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Title: Leid und Freud einer Erzieherin in Brasilien
Author: Binzer, Ina von
Language: German
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*** Start of this LibraryBlog Digital Book "Leid und Freud einer Erzieherin in Brasilien" ***


Mindlin)



  ####################################################################

                     Anmerkungen zur Transkription

    Der vorliegende Text wurde anhand der Buchausgabe so weit wie
    möglich originalgetreu wiedergegeben. Typographische Fehler wurden
    stillschweigend korrigiert. Ungewöhnliche und altertümliche
    Schreibweisen bleiben gegenüber dem Original unverändert.
    Fremdsprachliche Ausdrücke (auch Orts- und Personennamen) wurden
    weder korrigiert noch vereinheitlicht, sofern der Sinn des Texts
    dadurch nicht verfälscht würde.

    Das Inhaltsverzeichnis wurde der Übersichtlichkeit halber vom
    Bearbeiter hinzugefügt; Fußnoten wurden an das Ende der jeweiligen
    Briefe versetzt. Im Original erscheint der Brief vom 21. Februar
    1882 vor demjenigen, der auf den 17. Februar 1882 datiert wurde.
    Die Reihenfolge der Buchausgabe wurde gleichwohl beibehalten.

    Das Original wurde in Frakturschrift gesetzt. Besondere
    Schriftschnitte wurden in der vorliegenden Fassung mit den
    folgenden Sonderzeichen gekennzeichnet:

        kursiv:    _Unterstriche_
        gesperrt:  +Pluszeichen+
        Antiqua:   ~Tilden~

  ####################################################################



                    Leid und Freud einer Erzieherin

                             in Brasilien.

                            [Illustration]



                            Leid und Freud

                           einer Erzieherin

                                  in

                              Brasilien.

                            [Illustration]

                                  Von

                            Ina von Binzer

                            (Ulla von Eck.)

                            [Illustration]

                                Berlin.

                     Richard Eckstein Nachfolger.

                           (Hammer & Runge.)



                       Alle Rechte vorbehalten.



Inhalt


                                                             Seite
  Fazenda de Saõ Francisco, den 27. Mai 1881                    1

  Saõ Francisco, den 9. Juni 1881                               9

  Saõ Francisco, den 20. Juni 1881                             13

  Saõ Francisco, den 11. Juli 1881                             21

  Saõ Francisco, den 25. Juli 1881                             26

  Saõ Francisco, den 14. August 1881                           35

  Saõ Francisco, den 1. September 1881                         43

  Saõ Francisco, den 17. September 1881                        56

  Saõ Francisco, den 5. October 1881                           59

  Saõ Francisco, den 22. Oktober 1881                          68

  S. F., den 3. Dez. 1881                                      70

  Rio de Janeiro, den 24. Dezember 1881, Abends                71

  Petropolis, den 15. Januar 1882                              76

  Rio de Janeiro, den 8. Februar 1882                          83

  Rio de Janeiro, den 12. Februar 1882                         90

  Rio de Janeiro, den 21. Februar 1882                         94

  Rio de Janeiro, den 17. Februar 1882                         99

  Rio de Janeiro, den 2. März 1882                            107

  Saõ Paulo, den 20. März 1882                                109

  Saõ Paulo, den 5. April 1882                                114

  Saõ Paulo, den 21. April 1882                               120

  Saõ Paulo, den 5. Mai 1882                                  124

  Saõ Paulo, den 29. Mai 1882                                 133

  Saõ Paulo, den 20. Juni 1882                                138

  Saõ Paulo, den 28. Juni 1882                                144

  Saõ Paulo, den 1. Juli 1882                                 146

  Saõ Sebastiaõ, den 11. Juli 1882                            148

  Saõ Sebastiaõ, den 19. Juli 1882                            156

  Saõ Sebastiaõ, den 28. Juli 1882                            163

  Saõ Sebastiaõ, den 5. August 1882                           169

  Santos, den 20. August 1882                                 173

  Santos, den 22. September 1882                              179

  Saõ Sebastiaõ, den 4. Oktober 1882                          183

  Saõ Sebastiaõ, den 27. Oktober 1882                         187

  Saõ Sebastiaõ, den 17. November 1882                        197

  Saõ Sebastiaõ, den 5. Dezember 1882                         206

  Saõ Sebastiaõ, den 18. Dez. 1882                            209

  Saõ Paulo, den 28. Dezember 1882                            210

  Santos, den 2. Januar 1883                                  214

  Saõ Sebastiaõ, den 9. Januar 1883                           215

  Verlobungsanzeige                                           225



[Illustration]



    Fazenda de Saõ Francisco, den 27. Mai 1881.

    +Meine liebe Grete!+

Fazenda bedeutet Pflanzung. Es thut mir leid, daß es nicht Hacienda
heißt, da Ihr das wahrscheinlich bis jetzt geglaubt habt, und ich Euch
also gleich beim ersten Worte meines ersten Briefes enttäuschen muß.
Ihr könnt Euch aber mit mir trösten, es ging mir ebenso, und es war
doch so hübsch, als wir noch so unschuldig Spanisch und Portugiesisch
verwechselten. So geht eine Illusion nach der andern verloren!

Daß diese Fazenda Saõ Francisco heißt, ist durchaus nicht wunderbar;
im Gegenteil, es wäre merkwürdig, wenn sie anders hieße; einundzwanzig
Ortschaften in Brasilien heißen Saõ Francisco, und der Pflanzungen, die
dieser beliebte Heilige unter den Schutz seines Namens nehmen muß, sind
Legion.

Eine zweite Enttäuschung wird Dir sein, daß ich Euch über meine Reise
von Rio de Janeiro bis hierher nicht einmal von einem Indianerüberfall
oder einem Tigerkampf berichten kann -- als Geringstes hättet Ihr doch
eine Riesenschlange verlangen können -- und ich sehe vollständig ein,
wie sehr es mich von vornherein andern Tropenreisenden gegenüber in
Euer Aller Augen herabsetzen muß, daß ich ohne weiteren Unfall hier
angekommen bin.

Doch dem ist so.

An der Eisenbahnstation holte mich Dr. Rameiro[1] selbst ab, und, denke
Dir, Grete, in einer ganz bequemen europäischen Halbchaise! Selten
hat mich wohl eine Halbchaise so geärgert wie diese! Wenn ihr doch
wenigstens unterwegs ein Rad gebrochen wäre, oder der Negerkutscher
versucht hätte, uns in irgend einen Abgrund zu fahren, etwa aus Rache
für erlittene Züchtigung, denn der war doch wenigstens ein richtiger
Sklave! Aber ich muß beschämt wiederum eingestehen, daß er recht
gutmütig über seiner platten Nase dreinschaute und wahrscheinlich
garnicht an einen Abgrund dachte. Nun, hoffen wir, daß das Geschick ein
Einsehen hat und mich noch in eine recht gefährliche Situation geraten
läßt.... aber so, daß ich sie Dir nachher noch beschreiben kann.

Also Dr. Rameiro holte mich ab. Er wird „Doktor“ genannt. Warum, weiß
ich nicht, und ich bezweifle, ob er selbst oder die, welche ihn so
anreden, irgend eine befriedigende Auskunft darüber geben könnten außer
der, daß jeder besser situierte Brasilianer ein natürliches Anrecht
auf diesen Titel mit auf die Welt bringt, und es also einesteils
unbescheiden, andernteils blödsinnig erscheinen müßte, wollte jemand
von ihm verlangen, daß er sich denselben durch ein höchst überflüssiges
Studium erst verdiente.

Er sprach portugiesisch, ich französisch.

Es soll kaum einen Brasilianer geben, der nicht französisch spräche,
manchen aber auch, der nur einen sehr unvollkommenen Begriff hat von
der Lage des dazugehörigen Landes oder davon, daß es in demselben auch
noch einige andre Ortschaften giebt als Paris. In dem Kopfe meiner
Negerin ist „Paris“ identisch mit allem und jedem außerhalb Brasiliens
befindlichen Gebiet, und da ich ihre unbegrenzte Hochachtung vor diesem
merkwürdigen Dinge „Paris“ sehe, dem ich natürlich auch entstamme, so
habe ich mich wohl gehütet, dasselbe und die Leistungsfähigkeit seiner
Kinder berichtigender Weise durch mein achttägiges Portugiesisch zu
diskreditieren.

„Meine Negerin“ -- nicht wahr, das ist bis jetzt noch das Beste an
meinem Brief, das klingt doch nach was! Sie heißt sogar Olympia, was
die Sache doch entschieden noch pomphafter macht, und sagt bei jeder
Gelegenheit höchst unterwürfig „~Sim, Senhora~“, auch wenn ich
sie schelte. Im Vertrauen will ich Dir zwar sagen, liebe Grete, daß
sie das scheußlichste, dicklippigste schwarze Geschöpf ist, das je
einen hochtrabenden Namen trug, und daß das „~Senhora~“ ganz etwas
gewöhnliches hier ist, wie in Berlin z. B. „gnädige Frau“. Außerdem
macht Einen das ewige „~Sim, Senhora~“ zuletzt ganz stumpfsinnig,
da sie es überall und immer anwendet, zumal wenn sie mein Portugiesisch
nicht verstanden hat, was einige Male am Tage vorkommt. Aber dies
erzähle den Andern nicht, hörst Du!

Dr. Rameiro besitzt noch gegen 200 Sklaven und Sklavinnen. Die meisten
arbeiten natürlich draußen im Kaffee, aber hier im Hause sind auch eine
ganze Anzahl, von denen einige auch etwas zu thun haben. In einem
großen Saale mit Oberlicht, der eigentlich den Eindruck eines großen
Flures macht, sitzen ein Neger und eine Negerin je an einer Nähmaschine
und klappern den ganzen Tag. Rings umher an der Erde und auch in einem
anstoßenden Raume, der wieder wie ein Flur aussieht und an die Küche
stößt, sitzen zehn bis zwölf Negerinnen und nähen, und eine jede hat
einen Korb aus Bambusgeflecht vor sich, worin ein kleines Kind liegt,
von welcher Kollektion natürlich immer mindestens eines schreit. Da zu
diesen Näharbeiten nur Negerinnen mit ganz kleinen Kindern, die sie
nicht verlassen können, verwendet werden, so ist es klar, daß, wenn
welche dasitzen, auch die Bambuskörbe nicht fehlen und mindestens aus
einem derselben geschrieen wird.

Das Küchenpersonal besteht aus drei Personen. Wer von ihnen kocht, habe
ich in diesen Tagen noch nicht herauskriegen können; manchmal schmeckt
das Essen so, als wären ihre Ansichten in Bezug auf die erforderlichen
Zuthaten in den denkbarsten Diametralen auseinander gegangen und hätte
schließlich jeder von ihnen die seinige durchgesetzt, manchmal scheint
es, als haben sie sich um des lieben Friedens willen alle drei von der
Sache zurückgezogen.

Ein kleiner zwölfjähriger Mulatte mit unverschämtem Gesicht und einer
scheinbar unbesiegbaren Anhänglichkeit an schmutzige Anzüge und
Purzelbäume, in welchen letzteren er eigentlich +geht+, hat des
Mittags mit einer kleinen Fahne (die jedenfalls jetzt bräunlich-grau
ist, was sie auch früher gewesen sein mag) die Fliegen über dem Tisch
zu verjagen, was meiner Ansicht nach viel unerträglicher ist als die
Fliegen, und außerdem den Kaffee zu servieren. Aber trotzdem diese
Erfrischung mindestens vier Mal am Tage eingenommen wird, kann diese
Arbeit doch nicht als ausreichende Beschäftigung für einen ganzen
Tag angesehen werden, und es läßt sich also garnicht absehen, bis zu
welcher Virtuosität in Purzelbäumen diese kleine gelbe Kreatur es noch
bringen kann, wenn er auch nur die Hälfte seiner freien Zeit auf ihre
Vervollkommnung verwendet.

„Freie Zeit!“ Ach, liebe Grete, bei dem Worte könnte ich elegisch
werden. Weißt Du noch, wie wir es als unumstößlich richtig unter uns
ausmachten, daß die Brasilianer den ganzen Tag weiter nichts thäten als
fesch aussehen und rauchen, ihre Damen, in duftigste Gewänder gehüllt,
sich in Hängematten wiegten und sich dabei von kleinen interessanten,
weiß und roth gekleideten Negerknaben befächern ließen? Wie Orangen-
und Bananenbäume in unsern Bildern eine merkwürdige Neigung hatten,
zu den Fenstern hineinzuwachsen, und bunte Papageien und die „süßen“
kleinen Kolibris nur so um Einen herumflogen wie die Tauben in Lillis
Park? Welche Idylle! Und natürlich würden solche idyllische Menschen
auch von ihrer Erzieherin nicht so etwas Rohes wie wirkliche handfeste
„Arbeit“ verlangen -- pfui -- man würde mit den Kindern im Schatten der
Orangenbäume ruhen, sie gleichsam spielend die theure Muttersprache
lehren, Papageien zähmen, Früchte essen, Gedichte machen, sich mit
Blumen schmücken.....

Ach, Grete! Ich sage nichts als „Ach!“

Dr. Rameiro raucht freilich -- es ist mir eigentlich noch nie
aufgefallen, daß er +nicht+ rauchte -- aber fesch kann ich ihn
mit dem besten Willen nicht finden! Weder wenn er mit gespreizten
Beinen vor dem Hause steht oder wenn er in den Kaffeeräumen
umhersteigt, noch wenn er abends thatenlos in der Hängematte liegt,
hat er die geringste Ähnlichkeit mit den schönen Brasilianern auf der
seligen Friedrich-Wilhelmstädtischen Operetten-Bühne. Es ist recht
niederschlagend!

Madame Rameiro liegt auch manchmal in der Hängematte, (diese spielen
vollkommen die Rolle eines Möbels und sind in den Zimmern mit starken
Haken an zwei passend zu einander gelegenen Thüren befestigt) aber
sie ist eine etwas lebhafte Dame, sie hält es nie lange darin aus,
und wenn ihre Energie erwacht, etwa ob einer schlechten Naht einer
Derer mit den Bambuskörben, so höre ich sie im Schulzimmer (was
hörte ich da +nicht+!) die Negerinnen anfeuern durch Wörter,
die merkwürdigerweise eine auffallende Ähnlichkeit haben mit recht
kräftigen heimischen Schimpfwörtern. Ich werde aber morgen im
Lexikon nach der friedlichen Bedeutung von „~diabolo~“ oder
„~canailla~“ suchen, um die gute Frau vor meinen eignen Augen zu
rechtfertigen, was dem Lexikon jedenfalls glänzend gelingen wird.

Von den Orangen und Bananen später. Jetzt nur noch ein Wort über die
Papageien. Was Du auch thust, liebste Grete, bringe sie nie wieder in
einer Idylle an, oder wenn Du es thust, begnüge dich mit +einem+
und laß +den+ taubstumm sein! In dem Zimmer mit den musikalischen
Bambuskörben hängen ihrer sechs an den Wänden umher auf kleinen ½ Fuß
breiten Ständern aus Blech, die wie Konsölchen aussehen. Des Morgens
um vier beginnen sie auf’s Energischste ihren Kaffee zu verlangen
und hören damit nicht eher auf als bis sie ihren Zweck erreicht
haben, frühestens und unter günstigen Verhältnissen nach anderthalb
Stunden; und dann plappern, schreien, quieken, kreischen und keifen
sie den ganzen Tag lang mit einer Unermüdlichkeit, die beschämend
sein würde, wenn sie Einen nicht, im Verein mit eilf andern Vögeln,
den Nähmaschinen und den Bambuskörben gradezu rasend machte! Sie sind
bis jetzt meine intimsten Feinde. In den ersten Tagen nährte ich eine
unbestimmte Hoffnung, daß sie bald sterben könnten, seitdem mir jedoch
vorgestern Molières hundertjähriger Papagei eingefallen ist, betrachte
ich sie nur zu oft wie Mr. Pickwick das widerspänstige Pferd, d. h. ich
überschlage im Geiste die möglichen Folgen davon, wenn ich sie alle
sechs umbrächte. Natürlich höre ich auch sie im Schulzimmer.

Man hört überhaupt in diesem idyllischen Hause überall alles, denn
Thüren und Fenster stehen samt und sonders fortwährend offen, und kein
Teppich, keine Gardine, kein Polstermöbel dämpft auch nur irgendwie
einen Schall, der Lust hat, sich fortzupflanzen. Ach liebe Grete, diese
Reitsäle von Zimmern, dieses grelle Licht, diese Korbgeflechtsophas und
Wiener Stühle sind so entsetzlich unromantisch, so garnicht idyllisch!

Und nun gar das ~dolce far niente~! Laß mich schweigen. Wir
waren erstaunlich „jung“, als wir uns überzeugten, daß das hier meine
Hauptbeschäftigung sein würde! Mit weiterem will ich heute Dein
mitfühlendes Freundesherz nicht zerreißen. Ich werde es Dir so nach und
nach beibringen.

Für heute leb’ wohl: der Thee ist serviert, denn „eins, zwei, drei“ --
nämlich Purzelbäume des Mulattenjungen. Drei braucht er vom Eßzimmer
bis hierher, und natürlich höre ich sie. Richtig, da murmelt er an der
Thür: „~Chà, Senhora~“ -- also bis zu meiner nächsten Muße. Möge
Dir die Zeit nicht allzu lang werden.

    +Deine Ulla.+


  [1] Das ei in portugiesischen Wörtern ist gewissermaßen getrennt zu
      sprechen mit dem Ton auf dem e.



[Illustration]



    Saõ Francisco, den 9. Juni 1881.

    +Liebste Grete!+

Weißt Du, was ich heute in die tiefsten Tiefen meines Koffers versenkt
habe?... Unsern +Bormann+, d. h. seine „vierzig pädagogischen
Briefe“. Sie passen nicht, Grete, sie passen hier nicht! Und ich hatte
mich so darauf verlassen! -- Wenn mich unterwegs die Angst befiel,
wie ich mit meinen brasilianischen Zöglingen fertig werden würde,
dann dachte ich immer an das hülfreiche kleine Buch unter meinen
Reiseeffekten und sagte mir beruhigt: So machst Du’s! Und nun.....!
Ach Grete, ich glaube, Bormann hätte hier oft selber nicht gewußt, was
er machen sollte. Man ärgert sich über so vieles, was sich garnicht
greifen läßt, und was doch da ist und immer wieder da ist!

In dieser gesegneten Familie sind zwölf Kinder, und sieben davon
habe ich unter meiner pädagogischen Fuchtel. Um sieben Uhr morgens
geht es los. Dann kommen erst „die Großen“ und nehmen eine deutsche
Stunde. Dona Gabriella, Dona Olympia und Dona Emilia sind schon
neunzehn, einundzwanzig und zweiundzwanzig Jahre alt, was für
Brasilianerinnen schon dicht an der alten Jungfer ist und mich bei
meinen eignen zweiundzwanzig sehr entsetzte; und dann denke Dir,
eine Schülerin immerfort mit „Dona“ anreden zu müssen! Die ersten
Morgende kamen sie regelmäßig zu spät in die Stunde, so daß ich mich
zu dem Ersuchen veranlaßt sah, doch pünktlich zu erscheinen, denn
damals lebte ich noch nach Bormann. Seitdem sitzen sie nun jeden
Morgen, wenn ich hereinkomme, ernst und schweigend um den Tisch mit
ihren blaßgelben, unbewegten brasilianischen Gesichtern, und auch das
dumpfe, gleichgültige: „~Bon jour, mademoiselle~“ bringt keinerlei
Ausdruck darauf hervor; keine Morgenfrische, keine Lernfreude, keine
persönliche Sympathie -- ach Grete, dies Trio ist entsetzlich lähmend!
Mir fällt jetzt immer bei ihrem Anblick die heilige Vehme ein, wo die
Richter nicht ernster und kälter in der Runde gesessen haben können.
Ich bin feige genug, bereits zu wünschen, ich hätte sie nicht um
Pünktlichkeit ersucht. Wir würgen uns mühsam durch diese deutsche
Stunde, natürlich immer durch das Medium des Französischen, und
letzteres ist noch das Beste von der Sache, denn sowie sie anfangen,
deutsch zu sprechen, verstehe ich keine Silbe mehr.

Ich bin immer ganz erlöst, aber auch schon halb kaput, wenn dann um
8 Uhr „die Kleinen“ kommen. Wenn sie auch unartig sind, so sind es
doch wenigstens Kinder, und nur die älteste von ihnen hat auch schon
etwas von der heiligen Vehme an sich. Ach Grete, sie sind alle so
„~provoking~!“ Sie thun alles, was ich sage, lernen alles, was ich
aufgebe, und doch irritieren sie mich namenlos!

Ich glaube gewiß, sie meinen nichts Böses, und manchmal finde ich meine
„Kleinen“ auch ganz drollig.

