand besiegelt, daß Dolores den berühmten Pony des
Grafen Schinga kaufte und einen Preis dafür zahlte, für welchen sie ein
Vollblutpferd erster Klasse erhalten hätte.

»Dreitausend Mark für diesen Ziegenbock, welcher rohrt, Gallen hat und
am Hahnentritt leidet!« schrie Engels, als er die Anweisung zur Auszahlung
erhielt. »Nicht dreihundert ist dieses Biest wert! Und außerdem alt wie
Methusalem. Das ist ja niederträchtiger Betrug!«

Aber Dolores lachte.

»Das weiß ich ja alles, lieber Engels,« sagte sie sehr heiter. »Aber
Sie wissen, das Pferd ist Graf Schingas Tollpunkt und für gute Beziehungen
mit den lieben Nachbarn kann man schon 'mal etwas ausgeben.«

»Ja, wenn Sie sich noch in den Reichstag, oder ins Abgeordnetenhaus
wählen lassen wollten, aber so --!« Und Engels zuckte mit den Achseln
und erklärte Dolores innerlich für »meschugge.«

Und doch wußte sie, was sie mit diesem lächerlichen Kaufe that, denn
auch sie war, wie alle Welt, von den derangierten Verhältnissen des Grafen
unterrichtet, sowie von seiner dadurch bedingten, krampfhaft und chronisch
gewordenen Eigentümlichkeit, alle Welt anzuborgen (pumpen nannte er selbst
diesen Vorgang). Um diesen unvermeidlichen Akt in eine andere Form zu
kleiden und ihm zuvorzukommen, proponierte Dolores dem Grafen den Kauf der
Schindmähre und bat ihn, den Preis selbst zu fixieren. Da nun Graf Schinga
überzeugt war, daß Dolores versuchen würde, von der genannten Summe nach
dem Grundsatze: »Sagt er zwölfe, meint er zehne, will er acht haben
-- sechs ist's wert, vier möcht' ich geben, biet' ich zwei« -- einen
beträchtlichen Teil abzuhandeln, so nahm er den Mund gleich ordentlich
voll und forderte den exorbitanten Preis, der Engels in helle Wut versetzt
hatte. Aber Graf Schinga blieb einfach der Mund offen stehen, als Dolores
sich, ohne zu zucken, mit der Summe einverstanden erklärte -- er fuchtelte
mit den langen Armen umher, schlug sich auf die Kniee, daß es knallte und
-- schämte sich eigentlich »kolossal.«

»Nee, nee!« schrie er endlich, »das geht nicht! Soviel können Sie
dafür nicht geben!«

»Doch,« erklärte Dolores etwas von oben herab. »Sonst müßte ich ja
glauben, daß Sie mich hätten übervorteilen wollen.«

Darauf wurde Graf Schinga ordentlich rot, denn seinen »Schmu« hatte er ja
machen wollen, das »stimmte wie Apfelkuchen mit Schlagsahne,« und wenn er
sich nicht bloßstellen wollte, mußte er dies Geld einfach nehmen. Und er
nahm es auch. Dolores aber hatte dadurch wirklich den gefürchteten Borg
verhindert, denn nach diesem Kauf noch damit zu kommen -- das that selbst
ein Graf Schinga nicht.

Aber er that etwas anderes mit dem Gelde -- er erklärte, davon eine
»kolossal noble Gesellschaft, das reine Katzenschießen« geben zu wollen.
Er fuhr also zum Zweck der nötigen Einkäufe nach Berlin, verspielte dort
zwei Drittel des Geldes, vergeudete von dem übrig gebliebenen die Hälfte
und kam dann mit einem Riesenkater, sowohl physischem als moralischem, nach
Hause. Der erstere hielt aber bedeutend länger vor.

Jedenfalls waren das Resultat dieser Kunstreise Einladungen auf steifstem
Kartonpapier, welche im »Triangel« versendet wurden, und nach deren Tenor
Graf und Gräfin Schinga sich die Ehre gaben, zur Soiree -- u. s. w.
u. s. w. ganz ergebenst einzuladen. Auf der an Dolores adressierten Karte
hatte die Gräfin in Parenthese bemerkt, daß die Schlangen für diesen
Abend in einem verschlossenen Kasten beim Inspektor aufbewahrt werden
würden, und Graf Schinga hatte in seiner unbehilflichen Sextanerhand
dazugeschrieben: »Sagen Sie um Gottes willen diesen sauren Mops nicht ab
-- es giebt Hummern und kein solch verächtliches Zeug, wie deutschen Sekt,
sondern Röderer =carte blanche=.«

Dolores lachte Thränen über diese vorgehaltene Lockspeise, aber Engels,
der gerade dabei war, als die Einladung ankam, sagte wütend:

»Das ist _Ihr_ Geld.«

»Ei behüte, wir haben ja das Pferd dafür,« erwiderte Dolores, und sagte
dann ernster: »Hören Sie, Engels, ich habe schon daran gedacht, Arnsdorf
zu kaufen. Was meinen Sie dazu?«

»Wenn Sie's so billig kriegen können, wie das Pferd --«

»Ah, das war ein Extravergnügen.«

»Na, warten wir damit, bis es subhastiert wird, dann ist's ja am Ende
keine so üble Erwerbung,« schlug Engels vor, und Dolores beugte sich gern
seiner besseren Einsicht und Erfahrenheit.

Natürlich war das Fest bei Schingas ein glänzendes Unikum. Abgesehen
von der schäbigen Eleganz der Einrichtung des wackeligen Arnsdorfer
Herrensitzes, abgesehen auch von dem Umstande, daß das Abstäuben selbst
an diesem Tage als rein äußerlich für unnötig befunden ward, brachte
der Abend nur Überraschungen, wie alte Kochtöpfe als Sektkühler neben
den schwersten Silberschüsseln, verbogene Hornmesser neben prachtvollen
Bestecks, und in den herrlichen Damasttafeltüchern Mäuselöcher und
Messerschnitte. Daß die berühmten Hummern unaufgeschlagen erschienen,
soll nur nebenbei erwähnt werden, da es schon in größeren Häusern
ähnlich passiert sein soll, aber daß die kleinen Rosinen im Apfelmus sich
als schnöde darin ertrunkene Fliegen erwiesen, als man der Sache auf den
Grund ging, war doch schon eine stärkere Zumutung, die allein die Spitze
verlor durch den unleugbaren Umstand, daß alles mit dem freundlichsten
Gesicht von der Welt gegeben ward und die Wirte selbst ersichtlich
ahnungslos darüber waren, daß es bei ihnen so ganz anders war, als
sonstwo.

Prinzeß Lolo wollte sterben vor Lachen über alles was sie sah und genoß,
oder vielmehr genießen sollte, denn es war wirklich nicht alles dafür
geeignet, und Falkner hatte alle Mühe, laute Lachsalven und leise sein
sollende Bemerkungen seiner übermütigen Braut durch Bitten zu dämpfen
oder im Sinne von »Europens übertünchter Höflichkeit« auszulegen,
denn wenn jemand uns etwas bietet mit der ersichtlichen Überzeugung,
sein Bestes gethan zu haben, und wäre dieses Beste auch wirklich mehr
außergewöhnlich und grotesk als unseren Lachmuskeln zuträglich ist, so
haben wir immer noch nicht das Recht, den Geber ins Gesicht zu verhöhnen,
selbst wenn wir die löbliche Absicht haben, ihn hinter seinem Rücken
lächerlich zu machen. Im Grunde genommen ist eins so jammervoll wie das
andere, aber obgleich das erstere noch wenigstens Mut bezeugt, so ist
es doch peinlich für den Dritten, und so erging's Falkner auch bei den
rücksichtslosen Heiterkeitsausbrüchen seiner kleinen Braut, und aus dem
peinlichen Gefühl wurde heller Ärger, als er sah, wie sie sich, eines
besseren Publikums sicher, an Dolores wandte, und diese, errötend über
die taktlos lauten Witzeleien, auf dieselben nicht nur nicht einging,
sondern sie sogar sehr kühl und entschieden ablehnte. Obgleich der
herrschende Ton dieses Festes zwanglos und heiter war, so atmete Falkner
doch auf, als die Wagen von Monrepos vorfuhren und der Abend damit ein Ende
nahm. Und beim »Gute Nacht,« als Dolores ihm freundlich die Hand reichte,
sagte er ihr: »Wenn Sie wüßten, wie oft ich Ihnen schon im Herzen
abgebeten habe --«

»Aber wir haben ja abgemacht, am Vergangenen nicht mehr zu rühren,«
sagte sie lächelnd und mit bittendem Blick.

»Ich meine ja nur so, Cousine, weil Sie meine Braut heut' vor ihrem
Übermut bewahrt haben. Ich habe es wohl beobachtet.«

»O, das wird niemand scharf auffassen,« entgegnete Dolores, »denn
Prinzeß Eleonore ist noch so jung, so voll von Lustigkeit --«

»Und Sie schon so alt und gesetzt!« erwiderte er scherzend.

Da lachte sie doch, trotz ihrer Bemühung, die Mißstimmung Falkners zu
besänftigen.

»Vier Jahre Unterschied machen viel bei einer Frau,« meinte sie dann
weise, »und außerdem,« fuhr sie ernster fort, »außerdem habe ich so
etwas wie eine Schule des Lebens durchgemacht.«

»Ich wollte, Lolo hatte auch ein paar Klassen dieser Schule hinter sich,«
murmelte Falkner. Er war ernstlich mißgestimmt, denn das Benehmen seiner
Braut dünkte ihm weniger kindliche Lustigkeit als Mangel an Herz und
Gemüt, und wenn ein Bräutigam das findet, so ist es ein schlimmes Zeichen
für die künftige Ehe.

Dasselbe dachte Dolores auch, als sie, selbst kutschierend, durch die
warme, sternenhelle Nacht nach Hause fuhr, und sie freute sich nur, daß
er nicht dabei gewesen und es nicht gesehen, wie Prinzeß Lolo die Gräfin
Schinga so lange gequält, bis diese ihre Schlangen holen ließ und um
die Arme legte, und die Ahnungslose dann mit hellem Gelächter auf die
vor Abscheu blasse Dolores zustieß, daß die kalten, glatten Leiber der
ekelhaften Reptile sie berührten und das eine derselben zischend und
züngelnd auf sie losfuhr. Diesen »Scherz« nannte sie ihrerseits nun
wieder mit anderem Namen, um so mehr, als ihr bei dem bloßen Gedanken an
die Berührung mit den verhaßten Tieren noch die Zähne zusammenschlugen
vor Entsetzen. Über solche Abneigungen gegen gewisse Tiere zuckt die
Wissenschaft nur die Achseln, nennt sie gelehrt Idiosynkrasie, aber eine
Erklärung dafür hat sie noch nicht gefunden.

Dolores war's jedenfalls lieb, daß Falkner der Schlangenscene
nicht beigewohnt hatte, denn wozu Flecken werfen auf das Bild seiner
Auserwählten. Freilich waren ihr schon Zweifel gekommen, ob Prinzeß Lolo
wirklich sein Ideal, seine Erwählte sei, oder ob nicht der Vorfall in und
an der Gruftkapelle ihn dazu verpflichtet hatte, ihre Hand zu erbitten. Das
allerdings begriff sie nicht, warum die herzogliche Familie sich so schnell
bereit gefunden hatte, diese fürstliche Hand dem Vasallen zu bewilligen,
denn am Ende war die öffentliche Liebeserklärung der Prinzeß ja nicht
vor der ganzen Welt, sondern vor einem kleinen Kreise geschehen, dem man
durch ein Wort hätte bedeuten können, von dem Gehörten keinen Gebrauch
zu machen.

Aber es geschehen mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als jedermann sich
erklären und zusammenreimen kann, und darum grübelte Dolores auch nicht
weiter darüber, »wie es wohl gewesen sein könnte,« aber mit tiefem
Schmerz im Herzen sagte sie sich, daß Glück und innere Befriedigung ihm
durch diese Braut wohl nicht erblühen könnte. Und dieser Gedanke machte
sie unsäglich traurig, und sie verwünschte die Fügung, die sie vor Jahr
und Tag zur Bühnenlaufbahn gedrängt, denn längst hatte sie diese als
Wurzel alles Übels erkannt, und das war's, was ihr die Wiederaufnahme
derselben zur Unmöglichkeit machte, wenn auch Prinzeß Alexandra freudig
_ihre_ Überredungsgabe als das Entscheidende bei diesem Entschlusse pries.
Erst hatten der Stolz und der Widerspruchsgeist sich in ihr aufgebäumt
gegen den Entschluß, aber nicht, weil Prinzeß Alexandras engerer Horizont
die Tiefen einer echten Künstlerlaufbahn nicht umspannte, sondern weil
Falkner sich in Antipathie davon abwandte, und sie um keinen Preis _ihn_
hätte glauben machen wollen, es geschehe seinetwegen, daß sie ihrem
zuerst gewählten Berufe entsagte. Und dann hatte der Impuls eines Momentes
die Entscheidung gebracht, und nun -- nun that es nichts mehr zur Sache,
was er sich dabei dachte. Sie hatten Frieden geschlossen miteinander,
ehrlichen Frieden durch sein männlich mutiges Eingeständnis seiner
Vorurteile und des daraus entsprungenen Unrechts -- was wollte sie weiter?

Am Eingang zum Falkenhofer Park hielt sie die Pferde an und sprang vom
Wagen -- es gelüstete sie, bis zum Hause zu gehen, um die Kühle nach dem
heißen Tage noch zu genießen. Nachdem sie dem Groom die Zügel gegeben
und ihm empfohlen hatte, im Schritt zum Stalle zu fahren, bog sie in eine
Seitenallee des Fahrwegs ein, nahm den Hut ab und ging langsam dahin --
kaum daß der Kies unter ihrem leichten Fuß knirschte.

In einem Rondel, das sie durchschreiten wollte, sah sie eine Cigarre
glühen und erkannte in dem Raucher bald den Doktor Ruß, welcher also in
seiner Weise den schönen Abend genoß. Eigentlich lag ihr nichts an einem
erneuten Plauderzwang, aber da sie fürchten mußte, in dem weißen Kleide,
das sie der Hitze wegen mit dem schwarzen heut' zum erstenmal vertauscht
hatte, auch in dem Dunkel des Baumschattens entdeckt zu werden, so ergriff
sie lieber die Initiative und rief heiteren Tons:

  »Wo man raucht, da laß uns ruhig harren,
  Bösewichter führen nicht Cigarren.«

»Dolores, sind Sie's?« rief Doktor Ruß aufspringend. »Ich hörte den
Wagen zurückkehren und dachte Sie nun längst in Ihren Zimmern.«

»Die schöne Nacht verlockte mich noch zu einem Spaziergange,« erklärte
sie. »Doch ich bin auf dem direkten Wege zum Hause und bitte Sie, sich
nicht stören zu lassen.«

»Ganz und gar nicht,« versicherte Ruß. »Es ist ohnedem Zeit zur
Ruhe, und meine Frau wird mir eine Gardinenpredigt halten wegen
Nachtschwärmens.«

Dolores mußte bei dieser affektierten Pantoffelheldenerklärung lächeln,
denn sie zweifelte, ob Frau Ruß die Courage zu einer ganzen Predigt finden
würde. Sie traute der verschlossenen und von ihrem Gatten wohltrainierten
Frau kaum das tadelnde Wort zu, das sie vielleicht erleichtert hätte,
während sie ihre Mißbilligung in sich hineinwürgte und mit vermehrter
Bitterkeit an ihrem Herzen nagen ließ.

Ruß erkundigte sich nun, wie es bei Schingas gewesen sei. Er hatte mit
seiner Frau niemals in Arnsdorf Besuch gemacht, war daher auch nicht
eingeladen worden, aber er und der Graf kannten sich vom Begegnen, und
er hatte genug von der polnischen Wirtschaft bei demselben gehört,
um Interesse für ihn zu haben. Dolores antwortete aber nur mit der
allgemeinen Erklärung: »sehr nett,« und da sie gern eine Kritik des
heutigen Abends vermeiden wollte, mit welcher Doktor Ruß am Ende an
seinen Stiefsohn gegangen wäre, so ließ sie dies Thema schnell fallen
und erzählte ihm, was sie bisher unterlassen hatte zu thun -- nämlich
die Entdeckung von der verstellbaren Kaminwand, welche ihr Zimmer mit dem
Nordflügel verband.

»Ah,« meinte Ruß mit Interesse, »das würde ich an Ihrer Stelle
ordentlich verschließen lassen, denn wenngleich ein Eindringen von
dieser Seite wohl kaum zu fürchten ist, das Bewußtsein dieser
Geheimverbindungen, wie unsere Vorfahren sie liebten, ist immerhin
unbehaglich genug.«

Dolores erklärte nun, daß Ramo diesen sicheren Verschluß bereits besorgt
und zum Überflusse noch auf der anderen Seite ein Fuchseisen gelegt habe.

»Nun, ich hab' es ja immer gesagt, dieser Ramo ist eine Perle,« rief Ruß
scheinbar sehr amüsiert. »Da wäre es ihm ja ordentlich zu wünschen,
daß sich der Fuchs in dieser unfreundlichen Falle finge. Freilich
zweifle ich, daß es je einer versucht hat, bei Ihnen auf diesem Wege
einzudringen.«

Jetzt erörterte Dolores auch die gefundenen Fußspuren, was Doktor Ruß
entschieden ernst nahm, denn er versprach bei der Nachforschung zu helfen,
auf welchem Wege wohl der Inhaber dieser Pedalabdrücke in den Nordflügel
gekommen sein könnte. Und damit trennte sich Dolores von ihrem Gaste,
der noch einen Moment draußen zögerte und dann bei seiner Frau eintrat,
welche sich sogleich erhob und ihr Strickzeug zusammenrollte. Dabei warf
sie einen scharfen Blick auf ihren Gatten, welcher mit unsicheren Händen
Bücher zusammenraffte, welche den Tisch mit der Lampe darauf bedeckten.

»Ist dir schlecht, Ruß?« fragte sie. »Du bist so blaß.«

Er schüttelte den Kopf und begann leise eine Melodie zu pfeifen.

»Das ist keine Antwort,« sagte sie gereizt, und als er auch darauf nichts
erwiderte, fuhr sie heftig fort: »Aber du wirst dir noch ein tüchtiges
Wechselfieber holen mit diesem Herumstrolchen in den ungesunden
Nachtnebeln. Wie dir _das_ so allein Vergnügen machen kann, fasse ich
nicht.«

»O, ich war aber nicht allein, mein Täubchen,« erwiderte er sanft.
»Dolores war, als sie von Schingas nach Hause kam, durch den Park
gegangen. Dort begegneten wir uns, und ich begleitete sie nach Hause.«

Nun war die Reihe, blaß zu werden, an Frau Ruß, denn ihr Mann wußte,
daß sie eifersüchtig war, und er hatte seinen Pfeil wohlbedacht
entsendet, doch daß er getroffen, wagte sie ihm nicht zu sagen, und so
ließ sie ihn sich weiter bohren in ihr thörichtes, altes Herz, und was er
wirkte, war Gift und Galle und Haß und Bitterkeit.

Das freilich hatte Doktor Ruß mit seinem Trumpf erreicht, daß die
Aufmerksamkeit seiner Frau von ihm und seiner Blässe abgelenkt ward, denn
was, zum Teufel, brauchte sie's zu wissen, daß die Fußspuren droben im
Nordflügel ihm mehr noch zu überlegen gaben, als der vernietete Kamin und
das Fuchseisen des braven Ramo? -- -- --

  -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --

Und zur selben Zeit durchlebte Falkner auf Monrepos böse Stunden, denn
zu all seiner Mißstimmung hatte Prinzeß Lolo ihm selbst mit kleinen
Übertreibungen ihrer Heldenthat die Geschichte mit den Schlangen erzählt
und aus vollem Halse über das geradzu wahnsinnige Entsetzen »der dummen
Satanella« gelacht.

»Du, zu ihrem Geburtstage schicke ich ihr anonym eine kleine Natter in
einem Kästchen zu,« hatte sie geschlossen, »wenn ich nur dann bloß
den Luftsprung sehen könnte, den sie machen wird, wenn das Vieh ihr so --
tsch! -- entgegenzischt.«

Falkner war außer sich, denn was wirklich über die Hälfte ungebundener,
fesselloser Übermut war, nannte er, gereizt, wie er einmal war, herzlos
und unweiblich.

Auf Monrepos angelangt, arbeitete ihm Prinzeß Alexandra, welche seinen
tadelnden Blick in Arnsdorf und sein Schweigen auf die Erzählung seiner
Braut bei der Heimfahrt ganz richtig aufgefaßt hatte, noch in die Hände,
indem sie beim Gute Nacht sagen die Schwester liebevoll umfaßte und,
Falkner die andere Hand reichend, sagte:

»Zu deinem Besten, Lolo, weil ich dich so lieb habe und deinen Verlobten
schon als meinen Bruder betrachte, muß ich dir heut' etwas sagen, und zwar
vor seinen Ohren, damit es auch wirkt und nicht bloß als leerer Schall
verhallt. Du warst heut' Abend zu laut, Herzchen, zu wild fast! Das schickt
sich nicht für eine junge Braut, welche vor dem ernstesten Schritt ihres
Lebens steht!«

Da riß Prinzeß Lolo sich los aus den Schwesterarmen und stand nun
sprühenden Auges, mit geballten Fäustchen vor den beiden.

»Nun hab' ich's satt, das ewige Schulmeistern und Sittenpredigen,«
sprudelte es rapid über ihre Lippen. »Eben weil ich eine Braut bin,
verbitte ich's mir, eben weil ich Braut bin, kann ich sein wie ich will.
Ich will hinaus aus eurem ledernen Zwange, aus der tödlichen Langeweile
eures lächerlichen kleinen Hofes, und weil ich mich nicht in eine eben
solch' blödsinnige Mausefalle sperren lassen will, heirate ich mir statt
eines dummen Prinzen lieber den da, als dessen Frau ich wenigstens thun
kann, was mir paßt und was ich mag!«

»Nun, nun, Lolo, ich denke doch, du heiratest den Baron, weil du ihn so
recht von Herzen lieb hast,« sagte Prinzeß Alexandra sanft, als ihre
Schwester atemlos schwieg.

»Natürlich, deswegen auch,« rief die kleine Durchlaucht mit einem
raschen Blick auf Falkner. Sie war über und über rot geworden.

»O nein, nur deshalb« meinte die ältere Schwester mit einem bittenden
Blick, der die ganzen Unabhängigkeitsgefühle in der kleinen Furie wieder
entfesselte.

»Ich will nicht geschulmeistert werden, und was ich gesagt hab', das hab'
ich gesagt,« zischte sie und flog dann ohne weiteren Gruß von dannen und
in ihr Zimmer, wo sie sich durch das Zerschlagen einiger kostbaren Nippes
wesentlich erleichterte. Prinzeß Alexandra aber blickte Falkner trüben
Lächelns an.

»Da werden Sie noch viel zu erziehen haben, trotz meiner redlichen und
unverdrossenen Mühe,« sagte sie leise.

Er küßte ehrfurchtsvoll die warm gebotene Hand.

»Das ist gärender Most, Durchlaucht,« erwiderte er gegen seine bessere
Überzeugung, denn was sollte er sonst sagen? »Aber ich will dafür
sorgen, daß es klarer, goldiger Wein wird,« setzte er, sich mit Gewalt
bezwingend, in ehrlichster Meinung hinzu.

»Gott geb's!« seufzte sie.

Falkner aber konnte heute nicht zur Ruhe kommen, denn die erlebten Scenen
hatten ihm einen starken Stoß gegeben. Ihm graute vor der Zukunft, ihm
graute vor dem, was hinter ihm lag, nur beides in verschiedener Weise. Was
sollte daraus werden? Wie würde die Frau erst die Würde verlieren, welche
die Braut schon, wie vorhin, mit Füßen trat, als ob solch' zertretenes
und zerknülltes Ding sich wieder ganz glätten und mit Erfolg anziehen
ließe! Und wenn er sich als redlich wollender Mensch auch vorzustellen
versuchte, daß vielleicht gerade dies unverdrossene »Erziehen,« das
Prinzeß Alexandra an der ihr anvertrauten Schwester erprobt, zu dem
negativen Resultat geführt hatte, weil nicht eben jede Natur sich in
die Form pressen läßt, die andere für sie ausgesucht und ausgeklügelt
haben, so war es doch immerhin noch zweifelhaft, in welcher Form der
eigenwillige Sprühteufel aus seinen Händen hervorgehen würde. Und es ist
auch solch' eine eigene Sache mit der Erziehung der Frau durch den Mann,
denn wenn die Liebe der ersteren nicht groß und nicht stark genug, wenn
ihr Charakter nicht doch schon so fest ist, um ihn unbedingt dem
ihres Mannes anzupassen, so giebt's doch nur einen Mißklang, den das
»Erziehen« nur noch schlimmer macht, wenn's eben so betrieben wird, daß
es ein Schulmeistern bleibt und nicht ein ganz unbewußtes Führen an der
Hand der Liebe, die ja alles vermag. Denn wenn den Menschen etwas toll
machen kann, widerspruchsvoll und eigensinnig, so ist es unablässiges
Reden, Korrigieren und Verweisen.

Das alles sagte sich Falkner ohne Beschönigung, und dabei mußte er an
die Ironie des Schicksals denken, das ihm jetzt als zu hoch vorstellte für
seine Wünsche, was ihm früher zu niedrig gewesen. Und als ihm dann die
Augen aufgingen und er sich bücken wollte und dem so niedrig geglaubten
Wesen die Hand reichen, da war es zu weit geworden dazu, und jetzt --?
Jetzt war es zu hoch und vielleicht auch zu spät. _Vielleicht?_ Nein, es
war _gewißlich_ zu spät, denn er war gebunden, gebunden durch sein Wort
und durch seine Ehre. Und als er dessen gedachte, da preßte er die Zähne
fest zusammen.

»Vorwärts,« sagte er sich, »vorwärts und nicht rückwärts geschaut --
das hat noch kein Falkner gethan. Und sie drüben im Falkenhof, sie wird
es auch so halten, denn nicht umsonst tragen wir die Devise: ›Alle Falken
ehrlich!‹«

[Illustration]



III.

  Ich sprach zum Geier: Reiß aus dem Herzen
  Den Namen mir, der drin gegraben steht,
  Vergessen lernen will ich und verschmerzen. --
  Der Geier sprach: »_Es ist zu spät._«

            E. Geibel nach François Coppée.


Die Redensart: »Man weiß nicht was der nächste Tag bringt,« ist eine
oft gedankenlos gehörte, gedankenlos gesprochene -- d. h. gedankenlos
im Sinne des Gewohnheitsmäßigen, das ja meist gedankenlos ist, weil
maschinenhaft. Es denken aber wirklich nur wenige an den tiefen Sinn
der Redensart vom nächsten Tage und der Ungewißheit menschlicher
Vorausbestimmung, denn mit demselben Recht wie den nächsten Tag, können
wir die nächste Stunde nennen, und auch von den sechzig Minuten dieser
kurzen Zeitspanne, die vielen so lang werden kann, ist keine einzige, über
die wir mit Gewißheit gebieten können. Und das ist einer der größten
Beweise göttlicher Weisheit, daran geistiger Hochmut jene Demut lernen
könnte, die der Heiland von uns verlangt.

Es ist ja nicht allein, daß der menschliche Geist, dessen Stärke die
Tiefen der Erde und die Höhen der Luft durchdringt, dessen Ziel keine
Grenzen kennt, daß dieser willensstarke Geist machtlos steht wie ein Kind
vor der nächsten Stunde, von der er zwar sagt: ich werde sie so oder so
ausfüllen und anwenden. Aber der menschliche Geist in seinem Hochmut --
dem schlimmsten, den es giebt -- im Vollgefühl seiner Stärke, durch die
er Großes geschafft und noch Größeres schaffen will -- was ist er im
Angesicht jener Macht, die ihm die nächste Stunde nicht einmal anvertraut
zur eigenen Verfügung? Was ist er, daß er diese Macht so gerne leugnet
und sich über sie stellt? Die Antwort ist tief demütigend. Und so hat's
der Schöpfer wohl gewollt in seiner Weisheit, doch wer denkt daran, wenn
man sagt: »Ich werde dann das und das thun, morgen jenes vornehmen und
in Wochen, in Monaten soll dies geschehen --« Es ist, als wenn ein Kind
sagt: »Mutter, ich werde den Mond herunternehmen und putzen -- er sieht
so trübe aus.« Ja, da lächeln wir wohl oder ärgern uns gar über den
kindlichen Unverstand, über das Unsinnige solcher Reden, für die, wenn
ein Erwachsener sie anwendet, er sicherlich unter geistige Bewachung kommt,
d. h. für verrückt erklärt wird, aber sind wir denn anders als die
Kinder mit ihrem »ich _werde_ das und das thun?« Darin eben liegt der
Hochmut, der Größenwahn des menschlichen Geistes, der mit Bewußtsein
darüber gebietet, worüber er keine Macht hat, nur das er sich diese
Machtlosigkeit nicht klar macht, nicht klar machen will in jener
Selbsttäuschung, die so süß ist. Und darum sage ich, daß die Redensart:
»Man weiß nicht, was der nächste Tag bringt,« nur gedankenlos in
Anwendung kommt, denn wäre man sich klar darüber, man würde mit weniger
Sicherheit und mehr Demut über denselben verfügen.

Auch der Tag nach dem Schingaschen Feste brachte Veränderungen in den
herzoglichen Landaufenthalt, welche man vor vierundzwanzig Stunden noch
für unmöglich gehalten. Man hatte schon so schön für kommende Tage
»Bestimmungen zu treffen geruht,« man »gedachte« noch etwa zwei Monate
in der stillen Zurückgezogenheit von Monrepos zu verleben, dann die
Hochzeit der Prinzeß Lolo in kleinem Kreise zu feiern u. s. w.
u. s. w. Und während man noch über all' das Beratungen pflog, reiste
das kleine, beschriebene Blättchen Papier schon, das alles, alles änderte
und umstürzte.

Dieses Briefblatt aber war ein Heiratsantrag für Prinzeß Alexandra.

»Als ich vor fünf Jahren um den unschätzbaren Besitz Ihrer Hand bat,«
schrieb der Fürst, von dem er kam, »da sagten Sie mir, Ihre Mission an
Ihrer Prinzeß Schwester sei noch nicht erfüllt, und Sie hätten sich
gelobt, Ihren Posten nicht eher zu verlassen, bis Eleonore von Nordland
versorgt und geborgen sei. Ihr Entschluß schien unabänderlich damals, und
ich mußte mich ihm beugen, doch ich ging mit Ihrem Geständnis, daß ich
Ihnen nicht gleichgültig sei. Heut' höre ich, daß Prinzeß Eleonore sich
vermählt, und unverweilt klopfe ich wieder an Ihre Thür und an Ihr Herz,
und wenn Jakob um Rahel auch noch länger freite -- fünf Jahre geduldigen
Wartens aber sind für unsere kurzbemessene Lebensspanne wohl auch eine
Probe, eine Liebesprobe, Alexandra, von der ich hoffe, daß sie nicht
umsonst war --« -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- Und sie war
nicht umsonst. Was lange Jahre hindurch verborgen und ungeahnt von andern
im Herzen dieses edlen Fürstenkindes geruht, es wachte auf mit diesen
Zeilen und sehnte und drängte ans Tageslicht, denn das Glücksbedürfnis
lebt in jeder Menschenbrust und stirbt nicht, wenn es auch künstlich zum
Schlafen gebracht wird.

Der alte Herzog war entzückt, als seine Tochter ihm von diesem Briefe
erzählte, denn er liebte den Schreiber desselben, und der Korb, den er
vor fünf Jahren erhalten, hatte ihn mit großem Unwillen erfüllt, ganz
abgesehen von den übrigen Körben, welche sie in Abundanz ausgeteilt.
Aber der treffliche alte Herr ward noch viel mehr entzückt, als Prinzeß
Alexandra ihm auf sein Befragen errötend gestand, daß sie die Hand des
treuen Bewerbers annehmen wolle. Auch der Erbprinz war hoch erfreut, doch
Prinzeß Lolo sagte lachend:

»Also den alten, langweiligen Stiefel willst du heiraten? Na, dann guten
Morgen! Was doch die Leute für verdrehte Geschmäcker haben!«

Unwillig verwies Prinzeß Alexandra ihrer Schwester einmal die schlechte
Grammatik ihrer Apostrophe, dann aber besonders scharf den ganz unpassenden
Ausdruck »Stiefel« für einen Menschen, der ihr so hoch stände -- einen
Ausdruck überhaupt, der sich wohl für die Grooms schicke, nicht aber für
eine Dame von hoher Geburt.

Die kleine Durchlaucht war aber nicht mundtot zu machen.

»Bitte, ich habe den famosen Ausdruck schon gefürstet gebraucht,«
entgegnete sie, »denn die Grooms sagen: Stiebel!«

Prinzeß Alexandra wandte sich ernstlich erzürnt ab mit der Frage, woher
ihr die Kenntnis des Stalljargons käme.

»Ich höre ihnen immer vom Balkon aus zu, wenn sie die Pferde putzen und
satteln,« gestand Prinzeß Lolo lachend, »und dabei sangen sie gestern
ein reizendes Lied:

  Stiebel, du mußt sterben,
  Bist noch so jung, jung, jung!«

Prinzeß Alexandra gab es seufzend auf, hier noch Unkraut jäten zu wollen
und dachte über das Rätsel der Natur nach, daß trotz sorgfältigster
Erziehung und gänzlicher Fernhaltung alles und jedes Gemeinen ein Wesen
dennoch die Gassenhauer der Grooms für »reizend« erklären und den
ungeschminkten Naturlauten dieser Menschenklasse überhaupt mit Vergnügen
und ersichtlich mehr Erfolg als den höchsten Erziehungsprinzipien lauschen
kann. Und wenn Prinzeß Alexandra in dieser bittern Stunde der Erkenntnis,
daß ihre Opfer umsonst gebracht und verfehlt waren, es thatsächlich
bereute, das ersehnte Glück nicht schon vor fünf Jahren erreicht zu
haben, so wird ihr dies niemand verargen können, denn das Bewußtsein
treuester Pflichterfüllung konnte ihr selbst diese egoistische Regung
nicht rauben.

Mit wendender Post traf auf das gegebene Jawort ein dreifacher Brief des
Entzückens von dem fürstlichen Bräutigam an den Herzog, den Erbprinzen
und die hohe Braut selbst ein; doch neben der Verheißung, daß die Werbung
in aller Form und der nötigen Etikette wiederholt werden sollte, wurde
auch die Bitte dringend laut, verschiedener Angelegenheiten wegen den
Termin der Vermählung zu beschleunigen, und da diese Angelegenheiten dem
Herzoge zwingender und wichtiger deuchten als die ersichtliche Ungeduld des
endlich Erhörten, das langerwartete Glück auch zu besitzen, so wurde als
zeitigster Termin der Hochzeit der Geburtstag der Prinzeß, sechs Wochen
de dato fixiert. Doch da hierbei auch der Brautstand der Prinzeß Lolo in
Betracht kam, d. h. die Stellung, welche dem Freiherrn von Falkner bei
den Vermählungsceremonien einzuräumen war, der zur Konferenz zugezogene
Kammerherr als stellvertretender Hofmarschall aber der entschiedenen, von
Fräulein von Drusen eingeimpften Ansicht war, daß eine Stellung bei
der Vermählung der älteren Prinzeß mit einem regierenden Fürsten dem
Freiherrn von Falkner nur als Gatten der jüngeren Prinzeß zu geben
sei, indem ein -- hm, hm -- unebenbürtiger, also auf diplomatischem Wege
amtlich nicht notifizierter Bräutigam einer Prinzeß überhaupt gar keine
Stellung habe, so wurde die Vermählung dieses Paares um acht Tage früher
als die andere fixiert und Falkner dies mitgeteilt. Es bedurfte übrigens
gar nicht der drastischen Neckereien des Prinzeßchens, mit denen sie
Falkner »sein auf diplomatischem Wege amtlich nicht notifiziertes
Bräutigamsdasein« drollig genug vorhielt, um ihn verstehen zu machen, was
der Grund dieses beschleunigten Hochzeitstermins war, denn er hatte lange
genug an Höfen gelebt, um das zu begreifen, aber im Grunde war er ganz
damit zufrieden. Das Band war ja durch ihn nicht mehr löslich, und ob es
zwei oder drei Monat später für ihn zur lebenslänglichen Fessel wurde
oder in fünf Wochen -- was that das?

Doch es wurde noch mehr beschlossen im Rate der Familie, denn da man das
Ende des Juli noch für zu früh im Jahre hielt für den programmmäßigen
Ausflug nach dem Süden, so ward die Ummöblierung von Monrepos alsbald
festgesetzt, damit das junge Paar daselbst seine Flitterwochen verleben
konnte. Andere Vorschläge von seiten des Bräutigams wurden, als nicht
üblich, gar nicht erbeten, und auch Prinzeß Lolo opponierte nicht, denn
es war schon eine ganz andere Sache, Schloßherrin auf Monrepos zu sein,
nach dem berühmten Muster Cäsars, welcher auch lieber auf dem Dorfe der
erste, als in Rom der zweite war. Zudem spukten in dem blonden Köpfchen
eigene Ideen von Visiten in Stadt und Land -- und es sollte ganz amüsant
werden auf Monrepos. »Die alte Bude soll sich wundern, wie ich sie
aufmöbeln und aufkratzen werde,« gelobte sie sich innerlich.

Doch so sehr des Herzogs Vaterherz sich freute über das Glück seiner
Töchter, die er so gern echt bürgerlich und gemütlich »seine
Mädels« nannte -- die fortgesetzten Konferenzen, Korrespondenzen und
Depeschenwechsel dieser letzten Tage versetzten sein ruhebedürftiges
Gemüt in einen harten Anklagezustand gegen das Schicksal, das ihm nicht
'mal seine paar Sommermonate in Ruhe gönne und seinen Rosen ungestraft
gestatte, so wilde Triebe anzusetzen, als ihnen beliebe, denn wer kam in
diesem Trubel dazu, auch nur eine Raupe von den Stämmen zu lesen? Und
nun sollte es gar vorzeitig zurückgehen in die staubige Residenz, in das
große Schloß mit dem englischen Park, in welchem ihm die Etikette verbot,
zu arbeiten -- kurz, er sollte um zwei volle Monate eher aufhören, ein
Mensch zu sein! Das war mehr für das geduldige Temperament des trefflichen
alten Herrn, als er es ertragen konnte, und Entschlüsse, welche vorläufig
nur als schwarze Gedanken in seinem Busen geruht, wurden in ihm reif --
Entschlüsse, welche zwar nicht erschütternd an die Fundamente seines
Landes und des Reiches griffen, welche aber für sein Haus immerhin
Bedeutung hatten. Und nun war die Reihe, Konferenzen abzuhalten, an ihm
-- d. h. er legte, als seine Entschlüsse zur Reife gediehen und
unwiderstehlich in ihm aufstiegen, Gartenschere und Okuliermesser mit
der Entschiedenheit und der Hast beiseite, welche ebensosehr auf eine
Unabänderlichkeit seiner Ideen, als auch auf deren rasche Erledigung
deuteten, und nachdem er sich noch etlichemal die Hände gerieben und ein
halb Dutzend Mal um ein Rosenrondel gegangen war, ließ er seinen Sohn,
den Erbprinzen, zu sich bitten und blieb mit demselben nahezu zwei Stunden
eingeschlossen. Des Herzogs Kammerdiener hörte seinen hohen Herrn dabei
mehrmals mit erhobener Stimme reden -- aber was immer auch besprochen
wurde, es hatte einen friedlichen und befriedigenden Ausgang, denn als nach
besagten zwei Stunden der Herzog mit seinem Erben wieder hinaustrat in den
Garten und der Erbprinz nach seinem Hute griff, da reichte der Vater dem
Sohne die Hand.

»So, dann Glück auf, mein Junge,« sagte er herzlich. »Es hat so
kommen sollen -- und =contre la force il n'y a point de résistance=. Die
zwingende Gewalt liegt eben im Menschen selbst -- das ist die Natur. Willst
du heut' noch nach dem Falkenhofe?« --

»Ja, Vater. Wozu auf morgen verschieben, was man heut' ebensogut erfahren
kann?« --

»Ja, ja! Also nochmals: Glück auf, Emil!« --

Der Erbprinz küßte seines Vaters Hand und verließ Monrepos auf dem Wege
zum Falkenhofe. Er ging aber nicht schnell, wie ein Mensch, der seiner
Sache gewiß ist. Langsam schritt er hin und blieb oftmals grübelnd
stehen, aber am Ende kam er doch an sein Ziel und wurde von Ramo
unverzüglich bei der Herrin des Falkenhofes gemeldet.

Draußen brütete die Schwüle des Sommernachmittags über den Bäumen --
aber die Sonne neigte sich schon nach dem Westen. Die dicken Mauern, wie
sie nur die Architektur vergangener Jahrhunderte kannte, ließen nicht
viel Hitze von außen hinein in die gewölbten Räume des Falkenhofes, und
erquickt atmete der Erbprinz die Kühle ein, die ihm beim Eintritt in das
feudale Schloß entgegenwehte. In denkbar kürzester Zeit kam Ramo
wieder herab und meldete, daß Dolores den Erbprinzen erwarte. Gerade als
letzterer sich anschickte, die Treppe hinaufzusteigen, erschien Doktor Ruß
in der Vorhalle und begrüßte überrascht den hohen Besucher und schickte
sich an, denselben nach oben zu begleiten.

»Ich war gerade im Begriff, meiner Nichte dieses Buch, das eben eintraf,
zu bringen,« sagte er, auf eine Broschüre in seiner Hand deutend.

Doch zu seiner größten Überraschung nahm der Erbprinz ihm das Heft aus
der Hand, ohne auch nur einen Blick auf den Titel zu werfen.

»Ich kann Ihnen diese Mühe abnehmen,« meinte er, grüßte freundlich,
aber in der Weise, welche nur den Regierenden eigen ist, wenn sie jemand
entlassen, und schritt, dem voraneilenden Ramo folgend, die breite,
teppichbelegte Treppe zu dem von Dolores bewohnten Flügel hinan.

Doktor Ruß aber richtete sich von seiner tiefen Verbeugung auf und
konzentrierte sich rückwärts nach seinen Gemächern.

»Das war kurz -- und deutlich,« murmelte er vor sich hin. »Hm! Hm! Also
man will allein sein oben. Vielleicht =enfin seuls=! Und warum will
man allein sein? Weil man etwas zu besprechen hat, wozu ein Dritter
überflüssig ist. Um das zu erraten, dazu gehört nicht viel
Kombinationsgabe. War dieser Besuch erwartet? Kommt er unerwartet? Schade
nur, daß --«

Und die Gedanken des Doktor Ruß verloren sich in ein vielsagendes
Kopfschütteln.

Oben im Korridor aber sagte der Erbprinz zu Ramo:

»Ich wünsche Ihre Herrin, die Baroneß, allein und ungestört zu
sprechen. Bitte, sorgen Sie also dafür, daß niemand gemeldet oder
ungemeldet eindringt, so lange ich hier bin. _Niemand_; -- auch Doktor Ruß
nicht!«

»Sehr wohl, Hoheit,« erwiderte Ramo respektvoll, aber nicht servil. Er
mochte den Erbprinzen gern leiden, den Doktor Ruß aber nicht, trotzdem
sich letzterer stets sehr freundlich dem Kammerdiener gegenüber zeigte.

»Willkommen, Hoheit,« sagte Dolores, als der Thronerbe bei ihr eintrat.
»Ah -- Sie bringen mir ein Buch!«

»Ich nahm es Doktor Ruß ab, der es Ihnen eben bringen wollte,« erklärte
der Erbprinz, die dargebotene Hand küssend.

»O, zu gütig --« --

»Nein, es war keine Güte, nicht einmal Gefälligkeit. Ich wollte Sie
heut' allein sprechen.«

»Allein, Hoheit?« fragte Dolores erstaunt. »Das klingt ja ganz
mysteriös und macht mich sehr neugierig. Sind es Staatsgeheimnisse, welche
ich hören soll?« --

»Auch das,« erwiderte er, auf ihren Ton eingehend. »Große
Staatsgeheimnisse eines kleinen Staates. Also nur für Ihre Ohren allein
bestimmt!« --

»Ei, wie reizend! Ich habe mir immer gewünscht, Mitwisserin von
Staatsgeheimnissen zu sein,« meinte sie nicht ohne ein leises Staunen,
denn er hatte den letzten Satz merkwürdig ernst gesprochen, ernster, als
er sonst zu reden pflegte.

Ramo hatte inzwischen die Jalousien des Salons, wo Dolores ihren Gast
empfangen hatte, emporgezogen, denn die Sonne lag nicht mehr darauf, aber
er hatte die Fenster trotzdem noch geschlossen.

»O Ramo, die Fenster auf!« rief Dolores, als er eben noch die Salonthür
schloß.

»Es ist noch zu heiß draußen, Herrin,« murmelte er in seinem leisen,
wohlerzogenen Kammerdienertone und setzte noch leiser spanisch hinzu: »Man
versteht unten auf der Terrasse jedes hier gesprochene Wort bei offenen
Fenstern.«

Und damit glitt er leise aus dem Salon und schloß sogar die Thür zum
Turmzimmer hinter sich.

Dolores fühlte sich entschieden intriguiert. Zwar mochte sie
Angelegenheiten von Wichtigkeit auch nicht mehr im Turmzimmer besprechen,
seit sie das Geheimnis des Kamins kannte, durch welches die Passage
freilich abgeschnitten war, hinter dessen Wand man aber im Nordflügel
jedes im Turmzimmer gesprochene Wort vernehmen konnte. Denn selbst der
findige Ramo hatte nicht entdecken können, wie der Inhaber der gefundenen
Fußspuren in dieses Zimmer hinein gelangt war. Aber Ramo kannte auch die
unausgesprochenen Wünsche seiner Herrin -- er wußte, daß das Turmzimmer
ihr nicht eher wieder lieb werden konnte, ehe es nebenan nicht sicher war,
und da er selbst ein leises Unbehagen empfand bei dem Gedanken, daß es
dicht neben den Wohnräumen dieser geliebten Herrin einen geheimnisvollen
Schlupfwinkel gab für unbekannte Schleicher, daß die Wände dieses
Zimmers sozusagen Ohren hatten, so schnitt er diesen lieber ab, was der
Erbprinz zu sagen hatte.

Dieser und Dolores nahmen im Salon indes einander gegenüber Platz.

»Also nun zu den Staatsgeheimnissen,« meinte sie, ersichtlich gespannt.
»Nach dem zu dieser Unterredung nötigen Apparate bin ich doch wohl
berechtigt, etwas ganz Außergewöhnliches zu erwarten und zu hören!«

»Und doch erraten Sie gewiß nicht, daß von Ihnen in dieser Stunde das
Bestehen oder Aufhören eines Staates abhängt,« erwiderte der Erbprinz
mit jenem Lächeln, das auch Ernst bedeuten kann.

»Von mir?« fragte Dolores erstaunt. Aber dann lachte sie. »O Hoheit, die
Hundstage und die Sauregurkenzeit, wo man vergebens nach Enten sucht, um
die Zeitungen zu füllen und die Konversation zu beleben -- die sind doch
noch nicht da, und vor denen brauchen Sie sich doch nicht zu fürchten!«

»Das ist sehr freundlich bemerkt, aber mir lag wirklich jeder Scherz
fern,« versicherte der Erbprinz. »Also darf ich mein Staatsgeheimnis
erzählen? Und werden Sie mich geduldig anhören, bis ich zu Ende damit
bin?«

»Ich werde keine Silbe sagen, bis Hoheit mir erklären, daß Sie fertig
sind,« entgegnete sie freundlich und lehnte sich zurück in ihren Sessel.
»Also ich höre und verspreche, kein Wort zu verlieren.«

»Nun wohl,« sagte der Erbprinz, »ich verspreche dagegen auch, kurz zu
sein und Ihre Geduld nicht zu schwer zu prüfen. Um mit dem neuesten
zu beginnen, so muß ich also berichten, daß wegen der in sechs Wochen
stattfindenden Vermählung meiner Schwester Alexandra, von der Sie gestern
ja gehört haben, die Hochzeit meiner Schwester Lolo schon Anfang August
stattfinden muß. Entscheidend waren dabei Etikettenfragen in Rücksicht
auf meinen künftigen Schwager Falkner -- wir haben das heute Morgen
besprochen und bestimmt.«

»Gehört das zur Sache?« warf Dolores etwas kühl ein.

»Doch, denn es leitet die Sache selbst ein,« entgegnete der Erbprinz und
fuhr fort: »Aber der durch diese Hochzeiten zu erwartende Trubel und der
Umstand, daß, da Monrepos dem jungen Paare als =buen retiro= für den
Honigmond eingerichtet werden soll, wir alle diesen lieben Aufenthalt in
den nächsten Tagen verlassen müssen, all' dies hat den Herzog, meinen
Vater, etwas nervös gemacht. Er ist ein Mensch mit stillen Neigungen und
dem Hange zu einem ruhigen Leben, und nichts ist ihm schrecklicher, als
sich in eine Uniform zwängen zu müssen und Pflichten zu erfüllen, die
ihn nicht befriedigen, die ihm das leere Gefühl hinterlassen, nichts
gethan zu haben und doch in Bewegung gewesen zu sein. Und nun sein Haus
leer wird und ihn die Rücksicht für seine Töchter nicht mehr fesselt,
nun will der Herzog einen langgehegten Wunsch erfüllen und auf die
Regierung verzichten. Er ließ mich also vorhin zu sich rufen und teilte
mir seinen Entschluß mit.«

»Ah, das also ist das Staatsgeheimnis!« rief Dolores interessiert.
»Aber, Hoheit, warum würdigen Sie mich, es mir gerade anzuvertrauen?«

»Weil, wie ich Ihnen schon sagte, das Bestehen und Aufhören unseres
kleinen Staates von Ihnen abhängt,« erwiderte der Erbprinz.

»Sesam, öffne dich!« rief sie lächelnd.

»Ich komme zur Sache. Nachdem der Herzog mir also seinen Entschluß, zu
resignieren, kundgegeben hatte, billigte ich denselben vollständig, denn
ich teile ganz die Lebensansichten meines Vaters und dessen Neigungen. Ich
sagte ihm also, ich begriffe voll und ganz die Motive, die ihn Scepter
und Krone niederlegen ließen, aber ich würde diese Resignation auch
gerechtfertigt finden, wenn sie aus dem Grunde geschähe, daß damit
zugleich unser Land dem Reiche einverleibt würde, welches unsere
Souveränität vertragsmäßig anerkennt, dem wir aber damit doch ein
Hindernis sind. Ich habe als Vergleich dafür nur den dahinbrausenden
Blitzzug, welcher über Zeit und Raum triumphierend den Erdball durchmißt
und dazu genötigt wird, jedesmal vor einer kleinen Haltestelle ein
unliebsames Halt zu machen, um Ballast aufzunehmen, der ihn nicht
beschwert, aber aufhält und belästigt.«

»Das ist eine großherzige politische Auffassung, Hoheit!«

»Sie wäre es, Baroneß, wenn ich nicht ein Mensch wäre und als solcher
eigennützige Motive im verborgensten Winkel meines Herzens bärge.«

»Wer soll Ihnen das glauben, Prinz?«

»Hören Sie mich zu Ende, und Sie werden es glauben müssen. Also
mein Vater gab mir von seinem Gesichtspunkt aus recht, denn seine
partikularistischen Ideen von ehedem sind längst einer wirklich
großherzigen, weiten Auffassung von politischer Einigkeit und Größe
gewichen, und er hätte auch sicher seine engbegrenzte Souveränität
für diesen großen Gedanken geopfert, wenn er nicht geglaubt hätte, das
Aufrechthalten derselben mir, seinem einzigen Sohne und Erben, schuldig
sein zu müssen. Nach dieser Eröffnung glaubte ich meinen Moment zum
Sprechen gekommen, und ich erklärte meinem Vater, daß ich seinem Beispiel
freudig folgen und auf einen Thron verzichten wollte, dem gegenüber,
ganz abgesehen von meiner politischen Überzeugung, mir ein Leben als
mediatisierter Fürst weit größere geistige Vorteile böte. Aber nun
komme ich auf des Pudels Kern. Der Herzog fragte mich, als erfahrener
Menschenkenner, ob dies allein mein Motiv sei, und da mußte ich freilich
gestehen: nein. Denn das wahre Motiv für mich ist -- eine Dame, eine Dame,
welche ich liebe, und welche mir nicht ebenbürtig ist. Und ich setzte dem
Herzog auseinander, wie ich davon geträumt hätte, den Herrscherpflichten
zu entsagen -- nicht um der Liebe willen, welche ja stets hinter Pflicht
zurücktreten muß, sondern rein meiner politischen Überzeugung wegen,
und wie ich dann, ein freier Mann, mich einfach nach meiner ererbten
Privatbesitzung Graf von Waldburg nennen wollte, um der Dame meines Herzens
mit meiner Hand auch meinen Namen bieten zu können. Was nach dieser
Erklärung zwischen meinem Vater und mir als Herzog und Erbprinz und
endlich als Vater und Sohn besprochen wurde, gehört nicht hierher,
ich will nur sagen, daß ich siegte -- vielleicht weil der Sieg meiner
Schwester Eleonore dem meinen vorausgegangen war. Aber ich habe alles von
der Entscheidung jener Dame abhängig gemacht. Nimmt sie meine Hand
an, dann werden die Reichslande um ein paar Quadratmeilen größer --
refüsiert sie mich, so übernehme ich die Regierung, bis ein geeigneter
Moment die Verzichtleistung unauffällig vollzieht.«

»Und das sollte in meiner Hand liegen?« fragte Dolores, als er schwieg.

»Ja,« sagte er fest, »weil Sie die Dame sind, die ich liebe, und weil
ich nicht als Erbprinz mit der linken Hand, sondern als Graf von Waldburg
vor Sie hintrete, Ihnen Herz, Rechte und Namen biete und Sie frage: wollen
Sie mein Weib werden?«

Dolores war aufgestanden -- blaß lehnte sie an dem Tisch, der hinter ihr
stand und sah zu dem Prinzen herüber, der sich gleichfalls erhoben hatte.

»Hoheit sehen mich aufs höchste überrascht,« sagte sie nach einer Pause
ruhig und gefaßt. »Der mich so hoch ehrende, liebe und in letzter Zeit
vertraute Verkehr mit Monrepos hat mich nie, auch nicht im entferntesten
ahnen lassen, daß --« sie stockte.

»Daß ich Sie liebe,« vollendete der Erbprinz. »Nein, Dolores, ich
weiß, daß ich mich nicht verraten habe, denn ich halte es für einen
Mann in meiner Stellung für gewissenlos, eine Frau mit seiner Liebe zu
verfolgen, der er im besten Falle nichts bieten kann als einen Trauring zur
linken Hand, einen fremden Namen und eine stets untergeordnete, peinliche
Stellung in seinem Hause. Das waren die Motive, die mich veranlaßten,
Ihnen meine Neigung zu verbergen, aber ich wußte, daß wenn Ihr Herz für
mich spräche, Sie dies auch in sich verschließen würden. Nun aber
hab' ich's erreicht, ich darf sprechen und trete vor Sie hin mit meinem
Geständnis. Dolores, darf ich auf Erhörung, darf ich auf Gegenliebe
hoffen?«

Nun ward es still in dem hohen, kühlen Raume, so still, daß man das
Summen der Fliegen an den Fensterscheiben hören konnte. Dolores stand, die
großen, dunklen Augen traumverloren in die Ferne gerichtet und sann, der
Erbprinz wartete auf ihre Antwort -- --

»Hoheit,« sagte Dolores nach einer Weile, »ich würde Sie schwer
täuschen, wenn ich Ihnen sagen wollte, daß die wahrhaft herzliche
Sympathie, welche ich für Sie empfinde, Liebe ist. Wenn Sie diese
verlangen -- ich habe sie nicht!«

»O Dolores!« rief er schmerzlich bewegt. »Ich habe es wohl geahnt, daß
ein anderer -- --«

»Nein, nein!« unterbrach sie ihn schnell, »kein anderer. Es steht
niemand zwischen Ihnen und Ihrer Werbung. Und vielleicht ist die herzliche
Sympathie, von der ich Ihnen sprach, auch der rechte Kitt für eine
glückliche Ehe -- --«

»Vielleicht ist es auch die Liebe selbst, ohne daß Sie es wissen,« fiel
er bittenden Blickes ein.

Sie aber schüttelte mit trübem Lächeln den Kopf.

»Nein, Hoheit -- wir wollen uns beide darüber nicht täuschen. Es frägt
sich nur, ob Ihnen genügt, was ich zu bieten habe -- --«

»Dolores -- --«

»Sie sollen nicht sofort ›Ja‹ sagen, Hoheit,« fiel sie ihm ins Wort,
»Sie sollen sich prüfen, ob Sie vorlieb nehmen wollen mit einem Herzen,
das ja nicht verneint, lieben zu können, und das auch nicht sagt: Ich
werde Sie niemals lieben, denn ich glaube und begreife, daß eine Frau Sie
lieben kann. Aber mehr noch als Sie bedarf ich der Prüfung. Es hat so viel
verlockendes, Ihren Antrag anzunehmen, weil es der Antrag eines redlichen,
großdenkenden Mannes ist, weil ich mir einbilde, Ihr Herz könnte eine
Heimat werden für mein heimatloses Herz und weil die Einsamkeit mich
oft so trostlos ansieht -- aber all' das darf mich nicht verleiten, das
Lebensglück -- Ihr Lebensglück auf eine Karte zu setzen, von der ich
nicht weiß, ob sie gewinnt. Und darum muß ich mich prüfen und Sie
müssen mir Zeit lassen, ja?«

»Kann ich ›Nein‹ sagen?« fragte er mit einem Seufzer zurück. »Und
wie lange soll ich auf Ihre Entscheidung warten? Denn ich habe für mich
schon entschieden!«

»Wie lange?« sagte Dolores träumerisch. »Ich kann nicht wissen, wie
lange ich brauche, um die Zweifel meines eignen Herzens zu bekämpfen. Denn
wenn ich kämpfe, so geschieht es offenen Visiers und ehrlich, auch gegen
mich selbst -- --«

»Das weiß ich, Dolores! Und ich will warten -- warten, bis Sie mich
rufen. Doch eins muß ich Ihnen sagen: auch ich werde kämpfen, aber nicht
mit mir, denn in mir ist alles klar, aber um Sie, und ich will damit nicht
eher aufhören, als bis Sie selbst mir sagen, daß es vergebens ist, daß
Sie einen anderen lieben. Und vielleicht siege ich auch, denn ich gehe ja
nicht hoffnungslos von Ihnen.«

Da lächelte sie schmerzlich.

»Mit einem armseligen ›vielleicht,‹« sagte sie leise.

»Nicht armselig,« erwiderte er warm, »denn haben Sie nicht gehört,
was ein Geistreicher gesagt, daß das Wörtchen ›vielleicht‹ die
Visitenkarte der Hoffnung ist?«

»Und wenn die Hoffnung nun darauf schriebe: =p. p. c. -- pour prendre
congé=?« fragte Dolores.

Einen Augenblick sah der Erbprinz ihr in die angstvoll auf sich gerichteten
Augen, dann erwiderte er zuversichtlich:

»Das müßte ich schwarz auf weiß haben, denn die Hoffnung nimmt niemals
für immer Abschied von den Menschen.«

Sie aber schüttelte nur mit dem Kopfe -- sie wußte es besser.

Und der Erbprinz ging, und wenn er das Wörtchen »vielleicht,« auf das er
so viel Hoffnung setzte, zurückdrängte, so blieb ihm freilich nicht mehr
viel übrig, um darauf zu bauen. Aber Menschen in seiner Lebenslage bauen
dennoch -- luftige, hohe Schlösser auf sandigen Boden, bis der Windstoß
kommt, der sie vor ihren Augen zusammenbrechen läßt und ihnen nichts
davon bleibt, als Schutt, Trümmer und Scherben. -- --

Dolores war allein zurückgeblieben mit klopfendem Herzen und fliegenden
Pulsen, denn kaum war der Erbprinz gegangen, da traten vor ihren redlichen
Sinn schon die Fragen: Was hast du gethan? Welches Recht hast du, ein Herz
zu versprechen, das du voll und ganz nicht mehr geben kannst? Welches Recht
hast du, Hoffnungen zu erwecken, die du nicht erfüllen kannst?

Und doch hätte sie am liebsten gleich »Ja« gesagt, denn ihr schien Hand
und Herz des Erbprinzen wie ein wohlgeborgener Hafen, in welchem sie sicher
war vor sich selbst, in welchen sie sich allzeit retten konnte, wenn auch
die hohe See des Lebens ihr den Gischt in die Augen schleuderte und sie
blendete, daß sie ihren Weg nicht mehr klar sah vor sich. Und sie glaubte
glücklich werden zu können an der Seite eines solch' edeln Menschen,
selbst wenn sie ihn nicht so liebte, wie sie dachte und glaubte, lieben
zu sollen, und endlich wußte sie es nicht und ahnte nicht, wie schwer ihr
Herz getroffen war und wie unheilbar seine Wunde. Diese Erkenntnis ward ihr
noch vorbehalten -- sie wäre ihr erspart geblieben, wenn es sie an jenem
Abend nicht herausgetrieben hätte, um im Freien in Gottes klarer Luft
besser denken, besser prüfen zu können, trotzdem das Zünglein der Wage
sich schon tief herabneigte nach der Wagschale des Erbprinzen, denn, wie
gesagt, Dolores hatte noch nicht genug gekostet vom Apfel der Erkenntnis,
hatte auf die Sprache des eigenen Herzens noch nicht gelauscht oder
dieselbe doch gebieterisch zum Schweigen gebracht -- kurz, sie war noch
nicht sehend geworden.

Während der Erbprinz droben war bei ihr, hatten Doktor Ruß und seine Frau
auf der Terrasse vor ihren Zimmern Platz genommen, und kurz darauf kam auch
Falkner von Monrepos herüber, um, wie er sogleich sagte, seiner Mutter den
heut' von der herzoglichen Familie fixierten Tag seiner Hochzeit zu melden.

»Die Einladungskarten werden jedenfalls zur rechten Zeit hier
eintreffen,« schloß er, »aber ich denke, der Herzog wird noch vor seiner
Abreise von Monrepos Gelegenheit nehmen, davon zu sprechen, das heißt
seine Einladung persönlich anbringen.« --

Frau Ruß strickte ihre Nadel ab, an deren Maschen sie eifrig zählte.
»Dreiundzwanzig -- vierundzwanzig,« schloß sie und ließ dann das
Strickzeug sinken, um auf die Einladungsfrage einzugehen. Diesen Moment
aber hatte Doktor Ruß sehr wohl abgepaßt.

»Wäre es nicht besser, lieber Alfred,« begann er, »wenn du drüben in
Monrepos einen Wink darüber fallen lassen könntest, daß die Einladung
besser ganz unterbleibt? Du würdest dadurch deiner Mutter den peinlichen
Moment der Entschuldigung über ihr Fernbleiben von deiner Hochzeit
ersparen.« --

Frau Ruß hatte ihren Gatten, während er sprach, angesehen, ohne ihn zu
unterbrechen. Jetzt nahm sie mit einem Ruck ihr Gestrick wieder auf, doch
um ihren festgeschlossenen Mund zuckte es seltsam.

Falkner aber hielt sein Erstaunen nicht zurück.

»Warum willst du meiner Hochzeit nicht beiwohnen, Mutter?« fragte er.

Wieder öffnete Frau Ruß den Mund zur Antwort und wieder übernahm Doktor
Ruß dieselbe.

»Deine Mutter hat drei Gründe für ihre Weigerung,« sagte er.
»_Erstens_ sind wir pekuniär nicht so gestellt, um die für einen
solchen Tag und an solchem Orte nötigen Ausgaben für Reise, Kleider etc.
bestreiten zu können.« --

»Nun, meine Mutter wird die Deckung dieser Auslagen von mir in diesem
Falle wohl annehmen,« fiel Falkner dem Redner ins Wort.

»_Zweitens_,« fuhr Ruß unbeirrt fort, abermals eine Antwort seiner Frau
abschneidend, »zweitens will deine Mutter einer derartigen Feier niemals
ohne ihren Gatten -- meine Wenigkeit -- beiwohnen.«

»Man wird aber auch am herzoglichen Hofe den Takt haben, diesen Gatten
meiner Mutter mit einzuladen,« fiel Falkner abermals ein.

»Diesen Fall vorausgesetzt, wird deine Mutter _drittens_ sich nicht der
Möglichkeit aussetzen, in der Hofrangordnung auf eine Stufe gestellt zu
werden, welche vielleicht ihrer jetzigen bürgerlichen Stellung, nicht aber
ihrem Geschmacke entspricht; ganz abgesehen davon, daß es ihr peinlich
wäre, mich, ihren Gatten, dabei übersehen und beiseite schieben zu
lassen,« schloß Doktor Ruß.

Falkner konnte dem klugen, alles erwägenden Manne in diesem Falle nicht
unrecht geben.

»Ich glaube kaum, daß ihr euch in eurem Verhältnis zu mir derartigen
Dingen aussetzen würdet,« sagte er indes sehr ruhig.

»Nein, du glaubst es nicht, und ich glaube es auch nicht, was den Herzog
und die Seinen persönlich anbetrifft,« erwiderte Ruß, »aber die
Hofrangordnung macht der Hofmarschall, und du wie wir sind dessen eben
nicht sicher, sowie seiner Ansichten über den Fall. Sparen wir also dem
Herzog das Peinliche, seine Gegenschwieger deplaziert zu sehen, und sparen
wir uns den Ärger, es zu sein!«

»Nun, das wird sich alles noch finden,« meinte Falkner, um das Gespräch
zu beenden.

»Der zweite und dritte Punkt vielleicht -- der erste sicher nicht,«
beharrte Doktor Ruß. »Denn,« fuhr er fort, »es fällt mir nicht ein,
mich in Schulden stürzen zu wollen dieses einen Tages wegen, der uns
vielleicht nur Kränkung und Zurücksetzung bringt.«

»Herrgott, wie kann man immer nur _daran_ denken,« fuhr Falkner auf.
»Dieses ewige Mißtrauen macht euch elend und stellt der übrigen Welt
doch ein geistiges Armutszeugnis aus, das sie nicht verdient.«

Doktor Ruß zuckte mit den Achseln und lächelte ein bedeutsames Lächeln,
dann aber stand er auf, trat an seine Frau heran, umfaßte sie liebevoll
und drückte sie an sich.

»Teures Weib, hier ist dein Platz, den du dir selbst gewählt,« sagte
er mit dem vollen Wohlklange seiner modulationsfähigen Stimme. »Hier ist
dein Platz, der dein bleibt, ob auch die Welt dich verstößt wegen deiner
Herzenswahl. Denn was nützen uns Rangkronen und Titel, wenn das Herz
fehlt?«

Und er beugte sich herab, ihren zuckenden Mund zu küssen und ihre vor
Rührung überquellenden Augen zu trocknen.

»Na, da schlag' Gott den Teufel tot,« murmelte Falkner ziemlich deutlich,
denn diese Komödie täuschte ihn nicht und sollte es vielleicht auch nicht
thun. Denn einmal hielt er seinen Stiefvater für einen viel zu klugen
Mann, um ihm solch' unlogisches und ungerechtfertigtes Vom-Zaun-brechen
einer Rührscene zuzutrauen, und dann wußte er sehr genau, daß es dieser
Ton war, mit welchem er seine Mutter sich gewann und unterordnete, mit dem
er sie aufreizte und zu seinen Ansichten und Plänen bekehrte. Ob es nun
zu diesen gehörte, oder ob wirklich sein Mißtrauen und die Furcht, nicht
für voll anerkannt zu werden, in ihm vorherrschte -- genug, er wußte
seine Frau genau ebenso denkend zu machen. Frau Ruß bewieß auch sofort,
daß ihres Mannes Taktik für sie berechnet und mit Erfolg gekrönt war,
wie gewöhnlich.

»Ja, mein Lieb,« sagte sie, mit den Thränen kämpfend, »wir bleiben
fern von dem Orte, an dem wir nur geduldet werden würden. Ich brauche
die ganze hochmütige Clique nicht,« fuhr sie heftig fort, »und wer mich
frägt, wer ich bin --: ich bin die Frau Ruß, nichts mehr und nichts
weniger!« --

»Aber liebe Mutter, wer ist dir denn je in dieser Beziehung zu nahe
getreten?« fragte Falkner beruhigend, doch Doktor Ruß winkte ihm nur
ab und drückte den Kopf seiner Frau lange und stumm an seine Brust. Die
Wirkung war komplett, der Sieg war gewonnen über ein verbittertes Weib.
Deshalb blieben Falkners Worte auch gänzlich unbeachtet, und er war
im Begriff, sich zu erheben und zu gehen, als Doktor Ruß, wieder Platz
nehmend, ein anderes Thema aufnahm.

»Da wir gerade einmal in Ruhe bei dem Thema deiner Heirat sind, lieber
Alfred,« sagte er, »so mag zugleich eine Frage erledigt werden, welche
nahe liegt. Was haben deine Mutter und ich von deiner Heirat zu erwarten?«

»Das verstehe ich nicht,« erwiderte Falkner verwundert.

»Nun wohl, ich meine, welch' materielle Vorteile können und sollen uns
daraus ersprießen?«

»Materielle Vorteile?« wiederholte Falkner. »Offen gesagt sehe ich für
euch als Kollektivbegriff keine, doch werde ich nach wie vor bemüht sein,
aus meinen Überschüssen meiner Mutter diejenige Hilfe zu gewähren,
welche ich eben gewähren kann.«

Frau Ruß reichte ihrem Sohne die Hand und wollte etwas sagen, doch ein
vielsagendes »Hm!« ihres Gatten hielt das freundliche und dankbare Wort
auf der Stelle zurück.

»Was soll das heißen?« fragte Falkner gereizt.

»Ich wollte damit nur sagen, daß wir natürlich keine Rothschild-artigen
Revenüen von dir verlangen,« erwiderte Ruß sehr gelassen, »denn wir
wissen ja, daß die Apanage deiner Braut durch ihre unebenbürtige Heirat
erlischt und ihr mütterliches Vermögen nur eine unantastbare Leibrente
bildet. Ich habe also auch nicht von pekuniären Vorteilen gesprochen,
sondern von materiellen.«

»Jedenfalls bist du sehr gut informiert,« sagte Falkner sarkastisch.

»Nicht wahr?« nickte Doktor Ruß seinem Stiefsohne so harmlos zu, daß
diesem das Blut in die Stirn stieg und er alle Mühe hatte, eine heftige
Antwort zurückzudrängen.

»Ich bitte also um eine Erklärung, was du unter materiellen Vorteilen von
meiner Heirat verstehst,« rief er ungeduldig, »du mußt meiner schweren
Begriffsfähigkeit hierin etwas zu Hilfe kommen.« --

»Gern, lieber Alfred,« entgegnete Ruß sehr sanft und freundlich. »Ich
meine nämlich, es dürfte jetzt die Zeit gekommen sein, wo du statt deiner
vielgerühmten Hilfen aus deinen Überschüssen --«

Nun sprang aber Falkner empor im hellen Zorn.

»Wie kannst du wagen, von ›_vielgerühmten_‹ Hilfen zu sprechen,«
sagte er leise mit flammendem Auge. »Ich habe das Wenige, was ich meiner
Mutter geben konnte, in meinem Herzen stets um seiner Wenigkeit willen
beklagt, aber ich war nie solch' ein Lump, mich dessen zu rühmen, was
ich gab; denn wer sich erfüllbarer Pflichten rühmt, ist nichts als ein
alberner Selbstanbeter und ein verächtlicher Renommist obendrein!«

Doktor Ruß sah ein, daß er zu weit gegangen war und seinen Stiefsohn
unnötig gereizt hatte. Er nickte ihm deshalb lächelnd zu und klatschte
leise Beifall.

»Bravo! Bravo!« rief er, »Adelheid, geliebtes Weib, sieh' deinen
Sohn, dein Fleisch und Blut! In welch' schönen Zorn er für dich geraten
kann --« --

»Was soll das wieder?« unterbrach ihn Falkner drohend. Aber Doktor Ruß
war nicht so leicht einzuschüchtern.

»Nein, du hast mich nicht recht verstanden, oder ich, vielmehr, habe mich
nicht richtig ausgedrückt,« sagte er mit seinem gewinnendsten Ton. »Ich
meinte vielgerühmt in dem Sinne, als deine Mutter, und ich mit ihr, es
in der That stets viel gerühmt haben, daß du von dem Deinen trotz den
großen Ansprüchen, welche deine Carriere, dein Name und die große Stadt
an dich stellten, immer noch für deine Mutter übrig hattest --«

»Daran ist auch von dir nichts zu rühmen,« unterbrach ihn Falkner kurz
und scharf, denn der schnelle Blick, den Frau Ruß auf ihren Mann geworfen
hatte, war ihm nicht entgangen und hatte ihm gesagt, daß sein Stiefvater
das böse Wort nur zu seinen Gunsten gedreht, und seine Fertigkeit in
dieser Kunst abermals bewiesen hatte.

»Doch! doch!« widersprach der Unerschütterliche auf das Süßeste, und
fuhr dann fort: »Um also endlich auf des Pudels Kern zu kommen, so hatte
ich sagen wollen, daß deine Mutter und ich erwarten, daß es dir nunmehr
gelingen wird durch deinen unleugbaren Einfluß am Hofe des Herzogs, deines
Schwiegervaters, für mich eine Stellung zu erwirken, welche deine Mutter
auf eine Stufe stellt, die für dich nichts Peinliches hat. Der meinem
Namen mangelnde Adel dürfte dann auch wohl so schwer nicht zu beschaffen
sein.«

Falkner, welcher stehen geblieben war, ergriff jetzt seinen Hut.

»Ich fürchte, dich enttäuschen zu müssen,« sagte er, sich vollständig
bezwingend. »Ich bin so ganz und gar nicht der Mann dazu, der durch
eine nähere Verbindung mit den Großen dieser Erde, diese sogleich dazu
benutzt, um seine Verwandten zu poussieren. Das war ein Geschäft für die
Pompadour und ihresgleichen. Deine eigenen Bemühungen um eine Professur
werden da jedenfalls erfolgreicher sein. Du brauchst dann auch den Adel
nicht, dessen in meinen Augen ein gebildeter Mensch überhaupt nicht
bedarf, um vorwärts zu kommen. Und bis ich soweit bin, das heißt bis ich
in der Intimität mit den neuen Verwandten soweit gedeihe, daß ich eine
derartige Bitte aussprechen würde -- bis dahin bist du längst in Amt und
Würden.«

»Natürlich,« erwiderte Doktor Ruß seltsam zerstreut.

»Dies ist meine persönliche Ansicht davon,« fuhr Falkner fort, »aber
es kommt noch ein anderer Faktor dazu, der deinem Wunsche entgegentritt. Es
ist dies die wahrscheinliche Resignation des Herzogs und seines Hauses und
die Einverleibung Nordlands in die Reichslande.«

»Ah --!« machte Doktor Ruß mit demselben unsteten Blick wie zuvor.

»Ich bitte euch, diese Mitteilung aber geheim zu halten,« schloß
Falkner, verwundert, daß die Zunge seines Schwiegervaters keinen scharf
zugespitzten Pfeil auf seine Weigerung hatte. »Ich habe,« setzte er
hinzu, »nur deshalb davon gesprochen und dir gegenüber Gebrauch von
dieser nur in Umrissen skizzierten Idee gemacht, um den Beweis zu liefern,
daß Egoismus und böser Wille mich nicht leitet.«

»Gewiß! Gewiß!« meinte Doktor Ruß, wie wenn jemand, sehr beschäftigt,
ein fragendes Kind abfertigen will.

»Und nun adieu, liebe Mutter,« sagte Falkner, sich zu Frau Ruß wendend.
»Ich reise morgen früh ab und habe heut' noch mehreres zu thun.«

»Adieu, lieber Junge,« erwiderte sie in ihrer kalten, kurzen Weise. »Es
ist noch früh am Abend -- mußt du schon gehen?«

»Ich wollte Dolores noch Lebewohl sagen, Mutter.«

»Dolores? Ah, da wirst du heut' nicht angenommen,« fiel Doktor Ruß mit
der altgewohnten Aufmerksamkeit ein. »Der Erbprinz ist oben.«

»Darin sehe ich noch keinen Grund, nicht auch angenommen zu werden,«
erwiderte Falkner, der einen Moment gestutzt hatte.

Nun berichtete Ruß mit leisem, bedeutsamem Lachen, wie er vorhin an der
Treppe kurz und bündig von dem Erbprinzen »entlassen« worden war, und er
legte in seinen Bericht eine Bedeutung, die er ja, wie wir wissen, in der
That erraten hatte, welche er aber kaum berechtigt war, hereinzulegen.

»Nun, so richtet ihr Dolores wohl meine Empfehlungen aus,« meinte Falkner
gleichgültig, küßte seiner Mutter die Hand, berührte die Fingerspitzen
des Doktor Ruß und ging durch die große Lindenallee der Grenze von
Monrepos zu. Sein Stiefvater aber raffte auch mit leisem Singen seine
Siebensachen zusammen, warf seiner Frau eine Kußhand zu und verschwand im
Hause, um es alsbald von einer anderen Seite aus wieder zu verlassen, als
er von einem Diener erfuhr, daß der Erbprinz schon fort und »Baroneß«
in den Park gegangen sei.

Falkner änderte inzwischen auch seine Absicht, direkt nach Monrepos
zurückzukehren. Das stattgehabte Gespräch mit seinem Stiefvater hatte
ihn, wie alle derartigen Gespräche mit demselben, geärgert und erregt,
mehr aber noch gab ihm die nach Ruß' Version wichtige Anwesenheit des
Erbprinzen im Falkenhofe zu denken. Was hatte dieser mit Dolores zu
besprechen, daß er keine Zeugen zu haben wünschte? Grübelnd und seltsam
erregt, ging er vorwärts, bog in dem Gefühl, sein Gleichgewicht erst
durch einen Spaziergang wiederherstellen zu müssen, in einen Seitengang
ein und schritt die denselben mehrfach kreuzenden, schattigen Laubsteige
benutzend, planlos weiter. Am Abend war eine erfrischende Brise von Osten
hergekommen, und die Sonne sank in wunderbar leuchtendem Glanz im Westen
hinab. Da begann im Dorfe die Abendglocke zu läuten -- weich und weihevoll
schwebten die gedämpften Glockentöne durch die Luft, und Falkner nahm
unwillkürlich den Hut vom Kopfe und blieb lauschend stehen. Er dachte
mit seltsam wehmütigem Gefühl der Zeit, da er noch zur Abendglocke den
Angelus betete, bis die Welt ihren Staub über jenen frommen Brauch legte
und er ihn verlor. Denn man hört ja im Geräusch der Welt und der großen
Städte keine Glocken mehr läuten, und wer ihren Klang nicht im Herzen
trägt, den rufen sie bald nicht mehr zu dem geweihten Ort, dem sie
dienen -- -- --

Und wie er stand und darüber nachsann, wie man so leicht vergißt,
was nicht von dieser Welt ist, da tönte durch den Glockenklang eine
wunderschöne, volle, weiche Frauenstimme zu ihm herüber --

»Dolores!« dachte er und eilte vorwärts. Mit wenigen Schritten war er
am Hexenloch, an dessen malerischem Ufer sie stand. Im Hintergrunde
flüsterten leis die uralten Blutbuchen. Sie hatte das Angesicht dem
purpurroten Sonnenuntergange zugewendet, der durch eine Lichtung in den
Bäumen auf die kaum bewegten Äste und auf das geheimnisvoll dunkle Wasser
des Hexenloches leuchtende Tinten zauberte. Ihr wunderschönes Antlitz mit
den dunkeln Augen, die ungeblendet hineinsahen in den Sonnenuntergang war
goldrot beleuchtet.

So stand sie im weißen Kleide, Sonnenlicht in dem schimmernden Goldhaar,
wie eine Elfe, seltsam überirdisch zu sehen, und sang ein Lied, dessen
weiche Modulation, dessen wie von Schluchzen durchbebte Melodie wunderbar
hineinpaßte in das stimmungsvolle Bild. Es war ein italienisches Lied,
vielgesungen, weitbekannt, aber hier durchweht von hoher Künstlerschaft,
von tiefstem Empfinden, das also hinausklang in den stillen,
glockendurchzitterten Abend:

  »Ich möchte sterben, wenn die Frühlingslüfte
  Vom heitern Himmel lau die Erd' durchwehen,
  Wenn neue Blüten hauchen neue Düfte,
  Die Schwalben sorgend nach dem Nestlein sehen.
  Ich möchte sterben, wenn die Sonne nieder
  Am Himmel sinkt und schon die Veilchen träumen --
  Da flieht zu Gott die müde Seele wieder,
  Zu unbegrenzten, frühlingshellen Räumen.
  Doch wenn der Sturm rast und die Blitze flammen,
  Wenn finstre Wolken durch die Lüfte jagen,
  Und wirbelnd treibt das welke Laub zusammen,
  Möcht' ich nicht sterben, nicht hinaus mich wagen.
  Ich möchte sterben, wenn die Sonne nieder
  Am Himmel sinkt und schon die Veilchen träumen --
  Da flieht zu Gott die müde Seele wieder
  Zu unbegrenzten, frühlingshellen Räumen.«[1]

    [1]: Nach dem Italienischen des L. M. Cognetti von der
    Verfasserin.

Und wie Falkner stand und dem Liede lauschte, ungesehen von der einsamen
Sängerin, da fiel ihm die Zeichnung des Blattes ein, das dem Liede als
Umschlag diente, und das er einst drüben in Monrepos gesehen --: vor der
untergehenden Sonne, die auf die »träumenden Veilchen« herabblickt, zwei
beschwingte Schatten, welche sich zum Kusse zusammenneigen -- --

»=Vorrei morir -- vorrei morir=« -- verklang es wie ein schluchzender
Hauch. »Dolores --!« und er stand neben ihr, plötzlich, unerwartet,
aber sie erschrak nicht vor seinem schnellen Kommen, sondern sah durch die
Lichtung hinein in das Abendsonnengold, als wäre sie allein, wie vorher.

Und es wurde still unter den Blutbuchen am Hexenloch wie in einer Kirche,
nur seine tiefen, schweren Atemzüge waren zu hören.

»=Vorrei morir= --« wiederholte er dann leise. »Warum nur möchten
_Sie_ sterben, Dolores?«

Da sah sie ihn an, wortlos, aber er schien keiner anderen Antwort zu
bedürfen.

»Ich war im Falkenhof und wollte Ihnen Lebewohl sagen, denn ich reise
morgen ab,« fuhr er nach einer Pause fort. »Und Prinzeß Alexandra läßt
Ihnen sagen, daß Sie zu meiner Hochzeit nach Nordland kommen sollen.«

»Ja,« sagte Dolores mechanisch. Es war ihr erstes Wort.

»Ja,« wiederholte er. »Leben Sie wohl!« Und er reichte ihr die Hand.
Als sie die ihre hineinlegte, ohne Druck, wie apathisch, da sprach sie
mit seltsam klingender Stimme: »Sie kommen dann vielleicht auch zu meiner
Hochzeit.«

Da prallte er zurück, wie getroffen.

»Der Erbprinz!« fuhr es ihm durch den Sinn, daß er den Namen laut
aussprach. Sie nickte bejahend.

»Und Sie haben ›Ja‹ gesagt,« fragte er.

»Noch nicht,« erwiderte sie, »aber ich werde es wohl thun. Es ist das
beste. Denn er ist ein guter, edler Mensch.«

»Und trotzdem singen Sie's in die Welt hinaus, daß Sie sterben
möchten?« fragte er wieder, und als sie darauf keine Antwort hatte, fuhr
er, dicht an sie herantretend, fort: »Wenn ich das noch sagen wollte,
_ich_, Dolores! Ich, der ich ein namenloses Glück in blindem Wahn, in
unsinniger Verblendung von mir stieß, eine königliche Lilie in den Staub
trat und dafür ein Flatterröslein erwarb! Und dieses Glück war mir
so nahe gelegt, und, meinen Sie nicht, daß es mir gelungen wäre, es zu
erwerben?«

Doch statt zu antworten, wendete sie das schöne Haupt ab von ihm und
sah wieder hinein in das Abendrot, das zu rosigen und violetten Tönen zu
verblassen begann.

»Dolores,« sagte er leise, und sich zu ihr hinneigend, »Dolores, nur
_ein_ Wort sagen Sie mir! Hätte ich mein Glück erringen können, oder war
es zu hoch für mich?«

»_Zu hoch_ ist nichts für menschliches Wünschen,« antwortete sie, ohne
ihn anzusehen, und als er mit leisem Ausruf bis dicht vor sie hintrat, fuhr
sie mit seltsamem Schwanken in der Stimme fort: »Aber jetzt ist es _zu
spät_.«

»Zu spät!« wiederholte er stöhnend. »Nun denn, wenn es zu spät ist,
so leben Sie wohl, Dolores!«

»Leben Sie wohl, Alfred,« kam es mit erstickter Stimme zurück.

»Nein,« sagte er heftig, »nein, so gehe ich nicht! Ich muß etwas
mitnehmen für diese Reise durchs Leben, etwas, das mich stärkt,
wonach mich hungert und dürstet zugleich. Sie müssen mich noch einmal
ansehen --!«

Da wendete sie den ernsten, umschleierten Blick zu ihm zurück und sah
ihm in die Augen, wortlos zwar, aber ein leises Rot stieg in ihre blassen
Wangen dabei, und dann senkte sie das blonde Haupt und ein leises,
unterdrücktes Schluchzen durchbebte ihren Körper.

Da legte Falkner seinen Arm um sie und zog sie an seine Brust, und so ruhte
sie einen kurzen, seligen Augenblick lang.

»Dolores, ich liebe dich von ganzem Herzen,« flüsterte er zu ihr herab,
»und nun weiß ich's, daß auch du mich liebst!«

»Ja,« antwortete sie einfach -- was aber lag alles in diesem kurzen,
schlichten »Ja.« Und dann machte sie sich frei aus seinen Armen. »Du
mußt jetzt gehen,« sagte sie, »denn die Sonne ist untergegangen, und es
ist spät geworden -- zu spät!«

Da sagte er gehorsam: »Lebewohl,« doch ehe er ging, nahm er einen Zweig
der Blutbuche, den sie vorhin abgebrochen hatte, aus ihrer Hand, küßte
ihn, und sprach: »Laß es mir als einziges, was mir von dir bleiben
darf --:

  Dies Blatt aus sommerlichen Tagen,
  Ich nahm es so im Wandern mit,
  Auf daß es einst mir möge sagen
  Wie süß die Nachtigall geschlagen,
  Wie grün der Wald, den ich durchschritt.«

Und dann ging er, ohne sich umzuwenden, und sie sah ihm nach mit umflortem
Blick, wie er der Lichtung zuschritt, dem verblassenden Abendrot entgegen,
und seine Gestalt zeichnete sich hoch und gebietend ab auf dem goldenen
Grunde des scheidenden Lichtes, denn unter den Bäumen war es ganz dunkel
geworden, dunkler noch auf den trägen Wassern des Hexenloches, auf
welchem weiße Nymphäen blühten wie verlorene Sterne am dunkel umwölkten
Nachthimmel.

Und da war es ihr, als ob eine Hand sie herandrängte hart an den Rand des
Tümpels, und ehe sie noch erschrocken Widerstand leisten oder sich umsehen
konnte, verlor ihr Fuß den Halt, mit einem lauten Aufschrei stürzte sie
das graue Ufer hinab und die schwarzen Wellen des Hexenloches schlugen
über ihr zusammen -- -- -- --

Doch einer hörte den Schrei -- Falkner -- und sich blitzschnell
umwendend, sah er eben noch die weiße Gestalt in dem unheimlichen Tümpel
verschwinden.

Entsetzt, aber ohne einen Moment zu verlieren, kehrte er im raschesten
Laufe zurück, und wie er das Hexenloch erreichte, sah er sie wieder
emportauchen in ihrem Kleide, gehoben von den, der Sage nach unergründlich
tiefen Fluten, kämpfend, ringend mit dem nahen Tode.

Und er rang mit dem Allbesieger um dies junge Leben, lautlos in der tiefen
Dämmerung suchte er dem Strudel, dessen Wirbeln und Gurgeln dem Hexenloche
die einzige Bewegung gab, sein Opfer zu entreißen, und obwohl ein
tüchtiger Schwimmer, mußte er doch hart und verzweifelt kämpfen, um sich
mit seiner Last, die, sich an seinen Hals klammernd, jetzt das Bewußtsein
verlor, aus dem verderblichen Wirbel herauszuarbeiten. Aber er siegte,
trotz aller Schwierigkeiten, über den Tod, der seine Runen schon in
das blasse, schöne Gesicht seines Opfers gezeichnet hatte, und atemlos,
erschöpft fast, stieg er endlich ans Ufer und legte Dolores sanft auf den
grünen Rasen. Im ersten Augenblick, als er nur undeutlich ihre Züge in
dem schwachen, verglimmenden Lichte unter den hohen Bäumen unterscheiden
konnte, und vergeblich auf einen Atemzug lauschte, da glaubte er sie tot,
und ein wilder, unsäglicher Schmerz ergriff ihn, daß er ihren leblosen
Körper wieder emporrichtete, an seine Brust ihr todblasses Haupt legte und
ihre kalten Lippen küßte, als könnte er ihr mit seinem Atem wieder das
entflohene Leben einhauchen. Und da that sie einen tiefen, tiefen Atemzug
und schlug die Augen auf.

»O, _du_ hast mich gerettet?!« murmelte sie matt, wie schlafbefangen.
Doch nun ließ er sie nicht ruhen. Er rieb ihre kalten Hände, und strich
ihr das nasse Haar aus der Stirn, und richtete sie endlich völlig empor.

»Fühlst du dich stark genug, nach dem Falkenhof zu gehen?« fragte er
liebevoll, »sonst mußt du hier bleiben, bis ich Leute hole, die dich ins
Haus tragen helfen, denn es ist ein weiter Weg für dich!«

»Nein, nein, nicht hierbleiben,« erwiderte sie, mit leisem Schauer
hinüberblickend nach dem Hexenloch, das wieder ruhig und unbewegt dalag,
als hätte ein Mensch nicht eben noch in ihm um sein Leben gekämpft und
gerungen. »Ich bin ganz stark und erholt und kann sehr gut gehen --«

Aber es ging doch noch ein wenig schwach und matt, woran die nassen Kleider
viel schuld hatten, die Nervenerschütterung und die Erschöpfung aber noch
mehr. Falkner stützte und trug sie halb, und so gingen sie langsam auf
dem kürzesten Wege nach dem Falkenhofe zurück, und wenn sie, blasser und
blasser werdend, einhielt im Gehen, da legte er sanft ihren Kopf an seine
Schulter und strich ihr ebenso sanft über Stirn und Haar.

»Warum bin ich nicht lieber gestorben?« fragte sie einmal und faltete die
Hände.

»Es hing an _einem_ Haare!« erwiderte er ernst. »Aber es scheint, du
sollst noch leben!«

Und langsam weiterschreitend, fragte er sie, wie es gekommen, denn im
ersten jähen Schrecken hatte er geglaubt, sie habe selbst den Tod gesucht.

»O nein,« erwiderte sie stolz, »Selbstmord ist eine Feigheit, und ich
habe sogar den Mut zum Leben.«

»Daran erkenn' ich meine _stolze_ Dolores,« sagte er bewundernd, und als
sie mit einem halben Lächeln zu ihm emporsah mit ihren großen, dunkeln
Augen, die jetzt einen so ganz anderen, weichen Ausdruck hatten, da setzte
er hinzu: »Denn die stolze Dolores war bewunderungswürdig und schön --
die demütige Dolores aber ist noch tausendmal schöner.«

Da senkte sie, matt errötend, den Blick wieder zu Boden.

»Nein,« sagte sie nach einer Pause, »nein, es war nicht mein Wille, das
Hexenloch zu meinem Grabe zu machen. Ich weiß auch nicht mehr, wie es kam
-- ich muß durch einen unbedachten Schritt ausgeglitten sein, und wenn es
nicht einfach unmöglich wäre, es zu behaupten, so würde ich sagen, ich
hatte das Gefühl, als hätte mich irgend etwas _hinabgestoßen_.«

»Vielleicht hat das plötzliche Ausgleiten und die damit verbundene
Erschütterung das Gefühl erzeugt,« meinte er.

»So wird, so muß es sein,« sagte sie matt.