So saß ich neulich Sonntags ein Stündchen in dem paradiesischen
Garten auf der Bank unter einem mächtigen Mangabaum und träumte
-- ach Grete -- von deutschen Eichen, als mich plötzlich, wie ich
aufblickte, eine scheußliche kleine schwarze Kreatur vor mir in die
Tropen zurückschreckte. Denke sie Dir etwa zwölfjährig, mehr Affe
als Mensch, bis an die Ohren grinsend, mit unappetitlichem Wollhaar,
fingerbreitem Vorkopf, entsetzlich dickem Bauch und stockartigen
schwarzen Beinen, die vor Staub ganz lilla schimmerten; denke Dir
dies Ganze nur bekleidet mit der denkbar kürzesten Ausgabe eines
Hemdes von undefinierbarer Farbe, und Du wirst begreifen, daß ich von
diesem edlen Mitgeschöpf nicht grade hingerissen war. Im Gegenteil
bin ich wol etwas erschrocken zusammengefahren, denn sogleich trat
die kleine achtjährige Leonilla hinter einem Strauch hervor und sagte
beruhigend und protegierend zu mir: „~N’ayez pas peur, mademoiselle,
c’est Jacob~“, und dann, als mein Gesicht wohl immer noch nicht
den genügenden Ausdruck der Begeisterung zeigte ob dieser ehrenden
Bekanntschaft mit dem heiligen Erzvater, fügte sie, halb indigniert,
halb erläuternd hinzu: „~Il est à moi, grand’maman m’en a fait cadeau
à mon jour de fête.~“ Ich sage Dir, es war zu komisch; die kleine
Sklavenhalterin sah so stolz auf dies lebendige „Geburtstagsgeschenk“,
und das scheußliche kleine Besitzthum grinste so vergnügt zu dieser
Eigentumserklärung, die es allerdings wohl mehr erriet als verstand,
daß ich hell auflachen mußte. Überhaupt hat die Würde, welche hier
durch das Bestehen der Sklaverei unwillkürlich schon die Kinder
annehmen, oft etwas Komisches. Dagegen ist es wiederum rührend, wie sie
auch anderseits an den guten, treuen Negern und Negerinnen hängen. Die
kleine fünfjährige Maria da Gloria z. B. spart immer von ihrem Dessert
etwas über für ihre frühere Amme, eine hübsche junge Mulattin, oder
erbittet etwas für ihre kleine Milchschwester, und Alphonsina, die sich
sonst selber gern putzt, verschenkt doch ihr buntestes Band, wenn sie
denkt, daß die alte Anna es gern hätte.

Sie geben alle sehr gern und erfüllen Einem jeden möglichen Wunsch --
und doch -- und doch....!

Ach Grete, weißt Du, daß ich den Peter in der Fremde jetzt eigentlich
für einen ganz gescheidten Menschen halte!

    +Deine Ulla.+



[Illustration]



    Saõ Francisco, den 20. Juni 1881.

Ich wünschte, Gretel, Du könntest einmal zu einem brasilianischen
Mittagessen dabei sein! Eingeladen würdest Du zwar nicht „zu Tische“,
auch nicht einmal zu dem berühmten deutschen „Löffel Suppe“, sondern
zu einem „Glase Wasser“. Du kannst es aber getrost daraufhin wagen,
denn dies ~copo d’agua~ umfaßt ein recht vielseitiges Mittagessen
und hat als Appendix einen musikerfüllten Abend, sowie eventuell ein
Nachtquartier.

Wir waren gestern zu unsern Gutsnachbarn gebeten, übrigens Nachbarn
von fünf Meilen Entfernung, zu denen uns zwei mit je vier Maultieren
bespannte Wagen in scharfem Trabe hinbrachten.

Wir fanden schon einen größeren Kreis in der riesigen, siebenfenstrigen
~salla de visita~ beisammen. Das Wort „Kreis“ darfst Du allerdings
nur als Gewohnheitsausdruck fassen, denn die Gesellschaft präsentierte
sich so, daß je rechts und links von dem großen Rohrsopha, das in
nebelhafter Ferne sich dem Eintretenden gegenüber zeigte, sich in
scharfen rechten Winkeln eine Reihe von Stühlen abzweigte, die den Raum
vor dem Sopha frei ließen, und die den Eindruck hervorbrachten, als sei
man bei einem Gesellschaftsspiel. Der Eingeweihte weiß jedoch, daß er
diese rechten Winkel in jedem brasilianischen Hause wiederfindet. Der
Sophatisch steht in der Mitte des Saales.

Wir schüttelten rings herum alle bekannten und unbekannten Hände, wobei
ich als die neue „~professora~“ eingeführt wurde, und fragten
einander der Sitte gemäß höchst teilnehmend: „Wie geht es Ihnen, geht
es Ihnen gut?“ auch wenn man sich nie vorher im Leben gesehen.

Nachdem ich dann, neben Dona Gabriella sitzend, eine Weile den linken
Flügel einer jener Stuhlreihen occupiert hatte, meldete ein barfüßiger
Negerjunge, daß „das Mittagessen auf dem Tisch“ sei, und würdevoll
erhob sich die Hausfrau mit der Aufforderung: „~Vamus jantar~“ d.
h. gehen wir essen.

Zu beiden Seiten der Tafel standen barfüßige und nicht allzu saubere
Mulattenjungen, mit langen Bambusstöcken bewaffnet, an deren Ende der
eine eine kleine rothe Fahne, der andere einige in lange Streifen
geschnittene Exemplare des Rioer „~Jornal de Commercio~“
schwenkte, um die Fliegen und Mosquiten zu verscheuchen. Mit solch
einer Fahne war ich ja schon von Saõ Francisco her befeindet, jedoch
gegenüber diesen abscheulich raschelnden Papierfetzen, für deren
beleidigende Geschmacklosigkeit für Aug’ und Ohr aber außer mir niemand
von der Gesellschaft Sinn zu haben schien, sondern die man gewiß als
eine sehr geniale und liebenswürdige Erfindung betrachtete, bat ich dem
kleinen schmutzigen Lappen daheim allen geheimen Zorn ab.

Nachdem die Suppe gegessen war, begann ein Jeder das Gericht, das er
zu verwalten hatte, in der Runde anzubieten. Denn hier wird keine
Schüssel herumgereicht, sondern alles wird und zwar zu gleicher Zeit
auf den Tisch gesetzt und dann von dem Betreffenden, der das Gericht
vor sich hat, sei derselbe auch ein Gast, angeboten und serviert.
Jeder stellt sich dann seine Gänge ~ad libitum~ zusammen. So
begann auch ich denn tapfer mit meiner Schüssel schwarzer Bohnen,
dem geliebten ~feijaõ~ der Brasilianer, das bei keiner Mahlzeit
fehlt, zu wirtschaften: „~A Senhora quer feijaõ?~“ „~Um poco de
feijaõ, Senhor Doutor?~“ -- ganz fesch, sage ich Dir, ich imponierte
mir selber als „Brasilianerin“. Dazwischen wurde mir nun auch wieder
angeboten. „Wollen Sie ein wenig Reis?“ glänzte die Tochter des Hauses
mit einem deutschen Satz, in dem sie die Endsilbe von „wollen“ recht
deutlich betonte, das g in „wenig“ wie k aussprach und alle s wie ß.
„~Um poco de vinho, mademoiselle?~“ fragte der biedre Vater, der
nie eine andre Sprache gelernt als die „~lingua dos brancos~“, wie
das Portugiesische hier im Gegensatz zu den afrikanischen Ursprachen
der eingeführten Negersklaven genannt wird. „~Vous offrirai-je des
pommes de terre?~“ machte ein junger Herr, der eben aus „Paris“
zurück war (natürlich war er auch ~doutor~), und so setzte ich mir
denn unter dem Schweinebraten, Rinderfilet, schwarzen Bohnen, Huhn,
Reis, Kohl, Polenta, süßen Kartoffeln ein möglichst homogenes Mahl
zusammen. Ein +warmes+ Mittagessen wirst Du aber bei Brasilianern
schwerlich, oder doch nur mit Aufwand der größten Berechnung und
Gewandtheit zu essen bekommen, denn jedesmal, wenn Du Dein „~S’il
vous plaît~“ heraus hast, erwischt mit Blitzesschnelle der Arm
einer der bedienenden Negerinnen (hier waren es vier) Deinen Teller
und trabt mit ihm davon zu dem Verwalter der betreffenden Schüssel,
um das Verlangte zu holen. Du siehst hieraus, daß Du um so ruhiger
und um so wärmer essen kannst, je weniger verwickelt Du Dir Dein Mahl
zusammensetzst, sintemalen jedes neue ~s’il vous plaît~ Deinen
Teller wieder auf die jähe Rundreise schicken würde.

Diese Manier zu speisen ist schon an und für sich entsetzlich
beunruhigend, aber die raschelnden Papierstreifen, das gelegentliche
energischere Schnalzen der kleinen Fahne, die laute, gestenreiche
Unterhaltung der Brasilianer, das Umhertraben der Negerinnen, das alles
wirkte gradezu betäubend auf meine deutschen Nerven, die schon die
blendende Helle der gardinenlosen Räume angriff, so daß ich nur mit
Beschämung die gleichgültigen Gesichter der übrigen Damen betrachtete,
die sich zwar selbst auch wenig an der Unterhaltung betheiligten, an
deren Nervenleben aber auch all dieser Lärm vollständig abzuprallen
schien.

Ich war hungrig gewesen von der Fahrt, aber ich konnte unter diesen
Verhältnissen nicht essen. Ich bin eigentlich immer noch hungrig,
seitdem ich zum letzten Mal auf dem Schiff gegessen habe, denn mein
Magen befreundet sich nur sehr allmälig mit der Eintönigkeit des
Essens und -- dem Schweinefett, mit dem hier alle Speisen zubereitet
werden. Was mir zuerst die Sache noch unerträglicher machte, war das
gänzliche Fehlen von Kartoffeln oder Brot auf dem Tisch, womit man die
Aufdringlichkeit des Fettes hätte mildern können. Das Brot wird auf
dem Lande durch sogenannte ~biscoitos~ ersetzt, ein Gebäck aus
dem Mehl der Maniocawurzel, das ganz gut schmeckt, wenn es eben aus
dem Ofen kommt, im Alter von einigen Stunden aber schon an Zähigkeit
nichts mehr zu wünschen übrig läßt und nach zwei Tagen mit absolutem
Erfolg eine Konkurrenz mit jungen Steinen aufnehmen könnte. Unsre
gute Kartoffel gedeiht in diesen gesegneten Gegenden nur in süßen
Exemplaren, den Bataten, die bis zu neun Pfund schwer werden und
entweder einfach gekocht oder mit Zuckerzusatz als Dessert genossen
werden. Die ersten Tage waren mir die großen bläulichen Dinger, die
in Farbe und Geschmack an ihre erfrorenen Brüder im nordischen Winter
erinnern, höchst widerlich, aber jetzt schmeckt mir, fast zu meiner
Beschämung, das Kompott schon ganz gut. Auch befreunde ich mich mit
den schwarzen Bohnen und dem dazugehörigen salzlosen Maismehlpudding,
dem ~angú~, liebäugele bereits mit dem Mais- und Maniocamehl, das in
Brotkörben auf den Tisch kommt und das sich die Brasilianer zwischen
die saucenreichen Bohnen rühren -- und wie lange wird es noch dauern,
da werde ich eine Passion haben für das an der Sonne gedörrte
Hammelfleisch, mit dem man uns häufig zum Frühstück regalirt.

Verachte mich nicht, Grete, es giebt nichts anderes hier! Denn wenn
Du zu den ebengenannten Delikatessen noch Reis in Wasser gekocht
hinzufügst, der vor lauter Tomaten so rot wie ein Ziegelstein auf den
Tisch kommt, so hast Du das Menü für das ganze Jahr.

Eine große Sache ist es hier um das Dessert, um die „~doces~“, und
der Ruf der Brasilianer, im Bereiten wie im Vertilgen derselben Meister
zu sein, bestätigte sich mir auch gestern wieder in vollem Maße: Herren
wie Damen verzehrten unglaubliche Mengen von eingemachten Früchten,
Chokoladen- und Eierkonfekt etc. und aßen dazu große Stücken Käse.

Daß ich’s nur gestehe -- ich auch!

Den ersten Tag freilich, als dieser neue Genuß meinem europäischen
Gaumen zugemutet wurde, wies ich ihn empört zurück und bat um etwas
Butter und Brot zum Käse. Es erschienen ~biscoitos~ im Stadium
Nr. 2 und eine dänische Konservenbutter von einer Weichheit, Gelbheit,
Salzigkeit.... laß mich schweigen! Mutig entschloß ich mich zu der
landesüblichen Zusammenstellung, und ich glaube, ich that wohl daran.

So war ich gestern doch wenigstens im stande, mein Mahl auf gut
brasilianisch zu beschließen, und da ich auch schon so ziemlich alle
Gerichte portugiesisch benennen kann (eine große Kunst, da täglich zwei
Mal die gleichen auf dem Tisch erscheinen) und ein paar fehlerhafte
aber dafür desto überschwänglichere Phrasen zu drechseln verstand,
so fanden mich meine neuen Bekannten „~muito sympathica~“ und
beehrten mich nach Tische sofort mit der Aufforderung, ihnen etwas
vorzuspielen oder zu singen.

Ich spielte einen Chopinschen Walzer, der ihnen sehr gefiel, und
sang ihnen „Klein Anna-Kathrin“, was sie nach keiner Richtung
hin verstanden. Nun singe ich nie mehr ein deutsches Lied vor
brasilianischen Ohren, sondern immer nur italienische Etüden, von denen
ich überzeugt bin, daß sie ihnen imponieren werden.

Nach mir folgte mit ein paar französischen Tänzen unsre Dona Olympia,
die ganz nett aber mit geschmackloser Auswahl spielt, und dann setzte
sich eine sehr stille, sehr starke und sehr dunkeläugige Dame an das
Instrument und begann den zweiten Akt des „Troubadour“ vorzutragen. Man
sagte mir vorher, sie spiele „perfekt“, und so horchte ich gespannt....
Ach, Grete, bin ich denn so gar starr germanisch, daß ich diese Romanen
mit dem besten Willen nicht interessant und geistreich finden kann!
Aber es war nicht anders -- +mir+ sprach nichts aus den flinken
abgerichteten Fingern, nichts aus dem unbeweglichen wachsgelben Gesicht
der Spielerin, in dem die schwarzen Augen wie geistlose Tintenklexe
standen, und doch war es wahr: sie spielte ~perfeitamente~! Ich
ärgerte mich über mich selbst, daß ich mich nicht begeistern konnte und
blickte ängstlich im Kreise umher, ob man es mir auch nicht anmerke.
Alle Gesichter waren blaß, gelb und, aus lauter Hochachtung vor diesem
„perfekten Spiel“, unbeweglich, alle bis auf eins.

Seit ein paar Tagen ist nämlich ein junger italienischer Architekt
bei uns zum Besuch, ein Neffe des Doktors von seiten seiner ersten
Frau, die eine Italienerin war, und dieser Unglückliche schien ebenso
antipodisch berührt wie ich. Ich lächelte unwillkürlich, als ich sein
Gesicht sah, zumal unser gemeinsames Europäertum uns schon zu vielen
gleichartigen Urteilen über hiesige Verhältnisse veranlaßt hat, und er
schlug mit unendlich komischem Ausdruck die Augen zur Decke empor.

Mittlerweile war der „Troubadour“ immer eindringlicher geworden,
bereits spielte die stille, starke Dame eine halbe Stunde -- hatte sie
Absichten auf den ganzen Akt? Ich schlängelte mich vorsichtig der Thüre
zu, aber noch wagte ich nicht, dem Saal zu entschlüpfen, obgleich ich
fühlte, daß mich eine fernere Viertelstunde unter der Wirkung dieses
perfekten Spiels völlig überwältigt hätte. Da schob sich der junge
Italiener an mir vorbei, er sah ganz erschöpft aus -- „~Je n’en
peux plus~“, flüsterte er mir zu, „~j’ai déjà une indigestion de
musique!~“ -- --

Und das in einem Lande, das erst +anfängt+, civilisiert zu
werden und das erst +ein+ Konservatorium hat! Wehe künftigen
Geschlechtern, wenn die Klavierseuche hier verhältnismäßig wächst!

Aber halt -- da sagt mein Licht Valet! Grade als hätte es mir nur noch
diesen trüben prophetischen Stoßseufzer erlaubt, flackert es eben auf
seinem letzten Faden empor -- Lampen giebt es hier nämlich nicht!

Gute Nacht also, meine Grete, oder wenn es Dir interessanter klingt:
~boa noite~ --

    Deine noch immer musikerfüllte
    +Ulla+.



[Illustration]



    Saõ Francisco, den 11. Juli 1881.

    +Liebe, einzige Grete!+

Die ersten Briefe aus der Heimath heute! Ich hätte den schmutzigen
Negerjungen umarmen können, als eins, zwei, drei Briefe für die
~professora~ aus seiner Mappe herausspazierten, nachdem ich sie
so viele, viele Tage umsonst sehnsuchtsvoll angeschaut. Dr. Rameiro
läßt nämlich jeden Tag die Postsachen holen, was hier auf dem Lande
sehr selten ist; die meisten Pflanzer schicken nur einmal in der Woche
nach der Station. Gute Nachrichten von zu Hause, einen fröhlichen
Brief von meiner Grete -- Gott, wie Einen so ein beschrieben Blättchen
doch glücklich machen kann! Und wie geduldig man wird! Ich sage
Dir, Gretel, ich komme mir manchmal vor wie Salas y Gomez. Weißt Du
wohl, wie ich auf dem Seminar schon immer außer mir war, wenn der
Briefbote einmal zwei Tage ausblieb -- und nun nach fast anderthalb
Monaten die ersten Briefe! Ich werde so viele gute Eigenschaften von
hier mit zurückbringen, daß ich in Europa gar keine Verwendung dafür
haben werde! Aber heute brauchte ich grade eine kleine Erfrischung,
alles war so lähmend gewesen von früh ab, und ich fühlte mich so
beschwert! Zuerst hatte ich einen der härtesten Kämpfe mit meinen
~biscoitos~, die ich in Stadium Nr. 3 erhielt, dann war das
Vehmgericht unbehaglicher als je, und endlich leide ich seit einer
Woche an einer gräßlichen Neuralgie im Gesicht, so daß ich nur mit Mühe
essen und sprechen kann. Das ist das allgemeine Leiden für den Europäer
hier, und oft auch für Einheimische; es ist entsetzlich peinigend,
zumal wenn man dabei unterrichten muß. Sie behaupten hier, ich habe es
mir zugezogen dadurch, daß ich abends nach sechs Uhr draußen gewesen
sei in dem ~sereno~, dem gefährlichen Abendthau -- aber, liebe
Grete, ich wäre erstickt, wenn ich nie an die Luft gekommen wäre,
zumal nachdem ich die 24 Tage auf dem Schiff von Morgen bis zum Abend
draußen war. Hier aber ist Unterricht von 7-10, dann warmes Frühstück,
wobei uns Madame Rameiro immer ganz nutzlos bis halb 11 Uhr warten
läßt, so daß ich nachher nicht mehr hinaus kann, sondern sofort nach
dem letzten Bissen wieder in die Stunde muß. Dann geht’s weiter bis
um ein Uhr, wo eine halbe Stunde Lunchzeit ist; um halb zwei fangen
aber schon wieder die Klavierstunden an, die bis um 5 Uhr dauern, wo
gegessen wird. Nun frage ich Dich, wann soll ich da spazieren gehen
außer nach sechs! Kannst Du eine andre mögliche Zeit am Tage entdecken?
Sie wollen die „Bildung“ hier gradezu mit Löffeln schlucken und haben
nie einen freien Nachmittag, nie einen Tag, geschweige denn eine Woche
Ferien das ganze Jahr hindurch -- -- mir graut schon bei dem Gedanken
daran, und die ganze Zeit über kein deutsches Wort! In den Stunden und
bei Tische Französisch und mit den Schwarzen Portugiesisch -- ach,
Gretel, es ist wirklich saurer, als man so von weitem denkt; überlege
Dir’s lieber noch mal, ob ich mich für Dich hier umsehen soll, --
jedenfalls aber bringe dann Dein Bett mit. Es ist gewiß ein gut Ding
um die Anspruchslosigkeit, man muß aber auch keinen Mißbrauch damit
treiben. Ich will Dir mein Lager beschreiben -- weine dann eine stille
Thräne um mich! Stelle Dir eine rohe hölzerne Bank mit Armstützen
aber ohne Rücklehne vor, das ist mein Bettgestell. Darauf liegt eine
„Matratze“, die, als ich sie auf ihren Inhalt prüfte, irgend ein wildes
getrocknetes Gras ergab, dem man aus unbekannten Gründen verschiedenes
Blätterwerk, anmutig mit Stöcken und Zweigen untermischt, beigesellt
hatte. Auf dieser mit einem Leintuch bedeckten Folterbank verliert
sich am Kopfende ein Miniaturkissen, von dem ich zuerst glaubte,
die kleine Maria habe es aus ihrer Puppenwiege verloren; es soll
aber thatsächlich mein Kopfkissen sein und ist mit einer trocknen
gelben Blume, der ~marcella~, die etwas Ähnlichkeit mit unsern
Immortellen hat, gestopft. Das Ganze krönt zum Zudecken eine englische
wollene Decke. Ob es mir wohl noch gelingen wird, mich auch mit dieser
Seite Brasilianertums zu befreunden? Ich hoffe es! Vorläufig strebe
ich die Beruhigung an, sämtliche Stöcke in meiner Matratze persönlich
zu kennen, und dann hoffe ich diesem Asketenlager auch ein klein wenig
Wärme abzuschmeicheln, denn wenn es auch bei Tage heiß ist, so sind
doch grade jetzt die Nächte oft empfindlich kalt.