Endlich kamen sie zum Falkenhof, der im matten Dämmerlicht, im letzten
Schimmer des geschiedenen Tages dalag, ruhig und friedlich, und
großartig. Vor der Terrasse unten stand Doktor Ruß und schnitt mit
seinem Taschenmesser welke Blätter von einem Rosenbaum, doch schien er die
Schwüle des zur Rüste gegangenen Tages noch nicht überwunden zu haben,
denn er mußte sein Geschäft oft unterbrechen, um seine Stirn mit dem
Taschentuch zu trocknen, ja der sonst so kühle, blasse Mann war rot und
erhitzt, als wäre er überrasch gegangen. Da er mit dem Rücken gegen
den Park stand, so sah er das Paar auch nicht, das über das weiche
=bowling-green= quer geschritten kam, und wandte sich erst um, als er die
Stimme seines Stiefsohnes hörte, der Dolores eben sagte, daß er sie bis
nach oben führen würde. Überrascht, Falkner heut' Abend nochmals hier
zu sehen, wandte Doktor Ruß sich um, und fuhr bei dem Anblick der
totenblassen, von ihren schweren, nassen Kleidern umhüllten Dolores so
heftig zurück, daß ihm das Messer abglitt und tief in seine Hand fuhr.

»Herr des Himmels, was ist geschehen?« preßte er, blasser als Dolores
selbst, hervor.

Doch diese lächelte. »Ich habe die Hexenprobe im Hexenloch bestanden,«
sagte sie scherzend. »Das heißt,« fuhr sie sich verbessernd fort,
»ich habe bewiesen, daß ich keine Hexe bin, denn ich wäre entschieden
untergesunken, wenn Alfred mich nicht herausgeholt hätte, was ihm schwer
genug gefallen ist.«

»Aber, um alles in der Welt, wie kam es denn, daß Sie in den
gefährlichen Tümpel fielen?« forschte Doktor Ruß weiter, das
Taschentuch um seine blutende Hand wickelnd.

»Mir war's, als hätte mich jemand, der nicht da war, hineingestoßen,«
erwiderte sie, immer im scherzenden Tone, »aber das ist nur die
sensationelle Lesart -- die richtige ist leider, daß ich einfach
ausgeglitten bin und das Gleichgewicht verloren habe, was einem zuweilen
passieren soll,« fügte sie mit einem matten Abglanz früherer Schelmerei
hinzu.

»Du bist dem sicheren Tode nur durch den Umstand entronnen, daß ich noch
nahe genug war, deinen Schrei zu hören und zu Hilfe zu eilen,« sagte
Falkner ernst. »Aber zu Erklärungen ist jetzt keine Zeit, denn vor
allem mußt du die Kleider wechseln und sofort zur Ruhe gehen, damit das
Nachspiel dieses Falles nicht tragischer endet, als dieser selbst.«

»Gewiß -- so schnell wie möglich zu Bette, liebe Dolores,« redete nun
Doktor Ruß auch zu; »doch auch du, Alfred, mußt dich hier umkleiden. Ich
gehe, Ihnen aus meiner Apotheke ein Vademekum gegen Erkältung zu holen!«
-- Damit eilte er hinein, und Falkner führte Dolores ins Haus und bis vor
ihre Zimmer. Dort wollte sie ihm danken, aber er ließ es nicht zu.

»Daß deine Rettung mir gelang, war ja keine Heldenthat, sondern barer
Egoismus,« meinte er, und verließ sie so schnell, daß sie ihm eben nur
noch ein halb ersticktes »Lebewohl« zurufen konnte.

In Kleidern von Doktor Ruß, die ihm zur Not paßten, langte Falkner erst
spät in Monrepos an, begrüßt von besorgten Fragen seines späten Kommens
wegen, das man natürlich einem besonderen Ereignis zuschrieb. Nur Prinzeß
Lolo, welche sich in Zorn und Ungeduld über das lange, unentschuldigte
Ausbleiben ihres Verlobten in Wein- und Schreikrämpfe versetzt hatte,
wollte von triftigen Gründen nichts wissen, und beruhigte sich erst,
als Falkner nach diversen, sehr geduldigen Versuchen, sie zur Vernunft zu
bringen, sich kurz auf dem Absatz umdrehte und das Zimmer verlassen wollte.
Da hörte das Schluchzen und Schreien wie mit einem Zauberschlage auf, und
derselbe Mund, der eben noch verzerrt und zuckend geschrieen hatte, wie ein
eigensinniges Kind, er lachte hell auf und fragte:

»Aber wie siehst du denn aus? Dein Rock schlägt ja auf dem Rücken eine
Wasserfalte.«

»Weinen und Lachen steckt in einem Sacke,« murmelte der Herzog, dessen
Autorität sich diesem Kinde gegenüber wieder als machtlos bewiesen,
während die Bitten der Prinzeß Alexandra um Mäßigung die Sache
entschieden verschlimmert hatte.

Falkner wandte sich auf die Anrede seiner Braut um, heißen Zorn im
Antlitz, aber äußerlich sehr ruhig und beherrscht.

»Ich werde dir den Rock, der einen so wohlthätigen Einfluß auf deine
Stimmung hat, schenken,« sagte er nicht ohne Schärfe, welche dem
Erbprinzen, den das Benehmen seiner Schwester unsäglich reizte und
empörte, viel zu schwach und »bräutigamhaft« erschien. »Vielleicht,«
fuhr er nicht ohne Galgenhumor fort, »vielleicht ist die Wasserfalte eine
natürliche Folge davon, daß ein Sprung ins Wasser mein spätes Kommen
verschuldet hat.«

Und nun berichtete er kurz von dem Unfall, der Dolores betroffen, bei
größter Anteilnahme der herzoglichen Familie, welche seinem von ihm nur
flüchtig berührten Rettungswerke die wärmste Bewunderung spendete.

»Da hättest du denn bei dem Herausfischen deiner Cousine selbst ertrinken
können?« fragte Prinzeß Lolo, welche bis dahin mit großen Augen
zugehört.

»Es gehört ein harter Kampf dazu, dort das eigene Leben zu retten,
geschweige denn das anderer,« sagte der Erbprinz, welchen die Gefahr, in
welcher Dolores geschwebt, aufs Tiefste erschüttert hatte.

»Dann war es schlecht von dir, hinein zu springen,« rief Prinzeß Lolo
außer sich, »du hast kein Recht dazu, dich für andere in Gefahr zu
begeben, du gehörst _mir_!«

»Lolo!« mahnte Prinzeß Alexandra empört, »vergiß nicht, was der
Dichter sagt:

  Ein braver Mann denkt an sich selbst zuletzt,
  Vertraut auf Gott und rettet die Bedrängten.

Und Falkner hat sich als ›ein braver Mann‹ gezeigt! Muß dich das nicht
mit Stolz erfüllen? Die einzige Entschuldigung für dich ist, daß
dieser empörende Egoismus nur ein Ausbruch deiner nachträglichen und
gerechtfertigten Angst um sein Leben war!«

»Ratteltatteltattel!« äffte die kleine Durchlaucht blitzenden Auges
ihrer Schwester nach. »Was ihr nicht immer über mir zu meistern habt! Ich
habe mir gar nichts anderes gedacht, als ich gesagt habe, und bleibe dabei,
daß Alfred gar nicht das Recht hat, sich in Gefahr zu begeben. Was hast
du überhaupt mit Dolores Falkner abends am Hexenloch zu thun?« setzte sie
eifersüchtig hinzu.

Falkner wollte diesen unbewußt gerechtfertigten Ausbruch mit
Stillschweigen übergehen und unbeantwortet lassen, aber ein forschender
Blick des Erbprinzen schien ihm dieselbe Frage vorzulegen. Er antwortete
daher, was die reine Wahrheit war:

»Ich wollte auf dem Wege über das Hexenloch nach Monrepos zurückkehren
und traf sie dort an. Der Unfall ereignete sich erst, als ich schon im
Weitergehen war -- glücklicherweise nicht weit genug, um noch helfen zu
können.«

»Glücklicherweise!« höhnte Prinzeß Lolo mit so eigenem Ausdruck, daß
Falkner auffuhr, sich aber beherrschte und von dem Herzog die Erlaubnis
ausbat, sich zurückziehen zu dürfen, da das lange Tragen der nassen
Kleider ihm ein gewisses Gefühl des Unbehagens verursacht habe. Als er
seiner Verlobten aber Gute Nacht sagte, hatte diese schon die Reue erfaßt.

»Sei nicht böse,« flüsterte sie, »es war ja nur, weil ich
eifersüchtig auf dich bin! Ich werde mir heut' Nacht noch die Augen
ausweinen in dem Gedanken an die Gefahr, in der du geschwebt -- und weil
ich dich geärgert habe. Aber du darfst wirklich nicht böse sein!«

Er küßte ihr die kleine, rosige Hand und ging -- schuldbewußt, elend und
glücklich zugleich, denn er war sich einer Untreue gegen seine Verlobte
bewußt, welche nur strengste Buße, absolutes, unbedingtes Entsagen zu
sühnen vermochte vor dem Richterstuhl seines eigenen unbeugsamen, strengen
Gewissens, das selbst seinen Schmerz um ein verscherztes Glück und seinen
Unwillen gegen die Ungezogenheiten seiner Braut nicht freisprechen wollte.
Und was er sich der Stimme seines Gewissens gegenüber heut' Abend gelobte,
er wußte, er würde es halten, und er wußte, daß Dolores es achten
würde.

Die herzogliche Familie schickte am selben Abend noch nach dem Falkenhof
einen Boten, der sich nach dem Befinden der Baroneß erkundigen sollte und
die Nachricht zurückbrachte, daß sie ruhig und fest schlafe.

Und in der That schlief Dolores ruhig und fest, erschöpft von ihrem Kampfe
mit den schrecklichen Wassern, bewacht von der alten treuen Tereza, welche
die Nacht nicht von dem Bette der Herrin wich. Diese aber träumte, sie
flöge durch einen weiten, weiten Raum, unten aber stand Falkner mit
ausgebreiteten Armen sie aufzufangen, doch ein Windstoß riß sie dahin,
bis sie in den Wolken verschwand und nichts mehr sah. Plötzlich aber
zerrissen die Wolken wie ein Vorhang, und einer =Laterna magica= gleich zog
die Scene am Hexenloch noch einmal an ihr vorüber, nur anders in einzelnen
Dingen, und wie sie das Wasser über sich zusammenschlagen sah auf dem
Bilde in den Wolken, da wachte sie auf und wußte, sie hatte das schon
einmal geträumt -- --

Geträumt _und_ erlebt?

Doch ihr Geist war allzu schlafbefangen, um darüber grübeln zu können,
und als sie die Augen wieder schloß, glaubte sie es neben ihrem Bette
rauschen zu hören wie von seidenen Kleidern, und als sie die Augen deshalb
wieder mühsam öffnete, sah sie die Ahnfrau Dolorosa über sich gebeugt.

»Das war der zweite Traum, den ich dir gezeigt,« meinte sie es flüstern
zu hören. »Denk' an die beiden anderen Traumbilder und hüte dich!«

Da fuhr sie hoch empor aus ihren Kissen -- es war niemand zu sehen.

»Tereza, war jemand hier?« fragte sie die sich besorgt über sie beugende
Dienerin.

»Verzeihe, Herrin -- ich war eingeschlafen,« sagte diese, »da hat mir
geträumt, es kam eine schöne, fremdartig gekleidete Dame herein und ging
an dein Bett, und ich hörte sie mit dir flüstern. Und wenn es nicht ein
Traum sein müßte, weil doch niemand hier ist, so würde ich schwören,
ich hätte sie mit eigenen Augen gesehen!«

»Es war doch nur ein Traum,« dachte Dolores und schlief wieder ein.

       *       *       *       *       *

Doch noch ein anderer hatte im Falkenhof unruhige Träume -- das war der
Doktor Ruß, und wenn er auch dabei fast ununterbrochen schlief, so
störte er doch seine Frau durch sein lautes Sprechen im Schlafe, und
ihre Müdigkeit wich vollends, als sie ihren Gatten öfters den Namen
»Dolores« aussprechen hörte. Wilde, wahnsinnige Eifersucht ergriff
das Herz der alternden Frau, und mit der Freude der Selbstqual, mit
dem Verlangen jener Leidenschaft, »welche mit Eifer sucht, was Leiden
schafft,« opferte sie gern den eigenen Schlaf, um aus den abgerissenen
Worten und Sätzen ihres sich unruhig hin- und herwerfenden Mannes einen
Zusammenhang herauszufinden, aus dem sie mit wilder Freude neue Qualen
herausdüfteln konnte für ihr altes Herz, das in seiner eisigen Hülle in
dem einen Punkt schlug wie vor dreißig Jahren, als der selige Freiherr von
Falkner, ihr erster Gatte, ihr noch Grund gab zur Eifersucht.

Aber die Ausbeute dieser Nacht war nur gering, denn alles, was sie
erlauschte und verstand, drehte sich unablässig um drei Dinge: »Dolores
-- zum zweitenmal gerettet -- wer hätte gedacht, daß sie schreien
würde. --« -- -- --

Daraus konnte sie sich keinen Vers machen.

       *       *       *       *       *

Der Haushalt in Monrepos wurde einige Tage nach dem Unfall am Hexenloch
aufgelöst, und die herzogliche Familie nahm herzlichen und warmen Abschied
von Dolores, welche das Versprechen geben mußte, den Hochzeiten in
Nordland beizuwohnen -- ersterer als Verwandte des Bräutigams, letzterer
als Freundin und Palastdame der künftigen Großherzogin Alexandra,
welche ihr versprach, das Patent rechtzeitig von ihrem hohen Verlobten
zu erbitten. Dolores war tief bewegt von soviel Güte und wahrhaft tiefe
Herzensbildung verratendem Entgegenkommen, doch Prinzeß Alexandra, welche
ihr etwas altjüngferliches Wesen mit einem Schlage abgeworfen zu haben
schien, wollte davon nichts einräumen, sondern schob alles auf die
glänzenden äußeren und inneren Eigenschaften der einst so angezweifelten
Herrin vom Falkenhof, welche das Vorurteil so rasch besiegt und gründlich
ausgerottet hatte, das man gegen sie gehegt. Und als dann Dolores
versicherte, dieser Sieg sei der schönste ihres Lebens, und sie fühle
sich so hoch erhoben und beglückt durch die Freundschaft der hohen Frau,
daß es wahrlich nicht noch jenes vielbeneideten und heißersehnten Titels
einer Palastdame bedürfe, um ihr das kostbare Gut dieser Freundschaft
gewissermaßen auf dem Wege eines Gnadenaktes verbrieft und versiegelt
zuzusichern, da sagte Prinzeß Alexandra mit jenem feinen Takt und jener
seltenen Gabe, welche ein Geschenk wert macht durch die Absicht:

»Nein, liebe Dolores, Ihre Ernennung soll auch kein Gnadenakt sein,
keine sogenannte Rehabilitierung als Lehnsherrin vom Falkenhof nach Ihrer
Bühnenlaufbahn, am allerwenigsten aber ein leerer Schall -- aber ich
will's Ihnen bekennen, was ich dabei im Auge habe. Sie würden in Ihrer
Bescheidenheit von selbst ja doch nicht kommen, mich aufzusuchen, Sie
würden sogar eine Einladung ablehnen aus demselben Motiv -- aber Sie
müssen kommen, wenn Ihr Amt Sie ruft, bei besonderen Gelegenheiten Dienst
zu thun bei mir. Sie sehen also, daß Ihr Patent nur mein Anrecht an Sie
verbriefen und den schnödesten selbstsüchtigsten Motiven dienen soll.«

Was konnte Dolores thun dieser herzgewinnenden Art, zu geben, gegenüber?
Sie konnte nur geben, was so geboten wurde, und daß es ein warmes Gefühl
im eigenen Herzen verursachte, war eine ganz natürliche Folge.

Doch ehe es leer wurde und still in Monrepos, waren es drei Dinge, die ihr
Schmerzen verursachten und Pein. Das erste war Falkners Abschied. Er war
am Morgen nach dem Unfall abgereist, ohne sie gesehen zu haben, ohne Wort,
ohne Botschaft. Sie mußte ihn dafür um so höher achten, er stieg darum
in ihrer Bewunderung, und sie sagte sich auch, daß er als Ehrenmann nur so
handeln durfte -- aber es schmerzte sie darum doch, und sie war noch
nicht so gestählt im Entsagen, daß es sie nicht mit Bitterkeit gegen ihr
Schicksal und tiefstem Schmerz erfüllt hätte. Und dabei bäumte ihr Stolz
sich in heftigen Selbstvorwürfen auf, daß es _ihm_ gelungen war, ihr
das Geständnis ihrer Liebe zu entreißen, gegen ihren festen Willen,
der so stark gewesen, und ihr reines, thörichtes Herz so
schwach. -- -- -- -- --

Und Pein machte ihr dann der Erbprinz, dessen Augen mit stummen Fragen
auf sie gerichtet waren, dem sie _jetzt_ nicht um alles in der Welt hätte
sagen können, daß sie seine Werbung nicht annehmen könnte, weil eine
hoffnungslose Liebe es ihr so bald schon unmöglich mache, einen Bund fürs
Leben zu schließen. Und aus diesem Grunde mied sie es, mit ihm allein zu
sein, und als er an einem der letzten Tage dennoch Gelegenheit fand, sie
ohne Zeugen zu sprechen, das heißt ihr einfach zu sagen:

»Scheide ich mit oder ohne Hoffnung? Sagen Sie mir nur soviel!« -- da
rang sie stumm die Hände und erwiderte dann schmerzlich:

»Sie _müssen_ mir Zeit lassen, Prinz! Ich bin ja noch nicht fertig mit
mir selbst. Soll ein entscheidendes Wort aber heute noch fallen, so ist es
ein ›Nein.‹«

»Ich werde warten,« hatte er einfach geantwortet.

Der dritte aber, der ihr Pein verursachte, war Keppler, welcher auch bis
zum letzten Moment bleiben mußte, an seinen Porträts beider Prinzessinnen
zu malen, um dieselben für die letzten Lasuren und Retouchen in seinem
Atelier fertig zu stellen. Er kam, um von ihr Abschied zu nehmen, mit
finsteren Zügen, wie ein Fremder zurückhaltend, so daß sie verwundert
den Kopf schüttelte.

»Was habe ich Ihnen gethan?« fragte sie sanft und vorwurfsvoll.

»Mir? Nichts und alles,« erwiderte er, »aber Sie haben sich selbst am
meisten getroffen.«

»Können Sie mir's immer noch nicht vergeben, daß ich zur Bühne nicht
zurückkehren will?« sagte sie mit mattem Lächeln, aber freundlich.

»Das wäre der eine Punkt,« gab er nach einer Pause zu. »Ich hoffe aber,
Sie haben Ihr Ultimatum darin noch nicht gesprochen.«

»Doch, lieber Freund, es ist entschieden.«

»Es ist eine himmelschreiende Sünde an der Kunst. Sie hätten berühmt
werden können wie die Catalani und die Malibran und der erbleichende Glanz
des Sternes einer Patti fing an, auf Sie überzugehen!« rief Keppler,
aufrichtige Überzeugung im Tone.

»Man soll nach den Sternen nicht begehren,« erwiderte Dolores, mit einem
Versuche zu scherzen.

»Sie thaten es einst -- warum jetzt nicht mehr?« fragte er erregt.

Sie errötete tief und sah zur Seite.

»Ich kann nicht -- diese Sterne haben ihren Reiz für mich verloren, ich
begehre sie nicht mehr.«

Da seufzte er tief, fast ungeduldig.

»Was würden Sie von mir sagen, würfe ich eines Tages Pinsel und Palette
ins Feuer und sagte: Ich kann nicht mehr malen.«

»Ich habe ja aber nur Schminke und Puderquasten und falschen Hermelin ins
Feuer geworfen,« entgegnete Dolores. »Mir bleibt meine Musik für alle
Zeit, und ich hoffe noch manches Lied zu ersinnen, das ›den Komponisten
der Satanella‹ dem Herzen näher bringt -- Sie wissen, solch' ein Lied,
von dem Geibel sagt:

  Es singen's bald zu Nacht am Born
  Die Mägde mit den Krügen;
  Der Jäger summt es vor sich her,
  Spürt er im Buchenhage,
  Der Fischer wirft das Netz ins Meer
  Und singt's beim Ruderschlage.

Hat dieser Ehrgeiz Grenzen, welche Ihnen weit genug dünken für mich? Muß
ich denn durchaus dabei noch heut' den armen Lohengrin fragen, woher er
kommt, morgen dem Troubadour versichern, daß ich unter Thränen lächle
und übermorgen als Traviata an der Schwindsucht sterben?«

Keppler mußte unwillkürlich lächeln.

»Mit Frauen läßt sich nicht logisch streiten,« sagte er, »aber ich
will ja auch nicht weiter forschen, denn Sie würden mir ja doch nicht
sagen, was diese Wandlung in Ihnen bewirkt hat. Nur eine Frage muß ich
thun: Haben Sie hier schon komponiert?«

»Im Anfang schrieb ich ein paar Lieder,« erwiderte sie zögernd.

»Und seitdem nichts mehr?«

»Nichts.«

»O, was hat dieser Falkenhof aus Ihnen gemacht!« rief er schmerzlich.

»Es hat doch jeder Mensch einmal im Jahre Ferien,« meinte Dolores, mit
einem Versuche gleichgültig zu bleiben.

»Als ob Ihnen das Schaffen, das Denken in Tönen eine Arbeit wäre, die
der Erholung bedürfte,« entgegnete Keppler finster. »Ihre Schwingen sind
Ihnen eben salonfähig gestutzt worden, und man hat dabei leider auch die
ganze Schwungkraft derselben gelähmt. Ist's nicht so?«

»Vielleicht,« nickte sie etwas kühl.

»Soweit wäre es nie gekommen, wenn Sie meine Frau hätten werden
wollen,« rief er heftig.

»Vielleicht,« wiederholte sie, blaß werdend, aber eben so ruhig.

Da sprang er auf und trat dicht vor sie hin.

»Dolores,« sagte er mit stockendem Atem, »Dolores, noch können Ihre
Schwingen wieder wachsen! Kehren Sie allem den Rücken, und werden Sie mein
Weib -- noch einmal bitte ich Sie darum, flehe ich Sie an!«

Jäh erblassend wandte sie sich ab -- mußte auch das noch kommen, sie zu
peinigen.

»Dolores, Ihre Antwort!« bat er leise vor Erregung.

Da wandte sie ihm wieder ihr schönes Antlitz zu.

»Nein,« sagte sie fest.

»Nein! Wieder nein!« rief er außer sich. »Dolores, heut' habe ich ein
Recht zu fragen, warum Sie meine Hand, die Hand eines redlichen Menschen,
der Sie so sehr liebt, zum zweitenmal zurückweisen. Zurückweisen mit
einem kurzen, harten ›Nein,‹ unversüßt, unvergoldet durch die
üblichen Versicherungen von Achtung und Freundschaft -- hab' ich auch das
verwirkt?«

»Warum quälen Sie mich so?« fragte sie schmerzlich.

»Quäle ich Sie? Nein, bei Gott, das will ich nicht, denn es ist nicht
edel, Gleiches mit Gleichem zu vergelten,« erwiderte er bitter und ergriff
seinen Hut. »Also leben Sie wohl! Aber eins müssen Sie wissen und sollen
es bedenken: Es ist nicht gut, ein Herz von sich zu weisen, das wahrhaft
liebt. Und wenn einst Ihr Herz gebrochen und Ihr Kranz verblüht ist, dann
ist es zu spät, sich in die Arme der Kunst zu flüchten -- sie wird nichts
mehr haben für Sie als höchstens -- Mittelmäßigkeit.«

Sie wollte ihm antworten: »Sie sind ein zu spät geborener Prophet, denn
mein Herz _ist_ gebrochen, mein Kranz _ist_ verwelkt,« -- aber sie schloß
die Lippen wieder und schwieg, blaß und kalt, und als er in der Thür noch
einmal umkehrte, voll Reue über seine harten Worte, und ihr zögernd die
Hand reichte, da legte sie freilich die ihre hinein, aber sie war kalt und
bewegungslos, wie eine Marmorhand.

Und als sie dann endlich allein war, da war auch ihre Kraft erschöpft,
elend an Leib und Seele, sank sie zu Boden und rang die Hände und klagte
ihr Schicksal an, das ihr die Liebe zweier redlicher Männer, die sie nicht
wieder lieben konnte, bescherte, während sie den, den sie liebte mit der
ersten Liebe ihres Herzens, nicht lieben durfte.

Derselbe Bahnzug, der die Bewohner von Monrepos fortführte in ihrem auf
der Station deponierten Salonwagen, verabschiedet auf dem Perron von
den Bewohnern von Falkenhof und Arnsdorf, welche den Scheidenden eine
Überfülle von Rosen mitgaben auf den Weg -- derselbe Zug brachte Dolores
von der anderen Seite Gäste: Professor Balthasar und seine liebenswürdige
Frau, welche mit ihrem Gatten, dem berühmten Historienmaler, siegreich in
die Schranken trat durch ihre stimmungsvollen Landschaftsbilder, welche
ihr Pinsel in Aquarell duftig und mit hoher Meisterschaft hinzauberte aufs
Papier. Dolores begrüßte diese lieben Freunde mit aufrichtiger
Freude, denn von dem nicht nur äußerlich, sondern von innen heraus
liebenswürdigen und bedeutenden Paar, dessen Unterhaltungsgabe noch
außerdem hervorragend war, hoffte sie viel für ihr Gemüt, dessen
sonnige Eigenschaften die letzte Zeit so sehr getrübt. Doch ihre
frühere Heiterkeit, Energie und Thatkraft wollten trotz der anziehenden
Gesellschaft nicht zurückkehren, und mehr als einmal fragten sich der
Professor und seine Frau: »Was ist mit ihr vorgegangen? Was hat sie
getroffen? Von der geistsprühenden, harmlos heiteren, entzückenden
Dolores, was ist geblieben? Ein schönes ernstes Mädchen, bei dessen
Anblick man staunend fragt: Ist das die berückende Satanella von ehedem?
Welche Wandlung!«

»Aber eine Wandlung zum Schöneren,« behauptete der Professor, und seine
Frau riet mit echt weiblichem Instinkt auf eine unglückliche Liebe als auf
des Wandels Ursache.

Und die Wochen schwanden dahin, und Balthasars verließen wieder den
Falkenhof mit großem Bedauern, diesmal aber zusammen mit Dolores, welche
nach Nordland fuhr -- zu Alfred Falkners Hochzeit als Gast der Prinzessin
Alexandra. Es war nur eine Leidensstation mehr auf dem Kreuzwege ihres
Herzens, und nicht einmal die letzte, wie sie wußte. Aber sie haderte
nicht mehr mit ihrem Schicksal, das ihr Ruhm und Besitz gewährt und
ihr das Glück versagte, denn sie hieß nicht umsonst -- Dolores, die
Schmerzensreiche. Sie war ruhiger geworden mit der Zeit, und als sie nun
dem schweren Tag _seiner_ Hochzeit entgegenfuhr, da glaubte sie fest und
ehrlich ganz und vollkommen entsagt und überwunden zu haben.

Doktor Ruß und seine Frau waren im Falkenhofe zurückgeblieben -- sie
hatten ihr Fernbleiben von der Hochzeit in Nordland durchgesetzt, und da
sie ja erst im Herbst mit Dolores zusammen den Falkenhof verlassen sollten,
so hüteten sie einstweilen das Haus. Die Anwesenheit des Balthasarschen
Ehepaares hatte ihnen übrigens eine sehr angenehme Abwechslung geschaffen,
unter welcher sogar Frau Ruß ein wenig aufthaute und weniger schroff
schien wie früher, wohingegen Doktor Ruß und der Professor sich in vielen
Dingen fanden und sich gegenseitig sehr ansprachen. Auch Schingas hatten in
dieser Zeit gute Nachbarschaft gehalten, und soweit der heiße Sommer die
Gräfin nicht im tiefsten Negligé in ihr Zimmer bannte in Gesellschaft
ihrer Schlangen und ihres Zola, waren sie häufige Gäste im Falkenhof.

Dolores wurde in Nordland von einer herzoglichen Equipage abgeholt und in
dem grandiosen Schlosse von Prinzeß Alexandra, welche ihr Zimmer neben
ihren eigenen Appartements angewiesen hatte, empfangen. Und als sie bald
nach ihrer Ankunft im kleinen Kreise zum Familienthee befohlen wurde,
dem Falkner aber nicht beiwohnte, da sah sie, daß man das leichte,
bürgerliche Gewand aus Monrepos vollkommen mit dem Hofkleide vertauscht
hatte, welches ja an kleinen Höfen viel steifer ist, als an großen,
hier aber freilich anmutender wurde die persönliche, schlichte, und
herzgewinnende Weise seiner Träger. Prinzeß Lolo, welche heute Mittag
eine Abschiedscour absolviert hatte, war übermütig und naseweis wie immer
und machte den Damen und Herren jede Verbeugung, jede Antwort mit sehr
viel Beobachtungs- und Nachahmungsgabe nach, nur daß sie eben alles ins
Lächerliche zog und Dolores, wider Willen mitlachend, eigentlich froh war,
daß Falkner nicht zugegen war, denn die amüsante Darstellung schien ihr
etwas moquant und herzlos, und sie wußte, daß er für das Herunterziehen
und Persiflieren von jedermann kein Verständnis hatte.

»Ich hätte schreien können vor Lachen, als all' diese Karikaturen an mir
vorbeimarschierten in Gänsemarsch und jedes mir einen Kuß auf den rechten
Handschuh applizierte,« schloß Prinzeß Lolo ihren Bericht. »Sascha,
wenn du deine Cour hältst, dann rate ich dir, laß dir einen Blitzapparat
in der Corsage deines Kleides anbringen und photographiere dir damit die
schönsten Gestalten und Komplimente. Da ist ein alter General, der setzte
sich einfach aufs Parkett vor mich hin, als er im Anmarschieren plötzlich
parierte -- er wird sich auch vor dich hinsetzen. Und dann die ganzen
Landpomeranzen, die Komplimente machen als hätten sie einen Schuß in die
Kniee bekommen, und über ihre großen Zehen stolpern! Ich habe in
dieser Menagerie heut' nur den Grafen Schinga vermißt in seinem
Schweinetreiberkostüm und meine künftige Schwiegermutter in ihrer
altmodischen Faltentaille ohne Kragen, mit Scheulederscheiteln,
Diamantringen auf dem Zeigefinger und ihrem ewigen Strickstrumpf!«

Nun war Frau Ruß Dolores gar nicht sympathisch, aber es war ihr noch nicht
eingefallen, die starke, unmodern und nachlässig gekleidete, aber doch
noch stattliche Frau lächerlich zu finden. Daß es aber von seiten der
Braut ihres Sohnes geschah, berührte sie unsäglich unangenehm, und als
gar bei den letzten Worten Falkner den Salon betrat, da errötete _sie_
für die lose Zunge der Prinzeß, und der erschrockene, abbittende Blick,
der jener zugekommen wäre, traf ihn aus Dolores' Augen, das Aufleuchten
seiner Augen aber sagte ihr, daß er sie verstanden habe und ihr danke.

Die übrige Gesellschaft, bestehend aus der Familie, einigen wenigen zur
Hochzeit erschienenen fürstlichen Verwandten, einigen hohen Hofchargen und
dem Verlobten der Prinzeß Alexandra, welchem sie Dolores als ihre liebe
Freundin und künftige Palastdame vorgestellt hatte, verfiel in peinliches
Schweigen, als Falkner unter ihnen stand, ehe seine Braut kaum ihre Rede
vollendet hatte. Er küßte derselben, nachdem er seine pflichtschuldigen
Reverenzen gemacht, die Hand und sagte ihr, nur hörbar den
Zunächststehenden:

»Es giebt eine Posse, in welcher ein unzufriedener Sohn die klassischen
Worte spricht: ›Man kann nicht vorsichtig genug sein in der Wahl seiner
Eltern.‹ Diese Weisheit läßt sich ja auch auf Schwiegereltern anwenden
und zwar um so erfolgreicher, als man hier wirklich diese gerühmte
Vorsicht zur Anwendung bringen kann.«

Prinzeß Lolo lachte.

»Ach was -- ich heirate dich ja, nicht deine Mutter!«

»Eben darum sollte sie wohl besser außerhalb deiner Karikaturengalerie
bleiben,« entgegnete er sehr ernst.

»Aha,« machte die Prinzeß böse, »darum nennt man den Abend vor der
Hochzeit wohl den Polterabend, weil der Bräutigam schon das Recht zu haben
glaubt, seiner Braut poltrige Reden zu halten!« -- Sprach's und drehte
sich auf dem Absatz um.

Dolores, welche ein Gespräch mit Falkner fürchtete und erhoffte, sah sich
getäuscht, denn er fand oder suchte keine Gelegenheit mit ihr zu sprechen.

Auch am anderen, dem Hochzeitstage, wechselten sie nur wenige Worte. Das
war nach der Trauung in der Schloßkapelle, deren Altar Ihre Durchlaucht
die Prinzeß Eleonore von Nordland hoch erhobenen Hauptes, die Augen zwar
nicht feucht vor innerer Bewegung über den Ernst des Augenblickes, sondern
sehr munter leuchtend und lachend als Freifrau von Falkner verließ. Das
Brautpaar nahm in einem Salon, bevor das Frühstück serviert wurde, die
Glückwünsche der wenigen Anwesenden entgegen, und so mußte auch Dolores
sich bezwingen, beiden ein Glück zu wünschen, das ihr nicht vergönnt
war. Sie trat auf die kleine, reizende, spitzenumrieselte, atlasumrauschte
Braut zu und reichte ihr die Hand.

»Glück auf, Cousine,« sagte sie. »Hie guet Falkner alleweg! Und,«
setzte sie hinzu, ein Etui aus der Tasche ziehend, »was ich der Prinzeß
von Nordland wohl kaum bieten durfte -- die Verwandte bitte ich's
freundlich anzunehmen.«

Die junge Frau nahm lächelnd das blaue Samtetui entgegen und öffnete es
-- da funkelte, leuchtete und blitzte auf weißem Kissen eine Brosche
von Brillanten in Form einer graziös geschlungenen Schleife, welche eine
Kaiserin geschmückt hätte, so groß waren die Steine, so rein ihr Wasser,
so mächtig ihr Feuer, so reizend die Form der Fassung und so wahrhaft
fürstlich die Größe des nach einer »Rokoko-Corsage« modellierten
Schmuckes. Lolo Falkner stieß einen Schrei der Bewunderung aus, das
verwöhnte Fürstenkind war geblendet. In ihrer stürmischen Art fiel sie
der Geberin freudestrahlend um den Hals.

»Nein, wie reizend von Ihnen -- von dir! Wir nennen uns doch jetzt
›du,‹ nicht wahr? Ich hab' es ja aber immer gesagt, du bist eine
famose, urnette Rübe, Dolores! Nein, diese Diamanten! Selbstgewachsene,
was?«

»Wenigstens bei mir in Brasilien teilweise selbstgefunden,« erwiderte
Dolores amüsiert, als die weichen, zarten Arme sie freigaben und der
kleine rosige Mund einen Moment still stand. Und während die Braut mit
ihrem Schatz zu den anderen flog, um ihn zu zeigen und ihn bewundern zu
lassen, stand Dolores neben Falkner, stumm, nach dem Worte suchend, das sie
ihm sagen sollte.

»Ich wollte, ich hätte am heutigen Tage auch ein gutes Wort von dir mit
auf den Weg nehmen können,« sprach er endlich leise.

Da sah sie auf zu ihm mit ihrem klaren, reinen Blick und reichte ihm die
Hand.

»Ein Wort, Alfred?« wiederholte sie. »O, ein ganzes, langes Gebet für
dein Glück, das hat Gott gehört!«

»Ich danke dir,« sagte er mit einem tiefen Atemzuge, »das wiegt den Wert
deiner Gabe für meine -- meine Frau so reichlich auf, weil es unschätzbar
ist.«

Das waren die einzigen Worte, welche sie wechselten, denn nach dem
Hochzeitsfrühstück reiste das junge Paar sogleich ab.

Prinzeß Alexandra wollte nichts von einer sofortigen Heimkehr Dolores'
nach dem Falkenhofe wissen und behielt sie in Nordland zurück bis zu ihrer
eigenen Vermählung, welche zehn Tage später mit großem Pomp und der
ganzen Entwicklung fürstlicher Etikette stattfand. Als das Jawort am Altar
gesprochen war, trat Dolores an die Seite der fürstlichen Braut, welche
wunderschön, weil ganz verklärt, aussah, denn in ihrem Patent war sie
zur Palastdame der _Großherzogin_ Alexandra ernannt und übernahm mit dem
Augenblicke des Ringwechsels auch alle Funktionen ihres Amtes. Daß aller
Blicke sich dabei, wie vorher auch, auf sie richteten, war natürlich
vermöge ihrer außergewöhnlich schönen Erscheinung, welche heute,
umrauscht von der weißen, golddurchwirkten Courschleppe, zur vollsten
Geltung kam, und was das =on dit= dabei von ihrem Reichtum, ihren Talenten
und ihrer kurzen, siegreichen Künstlerlaufbahn sagte, glich schon
einem ganzen Roman, da Frau Fama den Mund dabei recht voll nahm, und die
gewohnheitsmäßigen bösen Zungen, welche natürlich »Allerlei«
wußten, wurden einfach überstimmt und mußten sich auf eine günstigere
Gelegenheit vertrösten, wo sie ihren Tropfen Gift loswerden konnten,
der, wenn er auch »leider« keine Aussicht hatte, den moralischen Tod der
Begeiferten zu verursachen, doch mindestens einen Flecken oder eine Narbe
hinterlassen mußte. Ja, ja --

  Die Disteln und die Dornen, die stechen gar sehr,
  Die falschen, falschen Zungen aber viel, viel mehr! --

Jedenfalls war die demonstrative Freundschaft der nunmehrigen Großherzogin
für die junge, interessante Erbherrin vom Falkenhof ein Schild, daran
viele der giftigen Pfeile abprallten, denn die Welt verträgt es nun
einmal nicht, wenn Schönheit, Reichtum und Genie sich in _einer_ Person,
besonders einer weiblichen, vereinen. Und es waren auch vielleicht einige
darunter, welche sich einer sehr festen, entschiedenen und unzweideutigen
Ablehnung ihrer Huldigungen aus der Zeit erinnerten, da Dolores als Doña
Falconieros die Satanella sang -- -- nun war die Gelegenheit vielleicht
gekommen, Rache zu nehmen für diese Abweisungen beleidigender Huldigungen,
denen eine schutzlose Frau so leicht ausgesetzt ist. Aber wie gesagt, die
Stimmen der Verleumdung und hämischer, vieldeutiger Worte verhallten in
dem Chor der Bewunderung für die »Brasilianerin,« deren natürliche,
ungemachte Würde, deren reiner, stolzer Blick ihrem Siege auf dem glatten
Parkett des Hofes einen sehr soliden Hintergrund verlieh, durch das »=noli
me tangere=,« welches daraus sprach.

Der Hochzeit wohnte natürlich auch der Freiherr von Falkner mit seiner
jungen Frau bei, welche in Rosa mit Silber, die Brillantschleife von
Dolores an der Brust, rosa Federn und Brillantsterne im Haar, einen
Watteau entzückt hätte durch ihre jugendfrischen Reize, welche sie einem
Figürchen von Sèvresbiskuit ähnlich machte, und deren sie sich auch voll
bewußt war.

Das sah Falkner, und er sah sie auch mit ihrer Jugendschöne kokettieren.
Sein Blick suchte unwillkürlich Dolores, auf welche er einst, befangen
von Vorurteilen, als auf eine »Komödiantin« verächtlich herabsehen
zu müssen geglaubt und deren von jeder Gefallsucht freies, natürliches
Auftreten er nicht nur bemerken und anerkennen, sondern auch bewundern
mußte. Da war nicht _ein_ Hauch von Koketterie in ihrem Wesen und war es
auch auf der Bühne nicht gewesen, weil es ihrem Charakter fern lag,
weil ihr Stolz sich dagegen sträubte, die Bewunderung der Welt durch
künstliches Hervorheben und Aufmerksammachen auf ihre Schönheit zu
provozieren, aber sie war sich auch bewußt, daß ihre Schönheit siegend
war ohne diese Mittel und durch das Unbewußte, Keusche, mit dem sie
sich gab. Aber der Blick, mit welchem er hinübersah nach ihr, wie sie im
weißen Spitzenkleide, die schimmernde, golddurchwirkte Courschleppe zu
ihren Füßen, um den wunderschönen, alabasterweißen Hals eine einzige,
schlichte Rivière von Diamanten, einen Halbmond von Diamanten im
leuchtenden, wie poliertes Kupfer glänzenden, hochaufgesteckten Haar, am
Altar stand neben der knieenden Gestalt der hohen Braut, dieser Blick wurde
aufgefangen von der jungen Freifrau und erweckte sofort ein heißes Gefühl
von Eifersucht in ihrem jungen Herzen. Und als dann die Trauung vorbei war
und alles zur Cour sich begab, da trat sie dicht an ihn heran.

»Du!« sagte sie mit halbem Lachen, aber dem Weinen doch näher, »du, ich
sage dir, kokettiere nicht mit der schönen Cousine -- =c'est défendu!=«

»Das weiß ich, kleine Weisheit,« erwiderte er freundlich, »aber selbst
wenn ich wollte -- zum Kokettieren gehören meistens zwei!«

»Ja, ist wahr, du bist ihr _riesig_ gleichgültig,« lachte Lolo Falkner
nun wirklich. »Natürlich schmeichelt das deiner Eitelkeit nicht, denn ihr
Männer seid doch nun einmal reichlich so eitel wie wir!«

»Auch wie du?« fragte er, auf ihren Ton eingehend.

»O, viel eitler,« protestierte sie. »Aber,« setzte sie flüsternd
hinzu, alle Dämonen der Schelmerei und Schadenfreude in den lachenden
Augen, »aber, wenn du's etwa nicht glauben willst, wie entsetzlich
gleichgültig _du_ ihr bist, so will ich dir ein Geheimnis verraten. Ich
habe mir nämlich damals in Monrepos eingebildet, daß du Dolores wegen dem
Testament des buckligen Freiherrn heiraten würdest, und habe sie deswegen
interpelliert.«

»O, Lolo!« seufzte Falkner auf seinen taktlosen kleinen Tollkopf von Frau
herab.

»Ja, da hat sie dich mir mit einer Bereitwilligkeit abgetreten, welche
stupend war, sage ich dir. Ergo -- du bist _ihr_ ganz Wurscht!« --

Und mit dieser neuesten Errungenschaft zur Vervollständigung ihres
Sprachlexikons tanzte sie triumphierend davon. Falkner aber fiel eine Binde
von den Augen, er sah klarer in die Vergangenheit und eines der Rätsel
dieses stolzen Herzens war gelöst.

»Arme Dolores!«

Im übrigen traten sie sich auch bei dieser Gelegenheit nicht näher, als
beim zufälligen Begegnen zur Aufrechterhaltung der äußeren Formen nötig
war, und die Welt, welche alles beobachtet, alles sieht, sagte:

»Er kann es nicht verwinden und ihr nicht vergeben, daß nicht er, sondern
sie den Falkenhof bekommen hat.«

Und Fragern, welche die einfachste Lösung dieses Erbfolgekriegs in
einer Vermählung der Erbin mit dem Enterbten sahen, wurde geheimnisvoll
geantwortet:

»Ja sehen Sie - er hat sie nicht gemocht, weil sie doch Opernsängerin
gewesen ist. Und sie ist ihm auch zu antipathisch; das kann ja jedes Kind
sehen. Rote Haare _sind_ eben auch nicht jedermanns Sache.«

       *       *       *       *       *

Am Tage nach der Vermählung der Prinzeß Alexandra hielt der Freiherr
von Falkner mit seiner Frau den Einzug in Monrepos, das ihr der Herzog,
vollständig eingerichtet, als Morgengabe geschenkt zum Sommeraufenthalt,
während Dolores dem großherzoglichen Paare auf einige Tage in dessen
Residenz folgte, um dort bei den Einzugsfeierlichkeiten ihres Amtes zu
walten -- und so kam es, daß sie erst nach vierzehntägiger Abwesenheit in
den Falkenhof zurückkehrte.

       *       *       *       *       *

Die junge Freifrau von Falkner hatte sich in Monrepos sofort mit großem
Selbstbewußtsein installiert und energisch Besitz ergriffen von ihrem
Regiment. Bis dahin immer noch halb als Kind behandelt, jeden Zwang
hassend, war sie in einer Atmosphäre aufgewachsen, welche, wie ihrer
Mutter, ihren ganzen Neigungen widersprach. Die programmmäßigen,
geregelten Vergnügungen machten ihr gar keinen Spaß, sie wollte
Vergnügungen nach ihrem eigenen Maßstabe. Auch liebte sie's gar nicht,
erzogen zu werden, und emancipierte sich auch vielfach mit Erfolg von den
guten Lehren, welche sie nicht als solche anerkannte, sondern sie einfach
für eigens zu ihrer Qual erfundene Plackereien hielt. Daß das Leben eine
sehr ernste Sache sei, und der Schmerz, als ein herber, doch treuer Gast
dem Menschen kaum von der Seite weicht, das begriff sie nicht und lachte
insgeheim über die »Thränenweiden,« welche die Aufgabe dieses Lebens in
einer Vorbereitung für das künftige erblickten und das Elend aufsuchten,
um es zu lindern. Das Leben war für Eleonore von Nordland ein ewiger Tanz,
in welchem man wohl Pausen machte, sich zu erholen, aber um Gottes willen
nicht ganz aufhörte zu tanzen. Es ging ihr eben wie so vielen anderen,
welche für ihre Eigenart zu früh und zu spät geboren werden -- und
bei ihr war entschieden das Letztere der Fall, denn wenn König Jerôme
»lustiken« Andenkens diese leichtblütigste Prinzeß der Welt kennen
gelernt und, da sie ganz sein Genre war, zur Königin gemacht hätte,
so wäre es sicher noch viel, viel »lustiker« zugegangen im schönen
Wilhelmshöhe.

Da man aber nun leider nicht mehr in diesen vergnügten Zeiten lebte und
auf dem Vulkan tanzte, lachte und Tollheiten trieb, sondern unsere Zeit
darin entschieden decenter und würdiger geworden ist, so wünschte
Prinzeß Lolo nichts sehnlicher, als, da sie doch den König Jerôme
nicht heiraten konnte, herauszukommen aus dem Zwange eines Hofes und
dem Schicksal zu entrinnen, dereinst als »sitzengebliebenes«
Herzogstöchterlein in dem Familienstift als Äbtissin desselben zu enden.
Da war Falkner, den sie bisher eigentlich schon zu den »Alten« gerechnet
hatte, erst in Monrepos so recht in ihr Leben getreten, und nachdem er
ihr erst imponiert, hatte sie sich sterblich in ihn verliebt -- eine
Backfischliebe, wie sie fast immer vorkommt, wenn Schulmädchen der ersten
Klasse oder Selekta sich in einen der Lehrer -- meist den Zeichen- oder
Gesangslehrer -- verlieben, heimliche, sehr schlechte Gedichte an ihn
machen und sonstigen Kultus mit ihm treiben, von dem er keine Ahnung hat.
Da Prinzeß Lolo nun aber keine höhere Töchterschule und kein Pensionat
besucht hatte, ihre Privatlehrer aber alle sehr gesetzten Alters und keine
Epigonen des schönen Adonis waren, so hatte sie dieses Herzensstadium
auch nicht durchgemacht und sie trat erst in dasselbe, als der Freiherr von
Falkner mit seiner imposanten Erscheinung, seinem kühl-vornehmen, ernsten
Wesen zu Monrepos ihren Weg kreuzte. Nun fing das junge, unerfahrene
Herzchen Feuer, und da sie wußte, daß Prinzessinnen auf den Bällen nicht
engagiert werden, sondern selbst ihre Tänzer wählen und befehlen, so
versicherte sie sich erst, daß die gefährliche Konkurrenz von Dolores
keine Nebenbuhlerschaft war, und präsentierte ihm, der sich von Dolores
aussichtslos zurückgewiesen sah, ihr junges Herz mit einer Deutlichkeit,
die ihm bei der Jugend und der Unerfahrenheit der Herzogstochter
schmeichelte und wohlthat. Durch welche Motive der Herzog bestimmt worden
war, seine jüngste Tochter außerhalb ihres hohen Standes zu verheiraten
und sie einem simplen Edelmann zu geben, mit dessen Haus er freilich lange
schon befreundet war, wissen wir.

Für Falkner gab es nach der Scene an der Gruftkapelle kaum noch einen
anderen Weg, als den, welchen er eingeschlagen hatte, und nun er ganz
gebunden war, wußte er auch, daß Dolores ihr Herzensgeheimnis niemals
preisgegeben hätte, nie sich hätte abringen lassen, wenn es anders
gekommen wäre, wenn der Herzog dem Vasallen die Hand seiner Tochter
versagt hätte.

Und so fand denn die Schließung einer Ehe statt, die ein vierfach
verfehltes Rechenexempel war, die ein Blick in die Zukunft verhindert
hätte. Freilich hätte auch jetzt noch dieser eine Blick beiden viel
ersparen können, doch es soll ja nicht sein, wir sind, zu unserem Glück
meist, unwissend über die Ereignisse der nächsten Stunden und Tage. Die
Freifrau von Falkner nahm also Besitz von ihrer Freiheit mit einem
Eifer und einer Energie, welche deutlich bewiesen, wie die langersehnte
Selbständigkeit ihr wohlthat. Ihr Anordnen, ihr Befehlen, Arrangieren
verriet eine Sicherheit, welche bezeichnend war und erstaunlich zugleich,
wenn man die Abhängigkeit in Betracht zog, in welcher sie bisher gelebt
hatte. Nun fühlte sie sich ganz Schloßfrau, und am Tage nach ihrer
Ankunft in Monrepos hatten viele Hände viel zu thun, denn ihr Geschmack
verwarf die meisten Arrangements, änderte, setzte Möbel um, verlegte
ganze Zimmer, und als sie dann erklärte, es sei so gut, da war freilich
ein genialer Zug, ein gewisser künstlerischer Sinn nicht zu leugnen, der
in den Arrangements lag.

Eine ganze, volle Woche lang beschäftigte das neue, unumschränkte
Eigentum, das eigene Heim den unruhigen Geist der jungen Freifrau wie ein
langersehntes, oft begehrtes Spielzeug; eine ganze Woche lang war sie auch
glücklich und zufrieden in Gesellschaft ihres Gatten, welcher alles that,
ihr dieses neue Heim durch seine Gesellschaft anziehend zu machen, welcher
freundlich und liebreich einging auf ihre Intentionen, ihre bizarren
Gedankensprünge, und in dem glücklichen und zufriedenen Ausdruck ihrer
lachenden blauen Augen Ersatz fand für manches Verlorene, oder vielmehr zu
finden glaubte und zu finden hoffte. Für ihn selbst war ja diese Zeit
des gezwungenen =dolce far niente= ein Opfer, das er angesichts des
elfenhaften, quecksilbernen Wesens an seiner Seite ein _kleines_ nannte,
das er auch in dieser leicht gleitenden, ruhevollen ersten Woche auf
Monrepos als solches empfand. Aber er liebte die Arbeit und liebte
Beschäftigung, und da er »auf höheren Befehl bis auf weiteres« von
allem und jedem Dienst freigegeben war, bis sich der gesuchte höhere
Posten, wie er sich für den Schwiegersohn eines regierenden Fürsten
schickte, gefunden hatte, so war er entschlossen, diese Pause in seinem
Arbeitsleben durch selbstgewähltes Studium auszufüllen. Damit freilich
kam er in dieser ersten Woche nicht weit, denn wenn er Lolo in einem
entfernten Zimmer wirtschaften, räumen und befehlen hörte und die Bücher
aufschlug, da war sie gewiß im nächsten Moment schon da, steckte das
Köpfchen mit der winzigsten Spur einer Frauenhaube auf dem Blondhaar zur
Thür hinein und fragte lachend und eifrig tausend und eine Frage, bis er
resigniert die Bücher zusammenklappte und freundlich auf ihre Wünsche
einging.

Aber eine Woche verstreicht schnell, besonders wenn sie Glück bringt und
Friede, und Falkner hatte den allerbesten Willen für beides.

Und so geschah es denn genau eine Woche nach dem Einzuge des jungen Paares
auf Monrepos, als beim ersten Frühstück an einem herrlichen Sommermorgen
auf der Veranda die junge Frau ihre Theetasse hinsetzte, die kleinen
rosigen Hände im Schoß faltete, sich zurücklehnte und -- gähnte.

»Ei, noch müde, Lolo?« fragte Falkner lächelnd, denn es war nicht
gerade mehr sehr früh am Morgen.

»Müde? Nein, langweilig,« gestand Frau Lolo offenherzig genug.

»O! O! Ich fühle mich sehr geschmeichelt,« meinte Falkner heiter.

Das aber nahm seine Frau übel.

»Dabei ist gar nichts zu lachen,« sagte sie pikiert. »Es ist langweilig,
das wirst du auch nicht leugnen können. Man spricht sich halt am Ende
aus.«

»Findest du, Lolo?«

»Ja, ganz entschieden! Ich bin jetzt mit den Arrangements fertig, was soll
ich anfangen?«

»Wir wollen zusammen lesen, zusammen studieren,« schlug Falkner vor, der
schon manche Lücke im Wissen seiner kleinen Frau entdeckt hatte. Sie aber
streckte abwehrend beide Hände aus und machte die Augen vor Entsetzen weit
auf.

»Um Gottes willen!« rief sie. »Lesen? Studieren? Ich danke bestens. Ich
bin kaum der ewigen, unausstehlichen Schulstube entronnen, und soll jetzt
wieder damit anfangen? Dazu habe ich doch nicht geheiratet?«

»Aber Lolochen, man soll doch niemals aufhören zu lernen und sich zu
bilden,« erwiderte Falkner freundlich und ohne hofmeisternden Ton.

»Das ist purer Unsinn,« meinte Lolo mit souveräner Verachtung.
»Ich habe aufgehört zu lernen, und wer mir schon solch' langweiliges
Geschichtsbuch von weitem zeigt, der macht mich ganz wild. Ich bitte dich
um alles in der Welt, es ist doch so egal, ob Kolumbus das Pulver erfunden
und Berthold Schwarz Amerika entdeckt hat --«

»Umgekehrt, Lolo,« sagte Falkner mehr amüsiert, als entsetzt.

»Da hast du's,« entgegnete Lolo überlegen, »das Pulver ist da und
Amerika ist da, was braucht man damit geplagt zu werden, wie die Leute
hießen, die es entdeckt haben? Und die römischen und deutschen Kaiser
vollends, die sind mir _riesig_ egal, ob sie Nero hießen oder Ferdinand,
und wenn du mich auf die Litteratur bringst, da wirst du auch kein Glück
haben mit mir, denn dann erklärte ich dir im voraus, daß Goethe der
langweiligste Mensch von der Welt war und Schiller mich nervös macht,
trotzdem, oder vielmehr, weil ich habe den ›Grafen von Habsburg‹
auswendig lernen müssen.«

»Vielleicht eben deshalb, Lolo,« erwiderte Falkner amüsiert. »Aber ich
hoffe, daß es _mir_ gelingen wird, dir eine bessere Meinung über
diese Plagegeister beizubringen. Und es giebt doch auch gewisse Dinge in
Litteratur und Geschichte, welche man wissen muß, wenn man auf der Straße
allgemeiner Bildung fortkommen will.«

»Na, dann danke ich schön, dann mag ich gar nicht gebildet sein,«
gestand sie mit verblüffender Offenheit. »Und das war deine Idee, mich
lernen und studieren zu lassen? Da möchten ja die Hühner darüber lachen!
Als ob ich dazu geheiratet hätte!«

»Bitte, und wozu hast du sonst geheiratet?« fragte Falkner, diese
Offenherzigkeiten immer noch nicht ernst nehmend.

»Wozu? Das ist doch sonnenklar: um mit dir zusammen zu sein, und um mich
zu amüsieren.«

»Aha!« machte er mit einem lächelnden Kompliment. »Ich fühle mich sehr
geschmeichelt, daß du mich als _erste_ Ursache nahmst. Was nun die zweite
anbelangt, so wirst du dich schon noch etwas gedulden müssen, denn der
Herzog wünscht einmal, daß wir bis zum Herbst hier bleiben, und hat dir
außerdem Monrepos so wunderhübsch ausgestattet, daß es ihn kränken
würde, wenn du seiner Gabe so bald schon müde würdest.«

»Das ist doch aber wieder eine schändliche Tyrannei, uns hier
festzuhalten,« rief sie heftig und verzog das Mündchen wie zum Weinen.

»Ich habe diese Bestimmung, welche überdies die taktvolle Form
eines Vorschlages hatte, als liebevolle Fürsorge und Zuvorkommenheit
aufgefaßt,« erwiderte Falkner ernst werdend und etwas scharf.

»Tyrannei ist es, nichts weiter,« widersprach Lolo noch heftiger. »Aber
ich werde ihnen zeigen, daß ich mich davon frei zu machen weiß,« setzte
sie trotzig hinzu.

Falkner sah sie einen Moment fest und prüfend an.

»Also willst du abreisen?« fragte er ruhig.

»Ja, ja, reisen wir ab,« rief sie lustig, sprang auf und schlang ihre
Arme um seinen Hals. »Ich hab's ja immer gesagt, daß du ein kolossal
vernünftiges altes Haus bist,« jubelte sie.

»Aber du hast mich mißverstanden, Lolo, es ist mir nicht im Traume
eingefallen, die in wahrhaft väterlicher Güte für uns entworfenen Pläne
des Herzogs wie ein undankbarer Rüpel über den Haufen zu werfen, trotzdem
ich eine geregelte, bestimmte Arbeit sehr vermisse.«

Sie ließ langsam die Arme sinken.

»Also damit wär's nichts,« seufzte sie resigniert.

»Nein,« erwiderte er ruhig, und als sie sich darauf wieder setzte, fragte
er herzlich: »Hast du's denn schon satt, Lolo, bei mir zu sein? Bist du
meiner ausschließlichen Gesellschaft schon überdrüssig?«

»Nun, es könnte schon ein bißchen mehr los sein,« erwiderte sie mit
so drolliger Ehrlichkeit, daß es nicht gut übel zu nehmen war. Falkner
mußte auch darüber lächeln.

»Aber Kind, wir können Monrepos jetzt nicht verlassen,« meinte er.

»Ach nein,« sagte sie, »das habe ich mir gleich gedacht. Aber weißt
du, Alfred, wir könnten es in Monrepos selbst lustiger machen -- durch
Gäste.«

Er sah sie einen Moment ernst an, dann mußte er wieder lächeln.

»Also doch schon meiner überdrüssig, Lolo?«

Sie errötete tief und ward sichtlich verlegen.

»Unsinn,« rief sie verwirrt, »siehst du denn nicht ein, daß man sich
zu zweien einmal ausspricht, daß man sich lächerlich macht, wenn man so
lange, abgeschieden von der Welt, wie ein paar Turteltauben in einem =nid
d'amour= sitzt?«

»Lolo,« sagte Falkner ernst, fast traurig.

»Jawohl, lächerlich!« rief sie rechthaberisch und eigensinnig. »Es hat
schon genug Aufsehen gemacht, daß ich dich geheiratet habe, aber die Welt
muß sich ja begraben vor Lachen, wenn sie sieht, daß wir nichts thun
wollen als zu zweien zu kosen!«

Falkner antwortete nicht. Sein Blick wanderte von ihren erregten Zügen
hinaus ins Grüne und nach der Richtung des Falkenhofes -- -- --

»Sie ist noch ein halbes Kind,« dachte er mit einer gewaltsamen
Anstrengung, gerecht zu sein. Und sich selbst überwindend, wandte er
sich wieder zu ihr und streckte ihr die Hand über den Frühstückstisch
entgegen.

»Lolo, nicht wahr, du hast das alles nicht im Ernst gesagt und gemeint?«
fragte er freundlich.

»Doch nicht etwa im Spaß?« fragte sie zurück, ohne seine Hand zu sehen.
Aber er überwand sich nochmals.

»Das wär' aber doch die einzig mögliche Auslegung,« meinte er etwas
ernster und mit Betonung. Da sah sie ihn betroffen an.

»Das seh' ich nicht ein!«

»O, wenn du nur willst, Lolo --«

»Nun gut, dann _will_ ich nicht,« entgegnete sie heftig.

Jetzt zog Falkner seine Hand zurück.

»Eleonore!«

Sie erblaßte ein wenig, als er ihren vollen Namen aussprach, ernst,
verweisend, schmerzlich fast. Aber ihr Trotz bäumte sich um so höher auf.

»Eleonore Luise Wilhelmine Friederike ist mein voller Taufname,« sagte
sie schnippisch, und als er jetzt Miene machte, sich zu erheben, fügte sie
hinzu: »Nein, nein, Alfred, _ich_ gebe nicht nach, wenn du auch =à la=
Jupiter donnerst. Sei doch nicht so garstig.«

»Wir können Monrepos jetzt nicht verlassen,« erwiderte er beherrscht und
_sehr_ kühl.

»Aber ich sagte dir doch, wenn wir Gäste hätten, könnten wir
meinetwegen ja bleiben,« entgegnete sie nachlässig.

»Wirklich?« fragte er, aber es klang mehr traurig als ironisch. »Dein
Wunsch ist übrigens schon halb erfüllt, denn Keppler schrieb mir, er
bedürfe noch ungefähr einer Woche zur Vollendung deines Porträts. Ich
werde ihm also schreiben, daß er kommen mag!«

»Aber der langweilige Farbenkleckser!« rief die junge Frau enttäuscht.
»Ein geborner Bauernjunge!« setzte sie vorwurfsvoll hinzu.

»Seine Bildung ist doch aber wohl für uns entscheidend, nicht wahr?«
sagte Falkner. »Wenigstens mir imponiert ein wohlerzogener und gebildeter
Bauernjunge mehr als eine ungezogene Prinzessin!«

Wenn er mit dieser Bemerkung eine ernste Rüge beabsichtigt hatte, so
mußte er sich abermals schwer enttäuscht fühlen, denn Lolo lachte laut
auf.

»Gott, er wird anzüglich!« jubelte sie, sprang auf und fiel ihm lachend
um den Hals. »Jetzt wirst du vernünftig, alter Brummbär, hörst du?«

»Ich höre und -- staune,« erwiderte er kühl.

Sie aber drückte ihm einen Kuß auf die Wange und setzte sich wieder.

»Der langen Debatte kurzer Sinn ist also der, daß ich meine, wir möchten
endlich in der Nachbarschaft unsere Besuche machen,« sagte sie.

»Wenn du die Gewogenheit gehabt hättest, diesen kurzen Sinn früher zu
exponieren, so hätte dir das jene bösen Worte erspart, welche so wenig
für dich paßten,« erwiderte Falkner immer noch kühl und verletzt.

»Ja, _wenn_!« lachte sie. »Siehst du, ich habe da einmal ein Gedicht
auswendig lernen müssen, da verkleidete sich ein Schäfer als Abt, und ein
Kaiser frägt ihn, wie lange er braucht, um die Erde zu umreiten. Und da
antwortet ihm der Schäfer: ›_Wenn_ ich mit der Sonne aufstehe,‹ etc.
etc. Da lacht der Kaiser und sagt: ›Ihr füttert die Pferde mit Wenn und
mit Aber.‹ Du scheinst mir auch solch' ein Hans Bendix zu sein. Als ob
ich was dafür könnte, daß ich irgend etwas gesagt habe. Wenn! Ja, _wenn_
ich zwei Räder hätte, wäre ich wahrscheinlich ein Bicycle und nicht die
Baronin Falkner geborene ungezogene Prinzessin von Nordland.«

Nun flog doch ein leises Lächeln über Falkners Züge, und die junge Frau
erkannte daraus, daß sie gewonnen hatte.

»Also die Besuche,« setzte sie mit wichtiger Miene hinzu.

»Die können wir heut' noch machen,« erwiderte Falkner. »Schingas und
Dolores -- falls letztere schon zurück ist -- damit wären wir fertig.«

»Dolores soll gestern Abend gekommen sein,« meinte Lolo, »aber daß wir
damit fertig wären, ist ganz und gar nicht meine Ansicht. Wir sind ja
kein ›Hof‹ mehr in Monrepos, warum uns also so exklusiv machen? Das war
früher langweilig genug! Ich bin ja gottlob keine Prinzessin mehr und
will auch 'mal andere Leute sehen als den berühmten Keppler, den lumpigen
Schinga und die schöne Dolores.«

»Und wer sollen die anderen sein?«

»Nun, liegt nicht ein und eine halbe Meile von hier die berühmte Stadt
Kuckucksnest mit ganzen dreitausend Einwohnern? Liegt nicht in dieser
selben Seestadt am Mühlgraben ein Ulanenregiment in Garnison? Also auf
nach Kreta!«

Falkner überlegte.

»Es ist wahr,« meinte er dann, »wir könnten dort Besuche machen bei den
verheirateten Offizieren. Dein Vater hat zwar daran nie gedacht, aber
es ist ja hier etwas anderes, und man wird in der Garnisonsstadt die
Zurückgezogenheit von Monrepos wohl bedauert haben.«

»Hurra! Nun wird's hübsch!« jubelte Lolo, selig, daß sie gesiegt hatte,
und als Falkner ihr sagte, so schnell ginge das nicht, denn man müßte
doch erst die Gegenbesuche und die ersten Einladungen abwarten, ehe man an
einen wirklichen Verkehr denken könne, da erwiderte sie sehr naiv:

»Aber ich bitte dich! Unser Erscheinen in Kuckucksnest wird das Signal zu
den ersten Besuchen der unverheirateten Offiziere bei uns sein. Und das ist
doch die Hauptsache. Was mache ich mir aus den Ehemännern und Ehefrauen!«

»Ich dachte doch aber, du wärst auch eine,« warf Falkner ein, halb
amüsiert über ihre drollige Unverblümtheit, halb skandalisiert über die
unbewußte Frivolität, welche daraus sprach. Und es fiel ihm das Wort der
Prinzeß Alexandra ein: »Sie werden noch viel zu erziehen haben an ihr.«
-- »Vielleicht noch mehr zu bändigen, als zu erziehen,« dachte er mit
einem Seufzer.

Lolo plauderte aber immerzu von ihren geselligen Plänen, und wie ein
Mühlrad plapperte das rosige Mündchen der jungen Frau rastlos weiter und
weiter, während er nur halb hinhörte, mehr angeregt zum Nachdenken als
zum Hören. Denn ihm ahnte, daß für diese kleine Widerspenstige ein
Petrucchio von besonderer Art gehören müßte, aber er gelobte sich's
treulich, es zu werden.

»Ich sehne mich so nach anderen Gesichtern,« plauderte Lolo weiter,
»denn siehst du, es war zu Hause wirklich zu eintönig. Und hier in
Monrepos im Sommer auch. Der alte Schinga ist ja ganz spaßhaft, aber man
will doch 'mal eine Abwechslung haben. Und Dolores wäre ja in ihrer Art
sehr nett, aber ich war doch einmal sehr eifersüchtig auf sie und kann den
Gedanken nicht los werden, daß ich's wieder werden könnte. Denn, wie ich
mir's auch überlege, ich kann mir nicht zusammenreimen, warum ihr euch
nicht geheiratet habt.«

»Und das wäre ein Grund zur Eifersucht?« fragte Falkner ironisch, aber
im Innern seltsam angemutet von den Worten seiner Frau.

»Nein,« sagte diese, »das wäre eigentlich kein Grund. Aber ich weiß
nicht -- die Eifersucht muß doch nicht ganz von mir gewichen sein. Ich
bilde mir immer ein, daß du sie schöner finden mußt als mich.«

»Nun, dann wollen wir ihr aus dem Wege gehen,« erwiderte Falkner,
»nicht, weil ich fürchte, diesem Zauber zu unterliegen, sondern um dir
jegliche Bitterkeit und Selbstqual zu ersparen.«

Und in der That hatte er sich vorgenommen, den Falkenhof möglichst zu
meiden aus genau dem angegebenen Grunde. Nein, er fürchtete sich nicht,
denn er hielt sich mit Recht für stark genug, das Banner der Pflicht
allzeit hoch zu tragen, aber er wollte Dolores mehr die Bitterkeit dadurch
nehmen, daß er ihr fern blieb, als seiner Frau, auf welche sein Entschluß
ja auch jetzt zu passen schien. Dieses Fernbleiben, dieses völligste
Entsagen hatte er sich zur Richtschnur gemacht -- er wußte, ohne daß
sie's ihm gesagt hatte, daß Dolores genau ebenso dachte und handeln
würde, daß sie, wie er, mit der ganzen Kraft ihres starken Herzens
vergessen lernen würde und verschmerzen. Und er hoffte, daß es dazu nicht
zu spät war für beide -- daß der Geier, das Leben, sein Werk noch thun
und ihren Namen aus seinem Herzen reißen würde, ja er hoffte fast, daß
sie etwas thun möchte, das diesen Namen in Lethe tauchen konnte für alle
Zeit.

Und so wandten sie sich den nächsten Nachbarn etwas ab und dem Verkehr
in der Ulanengarnison zu, welche das interessante Paar freudig begrüßte,
denn das weltferne Leben in dem kleinen Nest bot nicht so viel Abwechslung,
daß man sich über einen neuen Verkehr nicht gefreut hätte. Die
Junggesellen des Regiments besonders waren entzückt über das Haus, das
sich ihnen eröffnete, und lagen der reizenden blonden Herrin von Monrepos
=in corpore= zu Füßen. Es gehörte sehr bald zum täglichen Brot, daß
allabendlich mehrere der jüngeren Offiziere in Monrepos erschienen, dort
der Frau vom Hause Reitunterricht gaben, mit ihr spazieren fuhren und sich
jederzeit sehr gut amüsierten. Und als die Manöverzeit dann herankam
und die Kuckucksnester Garnison ausrückte, wurde diese Waffe abgewechselt
durch Einquartierung. Da kamen und gingen alle Waffengattungen, und zuletzt
lag ein ganzes Regiment Soldaten verteilt in Monrepos, Falkenhof und
Arnsdorf, über drei Wochen lang.

In dieser Zeit war Lolo Falkner nicht viel daheim. Sie fuhr oder
ritt hinaus zum Exerzieren und Manövrieren ins Terrain, dann kam die
Mittagstafel mit den Herren, welche auf Monrepos im Quartier lagen,
worauf sich dann meist noch die Herren aus den anderen Kantonnements
zusammenfanden, besonders von Arnsdorf her, wo die Quartiere schlecht, die
Verpflegung noch schlechter war, wenn auch liebenswürdig und gern
gegeben. Da hiervon ein junger Leutnantsmagen aber leider nicht satt
wird, ebensowenig wie ein älterer Rittmeistermagen, so kam man meist
nach Monrepos herüber, wo die kleine reizende Frau von Falkner jeden
ganz kameradschaftlich begrüßte und in dem heiteren Herrenkreise
übersprudelte von Lustigkeit und Lebenslust.

  Das war eine tolle Wirtschaft,
  Kriegsvölker und Landesplag' --
  Und auch in deinem Herzchen
  Viel Einquartierung lag

singt Heine in seinem Liede von den »blauen Husaren.« Und Falkner konnte
sich's nicht verhehlen, daß viel Einquartierung in dem Herzen seiner Frau
lag, welche in dieser »wilden Wirtschaft« für ihn höchstens hin und
wieder ein flüchtiges Wort oder einen zerstreuten Gruß hatte. Aber daß
es »_viel_« Einquartierung war, das beruhigte ihn und ließ ihm die Sache
harmlos erscheinen, wenngleich es ihn mit Besorgnis erfüllte, nicht für
jetzt, aber für später. Denn Lolo kokettierte unbedingt, dafür gab es
keine Beschönigung, und wenn er freundlich mit ihr sprechen wollte und sie
ermahnen, vorsichtiger zu sein, da hatte sie entweder »keine Zeit« oder
sie war so »entsetzlich müde,« daß sie für ihn ebenso gut oder noch
besser hätte in Haparanda wohnen können, denn dort hätte sie doch
wenigstens ein Brief von ihm erreicht, während er hier nicht einmal mit
ihr sprechen konnte. Und als er sie einmal zwang, ihn anzuhören, und er
ihr ernstlich den freien Ton, das Kokettieren, den ungebundenen Verkehr
verwies, da lachte sie ihm ins Gesicht und nannte ihn einen Philister, doch
als er ihr die vornehme, ruhige und würdevolle Art und Weise vorstellte,
mit der Dolores ihre Einquartierung empfangen hatte und mit ihr verkehrte,
da flammte sie plötzlich auf in heller Eifersucht und verbat sich einen
Vergleich mit der »Komödiantin« und trieb es nur noch toller wie bisher.
Falkner mußte sich gestehen, daß der Charakter der »Satanella,« dem
er so unsympathisch gegenüber gestanden hatte, sich nun in seiner Frau
entwickelte und unter seinen Augen wuchs, ohne daß er ihm steuern konnte.
So stand er unter diesem lauten, lustigen Treiben in seinem Hause allzeit
auf dem Posten als liebenswürdiger und aufmerksamer Wirt, aber ernst und
unbefriedigt im Herzen die drohende Frage: Was soll das werden? So standen
die Dinge in Monrepos, so begann Falkners junge vielbesprochene Ehe.

       *       *       *       *       *

Im Falkenhof war Dolores nach den Hochzeiten der Prinzessinnen wieder
eingezogen. Der schöne Besitz war ihr so lieb, so traut, aber sie hätte
ihn trotzdem gerne bald verlassen wegen Falkners Nähe und hielt sich doch
durch ihre dem Rußschen Ehepaare gegebene Zusicherung, bis zum Herbst
zu bleiben, für gebunden durch die Bande der Gastfreundschaft und der
Rücksicht auf Falkners Mutter, in welcher sie ihn mit feinem Takt zu ehren
gedachte. Daß er sich mit seiner Frau nur in den seltensten Fällen im
Falkenhofe sehen ließ, dankte sie ihm von Herzen und verstand es voll und
ganz, und so lebte sie hin in der schönen Einsamkeit dieser Sommertage,
ganz versenkt in ihre Musikstudien, in ihre Träumereien, welche ihr manch
stimmungsvolles Lied, manche wehmütige Weise in den Griffel diktierten.
Und da sie ihre Gastfreundschaft nach englischem Muster übte, das heißt
ihren Gästen die persönliche Freiheit gewährte und sie nicht in ein
geselliges Joch spannte, so war sie am Tage meistens allein und nur
zur Dinerzeit mit Doktor Ruß und seiner Frau zusammen. Die beginnende
Manöverzeit überraschte sie und störte sie widerwillig auf aus ihrer
Zurückgezogenheit, denn sie hatte gar nicht daran gedacht, daß sie
Einquartierung bekommen könnte, ungewohnt dieses Zustandes des »Kriegs
im Frieden,« den sie im Auslande nicht kennen gelernt hatte. Und als zum
erstenmal ein Quartiermacher vor ihr stand, seinen Zettel in der Hand,
verstaubt, hungrig und wild aussehend, da bedauerte sie schmerzlich, daß
sie nicht dennoch fortgereist war. Aber die Bildung des deutschen Offiziers
und die Bescheidenheit und Gutmütigkeit der Leute machten ihr die
gefürchtete Sache doch leichter, als sie gedacht hatte. Sie nahm die
ungebetenen Gäste mit allem Komfort auf, erschien selbst als Wirtin
präsidierend an der allgemeinen Mittagstafel, plauderte wohl noch ein
Stündchen mit auf der Terrasse und zog sich dann zurück, es den Herren
völlig freistellend, zu bleiben oder ihre eigenen Zimmer aufzusuchen.

Als dann die Husaren auf drei Wochen eingezogen und der Stab, sowie die
Offiziere von drei Schwadronen in den Falkenhof gelegt wurden, da ward es
fast noch gemütlicher als bei dem ewigen Kommen und Gehen, und sie saß
wohl abends nach dem Diner noch ein wenig länger mit Herrn und Frau
Ruß in dem angenehmen Kreise der verheirateten Offiziere, während die
Junggesellen nach dem »Gesegnete Mahlzeit« meist hinübergingen nach
Monrepos, nachdem sie entdeckt, daß Dolores ein Bild ohne Gnade sei und
mit einem Kokettieren =pour passer le temps= hier nicht zu reüssieren
war. Wohl entflammten sich ein paar leicht entzündliche Herzen an
ihrer unleugbaren Schönheit, aber es wurde von ihrer Seite auf diese
Herzensflammen so gar kein Öl gegossen, worauf das Strohfeuer knisternd
erlosch und sich drüben in Monrepos neu entzündete. Und es kamen auch
Söhne des Mars, welchen die Manichäer hart auf den Sohlen saßen und
welche Dolores für eine »verflucht gute Partie« erklärten und besiegen
wollten, aber leider merkte sie die Absicht und wurde verstimmt, und als
wirklich jemand ein ernstes Werben um sie zeigte, da war die Manöverzeit
fast vorüber und Dolores mußte schweren Herzens einen Korb flechten und
ihn vergolden, so gut es ging, trotzdem ihr sein Empfänger leid that
und ganz leidlich gefiel. Aber aus Mitleid ist nicht gut heiraten und das
bloße Ganz-gut-gefallen thut's auch noch nicht.

Jedenfalls aber hätte selbst die böseste Zunge dieser jungen
Schloßherrin in ihrem Benehmen gegen die Einquartierung auf dem Falkenhofe
nicht den leisesten Vorwurf machen können.

  Denn eine Würde, eine Hoheit
  Entfernte die Vertraulichkeit.

Mit Doktor Ruß stand sie nach wie vor auf einem angenehmen
Konversationsfuße und sie warf es Engels oft vor, daß er den belesenen,
klugen Mann falsch beurteile, denn was dieser ihm nachsagte -- Eigennutz
und Falschheit -- das glaubte sie ganz und gar nicht in ihm zu finden,
je näher sie ihn kennen lernte, obgleich ihr manchmal der Gedanke kam:
»Meint er es ehrlich?« -- Doch sie glaubte diese Frage nicht verneinen
zu dürfen -- hatte er ihr doch noch keinen Beweis vom Gegenteil gegeben!
Dagegen war sie überzeugt, daß Frau Ruß es nicht gut mit ihr meine.
An die kurze, absprechende Art derselben hätte sie sich mit der
Zeit gewöhnt, aber der kalte, musternde, scharfe Blick dieser hellen
Fischaugen, welchen sie oft auf sich ruhen fühlte, verursachte ihr ein
Unbehagen, das sie sich gar nicht erklären konnte, dessen Vorempfindung
schon so stark in ihr war, daß sie sich oft unter einem Vorwande der
Gesellschaft dieser unliebenswürdigen und seltsamen Frau entzog und es
gar nicht mehr versuchte, Zuneigung zu erringen. Ihr erschien es eine
Sisyphusarbeit, das Vertrauen der Frau Ruß zu gewinnen, denn jedes
freundliche und entgegenkommende Wort prallte ab an dem schroffen Felsen
dieses unzugänglichen Frauenherzens.

Dieses Zurückweisen ihrer selbst betrübte Dolores mehr, als es sie
verletzte, denn Frau Ruß war ihr nicht sympathisch, aber sie hätte
ihr gern Liebe erwiesen um ihres Sohnes willen. Mehr noch aber als das
verursachten ihr die Nachrichten aus Monrepos thatsächlich Qual, denn
die Berichte von dem rastlos tollen Treiben der jungen Frau, und ein
gelegentlich aufgefangener müder, doch angstvoller und dann wieder
drohender Blick Falkners erzählten ihr von einem traurigen Beginn dieser
Ehe, die nichts Gutes verhieß. -- --

Es war am Tage vor dem Einrücken der Husaren im Falkenhof. Dolores war am
Nachmittage bei Engels in dessen Turmwohnung erschienen, nach langer Zeit
zum erstenmal wieder, stürmisch begrüßt vom Teckel Knieper und der Katze
Ida.

»Daraus sieht man, wie lange Sie nicht hier waren,« meinte Engels, als
Knieper sein Freudengebell etwas gemäßigt und Ida sich auf dem Schoß von
Dolores niedergelassen hatte.

»Ja, ja, Sie haben ganz recht mit Ihrem Vorwurf,« erwiderte sie, »aber
es ist so manches andere auch noch anders geworden.« -- Und sie seufzte.

»Das weiß der Kuckuck!« bestätigte Engels. »Besonders Sie selbst sind
anders geworden.«

»Hoffentlich zum besseren,« sagte sie mit schwachem Lächeln.

»Kommt auf die Anschauung an,« meinte Engels. »_Mir_ waren Sie früher
lieber -- sprühend vor Lebenslust und Laune, die ganze liebe,
warme, leuchtende Gottessonne im Herzen, im Blick -- -- das bißchen
›Teufelin,‹ das Sie darein mischten, kleidete Ihnen gut, sehr gut.
Heut' -- du lieber Gott! Heut' sind Sie eine Frau, der das Leben irgend
etwas Schweres angethan zu haben scheint, und was von Ihrem alten, sonnigen
Wesen geblieben ist, das leuchtet nur noch schwach, wie die Abendsonne.
Was ist Ihnen eingefallen, daß Sie vom Morgenrot zur Abendsonne
übergesprungen sind? Es giebt im Leben doch auch noch einen Mittag und
einen Nachmittag! Da haben Sie die Wahrheit!« --

»Ja, aber sie stimmt nicht ganz,« entgegnete Dolores. »Wer sagt Ihnen,
daß es wirklich nur noch Abendsonnenglanz ist, was Sie aus mir leuchten
sehen? Es giebt Tage, an denen die Sonne um Mittag so schwach und
nichtssagend leuchtet, als stände sie schon tief im Westen. Und _wenn_ es
Abend wäre -- -- es wäre das beste, denn dann kommt die Nacht, und in
der Nacht ist Ruhe und Schlaf --

  Bis zum jüngsten Tag
  Soll mich kein Hahnenschrei wecken,

sagte Irrgang, als er sich in den Schnee schlafen legte.«

»Gott erbarm' sich!« sagte Engels erschrocken und aus tiefstem
Herzensgrunde heraus, und als Dolores schwieg, stand er auf und trat dicht
an sie heran, beugte sich tief zu ihr herab und flüsterte:

»Der Kerl drüben, der Ruß, hat über Ihren Unfall am Hexenloch eine
Andeutung, ein Wort eigentlich bloß fallen lassen, das man sich hätte
deuten können, als ob Sie selbst -- -- Sie verstehen mich. Ich hab's
aber nicht glauben wollen, Fräulein Dolores -- und es ist auch nicht wahr,
nein?«

»Nein!« sagte sie und lachte dabei. Dann aber wurde sie wieder ernst.
»Ich würde den Tod selbst niemals suchen, denn Selbstmord ist eine
erbärmliche Feigheit, eine Fahnenflucht vor dem Leben.«

»Aber,« fügte sie nun gleichfalls flüsternd hinzu. »Aber, je mehr ich
mir diesen Augenblick zurückrufe, je fester möcht' ich daran glauben,
daß ich nicht ausgeglitten bin, nicht selbst die verhängnisvollen
zwei oder drei Schritte gemacht habe, welche mich von dem Hexenloch noch
trennten.« --

»Wie denn?« fragte Engels leise, eifrig. »Mußten Sie dann aber nicht
fühlen, daß ein anderer Sie schob?« --

»Ich war in tiefen Gedanken, und es ging alles schneller, als man es sagen
kann,« entgegnete Dolores nachdenklich. »Eh' ich nur etwas hören, sehen
oder fühlen konnte, schlug das Wasser schon über mir zusammen. Nur das
eine weiß ich genau, daß ein Ausgleiten bei _einem_ Schritte vorwärts
mich noch nicht bis ins Wasser bringen konnte. Vielleicht bin ich aber
in Gedanken unbewußt ein paar Schritte gegangen, denn es ist mir schon
passiert, daß, wenn mein Geist ganz von anderen Sachen in Anspruch
genommen war, ich mich im nächsten Zimmer befand, ohne mich besinnen zu
können, daß und wie ich hineingegangen bin. Es ist also möglich, daß
ich diese wenigen Schritte doch gemacht habe. Aber nun kommt die
Einbildung dazu und macht mir weiß, daß ein Etwas mich von rückwärts
hineingedrückt, denn gestoßen ist zuviel gesagt.« --

»Ja, dann müßten Sie aber doch eine Hand, einen Arm -- kurz ein Wesen
verspürt haben, das Ihnen nahe war, das Sie berührt hat!«

»Ich weiß es nicht. Im Augenblick, als ich wieder am Lande war und meine
volle Besinnung wieder hatte, hätte ich schwören können, daß niemand in
meiner Nähe war, niemand mich berührt hat. Aber die stets =post festum=
kommende Einbildung will mir jetzt weismachen, daß ich leise Schritte
hinter mir gehört, daß eine Hand mich berührt hat.«

»Ah! Gesetzt aber, Sie hätten diese Schritte gehört, war es da nicht
natürlich, daß Sie sich umwandten -- natürlich und unwillkürlich?«

»Eben deshalb nenne ich es eine Einbildung, lieber Engels.«

»Ist es auch,« entgegnete dieser. »Ihre andere Lesart, daß Sie
unbewußt und in Gedanken die paar Schritte auf das Wasser hin gethan
haben, ist entschieden glaubwürdiger und einleuchtend genug. Denn wer in
aller Welt hätte denn einen Grund, Sie meuchlings ins Wasser zu stürzen?
Keine Seele! Höchstens der Freiherr selbst, der doch zum Falkenhof der
Agnat ist.«

»Der hat mich ja aber gerade herausgeholt, ganz abgesehen davon, daß ich
ihm nachsah, wie er fortging, als es geschah.«

»Na eben darum!« nickte Engels bestätigend. »Warum, zum Teufel,
macht dann aber der alte Schleicher, der Ruß, ein Gesicht, als ob Sie
lebensmüde wären?«

»Ach, Engels, das haben Sie wohl falsch aufgefaßt!«

»Vielleicht, Fräulein Dolores. Man weiß ja nie, wie man seine halben
Worte und Winke deuten und auffassen soll. Nimmt man eine Redewendung so,
und es kommt anders, da sagt er dann sicher: Aber ich habe es Ihnen ja
gleich gesagt! Der Teufel mag sich mit dem alten Fuchs ausfinden!«

»Engels, Engels! Da galoppiert Ihre Abneigung wieder mit Ihnen davon!«

»Ach -- galoppiert nie übers Ziel!« machte Engels. Dann, nach einer
Pause, nahm er einen Brief aus einer Mappe. »Hier,« sagte er, »ist ein
spanisches Schreiben von Ihrem brasilianischen Bevollmächtigten. Es wird
sich wohl um die Pflanzen handeln, welche Sie von da verschrieben haben,
hier im Treibhaus ziehen und dann acclimatisieren wollen. Die Adresse ist
deutsch und an mich gerichtet, aber da ich Spanisch leider nicht kann,
wollte ich Sie bitten, mir's zu übersetzen -- schriftlich, damit ich's mit
dem Original meinen Belegen beiheften kann.«

»Gern,« erwiderte Dolores. »Sie werden es morgen früh beim Rapport
bereit finden. Und nun guten Abend -- ich muß hinein, denn es giebt
mit Mamsell Köhler noch eine Menge zu besprechen für die neue
Einquartierung!«

»Guten Abend, Fräulein Dolores. Und -- nichts für ungut!«

»Ach, wegen Ihres Selbstmordverdachtes? Nein, nein -- nichts für ungut,«
erwiderte Dolores lächelnd und ging.

Aber der Abend war schön und die Luft rein und klar nach einem köstlich
erfrischenden Regen, und darum machte sie doch noch einen kleinen Umweg,
ehe sie ins Schloß zurückkehrte. Sie ging in einem an beiden Seiten dicht
mit Buschwerk bestandenen Laubgange dahin, zog den Brief aus dem Couvert
mit der fremdländischen Marke darauf und begann ihn durchzulesen, hin und
wieder einen Moment stehen bleibend. Und in einem solchen Moment erklang
ein schnalzendes Geräusch, wie das Zusammenschlagen zweier Hände, nicht
lauter, und Dolores war es, als bekäme der Brief in ihrer Hand einen
Schlag, und als sie den Bogen wieder glättete, sah sie, daß sich ein
kleines, sehr kleines, rundes Loch mit angesengten Rändern darin befand,
das sie bisher nicht bemerkt. Einen Moment stand sie frappiert, dann sah
sie rechts und links in das Gebüsch, es beiseite biegend und ging darauf
den Weg zurück zu dem Turme, den Engels bewohnte.

Der war sehr erstaunt, sie wieder eintreten zu sehen.

»Haben Sie etwas vergessen, Fräulein Dolores?«

»Nein,« sagte sie ruhig. »Ich wollte nur fragen, ob der spanische Brief
dieses kleine Loch schon hatte, als Sie ihn mir gaben.«

Engels nahm den Brief, setzte sich die Hornbrille auf und beobachtete mit
hochgezogenen Brauen das kleine, seltsame Zeichen.

»Ist mir nicht aufgefallen,« sagte er verwundert. »Da ist ja ein Schuß
durchgegangen!«

»Eben darum frage ich,« erwiderte Dolores gelassen.

»Hm --! Soviel ich weiß, war diese Kugelmarke nicht in dem Briefe. Die
_müßte_ ich ja gesehen haben, nicht wahr? Merkwürdig kleines Kaliber --
wie aus einer Teschinpistole.«

»Ja,« sagte Dolores lakonisch, und als sie Engels' fragenden Blick sah,
zuckte sie mit den Achseln. »Vielleicht wieder ein Selbstmordversuch von
mir,« meinte sie mit einem kurzen Lachen, das etwas forciert war.

»Donnerwetter!« machte Engels.

»Nein, bitte, kein Wort davon,« bat sie. »Das bleibt unter uns. Aber die
Augen wollen wir beide offen halten, nicht wahr?«

Und damit ging sie wieder, furchtlos und langsam, denselben Weg nach dem
Falkenhof zurück und direkt bis in ihr Schlafzimmer. Dort zog sie
das Schubfach ihres Nachttisches auf -- da lag die winzige, kleine
Teschinpistole, wie immer, daneben stand das Blechbüchschen mit den
Patronen. Sie hatte die Gewohnheit, die kleine Waffe allabendlich zu laden
und früh die Patrone wieder herauszuziehen -- auch jetzt war der Schuß
herausgezogen.

»Ich muß doch die Patronen einmal zählen,« dachte sie. Es waren noch
dreißig Stück in der Büchse, und die schloß sie fort.

Die nächste Stunde ihres Nachdenkens war nicht gerade erbaulich. Sie
dachte zwar nicht an die für sie rätselhafte Episode am Hexentümpel,
wohl aber an den rätselhaften Schuß, der sein Ziel wahrscheinlich
verfehlt hatte, denn wer hätte die kühne Idee, einen Brief zu
durchschießen, der gerade gelesen wurde? Höchstens doch ein Kunstschütze
von der Fertigkeit eines Ira Aldridge. Nein, der Schuß galt ihr. Aber
warum? Wem hatte sie etwas gethan? Wer hatte ein Interesse daran, sie zu
töten?

Sie dachte an einen ihrer brasilianischen Vögte, den sie neulich auf
den Bericht ihres Bevollmächtigten, und weil er sie bewiesenermaßen
bestohlen, entlassen hatte. Sollte der Mann sich haben rächen
wollen? Unmöglich war das nicht, aber wie wäre er von Brasilien nach
Norddeutschland gekommen? Das ist ein weiter Weg, und ehe er zurückgelegt
ist, wozu Zeit und -- Mittel gehörten, da ist die erste Wut schon
abgekühlt. Aber es war der einzige Anhaltepunkt für sie, und als sie beim
besten Willen keinen anderen fand und der Kopf sie anfing zu schmerzen, da
ging sie herab und fand auf der Terrasse die sie suchte -- Doktor Ruß mit
Frau. Denen erzählte sie die Geschichte dieses Schusses, und Doktor Ruß
riet sofort einen Kriminalkommissar kommen zu lassen, der im Falkenhofe
Wohnung zu nehmen hätte, um dem geheimnisvollen Schützen auf die Spur
zu kommen. Doch davon wollte Dolores nichts wissen. Sie teilte Doktor Ruß
ihren Verdacht mit und meinte, es würde wohl auch durch Ramo zu erfahren
sein, ob ein Fremder sich hier herumtriebe, denn irgend jemand müsse ihn
doch sehen, da ein Mensch Nahrung brauche und dieselbe wieder nur durch
Menschen zu erlangen sei.

Doktor Ruß billigte im ganzen den Plan, Ramo auf die Spur des Attentäters
zu hetzen, hielt aber seine Idee für erfolgreicher. Frau Ruß sagte, wie
gewöhnlich, nichts, doch bemerkte Dolores, daß sie ihr Strickzeug ruhen
ließ und die großen, hellen, kalten Augen, welche durch eine merkwürdig
kleine Pupille und durch eine sehr große Iris etwas seltsam Steinernes
hatten, fest auf ihren Gatten heftete und denselben unausgesetzt ansah,
trotzdem es schon zu dämmern anfing.