Ich wundre mich, daß diese sehr frischen Nächte den Pflanzen nicht
schaden in unserm entzückenden Garten. Madame ist eine große
Botanikerin und hat den Garten unter ihrer speziellen Leitung. Sie
achtet darauf, daß jede seltene Pflanze gepflegt wird und läßt auch
außerbrasilianische Tropengewächse mit großen Kosten aus Indien und
Japan kommen, so daß sie aus diesem Fleckchen Land ein wahres Eden
gemacht hat, ein Zauberland voll Märchenherrlichkeit.

Die Gartenthür, von üppiger, graziöser Klematis überhangen, führt
zunächst zu kleinen Gruppen seltener Coniferen und schöngeformten
Beeten voll großer, fremdartiger Blumen von wunderbarer Farbengluth.
Zwischendrein steht ein bunter Kiosk in chinesischem Styl. Ich sage
Dir, Gretel, mit dem tiefblauen Himmel und der Tropensonne darüber,
mit den reizenden kleinen Kolibris, die wirklich wie flatternde
Edelsteine in der Sonne erscheinen, ist dies Plätzchen so südlich, so
exquisit tropisch, wie man es nur träumen kann! Dann kommt man in eine
herrlich schattige, feuchtkühle Bambusallee. Ihr zur Linken, etwas
tiefer gelegen, ein kleiner, mit bunten Enten belebter See, rechts
eine Anhöhe, sanft ansteigend und mit duftenden Orangenbäumen, die oft
Blüte und Frucht zugleich tragen, besetzt. Neue Überraschung an ihrem
Ausgang: Orangen, Palmen und Bananen überall, Zimmt- und Mandelbäume
duften und Granaten glühen aus ihrem zierlichen Laub hervor; hier ein
Theestrauch, dort ein Kaffeebaum; jetzt eine verlorne Baumwollstaude,
dann ein Anis- oder Muskatpflänzchen, ja, selbst Vanilla und Patschouli
giebt’s zu entdecken. Ich war zuerst ganz berauscht, Grete, und trank
all das Zaubrische, Schöne, Fremdartige förmlich mit allen Sinnen
ein.... aber, wunderbar -- weißt Du, welcher Eindruck hiervon für mich
der nachhaltigste ist? Der des Fremdartigen, ja des absolut Fremden!
Ich staune sie an, all diese südliche Pracht, ich bewundere sie, sie
berauscht mich momentan mit ihrem verführerischen Zauber -- aber ich
verstehe sie nicht; ich kann mir nichts mit diesen prächtigen Pflanzen
erzählen, ich kenne sie nicht, und sie kennen mich nicht. Es ist doch
etwas wunderbares um das +Vaterland+! Was doch alles so mit dazu
gehört! Auch die Blumen und Bäume. Wir wissen doch daheim gleich etwas
zu singen unter unsern prächtigen Eichen; welches junge Gemüt kennte
nicht unsre reiche deutsche Lindenpoesie, und sowie man sprechen
kann, lallt man schon sein weihnächtlich-heimliches „O Tannebaum, o
Tannebaum“! Da grüßt man so einen Baum doch gleich ganz anders! Der
mächtige Mangabaum inmitten des Gartens ist zwar sehr schön, aber ich
überraschte mich dennoch neulich dabei, daß ich unter seinem Schatten
das hübsche kleine Lied summte:

    „Ich hatte einst ein schönes Vaterland,
    Der Eichenbaum stand dort so hoch,
    Die Veilchen nickten sanft --
    Es war ein Traum.
    Und als ich nun in’s ferne Ausland kam,
    Da war ein Mädchen zauberschön
    Und blond von Haar zu sehn, --
    Es war ein Traum.
    Das küßte mich auf deutsch und sprach auf deutsch,
    Ihr glaubt es nicht, wie gut es klang,
    Das Wort: Ich liebe Dich --
    Es war ein Traum ...“

Und erinnerst Du Dich, wie wir drüben es nie recht verstehen konnten,
wenn Dranmor singt: „Ich gäbe diese ganze Herrlichkeit -- Für eine
einz’ge schneebehang’ne Tanne“! Und jetzt.... Aber ich rede, darum
schweige ich; sentimental darf man hier nicht werden.

    Deine deutscheste +Ulla+.



[Illustration]



    Saõ Francisco, den 25. Juli 1881.

    +Liebste Grete!+

Also in Elgersburg muß ich Euch jetzt mit meinen Gedanken suchen --
Du Glückliche, die Du das Wort „Ferien“ noch kennst und es in dem
reizenden Thüringer Nest in die Praxis umsetzen kannst! Deiner armen
Ulla werden derartige Dinge immer mehr zu körperlosen Begriffen -- was
ist Freiheit, Erholung, Sommerfrische.... das heißt, nein! Was die
„Frische“ angeht, da bin ich Dir entschieden über: ich konstatiere
hiermit feierlichst, daß ich in diesen Tagen des öfteren vor Frost
geklappert habe und auch jetzt mit ganz steifen Fingern schreibe. Und
dazu habe ich das volle Recht, denn gestern war hier der kälteste Tag
im Jahr, der Tag Johannis des Täufers. Es fror mich denn auch, zum
größtem Gaudium der Familie, die der „kalten Deutschen“ das Recht dazu
eigentlich völlig absprechen, so barbarisch, daß ich die liebevolle
Anhänglichkeit segnete, die mich beim Einpacken in Berlin plötzlich
inbezug auf meine alte Winterjacke überkommen hatte. Die Brasilianer
selbst empfinden merkmürdigerweise die Kälte garnicht so sehr, wie
mir das besonders gestern Abend auffiel bei der Namensfeier des
heiligen Johannes, der ein großer Liebling der Nation ist. Dr. Rameiro
veranstaltet jedes Jahr an diesem Tage, der auch zugleich der Namenstag
eines in Europa (natürlich in Paris) befindlichen Sohnes ist, eine Art
von Erntefest für die Sklaven, weil ungefähr um diese Zeit auch die
Kaffee-Ernte vorüber ist.

Es hatte mich schon immer interessiert, die Wagen voll Kaffeefrüchten
aus den Plantagen hereinfahren zu sehen, die dann in prächtigen Anlagen
und Maschinenräumen, die der Doktor eingerichtet hat, für den Handel
zurecht gemacht werden.

Letzten Sonntag fuhren wir durch eine Anpflanzung von einer halben
Quadratmeile Ausdehnung. Die Bäume oder eigentlich Sträucher waren etwa
wie größere Haselnußsträucher und saßen zum Theil noch voll Früchten
zwischen den spitzen, glänzenden Blättern. Der Doktor meinte, dieser
Bestand sei etwa 25 Jahre alt; dienen könne eine Anpflanzung ca. 40
Jahre, dann wird wieder ein neues Stück Land in Angriff genommen,
das vorher rechtzeitig bepflanzt wurde. Es ist merkwürdig und kann
Einen ordentlich neidisch machen, wie hier so eine Strecke Landes,
die bei uns schon ein ganz hübsches Feld oder ein sehr respektabler
Garten wäre, so gar keine nennenswerte Rolle spielt. Diese Pflanzung
ist drei Quadratmeilen groß, aber die Bewirtschaftung ist eine
merkwürdige. Das meiste Land liegt natürlich immer brach. Soll aber
ein Stück in Benutzung genommen werden, so wird alles, was bisher
darauf wuchs, heruntergebrannt, was auch manchmal schonungslos die
herrlichsten Urwaldbestände trifft, deren Asche und faulende Stämme
dann den prächtigsten Dung abgeben. Nichts sieht toller aus als so ein
Maisfeld z. B., das zwischen wild und wüst durcheinander liegenden,
halb und ganz verkohlten Baumstämmen frisch und fröhlich emporwächst!
Bei uns kann man sich von solcher Unordnung und vor allem von solcher
Verschwendung gar keine Vorstellung machen; auch hier kommt man immer
mehr von dieser etwas kannibalischen Manier der Rodung zurück, die
jedoch keineswegs schon so selten geworden ist, wie es die Brasilianer
gern Wort haben möchten, und die früher ganz allgemein war. Und denke
Dir, Gretele, daß auf der Pflanzung von Madame Rameiros Bruder erst vor
7 Jahren noch ein Negersklave bei einem derartigen Brande umgekommen
ist, weil er sich nicht rechtzeitig aus dem an allen vier Seiten
angezündeten Walde entfernt hatte! Das ist doch schauerlich und soll
leider gar nicht einmal so selten vorgekommen sein.

Als wir durch die Plantage fuhren, waren die Neger grade an der Arbeit,
denn der Sklavensonntag auf dieser Pflanzung fällt auf den Mittwoch.
Das Gesetz verlangt nur überhaupt einen Feiertag in der Woche für
die Sklaven, überläßt es jedoch dem Besitzer, einen Tag auszuwählen,
was dann gewöhnlich so geschieht, daß er nicht mit demjenigen der
Nachbarpflanzungen zusammenfällt und man auf diese Weise im Stande ist,
einen Verkehr der Schwarzen untereinander zu verhüten.

Es sah wirklich malerisch aus, wie die schwarzen Gestalten in
den hellen Blusen emsig pflückend mit ihren Körben zwischen den
dunkelglänzenden Sträuchern standen. Die Neger werden auf dieser
Pflanzung auch gut behandelt, und wer mehr als die ihm aufgegebene
Anzahl von Körben voll pflückt, bekommt für den Überschuß eine
Kleinigkeit bezahlt.

Der Kaffee sieht am Baum fast aus wie große Schlehen und in der
rotblauen fleischigen Hülle sitzen gleich Kernen immer zwei Bohnen mit
der flachen Seite gegeneinander.

Wenn nun ein Wagen voll aus der Plantage ankommt, so wird er in ein
Wasserbecken entleert, wo die Früchte schon zum Teil die locker
sitzenden Hüllen verlieren, dann fließt das Ganze durch rauhe Röhren
mit besonderen Enthülsungsvorrichtungen hinunter in ein tiefer
gelegenes Bassin, wo die Bohnen bereits freigemacht ankommen. Nachdem
ihnen dann noch durch andre Manipulationen die dünnen Häutchen genommen
sind, die wir manchmal noch bei uns an mangelhaft präparierten Bohnen
entdecken können, wird er auf eine große Asphaltfläche zum Trocknen
gebreitet, von wo er endlich in lange, hallenartige Räume wandert, wo
er von Negerinnen verlesen und sortiert wird. Dann erst kommt er in
Säcke und wird nach Ablauf einer Lagerzeit verschickt. Dr. Rameiro hat
mir einen ganzen Sack voll geschenkt, denke Dir, einen ganzen Sack voll
Kaffee, der schon drei Jahre lagert und daher seiner Ansicht nach grade
so recht ist und will ihn durch seine Korrespondenten in Rio nach Hause
schicken lassen. Dann laß Dich nur recht oft darauf einladen, Gretel!

Für dies Jahr ist nun die Ernte vorbei und mit dem gestrigen Fest
abgeschlossen. Dona Gabriella hatte mir schon vorher mit Stolz erzählt,
am Saõ Joaõs Tag schlachteten sie immer einen Ochsen und zwei Schweine,
und das würde alles von den Negern bei dem Festmahl verzehrt. In der
That war gestern den ganzen Vormittag große Bewegung, und sogar das
Vehmgericht beschäftigte sich in höchsteigner Person lebhaft mit der
Anordnung des Ganzen, der Zubereitung von ~doces~, dem Herausgeben
von Getränken etc.

Als es dunkel wurde, begann die Feier.

Auf dem Hofe, der von drei Seiten durch das Gebäude eingeschlossen
und an der vierten mit Palmen abgegrenzt ist, war eine große Tafel in
Hufeisenform gedeckt, wirklich mit weißen Tischtüchern gedeckt, denn
es ist nicht der geringste Stolz der Neger bei diesem Feste, doch
wenigstens einmal im Jahre von Linnen zu essen wie die ~senhores~. Auf
den Tischen standen mächtige, geschnittene Braten, große Berge Reis
(natürlich rot wie die Ziegelsteine von Tomaten), Riesenschüsseln mit
schwarzen Bohnen und dazu ihr nie fehlender Kumpan der Maismehlpudding
~angú~; da war aber auch als Dessert Batatenkompott, in Milch gekochter
frischer Mais (~canjica~) mit dazugehöriger Melasse, Guyabada, ein
prächtiges, aus der Guyabafrucht zubereitetes ~doce~ und sogar --
Wein ~à discrétion~!

Wie fein hatten sich aber auch die Schwarzen gemacht! Erst langsam
und verlegen, dann zuversichtlicher und endlich einander drängend
und den Rang ablaufend kamen zunächst die Älteren und Erwachsenen
heran; die Jugend mußte warten, da nur etwa hundert Personen zugleich
sitzen konnten. Es war zu drollig anzusehen, womit manche dieser
guten Einfaltsmenschen sich „geschmückt“ hatten: Die Männer hatten
augenscheinlich ihren Ehrgeiz in dem Tragen von Röcken gesucht, die
sie entweder geschenkt bekommen oder wohl für ein Geringes von einem
herumziehenden Trödler erstanden hatten; einer hatte sogar einen alten
Frack an. Wer es aber nicht zu einem Rock hatte bringen können, der
hatte doch wenigstens einen Hut, und zwar mit Vorliebe einen Cylinder,
erworben.

Graziöser schon präsentierten sich die Frauen, die sich mehr auf das
Bunte geworfen hatten, und von denen einige mit äußerster Grandezza
sämtliche Farben des Regenbogens zur Schau trugen: ein rother Turban,
ein blaues Kleid und ein grüner Gürtel verursachen ihnen absolut keine
Gewissensbisse.

Ganz besonders hübsch und sehr eigenartig wurde das Bild, nachdem
eine Menge bunter Lämpchen angezündet waren, die die Scene mit ihrem
Flimmern phantastisch erleuchteten, und am kaltklaren Himmel darüber
das Kreuz des Südens leuchtend ausgegangen war. Wir betrachteten das
Ganze von den Fenstern des Hauses aus, und Du kannst Dir denken, wie
besonders für uns Europäer das Bild fesselnd und interessant war.

Auch ihre Tischrede und ihren Toast hatten die schwarzen Gäste. Die
kleine Leonilla ergriff nämlich im Scherz ein Zeitungsblatt, reichte es
zum Fenster hinaus einem alten Neger zu und rief: „Lies, Porphyrio!“

Porphyrio, ein famoser alter Neger mit ergrautem Krauskopf, nahm
das Blatt, besah es mit halb komischem, halb wehmütigem Pathos von
allen Seiten und fing dann an zu reden: „Meine kleine Senhora hat mir
befohlen zu lesen, doch Porphyrio kann nicht lesen. Aber Porphyrio
kann sprechen und er hat auch was zu sagen. Ich muß etwas beichten vor
Senhor und Senhora -- sie leben --“ „Viva!“ schrieen die Neger.

„Ich muß beichten, daß ich im vorigen Jahre schlecht gesprochen habe
von Senhor, weil er uns kein Erntefest gegeben hat. Ich habe gesagt:
„Warum hat Senhor die Säcke gezählt und hat uns arme Neger dann
vergessen?“ Und ich bin zornig gewesen in meinem Innern. Aber dies Jahr
hat sich Senhor unserer wieder erinnert und Senhora auch -- viva Senhor
--“

„Viva!“

„Viva, Senhora --“

„Viva!“

„Und dafür wollen wir ihnen danken. Und für noch etwas wollen wir
danken. Nämlich dies. Wie haben wir armen Schwarzen uns früher quälen
müssen mit dem Reinigen des Kaffees, wie haben wir die Frucht der
Ricinusstaude schlagen müssen, um ein wenig Öl zum Brennen zu gewinnen
-- jetzt hat unser Senhor Maschinen kommen lassen aus fremden Ländern,
die sie England und Deutschland nennen, so daß wir es viel besser
haben. Dafür wollen wir danken: viva, Senhor --“

„Viva!“

„Viva, Senhora!“

„Viva!“

So ging es noch eine Weile mit den Vivas fort, bis dann die Erwachsenen
den Halbwüchsigen und Kindern Platz machten und ihrerseits auf dem
freien Platz vor dem Hause ihre geliebten Tänze begannen.

Sie stellten sich im Kreise auf und dann ertönte eine ohrenzerreißende
Musik. Aus Tonnen waren zwei Trommeln hergestellt, die zwei Neger
in monotonen Schlägen bearbeiteten, eine Blechrassel vollführte
die möglichst unmusikalische Begleitung, und dazu wurde eine
eintönige Melodie von zwei Strophen gesungen, die ohne Ermüdung
der Sänger wiederkehrte, bis ich 64 Mal gezählt hatte. Beim Klange
dieser „Harmonien“ wurde also getanzt und zwar so, daß immer nur
eine Person inmitten des Kreises den Tanz ausführte und dann eine
andre zur Ablösung hervorzog. Ich muß zur Schande der weiblichen
Theilnehmer gestehen, daß sie den männlichen an Grazie und Schwung
bei weitem nachstanden, und zumal war unser kleiner unausstehlicher
Purzelbaum-Muleque, der Tonino, ganz brillant in seinen geschickten
schlangenartigen Bewegungen.

Wer nicht tanzte, beschäftigte sich mit dem Feuerwerk, denn das
ist eigentlich die Feier, die der heilige Johannes sich für seinen
Namenstag in Brasilien ausbedungen zu haben scheint. Vor dem Hause
waren zwei hohe Feuer nach Art unsrer Osterfeuer aufgeschichtet und
erhellten mit phantastischem Flackern und Leuchten die Scene; tanzende
Negerknaben warfen Leuchtkugeln und Raketen in die Luft, und unter dem
kaltklaren, funkelnden Sternenhimmel dieses kältesten Tages im Jahr auf
der freien weiten Rasenfläche erschien alles dies ungemein malerisch
und poetisch.

Unvergeßlich vor allem wird mir aber eine kleine Scene dieses Abends
bleiben, die ich gewünscht hätte, mit Pinsel und Farbe festhalten zu
können, um sie Dir in all ihrem Reiz zu veranschaulichen. Unter dem
fortdauernden Lärm der Trommeln und Blechrasseln schritt eine graziöse
Mulattin, das Gesicht gegen die Sterne gerichtet, die Augen geschlossen
und den rechten Arm ausgestreckt, +barfuß+ durch die rotglühenden
Kohlen des gesunkenen Feuers, während über ihr die bunten Leuchtkugeln
aus der dunkeln Luft zurückfielen. Man glaubte, eine Somnambule zu
sehen, so sicher schritt sie einher. Ich traute meinen Augen kaum und
schaute ihr mit angehaltenem Atem und einer Art stummen Entsetzens zu.
Allein ruhig lächelnd zog sie nachher ihre Schuhe wieder an: An Saõ
Joaõs Tag verletzt das Feuer niemanden, sagen die Neger.

Weißt Du auch, Gretele, daß mir schon ganz neidisch zu Mute wird, da
ich eben nur an ein Feuer denke? Mit welcher Hochachtung werde ich
den ersten Ofen wieder begrüßen! Dona Gabriella, die immer noch die
Freundlichste ist von dem Vehmgericht, bot mir neulich an, mein Zimmer
durch große Wannen voll heißes Wasser zu erwärmen, aber das würde gewiß
nur die ohnehin schon ungesunde Feuchtigkeit des Zimmers erhöhen und
dabei wenig helfen. Wer mir gesagt hätte, daß ich am meisten in meinem
Leben in -- Brasilien frieren würde! Meine Neuralgie will auch immer
noch nicht weichen, und ich verbleibe daher heute wie schon seit Wochen
-- unter Zahnschmerzen

    Deine +Ulla+.



[Illustration]



    Saõ Francisco, den 14. August 1881.

    +Herzensgretele!+

Die Neger spielen doch die Hauptrolle in diesem Lande, und ich finde,
daß sie im Grunde viel mehr die Herren als die Sklaven der Brasilianer
sind. Jede Arbeit wird von Schwarzen verrichtet, der ganze Reichtum
durch +ihre+ Hände herbeigeschafft, denn der Brasilianer arbeitet
nicht, und ist er arm, so schmarotzert er lieber bei wohlhabenderen
Verwandten oder Freunden umher, als daß er redlich die Hände rührte.
Auch jede +häusliche+ Dienstleistung geschieht von Negern. Da
fährt Dich der schwarze Kutscher, da wartet Dir die Negerin auf, da
steht der schwarze Koch am Herde, da säugt die Sklavin das weiße Kind
-- ich möchte bloß wissen, was diese Menschen anfangen wollen, wenn
einmal die Sklaven-Emancipation ganz und gar vollzogen ist! Wir waren
uns ja drüben in Europa recht wenig klar über das diesbezügliche
Gesetz hier und glaubten wol eigentlich, daß es die Sklaverei gänzlich
aufgehoben habe. Dem ist aber nicht so. Es bestimmte nur, daß von
dem Tage seiner Proklamation an, also vom 28. September 1871 an,
kein Unfreier mehr in Brasilien +geboren+ werde. Was also bis
dahin schon lebte und Sklave war, muß es bleiben bis zum Tode, bis
zum Loskauf oder zur Freilassung. Was aber jetzt an solch kleinem
schwarzen „Kroppzeug“ geboren wird, das hat keinen Wert für die
Herren und nur die Bedeutung unnützer Esser. Es geschieht daher auch
nichts für sie, es wird ihnen nicht einmal wie früher diese oder jene
Handfertigkeit beigebracht, denn -- „man hat ja später nichts davon“.
Anderseits werden sie wiederum als „freie“ Menschen von dem Brasilianer
mit etwas mehr Hochachtung behandelt als die geborenen Sklaven.