»Sie sucht in seinem Gesicht zu lesen, was sie von der Sache denken darf
und was nicht,« sagte sich Dolores und war froh, daß diese schrecklichen
Augen nicht auf sie starrten -- unausgesetzt starrten, ohne daß ihre
Wimpern gezuckt hätten. Doch auch dem Doktor Ruß, der es anfangs nicht zu
bemerken schien, wurde dies Anstarren zu viel.

»Es ist feucht, mein Liebling,« flötete er, sich plötzlich zu seiner
Frau wendend. »Ich fürchte für deinen Rheumatismus. ›Refma‹ nennt
unser guter Graf Schinga dieses Übel,« wandte er sich lächelnd an
Dolores.

»Ich habe keinen Rheumatismus,« sagte Frau Ruß, ohne ihrem Blicke eine
andere Richtung zu geben.

»Dennoch würde ich dir raten, hineinzugehen, damit du ihn nicht
bekömmst,« schlug Doktor Ruß liebevollen Tones vor, und da seine Frau
noch zögerte, sagte er etwas scharf: »Nun, meine Teure?«

Da begann sie gehorsam ihren Strickstrumpf zusammenzurollen, ohne die Augen
von ihm abzuwenden, doch ehe sie noch fertig damit war, erscholl unten eine
helle, frische Stimme. Es war Lolo Falkner.

»=Salem aleikum!=« rief sie, die Treppen hinaufspringend. »Ich komme,
mir eine Tasse Thee und ein Butterbrot ausbitten, Dolores, denn ich habe
einen Mordshunger. Wir haben heut' früher diniert, weil unsere Herren von
der Artillerie abrücken mußten -- na, die vertragen schweres Geschütz
vom alten Rheinwein! Dann, wie sie weg waren, habe ich geschlafen und
nun bin ich hergelaufen, weil mir so _furchtbar_ einsam war. Darf ich
bleiben?«

»Aber ich bitte darum,« sagte Dolores, die vorher den beiden noch
zuflüsterte: »Bitte, nichts von dem Schuß sagen!«

Lolo reichte ihr und Doktor Ruß die Hand, that, als ob sie die ihrer
Schwiegermutter küßte, und setzte sich, den Hut fortwerfend.

»Wo ist denn dein Mann?« fragte Frau Ruß, welche nun ruhig sitzen blieb.

»Alfred? Ich weiß nicht -- er wird wohl zu Hause sein,« meinte Lolo
unbefangen.

»Ja, weiß er denn nicht, daß du hier bist?« inquirierte Frau Ruß
weiter.

»I, keine Spur,« versicherte die junge Frau. »Woher soll er's denn
wissen? Ich hab's ja niemand gesagt, als ich fortging.«

»Nun, dann brauchte dir ja nicht so furchtbar bange zu sein, wenn Alfred
zu Hause war,« setzte Frau Ruß das Gespräch fort.

»Was? Mit Alfred allein bleiben? Schrecklicher Gedanke,« rief Lolo
entsetzt. »Ein Ehepaar allein zusammen ist der Inbegriff der Langeweile,
das mußt du ja aus doppelter Erfahrung selbst wissen, Mama!«

»Hm! Hm! Hm! Hm!« sang Doktor Ruß eine harpegierte Quart und kicherte
lautlos in sich hinein, während über Dolores ein Zorngefühl kam, als
müsse sie aufspringen und die kleine Freifrau gründlich beuteln.

»Ich finde, diese Erfahrung kommt für dich etwas früh,« entgegnete Frau
Ruß schlagfertig, aber fliegenden Atems vor Erregung.

Lolo Falkner lachte.

»Er ist ja sonst ganz nett,« gab sie großmütig zu, und dann ihre langen
Handschuhe zusammenballend und in die Luft werfend, sang sie aus voller
Kehle: »Und morgen kommen die Husaren --! -- Du, Dolores, morgen kommt
auch dein alter Freund, der Kleckser, um mein Gesicht fertig zu pinseln --
na, wie heißt er denn gleich?«

»Der Name Johannes Keppler ist von europäischem Ruf,« sagte Dolores
finster und steif.

»Als ob mich das verpflichtete, jeden Anstreicher zu kennen,« lachte Lolo
in unverändert guter Laune.

In diesem Moment bog Falkner um die Ecke und trat alsbald auf die Terrasse.

»Ah -- da haben wir ja denselben Gedanken gehabt,« meinte Lolo gedehnt,
als sie ihm zwei Finger zum Gruß reichte. »Du kommst doch auch, Dolores
zu besuchen?«

»Auch das, wenn sie es gestattet,« erwiderte Falkner etwas scharf. »Aber
ich kam eigentlich, dich zu holen --«

  »Ja schöne Seelen finden sich
  Zu Wasser und zu Lande«

trällerte Lolo.

»Es wäre in jedem Falle sehr freundlich gewesen, mich von deinem Ausgange
zu unterrichten,« bemerkte Falkner.

»Na, da habt ihr die Standpauke,« rief Lolo mit komischer Resignation.
»Ich hab's ja gleich gesagt, solch' ein Ehepaar ist eine schöne
›Stütze der Gesellschaft,‹ in Bezug auf interessante Konversation.«

»Ich höre eben, daß Keppler morgen kommt,« fiel Dolores schnell ein, um
weitere Auseinandersetzungen der jungen Frau zu verhindern.

»Ja, er kommt,« sagte Falkner rauh, »aber ich fürchte, seine Zeit wird
verloren sein, denn die Stunden, die mir verweigert sind, dürften ihm kaum
gewährt werden.«

»=Cela dépends=,« warf Lolo lustig ein.

Falkner stand auf.

»Wir wollen nach Hause gehen,« sagte er, mühsam beherrscht.

Aber sie rührte sich nicht vom Flecke.

»Erst mein Abendbrot,« rief sie, mit ihren Handschuhen spielend.

Und sie blieb wirklich, bis Thee und kalte Küche serviert waren, dann
erhob sie sich auf das Zeichen ihres Mannes.

  »Wir haben nun gegessen und sind geworden satt,
  Hätt's aber mehr gegeben, hätt's auch nichts geschad't«

deklamierte sie lustig.

Auf dem Heimwege sprachen sie kein Wort, und Lolo füllte den langen Weg
damit aus, daß sie wie ein Gassenbube allerlei Gassenhauer pfiff. In
Monrepos angelangt, öffnete Falkner ihr die Thür ihres Boudoirs.

»Du wirst nach all dem wohl dein Zimmer einem gemeinschaftlichen
Zusammenbleiben, das so wenig Chic ist, vorziehen,« sagte er.

»Mach' kein so brummiges Gesicht,« erwiderte sie lächelnd statt einer
Antwort, und als er, finster genug dareinschauend, ein paar Schritte
zurücktrat, fügte sie hinzu: »Wer wird denn jedes Wort, das man sagt,
auf die Goldwage legen! Man renommiert manchmal und meint es anders -- und
besser!«

»Soll das eine Entschuldigung sein für dein Benehmen?« fragte er, trat
in das Zimmer und schloß die Thür hinter sich.

»Entschuldigung?« murmelte sie verwundert. »Ja, habe ich denn nötig,
mich zu entschuldigen? Und bei dir?«

Falkner nahm die Thürklinke wieder in die Hand.

»O, wenn du es nicht fühlst und dessen nicht bedarfst, dann ist die Sache
ja erledigt,« sagte er bitter. Aber im Gehen besann er sich, daß er mit
dem kleinen blonden Geschöpfe dort eine Verantwortung übernommen hatte --
eine Verantwortung, schwer und ernst wie selten eine. Er beherrschte sich
also nochmals und trat nah an die junge Frau heran. »Lolo,« sagte er
herzlich und freundlich, »Lolo, ist es denn dir nie eingefallen, daß du
mich durch deine Vernachlässigung kränken und betrüben könntest?
Ist dir in dem tollen Treiben dieser Woche niemals der Gedanke an mich
gekommen?«

»Wieso denn?« fragte sie naiv zurück. »Du warst ja immerzu da!«

»Aber deinem Herzen so weit,« ergänzte er herzlich.

Sie sah ihn groß an und tippte mit dem Zeigefinger ihrer rosigen Rechten
auf ihre Stirn, auf der das blonde Haar wie Federn so duftig und leicht
lag.

  »Du bist verrückt, mein Kind!«

sang sie leise.

Ihm stieg die Zornesröte siedend ins Antlitz, und ein heftiges, böses
Wort drängte sich ihm auf die Lippen, aber er bezwang beides.

»Lolo, kannst du ein ernstes Wort nicht auch einmal ernst anhören? Habe
ich denn schon ganz aufgehört, dir etwas zu sein?«

»Ach, du guter, alter, dummer Schatz!« lachte sie ihn an, daß alle
Grübchen in ihrem reizenden Kindergesichtchen zu Tage traten. »Wann wirst
du nur aufhören, ein sentimentaler Ehemann zu sein?«

»Ist das Sentimentalität, Lolo?« sagte er ernst, fast traurig.

»Natürlich, krasse Sentimentalität,« erwiderte sie. »Und nun will ich
schlafen gehen, denn morgen kommen die Husaren!«

»Eleonore --!«

»Ja, ja, ja,« rief sie und hielt sich die Ohren zu. »Ich weiß schon,
was du sagen willst, aber es soll doch eine lustige Zeit werden, denn =tel
est mon plaisir=!«

Da verließ er sie, zornig, betrübt und empört zugleich und saß die
ganze Nacht auf und sann, und ging mit sich zu Rate, was hier zu thun seine
Pflicht sei, denn er durfte sie diese schiefe Ebene nicht weiter gehen
lassen, damit sie nicht ins Rollen kam und am Abgrund keinen Halt mehr
hatte. Er hatte in den schönen, stolzen Zügen von Dolores gelesen, wie
sie über das Wesen und Gebaren seiner jungen Frau dachte, aber er hatte
darin auch zu lesen geglaubt, daß sie ihn verantwortlich machte dafür,
und dieser Gedanke gab ihm neue Kraft, wenn der gerechte Zorn über
Lolo ihn übermannte und er das übermütige kleine Geschöpfchen als
unverbesserlich beiseite schieben wollte.

»Noch drei Wochen, und ich bin wieder allein mit ihr, und dann will ich
mit leiser, zarter Hand, daß sie's nicht merkt, die wilden Schößlinge
in ihrem Charakter zu veredeln suchen,« dachte er mit dem festen Vorsatz
eines Mannes, der die Pflicht zur Richtschnur genommen hat und weder
rechts noch links sehen will. Aber er dachte es auch mit jener souveränen
Zeitbestimmung der Menschen, welche ihr »Ich _werde_ es thun«
aussprechen, als wären sie der Ausführung ihres Vorsatzes sicher. Hätte
Falkner gewußt, wie es in drei Wochen hüben wie drüben aussehen würde
-- doch auch Lolo dachte an jenem Abende noch an Dolores, denn wie sie vor
den Spiegel trat, da fiel ihr ein, wie die Lehnsherrin vom Falkenhof
bei ihren unbesonnenen, vielleicht wirklich nur halbgemeinten Worten sie
angeschaut -- vorwurfsvoll und mit unverhehlter Verachtung, wie sie meinte.

»Schon ganz altjüngferlich,« dachte sie zornig. »Und wenn sie Alfred
bedauert wegen seiner schlechten Behandlung durch mich, warum hat sie ihn
denn nicht geheiratet? Er war ja zu haben, ehe ich in Betracht kam! Wart',
Donna Dolores Falconieros, für diese Gardinenpredigt ohne Worte werd' ich
dir schon noch einen Schabernack spielen.«

Im Falkenhofe beschäftigte man sich natürlich auch mit dem Paare. Frau
Ruß gab ihrem Manne gegenüber ihrer schwiegermütterlichen Entrüstung
vollsten Ausdruck -- das war der Instinkt, mit dem die Löwin ihr Junges,
die Henne ihr Kücken verteidigt, selbst gegen imaginäre Gefahren.
Doktor Ruß beantwortete diesen Ausbruch seiner Gattin mit Lächeln und
Achselzucken.

»Wenn dein Sohn kein Pantoffelheld ist, so wird er sich schon zu helfen
wissen. Sie sind eben noch in den Flitterwochen, die beiden, und trotzdem
ich _sie_ für einen kleinen Satan halte, denke ich doch, daß _er_ den
Spieß bald umdrehen wird,« meinte der erfahrene Mann.

Doch Frau Ruß war einmal herausgetreten aus sich und ihrem Schweigen, und
ihr volles Herz mußte das, wovon es überlief, erst von sich geben.

»Ah, du glaubst, Alfred wird ein Ehemann werden von deinem Schlage,«
sagte sie anzüglich, »ein Knechter, ein Unterdrücker, ein unbarmherziger
Niedertreter des eigenen Willens und eigenen Fühlens.«

»Ei, ei, Frau Adelheid Ruß, da hört man ja plötzlich eine Meinung von
Ihnen,« hohnlachte er, sichtlich sehr amüsiert über dieses Rütteln an
den Ketten, diesen Ausbruch lang zurückgehaltenen Unmuts.

»Hab' ich etwa nicht recht?« fragte Frau Ruß. »Hab' ich mich heut'
Abend nicht ins Haus schicken lassen müssen von dir, wie ein unartiges
Kind?«

Diese Worte machten der Heiterkeit des Doktor Ruß sofort ein Ende.

»Warum hast du mich so unausgesetzt angesehen?« fragte er.

Nun zuckte sie mit den Achseln.

»Sieht doch die Katze den Kaiser an,« erwiderte sie kurz.

»Ei, ei! So, so!« machte Doktor Ruß langsam. »Nun, mir ward es lästig,
und ich schickte dich darum hinein, meine Süße.«

Sie antwortete nicht, doch ein seltsam forschender Blick huschte hinüber
zu ihm.

Da trat er hart an sie heran und sah ihr in das kalte, wieder ganz
ausdruckslos gewordene Gesicht.

»Ich will wissen, warum du mich so angesehen hast,« sagte er leise, fast
zischend, und als sie darauf nur gleichgültig mit den Achseln zuckte, fuhr
er fort: »Ich werde deiner Erinnerung etwas zu Hilfe kommen. Es war, als
Dolores uns die Geschichte von dem Schuß erzählte.«

»Ja,« erwiderte Frau Ruß unbewegt. »Ich wollte gern wissen, ob du sie
für wahr hieltest --«

»Und weiter hatte dein auffälliges Anstarren keine Bedeutung?« forschte
er weiter.

»Ich wüßte nicht, welche,« gab sie zurück.

»Ich wollte dir's auch geraten haben,« murmelte er laut genug, um
verstanden zu werden, und ging dann ein paarmal im Zimmer auf und ab,
ohne es zu bemerken, daß Frau Ruß ununterbrochen die Schlingen an
ihrem Strickzeug fallen ließ -- eine Nachlässigkeit, die ihr sonst kaum
passierte. Aber sie hob die Schlingen nicht wieder auf, sondern strickte
in einem Tempo weiter, welches sehr gut und täuschend das Zittern ihrer
großen, weißen Hände verbarg. Und Doktor Ruß sah weder auf die Hände,
noch auf die Socken von Estremadura, welche für ihn entstanden, und er sah
auch nicht die verlorenen Maschen, welche ihm hätten sagen müssen, daß
das innere Gleichgewicht seiner Frau in wildem Schwanken begriffen
war. Doch, wie gesagt, das Tempo, in welchem sie weiterstrickte, ohne
anzuhalten, maskierte all' das vollständig, und nach einer Pause nahm
Doktor Ruß das Gespräch wieder auf.

»Der Schuß _kann_ den Ursprung haben, den Dolores ihm beimißt,«
begann er, »obgleich die Idee, daß ein rachsüchtiger Brasilianer aus
Südamerika eigens dazu herreisen sollte, um sich für seine Absetzung
zu rächen, stark abenteuerlich und romanhaft ist. Aber unmöglich ist es
immerhin nicht, und Ramo wird schon aufpassen. Ich für meinen Teil denke
aber, das Papier wird die Kugelmarke schon gehabt haben, als es hier ankam,
und Engels hat sie einfach übersehen, als er sah, daß der Brief spanisch
war und er ihn doch nicht lesen konnte. Nun glaubt ja Dolores, die
Detonation der Waffe gehört, den Briefbogen in ihrer Hand sich bewegen
gefühlt zu haben. Beides kann auf Täuschung beruhen, denn es giebt
Schußwaffen, deren Knall kaum dem Schnalzen der Zunge an Stärke
gleichkommt --«

»Ich weiß es,« sagte Frau Ruß. »Dolores hat eine Pistole, mit der sie
neulich Scheibe schoß. Man hörte die Schüsse kaum.«

»So?«

»Sie hatte dir die Waffe ja wohl geliehen, als sie verreist war?« fragte
Frau Ruß unbefangen.

»Mir? Wie kommst du darauf?« fragte er, stehenbleibend, scharf. »Hast du
mich damit schießen sehen?«

Die Nadeln flogen, und die Maschen fielen ungezählt, wie gesäet -- --

»Nein, ich dachte nur, weil du davon sprachst, dir die Waffe zu leihen.«

Wieder ging er auf und ab.

»Nein, ich that es nicht,« meinte er, »es hat keinen Zweck, und die
Pistole kann unkundigen Händen gefährlich werden, wie Dolores sagte. Was
Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr. Ich war immer ein schlechter
Schütze.«

»Ja,« sagte Frau Ruß. »Gottlob!«

»Wie so, teures Weib?«

»Nun, es ist schon so viel Unglück passiert mit dem dummen Schießen,«
schloß sie, und er nickte bestätigend.

Daß Dolores selbst an jenem Abende noch lange über diesen
vielbesprochenen Schuß nachdachte, ist selbstverständlich, wenn man
erwägt, daß sie sich als Zielscheibe dafür ansehen mußte. Ramo, dem
sie nun auch davon erzählte und ihm auftrug, wachsam zu sein, war mehr
erschrocken als er zeigte, und kombinierte sogleich die Fußstapfen im
Nordflügel, der nunmehr für die Einquartierung wieder eingerichtet war,
mit dem Schützen im Park. Doch Dolores wollte das nicht einleuchten.

»Denke nur, wie lange es her ist, seitdem wir damals diese Fußspuren
fanden,« meinte sie. »Es ist viel Zeit dazwischen, mehr als jemand nötig
hat, um einen geeigneten Moment zum Abfeuern des Schusses zu finden.«

Ramo mußte seiner Herrin recht geben, und obgleich Dolores sich einzureden
versuchte, daß die Kugelmarke wirklich vorher schon in dem Briefbogen war,
ging sie doch mit dem unheimlichen Gefühl zur Ruhe, daß es anders war und
jemand existierte, der ihr feindlich gesinnt war.

Beim Durchgehen durch das kleine Bibliothekzimmer neben ihrer Schlafstube
fand sie einen mächtigen Band auf dem Tische liegen, den sie vorher nicht
gesehen. Auf ihre Frage berichtete Ramo, daß Doktor Ruß den Band heut'
Nachmittag, als Dolores ausgegangen war, selbst heraufgebracht und, da er
sie nicht antraf, hier niedergelegt und mit Zeichen versehen hatte. Er,
Ramo, sei indes abgerufen worden und als er nach ein paar Minuten wieder
zurückgekehrt sei, um dem Herrn Doktor die Thür zu öffnen, habe er
Doktor Ruß oben nicht mehr angetroffen.

»Ich hab's im ganzen nicht gern, wenn jemand sich in meinen Zimmern
aufhält, während ich ausgegangen bin,« meinte Dolores, sich setzend,
»doch das soll kein Tadel für dich sein, lieber Ramo.«

»Ich weiß, meine Herrin ist gütig,« murmelte der erprobte Diener
beschämt. »Und wenn mich Tereza nicht für einen Moment in den
Korridor gerufen hätte, wäre Herr Doktor auch nicht allein hier
zurückgeblieben.«

»O, ich meine ja nicht, daß Doktor Ruß oder jemand anderes hier etwas
Unrechtes thun würde,« erwiderte Dolores lächelnd über die Auffassung
Ramos. »Mir ist nur der Gedanke fatal, daß ich meine Zimmer nicht immer
für mich allein habe.«

»Sehr wohl,« erwiderte Ramo, dessen Fehler langsames Begreifen nicht war,
und ging mit einem unterthänigen »Gute Nacht!«

Dolores schlug den gebrachten Band auf -- es war eine alte Meriansche
Chronik, von welcher Doktor Ruß ihr gesprochen und die er aus der großen
Bibliothek hervorgesucht hatte. Trotzdem sie für diese Litteratur großes
Interesse hatte, las sie heut' dennoch nicht jene naiven und schlichten
Berichte »kurioser Begebenheiten« vergangener Jahrhunderte, sondern
blätterte zerstreut in den Kupferstichen und Holzschnitten, welche
verschwenderisch die Chronik zierten. Darüber wurde sie müde, und als sie
sich erheben wollte, um schlafen zu gehen, da überkam es sie mit solcher
Mattigkeit, daß sie sich in ihrem Sessel zurücklehnte und die Augen
schloß. Da hatte sie das angenehme, wohlige Gefühl, langsam und leise zu
schweben, gelehnt in einen festen, sicheren Arm, und als sie wieder festen
Boden unter sich spürte und mit Anstrengung versuchte, die Augen zu
öffnen, da sah sie sich oder glaubte sich vor dem Bilde der Ahnfrau
drinnen zu sehen im Saal, trotzdem sie keinen Fuß gerührt hatte, hinein
zu gehen. Und die Ahnfrau trat aus dem Rahmen heraus und an ihre Seite.

»Ich habe seinen Arm berührt, daß die Kugel dich nicht traf,« hörte
sie die sanfte, traurige Stimme sagen.

»Wer? Wessen Arm?« wollte Dolores sagen, aber sie fühlte, daß sie ihre
Zunge nicht regen konnte. Und die Ahnfrau legte die weißen, schlanken
Hände auf ihr Haupt.

»Es ist nicht an uns, anzuklagen und zu richten. Denke daran, daß die
Gefahr noch nicht vorüber ist,« schien sie zu sagen.

Und wieder war es Dolores, als schwebte, schwebte, schwebte sie, und käme
wieder hinab auf die Erde -- da fuhr sie empor mit einem Schrei.

»Die Herrin hat schon geträumt,« sagte Tereza mit einem Lächeln auf
den schwarzen Zügen, indem sie aus der Thür, in der sie gestanden, näher
trat.

»Geträumt?!« wiederholte Dolores schlafbefangen.

»Nur kurz, nur ganz kurz,« meinte die alte Negerin beruhigend. »Du
gingst hinein in den Saal, Herrin, und kamst sehr bald wieder zurück, und
sankst in deinen Stuhl und träumtest. Soll ich dich nicht lieber zu Bett
bringen?«

»Ja,« sagte Dolores. »Also ich war im Saale drinnen?«

       *       *       *       *       *

Der andere Tag kam, und mit ihm kamen die von Lolo Falkner so heiß
ersehnten Husaren und brachten neues, frisches Leben mit einem Schlage
wieder in die grüne Waldeinsamkeit des Falkenhofs und von Monrepos.
Freilich, mit der träumerischen Ruhe, die über den Schlössern schwebte
und webte, war's wieder für Wochen vorüber, denn Sporenklirren,
Säbelrasseln, Wiehern, Stampfen und Trompetensignale verscheuchten die
Stille des thaufrischen Morgens, der Sommermittagsschwüle und der warmen
Abende, und der Mond, der sein Licht so gern aufsaugen ließ von den
goldbronzefarbenen Haarmassen auf Dolores' Haupt und von ihren weißen
Kleidern, die sich so weich um ihre schöne Gestalt schmiegten -- der es
funkeln, flimmern und gleißen ließ in dem Staubsprühregen der Fontänen
und geheimnisvoll durch das dichte Laubwerk und über die stillen dunkeln
Wasser des Hexenloches huschen ließ -- dieses selbe Licht versilberte
jetzt noch die Tressen, Schnüre und Waffen der Husarenoffiziere, wenn sie
abends auf der Terrasse saßen und auf die köstlichen Pfirsiche, welche
die Spaliere des Falkenhofs lieferten, kalten Sekt gossen und diese
köstlichste und einfachste aller Bowlen behaglich schlürften. Denn das
Wetter befürwortete diese langen, herrlichen Abende auf der Terrasse sehr
-- es war ein ideales, warmes, sonniges Erntewetter, und das Plus an Hitze
milderte ein gelegentlicher kurzer, aber erquickender Gewitterregen stets
zur richtigen Zeit. Natürlich waren von den im Falkenhof einquartierten
Herren zwei Drittel passionierte Jäger. Sie hatten zum Teil sogar ihre
Hühnerhunde mitgebracht und, kaum waren sie aus dem Dienste gekommen und
vom Pferde gestiegen, benutzten sie sogleich die gegebene Erlaubnis und
gingen auf die Hühnerjagd. Die Jagd auf Hasen sollte zwar erst eröffnet
werden, doch die Waldungen des Falkenhofs boten auch ein reich bestelltes
Revier für Rehe und Hirsche, und so wurde das Reich der Freiin Dolores
für die gewaltigen Nimrode im Husarenattila ein Paradies, das einst
verlassen zu müssen sie heut' schon mit tiefstem Bedauern erfüllte.

Gewaltiger noch wurde die Aufregung und Jagdleidenschaft, als die Herren
eines Abends die Nachricht mitbrachten, daß ein Steinadler mit gewaltiger
Flugspannung im Falkenhofer Revier gesehen worden sei. Ein Förster meldete
gleichzeitig, daß der Gewaltige schon Raubzüge auf Rehkitzen und junge
Feldhühner mit Erfolg ausgeführt habe. Nun wurde dieser höhere Sport
zur Notwendigkeit, doch die List und Wachsamkeit dieses verflogenen
königlichen Vogels trotzte beharrlich der Geschicklichkeit und sicheren
Hand seiner Verfolger.

Mit den Husaren war auch Keppler wieder in Monrepos angekommen und hatte
sich alsbald auch im Falkenhof gemeldet.

»Da bin ich schon wieder,« hatte er gesagt, »ich, der ich kaum früher
Zeit hatte, um die Aufträge der Fürsten dieser Welt anzunehmen, ich bin
freiwillig hier, um das rosige Kindergesichtchen einer Lolo Falkner zu
vollenden. Nein, Fräulein Dolores, Sie müssen mich nicht tadelnd ansehen,
denn was können Sie für den Geschmack Alfred Falkners? Nichts, obgleich
ich ihm einen besseren zugetraut hätte; oder wollen Sie's leugnen, daß
die Baronin Lolo hübsch, aber oberflächlich und unbedeutend ist? Ja,
wenn's noch die Großherzogin Alexandra wäre --!«

»Warum sind Sie denn gekommen?« fragte Dolores abweisend.

Keppler sah sie an und lächelte trüb.

»Warum? Es zog mich her -- ich hatte keine Ruhe daheim, keine Ruhe auf
der beabsichtigten Studienreise. Und die Leute hier sind ein schöner
Völkerschlag -- ich kann auch hier Studien machen.«

»Lolo wird wenig oder gar keine Zeit für Sie haben,« sagte Dolores
ernsthaft.

»Wahrscheinlich nicht, denn sie ist fast noch ein Kind, das gern mit
Puppen spielt. Und die Husaren leuchten so schön in ihren roten Röcken,
während ich einen grauen Sommeranzug trage und nicht einmal mehr den
Frack, wie in jener Zeit, da ich Ihre Durchlaucht, die Prinzeß Eleonore
von Nordland malte. Falkner wollte es so.«

»Natürlich. Wenn Sie aber wissen, daß Lolo Ihnen nicht sitzen wird --«

»In der Ahnengalerie des Falkenhofs fehlt noch _Ihr_ Bild, Fräulein
Dolores, und ich bin ehrgeizig genug, dieses Porträt malen zu wollen. Was
sagen Sie dazu, daß ich unter die Streber gegangen bin, unter die Bewerber
um solchen Preis?«

Was sollte sie dazu sagen? Sie konnte die Bescheidenheit, die Demut des
größten Porträtmalers nur bewundern und fand sie rührend -- aber sie
hätte doch verstehen müssen, daß diese Demut in der Liebe ihren Ursprung
hatte.

»Sie haben mich schon einmal gemalt --« wandte sie ein.

»Als Satanella, ja. Aber dies Bild ist mein, es erinnert mich an die Zeit,
da Sie den Purpurmantel wahrer Künstlergröße trugen,« erwiderte er.
»Jetzt ist der Purpur abgestreift und er liegt zu Ihren Füßen, ein
Teppich, über den Sie hinwegschreiten. Doch ich gestehe gern, daß Ihnen
das weiße Gewand der Châtelaine, der Waldfrau einen neuen, vielleicht
höheren Reiz verleiht, und was als Satanella dämonisch aus Ihren Augen
leuchtete, es ist geläutert, verklärt und vergeistigt. Wodurch? Das habe
ich mich oft schon gefragt, mir aber nie zu beantworten gewagt.«

»Sie haben mich scharf studiert, Herr Keppler,« meinte sie, leicht
verwirrt.

»Das ist meines Amtes als Kopist der Natur,« erwiderte er.

Und dabei blieb es, er malte sie in der weißen, goldgestickten
Atlasschleppe und dem duftigen Kleide von kostbaren alten, echten Spitzen,
ganz ohne anderen Schmuck als den ihrer Schönheit und ihres Goldhaares,
nur in diesem, schräg schwebend hoch über ihrer Stirn malte er den
Halbmond von Diamanten, wie sie ihn auf der Hochzeit der Großherzogin
getragen hatte. Die Arbeit ging rasch und flott vorwärts, und auffallend
schnell modelte sich die herrliche weiße Gestalt heraus auf dem schmalen,
hellgetönten Paneel -- ein lichtes Gedicht, eine Symphonie in Farben,
vielleicht nicht so genial wie die Satanella, sicher aber schöner, zum
Herzen sprechender.

Einmal beim Malen kam Falkner hinzu in Begleitung von Lolo -- er ging
selten allein in den Falkenhof.

»O wie schön,« sagte er unwillkürlich, als er vor das Werk des Meisters
trat.

»Meinst du das Original oder das Bild?« fragte Lolo und warf den Kopf
zurück.

»Meine Frau bringt mich in ein Dilemma,« erwiderte er ruhig. »Denn meine
ich das Original, so kränke ich vielleicht den Meister, und meine ich
das Bild -- was soll das Original von meiner Höflichkeit denken. Folglich
wähle ich die goldne Mittelstraße, die hier zur Wahrheit führt, und
sage: Das Porträt ist getreu dem Original!«

»Gut gebrüllt, Löwe,« citierte Keppler lachend seinen Shakespeare,
indem er ruhig weiter malte.

Dolores sagte nichts. Sie stand auf ihrer Estrade in dem zum Atelier
eingerichteten einstigen Tanzsaal des Falkenhofes -- einem wundervollen
großen Raum mit weißem Stuckmarmor bekleidet und bemalter Decke, auf der
es im Rokokogenre von Göttinnen, Nymphen, Amoretten und Seeungeheuern,
welche Arnold Böcklin entzückt hätten, zwischen Blumen und
Fruchtgewinden wimmelte, der aber entschieden sehr einer Restauration
bedürftig war. Aber der nach Norden gelegene Raum war kühl und hatte
gutes Licht, das durch hohe, schmale Fenster voll auf die weiße Gestalt
flutete, welche ungezwungen neben einem niederen, plüschbezogenen
Lehnsessel aus der Renaissanceepoche stand und die schlanke, lilienweiße
Linke leicht auf die Lehne stützte.

»Ich fasse nicht, wie du das Modellstehen aushalten kannst, Dolores,«
meinte die junge Frau, indem sie an den Spitzen von Dolores Kleid zupfte.
»Ich wenigstens werde davon so müde, als hätte ich im Felde Kartoffeln
gehackt.«

»Ich bin auch sehr müde,« sagte Dolores und erblaßte in diesem Moment
so, daß Keppler erschrocken die Palette hinlegte.

»Dolores -- du solltest dich nicht so anstrengen,« rief Falkner, neben
sie tretend. »Komm herab -- laß es genug sein für heute.«

»Nein, nein,« sagte sie mit mattem Lächeln, »es geht immer sehr schnell
vorüber --«

»Wie, du leidest öfter daran? Was ist es?« fragten Falkners =a tempo=.

»O, eigentlich nichts,« erwiderte Dolores apathisch. »Es mag eine Folge
des heißen Sommers sein, daß ich so träge geworden bin seit Tagen --
seit einer Woche etwa. Ich ermüde bei jeder Beschäftigung, und es ist mir
alles ganz gleichgültig, ob es so wird oder so. Und manchmal kommen die
kleinen Frostanfälle, von denen ich eben einen hatte, und die mir dann
alles Blut für einen Moment erstarren machen.«

»Aber du solltest doch einen Arzt fragen,« sagte Falkner, besorgt in das
schöne, aber vergeistigt blasse Antlitz seiner Cousine sehend.

»Wozu? Es ist nichts, wird vorübergehen,« entgegnete sie.

In diesem Moment trat Ruß in den Saal.

»Ah, ah! Ein ganzes Convivium hier versammelt?« fragte er überrascht.
»Wenn das Mama gewußt hätte --«

»Wir kommen noch, ihr guten Tag zu sagen,« fiel Falkner ein, »heut' galt
aber Dolores unser Besuch in erster Linie. Doch vor allem ein Wort an
dich: du mußt deinen Einfluß geltend machen, daß Dolores einen Arzt
konsultiert.«

»Ist sie krank -- unsere lebensfrische, starke, gesunde Dolores?« fragte
Doktor Ruß überrascht und wandte sich nach ihr um. Dabei fiel das Licht
so auf sein Gesicht, daß es sich einzig und allein in seinen ungefaßten,
starken Brillengläsern sammelte und diesen das Aussehen von enormen
Augen ohne Lider, Wimpern, Iris und Pupille verlieh, wie wir sie in ihrem
regungslosen Glanze bei Schlangen sehen.

Dolores fuhr vor diesen auf sie gerichteten, durch die Beleuchtung
furchtbaren Augen mit einem leisen Schrei zurück -- ein Beweis für die
Abgespanntheit ihrer Nerven -- und ein Schauer des Entsetzens überrieselte
sie. Aber sie bezwang sich schnell.

»Ich glaube, der Einfluß des Herrn Doktors auf mich wird überschätzt,«
sagte sie kühl und vielleicht schroffer, als sie gewollt. »Lassen wir
also meine kleine Indisposition beiseite, und hören wir lieber, was die
Herrschaften von Monrepos heut' nach dem Falkenhofe geführt hat.«

»Ah -- ich bitte ungebeugte Willenskraft, unbeeinflußte Unabhängigkeit
bei der sogenannten Patientin festzustellen,« rief Doktor Ruß scherzend
und scheinbar unberührt von der unzweideutigen Abweisung.

»=La garde meurt, mais elle ne vomit pas=,« vollendete Lolo mit einem
Kompliment gegen Ruß, welcher, da die anderen lächelten und lachten, es
=nolens volens= mitmachte. »Das ist nämlich Graf Schingas Devise, die er
sich selbst übersetzt hat,« erklärte die junge Frau, »er hat sich im
Lexikon das Wort ›übergeben‹ statt ›ergeben‹ gesucht -- folglich
nicht =La garde ne se rend pas=, sondern =elle ne vomit pas=.«

»Ja, es ist eine böse Sache um Sprachen, die man nicht versteht,« sagte
Falkner amüsiert. »Überhaupt sind die fatalen Fremdwörter eine
böse Klippe für unseren guten Grafen, der neulich in Berlin bei einer
befreundeten Familie den ›Cicero‹ spielen mußte und sie unter anderem
auch in den ›Theologischen‹ Garten führte.«

»Ah,« meinte Keppler, »die Garde des Grafen Schinga erinnert mich an
einen guten Freund, welcher in einer englischen Familie, mit der ich noch
besser befreundet war, gastliche Aufnahme gefunden hatte und sich bei
seiner Heimkehr gedrängt fühlte, den Gastfreunden nochmals dafür zu
danken. Er drockste also einen recht steifen englischen Brief zusammen,
den er sich erst deutsch aufgesetzt hatte, und der mit dem Satze schließen
sollte: Gott bewahre Sie und Ihre liebe Familie. Da fehlte ihm das rechte
Wort für ›bewahren‹ -- und er fand dafür in seinem Lexikon: =to
conserve, to preserve and to pickle=. Die beiden ersten Vokabeln schienen
ihm aber in keiner Weise den Sinn wiederzugeben, und so schrieb er
denn stolz den Schlußsatz nieder: ›=May God pickle you and your dear
family=.‹ -- Ob der Gastfreund von dem Wunsche, nebst den Seinen in Essig
gelegt zu werden, sehr erbaut war, ist zu bezweifeln.«

Die harmlose kleine Geschichte Kepplers fand die nötige Würdigung,
erheiterte die Stimmung merklich und klärte die kleine Wolke, welche die
scharfe Zurückweisung von Doktor Ruß' Einfluß auf und durch Dolores
hervorgerufen hatte, vollkommen.

»Und nun zu des Pudels Kern,« meinte Falkner, indem er sich wieder an
Dolores wandte. »Wir sind gekommen, dich zu bitten, deinen Geburtstag
drüben bei uns in Monrepos zu feiern.«

»Ihren Geburtstag? Wann ist der?« fragte Keppler elektrisiert.

»Morgen,« erwiderte Dolores, und indem sie Falkners zulächelte, setzte
sie hinzu: »Es ist so freundlich von euch, meiner zu gedenken, aber morgen
müßt ihr mit euren Gästen zu mir kommen. Es ist mein erster Geburtstag
als Lehnsherrin, und da muß ich doch allem, was da fleucht und kreucht
im Bereiche des Falkenhofs, ein Fest geben, inklusive meiner Gäste, der
Husaren. Also abgemacht?«

»Abgemacht,« rief Lolo, doch Falkner sagte:

»Schade --! Wir hätten dich gern bei uns gefeiert, doch ich sehe, daß
du Pflichten an diesem Tage zu erfüllen hast.«

Da stieg eine feine Röte in ihre blassen Wangen.

»Es thut mir so leid, daß es nicht dein Geburtstag ist, den die
Falkenhofer feiern sollen,« sagte sie leise mit bittendem Blick, als wäre
es ihre Schuld.

»Ich weiß es und bin überzeugt davon,« erwiderte er freundlich
und heiter, »und,« setzte er, nur für sie hörbar, hinzu: »was an
Bitterkeit je davon bestanden -- es ist bereut und überwunden, und zur
Süßigkeit geworden --«

Da stieg wieder ein feines Rot auf in ihren Wangen -- das zarte, duftige,
hingehauchte Rot der Meeresmuscheln.

»So -- dieses leise Inkarnat der =maiden-blush=-Rose und diesen weichen
Ausdruck in Ihren Augen muß ich festhalten,« sagte Keppler und sah sie
fest an, »beides paßt so trefflich zu der lichten Stimmung des Bildes --
und steht in solch schroffem Gegensatz zur Satanella,« setzte er eifrig
malend hinzu.

Da wurde das Rot auf Dolores' Wangen etwas tiefer, Falkner aber trat neben
Keppler heran und sah seiner Arbeit zu.

»Es ist ein Umschwung, daß Sie, der sonst stets oder mit Vorliebe auf
tief gesättigtem Hintergrund malten, meine Cousine im weißen Kleide an
die weiße Marmorwand stellen,« meinte er.

»Es ist eine Ausnahme, zu welcher der Stoff nicht nur verleitet, sondern
gebieterisch hinweist,« erwiderte der Maler.

»Ich wollte, es wäre morgen mein Geburtstag,« sagte Lolo auf der Estrade
zu Dolores' Füßen hockend.

»Warum? Hast du solche Sehnsucht, älter zu werden?« fragte Ruß.

»Nein, aber man bekommt da immer eine Masse hübscher Sachen geschenkt,«
erklärte die kleine Freifrau ehrlich.

»Ich wüßte nicht, wer mir etwas schenken sollte,« warf Dolores ein.

»Ach du Ärmste,« gähnte Lolo. Sie langweilte sich schon wieder sehr.
Doch plötzlich kam ihr ein Gedanke. »Ich werde dir etwas schenken,«
jubelte sie und begann vor Freude einen Solotanz zu tanzen. »Ich habe ja
eine gottvolle Idee --« --

»Desto besser,« sagte Dolores lächelnd, »ich werde dir auch wieder
etwas schenken.«

Als sie dann nach Hause fuhren, fragte Falkner seine Frau, was sie der
Cousine zu geben gedächte.

»Abwarten!« erwiderte Lolo geheimnisvoll. »Ihr werdet alle Kopf stehen
und ›paff‹ sein.« -- --

Dolores war wirklich, wie der Engländer sagt, »=out of sorts=.« Sie
war nicht gerade krank, aber sie war jenen kalten Schauern ausgesetzt, von
denen der Volksaberglaube sagt: Der Tod lief über mein Grab. Diese Schauer
kehrten so oft nicht wieder, um ernste Krankheitssymptome zu bedeuten, aber
sie fühlte sich matt und müde und apathisch. Statt, wie sie es gewohnt
war, stets beschäftigt zu sein, konnte sie jetzt stundenlang sitzen und
denken. Aber ihre Gedanken wanderten dabei irr hin und her oder verloren
sich in ein Dunkel und in solch' ungemessene Weiten, daß sie ganz
erschöpft von dem Suchen und Halten in eine Lethargie verfiel, welche
nicht abzunehmen schien, sondern sich oft so lange verlängerte, bis Tereza
und Ramo vereint sie aufrüttelten. War sie dann im Gespräch mit anderen,
so ward es besser, doch die Lebhaftigkeit und Schlagfertigkeit von früher
war fort und von ihr gewichen.

»Ich bin zu allem zu faul,« sagte sie oft zur Gräfin Schinga, welche
jetzt öfters kam und ihr Chopin vorspielte.

»Die Dilettantin muß die Meisterin anregen,« pflegte sie zu sagen, wenn
sie sich zum Flügel setzte, aber Dolores hörte sie gern spielen, denn was
ihr an tieferem Studium abging, ersetzten Genie und Instinkt.

Der Geburtstagsmorgen wurde wie alltäglich einer Porträtsitzung gewidmet,
bei welcher Keppler ihr das eigene Porträt, wenn auch noch unvollendet,
als Angebinde überreichte. Sie war überrascht und erfreut und wunderte
sich doch, wie mühsam und farblos der Dank ihr von den Lippen kam. Dann
kamen Herr und Frau Ruß und überreichten eine antike Armspange, welche
sich in ihrem Besitz befand, und Dolores fragte sich, wie es möglich
sei, daß das Grauen, welches sie gestern vor Doktor Ruß infolge einer
optischen Täuschung empfunden hatte, heute wiederkehren konnte bei seiner
wohlgesetzten kleinen Rede.

»Ich muß wirklich krank sein, daß ich so thöricht bin,« dachte sie,
ohne das Furchtgefühl, das sie wieder beschlich, bekämpfen zu können,
und erleichtert atmete sie auf als Engels erschien, gefolgt von Knieper,
welcher zur Feier des Tages ein Halsband von Blumen und einen Strauß am
Schwänzchen trug.

»Na, immer noch nichts gefunden von dem brasilianischen Meuchellumpen?«
fragte der Verwalter in der Thür den öffnenden Ramo.

»Nichts, Herr Engels,« antwortete der Diener.

»Schadet nichts, werden den Galgenstrick schon kriegen,« versicherte der
Frager mit Zuversicht.

»Nur nicht den falschen,« meinte Doktor Ruß mit Hohn.

»Glauben Sie, daß hier so viele herumlungern?« fragte Engels treuherzig,
worauf Doktor Ruß nur mit den Achseln zuckte.

Zur Dinerstunde fanden sich um sechs Uhr abends neben den auf dem Falkenhof
einquartierten Herren noch Graf und Gräfin Schinga ein -- die Herrschaften
von Monrepos kamen mit ihren Gästen erst im letzten Moment und weit hinter
der Zeit. Der Kommandeur des Husarenregiments reichte nach ihrem Eintreffen
Dolores sofort den Arm und führte die in schlichter, aber unendlich
geschmackvoller weißer Wollrobe Gekleidete zur Tafel, welche in der reich
und verschwenderisch im Renaissancestil ausgestatteten Banketthalle des
Falkenhofs gedeckt und mit den Silberschätzen des Hauses geschmückt war.
Als man schon saß, rief Lolo plötzlich aus:

»O, Dolores, ich habe mein Geschenk für dich im Wagen gelassen!«

»Wir können es nach dem Essen ansehen,« nickte Dolores dankend.

»Ja ja! Aber laß es inzwischen holen und ins Haus tragen,« bat die junge
Frau. »Es ist ein vergoldeter Korb -- aber daß niemand ihn öffnet. Hört
ihr?« ermahnte sie die Diener.

»Das ist ja beinahe, als ob Sperlinge darin wären,« schrie Schinga über
den Tisch herüber.

  »Ja, wenn du denkst, du hast'n,
  Da springt er aus dem Kasten,«

erwiderte Lolo übermütig.

Falkner glaubte jetzt zu verstehen, denn seine Frau besaß solche Figuren,
welche eine Feder in die Höhe schnellte, wenn man den Kasten öffnete, in
welchem sie sich befanden.

Eine solch' vergnügte Gesellschaft hatte der Falkenhof seit Jahrzehnten
nicht beherbergt, wie heute, denn die Speisen waren gut und die Weine aus
den tiefen, kühlen Kellern vortrefflich. Außerdem dufteten die Rosen in
den Aufsätzen von Silber und altem Meißner Porzellan, und um die Tafel
saß ein Teil der goldenen Jugend der großen Armee, an ihrer Spitze
aber als Hausfrau und Wirtin Dolores Falkner -- da hätte schon viel dazu
gehört, um die allgemeine frohe Manöverstimmung herabzudrücken.