So wurden hier heute Mittag acht solcher kleiner Weltbürger feierlich
getauft!

Ich hatte schon beim Frühstück ein wunderliches altes Herrchen bemerkt,
der wenig sprach und das Wenige in einer mir total rätselhaften
Sprache, die Dr. Rameiro in dem ihm geläufigen Italienisch erwiederte,
der mir aber durch ein riesenhaftes rotbuntes Taschentuch, an das er
eine große Anhänglichkeit zu haben schien, auffiel und dadurch, daß
er ungezählte Bananen ver -- schlang hätte ich beinahe geschrieben
-- also +verzehrte+. Wie erstaunte ich, als er sich nachher als
ein katholischer Reisepriester entpuppte, für den ich ihn niemals
gehalten hätte, zumal er in gewöhnlichem Civilhabit reiste. Er war
geborner Italiener, aber schon in allen Erdteilen gewesen und hatte die
Weltsprache, die er spricht, gewiß schon erfunden, ehe in Europa jemand
an so etwas dachte.

So gegen zwölf Uhr wurde in der großen ~salla de costura~, vulgo
Nähstube, ein mächtiger, büffetähnlicher Schrank geöffnet, über dessen
Inhalt ich schon immer gegrübelt hatte, und zum Vorschein kam -- die
Mutter Gottes nebst Jesuskind, Schleifen, Kränzen, Krone, Hals- und
Armbändern und Ohrringen. Der Neger Felicio, den ich sonst nur als
Hausschneider an der Nähmaschine zu sehen gewohnt war, amtierte, ebenso
wie der Priester in Ornat, als Meßdiener. Das Ganze war merkwürdig für
meine evangelische Seele, Gretel!

Eine nach der andern erschienen nun die Negerinnen-Mütter mit ihren
jüngsten Sprößlingen, die alle sehr nett, einige sogar mit weißen
gestickten Kleidchen und bunten Schleifen herausgeputzt waren, und zwar
durch die Güte des Vehmgerichts (hier darf ich sie wohl garnicht mal so
nennen!), die sich zu ~madrinhas~ d. h. Patinnen dieser kleinen
schwarzen Mitchristen hatten bereit finden lassen.

Was übrigens die Farbe betraf, so wunderte ich mich über die sehr
wenig dunkle, ja fast weiße Haut der meisten dieser Kinder. -- „Sie
+werden+ schwarz“, sagte man mir mit einem Lächeln, das halb
den Neger verachtete, halb meine Unwissenheit, „nur die inneren
Handflächen und die Fußsohlen bleiben weiß. Sie sagen, als Ham nach
Afrika ausgewandert sei, habe er auf Befehl des Herrn mit Füßen
und Handflächen das Wasser des Jordan berührt, das dann vor ihm
zurückgewichen sei; von dieser Berührung seien bei ihm und seinen
Nachkommen jene Stellen weiß geblieben, auch im Sonnenbrand Afrikas.“

Die Ceremonie begann, und ich war stummer Zeuge, wie diese acht
plattnäsigen, wollköpfigen kleinen Scheußlichkeiten die Namen: Cäsar,
Felicio, Messias(!), Illyia, Angelica, Maria Salome, Marcella und
Ruth erhielten. Warum sollten sie freilich auch nicht die schönsten
Namen bekommen? Sind doch diese Taufnamen, die ihnen das alte
portugiesisch-italienisch-lateinisch kauderwelschende Priesterlein auf
Wunsch und Wahl der Herrschaft erteilte, die einzigen, mit denen sie
sich ihr Lebelang begnügen müssen. Denn wenn auch die meisten dieser
Mütter verheiratet sind, so haben ja auch diese keine Familiennamen.
Deshalb nehmen die freigewordenen Sklaven aus Mangel an einem solchen
nach ihrer Freilassung gewöhnlich den Namen ihrer früheren Herrschaft
an -- -- angenehm für diese, nicht wahr!!

Da ich nun aber einmal bei den Negern bin, muß ich Dir noch eine
Geschichte erzählen, die hier neulich passierte.

Es war eines Abends in der vorigen Woche und draußen so gar „kühl und
labend“, dass es beim warmen Thee drinnen ganz gemütlich war, als vor
dem Hause plötzlich ein schüchternes Händeklatschen ertönte, das alle
unsre Hunde in Bewegung setzte und auch bei uns drinnen ein allgemeines
Aufhorchen zur Folge hatte. Das Händeklatschen ersetzt hier nämlich die
Hausglocke, und wenn man in ein Haus einzutreten wünscht oder eintritt,
besonders auf dem Lande, muß man sich draußen oder im Flur auf diese
Weise bemerkbar machen, wenn man nicht für einen Dieb gehalten werden
will. Alles wunderte sich natürlich, wer so spät noch kommen könne,
und Tonino wurde hinausgeschickt, um nachzuschauen. Er ging etwas
ängstlich, purzelbaumte dann aber vergnügt wieder bis an die Schwelle.

„Draußen sind zwei Onkels, Herr“, meldete er. Die älteren Schwarzen
werden nämlich von den jüngeren ~tio~, Onkel, und ~tia~,
Tante, genannt, auch wenn sie einander garnicht kennen, und ich finde,
das darin ausgesprochene Verwandtschaftsgefühl dieser Paria hat etwas
Rührendes; nicht wahr?

Zwei Neger? Es war kaum anzunehmen, daß ein Nachbar noch so spät eine
Botschaft sende, und was konnten sie sonst wollen! Dr. Rameiro ging
hinaus und kam nach einer Weile zurück, sein sonst so joviales Gesicht
ganz verdüstert!

„Nun?“ riefen wir alle.

„Zwei unglückliche Schwarze“, sagte er, „die mich um Jesu willen
bitten, sie zu kaufen.“

„Wo kommen sie her?“

„Von Dr. Albus Pflanzung.“

„O, die Armen! Der ist bekannt dafür, daß er seine Neger quält“, sagte
Madame. „Mein Mann braucht einem widerspänstigen Schwarzen nur zu
drohen, ihn an Dr. Albu zu verkaufen, dann wird er gleich gehorsam.“

„Was wirst Du thun, Papa?“ fragte Dona Olympia.

„Was +kann+ ich thun, mein Kind?“ rief der alte Herr erregt. --
„Er wird sie garnicht gern verkaufen wollen und mir also jedenfalls
einen übermäßigen Preis stellen; außerdem ist er, wenn ich mich gegen
ihn einlasse, mein unversöhnlicher Feind, und Du weißt, daß ich sehr
wahrscheinlich ihm bereits den heftigen Waldbrand im vorigen Jahre
verdanke, den sich niemand erklären konnte.“

„So müssen die armen Kerle zurück?“ fragte ich.

„Ich kann sie nicht im Hause behalten. Es ist Eigentum, und behielte
ich sie auch nur eine Nacht unter meinem Dache, so würde das schwerlich
anders als wie eine Verhehlung flüchtiger Neger ausgelegt werden. Dem
kann man sich nicht aussetzen, zumal wenn man selber noch Schwarze hat
und haben muß. Diese Vertrauensbeweise sind ja an sich recht schön und
schmeichelhaft, aber entsetzlich peinlich! Dies ist nicht das erste
Mal, daß es mir so ergeht.“

„So giebt es also wirklich Pflanzungen, wo noch die schlimmen Zustände
aus Onkel Toms Hütte wiederzufinden sind?“ erkundigte ich mich.

„So arg dürfte es wohl nirgends bei uns sein und ist es wohl auch kaum
je gewesen. Der Brasilianer ist gutmütiger als der Nordamerikaner, und
die schwarze Race nimmt bei uns überhaupt eine andre Stellung ein. Sie
sehen, sowie der Neger frei ist, wird er hier als gleichberechtigt
behandelt: wir haben farbige Lehrer, Künstler, Ärzte, Abgeordnete,
ja Minister, und die Prinzessin befiehlt auch Farbige zum Tanz. Die
Verachtung auf der einen und demgemäß die Erbitterung auf der andern
Seite ist hier nicht so groß wie bei unsern nordischen Brüdern.
Freilich giebt es auch bei uns einzelne brutale Kreaturen, welche die
armen Schwarzen in der That mißhandeln, wie Sie eben einen Beweis davon
gehabt haben.“

„Was wird nun aus diesen beiden armen Teufeln?“ fragte ich.

„Sie werden heute Abend noch tüchtige Hiebe bekommen und nur um so
strenger gehalten werden; derartige Streiche sind zu thöricht. Dann
werde ich sehen, ob ich sie entweder selber freikaufen kann oder sie
einer Abolitionisten-Gesellschaft empfehlen.“

„Wenn ihr Herr sie nun aber nicht verkaufen +will+?“ warf ich ein.

„Das muß er, sowie ihm ein annehmbarer Preis geboten wird.“

„Warum mögen sie sich denn nicht selbst an eine solche Gesellschaft
gewandt haben?“

„Das ist ihnen zu schwer gemacht, da deren Mitglieder sehr unklug
wären, sich auf den Pflanzungen sehen zu lassen, und da der Schwarze
nicht schreiben kann; sie haben eben gar keine Kommunikationsmittel.
Aber den meisten von ihnen ist es auch nur um eine gute Behandlung zu
thun und um die Freiheit erst in zweiter Linie. Ideale haben sie nicht.“

„Das habe ich mir gedacht“, rief ich, „nach dem Wenigen, was ich habe
beobachten können; denn sonst mußten ja auch selbst die Gutgehaltenen
stets voll Groll und Mißmut sein.“

„Ja, und das werden Sie, ich darf wohl sagen, nie finden. Auf dieser
Pflanzung werden Sie keinen aufrührerischen Schwarzen antreffen, denn
ich halte streng auf ihre menschliche Behandlung und gute Versorgung.
Ich habe manche, besonders Negerinnen, die sich längst hätten
freikaufen können.“

„Wirklich! Womit verdienen sie sich Geld?“

„Wer darum bittet, bekommt ein Stückchen Land zum Bepflanzen, und gute
Gemüse kauft man ihnen dann hier im Herrenhause gern ab, auch dürfen
sie sich Hühner halten, deren Eier sie dann verkaufen, wenn ich nach
der Post schicke, und dergleichen mehr. Die sonntägliche und die über
die gesetzliche Stundenanzahl hinausgehende Arbeit wird ihnen bezahlt,
und die Hausneger und Negerinnen erhalten oft Geldgeschenke, letztere
besonders, wenn sie Ammen der Kinder sind oder waren. Unsre dicke
grinsende Anna da z. B. ist eine ganz wohlhabende Erbtante; sie bleibt
aber, weil sie es hier gut hat und sie die Kinder liebt. Das ideale Gut
der Freiheit versteht sie nicht.“

Ich freute mich über diese Erklärung, wie man sich immer über
Äußerungen freut, die eigne Gedanken und Schlüsse bestätigen. So
konnte ich mir die Sache vorstellen. Daß Rohheit und tierische
Grausamkeit den Sklaven gegenüber oft zu sehr traurigen Vorkommnissen
führen, das konnte ich mir denken; aber anderseits, die idealen
Anschauungen tiefgebildeter Menschen zu suchen bei einer Race, die
durch Generationen geknechtet ist, unsre Begriffe von Freiheit bei den
Männern, von Ehre bei den Frauen vorauszusetzen, das, merke ich wohl,
wäre eitel dichterische Illusion.

Aber ich sehe eben, daß ich Dir eine förmliche national-ökonomische
Abhandlung zumute unter der Maske eines simplen Schreibebriefes -- nun,
Du kannst Dich ja rächen, indem Du es drucken läßt, oder -- lies es im
Kränzchen den Andern vor: geteilter Schmerz ist halber Schmerz.

Jetzt werde ich schlafen gehen, indem ich Betrachtungen darüber
anstelle, nach welcher Richtung hin mir die Neuralgie morgen wohl das
Gesicht verzogen haben wird; mein Spiegel und ich, wir wundern uns über
nichts mehr!

Gute Nacht -- aber bei Euch ist es ja jetzt garnicht Nacht -- also
Guten Morgen!

    Deine +Ulla+.



[Illustration]



    Saõ Francisco, den 1. September 1881.

Gestern sind wir von einer „Expedition in’s Innere“ zurückgekommen,
d. h. von einer Reise nach der Provinz ~Minas geraes~, wo wir
geholfen haben, eine Eisenbahn einzuweihen. Wenn ich noch daran
denke, Grete, wie wir diesen Namen immer ausgesprochen haben in der
Geographiestunde, zumal das ~geraes~! Und gedacht haben wir uns
garnichts dabei, während es doch so einfach ist: ~geraes~ ist die
Mehrzahl von ~geral~, allgemein, und ~Minas geraes~ heißt
also nichts anderes als allgemeines Minenland oder minenreiches Land.

Diese Provinz ist in Südbrasilien etwa das, was ein hochmütiger
Westländer bei uns meint, wenn er von „Hinterpommern“ oder „Ostpreußen“
spricht: ein etwas ursprüngliches Stück Erde, mehr Gutmütigkeit bergend
als Civilisation, und im ganzen ebenso verschrieen wie unbekannt. Was
Minas aber vor jenen deutschen Provinzen voraus hat, ist sein Reichtum
an edlen Metallen, vorzüglich an Gold. Die Hauptstadt der Provinz trägt
ihre beiden Namen: ~Ouro preto~ d. h. schwarzes (dunkles) Gold und
~Villa rica~ d. h. reiche Stadt nach diesen Schätzen ihrer Berge
und Flüsse.

Es war mir hochinteressant, durch diese Gegenden zu fahren, die wieder
so ganz verschieden sind von dem, was man in der Provinz Rio sieht.
Rings um Dich her siehst Du die Flanken der Berge zerklüftet und
zerfleischt wie von zahllosen offengelegten Maulwurfsgängen, und durch
das Fernglas erkannten wir auch die geschäftigen schwarzbraunen und
weißen Männer, die dort dem edlen Metall nachspüren. Auch entlang der
Flüsse, die weite, grasreiche Thäler durchschneiden, sahen wir gebückte
Gestalten, die da Tage und Wochen lang geduldig das Gold aus dem Sande
waschen. Manche werden reich dabei, andre quälen sich gerade für’s
tägliche Brot, wie’s Fortuna jedem gönnt; ich kaufte nachher in Saõ
Joaõ einem armen schwarzen Schelm einen halben Fingerhut voll Korngold
für 22 Mark ab, die Frucht von 8 Arbeitstagen, wie er mir sagte!

Früher soll die Ausbeute überall gleichmäßiger und vor allem weit
beträchtlicher gewesen sein, und eben dieser Goldreichtum des Landes
hat denn auch wohl zuerst den Anlaß gegeben zu größeren Niederlassungen
der erobernden Portugiesen in diesen damals noch ungleich mehr als
jetzt unwirtlichen Gegenden, wo jegliche Beförderung, sei es von
Menschen, sei es von Lebensmitteln und sonstigem Bedarf auf Eselsrücken
geschah und zum größten Teil noch heute geschieht, wo man noch vor
zwanzig Jahren Brot kaum kannte, und wo es ein Hotel noch heute nicht
giebt.

Alle die Gäste, die sich die kleine Stadt Saõ Joaõ del Rei zur
Inauguration ihrer Eisenbahn geladen, wurden daher in Privathäusern
beherbergt, und es scheint mir ungemein charakteristisch für Brasilien,
wo die Mißverhältnisse an der Tagesordnung sind, daß ein Städtchen von
etwa 700 Einwohnern sich ca. 800 Gäste eingeladen hatte, allen voran
den Kaiser ~Dom Pedro II.~, der sein Erscheinen auch freundlich
zugesagt.

Von Dr. Rameiros Familie war auf sechs Personen gerechnet, da aber
Madame (oder Dona Alfoncina, wie sie nach Landessitte genannt wird)
eines heftigen Rheumatismus wegen absolut nicht fahren wollte, so
forderten sie mich auf, an ihre Stelle zu treten, und Du weißt ja --
wo’s was zu sehen giebt, da bin ich dabei. Lustig zogen wir los, der
Doktor, das Vehmgericht, der kleine Julio und meine Wenigkeit.

Zuerst fuhren wir mit der schon bestehenden großen Eisenbahn „~Dom
Pedro Segundo~“, an die sich dann erst in der Provinz Minas die
neue Strecke anschließt, aber mit recht brasilianischer Liberalität
beförderte diese ihre Gäste nicht nur im eignen Bereich ohne irgend
welche Entschädigung, sondern sie hatte sich auch mit der großen Bahn
arrangiert, so daß wir eine Strecke von über hundert deutschen Meilen
ohne einen Heller Kosten zurücklegten.

Vier Stunden vor unserm Bestimmungsort begann das Reich der
neuen Eisenbahn. „Umsteigen so schnell wie möglich“, lautete das
Feldgeschrei, sowie der Zug hielt. Die Hast mußte etwas zu bedeuten
haben, denn sonst heißt’s in Brasilien immer: „~Paciencia~“, und
niemand überstürzt sich. Alles eilt daher mit ungewohnter Behendigkeit
nach dem andern Perron -- ah, der Grund wird hier klar! Da hättest Du
die kleinste Eisenbahn sehen können, die Dir wohl je vorgekommen ist,
Grete, Waggons und Lokomotive alles ~en miniature~. Schneller
als der Blitz sitzen wir darin, um dann allerdings geduldig -- oder
ungeduldig -- ¾ Stunden warten zu müssen, bis sich das Eisenbähnchen
in Bewegung setze. Natürlich maßen wir u. a. zum Zeitvertreib den Wagen
aus: er war 1 ~m.~ 65 ~cm.~ breit.

Endlich ging’s los, erst langsam, dann rascher und immer rascher,
keck durch Berge und über Brücken, als wenn sich das kleine Ding vor
garnichts fürchte. Und es schien auch mehr ausrichten zu können als
seine schwerfälligeren Brüder. Mit Erstaunen und Bewunderung sahen wir
unsern kleinen Zug sich wie eine Schlange geschickt um einen hohen
Bergkegel winden, allmälig aber sicher hinaufkriechend, indem er
dreimal auf derselben Seite erscheint.

Wie wir an Ort und Stelle d. h. in dem Städtchen Saõ Joaõ del Rei
anlangen, ist es halb zwölf Uhr anstatt sieben, aber das thut nichts,
im Gegenteil, wenn in Brasilien etwas recht pünktlich ausfällt, ist’s
entschieden irgendwo nicht geheuer; jedermann war also zufrieden.

Der Bahnhof ist beflaggt und mit Guirlanden geschmückt, eine Musikbande
(meist Deutsche hier zu Lande) bläst lustig drauf los, und auf dem
Perron drängt sich eine kaum entwirrbare Menschenmenge, um die Gäste zu
bewillkommnen, in Empfang zu nehmen oder anzugaffen. Ein wohlwollender
Heiliger läßt uns einen Wagen erhaschen, der uns über das gefährlichste
Straßenpflaster hinweg, das je Menschen und Gespanne bedrohte, zu
meinem Erstaunen heil und glücklich vor der Wohnung unserer Wirte
abliefert. Ich werde diesen vorgestellt und suche mein bestes
Portugiesisch hervor, um mein ungeladenes Erscheinen zu entschuldigen,
doch ihre erstaunten Gesichter und kräftiges Händeschütteln, sowie die
üblichen zwei Begrüßungsküsse der Damen belehren mich, daß man eben
dies Erscheinen für völlig selbstverständlich hält, was mir natürlich
um so lieber ist. Es sind noch mehr Gäste da, und man quält sich noch
eine Weile damit hin, im „Salon“ auf den rechtwinkeligen Stuhlreihen
zu sitzen und sich zu unterhalten; dann geht’s zu Bette.

Wir sind in unserm Zimmer sechs Kameradinnen, aber nur ein einziger
Waschtisch ist vorhanden, und mich friert entsetzlich in dem mehr
als primitiven „Bett“, zumal durch allerlei Spalten und Ritzen im
Fußboden dafür gesorgt wird, daß die frische Luft aus einer darunter
befindlichen offenen Halle ungehindert hereindringe. Ich bin durchaus
nicht erstaunt, als der andere Morgen mich belehrt, daß das kleine Haus
unserer Wirthe in der Nacht 27 Gäste beherbergt hat. Man rühmt bei
uns die brasilianische Gastfreundschaft und das mit Recht, nur darf
man die Sache beileibe nicht nach europäischen Begriffen beurteilen.
Der brasilianische Gast beansprucht nichts als eine Matratze und eine
wollene Decke, er verzichtet auf jegliche Gemütlichkeit (von Komfort
garnicht zu reden), und der brasilianische Wirt ist, wenn er ihm jenes
giebt und ihn zu den Mahlzeiten an seinem Kaffee, seinen schwarzen
Bohnen und dem gedörrten Fleisch teilnehmen läßt, seiner Pflichten als
solcher los und ledig. Ich bin überzeugt, daß die Leute es herzlich
gut meinen, aber bei uns würde man doch in solchen Masseneinladungen
und in dem summarischen Verfahren bei Behandlung der Gäste eine große
Rücksichtslosigkeit oder eine gewisse einfältige Unverschämtheit sehen.
Aber wie gesagt, der Wille hier ist entschieden gut, und darum soll sie
auch kein Undank treffen.

Am Vormittag herrschte ein buntes Leben. Alle Gäste waren auf den
Beinen, um sich das Städtchen anzusehen, und jeder, auch der ärmste
Einwohner war stolz und liebenswürdig, denn er fühlte sich als Wirt.

Wir besahen uns zunächst die Kirchen; der kleine Ort hatte deren
nicht weniger als drei große aufzuweisen, was den Europäer und zumal
den Protestanten in billiges Erstaunen setzen muß angesichts der
Ursprünglichkeit der übrigen Verhältnisse. Und diese Kirchen sind
nicht etwa hölzerne Kapellen oder Bethäuser, sondern große, massiv
steinerne Gebäude, aus portugiesischem Marmor erbaut. Ihr Styl,
weder ausgesprochen byzantinisch noch im geringsten gothisch, ist
meist geschmacklos und überladen, am meisten immer dem sogenannten
Jesuitenstyl nahekommend, und in ihrem Interieur entsetzten mich
überall die schrecklichsten Abbildungen der heiligen Trinität, die in
bunten Holzfiguren von über Lebensgröße zur Darstellung kamen; auch die
Gemälde boten, zumal an Perspektive, das Wunderlichste, das mir je zu
Gesicht gekommen.

Und doch habe ich in größerer Bewunderung vor diesen Zeugen der
Frömmigkeit eines Volkes gestanden, als ich solche je vor den ragenden
Türmen des reizendes Münsters in Ulm oder dem Wunderwerke des Kölner
Doms empfunden. Denke Dir mächtige, fußdicke und oft mehr als 2 Meter
lange Steine, massive Pfeiler, Treppen und Wälle ringsum, und dann
frage Dich, wie sie hierhergelangten! Dann sage Dir, daß jeder dieser
Steine auf dem Rücken von Maultieren den Weg von der Küste in’s Innere
zurücklegte, eine Strecke, die heute mit der Bahn 16-18 Stunden in
Anspruch nimmt, und zu der die Thiere wohl 4-5 Monate gebrauchten;
frage Dich einmal, abgesehen von dieser erstaunlichen +Arbeitsleistung+
nach den +Kosten+ eines solchen Werkes, und Du mußt billig mit mir
erstaunen und den Geist der Frömmigkeit eines Volkes bewundern, das
vor allem andern daran dachte, seinem Gott Altäre zu bauen und seine
Heiligen angemessen unterzubringen.

Der folgende Tag, der 29. August, war der eigentliche Tag der
Inauguration, weil der der Ankunft des Kaisers. Schon früh am
Morgen hatten sich die brasilianischen Schönen in Staat geworfen,
und zwar erschienen sie zum Teil in den elegantesten Pariser
Gesellschaftskleidern; wer irgend Geld und Verbindungen besaß, hatte
sich eine prachtvolle Toilette wirklich aus Paris oder doch mindestens
aus Rio kommen lassen und nutzte sie nun auch gründlich aus. Da
konntest Du Damen, die sonst das ganze Jahr hindurch nichts wie ein
Kattunfähnchen tragen, in hochroten oder kraßblauen, ja gelben und
grünen[2] Seidenkleidern sehen, und die Nichte unsrer Wirte, die ein
chamoisfarbenes Atlaskleid trug, das ungefähr ihrer eignen Hautfarbe
Konkurrenz machte, wird mir nie aus dem Gedächtnis entschwinden. Es war
mit rotem Sammet beflaggt und viereckig ausgeschnitten; die Schleppe,
deren weißer Spitzenansatz halb abgerissen war, wirbelte im Staube;
ihre braunen beringten Hände hielten einen der buntesten Fächer, und
anstatt des Hutes hatte sie sich eine tolle Frisur gemacht, die gewiß
eigens für diesen Zweck componiert war. Sie war mir am Tage vorher
als ein ganz gutmütig dreinblickendes Geschöpf erschienen trotz ihres
braunen pickeligen Gesichts und den unordentlich herabhängenden Zöpfen,
und niemand hätte so treuherzig wie sie das „Wie geht es Ihnen, geht
es Ihnen gut?“ an die Fremde gerichtet haben können, aber in diesem
Costüm sah sie wirklich affreuse aus! Ob sie das doch instinctiv
fühlte? Wenigstens strich sie einmal plötzlich sehr respektvoll an
meinem fußfreien braunen Sammetkleide herunter, dessen Wärme ich sehr
gut vertrug, und sagte so recht von Herzen: „~A Senhora esta muito
civilisada!~“

An diesem Tage wurden auch endlich die Ehrenpforten aufgerichtet, die
seit dem Tage unserer Ankunft halbfertig in den Straßen umherlagen.
Es waren Rundbogen, aus dem biegsamen Bambusrohr auf das einfachste
hergestellt, ein größerer in der Mitte und zwei kleinere zu den Seiten.
Auf dem Straßenpflaster liegend, wurden sie mit farbiger Gaze umwunden,
die in Zwischenräumen von 1 Fuß mit bunten Bändern abgebunden wurde;
hie und da befestigte man ein Lampion. Diese Allee von Triumphbogen,
die auf das kaiserliche Logis zuführte, hätte, passend decoriert,
äußerst graziös sein können. Aber in ihrer steifen Umhüllung und
dürftigen Beleuchtung machten dieselben, als sie endlich am dritten
Tage aus dem Straßenstaub erstanden, einen höchst jämmerlichen
Eindruck; zudem blieb, wo sie eingerammt waren, das Straßenpflaster
aufgerissen, und die Steine lagen wild umher. Vor dem für den Kaiser
bestimmten Hause schloß ein Thor diesen Bogengang, das aus Holz
und Papier construiert war und in seiner plumpen und gedrungenen
Erfindung einen recht handfesten Eindruck machte. In einer andern
Straße erreichte ein Thor, das fast 2 Fuß dick und aus dunkelblauem,
buntbemaltem Papier, das man auf Holz gezogen, gebaut war das
Menschenmögliche an Geschmacklosigkeit. Eine ganze Straße hatte sich
mit gelb und grün gestrichenen Tonnen vor den Thüren patriotisch zu
„schmücken“ geglaubt, aus denen hier ein zerrissen Fähnlein flatterte,
dort ein wenig Palmengrün hervorsah. Nur der Weg vom Bahnhof zur
Stadt bot, auf beiden Seiten von leichten Säulen eingefaßt, auf denen
schlankes Grün und zierliche Fähnchen standen, einen wohlthuenden
Eindruck dar. Ich war ganz erstaunt über so viel Geschmacklosigkeit
und Ungeschick! Was hätten wir nicht in unserm Deutschland allein
schon mit diesem Reichtum an +natürlichem+ Schmuck zu machen
gewußt, über den Brasilien verfügt! Gebt uns einmal weiter nichts als
diese nickenden Palmzweige, diese pomphaften Bananenblätter, diese
leuchtenden Orangen in ihrem dunkeln Grün, gebt uns die entzückend
feinen Tannenarten Brasiliens, diese Schlingpflanzen von oft 10-20
Meter Länge, diese großen, glühenden, sattfarbenen Blumen, diesen
seidetragenden Painabaum, dessen weiße Flocken Du wie Schnee verwehen
kannst, gebt uns alles das und in solchem Ueberfluß wie hier -- und die
kleinste deutsche Stadt würde ohne jene armseligen Tarlatanfetzen, ohne
Hülfe von Holz und Papier sich ein märchenhaft Kleid anziehen. Meinst
Du nicht auch, Gretel? Aber nun möchtest Du natürlich vom Kaiser hören.
Also:

Abends um 7 Uhr strömte, was einheimisch und fremd war, nach dem
Bahnhof, wo ~Dom Pedro~ ankommen sollte, und da sich der Zug um
fast 3 Stunden verspätete, auch kein einziger Schutzmann oder sonstiger
Ordnungsbeamte die lieben Unterthanen in ihrem loyalen „Drängen“
hinderte, so hatte die Menge Zeit und Freiheit, sich zu einer ganz
anständigen Mauer anzustauen.

Endlich kam der Zug. Die Lokomotive war unterwegs zerbrochen, man
hatte eine andere geholt, und der Kaiser hatte zwei Stunden lang auf
der Station ~Entere Rio~ warten müssen, wo man eben am Malen und
Tapezieren war. Alles das hatte ihm aber, wie es schien, die gute
Laune nicht verdorben: „Hat man auch für ein Konzert oder einen Ball
gesorgt?“ hörten wir ihn fragen.

Er grüßte fortwährend mit dem Hute und der Hand, die Kaiserin nickte
rechts und links, und dann wand sich der kleine Zug so allmälig mit
Geduld und guten Worten durch die geschätzten Unterthanen aller
Schattierungen hindurch, um im „Wartesaal“ (ich beleidigte einen
Brasilianer durch meine Frage, ob das die Durchfahrt sei) offiziell von
den Bahndirektoren empfangen zu werden. Unsere Gesellschaft benutzte
diese Verzögerung, um so schnell als thunlich nach dem kaiserlichen
Logis in der Stadt zurückzueilen, wo wir unserseits das hohe Paar mit
„empfangen“ durften.

Man hatte mittlerweile illuminiert. Einige -- ~entre nous~,
schauderhafte -- Transparente waren das Bedeutendste dieser Leistung.
Viele Häuser hatten sich damit begnügt, eine Art von Wagenlaternen zu
beiden Seiten ihrer Fenster zu befestigen. Eine Straße hatte an einer
Seite einen Bindfaden gezogen und ihn mit Lampions bereiht; die andere
Seite war dunkel. Das Thor vor dem kaiserlichen Logis war durch eine
Schnur kleiner Lämpchen erhellt, die beinahe gut ausgesehen hätten,
aber die Lämpchen waren nicht alle angezündet, und die unterbrochene
Lichterschnur war nun einfach störend. Es hat wirklich manchmal
den Anschein, als würde der Brasilianer bei all seiner Neigung zum
~show~ nicht zufrieden sein, wenn er etwas Ordentliches leisten
würde, als widerspräche es seinem Wesen, denn oft ist für die volle,
gründliche Leistung garnicht einmal ein viel größerer Müheaufwand
erforderlich. Oder +sehen+ sie dergleichen nicht?!

Wir kommen an, werfen Hut und Plaid ab und ziehen den rechten
Handschuh aus, denn die brasilianische Etiquette gestattet nicht, daß
man die Majestäten mit Handschuhen anfaßt. Dann stellen wir uns im
Hausflur auf -- nur 12 Personen! Die Menge schien bereits abgekühlt
oder ihre Neugier befriedigt.

Wir zwölf (denke Dir, Deine Ulla mit!) „machen die Wirte“. Das Haus
war Privateigentum und nur „hergeliehen“ für den kaiserlichen Gast;
es gehörte einer verwittweten Baronin, welche in Rio lebt, die für
europäische Begriffe fast mehr als einfachen Rohrmöbel teils derselben
Dame, teils andern Patrioten; wer etwas Hübsches besaß, hatte es
herbeigetragen. Wir gingen rasch erst noch durch alle Zimmer; nirgend
erschien es mir gemütlich außer in dem Speisesaal, wo eine kleine Tafel
durch einen französischen Koch wunderhübsch gedeckt und besetzt war.

Als wir wieder hinunter kamen, wurde gerade ein Piquet Soldaten vor der
Thür in mir unverständlichen Kommandos von einem Korporal angeschrieen
und vollführte ein „Rechtsum“, das mich in die beste Laune versetzte.
Gretele, da machen’s unsere rekrutesten Rekruten besser! Der Korporal
zog einen Mann am Knopf etwas nach vorn, drückte den andern mit
dem Säbel ein wenig zurück, und dann überließ er es ihrem loyalen
Gutdünken, ob sie so bleiben wollten.

Jetzt aber rasselte ein Wagen über das Straßenpflaster ... „~O
Imperador!~“ donnerte eine Stimme, und „Viva!“ schrie die allerdings
nicht sehr zahlreiche Menge draußen. Neugierig streckte ich den
Kopf vor. Ein hoher stattlicher Herr im weißen Bart schüttelte Dr.
Rameiro, der in der Thür stand, kordial die Hand, dann tritt der
stattliche Herr in den Flur, schüttelt den Damen, die sich nur leicht
verneigen, die Hände und dann den Herren. Ich hatte mich wohlweislich
als Letzte in die Reihe gestellt, um alles nachmachen zu können, was
die Brasilianerinnen thaten. Hinter dem Kaiser kam eine sehr kleine,
etwas verwachsene Dame, in einfachstes Schwarz gekleidet, und ließ
sich mit wohlwollendem Lächeln in der Runde die Hand küssen. Das waren
der Kaiser und die Kaiserin von Brasilien! Du glaubst garnicht, Grete,
wie mir zu Mute war. Es war so schrecklich einfach. Und ich hatte mir
so einen Kaiserempfang bei den pomphaften Brasilianern so ganz anders
gedacht -- es war so garnichts zum Eindruckmachen!

Dom Pedro bietet seiner Gemahlin den Arm, und das einfache Paar steigt
langsam die Treppe hinauf. Wir folgen. Oben setzt sich die Kaiserin
in der salla de visita auf das Sofa, die anwesenden Damen schließen
sich nach dem Beispiel der einzigen Hofdame rechts und links auf den
rechtwinkligen Stuhlreihen an, und die arme alte ermüdete Fürstin quält
sich für jeden noch ein freundliches Wort heraus, während der Kaiser
wie ein Jüngling ohne die geringste Spur von Erschlaffung unter den
Herren steht. Und denke Dir, Grete, er hat auch mit mir gesprochen!
Ich erschrack zuerst so, als er mich anredete. Er fragte nach meinem
New-Yorker Onkel, der lange Jahre in Brasilien gelebt hat und von Dom
Pedro sehr bevorzugt wurde. Der Kaiser soll sehr gut deutsch sprechen,
sprach aber zu mir französisch. Nach einem kurzen Anstandsverweilen
verließen „die Wirte“ das Haus, die hohen Herrschaften waren nicht
aufgelegt zu einem formellen Souper, und so wurde bald alles still und
dunkel in dem Hause der verwittweten Baronin.

Aber nicht lange war den hohen Gästen Ruhe gegönnt. Des Kaisers
landwirtschaftlicher Minister, Buarque de Macedo, der sich mit unter
seiner Begleitung befand, war schon unterwegs von einem heftigen
Unwohlsein befallen worden, und um Mitternacht meldete man dem Kaiser,
der diesbezüglich Befehl gegeben, daß derselbe wohl seinem Ende
entgegensehe. Sofort begab sich der Kaiser selbst an Ort und Stelle;
Dr. Rameiros Bruder, der Arzt ist und auch in unserm Hause logiert,
wurde hinzugerufen. Zu spät! Da war keine Hülfe mehr möglich. Noch eine
Zeitlang schwebte der Kranke zwischen Leben und Sterben, dann seufzte
er auf: „Meine arme Familie!“ Kaum hatte der Kaiser noch Zeit, ihn über
ihr Schicksal durch ein hastiges Wort zu beruhigen. Im Morgengrauen
ging Dom Pedro über die geschmückten Straßen nach seinem Logis zurück;
im nächsten Morgengrauen führte ihn sein Wagen wieder an den Bahnhof;
alle weiteren Feierlichkeiten unterblieben.

Ich glaube aber, wir haben wenig daran verloren, denn eine Aufführung
der „Glocken von Corneville“, die wir einen Tag sahen, war entsetzlich,
und bei einer musikalischen Matinée, wo das Orchester nach dem
Metronom, und als das auch noch nicht half, nach dem energisch
tactierenden Fuße des Leiters spielte, haben wir ungezogener Weise so
gelacht, daß wir uns den regsten Unwillen der andächtigen „Eingebornen“
zuzogen.

Ich fürchte übrigens nächstens den Deinigen, wenn ich diesen Brief noch
länger werden lassen, darum für heute Schluß!

    Deine getreue +Ulla+.


  [2] Die brasilianischen Landesfarben.



[Illustration]



    Saõ Francisco, den 17. September 1881.

Ach liebste Grete, wenn Du wüßtest, wie sauer mir hier manchmal so
ein Tag wird! Wie die Stunden schleichen, wie alles so schwerfällig
erscheint! Die Kinder sind unartig, das Vehmgericht passiv, das
ganze Haus laut, und man fühlt sich so allein, so unbeschreiblich
vereinsamt! Zudem fängt die ganze Sache an, mich sehr anzugreifen. Die
neuralgischen Schmerzen dauern fort, wenn auch Gottlob in vermindertem
Maßstabe, und ich habe sehr oft Migräne, die ich besonders dem Lärm und
der ganzen Unbehaglichkeit der häuslichen Einrichtungen zuschreibe. Die
Nerven dieser Menschen müssen Stricke sein -- leider! Sonst würden sie
Rücksichten auf Andre kennen!

Stelle Dir einmal folgende Scene vor und dann appelliere an Deine
eignen Nerven, ob sie es ertrügen.

Ich gab der kleinen Leonilla eine Klavierstunde in dem sogenannten
Arbeitszimmer von Dona Alfoncina, denn die Kinder haben ihre Stunden
nicht auf dem Flügel in der ~salla de visita~, sondern auf einem
ehrwürdigen Tafelförmigen. Besagtes „Arbeitszimmer“ liegt so ziemlich
in der Mitte des Hauses, und allerlei Räume münden in dasselbe ein,
nämlich eine Vorratskammer, das Badezimmer, das Schlafzimmer der
Kinder, das des Vehmgerichts, ein Kleiderzimmer und die Nähstube. Nun
kannst Du Dir eine kleine Vorstellung machen, wieviel Lärm in diesem
angenehmen Raume schon unter normalen Verhältnissen gehört werden kann;
heute aber war es gerade, als hätte der alte ~gentleman~ sein Spiel!
Man hatte nämlich Mäuse in der Vorratskammer entdeckt, und ohne Verzug
kommandierte Dona Alfoncina zwei Negerinnen und einen Neger herbei,
die den ganzen Raum leer machen mußten, damit man die Löcher finde.
Während ich also an dem verstimmten Tafelförmigen resigniert mein
~un~, ~deux~, ~trois~ zählte und Leonilla mit Ausdauer immer dieselben
Fehler machte, baute sich unter lautem Kommando von Dona Alfoncina
rings um uns eine Wagenburg von Kisten, Fässern, Säcken etc. auf. Der
Lärm, der durch diese Prozedur verursacht wurde, die lauten Kommandos
und gelegentlichen Mißfallensäußerungen der Herrin waren an sich
schon betäubend. Dazu stand neben dem Klavier die Thür zur Nähstube
offen, von wo heraus wir die zwei Maschinen klappern hörten; in dem
Nachbarraum schrie’s aus einem Bambuskorbe und dazwischen frohlockten
Papageien und andre Vögel. Zum Schluß wurde noch eine kleine Mulattin,
die Dona Gabriella lesen lehrt, durch die sich aufbauende Wagenburg
aus ihrer Ecke, wo sie „studierte“, fortgetrieben und stand plötzlich
hinter meinem Stuhl, eintönig ihr b -- a ba, b -- e be, b -- i bi
murmelnd! Das war zu viel! Wütend sprang ich auf, ergriff die Noten,
rief Leonilla, mir in den Saal zu folgen und gab die Stunde da zu Ende.
Man hat mir das furchtbar übel genommen und hält +mich+ bei der ganzen
Sache für die Rücksichtslose!

Ja, ja, wenn Menschen zu viel Nerven haben, ist es wohl schlimm, aber
wenn sie garkeine haben, ist es noch peinvoller für Andre. Und so
scheinen mir die Brasilianer geartet. Ich bezweifle, daß ich hier
allzu lange mit meiner Gesundheit reiche! Schreibt mir nur recht oft,
ich fühle mich sehr einsam und weltfern. Wenn ich doch nur wenigstens
einmal ein deutsches Wesen zu sehen bekäme!

    Deine arme +Ulla+.

Uebrigens habe ich mit dem Zimmer gewechselt, da es mir in dem vorigen,
sonnenlosen vor Feuchtigkeit unerträglich wurde, ich auch eines Mittags
eine Schlange unmittelbar vor meinem Fenster sah -- hu, die ekelhaften
Tiere! Wir sehen oft welche.



[Illustration]



    Saõ Francisco, den 5. October 1881.

    +Meine liebe Grete!+

Es ist gerade, als hätte die Vorsehung den Stoßseufzer in meinem
letzten Briefe an Dich zu Gesichte bekommen! Das „deutsche Wesen“ ist
da! Und das wunderlichste obendrein, das Du Dir vorstellen kannst --
das Gaudium des ganzen Hauses und, daß ich’s nur gestehe, meines auch.
Es ist ein Naturforscher, ein älterer Herr, dem auf die Empfehlung
eines italienischen Collegen hin Dr. Rameiro das Haus „zu Befehl“
gestellt hat für die Dauer seines Aufenthaltes in dieser Gegend
Brasiliens.

Unser guter Landsmann, dessen Französisch absolut unzulänglich ist, und
der sich ziemlich vergeblich abmüht, sein deutsch accentuiertes Latein
dem Portugiesischen anzupassen, wäre ohne mich als seinen Dolmetsch
völlig verloren. Er ist ein „Gelehrter“, wie er in Büchern steht, und
würde mit seiner Pedanterie und seiner wunderlichen Kleidung selbst
bei uns komisch sein, hier aber sehe ich es dem Vehmgericht trotz
ihrer unbeweglichen Gesichter an, wie es sie entzückt, sich über etwas
Deutsches lustig machen zu können, und ich bin gewiß, daß sie überzeugt
sind, alle Deutschen wären genau wie dieser Professor. Zu dem, was man
so Plaudern nennt, ist er gerade nicht gemacht, aber er ist doch ein
Landsmann, und ich höre doch wieder deutsche Worte! Was das für eine
Wonne ist, Grete! Ich könnte den garstigen kleinen Pedanten küssen bloß
dafür, daß er ein Deutscher ist!