Die Toaste, welche außerdem noch ausgebracht wurden, trugen durch den
Brauch, allemal dabei auszutrinken, wesentlich zur Erhöhung der rosigen
Stimmung bei. Erst erhob sich der Kommandeur und dankte der Schloßherrin
für die vortreffliche, fast fürstliche Aufnahme seiner selbst und seiner
Offiziere im Falkenhof, deren Jäger immer noch hofften, ihr den lang
umpürschten Steinadler als Geburtstagsgeschenk nachträglich überreichen
zu dürfen. Dann ließ Graf Schinga Dolores als Nachbarin leben in ebenso
kunstlosen wie unverständlichen Redewendungen, worauf Doktor Ruß ein
kleines Meisterwerk von Rede vom Stapel ließ. Zuletzt aber schlug Falkner
an sein Glas, erhob sich, und rief, es hoch empor hebend: »Der Herrin vom
Falkenhof!«

Dolores wußte wohl, was dieser kurze Toast für sie bedeutete --
eine Anerkennung ihrer Rechte, eine Abbitte zugefügten Unrechtes, den
Schlußstein zu der Brücke, welche über den Abgrund führte, der einst
beide getrennt. Beglückt, umbraust von dem dreifachen Hoch ihrer Gäste,
erhob auch sie sich und ließ ihr Glas mit dem Falkners zusammenklingen.

»Hie guet Falkner alleweg!« sagte sie mit dankbarem Herzen.

»Es trafen sich die Gläser und gaben guten Klang,« summte Doktor
Ruß vor sich hin, als die geschliffenen Krystallkelche leise und hell
zusammenstießen.

»Prosit, Dolores,« rief Lolo herüber und streckte die Hand mit dem
gefüllten Glase aus. Die Gerufene dankte lächelnd, berührte leicht
das hingehaltene Glas mit dem ihren und klirr -- -- lagen beide Gläser
zersprungen und zersplittert auf dem weißen Tafeltuch.

»Das haben wir aber geschickt gemacht,« lachte Lolo, während Gräfin
Schinga, welche vielem Aberglauben huldigte, entsetzt die Hände faltete.

»Thut nichts, wir haben mehr von dieser Sorte,« nickte Dolores, welche in
dieser Beziehung keine Vorurteile hatte, aber das brechende Glas hatte ihre
Nerven für einen Moment doch ins Schwanken gebracht.

Nach beendigter Tafel sollte der Aufzug der Dorfbewohner vor der Terrasse
stattfinden, darauf aber ein Feuerwerk abgebrannt werden, das die Beamten
des Lehns ihrer Herrin stifteten. Ehe man aber heraustrat, kam Dolores an
Lolo heran und reichte ihr die Hand.

»Die dummen, zerbrochenen Gläser haben dich doch nicht erschreckt?«
fragte sie. »Das hat ja gar keine Bedeutung.«

»Natürlich nicht,« erwiderte die junge Frau überlegen.

»Nun, es freut mich, daß du den thörichten Köhlerglauben über solche
Dinge nicht teilst,« meinte Dolores. »Ich glaube auch nicht an eine
besondere Bedeutung derartiger Zufälligkeiten. Aber jetzt mußt du mir
dein Geschenk zeigen!«

»Ja, ja, mein Geschenk,« rief Lolo begeistert. »Ich hatte es schon
wieder ganz vergessen -- komm!«

Auf einem Seitentischchen in der großen Halle, welche auf die Terrasse
mündete, hatte man das runde, flache Körbchen von vergoldetem Span
hingestellt, welches Lolo von Monrepos herüber gebracht hatte. Umgeben
von der Schenkerin, Falkner und mehreren Herren, schritt Dolores darauf zu,
öffnete das an der kleinen Haspe hängende Schlößchen, schlug den Deckel
auf und -- fuhr im nämlichen Augenblick mit lautem Schrei zurück, denn
auf dem rosa Atlaspolster ringelte sich ängstlich und wild gemacht eine
jener bräunlichen Nattern, wie unsere Wälder sie oft bergen, und fuhr
zischend auf Dolores los, welche vor Schreck und Entsetzen bewußtlos
zusammenbrach und eben nur noch von Falkner und einem der Offiziere
aufgefangen wurde, während ein anderer schnell entschlossen das
geängstigt auf dem Fußboden sich windende und schlagende Tier mit einem
der zunächst stehenden Säbel tötete. Es war ein ganz harmloses Reptil,
aber es war nicht klein, und wer ein Grauen davor hat, dem verrichtet's
denselben Dienst wie eine Riesenschlange, der man unerwartet gegenüber
steht.

Dolores erholte sich in derselben Minute wieder, in welcher Schreck und
Antipathie sie besinnungslos gemacht, aber sie war totenblaß und ihre
Hände steif und kalt, während schwere, eisige Tropfen auf ihrer Stirn
standen. Man versicherte ihr sofort, daß die Schlange unschädlich gemacht
sei, aber sie brachte dennoch kein Wort über die Lippen und als Lolo sich
ihr, sichtlich betreten über den Erfolg ihres gemachten Spaßes, langsam
näherte, da wandte sie sich ab von ihr.

Mit der ihrem Charakter eigenen Selbstbeherrschung erklärte sie sich im
nämlichen Augenblick bereit, auf der Terrasse zu erscheinen und ließ sich
von Falkner hinausführen.

»Dolores, glaubst du, daß ich in dieses -- dieses Geschenk eingeweiht
war?« fragte er, zu ihr herabgeneigt.

»O nein,« erwiderte sie freundlich.

Und dann nahm sie Platz inmitten ihrer Gäste und der Aufzug der Bauern
mit ihren Frauen und Mädchen in deren malerischer Landestracht begann.
Die Schulzen aus den verschiedenen Dörfern, die zum Falkenhof gehörten,
hielten Reden, die Mädchen brachten Kuchen, Eier, Hühner und Lämmer
als Geschenk und sagten Gedichte auf, und Dolores hatte für jedes einen
herzgewinnenden Dank, ein besonders freundliches Wort. Auf dem Dominialhofe
waren Tafeln gedeckt und dorthin mündete der Zug zum leckeren Mahle von
Schweinebraten, Klößen, Salat, Kuchen und Obst, und die Leute an den
aufgelegten Bierfässern hatten alle Hände voll zu thun, die Gläser zu
füllen, während es am Schulzentische, wo die Gemeindevorsteher saßen,
reichlich Wein gab, welchen Dolores selbst ihren Untergebenen zutrank, um
nach vollendetem Mahle den Tanz auf dem Rasen selbst zu eröffnen und einen
Glücksbeutel herum zu reichen, daraus ein jeder sich eine Nummer ziehen
konnte, welche ihm ein hübsches, praktisches Geschenk aus der bunten
Marktbude am Parkeingang einlöste.

Es war alles so hübsch und sinnig geordnet mit vollstem Verständnis
für Geschmack und Neigung der Landleute, welche bei aller Disciplin freie
Bewegung hatten, daß man rückhaltlos die Begabung der jungen Lehnsherrin
für derartige Feste anerkannte. Und in der That gehört mehr dazu, den
schlichten Landmann zu erfreuen, als Geld und eine offene Hand -- es
gehört ein offenes Herz dazu und liebevolles Eingehen in das, was ihm lieb
ist durch Tradition und eigene Neigung, es gehört dazu eine von Herzen
kommende Freundlichkeit, nicht jene Herablassung, welche auch das
freundlichste Wort hohl klingen läßt und zum Stachel macht. Und wer da
meint, daß ihm durch ein Gespräch mit dem niederen Mann ein Stein aus
der Krone fällt, der kann sich darauf verlassen, daß dieser Stein
sehr schlecht und locker gefaßt war, denn wir können aus dem gesunden,
ursprünglichen Urteil des geringen Mannes oft mehr lernen, als aus
Dutzenden von Büchern. Die Erziehung und die Bildung machen uns ja erst
von dem Volke verschieden, denn der Schneeschipper unten auf der Straße
hat vielleicht genau dieselbe Quantität Gehirn wie du, nur daß es bei dir
geweckt durch den Ruf »Excelsior,« während es bei ihm schlummert, roh
weiter arbeitet oder am Ende ganz einschläft.

Das Volksfest im Falkenhof war also ein solches im besten Sinne des
Wortes, denn Dolores wußte durch ihre Arrangements, die sie mit Engels
ausgearbeitet, ihre Untergebenen zu erheitern und harmlos zu unterhalten,
immer mitten unter ihnen erscheinend und alle Mütter auffordernd, ihre
Kinder morgen nach dem Falkenhof zu bringen zu Spielen und süßen Bissen.

Doch als die Fässer leer waren und die letzte Fiedel verklungen und
die bunten Papierlaternen und Stocklaternen verlöschten, und alles sich
lachend und singend mit donnernden Hochs auf die Lehnsherrin entfernte,
als auch die Nachbarn fort waren und man sich Gute Nacht sagte, da brach
Dolores fast zusammen. Es war zuviel für sie gewesen, die, sonst so stark
und gesund, das Wort »Anstrengung« nicht kannte. Sie erschreckte Tereza
erst durch eine lange Ohnmacht, aus welcher sie total erschöpft erwachte,
um dann in einen ruhelosen, fieberhaften, traumgequälten Schlaf zu
verfallen.

Tereza hatte in ihrer Angst erst Mamsell Köhler herbeigerufen, welche mit
Essigäther, Salmiakgeist und Eau de Cologne hinzueilte und die Bewußtlose
damit zu beleben suchte. Als dies gelungen war und Dolores zu Bett lag,
hatte sich's die Beschließerin aber nicht versagen können, Frau Ruß,
welche noch wach war, von dem Vorkommnis zu unterrichten, worauf Doktor
Ruß nach oben eilte und es von Tereza durchsetzte, an das Bett der Kranken
geführt zu werden. Dort prüfte er den Puls der unruhig Schlafenden,
maß ihre Temperatur durch Einlegen eines Maximalthermometers in die linke
Achselhöhle, was Tereza sehr mißtrauisch beobachtete, und ging dann
wieder herab.

Nach einer Weile erschien er bei seiner Frau, ein Fläschchen mit einer
farblosen Flüssigkeit in der Hand.

»Liebes Weib,« sagte er, »unsere teure Dolores scheint heut' Abend zu
viel gethan und ihre Nerven überspannt zu haben -- hm, hat entschieden
Fieber, wenn auch nicht in hohem Maße. Ich habe ihr hier drei Tropfen
Aconit der dreifach verdünnten Potenz in Wasser zurecht gemacht, und bitte
dich, nach oben zu steigen, den Inhalt des Fläschchens in ein Glas Wasser
zu mischen und dieses der Kranken löffelweise während der Nacht durch
Tereza verabreichen zu lassen.«

Frau Ruß rührte sich nicht.

»Willst du gehen, liebste Adelheid?« fragte der Doktor sanft.

»Nein,« sagte sie laut und hart.

»Nein?« wiederholte er. »Ich habe wohl nicht recht verstanden?«

»Doch,« erwiderte sie kurz.

Da lachte er leise in sich hinein.

»Also immer noch eifersüchtig, Geliebte?« fragte er mit vollem Brustton,
doch sie antwortete nicht.

»Nun, ich kann dich nicht zwingen,« fügte er hinzu. »Du willst also
sicher nicht diese Arznei nach oben tragen?«

Da stand sie plötzlich auf. »Ja,« sagte sie, »gieb her!«

»Ah, das ist vernünftig. Und die Vorschrift des Gebrauchs -- --«

»Ich kenne den ganzen homöopathischen Humbug,« erwiderte sie trocken,
nahm die Flasche aus seiner Hand und ging.

Auf dem zweiten Treppenabsatz nach oben befand sich aus guter alter Zeit
her in die Wand eingelassen ein kupfernes Behältnis für Wasser, das aus
einem Delphinrachen in ein kupfernes Becken in Muschelform rann und
ehedem wohl zum Spülen von Gefäßen bestimmt war, da ein Abzugsrohr das
gebrauchte Wasser nach unten leitete. Vor diesem Becken stand Frau Ruß,
Licht und Flasche in der Hand, unschlüssig still -- es arbeitete seltsam
in den harten Zügen dieser Frau, Haß, Schreck und Entsetzen und etwas
wunderbar Weiches spiegelten sich auf ihrem Antlitz wieder, dann, mit
einer raschen Bewegung setzte sie das Licht nieder, goß den Inhalt des
Fläschchens in das Becken aus, spülte das Fläschchen drei-, viermal
aus und füllte es endlich wieder ganz mit klarem Wasser. So gab sie es an
Tereza ab, die es ihrerseits auch wieder fortgoß, denn sie hielt in ihrem
schlichten Negerverstande den Dilettantismus in der Homöopathie mit so
vielen anderen für einen Unsinn ohne Ziel und Zweck.

Dolores aber befand sich am nächsten Morgen auch ohne die drei Tropfen
Aconit des Herrn Doktor recht wohl und fühlte sich verhältnismäßig
frisch.

       *       *       *       *       *

Falkner hatte seiner Frau gegenüber kein Wort verloren über das
Geschenk der Schlange an Dolores. Zwar, was er im Innersten empört eine
unglaubliche Herzensroheit nannte, war ja kaum mehr als ein Kinderstreich,
dessen Tragweite nach keiner Seite hin bemessen oder erwogen war, aber
der Vorgang hatte so auf ihn gewirkt, daß er sich bei einer Vorstellung
darüber nicht die nötige Ruhe zutraute, mit welcher er Lolo zu
überzeugen hatte. Darum schwieg er vorläufig ganz -- vielleicht, daß die
junge Frau dadurch eher zur Überlegung gelangte, obgleich er das kaum zu
hoffen wagte. Seine Taktik, obwohl er es kaum so nennen konnte, was ihm
Schweigen auferlegte -- seine Taktik erwies sich aber als von Erfolg, denn
Lolo, welche nach dem gehabten Effekt ihrer »gloriosen Idee« heftige und
wohlverdiente Vorwürfe fürchtete, war über das Ausbleiben derselben
erst erleichtert, dann erstaunt und zuletzt beunruhigt, denn sie sah und
erkannte wohl aus dem Benehmen ihres Gatten, daß dieser Streich seinem
Vertrauen zu ihr einen heftigen Stoß versetzt hatte. Und sie, die sich
zuerst mit dem nötigen Trotz gewappnet hatte, um seinen Vorwürfen keck
entgegenzutreten, sie fühlte ihn in einem gewissen Unbehagen schwinden und
schmelzen, und dieses Unbehagen wurde allgemach zur Angst, die Angst zum
Herzklopfen. Am Abend nach dem Fest im Falkenhofe aber hielt sie's nicht
länger aus, und sie suchte ihren Gatten in dessen Zimmer auf.

»'n Abend, Alfred,« sagte sie, scheinbar harmlos eintretend.

»Guten Abend, Lolo. Willst du etwas von mir?« kam es kalt und erstaunt
zurück.

»Nein,« erwiderte sie gedehnt, denn sie hatte ganz vergessen, sich für
ihr ungewohntes Erscheinen einen Vorwand auszudenken. Zugleich aber faßte
sie einen herzhaften Entschluß. »Ja,« setzte sie kühn hinzu, »ich
wollte dich fragen, ob du böse auf mich bist. Du hast seit gestern kaum
ein Wort mehr mit mir gesprochen!«

»Hast du das vermißt?« fragte er nicht ohne Bitterkeit und legte das
Buch fort, in dem er gelesen hatte.

»Es scheint beinahe so,« murmelte sie.

»Ja, wirklich, Lolo? O, dann brauche ich noch nicht alles für verloren zu
halten,« sagte Falkner herzlich -- er war entwaffnet, und es hätte in
der That schon sehr schlimm stehen müssen mit beiden, wäre er's nicht
gewesen. Und nun stellte er ihr vor, welche Menschen- und Tierquälerei der
»kapitale Spaß« gewesen, den sie gestern mit der Schlange bei Dolores
ausgeübt. Sie hörte es ganz ernsthaft mit an, aber es überzeugte sie
nicht ganz.

»Aber Lolo, denke nur, welche Furcht du vor Mäusen hast,« suchte Falkner
dieser Lücke nachzuhelfen. »Was würdest du sagen, wenn Dolores dir zum
Geburtstag Mäuse in einem Körbchen schenken wollte, um dich mit deiner
Idiosynkrasie zu necken!«

»Ich kriegte die Krämpfe und kratzte ihr dann die Augen aus,« rief Lolo
mit blitzenden Augen bei dem bloßen Gedanken.

»Nun also! Und du kaufst einem Waldhüter diese von ihm gefangene extra
große Natter ab und bescherst sie der armen Dolores. Du hast den Effekt
gesehen und kannst sehr froh sein, daß der furchtbare Schreck sie nicht
auf dem Fleck tötete -- als Geburtstagsgeschenk!«

»Hältst du das für möglich?« fragte sie mit großen Augen und
gedämpfter Stimme wie ein Kind im Finstern.

»Gewiß,« sagte Falkner. Er war dessen zwar nicht ganz sicher, hielt aber
starke Farben in diesem Falle für die einzig richtige Kur.

»Nun also, dann sei nicht mehr böse, Alfred,« bat sie kleinlaut. »Ich
werde Dolores nie wieder eine Schlange schenken.«

Jetzt mußte er sich abwenden, ein Lächeln zu verbergen.

»Damit ist es aber noch nicht gut gemacht, Lolo,« sagte er dann. »Du
wirst Dolores wohl ein Wort der Entschuldigung sagen müssen!«

Da stieg der jungen Frau das Blut ins Gesicht.

»Nein,« rief sie, sich emporbäumend, »nein, niemals. Ich werde mich vor
ihr nicht demütigen.«

»Du mußt es nicht so auffassen, Lolo,« suchte er sie zu überzeugen.
»Du hast es ja so leicht, da du Böses nicht beabsichtigt, sondern nur im
Leichtsinn und unüberlegt gehandelt hast.«

»Ich thue es nicht,« sagte sie trotzig.

»Und Dolores wird dir mehr als auf halbem Wege entgegenkommen,« fuhr er
fort.

»Woher weißt du das?« fragte sie scharf, mißtrauisch.

»Weil ich es von Dolores nicht anders erwarte,« erwiderte er ruhig.

»Nein, diese hohe Meinung, die du von ihr hast!« rief sie nervös und
voll Hohn.

»Ich hoffe, sie hat die gleiche von mir, Lolo!«

»O, zweifellos. Aber ich sage _nicht_ ›Peccavi‹ vor ihr.«

Falkner zuckte mit den Achseln.

»Wie du willst -- ich kann dich dazu nicht zwingen, sondern dir nur
raten.«

»Es liegt mir gar nichts an ihrer guten Meinung über mich,« behauptete
die junge Frau bebend, und als Falkner darauf nichts erwiderte, brach sie
in Thränen aus. »Du weißt doch, daß ich eifersüchtig auf sie bin.«

»Du solltest aber auch wissen, daß ich nicht der Mann bin, den dir am
Altar geleisteten Eid zu brechen,« erwiderte er ernst.

»Es haben ihn aber schon viele gebrochen,« warf sie ein.

»Dann war's ein Meineid wie jeder andere,« entgegnete er. »Oder
hältst du einen Gott geleisteten Eid für geringer, als einen solchen vor
Gericht?«

»Ich weiß nicht,« erwiderte sie verwirrt. »Das ist zu hoch für mich.
Aber Dolores Abbitte leisten -- -- niemals!« setzte sie eigensinnig
hinzu.

»Warum hast du denn diese Unterredung gesucht, wenn du das Begangene nicht
gut machen willst?«

»Weil mir an deiner Meinung etwas liegt -- an der von Dolores nichts.«

»Es gehört aber zu meiner guten Meinung, daß man seine Schuld durch ein
freies, ehrliches, offenes Wort bekennt und wieder gut macht. Was nützt
mir alles Trotzen und Debattieren, wenn man _dazu_ den Mut nicht hat?«
fragte Falkner sehr bestimmt.

Doch es war nichts auszurichten -- sie blieb eigensinnig bei ihrer
Weigerung, trotzdem sie sah, daß es ihn verstimmte und abstieß.
Infolgedessen entschloß er sich, dem Falkenhofe fern zu bleiben, machte
aber Lolo, um es ihr ganz leicht zu machen, den Vorschlag, eine Zeile an
Dolores zu schreiben.

»Die Tochter des Herzogs von Nordland entschuldigt sich nicht bei ihres
Vaters Unterthanen,« brauste die »Durchlaucht« in der jungen Frau auf.

»Dann mußte die Tochter des Herzogs von Nordland auch keinen seiner
Unterthanen heiraten,« gab Falkner gereizt zurück, und wünschte
trotz aller guten Vorsätze und blindestem Pflichtgefühl, zum erstenmal
unverhohlen vor sich selbst, daß es in der That so gewesen wäre. Er hielt
unter diesen Umständen eine Annäherung an Dolores für die Zukunft für
ausgeschlossen, und da es ihm nicht einfallen konnte, vor der Welt mit
seiner Frau zu brechen, so mußte er dem Falkenhofe gleichfalls fern
bleiben. Er schrieb deshalb an Dolores, zerriß den Brief aber in mehreren
Concepten, denn es hatte sich zwischen die Zeilen desselben jedesmal ein
warmer Ton geschlichen, den er vermeiden wollte, weil er vor dem strengen
Richterstuhl seines Gewissens nicht bestehen konnte. Er hielt daher Keppler
an, ehe dieser zur Sitzung nach dem Falkenhofe hinüberging, teilte ihm das
Notwendigste mit, nämlich, daß seine Frau ihren unpassenden Scherz
nicht als solchen einsehen wollte und er infolgedessen den Falkenhof
nicht besuchen könnte, da er sich von seiner Frau nicht trennen wolle und
dürfe. Er bat Keppler, Dolores dies zu sagen mit seinem tiefsten Bedauern,
diese Maßnahmen ergreifen zu müssen.

»Schreiben Sie das lieber, Falkner,« meinte Keppler.

»Nein. Es ist besser so,« entgegnete er, und Keppler ging, aber der
Auftrag war ihm peinlich, und er entledigte sich seiner auch erst gegen das
Ende der Sitzung. Der Ausdruck von Schmerz und Qual in dem schönen Antlitz
der Lehnsherrin, der seiner Mitteilung folgte, erschreckte ihn tief, aber
er sagte nichts, da auch sie nichts erwiderte. Doch als die Sitzung schloß
und sie die Estrade verließ, sagte sie:

»Wenn Sie einen Augenblick warten wollen, Herr Professor, bis ich mich
umgekleidet habe, so will ich Sie nach Monrepos begleiten.«

»Sie wollen nach Monrepos -- Sie?« fragte er erstaunt.

»Ja,« erwiderte sie fest. »Soll ich die Eris sein, welche den Zankapfel
wirft in diese Ehe? Da sei Gott vor, und wenn ich einen Bruch da drüben
verhüten kann und ich thäte es nicht -- wie könnt' ich das im Jenseits
verantworten?«

»Es wird nicht jeder so groß denken,« sagte Keppler bewegt.

»Ich sehe nichts Großes darin, nur das rein Menschliche.« Sie nickte
müde, und rauschte in ihrer goldgestickten Schleppe hinaus, die Kleider
zu wechseln, während er noch an der Stickerei und den Spitzen auf dem
Gemälde weiterarbeitete. Als er dann die Palette beiseite legte und
hinunterging, fand er Dolores schon wartend, und schweigend schritten
sie über das Bowling-green nach der Allee, welche nach Monrepos führte.
Endlich brach Keppler das Schweigen.

»Ich habe noch gar nicht einmal gefragt, wie Sie sich heut' fühlen.«

»Besser und weniger matt,« erwiderte Dolores in Gedanken.

Da blieb Keppler stehen.

»Hätte ich doch das Recht, ein offenes Wort mit Ihnen zu sprechen,« rief
er, sichtlich erregt.

»Das Recht gebe ich meinen Freunden gern,« sagte sie erstaunt, aber
freundlich.

»Wirklich? O, dann lassen Sie mich kraft dessen eine Bitte wagen: kehren
Sie um! Thuen Sie nicht diesen Gang nach Monrepos.«

»Warum?«

»Weil -- weil -- -- kurz, dieser Gang hat seine Gefahren,« erwiderte er
mit sichtlichem Kampfe.

»Ja --

  Sehr gefährlich ist der Aufenthalt
  So allein im dunkeln Pinienwald

singt die Gräfin in Gasparone,« scherzte Dolores. »Aber ich fürchte
mich nicht,« schloß sie lächelnd.

»Dolores, es ist mir heiliger Ernst,« sagte Keppler. »Hören Sie mich
an, ja?«

»Sprechen Sie.«

»Nun dann -- nochmals, kehren Sie um; lassen Sie das Verhältnis mit
Monrepos auf diesem Fuße stehen, den Falkner einnimmt -- seine thörichte,
eigenwillige Frau thut Ihnen und ihm den größten Dienst damit!«

»Das verstehe ich nicht,« sagte Dolores kühl und verwundert.

»Dolores, Sie _müssen_ mich verstehen,« rief er beschwörend.

»Nein,« wiederholte sie kurz und kühl.

Da rang er mit sich einen kurzen Augenblick.

»Dolores,« sagte er dann leise und schnell, »ich weiß, wie es mit Ihnen
und Falkner steht -- er hat sich bei der Scene mit der Schlange unbewußt
verraten -- Sie schon früher. Ich habe alles gesehen. --« --

»Sie haben Gespenster gesehen, Herr Professor Keppler und überschreiten
das Ihnen erteilte Recht eines offenen Wortes in unverantwortlicher
Weise,« unterbrach sie ihn, blaß bis an die Lippen, aber fest, kalt und
hochmütig, doch in ihrem Herzen rang der Schrei sich los: »Um Gott, ist
es so weit gekommen, daß das Tote wieder erwacht und sich aus mir verrät?
Und aus ihm?«

Und wie der echte, rechte Mut zu wachsen pflegt im Augenblick der Gefahr,
wie Heldenherzen lieber gegen sich selbst den Stoß richten, ehe sie
wanken und irren, so fand auch Dolores in diesem Moment den Mut der
Selbstentäußerung, denn ehe Keppler noch etwas erwidern konnte, fuhr sie
schon fort:

»Und dies Überschreiten Ihrer Rechte zwingt mich, Ihnen ein Geheimnis
preiszugeben, dessen Wahrung ich Ihrer Ehre anvertraue -- ich werde mich
mit dem Erbprinzen von Nordland vermählen!«

Wieder blieb Keppler stehen -- vernichtet, betäubt.

»Die morganatische Gemahlin eines regierenden Duodezfürsten -- dazu sind
Sie zu schade!« brach er dann los.

»Die Beurteilung dieses Schrittes bitte ich mir zu überlassen,«
erwiderte sie heftig, sprühenden Blickes.

Da schwieg er, und sie gingen weiter, doch ehe sie bis dicht an das Gitter
von Monrepos kamen, da reichte er ihr bittenden Blickes die Hand.

»Es war gut gemeint, verzeihen Sie.«

»Gern,« erwiderte sie tonlos.

»Ich habe Sie und meinen Freund Falkner auch mit keinem Hauch
eines Verdachtes gekränkt,« fuhr er fort, »und warnen kann nicht
beleidigen --« --

»Gewiß nicht. Aber ich vertraue darauf, daß ich den Warner in der
eigenen Brust trage,« unterbrach sie ihn stolz.

Da lächelte er trübe.

»Das Herz ist oft stärker und siegt,« war seine Antwort.

Doch sie waren bei Monrepos angelangt und das Gespräch damit zu Ende.
Dolores sah zu ihrer Freude, daß Falkner und Lolo allein an einer
Blumenrabatte standen und wohl ihre Gäste zum Lunch erwarteten. Und
während Keppler sich zurückzog, trat sie schnell auf die Überraschten
zu.

»Liebe Lolo,« sagte sie herzlich, aber auf den Wangen noch die Blässe
der Erregung, »liebe Lolo, ich komme dir zu sagen, daß ich neulich
nach meinem thörichten Schreck über die Schlange, recht abweisend und
unhöflich zu dir war, die als Gast bei mir weilte. Das thut mir herzlich
leid, denn ich bin überzeugt, daß du dir nur einen Scherz machen
wolltest, weil du nicht wußtest, wie weit meine Antipathie gegen diese
Tiere geht. Sei mir also nicht böse, und du auch nicht, Cousin Alfred!«

»Siehst du nun, wer unrecht hatte?« rief die junge Frau triumphierend.
»Und da sollte ich mich vor ihr demütigen, die jetzt zu mir kommt? Haha,
ich werde deiner Abgötterei, die du mit Dolores treibst, keinen Weihrauch
mehr liefern!«

»Eleonore!« rief Falkner erschrocken, aber Dolores, welche auf diese
Wendung freilich nicht gefaßt war, mußte unwillkürlich lachen.

»Bravo, Lolo,« rief sie gutmütig, »da hast du aber recht, denn
Weihrauch macht mir stets Kopfschmerzen.«

»Und ich muß davon niesen,« gestand Lolo, deren momentane Empörung
gegen die eingebildete Ungerechtigkeit ihres Gatten der rosigsten Laune
wich, weil ihr von der Seite recht gegeben wurde, auf der Falkner ihr das
Unrecht gezeigt.

In diesem Augenblicke erschienen auf der Veranda die auf Monrepos
einquartierten Offiziere, und die junge Frau ging ihnen strahlend heiter
entgegen. Nach der gegenseitigen Begrüßung erklärte Dolores indes nach
Hause gehen zu müssen, und Falkner begleitete sie bis an das Thor.

»Das war ein Schritt von dir, Dolores, welcher dir alle Ehre macht, eine
große Selbstverleugnung, deren Motive ich zu erraten glaube,« sagte er
beim Abschied, »aber du hast gesehen, wie Lolo es aufgefaßt hat. Das
verzogene Kind wird dadurch von dem eigenen Unrecht nicht überzeugt --«

»Das hab' ich auch nicht gewollt,« unterbrach sie ihn. »Ich war
ihr diese Rechtfertigung schuldig, denn ich habe sie als meinen Gast
verletzt!«

»O, wäre sie nur halb so wie du,« murmelte er, doch sie war davon
geeilt, ehe er den Satz vollendet hatte.

Im Parke hielt sie ein im schnellen Gehen -- die erregten und
aufgestachelten Nerven ließen nach, und die alte, rätselhafte Schwäche,
Müdigkeit und Apathie kam wieder, unterbrochen von Momenten bittersten
Wehs und heftiger Anklagen gegen Keppler. Was hatte dieser Mann davon,
den Schleier von ihrem Herzen zu ziehen und ihr armes, unseliges Geheimnis
bloß zu legen? Welches Recht hatte er, ihr die Harmlosigkeit Falkner
gegenüber zu rauben, ihr den Glauben zu nehmen, daß sie überwunden
hatte?

Todesmatt, fiebernd und elend im Herzensgrunde kam sie in den Falkenhof
zurück und setzte sich gleich an den Schreibtisch, den Brief an den
Erbprinzen zu schreiben, der ihm ihr Jawort bringen sollte. Aber ihr Kopf
schmerzte sie, und die Gedanken verwirrten sich, daß sie abstehen mußte
davon und sich zur Ruhe legen.

Ein kurzer, aber erquickender Schlaf that ihr unendlich wohl, doch ließ
sie sich am Mittagstisch entschuldigen und Frau Ruß bitten, ihren Platz an
der Spitze desselben zu vertreten.

Erst gegen Abend ging sie wieder hinaus und stattete Engels einen Besuch
ab, fand ihn aber nicht vor.

»Herr Engels ist mit den Herren Offizieren zum Pürschen gefahren,« hieß
es.

Da ging Dolores durch den Park zurück, brach unterwegs ein paar Rosen und
ging dann nach der Terrasse, auf der Ramo eben den Theetisch ordnete und
Herr und Frau Ruß schon wie gewöhnlich saßen.

»Nun, geht es besser, liebe Dolores?« fragte Doktor Ruß, ihr entgegen
kommend.

»Danke, ja,« erwiderte sie. »Ich freue mich jetzt auf eine Tasse Thee!«

Und damit übernahm sie die Bereitung des belebenden, durstlöschenden
Trankes, während Doktor Ruß seine Bücher ins Haus zurücktrug und sich
seine Cigarrentasche mitbrachte.

»Unsere Herren Husaren sind alle auf der Jagd,« berichtete er, Platz
nehmend. »Es wurde heut' bei Tisch viel Jägerlatein gesprochen, und
definitiv die Hoffnung aufgegeben, den Steinadler zu erlegen, trotzdem er
noch im Falkenhofer Revier gesehen worden sein soll.«

»Wirklich? Wer weiß!« sagte Dolores, den Theeextrakt in die Tassen
gießend und aus dem Samowar mit kochendem Wasser auffüllend. Und dabei
hatte sie ein eigentümlich schwankendes Gefühl und den Gedanken: das hab'
ich schon erlebt -- hier den Theetisch, dort das Abendbrot und jetzt werden
sie den Adler bringen -- --

Man nennt es Hallucinationen, dieses Erinnern an eine Vergangenheit, welche
uns unbekannt ist, weil sie vielleicht nur im Lande des Traumes liegt --
oder diesen Blick in die Zukunft. Man hat noch nicht entdeckt, was die
richtige Bezeichnung ist für diesen Zustand, in welchem man das Gefühl
hat, als wäre man ganz anderswo, als berührten unsere Füße den Boden
nicht. Und verwandt, eng verschwistert damit ist jenes seltsame Gefühl,
das man manchmal beim Betreten fremder Häuser, beim Anblick uns bis dahin
unbekannter Gegenden hat --: das kennst du schon, hier bist du schon
einmal gewesen -- --

Wann?

Vielleicht im Traum, wo die Seele unbeherrscht von der physischen
Willenskraft umherschweift. Aber wer kann dieses Rätsel lösen, wer
eindringen in diese Mysterien? Wir haben nur ein »Vielleicht« für
dies alles, und dieses »Vielleicht« hat Freidenker zur Irrlehre der
Seelenwanderung geführt, trotzdem wir aus dem Evangelium wissen, daß wir
nach dem Tode zwar weiter leben, aber nicht im Fleische, sondern im Geiste,
daß also diese Hallucinationen, wie die Wissenschaft dies Erinnern und
Hellsehen bezeichnet, keine Erinnerungen sind aus einem früheren Leben
in anderer Gestalt. So schnell wie diese seltsamen Blitze durch die Seele
fliegen, so schnell verschwinden sie auch, aber dennoch überschauerte
es Dolores ganz eigen, als eben, wie sie ihre Tasse an die Lippen setzte,
Engels, gefolgt von zwei Forstgehilfen, die eine seltsame Last trugen, um
die Turmecke rechts von der Terrasse bog. Schon von weitem zog er den Hut
und schwenkte ihn hoch in der Luft.

»Seltene Beute,« rief er laut herüber, »wir haben ihn, den König der
Lüfte!« --

Und in der That brachten sie den gewaltigen Vogel herauf und legten ihn mit
ausgebreitetem Flug auf den Steinestrich der Terrasse.

»Drei Schüsse haben ihn gefehlt, der meinige ihn getroffen,« berichtete
Engels ganz stolz und mit leuchtenden Augen. »Die Herren Offiziere wollten
ihn zu Ihren Füßen legen, Fräulein Dolores, und nun wird mir diese
Freude und Ehre.« --

Gerührt reichte Dolores dem Getreuen die Hand, die er mit abgezogenem Hut
ehrfurchtsvoll an die Lippen führte.

»Wir lassen ihn ausstopfen, und dann soll er einen Ehrenplatz bekommen in
meinem Zimmer,« sagte sie erfreut.

»Welche enorme Flügelspannung,« bewunderte Doktor Ruß. »Ich möchte
wohl seine Weite kennen!« --

»Dort ist ein Maß in meinem Arbeitskorb,« sagte Frau Ruß und wollte
es holen, doch ehe sie über den Vogel weg zurück an den Tisch gelangen
konnte, war er schon dort und suchte in dem Korbe, den Rücken den anderen
zugekehrt -- --

Plötzlich erhielt Dolores einen Stoß, der sie, die neben dem Adler auf
dem Boden kniete, fast umgeworfen hätte. Es war Frau Ruß, die an sie
gestoßen hatte, und sich jetzt, ganz rot im Gesicht, wieder aufrichtete.

»Verzeih',« murmelte sie, »ich wollte nur auch den Adler sehen --«

Doch ehe Dolores sich über das eigentümliche Gebaren der Tante wundern
konnte, war Doktor Ruß mit dem Maße neben ihr und begann mit Hilfe der
anderen die Breite des Fluges zu messen.

»Eins -- zwei -- zwei Meter sieben Centimeter,« meldete er, sich
aufrichtend, und wischte sich von der Anstrengung dicke Schweißtropfen von
der Stirn, so daß Engels noch gutmütig neckend sagte:

»Na, Doktor, Sie müssen auch mal wieder in Training, sonst werden Sie
bald ein richtiger Apoplektiker. Donnerwetter, schwitzt der Mann von dem
bißchen Bücken!« --

Doktor Ruß lachte etwas nervös zu der medizinischen Meinung des »lieben
Engels.«

»Ja ja, uns alten Herren wird der Training nur etwas sauer, wenn wir
heraus sind,« meinte er.

»Nun aber eine Tasse Thee mit _viel_ Rum, lieber Engels,« rief Dolores,
und nachdem die Forstgehilfen gegangen waren, setzte man sich wieder an den
gemütlichen runden Tisch. Engels hatte bald seine Tasse vor sich stehen,
deren Inhalt den euphemistischen Namen »Thee« führte, in der That aber
ein ehrlicher, steifer Grog war, dessen weniges Wasser eine Theekanne
passiert hatte.

Als nun Dolores dem glücklichen und von den andern Jägern sicher sehr
beneideten Schützen des Adlers auch noch eine Schüssel voll zierlich
belegter Sandwiches zugeschoben hatte, nahm sie selbst endlich ihre Tasse
und führte sie zum Munde, und als sie dabei aufsah, nahm sie wahr, wie
Frau Ruß ihre Augen auf sie geheftet hatte, starr, unbeweglich, mit einem
seltsamen Ausdruck darin von Angst, Drohung, Haß, Neugier -- --

Wie gebannt begegnete Dolores diesem Blicke, der so steinern und doch so
ausdrucksvoll war, der ohne die Wimpern zu zucken nach ihr hinübersah --
und da beschlich sie vor diesem Blicke ein solch' furchtbares Grauen,
eine solch' entsetzliche Angst, die sie sich selbst nicht hätte erklären
können, daß etwas von dem Gefühl eines zu Tode gehetzten Wildes über
sie kam und sie fort wollte, fort, und doch nicht konnte, gefesselt von
diesen kalten, hellen Augen, welche sie unverwandt ansahen -- --

Da fiel die nur halb geleerte Tasse klirrend aus ihren Händen hinab auf
die Steinfließe der Terrasse, und dieses Geräusch erlöste sie aus einem,
wie ihr deuchte, endlosen, in der That aber nur Sekunden währenden Bann,
sie stieß einen halberstickten, halbgelähmten Schrei aus, taumelte ein
paar Schritte weiter und fiel bewußtlos über den mächtigen Körper des
toten Adlers zu Boden -- -- -- -- --

Als sie die Augen wieder aufschlug, lag sie auf ihrem Bett, neben welchem
Tereza und Frau Ruß standen -- --

»Fort!« rief sie letzterer in höchster Angst zu, »fort -- fort -- um
Gottes willen -- ich fürchte mich vor dir --« --

Da zuckte es über das kalte, ausdruckslose Gesicht der großen Frau wie
Wetterleuchten, aber sie wandte sich sofort ab und ging hinaus. Draußen im
Korridor aber stand sie still, schlug beide Hände vor ihr blasses Gesicht
und schluchzte, thränenlos, und mußte, um sich fassen und mit ihrem
gewöhnlichen Ausdruck unten erscheinen zu können, lange stehen, ehe sie
wieder hinabstieg und von ihrem Gatten mit einem teilnahmsvollen: »Nun,
wie steht es oben?« empfangen wurde.

Indes fuhr Engels mit den schnellsten Pferden nach der Stadt, um dort für
Dolores einen Arzt zu holen, welcher nach der unvollkommenen Beschreibung
des Zustandes seiner Patientin auf eine schwere Nervenerschütterung
schloß und sich mit einigen beruhigenden Präparaten versah. -- Auf dem
Rückwege von der Stadt begegnete er Falkner zu Pferde, und dieser war
sehr erschrocken über die schlechten Nachrichten von Dolores und ritt nun
sofort mit nach dem Falkenhofe. Doch war das, was er von Doktor Ruß über
den Fall hörte, wenig genug, aber im ganzen beruhigend und überzeugend.
-- »Die Nerven sind es, die Nerven!« meinte er. »Entsinne dich,
wie gesund sie war, als sie die Musik eine Zeitlang ganz ruhen ließ.
Plötzlich aber warf sie sich mit nervöser Hast auf das, was ja
entschieden ihr Beruf ist, was ihren Neigungen entspricht, spielte
stundenlang, sang und komponierte, bis ihre Nerven dem Reize nachgaben. Sie
kann froh sein, wenn sie einem Nervenfieber entgeht, was ich aber glaube,
wenn sie die richtigen Arzneien bekommt: Schlaf und Ruhe.«

Der Ausspruch des Arztes, den Falkner erwartete, lautete ähnlich. Er
hatte ihr ein neu erfundenes, auf die Nerven wunderbar beruhigend wirkendes
Präparat eingegeben und verschrieb nun noch ein Präservativ gegen erneute
»Anfälle,« denen er aber etwas für ihn noch Unerklärliches nicht
absprach.

Dolores verbrachte, dank dem Schlafmittel, eine ruhige, ungestörte Nacht,
in welcher ihr unaufhörlich träumte, daß die Ahnfrau Dolorosa blaß und
traurig vor ihr stände und sie beschwor, ihren Sieg über den Bösen nicht
halb sein zu lassen, sondern zu vervollständigen, damit sie Erlösung
fände.

Dieser Traum und die wiederholten Worte standen so klar und deutlich
vor ihr, als sie erwachte, daß sie darüber nachdenken mußte. Diesen
häufigen Träumen, in welchen eine Warnung vor »dem Bösen,« vor einer
vagen Gefahr, immer wiederkehrten, seit sie im Falkenhofe war, fing sie an
die Schuld an ihren herabgestimmten Nerven beizumessen, denn seit sie von
Nordland zurück war, war kaum eine Nacht vergangen, die ihr nicht einen
Traum gebracht, in welchem die Ahnfrau und deren Warnungen eine Rolle
spielten. Freilich, der Schuß durch den spanischen Brief und der trotz
aller Gegenvorstellungen nicht eingeschlafene Verdacht, daß ihr Sturz ins
Hexenloch kein zufälliger gewesen, waren ja schließlich genug, um
die unablässigen aufregenden Träume von nahen Gefahren für die zu
rechtfertigen, welche an eine Einwirkung auf die Seele im Traume glauben,
aber Dolores hatte sie eigentlich immer vergessen, wenn das Sonnenlicht kam
und die klaren Gedanken ihres klaren Kopfes warm durchleuchtete. -- Und
wie sie nach dieser letzten Nacht erwachte und wieder die Erinnerung an
den Traum derselben die Klarlegung der Vorgänge des vergangenen Tages
verdrängten, der ihr eine so starke seelische Erregung gebracht, da
überkam sie _ein_ Wunsch, _ein_ Gedanke --: »Fort von hier!« Und dieser
Wunsch wurde so stark in ihr, daß er sie förmlich kräftigte und sie
trotz der Gegenvorstellungen Terezas aufstand und sich in einen weichen,
weißwollenen Schlafrock gehüllt auf dem Balkon ihres Salons das
Frühstück servieren ließ. Dort sah sie der unten promenierende Doktor
Ruß, fragte an, ob er störe und ließ sich auf die verneinte Antwort
bald darauf ihr gegenüber nieder, ein wohlverbundenes und etikettiertes
Fläschchen in der Hand, dessen wasserheller Inhalt ganz unschuldig aussah.

»Es freut mich unendlich, Sie wieder wohlauf zu sehen, teure Dolores,«
sagte er mit dem tiefen, leisen Wohlklange seines Organs. »Aber,« fügte
er, das Fläschchen schüttelnd, hinzu, »aber Sie müssen auch ›brav‹
sein und dies Tränkchen nehmen, das Doktor Müller für Sie verschrieb,
und das ich selbst gestern Abend noch aus der Apotheke für Sie holte.«

Dolores versicherte, daß sie Arznei im ganzen ohne Schwierigkeiten nähme,
sofern dieselben nicht bestimmte, ihr widerwärtige Mixturen enthielten,
und schluckte darauf zum Beweise sofort einen Theelöffel voll, den Doktor
Ruß ihr füllte.

»Schmeckt es schlecht?« fragte er lächelnd, als Dolores den Mund etwas
verzog.

»Schlecht ist zuviel,« meinte sie, »aber es ist ein merkwürdiger
Geschmack, ich weiß nicht wonach -- ein Geschmack, der mich verfolgt, denn
ich habe ihn schon in gewöhnlichen Speisen und Getränken verspürt.«

»Einbildung, pure Einbildung, liebe Dolores,« sagte Doktor Ruß. »Aber
es ist ein Beweis krankhaften Zustandes.«

»Freilich wohl! Denn woher schmeckten mir sonst verschiedene Dinge ganz
gleich?«

Sie spielte eine Weile sinnend mit der Etikette des Fläschchens, welche
»zweistündlich einen Theelöffel« vorschrieb und begegnete, aufsehend,
dem auf sie gerichteten Blicke des Doktor Ruß. Nervös erregt, wie sie
war, machte selbst dieser Blick sie erschauern, doch sie bekämpfte schnell
ihr Unbehagen.

»Lieber Doktor,« sagte sie dann nicht ohne eine gewisse Verlegenheit,
»nicht wahr, Sie sind nicht böse, wenn ich Sie und die Tante für den
Monat, den ich noch hier bleiben wollte, auslade. Ich _muß_ aber fort,
sonst geht meine Gesundheit ganz zu Grunde. Ich denke, die See soll mir
jetzt noch gut thun. Dafür aber besuchen Sie mich nächsten Sommer wieder
hier recht lange, nicht wahr?«

»Natürlich, natürlich, liebe Dolores! Bedarf es zwischen uns der
Formalitäten? Sicherlich doch nicht!« erwiderte Ruß hastig und lauter
als gewöhnlich. »Und wann wollen Sie fort?« setzte er gespannt hinzu.

»Sobald die Einquartierung fort ist -- also genau in einer Woche. Es wird
mir schwer genug, auch diese noch hier zu bleiben, denn ich fühle, daß
ich einer Reparatur meiner Nerven dringend bedarf.«

»Sicherlich,« stimmte Doktor Ruß zu. »Aber ein Wort noch, liebe
Dolores, in dieser Sache. Sie können nicht allein reisen, nicht allein im
Seebade bleiben -- die Welt urteilt so leicht -- und --«

»O nein, ich weiß, daß man den ›bösen Zungen‹ Konzessionen machen
muß,« fiel sie ein, »obgleich ich gestehe, daß ich dieselben stets
hart meinem Stolze und meinem reinen Bewußtsein abringen muß. Tereza ist
unterwegs genug für mich, Ramo nicht zu vergessen, und im Seebade werden
Balthasars mich bevatern und bemuttern.«

»Ah? Und dann?«

»Dann gehe ich auf vier Wochen zu der Großherzogin auf deren Lustschloß
an der See -- wir haben das schon abgemacht. Den Winter aber verlebe ich
mit dem alten Freunde meines Vaters und dessen Gattin in Italien.«

»Also alles =fait accompli=?«

»Alles. Nicht wahr, Sie sind nicht böse, daß ich Sie für diesen
folgenden Monat aus-, und daher zum nächsten Sommer einlade. Aber
wäre ich nicht so ›Halali,‹ wie Engels es bezeichnet, so wäre ich
sicherlich geblieben,« schloß sie liebenswürdig und reichte ihm die
Hand, welche feucht und kalt war.

Doch obgleich Doktor Ruß sich vollkommen wohl befand, so hatte Dolores von
seiner Hand genau dieselbe Empfindung, die sie abstieß und ihr unangenehm
war.

»Nun, das fehlte noch, daß Sie sich deswegen bei uns entschuldigen
wollten,« erwiderte er heiter, aber mit belegter Stimme.

»Und Sie? Wohin werden Sie die Achse lenken?« fragte Dolores.

»Jedenfalls zuerst nach Berlin,« meinte er sorglos. »So wenigstens habe
ich es mit meiner Frau besprochen.«

Bald darauf verabschiedete er sich und stieg in seine Wohnung herab, wo
seine Frau nähend saß.

»Dolores ist auf, will fort und hat uns gekündigt,« sagte er mit
forcierter Lustigkeit. Und als Frau Ruß erstaunt aufsah, setzte er,
etwas aus der Rolle fallend, hinzu: »Du brauchst mich nicht so erstaunt
anzuglotzen, wie die Kuh das neue Thor -- heut' über acht Tage wird der
Falkenhof geschlossen, und wir sind mit einer Einladung fürs nächste Jahr
an die Luft gesetzt. Fürs nächste Jahr! Wenn du ein Murmeltier bist, so
lege dich bis dahin schlafen, oder wenn du ein Dachs bist, so vergrabe dich
und zehre an deinem eigenen Fett, wie es diese ökonomischen Tiere zu thun
pflegen!«

Und damit lachte er höhnisch und ging in sein Zimmer, dessen Thür er
hinter sich verriegelte.

Frau Ruß war leichenblaß geworden -- die Arbeit glitt der sonst
unablässig Fleißigen aus der Hand, und sie saß, den Blick geradeaus
gerichtet, wohl eine halbe Stunde da, ohne sich zu rühren, wie ein
Steinbild. Endlich erhob sie sich mühsam, streifte die niederen Schuhe von
den Füßen, schlich zu der Thür, durch welche ihr Gatte verschwunden war
und sah durch das Schlüsselloch. Er saß, wie sie vermutet hatte, vor dem
Rokokopult mit Aufsatz dessen er sich stets als Schreibtisch bediente, und
schrieb -- malte vielmehr mit der Feder, langsam und oft absetzend, auf
einem Blatte Papier und sah oft dabei auf ein anderes Blatt, das vor ihm
lag, das Frau Ruß aber nicht erkennen konnte. Er kopierte augenscheinlich
etwas. Dabei hörte sie ihn öfters Ausrufe der Unzufriedenheit und
Mißbilligung ausstoßen, und endlich stand er auf und öffnete links eine
der kleinen schrägen Schubladen, welche den Aufsatz des Pultes an den
stumpfen Ecken flankierten, und tastete mit der Hand, nachdem er die Lade
ganz herausgezogen hatte, in der leeren Höhle umher, bis ein scharfes,
schnappendes Geräusch von der angespannt Lauschenden vernommen wurde. Da
erhob er sich und suchte in dem schrankartigen Mittelfach umher -- was
er dort that und trieb, deckte sein Rücken -- Frau Ruß konnte es nicht
sehen. Nach einer Weile aber hörte sie wieder das schnappende Geräusch,
worauf Doktor Ruß die Schublade in ihr Fach zurückschob und seine
Schreibereien zusammen zu packen begann.

Da kehrte Frau Ruß leise auf ihren Platz zurück und saß ruhig nähend
da, als nach zehn Minuten ihr Mann wieder erschien, den Hut auf dem Kopfe
und den leinenen Staubmantel an.

»Engels wollte um elf Uhr den Arzt wieder holen lassen,« sagte er, »und
da mir Schreibmaterialien fehlen, so werde ich mitfahren und dieselben
besorgen. Du magst mir also vom Lunch einiges aufheben lassen.«

»Ja,« nickte sie, »es ist gut. Wann soll ich mit dem Packen beginnen?«

»Das hat Zeit,« erwiderte er und ging.

Wieder saß Frau Ruß still, bis sie einen Wagen aus dem Stallhofe
rollen hörte und sie, hinausspähend, Doktor Ruß in seinem Staubmantel
fortfahren sah. Da erhob sie sich und ging in das Zimmer ihres Gatten
und an dessen Schreibtisch, dessen Pult verschlossen war, wie die
Schrankthüren des Aufsatzes. Zunächst suchte sie nun die Schublade an der
linken, stumpfen Ecke des letzteren, und nachdem sie mehrere dieser langen
engen Dinger herausgezogen und die Fächer untersucht hatte, fand sie in
dem mittelsten derselben einen ziemlich flachen Knopf, welcher sich in
einer Rille weiterschieben ließ. In der Aufregung, in welcher sie
sich befand, machte sie sogleich ein Experiment damit, und ein scharf
schnappendes Geräusch im Innern des Schränkchens belehrte sie, daß hier
ein Mechanismus ein verborgenes Fach geöffnet haben mußte, und zwar ein
in dem Schränkchen selbst zugängliches Fach. Doch wie hierzu gelangen
ohne Schlüssel? Mechanisch zog sie ein kleines Schlüsselbund aus
der Tasche, das ihre eigene Spinde und Kommode schloß, und ließ es
nachdenklich durch die Finger gleiten. Es war unter den französischen
Schlüsseln auch einer, der in eine kleine Rokokokommode paßte, in welcher
sie ihre Hauben und feine Wäsche verwahrte -- ein elendes Ding von einem
Schlüssel mit verschnörkeltem Bartausschnitt. Diesen Schlüssel steckte
sie zweifelnd und ohne seine Schließfertigkeit zu erhoffen, in das
Schloß des Pultes -- und siehe da, er schloß das primitive Schloß ohne
Schwierigkeiten auf.

Klopfenden Herzens, aber mit vorsichtiger Hand zog sie die Ledermappe mit
Löschblattfüllung, auf welcher ihr Gatte stets schrieb, heraus, und da
lagen auch gleich die frischen Schriftproben -- Blätter, auf denen der
Schreiber einzelne Worte geübt und einzelne Buchstaben -- alles in den
charakteristischen, auffallenden Schriftzügen von Dolores Falkner! Und
hier -- hier war auch ein Brief von ihr mit nichtigem Inhalt, der als
Vorlage für diese Übungen gedient haben mußte.

Vorsichtig schob sie alles wieder zusammen und schloß das Pult und --
siehe da, der verachtete und oft geschmähte kleine Schlüssel schloß auch
die Schrankthür des Aufsatzes auf. Nun probierte sie wieder den Knopf
in dem Schubfache -- er arbeitete leicht und sicher und öffnete in dem
Schränkchen, das mit allerlei Bildern vollgeklebt war, wie man es oft in
diesen alten Spinden findet, ein Geheimfach, dessen Thür unfindbar für
den aufmerksamsten Sucher, mit einem bunten kleinen englischen Stich, der
die Porträts des Königs Wilhelm III., der Königinnen Mary II. und Anna
und deren Gemahl, dem Prinzen Georg von Dänemark, trug, verkleidet war
-- ein seltenes Schmähblatt dadurch, daß es die für die letzten Stuarts
schmeichelhafte Unterschrift trug:

  =There is Mary the Daughter, and Willy the Cheater,
  And Georgie the Drinker, and Annie the Eater. --=[2]

    [2]: Seltenes Flugblatt aus der Regierungszeit Wilhelms III. von
    England und der Königin Mary II.

Frau Ruß interessierte dies illustrierte Pamphlet von der Größe eines
Oktavblattes aber gar nicht. Mit fliegender Hand langte sie hinein in das
Fach -- es enthielt nichts als ein paar Pappschachteln mit weißem Pulver
ohne Aufschrift, nur mit lateinischen Ziffern in I und II numeriert und ein
kleines Fläschchen von blauem Glase mit Glasstöpsel. Vorsichtig zog sie
diesen halb heraus und roch daran -- ein betäubender Duft von bitteren
Mandeln machte sie aber sogleich zurückfahren und aufhusten. Schnell
setzte sie alles wieder an Ort und Stelle, schloß Geheimfach und Schrank,
schob die Schublade in ihr Fach und setzte sich dann hin, die Hände
verschränkend und dachte nach.

Aber nicht lange, denn ein Blick auf die Uhr ließ sie bald wieder
aufschrecken. Schnellen Schrittes verließ sie das Zimmer und fragte
draußen im Korridor nach Mamsell Köhler, zu welcher sie in die
Speisekammer gewiesen wurde.

Dort, in dem kühlen, gewölbten Raum stand das kleine graue Hausgeistchen
des Falkenhofes und hatte alle Hände voll zu thun, um zum Lunch kalten
Schinken, Roastbeef und Braten aufzuschneiden, Pasteten mit goldklarem,
pikantem Aspic zu verzieren und eine Schüssel delikaten russischen
Fleischsalates mit zierlich ausgestochenen roten Rüben, Pilzen, Haricots
u. s. w. zu garnieren, indes drüben in der Küche die warmen Gerichte
auf dem mächtigen Herde in kupfernen, spiegelblanken Kasserollen und
Töpfen, welche zum Lehen gehörten und mit dem Falknerschen Wappen
graviert waren, zischten, brodelten und brieten.

Frau Ruß trug das Anliegen ihres Mannes wegen Aufhebens von Essen für ihn
vor.

»Sehr wohl, Frau Baronin, soll besorgt werden,« versprach Mamsell
Köhler, welche nie unterließ, Frau Ruß ihren Titel aus der ersten Ehe zu
geben, wie sie Lolo Falkner stets mit einer Sündflut von »Durchlauchts«
überschüttete, wo sich es thun ließ. »Ich weiß wieder nicht, wo mir
der Kopf steht,« schwatzte sie weiter, eine dem Eisschrank entnommene
Blechbüchse mit Kaviar öffnend und den milden, grauen, großkörnigen
Inhalt in eine Schüssel entleerend. »Die Herren Offiziere können jeden
Augenblick von dem Manöver zurückkommen und haben dann stets einen
gottgesegneten Hunger. Lieber Himmel, mit solchem Appetit aß unsere
gnädige Baronesse früher auch, und jetzt --? Was hat sie sich bestellt?
Ein Kaviarbrötchen und eine Scheibe Roastbeef! Wie für einen Sperling!
Und wird auch davon noch die Hälfte herunterschicken, da wette ich
darauf!«

Während Mamsell Köhler ihre Zunge gehen ließ wie ein wohlgeöltes
Maschinenrad, musterte Frau Ruß den Inhalt dieses geschmackvollen Raumes,
insbesondere aber ein Regal, auf welchem Kolonial- und Spezereiwaren in
weißen Porzellanfäßchen mit Aufschrift des Inhalts standen. Daneben
waren Blechkästen und Büchsen mit Thee, Cakes und Dessert aufgestellt --
alles so appetitlich und einladend wie möglich, wie es eben »nur Mamsell
Köhler« verstand.

»Haben Sie noch gebrannte Mandeln?« fragte Frau Ruß.

»Sind leider ganz alle, Frau Baronin,« seufzte die Kleine mit Bedauern
und viertelte eine Citrone. »Ach Gott, überhaupt die Süßigkeiten! Die
essen die jungen Herren Leutnants auch wie das liebe Brot -- tellerweise!
Und dabei noch die viele Schlagsahne -- man wundert sich bloß, daß den
jungen Herren nicht manchmal schlecht wird in dem Magen --«

»Ich werde mir ein paar rohe Mandeln zum Knuspern mitnehmen,« unterbrach
Frau Ruß diese Bewunderung eines Leutnantsmagens, hervorgegangen aus
der völligen Unkenntnis dieses oft verblüffenden Organs. Und mit diesen
Worten öffnete sie eine der Porzellantonnen und griff tief in dieselbe
hinab.

»Das sind ja bittere,« rief Mamsell Köhler warnend, indem sie die
Kaviarschüssel mit Citrone und Petersilienbüscheln garnierte.

»Ach so -- ich habe mich versehen,« erwiderte Frau Ruß, und ließ den
Inhalt ihrer Rechten ungesehen in die Kleidertasche gleiten. Dann entnahm
sie der Tonne mit der Aufschrift »Knackmandeln« eine Handvoll der
großen, süßen Früchte, nickte Mamsell Köhler zu und ging in ihr
Zimmer zurück, wo sie die Schalmandeln ruhig in ein Kästchen that und die
»irrtümlich« ergriffenen und behaltenen bittern Mandeln hervorholte.
Auf einem saubern Papier unterzog sie sich der Mühe, die Mandeln mit einem
Federmesser zu schaben, und hatte dann die feinen Spänchen eben in ein
Musselinläppchen gebunden und in ein Viertel Wasserglas voll Wasser
gelegt, als der Tamtam durch den Falkenhof dröhnte zum Zeichen, daß der
Lunch serviert sei. Schnell schloß sie das Glas fort in ein Schränkchen,
ordnete ihren Scheitel, wusch die Hände und ging nach dem Speisesaal, wo
sie an Stelle ihrer Nichte der Tafel präsidierte.

  -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --

Am Nachmittage kam Falkner mit Lolo von Monrepos herüber, um sich nach dem
Befinden von Dolores zu erkundigen und fanden sie, trotz des warmen Wetters
fröstelnd in ein großes, weiches Tuch aus weißer Wolle gehüllt, in
ihrem Salon vor, »blaß und durchsichtig wie ein schönes Gespenst; -- wie
die ›Traviata‹ im letzten Akt,« sagte Lolo Falkner später zu ihren
Gästen.

Falkner war tief erschüttert von diesem Schattenbilde der einst so
strahlenden Dolores und wollte gleich wieder gehen, um sie ruhen zu lassen.

»Ach nein, bleibt nur,« bat sie. »Ihr wißt, daß die Einsamkeit mir
sonst so lieb ist, aber heut' habe ich mich förmlich vor ihr gefürchtet.
Ich bin so schrecklich allein --«

Falkner wußte, daß seine Mutter nicht die Sympathien von Dolores hatte,
darum brachte er sie nicht als Gesellschaft in Vorschlag.

»Wenn du die Gräfin Schinga zu dir herüberbitten wolltest -- sie käme
gewiß gern,« meinte er.

»O ja, ich habe an sie noch nicht gedacht,« sagte Dolores, angeregt von
der Idee. »Sie müßte nur nicht verlangen, daß ich spreche,« setzte sie
hinzu, »denn ich bin so müde -- --«

»Ich werde gleich hinüberfahren nach Arnsdorf und die Gräfin selbst
holen,« meinte Falkner aufstehend. Dolores war sehr erfreut über Falkners
Bereitwilligkeit und versicherte ihm mit mattem Lächeln, es sei sehr
gütig von ihm.

Lolo, froh, auf so gute Manier aus der »langweiligen Bude,« wie sie den
Falkenhof nannte, heraus zu können, schloß sich ihrem Gatten an, und
Dolores war wieder allein.

Aber nur wenige Minuten, da klopfte es leise und Frau Ruß trat hinein,
schüchtern fast, denn sie hatte Dolores seit dem vorigen Abend nicht
wiedergesehen und wurde selbst ganz blaß bei dem Anblick der weiß
eingehüllten, durchsichtigen Erscheinung ihrer Nichte. Dolores selbst
hatte das Entsetzen noch nicht vergessen, das diese Frau ihr gestern
Abend eingeflößt durch ihren Blick, und darum klang ihr erzwungener
Willkommsgruß vielleicht kälter und kürzer, als sie selbst gewollt.

»Mein Mann ist noch nicht zurück aus der Stadt -- der Arzt muß also
auswärts gewesen sein,« sagte Frau Ruß fast schüchtern.

»Wahrscheinlich. Er kann mir ja doch nichts nützen,« erwiderte Dolores.

»Nein,« stimmte Frau Ruß bei, »_der_ kann dir nichts nützen. Du mußt
einen anderen Arzt haben. Darf ich für dich an X. nach Berlin schreiben?
Er wird gewiß dann bald kommen?«

»O, das ist überflüssig. Es wird schon von selbst wieder werden,«
entgegnete Dolores gleichgültig.

»Nein, du darfst das so nicht hingehen lassen,« rief Frau Ruß dringend,
»wirklich nicht! Laß mich an den Arzt schreiben, oder besser noch
telegraphieren.«

»Das würde mich sofort mit dem behandelnden Arzte überwerfen -- wir
müssen _sein_ Gutachten erst abwarten,« sagte Dolores kurz.

Vor diesem Einwande verstummte Frau Ruß.

»Kann ich dir deine Arznei geben?« fragte sie nach einer Weile.

»Du bist sehr gütig. Sie steht dort auf dem Tisch.«

Frau Ruß ging hin, nahm die Flasche und entkorkte sie.

»Du hast wenig davon genommen.«

»Zweimal,« sagte Dolores. »Mir ist der nichtssagende Geschmack so
widerwärtig. Aber es schmecken mir viele andere Dinge ebenso -- meist der
Thee am Abend.«

»Ja,« nickte Frau Ruß, aber indem sie die Flüssigkeit in den Löffel
laufen lassen wollte, fiel die Flasche herab und entgoß ihren Inhalt auf
den Teppich, welcher ihn sofort aufsaugte.

»Nun habe ich wenigstens eine Entschuldigung für mein Nichtnehmen,«
meinte Dolores erleichtert.

In diesem Augenblick ließ Keppler sich melden. Er hatte bis jetzt drüben
im Marmorsaal an dem Porträt gemalt, d. h. an dem Kleide, welches zu
diesem Ende auf dem Podium auf einem Kleiderständer drapiert war. Dolores
ließ den Künstler bitten, einzutreten, froh, daß sie des Alleinseins
mit Frau Ruß überhoben war. Diese blieb indes auch -- sie ward aber
schweigsam wie gewöhnlich und ging endlich, als Falkners mit der Gräfin
Schinga zurückkehrten -- aber sie hatte auf Keppler den Eindruck gemacht,
als hätte sie etwas sagen wollen und die Gelegenheit dazu nicht gefunden.

Dolores war froh, als sie fort war, und begrüßte die Gräfin mit
freudiger Dankbarkeit für ihr Kommen. Und so nahmen die vier denn Platz um
die Kranke, und eine halblaute, aber eifrige Konversation, welche Dolores
sichtlich anregte, begann, bis sie sich müde und erschöpft zurücklehnte.

»Wollen Sie etwas Musik?« fragte Gräfin Schinga, und Dolores nickte.

»Aber etwas recht Sanftes,« bat sie.

Die Gräfin öffnete den Flügel, dachte eine Weile nach, und dann
spielte sie die Introduktion zum letzten Akt der »Traviata,« diese von
Todesahnung durchzitterte Weise, in welcher das zum Sterben verurteilte
Herz noch einmal hoch aufklopft für einen kurzen Moment und dann erlischt:

[Illustration (Musik-Noten)]

Während Gräfin Schinga spielte, hatte Dolores sich aufgerichtet, hatte
das Tuch von sich geworfen und war neben die Spielende getreten, sich mit
ihr durch einen Blick verständigend. Und so flocht letztere denn nach der
beendeten Einleitung ein paar Accorde der Recitative mit ein und ging über
in die Begleitung des letzten Aufschluchzens der Violetta, und Dolores fiel
ein mit ihrer Stimme, leise, leise, wie ein Hauch zuerst, dann stärker
anschwellend und wieder erlöschend, wie das junge Leben der Singenden:

  =Addio del passato, beisogni, ridenti,
  Le rose del volto già sono pallenti;
  L'amore d'Alfredo perfino mi manca
  Conforto, sostegno dell' anima stanca= -- --

Sie schloß schon nach dem ersten »=tutto, tutto fini=« -- »alles, alles
zu Ende,« aber nie vielleicht hatte sie so erschütternd gesungen. Einmal
hatte sie gestockt nach den ersten Zeilen, als der Name »Alfredo« ihr auf
die Lippen trat, aber sie hatte weiter gesungen. -- Was that es zur Sache,
daß sie seinen Namen jetzt in der Verbindung mit ihrer Liebe nannte --
denn =tutto, tutto fini= -- --

Und wie sie geendet hatte und Gräfin Schinga die Hände von den Tasten
sinken ließ, da war es einen Augenblick sehr still in dem kleinen
Kreise, so still, daß man das Summen der Bienen draußen in der warmen
Spätsommerluft hörte. Und Dolores strich mit der Hand über ihre Stirn.

»=Tutto fini= --« sagte sie. »Das war mein letztes Lied.«

»Nein, nein!« rief Keppler abwehrend, die Stimme rauh vor Erregung.

»=Tutto fini=,« wiederholte Dolores. »Mir bleibt nur noch einiges zu
besprechen mit dem Erben vom Falkenhof.« --

  -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --

Indes war unten Doktor Ruß endlich mit dem Arzt angelangt, und Frau Ruß
unternahm es, den jovialen alten Herrn hinaufzuführen.

»Nun, wie geht's oben?« fragte er so heiter, als hätte Dolores den
Schnupfen.

»Es flackert so auf mit ihr und läßt wieder ganz nach,« erwiderte
Frau Ruß. »Ich hörte sie eben noch singen. Aber sie ist doch sehr
krank -- --«

»Krank?« lachte der kleine Doktor. »Ich bitte Sie, Verehrteste! Ihr
Herr Gemahl hat mir so Andeutungen gemacht über eine unglückliche
Herzensangelegenheit -- wer ist es denn, der _Er_ nämlich?«

»Mir ist davon nichts bekannt,« sagte Frau Ruß erstaunt.

»Haha!« pustete der alte Herr, »na, dann nicht, liebe Seele! Ich werde
an dem Ungenannten nicht ersticken! Herr Gemahl war aber kolossal positiv,
ja, ja! Hat Selbstmordgedanken, die schöne Herrin vom Falkenhof -- lustige
Gesellschaft, frische Luft -- ein =chacun= für die =chacune=, das ist die
richtige Medizin dafür -- werden ja sehen -- hm, hm --!«

»Selbstmordgedanken?« fragte Frau Ruß, entsetzt stehen bleibend.

»Pst! So 'was sagt man nicht so laut wie Sie,« tuschelte der Doktor.
»Dazu braucht's aber keine Apotheke, sondern man muß es eben nur wissen!
Ja, wenn ich zur Diagnose immer die Winke des Herrn Doktor Ruß hätte,
dann wollt' ich sie schon immer richtig stellen!« -- -- --

  -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --

In den nächsten zwei Tagen wurde es wieder besser mit Dolores, so daß sie
spazieren fahren und sich auch etwas an der Gesellschaft beteiligen konnte.
Von Monrepos kamen täglich Boten nach dem Falkenhof, welche sich nach dem
Befinden der Kranken erkundigten -- Falkner selbst aber kam nicht, denn
Lolo behauptete, sie könnte kranke Leute nicht leiden und es nicht hören,
wenn jemand von seinem Tode redete -- _ihr_ sei gar nicht zum Sterben zu
Mute, im Gegenteil --!

Und so hielt auch er sich fern und hörte nur von Keppler Genaueres. Danach
war sie ja, mit Ausnahme des bleischweren Gefühls in den Gliedern, einiger
Frostanfälle und Stunden gänzlicher Apathie, relativ wohl, ja selbst
heiter, und klagte nur über die schlaflosen Nächte, die so langsam und
tödlich bedrückend dahinschlichen. Der gute Doktor Müller mit seiner
Rußschen Diagnose kam nicht mehr wieder.

»Einquartierung hilft besser als ich,« hatte er pfiffig behauptet,
Dolores Sekt und Kaviar verordnet und war froh gewesen, die langen Fahrten
nach und von dem Falkenhofe wieder mit seinem gewohnten Skat im »Grünen
Hirsch« zu Kuckucksnest vertauschen zu dürfen. Von einem anderen Arzte
wollte Dolores nichts wissen, und die Gesellschaft der darauf dringenden
Frau Ruß vermied sie möglichst, besonders unter vier Augen.

Am Abend des vierten Tages, als Gräfin Schinga, die ihr treulichst
Gesellschaft leistete, nach Hause gefahren war, trat Doktor Ruß bei der
müde und abgespannt dasitzenden Dolores ein.

»Ich kann es gar nicht mehr mit ansehen, daß Sie nicht schlafen,« sagte
er sanft und teilnahmsvoll. »Darum bin ich heut' Nachmittag nach der Stadt
gefahren und habe mit Doktor Müller gesprochen. Derselbe konnte leider
nicht selbst kommen, hat mir aber ein Schlafmittel für Sie mitgegeben,
welches Sie in Wasser nehmen sollen, sobald Sie fühlen, daß der Schlaf
wieder nicht von selbst kommt.«

»O, ich danke Ihnen tausendmal,« rief Dolores, das Fläschchen von blauem
Glase entgegennehmend, das er ihr reichte.

»Ich habe das Rezept gelesen,« meinte Doktor Ruß. »Chloralhydrat mit
etwas Sirup und Bittermandelwasser -- es wird schon seine Dienste thun.«

Damit wollte er sich entfernen, doch Dolores reichte ihm nochmals die Hand.

»Gute Nacht und herzlichen Dank,« sagte sie, und fügte hinzu: »Durch
diesen Zaubertrank kann ich ja mit Wallenstein sagen:

  Ich denke einen langen Schlaf zu thun,
  Denn dieser letzten Tage Qual war groß.

Freilich hatte der Generalissimus einen längeren Schlaf als er dachte,
denn er wurde ermordet.«

»Gute Nacht,« erwiderte Doktor Ruß so leise und mit so veränderter
Stimme, daß Dolores dieselbe gar nicht wieder erkannte. Und er glitt zur
Thür hinaus wie ein Schemen.

Ein Weinglas mit Wasser neben sich nebst der blauen Flasche, legte sie
sich zeitig zur Ruhe und wartete auf den Schlaf, doch derselbe kam nicht.
Nebenan in dem Ankleidekabinett war Tereza eingeschlafen -- die treue Seele
hatte all' die vorigen Nächte gewacht und war zu Tode ermüdet.

Auf dem Uhrturm des Falkenhofes schlug es elf Uhr, und als es Mitternacht
schlug, machte Dolores Licht, goß den Inhalt des Fläschchens in das
Wasser und trank das stark nach bitteren Mandeln duftende Medikament in
einem Zuge aus. -- -- -- -- --

Und es schlug Eins. Da erhob Dolores sich resigniert von ihrem Lager,
weil doch auch das Schlafmittel nicht wirken wollte, warf ihren Schlafrock
über, nahm ein Licht und ging in die kleine Bibliothek, mit Lesen die
langen, langen Nachtstunden zu kürzen.

Sie entzündete eine Lampe und holte ein Buch, aber es wollte nicht gehen
mit dem Lesen, denn sie war zu müde, ihre Augen zu übernächtig. Und weil
die Augen sie schmerzten von dem vielen Wachen und vom Licht, so lehnte
sie sich zurück und schloß die Lider, und wer jetzt hineingetreten wäre,
hätte sie müssen für gestorben halten, so blaß und regungslos saß sie
da in dem matten Lichte der bläulichen Glaslampe. Mit einem Mal war's ihr,
als hörte sie nebenan im Saal eine Thüre gehen und leise, leise Schritte
-- -- »Tereza,« dachte sie müde und blinzelte unter den Lidern hervor
nach den Portieren, welche den Saal von dem Kabinett abschlossen. Und die
Schritte kamen näher und hin und wieder knisterte unter ihnen ein locker
gewordenes Teilchen des alten Parketts -- endlich ward die Portiere
zurückgeschlagen und -- -- Doktor Ruß stand auf der Schwelle.

Dolores sah ihn stehen und der Gedanke durchfuhr sie: »Was will er
hier, mitten in der Nacht?« Still und ruhig blieb sie sitzen, die Augen
geschlossen, und leise, leise schlich er näher und stand endlich dicht
vor ihr und beugte sich herab, auf ihre Atemzüge zu lauschen, die sie
künstlich zurückhielt.

»Sie ist tot,« murmelte er, griff in die Brusttasche seines Rockes und
zog ein Blatt Papier hervor, das er auf den Tisch legte.

Da schlug Dolores die Augen auf zu ihm.

»Was wollen Sie hier, Doktor Ruß?« fragte sie laut.

Da fuhr er zurück mit einem heiseren Schrei, der wie das Brüllen eines
gereizten Panthers klang.

»Was haben Sie mich erschreckt,« sagte er nach einer sekundenlangen Pause
gefaßt, »ich dachte, Sie schliefen --«

»Den ewigen Schlaf. Sie sagten so,« ergänzte Dolores.

Langsam trat er wieder näher und legte die Hand wie zufällig auf das
Papier auf dem Tische.

»Sie sahen so furchtbar bleich aus,« entgegnete er. »Das macht dies
nichtswürdige blaue Licht,« setzte er hinzu, und es klang wie wenn er
dazu mit den Zähnen knirschte. Dabei fuhr die Hand mit dem Papier zurück
in die Brusttasche.

»Sie haben mir noch immer nicht gesagt, warum Sie hier sind zu so
ungewöhnlicher Zeit,« erwiderte sie kühl, aber im Herzen ein vages
Gefühl von Angst.

»Ich war aufgewacht, und es war mir eingefallen, daß ich vergessen hatte,
Ihnen zu sagen, Sie sollten nur die halbe Dosis des Schlafmittels nehmen,«
erklärte er sein Erscheinen plausibel genug. »Da hatte mich die Angst,
Ihnen durch Nachlässigkeit geschadet zu haben, aus dem Bette getrieben,
und ich war leise heraufgekommen --«

»Sehr leise. Zu leise für Ihre gute Absicht,« warf sie ein.

»Aber ich sehe zu meiner Beruhigung, daß Sie das Mittel gottlob gar nicht
gebraucht haben,« schloß er.

»Doch,« sagte sie, »ich habe es sogar ungeteilt genommen -- Ihre
Vorsicht käme also zu spät, wenn das Mittel, wie alle Mittel des Doktor
Müller, nicht so ausgezeichnet wirkungslos gewesen wäre.«

»Genommen? Das Ganze genommen?« wiederholte er wie ein Träumender.

»Bis zum letzten Tropfen,« nickte Dolores etwas spöttisch.

»Das ist nicht wahr!« brach er los.

Da erhob sie sich heftig, schritt in ihr Schlafzimmer und kam gleich darauf
mit der leeren Flasche zurück, die sie auf den Tisch warf.

»Hier,« sagte sie sprühenden Blickes. »Und nun verlassen Sie mich,
und wenn ich's Ihnen nachsehe, daß Sie mich der Lüge geziehen haben, so
schieben Sie's auf das Konto dieser späten Stunde, in der Sie vielleicht
nicht wußten, was Sie redeten!«

Doktor Ruß hatte mit zitternden Händen die blaue Flasche ergriffen und
stand Dolores gegenüber, stumm, aber mit keuchendem Atem und gierigem,
raubtierartigem Blick. Und wieder packte Dolores, die stets so mutige,
ein unbestimmtes Angstgefühl -- im Falkenhof war's still zu dieser
Nachtstunde, keine Menschenseele war wach und Tereza schlief so fest,
daß man sie bis hier herein atmen hörte -- -- und wenn dieser Mann
wollte -- --

Da glitt ein Schatten über die Lampe und im selben Momente stand Ramo
zwischen seiner Herrin und ihrem Gaste.

»Baronesse haben geläutet?« fragte er ruhig, als wäre es mitten am
Tage. Sie hatte es nicht gethan, aber sie begriff die Wachsamkeit des
treuen Menschen.

»Du sollst Herrn Doktor Ruß die Treppe herab leuchten -- er hat kein
Licht,« sagte sie mit einem tiefen, freudigen Atemzuge.

Doktor Ruß aber hatte sich ganz wiedergefunden.

»Gute Nacht, liebe Dolores -- versuchen Sie's noch, ein wenig zu
schlummern. Ich werde wegen des Chlorals morgen mit Doktor Müller
sprechen. Er hat Ihre Natur für allzu nachgiebig gehalten mit dieser
schwachen Dosis,« sagte er und reichte ihr die Hand.

Aber Dolores schien dieselbe nicht zu sehen, sondern wandte sich einfach ab
und ging gelassen in ihr Schlafzimmer, das sie hinter sich verschloß mit
klopfendem Herzen und fliegenden Pulsen.

Aber sie fand dennoch ein wenig Schlaf, und es träumte ihr, die »böse
Freifrau« streiche leise mit ihrer kalten Hand über ihr Haar, und sage
mit frohem Lächeln in ihr Ohr: »Bald! Bald! Dolores! Erlöserin!« Ganz
wie in ihrer ersten Nacht im Falkenhofe.

       *       *       *       *       *

Frau Ruß aber hatte am andern Morgen eine böse Zeit mit ihrem Gatten,
der in seiner schlechtesten Laune war und sie mit giftigstem Hohne
überschüttete, nervös lachte und in einem Zustande fieberhafter
Reizbarkeit seine Kleider durchsuchte nach einem Blatt Papier in einem
offenen, unbeschriebenen Couvert, das er verloren haben wollte. Frau Ruß
suchte schweigend mit, aber es war nicht zu finden, und dann mußte
sie hinausgehen in die kleine Bibliothek, um nachzusehen, ob er es dort
verloren habe. Doch es war auch dort nicht zu finden, trotzdem noch niemand
das Kabinett betreten hatte, weil es dicht neben dem Schlafzimmer der
Schloßherrin lag, diese aber noch schlief und nicht gestört werden
sollte. Auch Ramo, welcher die Lampe ausgelöscht hatte, nachdem er Doktor
Ruß herabgeleuchtet, hatte nichts gesehen oder aufgehoben.

Hätte Doktor Ruß geahnt, daß sich ihm das Papier so nahe befand, daß
es in der Kleidertasche seiner Frau war --! Aber _das_ ahnte er nicht. Und
während er umherging, rastlos, blaß, mit unstetem Blick, da saß seine
Frau da, die Hände im Schoß gefaltet, müßig, und unter den Augen tiefe,
blaue Ränder, die Wangen hohl und in dem verblaßten, blonden Haar ein
schneeweißer Streifen, der gestern noch nicht dagewesen war.

»Wie sitzest du da? Arbeite!« fuhr er sie an, und als sie sich
daraufhin nicht rührte, höhnte er: »Du siehst aus, wie eine getrocknete
Leichenpredigt! Was fehlt dir? Hast du einen Geist gesehen?«

»Das ganze wilde Heer,« erwiderte sie mit zuckenden Lippen.

»Wohl bekomm's!« zischte er.

Um die Mittagszeit, ehe zum Lunch geläutet wurde, kam Falkner und fragte
nach Dolores, die er in der Halle mit Engels traf -- blässer denn je, aber
scheinbar wohler.

»Lolo hat sich in den Kopf gesetzt, heut' ein Picknick am Hexenloch zu
veranstalten,« sagte er, »und da bin ich denn beauftragt, dich zu fragen,
ob du es uns erlaubst und selbst teilnehmen wirst mit deinen Gästen. Es
soll statt des Diners gelten.«

»Ach ja, das ist eine hübsche Idee,« erwiderte sie freundlich. »Wir
wollen das gleich mit Mamsell Köhler besprechen, meine Gäste treffe ich
jetzt beim Lunch und werde es ihnen dabei sagen, damit sie ihren Dienst
vorher abmachen.«

»Aber wirst du selbst denn kommen können?«

»Ich hoffe, ja. Und wenn ich mich heimlich eher entferne als die anderen,
so bitte ich dich, die Pflichten des Wirtes zu übernehmen und meinen
Rückzug zu decken. Bleibst du zum Lunch?«

»Nein -- ich danke dir. Ich will Lolo nicht daheim allein lassen mit den
Herren.«

»Das ist recht,« stimmte sie zu. »In diesem Sinne darf ich dich nicht
halten.«

Fräulein Köhler stöhnte innerlich zwar große Stücke über »den
Picknickunsinn,« aber er wurde dennoch ins Werk gesetzt.

Dolores zog sich sofort nach dem Lunch zur Ruhe in ihr Zimmer zurück, und
so oft Frau Ruß an diesem Tage oben anklopfte oder bei dem unablässig
wachsamen Cerberus Ramo anfragte, ob sie Dolores sehen könnte, so oft
wurde ihr gesagt, daß die Herrin vom Falkenhof ruhe, und als es so weit
war, um zum Picknick am Hexenloch aufzubrechen, da war Gräfin Schinga oben
-- Frau Ruß also überflüssig geworden.

Dolores war seit jenem verhängnisvollen Abende nicht mehr am Hexenloch
gewesen, trotzdem sie diesen wildromantischen, geheimnisvoll malerischen
Fleck Erde unter den Blutbuchen und den hohen, ernsten Tannen früher so
sehr geliebt hatte. Daß der Platz, an den sich so viele unheimliche Sagen
knüpften, an dem sie die süßeste und doch auch bitterste Stunde ihres
Lebens verlebt, an welchem sie fast den Tod gefunden, heut' wiederhallen
sollte von heiterem Lachen und lustigen Worten, das schien ihr, als sie
sich's überlegte, freilich ganz undenkbar, aber es ist ja schließlich
der Lauf der Welt, und so fuhr sie im leichten Parkwagen an der Seite ihres
vornehmsten Gastes, des Kommandeurs, zum Picknickplatz, denn der Weg war
ihr zu weit geworden für ihre schwankende Gesundheit, und sie wollte dann
lieber zurück gehen. Die anderen waren alle schon da, als sie am Hexenloch
ankamen, und lagerten auf dem grünen Rasen um das weiße, ausgebreitete
Tafeltuch, darauf ausgebreitet stand, was eine feine Küche zu liefern
vermag.

Dolores überlief unwillkürlich ein kalter Schauer, als sie die Stätte
betrat, wo sie mit den dunkeln, tückischen Wassern um ihr Leben gekämpft
-- aber damals war es offener Kampf gewesen mit einem Feinde, der sie
besiegt hätte ohne Alfred Falkners Hilfe; heut' aber kämpfte sie
denselben Kampf mit einem Feinde, den sie nicht zu nennen wußte, und ihr
ahnte, daß sie diesem verkappten Unhold erliegen würde. Denn er hatte
sich zu ihr gestohlen wie der Dieb in der Nacht, er hatte ihre blühende
Gesundheit untergraben, ihr Kraft und Lebensmut geraubt und lag mit
bleierner Schwere in ihren Gliedern.

Und es war fast wie damals am Hexenloch, nur daß die Sonne höher
stand und neugierige Strahlen warf auf das blitzende Silberzeug der
improvisierten Tafel auf dem Rasen, auf die leuchtenden Uniformen der
Husaren, auf Dolores Falkners schimmerndes Haar. Es waren außer ihr nur
noch drei Damen zugegen: Lolo, Gräfin Schinga und Frau Ruß. Und letztere
hatte sich neben Dolores gesetzt, doch wurde sie, der bunten Reihe wegen,
bald von ihrer Seite gedrängt.

Als man beim ersten Glase Sekt miteinander anstieß, da ließ Dolores auch
das ihrige mit dem des Doktor Ruß zusammenklingen.

»Seien Sie nicht böse -- ich bin eine kranke und nervöse Person,« sagte
sie mit Bezug auf die Vorgänge der letzten Nacht, denn sie hatte sich's
überlegt, wie leicht man manchmal ein Wort spricht, wie »es ist nicht
wahr,« ohne dabei etwas zu meinen in diesem Ausruf des Staunens. Und der
Mann hier, dessen Blick sie mehr erschreckt, als seine Worte sie empört
hatten -- er war _ihr_ Gast.

»Man ist Damen niemals böse,« erwiderte Doktor Ruß und zog ihre Hand an
seine Lippen.

Bald thaten der Sekt und die muntere Gesellschaft ihre Schuldigkeit --
denn durch den Park klang weithin das laute, herzliche Lachen des sorglos
fröhlichen Kreises. Und die lauteste darunter, ein Sprühteufel an Witz
und Laune, war Lolo Falkner!

Doch auch Dolores' matte Lebensgeister belebte der Wein und die hinreißend
gute Laune der künftigen Schlachtenlenker, und sie lachte ein paarmal
sogar fröhlich auf bei einem besonders unwiderstehlich guten Scherz
derselben.

Da jagten sich lustige Manövergeschichten mit lustigeren Schnurren, und
manch' ein Kalauer wurde mit lachendem »Au! au!« im Chore abgelehnt --
ein Kobold, der zu einer Thür hinausgeworfen, zur anderen wieder hereinkam
mit lachendem Gesicht, ein gar nicht loszuwerdender Lachgeist im heiteren
Kreise.

Da fiel es plötzlich jemand ein, nach dem Ursprung des Namens
»Hexenloch« zu fragen, und Doktor Ruß erzählte mit seinem wohltönenden
Organ die Legende desselben, wie sie verzeichnet stand in den Annalen des
Falkenhofs. Erst hörte nur der Frager zu, dann noch andere und zuletzt
schwieg der ganze Kreis und lauschte auf eine jener finsteren Tragödien
finsteren Aberglaubens aus längstverklungener Zeit, meisterhaft erzählt
mit allen Mitteln, allen Raffinements eines Vortragsmeisters.

»Donner Wachsstock! Auf das gruselige Zeug muß man eins gießen,« sagte
Graf Schinga, als Doktor Ruß geendet.

Und damit trank er ein großes Glas Sekt, das er sich schon _während_ der
Erzählung vom Hexenloch mit frischen Pfirsichen präpariert hatte, auf
einen Zug aus.

Das wievielte es war, wußte kein Mensch zu sagen, man konnte es aber an
seinen funkelnden Äuglein und der sich sanft rötenden Nase ungefähr
berechnen.

»Hu! 's wird einem ganz kalt!« sagte Lolo Falkner und schüttelte
sich. »Wie kann man sich nur einen so schönen, lustigen Abend mit solch'
schauerlichen Geschichten verderben! Mir sind die lustigen Geschichten
lieber. Wer erzählt eine?«

»Du, Erfurt, erzähle 'mal der Baronin deine Erlebnisse aus dem letzten
Quartier,« rief ein Leutnant dem andern zu.

»Ja, ja, erzählen! Das ist nämlich eine kapitale Geschichte! Und dazu
der Erfurt --! Nein, zum Schreien!« schwirrte es durcheinander.

»Silentium! Der alte Graf will eine Geschichte erzählen!« rief der
Kommandeur lachend.

Der also Aufgeforderte war ein ganz ›junger‹ Leutnant, der etwas spät
erst des Königs Rock angezogen und einen kahlen Kopf hatte, weshalb er der
alte »Graf Erfurt« genannt wurde. Charakteristisch bei ihm war, daß er
sehr zerstreut war und nie eine Geschichte zu Ende erzählte, da er diese
durch das Dreinreden und Aushelfen der Kameraden längst vergessen hatte,
bis er dazu kam.

»Ja,« sagte er jetzt nachdenklich. »Wie war denn die Geschichte
eigentlich?«

»Na, du lagst beim Bankier Schweigeles im Quartier,« half ein Leutnant
ein.

»Richtig,« nickte der alte Graf erfreut. »Schöne Frau, wohlerzogen und
vornehm --«

»Die Schweigelessen?« fragte Graf Schinga.

»Ja. Konnte ebensogut _Gräfin_ Schweigeles sein. Famose Frau! Wirklich!
Reizend, nett und so was Angenehmes --«

»Und der alte Schweigeles?« fragte jemand.

»Greulicher Kerl, protzig, eklig -- auf jedem Finger einen Brillantring --
wie der zu _dieser_ Frau gekommen, ist mir ein Rätsel!«

Pause.

»Aber die Geschichte, Erfurt!« rief der Kommandeur.

»Ja so!« sagte der alte Graf zur allgemeinen Heiterkeit. »Also dieser
Lulatsch, der Schweigeles --«

»Halt!« rief Lolo dazwischen, »das ist etwas für den Doktor Ruß!
Er muß uns einen Vortrag halten über den klassischen Ursprung und die
ästhetische Berechtigung des Wortes ›Lulatsch.‹«

»Nachher! Der Herr Vorredner hat das Wort,« erwiderte Ruß lächelnd.

»Ja, nun weiß ich gar nicht mehr, wie es war,« sagte der alte Graf
perplex.

»Es fing mit dem Mittagessen an,« soufflierte einer der Offiziere.

»Ah, ja richtig!« nahm der alte Graf den Faden wieder auf.
»Mockturtlesuppe. Dann gab es solches grünes Zeug --«

Er machte die Bewegung des Bohnenschnitzelns und man begriff.

»Dazu Lachs und -- na, wie nennt man das?« fragte er, auf seine
herausgestreckte Zunge tippend.

»Ochsenzunge,« übersetzte nach dem Anblick des fraglichen Objektes ein
Leutnant die Pantomime, und als sich das um den Kreis laufende Kichern
gelegt hatte, fuhr der Erzähler fort:

»Eben! =Ox tongue= heißt es englisch. Nachher kam so eine gebackene
Splitterteig-Chose, gefüllt mit einem Mansch von Krebsschwänzen, Spargeln
und -- und -- und« er klopfte mit dem Zeigefinger auf den Kopf.

»Kalbsgehirn,« interpretierte man die bezeichnende Bewegung.

»Jawohl,« sagte der Erzähler freudig, aber nun war es vorbei mit aller
Fassung und ein brausendes Gelächter versenkte auf ewig die »kapitale
Geschichte« in das Meer der Vergessenheit. Der Graf nahm auch den Fund von
Kalbsgehirn und Ochsenzunge bei ihm selbst gar nicht übel, er war froh,
daß er schweigen durfte und den guten Sekt trinken.

»Und nun der Vortrag des Doktor Ruß,« rief Lolo, als das Lachen sich
gelegt hatte.

»Er ist noch nicht ausgearbeitet,« wehrte der Angeredete ab.

»Ich höre hübsche, nette Geschichten für mein Leben gern,« gestand der
Kommandeur. »Es hört sich so behaglich zu, besonders hier im Freien, eine
gute Cigarre dazu als Würze. Wer erzählt noch eine Geschichte?« rief er
laut.