Aber ich wollte Dir eine Geschichte erzählen, die ihm gestern
passierte, und über die ich gelacht habe, wie noch nie, solange ich
hüben bin.

Gestern war Sonntag, und als ich im Genusse meiner Muße am Nachmittage
vor der Thür sitze, steht plötzlich die sonderbarst ausstaffierte
Gestalt von der Welt vor mir. Eine große blaue Brille auf der Nase,
einen weißen Strohhut auf dem Haupt, eine mächtige Botanisiertrommel
an der Seite, ein grünes Schmetterlingsnetz über der Schulter,
aus der rechten Rocktasche ein „Handbuch der Botanik“, aus der
linken ein umfangreiches Werk über Insectenkunde -- wer konnte
in diesen Attributen anders stecken als ein deutscher Gelehrter!
Unser guter Professor forderte mich auf, die Genossin seiner ersten
Entdeckungsreise auf der Pflanzung zu sein, allein die Sache hatte für
mich wenig Reiz, und die Sonne war mir auch noch zu drückend; so bat
ich ihn, mich zu entschuldigen. Die Kinder kamen heraus und spielten
vor der Thür, und Dona Gabriella und der Doktor setzten sich zu mir auf
die Bank. Als wir aber kaum ¾ Stunden da gesessen hatten, wurden wir
plötzlich wild aufgeschreckt.

Um die scharfe Biegung, die der Weg grade neben dem Hause macht,
stürzte es hervor, atemlos, bis an den Hals beschmutzt, einen
Stiefel von einem Schlamm-Überzug bedeckt, den andern dadurch
ersetzt, brillenlos, hutlos, ohne Botanisiertrommel, das leere
Schmetterlingsnetz wie eine Fahne in der Hand -- die Reste eines
deutschen Gelehrten, der ausgezogen war, Natur zu forschen! Keuchend
sank er auf die Bank nieder, entsetzt starrte ihn der Doktor an und
blickte dann hilfeflehend auf mich, die ich schon mein: „Was ist denn
nur geschehen?“ herausgestoßen hatte.

„Geschehen! ach! oh! Ich werde verfolgt! Man will mich umbringen!
Ermorden! Uff! ah, meine schönen Pflanzen -- eine solche Orchis! Und
diese intressanten Sandflöhe, o, ich hatte ein Prachtexemplar unter der
Lupe....!“

„Aber wer in aller Welt verfolgt Sie denn?“

„Wer? die Wilden, die Menschenfresser, die -- ach!“

„Welche Wilden denn?“

„Da, da, sehen Sie nur, wie der Kerl herbeistürzt, selbst sein Herr
wird ihn nicht zähmen können, retten wir uns in das Haus!“

„Aber das ist ja ein Neger der Pflanzung!“

„Ja, ja, ja, meinetwegen, aber ich sage Ihnen, daß er wild ist und daß
ich ihm nur mit Mühe entgangen bin“, schrie der arme kleine Mann in
heller Verzweiflung und stürzte mit Aufraffung seiner letzten Kräfte in
das Haus.

Lächelnd und kopfschüttelnd übersetzte ich diese aufgeregten Aphorismen
dem Doktor, der sie achselzuckend anhörte. Ganz atemlos kam jetzt der
Neger näher, er hielt in der linken Hand das Handbuch der Botanik, in
der rechten das von der Insectenkunde; er streckte eins mir, eins dem
Doktor entgegen und keuchte dabei zwei Mal „~Sos kiss~“, „~sos
kiss~“ hervor.

„Was giebt’s?“ herrschte ihn sein Herr an.

„~Senhor, sim senhor~“, sagte der Schwarze, „der deutsche Herr,
der bei ~Senhor~ zum Besuch ist, ist verrückt.“ Wir konnten beide
das Lachen nicht unterdrücken.

„Er sagt, +ihr+ seid +wild+. Was habt ihr ihm gethan?“

„Nichts, Herr, nein Herr. Wir arbeiteten im Kaffee, da kam der deutsche
Herr daher. Wir liefen auf ihn zu, um „~sos kiss~“ zu bieten. Der
Herr sah uns nicht und ging rasch zu, ~sim Senhor~. So liefen wir
etwas näher heran. Da begann er zu laufen, schnell, schnell, warf seine
Schachtel ab, seinen Hut, seine Bücher, und lief auf den Morast beim
Teiche von Sanct Hieronymus zu, ~sim Senhor~. Wir schrieen ihm zu,
aber er wollte nicht hören und lief immer mehr. Wir schrieen lauter,
daß der Herr nicht in den Morast laufen sollte, aber der Herr stürzte
weiter, ~sim Senhor~, und ist durch den Morast gelaufen.“

Dieser Bericht wurde in vielen Absätzen und von zahllosen und
oft, wie Du siehst, sinnlosen „~Sim Senhor’s~“ unterbrochen,
hervorgestottert. Während dessen aber sammelten sich hinter dem Sklaven
eine ganze Gesellschaft seiner schwarzen Genossen an: der eine hielt
den Hut, der andre die Botanisiertrommel, der dritte die zertrümmerte
Brille, der vierte den schlammigen Schuh des armen Gelehrten, und alle
streckten uns diese mannichfachen Gegenstände mit ihrem stereotypen
„~sos kiss~“ auf das bekümmertste entgegen.

Die Scene, die ja bereits halb aufgeklärt erschien, war so unglaublich
komisch, daß ich in ein unbändiges Gelächter ausbrach, in das Dr.
Rameiro schließlich einstimmte, das aber unsere armen braven Schwarzen
vollständig verblüffte. „Legt es nur dahin“ sagte endlich der Doktor,
und gedankenvoll entfernten sich die Guten, die traurigen Reste einer
Naturforscher-Expedition auf der Bank aufgereiht zurücklassend.

„Was aber kann Ihren armen Landsmann von vornherein nur so erschreckt
haben?“ fragte dann der Doktor, sich die Lachthränen trocknend.

„Ich kann es mir denken“, sagte ich, die eigne Lustigkeit zähmend,
-- „sollten es nicht etwa die ausgestreckten Hände gewesen sein und
das „~sos kiss~“, das mir auch zuerst so geheimnisvoll war?“ Der
Doktor lachte wieder auf.

„Bei unsrer lieben Frau -- das kann es sein! Hahaha! Grade ihre
Höflichkeit -- ihr Gruß! Ich gebe zu, daß in der steif und flach
ausgestreckten Hand eine graziöse Geste schwer zu erkennen ist, und
das „geheimnisvolle“ „~sos kiss~“ -- Sie haben Recht, wer sollte
darin den schönen Gruß erkennen: ~Louvado seja noso Senhor Jesus
Christus~[3]!“

Bis an die Kehle voll Heiterkeit, aber mit dem mitleidigsten Gesicht
von der Welt ging ich zu meinem Professor, der abgespannt und pustend
in seinem Schaukelstuhle lag; der Doktor folgte mir.

„Aber was hat Sie denn nur so in Angst gesetzt?“ fragte ich deutsch.

„In Angst gesetzt, in Angst gesetzt! O, es ist empörend! ist
das Gastfreundschaft? das Bettelvolk von Schwarzen -- die ganze
Gesellschaft wollte mich anbetteln! Daß das geduldet wird! Sie hätten
nur die Anzahl der ausgestreckten Hände sehen sollen! Aber wer nimmt
denn Geld mit zum Botanisieren? Ich that, als sähe ich diese Kannibalen
nicht, da liefen sie mir nach und haben mich wild schreiend bis an das
Haus verfolgt. Sie hätten nur diese Stimmen hören sollen!“

Ich lachte schon wieder. Der Doktor stand verlegen dabei. Der Professor
schoß wütende und verächtliche Blicke auf mich.

„Verzeihung“, brachte ich endlich hervor, „aber es ist zu komisch --“

„Komisch!!“

„Hören Sie nur --“ und ich erzählte ihm, was uns der Neger berichtet
und welchen Zusammenhang die Sache habe. Das Gesicht des Professors
machte dabei den ganzen Wechsel im Ausdruck von mißtrauischem Zorn
über Erstaunen, Verlegenheit, Erleichterung, gutmütigen Humor bis zur
ehrlichen Selbstironie und Heiterkeit durch, und schließlich lachten
wir alle Drei.

„Nun soll Ihr Landsmann sich doch einmal unsre Neger in der Nähe
ansehen, damit er seine Menschenfresser-Ideen los wird“ sagte der
Doktor Nachmittags, und so zogen wir zu Dreien aus, den Professor das
Nichtfürchten zu lehren.

Überall in der Nähe der Negerhütten liefen uns die kleinen schwarzen
Halbaffen entgegen und murmelten ihr „~sos kiss~“, und tapfer
antwortete jetzt unser Professor „~para semper~“. Wir sahen in die
erste Hütte hinein.

Eine Art rohester Bettstelle von Brettern, darauf eine Matte aus
Maisstroh und eine rote wollne Decke, eine kleine blecherne Truhe,
ein unbeschreiblich primitiver Tisch, das war, außer einigen Töpfen,
Schüsseln und kleinen Geräten die ganze Ausstattung des fensterlosen
Raumes. In einer Ecke brannte ein Feuer, über dem eine Frau irgend ein
Gericht bewachte.

„Wie schrecklich dies Feuer in der Hütte sein muß, sagte ich; erlauben
Sie es nicht, daß die armen Menschen das bei der Hitze +vor+ dem
Hause anzünden?“

„Erlauben? Ich habe es hundertmal durchsetzen wollen, aber der Schwarze
ist unglücklich, gradezu krank, wenn man ihm sein Feuer nimmt. Er
bedarf dessen Winter und Sommer und schläft nie ohne seine glimmenden
Kohlen in der Hütte.“

„Wie fürchterlich!“ stöhnte der Professor -- „und obendrein keine
Fenster!“

„Das mag wohl zuerst zur Verhinderung von Fluchtversuchen so
eingerichtet gewesen sein, da sich Fenster doch nie so wie Thüren
verschließen lassen. Aber der Neger ist jetzt auch so daran gewöhnt,
daß, wenn sie als Freigewordene sich ein Hüttchen aufrichten, sie auch
keine Fenster darin anbringen.“

„Was kochen denn die Frauen nur alle“, sagte ich, „die Sklaven werden
ja doch wohl alle auf der Pflanzung gespeist?“

„Die Verheirateten nur Mittags; Abendbrot kochen ihnen ihre Weiber; sie
erhalten Rationen zuerteilt.“ --

Vor einem der letzten Häuser erhoben sich ein paar ganz alte
gebrechliche Neger: „~Sos kiss~“ stotterten sie, als wir uns
näherten. „Wozu gebrauchen Sie denn die noch?“ fragte der Professor
ganz entsetzt.

„Zu nichts“, lächelte der Doktor, „aber ich kann sie doch nicht
ersäufen. Sie sind in meinem Dienste grau geworden, jetzt bekommen
sie das Gnadenbrot. Ich habe sie auch freigegeben, aber ich habe
nicht das Herz, alte, abgebrauchte Neger mit ihrer Freiheit und ihrer
Arbeitsunfähigkeit in das Elend oder auf den Bettel zu schicken --
mögen sie hier sterben.“

„Denken viele Pflanzer so?“ fragte ich.

„Ja, Gott sei Dank, und es ist auch nicht mehr als billig. Zu solchen
alten Menschen zu sagen: „Du bist frei, ich habe jetzt also nicht mehr
für Dich zu sorgen, geh’ deiner Wege“, das ist eine Barbarei. Wer
das Fleisch ißt, behält auch nachher die Knochen, sagt eins unsrer
Sprichwörter.“

„Ich fürchte, Herr Doktor“, machte unser alter Professor mit Feinheit,
„ich bin hier auf eine Pflanzung geraten, wo ich nur die guten Seiten
des Sklaventums zu sehen bekomme!“

„Das würde auch nichts schaden!“ rief der Doktor liebenswürdig. „Es ist
so viel über die gegenteilige Seite geschrieben und dabei übertrieben
worden, daß die lichteren Seiten auch einmal hervorgekehrt werden
können. Überdies irren Sie, wenn Sie denken, ich stehe vereinzelt da.
Viele Pflanzer hier in Brasilien halten ihre Sklaven ebenso gut wie
ich, manche schon aus Eigennutz! Die traurigen Seiten: der Mangel an
Freiheit, die sittliche Verkommenheit vieler, die Unwissenheit aller,
das alles wird bleiben, solange es Sklaven geben wird, die es ja
vorläufig für uns leider noch geben +muß+.“

„Es ist aber eigentümlich, wie diese trüben Seiten sich mir hier
viel weniger aufdrängen als es in Europa bei mir und ich glaube bei
jedermann der Fall ist“, sagte ich sinnend.

„Vielleicht sahen Sie da +nur+ die trübe Seite“, sprach lächelnd
der Sklavenhalter.

Weißt Du, Grete, ich habe es ihm schon längst verziehen, daß er
nicht fesch aussieht und nicht so bunt angezogen geht wie der
Operetten-Brasilianer der kleinen Handschuhmacherin -- er ist wirklich
ein guter Mensch, und soweit es ihn und seine Frau angeht, bin ich ja
hier auch ganz gut aufgehoben -- aber das Vehmgericht, das Vehmgericht!

    Deine +Ulla+.

Der Professor reist morgen weiter.


  [3] Gelobt sei unser Herr Jesus Christus. --



[Illustration]



    Saõ Francisco, den 22. Oktober 1881.

    +Meine liebe Grete!+

Du fragst in Deinem letzten Briefe, ob ich denn nicht in der Nähe eine
Kollegin hätte, mit der ich mich einmal aussprechen könne. Bestes
Herz, ein „in der Nähe“ giebt es hier überhaupt nicht, die nächsten
Pflanzungen sind alle 4-6 Meilen entfernt, und eine Stadt giebt es
garnicht in erreichbarer Nähe. Zudem will mein Unstern, daß auf all den
Pflanzungen, die allenfalls zu erreichen wären, nur erwachsene Kinder
sind oder die Besitzer so einfach, daß sie keine „~professora~“
halten. So bin ich denn ganz allein in der Runde, die traditionelle
einzig fühlende Brust; ich weine auch manchmal ganz furchtbar, aber das
darfst Du auf keinen Fall meinem Mutting erzählen!

Ich möchte so gern einmal heraus hier, wenigstens nach Rio, um mir die
Stadt anzusehen, die ich bei meiner Ankunft nur so flüchtig gesehen
habe, und die mir doch so schön erschien; auch habe ich ja noch
meine Empfehlungsbriefe an eine deutsche Familie dort und an einen
Geschäftsfreund meines New-Yorker Onkels, der sehr reich ist; es würde
mich so sehr beruhigen, nur irgend welchen Halt in diesem fremden Lande
zu haben....

Aber verzeih mir, Gretel, wenn ich schon schließe: -- ich bin totmüde
und schwer, und wollte Dir nur einen Gruß senden.

    Deine +Ulla+.



    _S. F., den 3. Dez. 1881._

    _Das war eine lange Pause, meine Grete, nicht wahr? Aber Du
    wirst mir schon verzeihen, wenn Du hörst, daß ich krank war. Ein
    abscheuliches Sumpffieber hatte mich richtig gefaßt und mich
    im Verein mit der Ueberanstrengung, die diese Stelle besonders
    in musikalischer Beziehung von mir fordert, für vier Wochen
    pädagogisch unschädlich gemacht._

    _Heute an meinem Geburtstage (ach Grete, kein Mensch weiß davon,
    ich habe keinen Glückwunsch, keine Blume, keinen Brief, nichts!)
    bin ich zum ersten Mal aufgestanden und will in diesen Tagen nach
    Rio, um einen Arzt zu konsultieren. Es grüßt Dich herzlichst_

    _Deine Ulla._

    _Gieb diese Karte Deinem Brüderlein für seine Sammlung._



[Illustration]



    Rio de Janeiro, den 24. Dezember 1881, Abends.

Weihnachtsabend und 25° Celsius im Schatten! Wie fremdartig, wie
heimatfern und, ach Grete, wie traurig! Kein Mensch in dieser ganzen
bunten, lärmenden Stadt scheint an Weihnachten zu denken; das
öffentliche Leben wird garnicht davon berührt, und nichts erinnert an
die heilige Zeit wie daheim. Vielleicht, daß einige wenige deutsche
Familien auch in der Tropenstadt ein fremdartig Christbäumlein
schmücken (unsere Tanne giebt es ja hier nicht) -- aber mir stralt
doch keines! +Kleins+ haben mich so wenig freundlich empfangen,
daß ich nicht wieder hingehe, und das wundert mich umsomehr, als Frau
Klein früher selbst Erzieherin hier war und also weiß, wie solch’
einsamem Menschenkinde zu Mute sein muß! Onkels Geschäftsfreund konnte
ich bisher nicht antreffen. So stelle Dir Deine Ulla nachträglich am
heiligen Abend in einem einsamen Hotelzimmer vor, an Euch Lieben in der
Heimat denkend und sich unbeschreiblich nach Euch und unserm schönen,
lieben Deutschland sehnend!

Draußen lärmt die Stadt mit ihrem Abendgetriebe. Durch die offenen
Fenster kommt die eigentümliche, feuchtwarme Tropenluft herein, und
ich sehe die Sterne an dem frühdunkeln Abendhimmel erscheinen; in dem
Rahmen des Seitenfensters zeichnen sich die Palmen des Corcovado ab,
jenes luftigen Bergkegels hinter der Botafogobai, dessen berühmte
Quellen Rio mit herrlichem Trinkwasser versehen. Der Bewohner von
Rio ist auch sehr stolz auf diese prächtige Naturgabe und sagt im
Sprichwort: „~Quem bebeu a agua da Carioca~-(Quelle) ~Nunca toma
outra agua na boca~.“ Wer einmal das Wasser der Cariocaquelle trank,
nimmt nie wieder andres Wasser in den Mund.

Wie poetisch könnten hier so manche Eindrücke sein, wenn man sie in
Ruhe genießen könnte, aber so unbeschreiblich lärmend wie hier in
Rio de Janeiro habe ich es noch in keiner Stadt gefunden, die ich
kenne. In Berlin ist der Aufenthalt dagegen die reine Sommerfrische
mit Nervenberuhigung, und nicht einmal in London habe ich es so laut
gefunden. Da fahren zunächst Pferdebahn und Omnibus mit lautem Gerassel
und häufigen Warnungspfiffen daher; kleine einsitzige Droschken,
von den Engländern ~tilbury~ benannt, poltern im Galopp über das
entsetzlichste Straßenpflaster, das Du Dir vorstellen kannst. Reitet
jemand, so geschieht es ohne Gnade auch im Galopp, und ich bin schon
einige Male in diesen Tagen an’s Fenster gestürzt, weil ich dachte,
es gehe ein Pferd durch. Wasserverkäufer, Zeitungshändler (gerade
diese sind fast so schlimm wie die Papageien auf der Pflanzung),
Bonbons-, Cigaretten- und Sorbetverkäufer, Italiener, die Fische
ausschreien, und dazu Drehorgeln und sonstige Instrumente, ganz
abgesehen von den ungezählten Klavieren, die zu den offnen Fenstern
hinaustönen, alles das tobt sich förmlich aus in den engen Straßen,
wo jeder Schall doppelt hart stecken bleibt. Dabei haben diese Leute,
besonders die erwachsenen Neger, oft ganz unmenschliche Stimmen, so
daß man zusammenfährt, wenn man zufällig in ihre unmittelbare Nähe
gerät. Vervollständige Dir diesen Ohrenschmaus durch das Geprassel
von Feuerwerk, das man bei Tage und bei Nacht abbrennt, und nimm als
selbstverständlich eine eintönige, hartstimmige Negerunterhaltung
unmittelbar vor Deinem Fenster und ein ungeschicktes Guitarengeklimper
in nicht allzu großer Entfernung hinzu, und dann -- beneide mich,
wenn Du kannst! Aber auch hier staune ich wieder die Nerven der
Einheimischen an: trotz dieses betäubenden Lärms lebt alles auf der
Straße oder so gut wie auf der Straße. Wenn der Grundsatz jenes famosen
alten Berliner Professors: „Der gebildete Mensch gehört in die Stube!“
überall rück- und vorwärts gefolgert würde, so ist es sicher, daß
man hier um die gebildeten Menschen handeln könnte wie Abraham um
die guten in Sodom. Der unbeschäftigte Schwarze ist absolut nirgend
anders zu finden als vor der Hausthür, rauchend und spuckend, die
Kinder wälzen sich vom Morgen bis zum Abend auf der Gasse umher. Der
kleine Krämer, der Vendiste, ja und auch der bessere Kaufmann in den
vornehmeren Straßen steht vor der Thür, wenn augenblicklich kein Kunde
da ist, und schwatzt mit den Vorübergehenden, und sowie die Sonne es
gestattet, ist jeder Balkon, jedes Fenster besetzt von müßig gaffenden
Menschen. +Das Haus+ scheint für niemanden Anziehungskraft oder
Beschäftigung zu haben, denn sonst würde es diese Leute doch nicht
immer wieder amüsieren, in den Tumult der Straßen hineinzugaffen. Die
Straße wirkt hier überhaupt auf entsetzlich plebejische Weise in das
Haus hinein. In einem gut brasilianischen Zimmer sitzt man wie in einem
Schaukasten, sämtliche Fenster stehen auf, da der Brasilianer der
Ansicht ist, daß offne Fenster unter allen Umständen ein Haus kühl
machen, und sämtliche Thüren obendrein. Ich gebe zu, daß letzteres
nötig wird, um durch den dadurch bewirkten Zug die Thorheit des
ersteren wieder gut zu machen -- aber warum schafft man nicht lieber
eine weit gründlichere und angenehmere Kühle dadurch, daß man die
Fenster gegen den Sonnenbrand der Tagesstunden verwahrt?! Ich begreife
es jetzt schon viel besser, daß die Brasilianer noch nichts Bedeutendes
an wissenschaftlichen Leistungen aufzuweisen haben: ihre Lebensweise
läßt keinen geordneten Gedanken aufkommen. Zu geschlossenen Gedanken
gehört ein geschlossener Raum, wo nicht tausenderlei äußere Dinge einen
abziehen von dem, womit man sich beschäftigen will, und das meinte wohl
auch der Berliner Professor mit seinem originellen Dictum.