»Ich,« sagte Frau Ruß in das allgemeine Schweigen hinein.

»Du? Liebes Weib, du scherzest,« flötete Doktor Ruß taubensanft.

»Frau Ruß hat das Wort,« sagte der Kommandeur erstaunt, aber sehr
höflich, und alles lauschte gespannt, was wohl diese Frau, welche immer
die Rolle der Stummen spielte, erzählen könnte.

Frau Ruß aber suchte mit den Augen ihren Sohn und nickte ihm zu, dann
richtete sie die Augen auf das Wasser und begann:

»Es war einmal eine Frau --«

»Also ein Märchen,« sagte Graf Schinga mit langem Gesicht.

»Ja, ein Märchen,« sagte Frau Ruß und begann nochmals: »Also, es
war einmal eine Frau, die war Witwe und hatte ein Kind, das einmal einen
großen Besitz erben sollte. Erbschaften aber sind Güter im Monde --
Luftschlösser. Und auch dieses Luftschloß zerfiel in Staub und Spreu und
das Kind der Witwe blieb arm. Die Witwe aber heiratete wieder --«

»Kommt zuweilen vor,« brummte Graf Schinga.

»Und sie heiratete einen bösen Mann,« fuhr Frau Ruß fort.

»So? Sonst sind meist die Weiber die Xantippen,« sagte Graf Schinga
trocken, doch Frau Ruß erzählte unbeirrt weiter.

»Sie heiratete einen bösen Mann -- einen _schlechten_ Mann. Denn er
liebte, weil seine Frau alt und welk wurde, ein junges, schönes
Mädchen, die Erbin der Güter, als deren Herrn er seinen Stiefsohn
erträumt -- --«

Sie hielt einen Augenblick inne, ohne den Blick vom Wasser abzuwenden, ohne
auf das fest auf sie gerichtete Antlitz ihres Sohnes zu sehen, ohne das
blasse Gesicht von Dolores mit den Augen auch nur zu streifen.

»Eine recht uninteressante Geschichte, mein Herz,« sagte Doktor Ruß
leise, mit seltsam schwankender Stimme.

Währenddem war auch Falkner neben seine Mutter getreten.

»Möchtest du uns deine Geschichte nicht lieber zu Hause erzählen,
Mutter?« fragte er leise, sich über sie beugend. Aber sie achtete weder
auf den einen, noch auf den anderen.

»Und weil der zweite Mann der Witwe das junge Mädchen nicht sein nennen
konnte, und weil sie ihn nicht wieder liebte, beschloß er sie zu töten.«

»Gott, wie romantisch,« gähnte Lolo.

»Unangenehmer Gentleman,« knurrte Schinga, Doktor Ruß aber lachte laut
auf. Er lachte sonst immer leise.

»Das glaubte nämlich seine Frau,« fuhr Frau Ruß in ihrer gleichen,
monotonen Weise fort. »Aber es mochte ihn noch anderes treiben -- der
Besitz. Denn der Sohn der Witwe war der Erbe des Mädchens, und als
Stiefvater des Besitzers dachte er sich wohlversorgt. Vielleicht war das
auch der richtige Grund -- aber die Frau war eifersüchtig, weil sie alt
geworden war, weil er jünger war als sie, und sie keinen Reiz mehr auf ihn
ausüben konnte. Und weil die Frau eifersüchtig war, da spürte sie seinen
Wegen nach -- o, so sacht, so unverdächtig, so sicher! Sie schlief
nachts nicht einmal mehr, denn der Mann hatte die Gewohnheit im Schlafe
zu sprechen, und sie lauschte alle Nächte mit bitterem Weh und wild
schlagendem Herzen, ob er von dem schönen Mädchen und seiner Liebe zu
ihr im Traume reden würde. Doch nur selten nannte er ihren Namen. Aber die
Frau erfuhr aus seinen Reden etwas anderes -- nämlich, daß er ein Mörder
sei, daß er das Mädchen töten wollte. Und so erfuhr sie, wie er sie
belauscht am Wasser, und daß sie einen anderen liebte -- wen sagte er
nicht. Aber er redete wild davon, wie er sie ins Wasser gestoßen und ein
anderer sie gerettet -- ›Wer hätte auch voraussehen können, daß sie
schreien würde!‹ so sagte er unablässig in jener Nacht.«

Von den Zuhörern flüsterten längst während der Erzählung der Frau
Ruß Zwei und Zwei oder Gruppen miteinander. Nur Dolores hörte hoch
aufgerichtet, aber leichenblaß zu, Doktor Ruß zupfte die Rippen eines
Buchenblattes aus und Falkner stand wie hypnotisiert und sah nach Dolores
hinüber.

»Als aber das Mädchen aus dem Wasser errettet worden war, versuchte
es der Mann mit einem anderen Mittel,« fuhr Frau Ruß fort. »Denn das
Mädchen hatte eine Schußwaffe, die nahm er, als sie abwesend war, und
übte sich damit. Er wollte sie erschießen und die Pistole dann in ihre
Hand geben, als hätte sie es selbst gethan, und er bereitete alles vor,
indem er erzählte, daß das Mädchen lebensmüde sei aus unglücklicher
Liebe. Aber der Schuß ging fehl, und er fand Zeit, die Waffe
zurückzulegen an ihren Platz, ehe das Mädchen sie suchen konnte. O, seine
Frau spürte ihm wohl nach und sah alles, alles, alles. Denn sie hatte eine
wilde Freude an seinem Thun, weil sie das Mädchen haßte, haßte, haßte!
Und weil sie eifersüchtig war. Als nun aber der Mann sah, daß er
so nichts ausrichtete, da fing er an, dem Mädchen Gift zu geben, ein
langsames, schleichendes Gift, das die sonst so Gesunde hinsiechen und
hinwelken machte, wie eine Blume im Herbst. Da erwachte das Gewissen der
Frau bei dem Anblick dieser welkenden Lilie und sie schlug an ihre Brust
und sagte: ›=mea culpa, mea culpa, mea maxima culpa=,‹ wie sie in der
Messe oft so gedankenlos gethan. Aber sie sagte dem Manne nicht, daß sie
ihn entdeckt habe, denn sie wußte, er würde sie töten aus Rache und
Angst vor ihrer Mitwisserschaft, sie wußte, daß der Tod ihr sicher sei
für ihre Entdeckung, weil der Mann grausam war -- eine Bestie unter dem
Firnis höchster Kultur. Und die Frau suchte seine Wege zu durchkreuzen, um
das fressende Gift in dem Mädchen aufzuhalten und es womöglich zu retten.
Aber das Mädchen verstand nicht, was sie wollte, und entsetzte sich vor
den warnenden Zeichen, die sie ihm gab. Und das Gift wirkte dem Manne zu
langsam, unerkannt sogar von dem Arzte, der herbeigeholt werden mußte,
und er beschloß, die Sache abzukürzen. Wieder erzählte er von dem
Lebensüberdruß und den Selbstmordgedanken des Mädchens, denn er
wollte sie mit einem schnellen Gift töten und neben ihre Leiche
einen gefälschten Brief legen, darin er sie ihren Selbstmord bekennen
läßt -- --«

So weit war Frau Ruß gekommen, jetzt aber wandte sie sich um und sah die
wenigen, die ihr zuhörten, triumphierend an.

»Aber die Frau hatte einen Nachschlüssel. Sie schüttete das Gift aus,
das die Aufschrift ›Blausäure‹ trug, und weil es nach bitteren Mandeln
roch, that sie in die leere, sorgsam gereinigte Flasche etwas Wasser,
parfümiert mit bitteren Mandeln -- mit weniger, als man zur Würze einer
Mehlspeise braucht. Der Mann aber, der davon nichts ahnte, machte die
Etikette los von der Flasche, schrieb eine andere Etikette und brachte sie
dem Mädchen als Schlaftrunk. Und ohne die rastlos spürende Frau schliefe
sie jetzt den ewigen Schlaf --«

»Den ewigen Schlaf --« wiederholte Dolores leise, denn sie spürte ein
seltsames, unbekämpfbares Ohnmachtsgefühl in sich aufsteigen.

»Nun, und wie endete die Geschichte?« fragte der Kommandeur interessiert.

»Ich kenne den Schluß nicht,« sagte Frau Ruß sichtlich erschöpft.

»_Wahrscheinlich_ endete sie mit dem Tode des armen Mädchens,« meinte
der Kommandeur.

»_Hoffentlich_ mit dem Zuchthause des bestialischen Lumpen, der seine
Verbrechen so unmenschlich überlegt verübte,« sagte Falkner heiser.

»_Ganz sicher_ endete sie damit, daß man die Frau in ein Irrenhaus
sperrte. Denn solch' eine Geschichte kann sich doch nur eine Wahnsinnige
ausdenken,« vollendete Doktor Ruß kalt und lächelnd und schüttelte
ungläubig den Kopf.

Dolores sagte nichts. Sie lehnte, unfähig sich zu rühren, an einem
Baumstamm, aber sie fühlte Falkners Augen mit dem Ausdruck unsäglicher
Angst auf sich gerichtet, einer Angst, die in der Frage wurzelte:

»Ist sie, die das erzählt, wirklich wahnsinnig, oder sprach sie die
Wahrheit, die entsetzliche Wahrheit, deren Ende der Tod sein müßte?«

»Nehmt es mir nicht übel, aber warum wir heut' nichts wie solche grausige
Geschichten erzählen, sehe ich nicht ein,« sagte Lolo. »Das gehört an
den Kamin im Winter, da gruselt es sich schön dabei, aber hier im Sommer,
im Grünen, will ich lustige Dinge hören. Allons, Alfred,« rief sie
Falkner an, ihm einen abgebrochenen Zweig zuschleudernd. »Allons! Die
Reihe ist an dir, uns eine lustige Geschichte zu erzählen!«

Aber Falkner hörte nicht. Er stand da und wollte auf dem Antlitz von
Dolores entziffern, was ihm ein schreckliches Rätsel war, dessen Lösung
er sich jetzt nicht ertrotzen konnte, so lange die Gesellschaft ihm die
Pflicht auferlegte, zu _scheinen_, als ob er die Erzählung seiner Mutter
nur für eine Geschichte hielt, die sein Haus nichts anging. Denn wenn
etwas geschehen sollte, so mußte jedes Aufsehen vermieden werden.

»Nun?« fragte Lolo scharf, und als er auch darauf nicht antwortete,
flammte es auf in ihrer leicht erregbaren Seele. »Du schweigst ja, wie
Ekkehard, als er Frau Hadwig eine Geschichte erzählen sollte unter der
Zeltlaube auf dem Hohentwiel,« rief sie hinüber. »Willst du uns am Ende
auch eine Geschichte erzählen von einem Nachtfalter, der um ein Licht
flog, das eine Rose im Stirnbande trug?«

Da that Falkner einen tiefen Atemzug, wie wenn er jetzt erst erwacht wäre
aus einem schrecklichen Traume.

»Nun passen Sie auf, jetzt wird er uns zum besten geben, wie er seine
Cousine Dolores aus dem Hexenloch zog,« sagte die junge Frau zu dem sie
umringenden Herrenkreise. »Er _hat_ sie nämlich faktisch einmal dort
herausgeholt,« beteuerte sie, als man diese Sache nicht ernst zu nehmen
schien. »Ich möchte wirklich wissen, Alfred, ob du es noch einmal thun
würdest, wenn ich zum Beispiel hineinfiele,« setzte sie nachdenklich
hinzu.

Doch Falkner war nicht dazu aufgelegt, solch' kindische Fragen zu
beantworten.

»Sei froh, daß du noch nicht hineingefallen bist,« sagte er zerstreut.

»Ich könnte ja hineinspringen, um zu sehen, ob du mich retten würdest,«
gab sie pikiert zurück.

»Na, das werden Sie hübsch bleiben lassen, gnädige Frau,« meinten die
Offiziere lachend.

»Hoho, denken Sie, ich habe keine Courage?« fragte sie pikiert.

»O, die haben Sie selbstverständlich wie ein Löwe,« wurde ihr lachend
geantwortet, »aber zwischen dem Hineinspringen in eine Regenpfütze
oder in dieses, jedenfalls heillos tiefe Wasser ist doch ein gewaltiger
Unterschied, besonders da hier noch der gurgelnde Strudel in Betracht
kommt.«

»Nun, wenn's nicht ein bißchen gefährlich wäre, dann hätte ein
Rettungsversuch ja auch keinen Wert,« erwiderte Lolo kokett.

»Ein _bißchen_ gefährlich? Gnädige Frau, hier sind die Chancen zum
Ertrinken größer als die des Rettens, das Hexenloch ist ganz zu empfehlen
für spleenige Engländer,« war die allgemeine Meinung.

»Natürlich -- Sie wollen sich bloß von dem Retten ›drücken,‹«
sagte Lolo noch koketter.

»Ich glaube, gnädige Frau drücken sich eher vom Hineinspringen,« wurde
ihr animiert erwidert.

»Ich?« rief sie, aufspringend. »Nun dann -- ich wollte heut' so wie so
ein kaltes Bad nehmen -- eins, zwei, drei -- =houp là, cousin!=«

Und ehe ein Mensch sie halten konnte, ehe jemand im entferntesten glauben
konnte, daß sie Ernst machen könne, spritzte das Wasser des Hexenloches
hoch auf und die kleine, weiße, zierliche Gestalt verschwand mit einem
hellen Gelächter der Schadenfreude, das in einem gellenden Schrei endete,
in der schwarzen unheimlichen Flut.

»Lolo! Herr des Himmels!« schrie Falkner auf -- er hatte auf das
Gespräch in seinen tiefen Gedanken nicht geachtet, es gar nicht gehört
und, hätte er es gehört, für ein kindisches Renommieren gehalten.

Und nun kämpfte er wieder mit dem Strudel des Hexenloches, diesmal
unterstützt von den Schwimmern unter den Offizieren, welche, ohne sich
zu besinnen, den Attilla abgeworfen hatten, und gleich Falkner, nach dem
Körper seiner jungen Frau tauchten und suchten -- -- vergebens.

Währenddem waren andere nach Rettungsapparaten fortgeeilt, aber es währte
doch geraume Zeit, ehe ein flaches Boot herbeigeschafft wurde, von welchem
aus man Fischernetze warf, trotzdem nach so langer Zeit wohl niemand mehr
daran glauben konnte, die Verunglückte lebend ans Land zu schaffen.

Aber das Hexenloch wollte sein Opfer nicht mehr herausgeben, denn alle
Bemühungen, Lolos Leiche ans Licht zu bringen, schienen eitel und nutzlos
zu sein. Fischer von Beruf arbeiteten unter Falkners Aufsicht die ganze
Nacht bei Fackellicht, doch erst als es wieder Tag geworden war, gelang
es durch künstliches Aufrühren des Wassers den Körper so nach oben zu
treiben, daß ihn der Strudel ergriff und sie ihn mit Hakenstangen ans Land
ziehen und auf den grünen Rasen legen konnten.

Und nun kniete im Morgenrot Falkner neben den Überresten des zarten,
elfenhaften Wesens, welches schon angefangen hatte, die große
Enttäuschung seines Lebens zu werden, und das nun das Opfer eines
unüberlegten, tollkühnen und kindischen Streiches geworden.

Vor der Majestät des Todes aber verstummt jede irdische Regung, Haß,
Bitterkeit, Schmerz, erlittenes Unrecht und die Erinnerung an trübe und
böse Stunden -- nur die Liebe bleibt, denn diese besiegt selbst den Tod.
Und wie Falkner im tiefsten Herzen erschüttert neben der Leiche seiner
jungen Frau kniete, da erlosch auch in ihm alle Bitterkeit, die er
empfunden, alle Reue -- er sah nur in der entflohenen Seele alles, was
liebenswert war, er dachte nur, wie sie ihn wirklich geliebt in ihrer
flatterhaften, unreifen Art; er vergaß sogar, daß _er_ sie niemals
geliebt, und die Augen wurden ihm trüb und trüber, und er schämte sich
der heißen Thränen nicht, welche langsam auf ihr blasses Totengesicht
herabtropften. Und dann erhob er sich und brach von einem rosigen
Spireenstrauch ein paar Dolden und legte sie ihr auf die junge Brust, in
der das lebensfrohe Herz aufgehört hatte zu schlagen und die Sänger des
Waldes sangen ihr zum Rauschen des Morgenwindes in den Buchen und Tannen
ein süßes Abschiedslied, das ihre Seele im Himmel vielleicht vernahm und
den Bann des schrecklichen Todes von ihr löste.

Alfred Falkner aber folgte der Bahre seiner jungen Frau als einziger
Leidtragender nach Monrepos, und als er das Parkgitter hinter sich schloß,
da durchzuckte ihn jäh wie ein Dolchstich der Gedanke:

»Was mag indes im Falkenhofe vorgefallen sein?«

       *       *       *       *       *

Als man Dolores hinweggeführt hatte vom Hexenloch, das erst eine Stätte
heiterster Laune und jetzt eine Stätte des Todes geworden war, als sie in
ihren Parkwagen stieg, da die Glieder nach der mächtigen Erschütterung
dieser Stunde ihr den Dienst versagten, und Gräfin Schinga schon zu ihr
einsteigen wollte, um sie nach dem Falkenhof zu bringen, da erschien, dicht
am Wagen, aus tiefem Gebüsch heraus, Frau Ruß, wilde Angst in den Augen.

»Nimm mich mit,« brachte sie mühsam hervor, drängte Gräfin Schinga zur
Seite und saß neben Dolores, ehe diese die kleine Scene noch beobachtet
hatte. Aber sie ließ, ohne zu fragen, die Pferde anziehen und im scharfen
Trabe nach dem Falkenhof gehen.

»Er sucht mich am Hexenloch,« flüsterte Frau Ruß atemlos, »aber ehe er
im Hause ist, bin ich schon da. Dolores, erbarme dich und rette mich, wie
ich dich gerettet habe!«

»Tante, ist es denn wahr? Soll ich deine Erzählung wirklich auf mich
beziehen?« fragte Dolores.

»Ja, ja! Aber du mußt mich retten, denn er wird mich heut' Nacht
töten!«

»Sei unbesorgt, Tante. Das würde ihn ja sofort ins Zuchthaus bringen.
Aber jedenfalls bleibst du bei mir.«

»Gottlob!« murmelte Frau Ruß.

Der Weg vom Hexenloch bis zum Falkenhofe war mit dem Wagen nur wenige
Minuten lang, und so waren die beiden Damen auch sehr schnell da. Sie
gingen sofort zu Dolores hinauf, und Ramo erhielt den strengen Befehl,
Doktor Ruß keinesfalls vorzulassen. Frau Ruß aber schritt sogleich zu dem
Schreibtische.

»Laß mich ein Telegramm an einen Arzt aufsetzen,« bat sie. »Ich weiß
nicht genau, wie oft er dir Gift gegeben und wieviel -- du bist vielleicht
trotz der momentanen Besserung eine Sterbende!«

Dolores nickte, und Frau Ruß schrieb das Telegramm, das klar ausdrückte,
um was es sich handelte. Als sie die Feder weglegte, deutete sie auf den
Kamin.

»Dort hatte er auch einen Schlupfwinkel, durch den Nordflügel her. Aber
du hast ihn zugebaut. Man kommt aus dem Souterrain auf einer kleinen Treppe
hinauf, die jetzt niemand mehr kennt.«

Nun war auch das Rätsel der Fußstapfen gelöst, und Dolores schauerte
es, als sie daran dachte, wie der Mörder durch diese geheime Verbindung
in tiefster Nacht zu ihr gelangen und sie töten konnte, ohne daß auch nur
ein Hahn danach gekräht --!

»O Tante, warum hast du mir das nicht früher gesagt!« rief sie, als Frau
Ruß das Telegramm an Ramo gegeben hatte. »Nicht das Geheimnis des Kamins,
aber die Mordgedanken deines Mannes! Warum mich sterben lassen, ungerührt,
und ich bin doch noch so jung! denn ich weiß, daß ich sterben muß!«

»Nein, nein,« schluchzte Frau Ruß erschüttert und sank vor Dolores auf
die Kniee nieder. »Ich sagte dir schon, daß ich dich haßte, weil ich an
meines Mannes Liebe zu dir glaubte und eifersüchtig war. Sein Attentat auf
dich am Hexenloch erfuhr ich erst durch sein gewohnheitsmäßiges Sprechen
im Traume -- den Schuß auf dich sah ich im voraus, weil er sich dein
Pistol genommen, als du zu Alfreds Hochzeit fort warst, und sich damit
übte, wenn er sich unbeobachtet glaubte -- aber woher sollte ich wissen,
_wann_ er die Waffe auf _dich_ abfeuern würde? Und sollte ich ihn
denuncieren auf einen bloßen Verdacht hin? Er war doch immerhin mein Mann
und ich habe neben ihm am Altar gestanden!«

»Halt,« unterbrach sie Dolores, »mir fällt etwas ein.«

Und sie erhob sich, um bald darauf mit dem kleinen Teschinpistol wieder zu
kommen, das sie neben sich auf den Tisch legte.

»Ich fürchte, ich habe in vergangener Nacht nicht seinen letzten Besuch
empfangen,« sagte sie mit seltsam entschlossener Miene. Als sie wieder
saß, fuhr Frau Ruß fort:

»Er muß dir wohl schon mehrere Giftdosen beigebracht haben, ehe ich
entdeckte, daß er mit diesen Mitteln gegen dich vorging. Ich sah es zum
erstenmal beim Thee, daß er ein weißes Pulver in deine Tasse schüttete.
Und damals war es noch eine mit Gewissensbissen vermengte Freude, die ich
Unholdin dabei empfand. Erst als ich dich verfallen und welken sah wie eine
Blume, da gingen mir die Augen auf und ein namenloses Mitleid ergriff
mich für dich! Wie aber dich warnen, ohne _ihn_ preiszugeben? Und
so durchkreuzte ich jeden seiner Wege, immer wachsam, Tag und Nacht
beobachtend und lauschend -- es war ein Höllenleben. Weißt du noch den
Abend, als Engels den geschossenen Adler brachte? Während mein Mann das
Maß suchte auf dem Tische, that er sein Höllenpulver in deine Tasse; ich
sah es und stieß dich an, um es dich gleichfalls sehen zu lassen. Aber du
wußtest nicht, was ich meinte, und um dich am Trinken zu verhindern,
sah ich dich so lange starr und stier an, bis mein Blick dich so jäh
erschreckte. Und ich zerbrach auch mit Absicht die Arzneiflasche hier in
deinem Zimmer, denn er hatte dir den nichtssagenden Trank mit seinem
Gifte gewürzt. An diesem Tage wollte ich sprechen, wollte meinen Gatten
anklagen, aber du wandtest dich ab von mir, und Gräfin Schingas Ankunft
vereitelte meine Absicht. Wie ich die Blausäure unschädlich machte in
seinem Geheimfach -- das erlasse mir zu schildern. Aber hier --« und sie
zog ein Blatt Papier aus der Tasche, »hier ist der Brief, den er neben
deine Leiche legen wollte, nachdem du das Gift genommen --«

Schaudernd und mit einer Ohnmacht kämpfend sah Dolores auf das Blatt
herab, auf welchem ihre Schriftzüge in meisterhafter Nachahmung es schwarz
auf weiß der Welt erzählten, daß sie selbst Hand an sich gelegt. Jetzt
erst konnte sie sich den nächtlichen Besuch des Doktors erklären: er war
nur gekommen, um sich von ihrem Tode zu überzeugen und dessen Schuld auf
die zu wälzen, deren Mund ihn nicht mehr Lügen strafen konnte. Und ein
ungeheurer Ekel ergriff sie vor der Erbärmlichkeit der Menschen, die
lieber ihren Nächsten aus dem Hinterhalte angreifen und vernichten, ehe
sie offen vor ihn hintreten und sagen: Das will ich von dir, _kannst_ du es
geben, so gieb!

»Heut' den ganzen Tag habe ich's dir sagen wollen, wie ich's jetzt gesagt
habe,« sagte Frau Ruß traurig, »du aber hast mich niemals sehen und
sprechen wollen. Da blieb mir nichts übrig, als jene Erzählung draußen
am Hexenloch, denn ich fürchtete alles für dich in der kommenden Nacht.
Aber wenn du mich jetzt nicht schützen kannst --«

Und sie rang verzweiflungsvoll die Hände.

»Er wird dir nichts mehr anhaben dürfen,« sagte Dolores matt, denn ihre
überreizten Nerven fingen an nachzugeben, und sie fühlte, daß sie vor
einer physischen Katastrophe stand.

Doch die Stimme des Doktor Ruß draußen im Korridor stachelte sie
noch einmal auf. Sie drängte die schreckensbleiche Frau hinein in ihr
Schlafzimmer und wartete gespannt darauf, was er thun würde. Aber Ramo
verteidigte seine Festung gut und alles ward wieder still. Nun kam das
Ruhebedürfnis mächtig über sie, und gerade wollte sie demselben Folge
geben, als Doktor Ruß draußen abermals vernehmbar ward. Nun fühlte sie,
daß es am besten war, diese Sache ein für allemal abzuthun, darum schritt
sie entschlossen zur Thür, öffnete sie und stand ihrem Feinde gegenüber.

»Ich hatte gewünscht, allein zu bleiben,« sagte sie kühl.

Doktor Ruß trat sogleich über die Schwelle und auf einen Wink von Dolores
schloß Ramo die Thür.

»Teuerste Nichte, ich wünsche Ihre Ruhe nicht für einen Moment zu
stören,« sagte er in seiner gewohnten leisen und verbindlichen Weise.
»Ich suche meine Frau. Ist sie bei Ihnen?«

»Ja,« sagte Dolores kurz.

»Ach, ich hatte also recht gehört. Gestatten Sie mir also, sie
hinabzuführen in unsere Zimmer.«

»Nein!« erwiderte Dolores.

»Nein?« wiederholte er. »Aber ich verstehe, wie Sie in Ihrem Edelmut
dieser armen Unglücklichen Pflege angedeihen lassen wollen. Dennoch bitte
ich Sie um Ihrer eigenen Sicherheit willen, _meine_ Frau in _meine_ Obhut
zu geben.«

»Tante Adelheid wird bei mir bleiben,« entgegnete Dolores ruhig.

Er wehrte mit der Hand ab.

»Dolores seien Sie vernünftig! Meine Frau leidet an Wahnvorstellungen,
an Irrsinn! Wer bürgt mir, daß dieser nicht in Tobsucht ausartet und Sie
schwer schädigt?«

»Ich bürge dafür, Herr Doktor Ruß! Meine Tante war nie klarer, geistig
niemals zuverlässiger als heut'!«

»Aber, teure Dolores,« entgegnete Ruß eindringlich. »Bedenken
Sie doch --! Diese schweigsame, stille Frau tritt in einer großen
Gesellschaft plötzlich aus sich heraus und erzählt eine lange Geschichte
ohne Pointe, die sie sich aus den Gerichtsartikeln verschiedener Zeitungen
zusammengestoppelt hat --«

»Halt, Doktor Ruß,« unterbrach ihn Dolores. »Ich bin mir über Ihre
Pläne jetzt ganz klar. Sie wollen Ihre Frau in ein Irrenhaus bringen.«

Doktor Ruß lächelte mitleidig.

»Aber liebste Dolores, halten Sie mich für so unmenschlich, daß ich
meiner eigenen Frau die einzige Pflege entziehen würde, die ihrem Zustande
frommt? Ich bin leider nicht reich genug, um ihr diese Privatpflege
in meinem Hause angedeihen zu lassen. Ich sehe aber, Sie sind der Ruhe
bedürftig, lassen Sie uns daher kurz sein und mich meiner Frau selbst
annehmen. Es ist das beste, glauben Sie mir --«

»Ich bedaure. Tante Adelheid hat sich unter meinen Schutz gestellt und
weigert sich mit Entschiedenheit, Sie zu sehen,« entgegnete Dolores
unbewegt.

Doch Doktor Ruß zuckte mit den Achseln.

»Da haben Sie wieder einen Beweis ihres Irrsinns, denn der Grund dieser
Weigerung geht _über_ mein Begriffsvermögen,« sagte er.

Nun aber wallte es heiß auf in Dolores und stieg zornesrot in ihre
bleichen Wangen.

»Herr Doktor Ruß, Sie verlassen in diesem Augenblick das Zimmer,« sagte
sie befehlend. »Ich wünsche mit Ihnen nicht dieselbe Luft zu atmen.«

»Ah -- wie Sie befehlen,« erwiderte er nachlässig. »Die Herausgabe
meiner Frau aus Ihrer Gewalt wird das Gesetz mir erzwingen. Wenn Sie also
in Kollisionen mit diesem schon morgen treten, so ist es meine Schuld
nicht. Ich habe den gütlichen Weg voll betreten, wie Sie mir bezeugen
werden können. Wenn ich also morgen in aller Frühe die Gerichte anrufe,
so darf es Sie nicht wunder nehmen.«

Empört trat Dolores einen Schritt zurück.

»Die Gerichte, Herr Doktor Ruß, werden Ihre Frau in meinem Schutze
lassen, die Richter aber, welche den Falkenhof betreten auf _Ihren_
Ruf, werden Sie auf _meine_ Anklage hin wegen vierfachen Mordversuches
verhaften. Und Ihre Frau wird dann als Zeugin gegen Sie auftreten.«

Doktor Ruß hob beide Hände zum Himmel auf.

»Jetzt scheine _ich_ verrückt geworden zu sein,« sagte er ergeben.

»Kennen Sie diesen Brief?« rief Dolores, das Blatt hervorziehend, das
Frau Ruß ihr gegeben.

Da wurde er so bleich, daß seine Farbe ins Grüne überspielte, aber er
hielt sich tapfer.

»_Ihre_ Handschrift, Dolores.«

»O ja -- insoweit vortrefflich kopiert,« entgegnete sie bitter. »Ein
Autograph von mir selbst -- ein sinniges Gastgeschenk von Ihnen. Aber es
liegt mir nichts daran, den Namen Falkner durch den Schmutz eines
langen Kriminalprozesses zu schleifen, und darum stelle ich Sie vor die
Alternative, entweder Ihre Intentionen auszuführen, welche dann zweifellos
zu Ihrer Verhaftung führen würden, oder aber eine von mir ausgesetzte
Rente im Auslande zu verzehren. Sie haben also die Wahl und können sich's
bis morgen überlegen. Und nun gehen Sie!«

Aber er rührte sich nicht.

»Ich bewundere Sie schon lange,« sagte er ironisch, »aber heute
bewundere ich einen noch nie geahnten Charakterzug in Ihnen: den,
peremptorischer Kürze und eines wahrhaft souveränen Willens. Schade nur,
daß derselbe mir nicht in der Weise imponiert, als er vielleicht sollte.«

»Doktor Ruß,« sagte Dolores mühsam beherrscht, »ich sagte Ihnen schon,
daß meine Konversation mit Ihnen beendet ist. Verlassen Sie mich -- ich
wünsche allein zu sein.«

Jetzt aber warnte sie ein seltsames Glitzern in seinen Augen, auf ihrer Hut
zu sein.

»Gehen Sie,« wiederholte sie, indem sie die Pistole aus ihrer Tasche zog
und den Hahn spannte. »Gehen Sie -- oder bei Gott, ich schieße Sie nieder
wie einen tollen Hund, wenn Sie das Zimmer nicht verlassen haben, bis ich
drei gezählt --«

»Hoho! Ich denke, Brasilianerinnen führen nur ein Stilett,« höhnte er,
ohne sich zu rühren.

»Nicht doch -- wenigstens schieße ich besser als Sie,« erwiderte sie
vollkommen kalt und besonnen und begann zu zählen: »Eins -- zwei --«

»Ich gehe,« sagte er, etwas bleicher werdend, »denn wenn man wehrlos
ist, kann ein Rückzug nicht für Feigheit gelten. Und,« setzte er
salbungsvoll hinzu, »und obwohl diese Bedrohung meiner Person --«

»Notwehr!« fiel sie kühl ein.

»... die Bedrohung meiner Person ein teurer Spaß für Sie werden
_könnte_, so will ich dennoch keine Schritte thun, dieselbe zu ahnden,«
vollendete er. »Denn,« setzte er hinzu, »denn ich hege keinen Groll
gegen Sie und vergebe Ihnen, teure Dolores.«

Und damit ging er mit einer tiefen Verbeugung.

Aber als dieser künstliche Nervenreiz verflogen war, brach Dolores
zusammen. Sie hatte nur noch Zeit, Frau Ruß zu fragen, ob sie alles
gehört, und als diese bejahte, sagte sie:

»So sage es Alfred, genau Wort für Wort, wenn er herüber kommt.«

Dann fiel sie in eine ohnmachtsähnliche Lethargie -- Fieber stellte sich
ein und Frau Ruß durchwachte mit Tereza eine angstvolle Nacht an ihrem
Bette.

       *       *       *       *       *

Als Falkner am folgenden Mittag, nachdem er Stunden mit sich allein
verlebt, erschöpft an Leib und Seele, alles Traurige mit Kepplers Hilfe
besorgt und angeordnet hatte, als er noch einen Blick warf auf seine tote
Frau, welche im weißen Sterbehemd auf ihrem Bette lag, im Haare einen
Kranz von weißen Rosen, von jenem =Boule de neige=, den der Herzog
so sorgsam veredelt, da ging er hinüber nach dem Falkenhof, denn sein
Instinkt sagte ihm, daß man dort seiner bedurfte.

Zu gleicher Zeit mit ihm traf der Arzt aus Berlin ein, den Engels von der
Station geholt, und Falkner wartete, nachdem er ihn hinaufgeführt hatte,
im Ahnensaal, bis die Konsultation zu Ende sein würde.

Mit begreiflicher Spannung trat er dem berühmten Manne entgegen.

»Ich muß bis zum Abend hier bleiben, um den Erfolg eines Mittels
abzuwarten,« sagte er auf Falkners Frage. »Es scheint hier eine
komplizierte Vergiftung vorzuliegen, welche Ihre Frau Mutter mir auch
bestätigt hat. Leider hat das Gift schon größere Fortschritte in dem
Körper gemacht, welche bedauern lassen, daß nicht früher Hilfe dagegen
angerufen worden ist.«

Hier trat Frau Ruß ein, da sie ihres Sohnes Stimme gehört und der Arzt
benutzte ihre Anwesenheit, um sie zu fragen, auf welche Weise Dolores zu
dem Gifte gekommen sei, ob durch Unvorsichtigkeit, aus eigener Initiative,
oder durch fremde Personen.

»Der zweite Fall ist ausgeschlossen, und wir fürchten auch der erste,«
erwiderte Frau Ruß fest, und als der Arzt überrascht aufsah, setzte sie
hinzu: »Es ist der dringende Wunsch meiner Nichte, daß von dem Verdacht
gegen eine Person nichts in die Welt dringt. Der Arzt ist ja in so vielen
Fällen auch ein Beichtvater -- lassen Sie, Herr Professor, also diese
Mitteilung unter dem Beichtsiegel Ihres Wortes nicht aus dem Falkenhofe
herausdringen, denn er betrifft ein Glied der Familie.«

»Ich verstehe,« sagte der berühmte Mann, »und ich werde schweigen. Nur
könnten Sie mir meine Arbeit wesentlich erleichtern, wenn Sie mir einen
Anhalt über die Natur des Giftes geben könnten, falls dies im Bereiche
der Möglichkeit liegt.«

Aber Frau Ruß schüttelte mit dem Kopfe -- sie wußte, daß der Inhalt
der gewissen Pappschächtelchen aus dem Geheimfach des Rokokosekretärs
verschwunden war -- ob er das Gift enthalten, war dabei noch immer
fraglich, und sie klagte sich jetzt an, daß sie nicht Proben davon
entnommen.

»Ist meine Cousine in Gefahr?« fragte Falkner dann und sah den Arzt fest
an.

»Ja,« sagte dieser ohne Bedenken. »Die Gefahr ist nicht unmittelbar,
aber sie droht ohne Zweifel.«

»Und ist noch Hoffnung?« fragte Falkner leiser.

»So lange noch Leben ist, ist auch noch Hoffnung,« erwiderte der Arzt.

Das war aller Trost, und er war, bei Gott, schwach genug.

       *       *       *       *       *

Noch am selben Abende reiste Doktor Ruß ab, nachdem er eine längere
Unterredung mit seinem Stiefsohne gehabt.

Die Husaren aber ließen ihre Trompeter noch einmal blasen -- als Lolo
Falkner in die Gruftkapelle zur ewigen Ruhe gebettet wurde.

Die pathetischen Klänge des Chopinschen Trauermarsches und das Läuten des
Totenglöckchens, das der Wind hinübertrug zum Falkenhofe, weckten
Dolores aus dem Halbschlummer, in welchem sie seit den letzten drei Tagen
fortwährend gelegen.

»Was ist das?« fragte sie.

»Sie tragen Alfreds Frau zur Gruft,« erwiderte Frau Ruß, welche daheim
geblieben war, angstvoll, ob es die Kranke zu hören sehr erschüttern
würde.

»Die arme Lolo,« sagte Dolores, indem heiße Thränen aus ihren Augen
stürzten. »So reizend, so jung, und _seine_ Frau! Da scheint das Sterben
allzu hart.«

»Sie ist glücklich, denn sie ist bei Gott,« entgegnete Frau Ruß. »Hart
ist das Sterben nur für die, welche zurückbleiben.«

Draußen verklang der Trauermarsch und nur das Glöckchen läutete fort
und fort mit seinem feinen, hellen Ton, der durch die klare,
marienfädendurchzogene Spätsommerluft vibrierte wie ein Gruß aus einer
anderen Welt.

Da richtete sich Dolores auf.

»Zwei Plätze waren noch frei in der Falknergruft,« sagte sie, »und ich
habe in Schmerzen gebüßt nach der Prophezeiung der Ahnfrau, doch ich habe
sie nicht erlöst. Denn der zweite Platz, es ist mein Platz, und ihr sollt
mir darüber schreiben lassen den Spruch des Propheten Tobias: Der Mensch
blüht auf wie eine Blume und wird gebrochen.«

[Illustration]



Epilog.


Drei Jahre sind seitdem vergangen.

Es war wieder Herbst geworden, und die Blätter fingen an sich zu färben
in dem herrlichen Parke des Falkenhofes und zauberten im Verein mit dem
Sonnenlichte Tinten hervor, auf denen das entzückte Auge trunken weilte.

Die Sonne aber drang mit ihren Strahlen durch das fallende Laub mitunter
bis hinab zur Erde und machte das goldene Kreuz auf der Gruftkapelle in
siegreichem Feuer aufleuchten.

Die Pforten der Kapelle waren geöffnet, und unten in der Gruft kniete ein
großes, schönes junges Paar neben einem Sarge, auf welchen es eben einen
Strauß wundervoller weißer Moosrosen niedergelegt hatte. Zu Häupten des
Sarges aber war eine Tafel in der Mauer eingelassen, auf welcher die Worte
des Propheten Tobias geschrieben standen: »Der Mensch blüht auf wie eine
Blume und wird gebrochen.«

Nachdem sie lange in stillem Gebet gekniet, erhob sich die Dame.

»Laß uns zum Sarge der Ahnfrau gehen,« flüsterte sie, »ich habe hier
drei Rosen für sie -- die weiße ihrer schuldlosen Tage, die rote ihrer
Leiden und die goldfarbige ihrer Verklärung --«

Der Herr nickte und sie traten ein in die Bleikammer der Gruft. Dort schob
er den nur eben aufgesetzten, schweren Deckel des Prunksarges zurück, und
sie beugten sich beide herab, das einst so schöne Antlitz zu sehen, das
den unseligen Bruderzwist entfacht und nach mehr denn zwei Jahrhunderten
noch völlig kenntlich und wunderbar erhalten war.

Und die Dame nahm die drei Rosen und legte sie leise und vorsichtig, um den
Körper nicht zu berühren, der Ahnfrau auf die Brust, und als sie die Hand
kaum zurückgezogen, da geschah etwas Seltsames:

Vor den Augen der beiden zerfiel der sterbliche Rest der Freifrau Maria
Dolorosa von Falkner zu Staub und binnen wenigen Minuten, während denen
sie staunend neben dem entschwindenden Körper standen und schauten, ward
der Raum in dem Sarge leerer und leerer, und zuletzt lagen auf dem Boden
desselben inmitten einer grau scheinenden Asche nur noch die Schmucksachen,
welche man ihr mitgegeben, und -- die drei frischen Rosen von liebender
Hand.

Das Paar aber stand stumm und reichte sich die Hände über den Sarg
hinweg, durchschauert in tiefster Seele von Ehrfurcht vor dem, in dessen
Hand wir nur Staub und Asche sind. Und da war es beiden zu gleicher Zeit,
als hauchte ein unsichtbarer Mund einen Kuß auf ihre Stirn und ein kühler
Hauch berührte sie, wie wenn jemand vorüberschritte an ihnen.

Da sank die Dame erschüttert in die Kniee.

»Sie ist erlöst -- jetzt wird sie der Engel Alleluja hören, nach dem sie
sich so lange gesehnt!« flüsterte sie.

»Sie ist erlöst,« sagte auch er, aber laut und freudig und überzeugt,
und zog die Knieende empor an seine Brust.

Denn das Paar, es ist Alfred und Dolores von Falkner, das letzte
Edelfalkenpaar hat sich gefunden, und der Falkenhof hat wieder einen Herrn
und eine Herrin.

Dolores hatte lange ringen müssen mit dem Tode und hatte über ihn
gesiegt. Mit Frau Ruß war sie dann nach dem Süden gegangen, dessen warme
Sonne ihr die entschwundene Lebenskraft zurückgab -- nicht auf einmal,
aber allmählich Schritt vor Schritt. Und nachdem Lolo Falkner schon mehr
als ein und ein halbes Jahr ruhte in der Falkengruft unter dem Spruche des
Propheten Tobias, da kam Alfred Falkner auch nach dem Süden, und dort,
unter dem blauen Himmel von Capri legten sie die Hände zusammen zum Bunde
fürs Leben -- die Herzen hatten sich ja längst gefunden.

In Rom, der ewigen Stadt, wurden sie vermählt und blieben an der Stätte
ihres ersten, stillen Glückes monatelang, bis die Osterglocken verklungen
waren und das Pfingstgeläute sie zurücklockte in die deutsche Heimat, in
die grandiose grüne Waldeinsamkeit des Falkenhofes, des vielgeliebten.

Hier aber ward zum Erntefest ein Erbe getauft, ein junger Falke, ein
kräftiger Sproß am alten Stamm.

Und heut' war Dolores zum erstenmal hinausgegangen zur Gruft, einen Akt der
Pietät zu erfüllen an der Ahnfrau, deren Hand so wunderbar eingegriffen
in ihr Geschick, und an der unseligen, so vorzeitig geknickten
Menschenblume, die ihres Gatten erste Frau gewesen.

Langsam und schweigend schritten sie durch die schattige Eichenallee
zurück zu dem Falkenhofe, noch ganz erfüllt von dem Wunderbaren, das sie
unten erlebt in der stillen, kühlen Gruft. Und sie kamen überein, daß
sie niemand davon sagen wollten, damit nicht am Ende noch Spott oder eine
nüchterne, wissenschaftliche Erklärung den Hauch der Weihe abstreifte,
der unten über sie gekommen.

Als sie aber vor der Terrasse anlangten, da hatten sie ein liebliches Bild,
das sie ganz ins volle Leben zurückführte und ihnen das Herz in stolzem
Glücke klopfen ließ -- denn da stand eine lachende Wärterin in der
malerischen Tracht ihrer Heimat und hielt auf den Armen ein schneeweißes
Bündel von Spitzen, das mit blauen Schleifen umbunden war, und aus dem
Bündel guckte ein kleines Köpfchen hervor mit goldblondem Haar und ein
paar rosigen Fäustchen -- --

Daneben saß Frau Ruß, über einem Kinderjäckchen strickend, aber ihr
sonst so kaltes, ausdrucksloses Gesicht strahlte vor innerer Freude wie
verklärt und in ihren lichtblauen Augen leuchtete es mild und weich
wie nie vorher. Und sie kann wohl ruhig aussehen und zufrieden, denn der
Falkenhof ist ihre Heimat und die Liebe ihrer Kinder thaut alles auf,
was noch als Eis um ihr Herz gelegen hat -- und -- Doktor Ruß lebt in
Australien, als hochgeachteter Mann und Träger einer Würde, von seiner
Revenue, die ihm alljährlich aus dem Falkenhofe zufließt.

Vor dem kleinen Werner Falkner aber steht auch der alte Engels und
schmunzelt vergnüglich und hält den Atem an, als könnte der schon dem
Edelfalken vor ihm schaden. Und als er die schönen, stolzen Eltern dieses
kleinen Wunders erblickte, da schwenkte er den alten Filz und rief ihnen
lachend und gerührt zugleich entgegen:

»Hurra, es lebe der Sproß des prophezeiten tausendjährigen Reiches der
Falken. Und wenn's auch etwas kürzer wird, was thut's? Denn unsere Augen
sehen sie noch blühen, die Falkner vom Falkenhof!«

[Illustration]



[ Hinweise zur Transkription


Das Originalbuch ist in Frakturschrift gedruckt.

Im Rahmen der Transkription

- wurde der Halbtitel entfernt;

- wurden Reihen von Gedankenstrichen, die im Original bis an das Zeilenende
laufen, auf fünf Gedankenstriche begrenzt.

Der Text des Originalbuches wurde grundsätzlich beibehalten, mit folgenden
Ausnahmen,

  Seite 10:
  "«" eingefügt
  (daß dieser Agnat sich verheiratet --«)

  Seite 23:
  "«" eingefügt
  (Nicht wahr, Baronin, ich darf in die Ahnengruft?!«)

  Seite 62:
  "»" vor "Frau" entfernt
  (Frau Ruß ließ den Strickstrumpf sinken)

  Seite 86:
  "»" vor "Stiebel" entfernt
  (Stiebel, du mußt sterben,)

  Seite 107:
  "informirt" geändert in "informiert"
  (Jedenfalls bist du sehr gut informiert)

  Seite 128:
  "den" geändert in "dem"
  (Pein machte ihr dann der Erbprinz [...] dem sie _jetzt_ nicht)

  Seite 130:
  "»" eingefügt
  (»Und seitdem nichts mehr?«)

  Seite 179:
  "«" hinter "stehenbleibend," entfernt
  (fragte er, stehenbleibend, scharf)]





*** End of this LibraryBlog Digital Book "Die Falkner vom Falkenhof. Zweiter Band." ***

Copyright 2023 LibraryBlog. All rights reserved.



Home