Natürlich ist Rio augenblicklich durchaus kein Aufenthalt für mich. Der
Arzt war sehr unzufrieden mit dem Zustand meiner von Arbeit, Lärm und
neuralgischen Schmerzen zerquälten Nerven und hat mir auch dringend
geraten, die Arbeit in Saõ Francisco nicht wieder aufzunehmen, sondern
dem Vehmgericht, den Papageien und den täglichen fünf Klavierstunden
Valet zu sagen, vor allen Dingen aber erst auf vier Wochen nach
Petropolis (dem berühmten, jenseits der Bai gelegenen Luftkurort)
hinaufzugehen, um mich von dem Fieber zu erholen. Petropolis ist
zugleich Sommerresidenz des Kaisers, und die ganze Diplomatie flüchtet
in diesen Monaten dort hinauf vor der Hitze und dem gelben Fieber.

Aber da läßt mich Mrs. Carson, die Frau des Hotelwirtes auffordern,
mit ihnen zusammen in ihrem Privatzimmer Abendbrot zu essen. Carsons
sind Engländer und sehr liebe Menschen. Ihre Kinder werden in England
erzogen, und wenn sie daher auch keinen eigentlichen „Weihnachten“
feiern, so scheinen sie doch zu empfinden, wie schwer dieser Tag hier
für ein einsames deutsches Herz sein muß. Und unsre eignen Landsleute
-- --!

Schreibe mir nur recht ausführlich, wie alles bei Euch und zu Hause
war, beschreibe mir alles, alles, wie wir es als Kinder thaten, jedes
Stück, was Du geschenkt bekommen hast -- es wird mir jedes Wort ein
Stück Deutschland sein! Richte Deine Briefe hier an das ~Hôtel
Carson, rua Catette~, und laß ihrer recht viele sein!

    Deine +Ulla+.



[Illustration]



    Petropolis, den 15. Januar 1882.

    +Mein liebstes Gretele!+

Freue Dich mit mir, denn ich habe meinen Humor wiedergefunden, den ich
verloren hatte -- oder sollte es nur der Racker Galgenhumor sein, den
ich beim Kragen erwischt?

Ich schreibe hier in einer Umgebung, die ein ganz nettes Modell für
eine Trödelbude wäre. An den Nägeln in der Wand hängen meine Kleider
und Jacken in malerischer Unordnung; auf dem Bette sind Schleifen, Hüte
und Tücher ausgebreitet; auf allen Stühlen sonnt sich Wäsche. Von den
Fensterbrettern aus gucken fünf Paar Stiefel und Schuhe andachtsvoll
auf die Bananengruppe davor hinaus, und darüber flattern, auf einen
Bindfaden gereiht, meine sämtlichen Handschuhe im Zephyr des Mittags.

In diesem Zustande befinden meine Garderobe und ich uns alle drei
Tage einmal, nachdem ich gleich zu Anfang die Entdeckung gemacht, daß
andernfalls in diesem fruchtbaren Lande sich sogar Stiefel und Kleider
mit der üppigsten Vegetation bedecken. Diese mühelose Pflanzenzucht ist
ja im Uebrigen ganz hübsch, nur den Sachen nicht sehr bekömmlich, und
besonders verfolgt das Schicksal in dieser Hinsicht Stiefel, Handschuhe
und Seide; alle die schönen feinen Lederhandschuhe, die ich noch in
Antwerpen gekauft, sind fleckig geworden!

Doch ich will Dir meine Abenteuer von Anfang an erzählen:

Als ich am zweiten Weihnachtstage nach Saõ Francisco zurückkam und
erklärte, daß ich nicht länger bleiben könne, war man höchst unangenehm
überrascht, aber meine vierwöchentliche Krankheit und mein immer
noch elendes Aussehen hatten ihre Herzen doch insofern erweicht,
daß sie meiner Abreise kein Hindernis in den Weg legten. Wir sagten
einander Adieu, und fort war ich. Grete, solch ein Lebewohl habe ich
in meinem Leben noch nicht gesagt! Nichts that mir leid zu verlassen,
im Gegenteil, ich fühlte, daß mir keiner von ihnen schwer zu missen
sein würde, und war mir ebenso sehr bewußt, daß auch in den Herzen
der Kinder keinerlei Anhänglichkeit für mich vorhanden war, und daß
man einzig die ~gêne~ bedauerte, eine neue Gouvernante suchen zu
müssen; man wird eben nicht warm mit diesen Menschen hier! --

Am Sylvestertage reiste ich hierher, und zwar in drei Absätzen: erst
mit dem Dampfer über die Bai, dann mit der Eisenbahn bis an den Berg,
der Petropolis trägt, und dann mit einem Omnibus auf allerdings recht
gut chaussiertem Wege hinauf.[4] Ich erwischte einen ziemlich guten
Platz in einem der fünf Wagen und hatte auch die Beruhigung, zu sehen,
daß meinem Koffer ein ähnliches Glück widerfuhr.

Etwa auf der Hälfte des Weges wurde Station gemacht, und alles drängte
sich um eine dort stehende Bude, wo Kaffee, Gebäck und Früchte zu
haben waren. Ich war hungrig geworden und trank gierig meine Tasse
Kaffee hinunter und biß ebenso eifrig in ein Stück Biscuit-Kuchen,
das ich aufgegriffen. Es schmeckte etwas eigentümlich, und als ich
es beim zweiten Happen näher besah, fand ich, daß es von Ameisen
wimmelte, von denen ich also gewiß soeben eine erkleckliche Anzahl
mit verschluckt hatte. Brrr! nicht wahr? Ja, siehst Du, ich war aber
schon so verbrasilianert, daß ich nur gleichmütig den Rest der kleinen
Gäste von meinem Biscuit abstreifte und diesen dann behaglich zu einer
zweiten Tasse Kaffee verzehrte. Dies wird Deine Verachtung ebensosehr
herausfordern, wie es entschieden die Ver- und Bewunderung eines jungen
Franzosen erregte, der daraufhin eine lächelnde Bemerkung an mich
richtete, die ich dummer Weise munter beantwortete, denn seitdem ödete
mich dieser galante „Erbfeind“, der glücklicherweise in einem andern
Wagen saß, an jeder Haltestelle, und wenn ich alles das hätte essen
und trinken wollen, was er mir hinter einander anbot, so wäre ich wohl
schwerlich lebend nach Petropolis hinaufgekommen.

Hier ging ich erst in das deutsche Hotel und machte mich dann auf
nach der Behausung des Herrn Goldschmidt, Onkels Geschäftsfreund, der
hier ein schloßähnliches Haus mit herrlichem Park besitzt, das er in
der heißen Zeit mit seiner Familie bewohnt. Da ich sie bei meinem
Aufenthalt in Rio zuletzt noch getroffen hatte, so war dieser Besuch
nicht mein erster.

Ich wurde in den Saal geführt und gebeten, einen Augenblick zu
verziehen.

„Haben Sie keine Stelle?“ schrie es da plötzlich hinter mir, und Frau
Goldschmidt, eine äußerst lebhafte Brasilianerin, die rasch aber falsch
deutsch spricht, stand mit halb lachendem (sie lacht +immer+),
halb ängstlichem Gesichte vor mir.

Grete, die Angst dieser zwanzigfachen Millionärin, ich könne irgend
etwas von ihr wollen, war so unbeschreiblich komisch, daß mir wie mit
Zauberschlag der Humor zurückkam und ich laut herauslachte. Donna
Albertina sah mich starr an.

„Verzeihen Sie“, sagte ich nun auch etwas brutal, „aber es ist zu
komisch, daß das Ihre erste Frage war! Nein, ich habe keine Stelle,
aber ich werde eine finden, wenn es nötig sein wird.“

Dann kam der Gatte.

„Sehen Sie, mein Fräulein“, dozierte er, „ich war immer ein reicher
Mann, denn ich verbrauchte immer nur die Hälfte von dem, was ich
einnahm. Ich kam nach Rio mit fünfzig Mark und besitze heute mehrere
Millionen: Alles durch jene Praxis! Aber was ich sagen wollte -- gehen
Sie jetzt zu unserer Miß Dahlmann; wir haben nämlich unsere Gouvernante
nicht im Hause; es geniert mich, fremde Leute im Hause zu haben. Sie
ist eine Deutsch-Engländerin und wohnt bei einer einfachen deutschen
Familie im Dorfe; vielleicht kann sie Ihnen raten, wo sie am billigsten
unterkommen; Sie verbrauchen im Hotel zu viel Geld, das ist schon
falsch -- immer nach meinem Prinzip, mein Fräulein, immer nach meinem
Prinzip!“

Der kleine Mann amüsierte mich unaussprechlich mit seinem ~mezza
voce~ vorgebrachten Redeschwall und den fortwährend nach den
Westenärmeln schnappenden Daumen. Seinen, wenn auch ungeforderten Rat
betreffs meines Unterkommens beschloß ich jedoch insofern wenigstens zu
befolgen, als ich diese Miß Dahlmann aufsuchen wollte, in der ich doch
wenigstens eine Collegin fand.

Donna Albertina forderte mich auf, an dem Frühstück teilzunehmen, das
eben serviert wurde. „Sehen Sie, mein Fräulein“, begann der Gatte
wieder (er scheint diesen Anfang sehr zu lieben), -- „ich lade nur
zum Frühstück Leute ein, zu Mittag aber niemals. Wir essen um sechs;
nachdem kommt gleich die Abendpost, die ich in Ruhe erledigen muß,
und da ist es mir störend, wenn jemand Fremdes da ist. Verstehen Sie
wohl? Aber zum Frühstück, da mag kommen, wer da will, da stört es mich
weniger“ -- schwupp fuhren seine beiden Daumen in die Westenärmel.

Es wurde Zeit, daß ich ging, Grete, sonst hätte ich den Leuten wieder
ins Gesicht gelacht, denn die Heiterkeit steckte mir schon oben in
der Kehle. Ich sagte, daß ich bereits gefrühstückt habe, ehe ich
hergekommen, daß ich aber zu Miß Dahlmann gehen wolle, wenn sie mir den
Weg beschreiben möchten. Daß sie mich so schnell los würden, hatten
sie wohl kaum gehofft; in ihrer Freude darüber wurden sie plötzlich
sehr liebenswürdig und bestanden darauf, mir einen Neger zur Führung
mitzugeben, was ich denn auch annahm. Es geht doch nichts über gute
Empfehlungen an Landsleute im fremden Lande -- da kann man doch absolut
nicht verderben!!

Miß Dahlmann ist einige Jahre älter als ich und etwas steif und
„englisch“, war aber doch gutmütig genug, mir behülflich zu sein, daß
ich bei ihrer eigenen Wirtin unterkam, wo wir auch essen. Sie ist meine
einzige Gesellschafterin hier und, wenn auch nicht gerade herzlich, so
doch auch nicht unliebenswürdig. Sie sieht das Leben im Ganzen weit
kühler an als ich, und so verstehe ich es, daß sie bei Goldschmidts
aushält. Ich habe mir schon manchen nützlichen, entweder beabsichtigten
oder unwillkürlichen Wink von ihr ~ad notam~ genommen und denke
ein ganz Teil „landesgewandter“ von hier fortzugehen, als ich kam.

Petropolis +selbst+ ist meiner Ansicht nach ein elendes Nest, und
das Hauptamüsement der Fremden besteht darin, jeden Nachmittag nach der
Haltestelle der Omnibusse hinzugehen und die heraufkommenden Fremden
anzugaffen. Das Palais des Kaisers ist ein langes, weitläufiges,
aber schrecklich langweiliges Gebäude, an dem nichts zu sehen ist,
wie viele Fenster. Ich bringe die Ansicht davon auf einem gläsernen
Briefbeschwerer eingraviert mit, sowie auch ein paar kleine Vasen,
auf denen ~Lembrança~ (Erinnerung) ~de Petropolis~ steht;
diese Sachen sind aber sehr wenig interessant, da sie alle aus Europa
kommen und hier nur graviert werden. Weit besser gefallen mir die
feinen Drechsler- und Schnitzarbeiten eines Deutschen, der hier ein
allerliebstes Häuschen hat und ein höchst gemütlicher alter Herr ist
mit einer ebenso gemütlichen und sehr zahlreichen Familie. Dahin gehe
ich manchmal, um ein Stündchen zu verplaudern, und lasse mir über
die Anfänge von Petropolis erzählen; auch habe ich dort einen ganz
prächtigen Tabaksbehälter gekauft, der aus einer Brotfrucht gefertigt
und oben von einem geschnitzten Indianer gekrönt ist.

Die übrigen hier ansässigen Deutschen sind fast alle ganz ungebildete
Bauern. Sie haben sich ihre deutsche Sprache und einige deutsche
Untugenden bewahrt, aber im Ganzen sind sie doch schon sehr von den
Landessitten angestreift. Petropolis ist auch schon lange keine
rein deutsche Colonie mehr, wie es ursprünglich war. Es wohnen hier
Colonisten aus aller Herren Länder, und man hört alle Sprachen, unter
welchen mir ein Kauderwelsch von Neger-Portugiesisch und Plattdeutsch
am besten gefällt: „Kiek mal, ob dat noch schuwet“ (regnet) -- „Esperen
(warten) Se mal en beten“ -- „Ich kann ainda (noch) nicht“, und
dergleichen hört man viel.

Die +Lage+ des Ortes ist herrlich, das muß man sagen! Hoch
in den Bergen, zwischen unabsehbaren Waldungen gelegen, bietet
derselbe prachtvolle Spaziergänge auf guten Waldwegen, die sonst in
Brasilien etwas ungemein Seltenes sind, da das erste Eindringen in die
Wälder schwer ist und alles gleich wieder zuwächst mit Gestrüpp und
Schlingpflanzen.

Ich bleibe hier wahrscheinlich noch diesen Monat und will dann doch
einmal, um die Stadt kennen zu lernen, mein Heil in Rio versuchen; ich
habe jetzt wieder bessere Nerven und mehr Courage! Tausend Grüße von

    Deiner alten +Ulla+.

Neulich begegneten Miß Dahlmann und ich der Kaiserin, sie war zu Fuß
mit einer Hofdame; und am Sonntag sahen wir den Kaiser, die Prinzessin
und ihren Gemahl, den Grafen von Eu, sowie die drei kleinen Prinzen
alle in +einem+ Wagen ausfahren.


  [4] Jetzt führt eine Bahn bis ganz hinauf. D. V.



[Illustration]



    Rio de Janeiro, den 8. Februar 1882.

    +Mein Herzens-Gretchen!+

Da wäre ich denn wieder in der bunten, südlichen Stadt und mitten
in ihrem Lärm! Gretel -- schön ist dieses Rio, das muß man sagen,
wunderbar schön und phantastisch, zumal von der Bai aus, wie ich es bei
meiner Ankunft damals und jetzt wieder bei der Rückkehr von Petropolis
erblickte.

Wie ein Feenmärchen entfaltet sichs da vor unsern unverwöhnten
norddeutschen Augen! Terrassenförmig wird von Brasiliens Küstenbergen
die Stadt in die Bucht hinausgehalten, bunt und prächtig, ein
einziges Licht- und Farbenmeer, nur unterbrochen, oder besser, noch
vermannichfaltigt durch die schlanken Palmen und die großblätterigen
Bananen, die überall ihre Plätze gefunden. Nichts von unserm eintönigen
roten Gemäuer oder der uniformen grauen Tünche -- alles weiß oder
bunt und in Brasiliens sattem Sonnenlicht schwimmend, sodaß selbst
die kleinen Forts, die auf Inselchen vor dem Binnenhafen liegen,
in ihrem Verstecke von Palmengruppen und Farben nicht wie grimme
Verteidigungswerke dreinschauen, sondern wie reizende kleine Idyllen,
die man für Wirklichkeit zu halten sich zwingen muß. Hier liegt auch
die „Blumeninsel“, das erste Asyl für Auswanderer, wo es den armen
Menschen zwar durchaus nicht beneidenswert ergehen soll, die aber in
ihrem äußeren Anblick an die Idylle Dranmors erinnert, die sich in
seinem Requiem findet:

    „Ich weiß ein schönes Eiland, wie verloren
    Im Stillen Ocean, ein waldbedecktes,
    In milden Sonnenstralen hingestrecktes,
    Wie ein Asyl, für Dichter auserkoren.
    Ein Eden, von der Trope Glut durchhaucht,
    Ein Eiland, wie ein Strauch von wilden Rosen
    Für die Betrübten, für die Heimatlosen
    Aus träumerischen Fluten aufgetaucht.“

Und drinnen in der Stadt erscheint’s auf den ersten Blick wie draußen:
phantastisch, südlich, fremdartig und wunderbar reizvoll -- nur eines
gesellt sich hier noch außer dem betäubenden Lärm hinzu, was man
draußen gern vermißte: der Schmutz und die Unordnung! Die Straßen
sind eng und schlecht gepflastert -- ich bin +ein+ Mal in einer
Droschke darüber gefahren und +nie+ wieder -- die Trottoirs,
besonders in der Geschäftsgegend, ebenso unsauber wie der Damm. Die
Häuser sehen sich zwar recht lustig an mit ihrem Mantel von drei, vier
und mehr Farben, aber es ist meistens nichts rein und vieles windschief
daran vom Dach bis zur Schwelle. Alles erscheint uns strafferzogenen
Norddeutschen nachlässig und die Menschen so -- ja, ich weiß nicht
+wie+ -- ich glaube: +undiscipliniert+ wäre das Wort.

Hier steht eine Gruppe rauchender, spuckender Neger, dort hocken
Negerinnen in den Thüren der Magazine und lesen Kaffee aus. Vielfach
wird auch ein Teil des Trottoirs eingenommen von Negern, Negerinnen
oder Mulattinnen mit ihren Tischen und Körben, die Orangen, Bananen,
Kokosnüsse, Feuerwerk und allerlei sonstige Nichtigkeiten feilbieten.
Sie würden, schon der Fremdartigkeit des ersten Eindrucks wegen,
vielleicht den europäischen Käufer anlocken, allein ein Blick auf
die Umgebung ihres Standes, wo Apfelsinenschalen, Streichhölzer,
Papierfetzen, Cigarrenstummel etc. sich mit allerlei sonstigem
~rubbish~ um den Vorrang streiten, und worin die Schleppe (!) des
hellen Mousselinkleides der Verkäuferin umherfegt, verscheucht ihn
wieder. In sehr vielen Kaufläden des eigentlichen Geschäftsviertels,
ja sogar in einzelnen der eleganteren Stadtgegend, sah ich auf dem
Fußboden Stroh, Packpapier, Bindfaden, zerbrochenes Gerät etc.
umherliegen; es schien aber Niemand etwas Ungewöhnliches darin zu
finden. Der Brasilianer bringt dieser Art von Unordnung eine gewisse
kindliche Harmlosigkeit entgegen, die fast rührend ist, und ich glaube,
Grete, wir Europäer gewöhnen uns mit der Zeit wenn auch nicht an den
Schmutz, so doch daran, ihn von den Anderen unbeachtet zu sehen.

An Läden habe ich nicht viel Schönes gesehen, und vor Allem nichts
für dies Land Charakteristisches, ausgenommen ein Geschäft mit
wunderhübschen Sachen, gefertigt aus den ungefärbten Federn der
einheimischen farbenprächtigen Vögel; die vorhandenen Ballgarnituren
waren ganz entzückend! Was Du aber sonst kaufst, ist fast ohne Ausnahme
europäische Ware, und es dürfte außer den Rohprodukten des Landes kaum
einen Gegenstand geben in den Geschäften, der nicht den atlantischen
Ocean gesehen. Kleiderstoffe, Stiefel, Wäsche, Wollwaaren, Möbel,
Beleuchtungsgegenstände, Kücheneinrichtung, Bücher, ja bis zum Papier
und zur Stecknadel kommt alles aus Europa. Selbst die Kattunstoffe
kommen dem Lande der Baumwolle aus Deutschland und Frankreich, wohin
sie das Rohmaterial liefern, das sie selbst nur sehr mangelhaft in
wenigen unbedeutenden Fabriken zu verarbeiten verstehen; und wenn sie
hier weißen Hutzucker essen wollen, so läßt ihn sich das Land des
Zuckerrohrs aus dem Lande der Runkelrübe kommen. Manche Dinge sind
hier wunderbar! -- In der rua d’ Ouvidor, so einem Mittelding zwischen
feiner Geschäfts- und Bummelstraße, giebt es einige große Magazine mit
eleganten Damentoiletten. Die kommen alle direkt aus Paris hierher und
sind horrend teuer, doch werden sie von den reichen Brasilianerinnen
mit Kußhand zu den höchsten Preisen gekauft für die „Saison“, d. h.
für die Vorstellungen einer italienischen Operngesellschaft, zu denen
die Damen in den Logen in ausgeschnittener Balltoilette erscheinen;
Privatgesellschaften giebt es wenige außerhalb der Grenzen des
diplomatischen Korps, und der Kaiser repräsentiert nicht, was wohl
zum Teil seiner bekannten persönlichen Einfachheit entspricht, teils
durch die ungemein niedrige Civilliste der Herrscher von Brasilien
bedingt wird: nur bei der Prinzessin finden Theeabende statt. Der große
kaiserliche Palast in Saõ Christovaõ, einer Vorstadt von Rio, ist ein
mächtiges, ödes Gebäude, das zwar einige prachtvoll eingerichtete
Zimmer enthalten soll, jedenfalls aber eine sehr häßliche Lage hat.
Wenn ich der Kaiser von Brasilien wäre, baute ich mir eine graziöse,
luftige Villa in Botafogo, der jenseitigen, entzückenden Vorstadt
von Rio, und überließe Saõ Christovaõ seiner Nachbarschaft von
Viehschlächtereien und ihren Hunderttausenden von Krähen!

Botafogo ist reizend; wie ein Kranz liegen die Villen mit ihren Gärten
um die Bai gleichen Namens herum, hinten überragt von dem mächtigen
Corcovado, vor sich in der Bai den merkwürdigen Paõ de Assucar, den
Zuckerhutberg. Die Blumenpracht in dieser Vorstadt, wo nur vornehme,
reiche Leute wohnen, ist bezaubernd! Die üppigsten Ranken von saftigem
Grün überwuchern die Mauern, darinnen große, stralende, dunkelrote,
lila, gelbe oder weiße Blumen. Mrs. Brassey, in ihrem netten Buche
„~A voyage in the Sunbeam~“ hat ganz meine Empfindungen
ausgesprochen, wenn sie sagt, in Brasilien seien ihr alle Blumenfarben
weit satter vorgekommen, als irgendwo in der Welt, ja, selbst das Weiß
schiene ihr dort intensiver zu sein. Diesen Eindruck hat man wirklich,
und soweit die Natur mitspricht, ist hier alles bezaubernd!

Der Larangeirasberg, der Santa Theresaberg, kurz, alle Hügel der Stadt
sind mit Villen besetzt und, besonders der Santa Theresaberg, vielfach
von fremden Kaufleuten bewohnt, die ihre Geschäftshäuser unten in der
Stadt haben.

Da ich mich bisher vergeblich um eine Thätigkeit hier in Rio bemüht
habe, so habe ich mir die Stadt schon so ziemlich angesehen, aber
es giebt nicht viel darin zu betrachten. Die Kirchen sind eine wie
die andere, und keine ist durch besondere Kunstschätze interessant;
das Museum (von dessen Existenz Viele hier gar nichts wissen und
das die Wenigsten ansehen) ist, abgesehen von einer prächtigen
Sammlung ausgestopfter, z. T. sehr seltener Vögel recht mäßig. Die
Kunstakademie, die eine Gemälde- und Statuensammlung enthält, ist,
was letztere betrifft, noch sehr in den Kinderschuhen, doch enthält
sie einige sehr interessante Gemälde einheimischer Künstler, die mir
ausnehmend gefielen an Farbengebung und lebendiger Anordnung. Ich
lege die Photographie eines derselben bei, welches „die erste Messe in
Brasilien“ darstellt, und bedauere nur, daß ich die einiger anderen
nicht bekam, zumal die eines Kolossal-Schlachtenbildes von Meirelles.
Im Ganzen ist es aber auffallend, wie wenig Sinn die Brasilianer zeigen
für die bildende Kunst; zu verwundern ist es freilich nicht, denn
die deklamatorischen Künste +müssen+ sie ihrer Natur nach mehr
anziehen. Der Brasilianer ist der geborene Redner, er deklamiert, sowie
er nur einen längeren Satz spricht, und alle lieben sie schwärmerisch
die Musik, und zwar die Italiener, dann französische Operetten und --
Meyerbeer.

Noch schwächer als mit der Malerei sieht es mit der Bildhauerei und der
Architektur aus. Die Stadt hat absolut keinen architektonischen Schmuck
an Gebäuden, Brücken oder Thoren aufzuweisen, Prachtbauten fehlen
gänzlich, wenn man nicht die immerhin ziemlich einfache fiskalische
Druckerei dahin rechnen will, und an Denkmälern habe ich nur zwei
entdecken können, wovon eins obendrein einen Heiligen darstellt.
Diese Armut an Denkmälern hat wohl z. T. darin seinen Grund, daß das
Land seit seiner Selbständigkeit nur eine äußerst kurze Geschichte,
also wenig historische Erinnerungen hat. Das einzige Denkmal, welches
außer jenem Heiligen (ich glaube gar, es ist Saõ Francisco) vorhanden
ist, verherrlicht denn auch den bedeutungsvollsten Augenblick von
Brasiliens Geschichte: es stellt nämlich den ersten Kaiser, den Vater
des jetzigen, Dom Pedro ~I.~ zu Pferde dar, wie er mit der
Verfassungsurkunde in der Hand dahergesprengt kommt. Das Standbild ist
von einem französischen Künstler, ist prächtig frisch aufgefaßt und
mit jener Dosis von Pathos versehen, die ihm bei den Brasilianern den
Erfolg sichert. Der Sockel trägt in Reliefs allegorische Darstellungen
der vier Hauptströme des Landes, des Amazonas, Saõ Francisco, Orinoco
und Madeira.

Natürlich war ich auch in den Gärten von Rio, dem sehr graziösen und
so ziemlich in der Mitte der Stadt gelegenen ~Jardim publico~, wo
neulich eine deutsche Kapelle Mendelssohn’sche Duette spielte, ferner
in einem neuen, großartig angelegten Garten am Ende der Stadt und
~last not least~ in dem berühmten botanischen Garten mit seiner
noch berühmteren Palmenallee. Ja, Gretel, interessant und sehenswert
für den Fremden ist diese Allee jedenfalls, aber so sehr schön finde
ich die langen kahlen Stämme gerade nicht, und außerdem ist diese
berühmte Allee unausstehlich schattenlos. Dies Urteil ist aber wieder
etwas, das ich Dir nur unter dem Siegel der tiefsten Verschwiegenheit
überlassen kann, sonst steinigen mich die traditionellen Bewunderer
dieser Allee hüben und drüben, sei’s auch nur mit ~biscoitos~ Nr.
3! Die Allee ist merkwürdig und darum auch schön -- basta! Ich will
versuchen, mir diese Meinung auch noch anzugewöhnen und fortan die
+Palme+ als den +Alleebaum+ ~par excellence~ anzusehen.
Ob es mir gelingen wird?

    Deine rebellische +Ulla+.



[Illustration]



    Rio de Janeiro, den 12. Februar 1882.

    +Liebste Grete!+

Ich muß Dir schon wieder schreiben, denn denke Dir, seit vorgestern
bin ich hier in einem Collegio engagiert! Ein Collegio ist eine
höhere Töchterschule mit Pensionat, und ich habe da also durch vier
Klassen die Töchter dieses Landes in die Geheimnisse der deutschen
sowie der englischen Sprache einzuführen und außerdem eine Unzahl von
Klavierstunden zu erteilen. Ach Grete, die beiden Sprachen, besonders
aber das Deutsche, werden meinen Schülerinnen wohl ewig ein Buch
mit sieben Siegeln bleiben; es ist merkwürdig, wie wenig sie bei
mir lernen! Ich habe noch nicht herausfinden können, ob es an mir
oder an ihnen liegt, vielleicht macht es auch der Racenunterschied
zwischen Germanen- und Romanentum, denn Französisch lernen sie halb im
Schlaf, und die Französinnen werden auch viel besser mit ihren Klassen
fertig. Ich war schon wieder ein paar Mal in Versuchung, den Bormann
hervorzuholen, ich habe ihn aber doch schließlich stecken lassen, weil
ich weiß, daß ich zu viele Vorwürfe für mich darin finden würde.

Da zu wenig Schulräume vorhanden sind, so gebe ich meine Stunden
gewöhnlich mit einer andern Lehrerin zugleich in demselben Zimmer;
wärend also am einen Ende des Saales z. B. portugiesische Gedichte
deklamiert werden, versuche ich meinen unaufmerksamen „Donas“ die
Verwicklungen der deutschen Deklinationen klarzulegen. Die drei
Artikel mit ihren vier Fällen sind ihnen aber in ihren zwölfteiligen
Dunkelheiten (die Mehrzahl garnicht gerechnet) so unsympatisch, daß ich
ordentlich fühle, wie unser unschuldiges +der+, +die+, +das+ von der
ganzen gelbblaßen Gesellschaft vor mir wie eine hinterlistige Erfindung
angesehen wird, die eigens aus Tücke für Schulkinder gemacht wurde.
Neulich, als ich einer kleinen schwarzäugigen Krabbe verbesserte: „Der
Schirm steht hinter +der+ Thür“ -- warf sie mit sofort erscheinenden
Wutthränen ihr Buch auf den Tisch und schrie in hellem Zorn: „Was!
Sonst war es immer +die+ Thür, und jetzt ist es mit einmal +der+ Thür?!“

Grete, ich war ganz konsterniert und wußte im ersten Augenblick
wirklich nichts zu machen. Aber derartige Scenen kommen hier oft
vor. Die besseren Familien geben ihre Töchter überhaupt nicht in
Collegios, und daher ist diese Gesellschaft gewöhnlich die wenigst gut
erzogene und wildeste, die man sehen kann; sie toben und schreien oft,
bis sie ganz kirschbraun im Gesicht sind. Unsere jüngere Französin
~Mademoiselle Lerôt~ sperrt sie dann immer in einen leeren Schrank, bis
sie still sind. Die Vorsteherin sehen wir selten, eigentlich nur bei
den Mahlzeiten; sie ist die Einzige, die Autorität hat bei der wilden
Bande, vielleicht weil sie sich so wenig zeigt. Sie sitzt immer in
guter Toilette in ihrem Wohnzimmer, empfängt die Eltern ihrer Zöglinge
und giebt nur eine Lesestunde in jeder Klasse. Sie liebt es nicht, wenn
wir uns in Schulangelegenheiten an sie wenden, und so wird mir auch
nichts anderes übrig bleiben, als mir selbst zu helfen wie Mlle. Lerôt.

Von einem Lehrplan oder auch nur einem Stundenplan habe ich bis jetzt
noch nichts entdecken können, und alles erscheint mir hier vorläufig
wie ein wüstes Chaos. Die Anzahl meiner Klavierschülerinnen habe ich
bis jetzt beim besten Willen noch nicht feststellen können; wenn ich
mich des Morgens um halb sieben ans Klavier setze, so erscheint bis
um zehn Uhr alle halbe Stunde eine Andre mit ihren Noten, als ob sie
von einem mechanischen Uhrwerk ausgespieen würden; ich notiere sie mir
nun alle nach der Reihe und werde wohl so mit Mühe und List endlich zu
einem gewissen Stundenplan durchdringen.

Mich haben sie vorläufig noch ganz gern, und zwar, wie mir Mlle.
Lerôt sagte, weil -- ich gute Toilette mache (womit man doch manchmal
+Kinderherzen+ gewinnt!) und „nicht wie die andern Deutschen
aussehe.“ Letzteres ist hier ganz entschieden als ein Lob zu fassen,
es empörte mich aber nichts destoweniger; allein wie sollte von
Kindern Rücksicht zu erwarten sein, wenn sich Erwachsene ähnlicher
Taktlosigkeiten nicht schämen. Heute Morgen ging Madame mit einer
brasilianischen Dame und Zöglingsmutter durch das Musikzimmer, und
die Brasilianerin sagte ganz laut auf Portugiesisch: „Ist sie eine
Deutsche? Ah, sie hat garnicht den deutschen Typ und ist ja auch
sehr gut angezogen!“ Das Absprechen des „deutschen Typ“ war mir, der
starren Germanin, wie Du wohl denken kannst, äußerst schmerzlich und
zugleich bei meinem blonden Haar verwunderlich -- was aber mögen denn
meine deutschen Vorgängerinnen und andre Kolleginnen hier für Gewänder
getragen haben, wenn die Toilette der deutschen Damen so sehr das
hohe Mißfallen der Brasilianerinnen erregt?! Übrigens findet man diese
Geringschätzung deutscher Konfektion hier überall. Das Drastischste
in dieser Beziehung begegnete mir neulich in einem Friseurladen, wo
ich eintrat, um mir den kurzgeschorenen Kopf wieder einmal ordentlich
durchbrennen zu lassen. Ich wußte nicht, daß das an sich schon etwas
Auffallendes hier ist, da die Brasilianerin nie allein auf der Straße
geht und sich keinenfalls außer dem Hause frisieren lassen würde. Der
Jüngling mit der Tollscheere hielt mich zuerst für eine Französin, da
ich mein Anliegen auf französisch vorgebracht; dann fragte er, ob ich
Russin sei, und als er mich schließlich, halb zu meinem Ergötzen, halb
zu meiner Entrüstung durch alle Nationen durchgefragt hatte, meinte
er zuletzt: „~Mais enfin -- vous n’êtes pas allemande?~“ „~Et
pourquoi non?~“ sagte ich, innerlich wütend. „~Ah bah~“,
machte er verächtlich, „~ça se connaît; les allemandes sont toujours
mal-vêtues et n’ont pas de chic.~“

„„~Les allemandes~“ bedanken sich“, dachte ich und ging von
dannen, diesem Laden ewige Feindschaft schwörend.

Aber da läutet es zum Thee. O dieser Collegio-Thee! Augenblicklich
mache ich mir die große Hitze zu Nutze, um ihn häufig auszuschlagen und
mir anstatt dessen die ~cajuada~, eine Limonade aus der Cajú-Frucht, die
hier viel getrunken wird und sehr kühlend ist, zu bereiten. Das zweite
Läuten -- ich eile!

    Deine +Ulla+.



[Illustration]



    Rio de Janeiro, den 21. Februar 1882.

O Gretel, dieses Collegio -- es wächst mir über den Kopf! Ich glaube,
ich bin wirklich eine ganz miserable Lehrerin! Sie lernen nichts bei
mir, sie lernen garnichts. Ob es hier wohl Schulinspektoren giebt? Dann
blamiere ich mich entsetzlich. Ich finde mich so schlecht in dieses
oberflächliche Tünchen hinein; beginne ich aber zu vergründlichen,
dann wird es erst recht wüst -- ich bin ganz verzweifelt! Und nun gar
die Disziplin! Schon das Wort allein macht mich schamrot. Denke Dir
Folgendes. Als ich neulich in die Klasse trat, fand ich dieselbe sehr
unruhig und lärmend, und in meiner Ratlosigkeit that ich nochmals
einen verzweifelten Griff auf Bormann zurück. Sobald ich nämlich so
viel Ruhe schaffen konnte, daß ich gehört wurde, kommandierte ich
„Aufstehen -- setzen!“ fünf Mal hinter einander, was bei uns ja auch
wirklich nie verfehlt, eine Klasse zu beschämen. Und hier -- ~o
sancta simplicitas~! Nachdem ich ihnen erst überhaupt nur schwer
begreiflich gemacht hatte, was ich von ihnen verlangte, waren die
Kinder derartig weit entfernt, das Ganze für eine Strafe anzusehen,
daß sie glaubten, es handle sich um einen guten Spaß, hopsten zuletzt
immer noch von selbst wie die Perpendikel auf und nieder und amüsierten
sich königlich. Grete, seitdem ist Bormann für mich +hier in
Brasilien+ endgültig abgethan! Ich sehe wohl ein -- wenn hier eine
Pädagogik eingeführt werden soll, dann muß sie brasilianisch sein und
nicht deutsch -- brasilianisch in Bezug auf die ganze Auffassung und
alle Voraussetzungen, sie muß dem Charakter des Volkes, den häuslichen
Lebensverhältnissen dieser Leute angepaßt sein. Brasilianische Kinder
sollten überhaupt nicht von Deutschen erzogen werden, es ist völlig
verlorene Mühe, denn das fremde Reis, das der Jugend da aufgepfropft
wird, gedeiht doch nicht! Mir geht es hier mit den Kindern, wie ich
Dir von Saõ Francisco in Bezug auf die Pflanzen schrieb: wir verstehen
einander nicht, wir reden äußerlich und auch seelisch eine fremde
Sprache mit einander, und besonders letzteres macht mir die Existenz
hier zu einer furchtbar unbehaglichen.

Allerdings läßt auch meine äußere „Behaglichkeit“ einiges zu wünschen
übrig. Mein „Zimmer“ ist ein fensterloser Alkoven, der sich von einem
Zöglingssaal abzweigt und nur durch die Thür zu diesem Raum Luft und
Licht erhält! Seine ganze Ausstattung besteht aus dem Bett (es ist eine
+wohlfeile+ Ausgabe von dem in Saõ Francisco), einem Waschtisch
und einem Stuhl. Ich besitze weder Schrank noch Kommode; mein Koffer
dient als Leinzeugbehälter, und für meine besseren Kleider hoffe ich
immer noch Mlle. Lerôt den Strafschrank abzuschmeicheln, wofür mir
die Kinder jedenfalls sehr dankbar sein werden. Schreiben thue ich
auch in dem Zimmer der Französin, mit der ich trotz der Erbfeindschaft
hier im Hause noch am meisten sympathisiere. Ihr Zimmer ist zwar auch
nicht viel besser als meines, aber sie hat einen Tisch darin und ein
Fensterchen oben an der Decke, während ich in meinem dunkeln Loch,
deren es in jedem brasilianischen Hause giebt, manchmal fast ersticke.
Dazu kommt, daß wir in diesem Hause schrecklich unter den Baratten
leiden, einem widerlichen Käfer, unserer Schabe ähnlich, doch von
Maikäfergröße und pestartigem Geruch! Die Baratte ist eine allgemeine
Landplage hier, aber so, zu Hunderten und Tausenden wie in diesem
Hause, habe ich sie noch nicht auftreten sehen. Abends wenn ich mit
den Kindern in ihren Schlafsaal trete, wimmelt es auf dem Fußboden von
den eklen Tieren, und sofort wird mit Stiefeln und allen erreichbaren
harten Gegenständen Jagd darauf gemacht. Hunderte rennen uns davon,
aber hunderte von Leichen bleiben auch auf dem Schlachtfeld und werden
dann erst ausgekehrt. Glaube nicht Grete, daß dies übertrieben ist, es
soll in alten Häusern oft so schlimm sein, und gewiß könnte mir mancher
andre Brasilienreisende Ähnliches bestätigen. Von den Mosquitos, den
Ameisen, den Eidechsen und anderem Ungeziefer spreche ich garnicht,
weil es gegen diese Baratten nichts ist, die außerdem noch alles
anfressen und ruinieren, wo sie dazu kommen können; allein schon in
diesen wenigen Nächten haben sie mir meinen Göthe ganz aus dem Einband
gefressen!

Überhaupt ist mein Enthusiasmus für Rio schon ziemlich abgekühlt. Das
Leben hier im Collegio ist nicht sehr reizvoll, und das Wandern in
den Straßen wird zur Pein durch -- die übergroße „Höflichkeit“ der
Herrenwelt. Sie sind es von ihren Landsmänninnen nicht gewohnt, Damen
allein auf der Straße zu sehen, und wenn sie auch wissen, daß wir
Fremden diese Freiheit hier für uns in Anspruch nehmen +müssen+,
so scheinen sie sich doch berechtigt zu glauben, europäische Damen,
wenn sie allein sind, mit Anreden zu belästigen. „~Comment ça
va-t-il, Mademoiselle?~“, „~Mais, ou allez-vous si vite, mon
enfant?~“, solche und ähnliche Redensarten habe ich mir nun schon
die Überwindung angeignet, ohne Thränen einfach zu ignorieren. Was
sagst Du aber dazu, daß sich neulich, als ich eben einen Handschuhladen
verlassen wollte, ein langer, dürrer Brasilianer grade vor mich
hinstellte und mit der unverschämtesten Miene unter seinem Kneifer
hervorgriente: „~Pas décidemment jolie, mais gentille, très
gentille!~“ Ich stürzte aufgebracht von dannen, was ihn höchlich zu
amüsieren schien.

Ach, Grete, hätte ich wenigstens eine gleichgestimmte Seele hier!
Mademoiselle Lerôt, Miß Dahlmann, ja, sie sind ja ganz freundlich und
liebenswürdig -- aber so eine rechte Freundin möchte ich haben -- so
eine Grete! Ach, Herz, wenn Du hier wärest -- -- aber nein, ich will
es Dir doch nicht wünschen! Bleibe Du drüben, und (ganz heimlich ins
Ohr flüstern) ich komme auch wieder -- sobald das Reisegeld reicht.
Vorläufig ist große Ebbe im Schatz, und mein Collegio-Gehalt wird keine
Flut hineinleiten; also noch heißt’s Stillsitzen, denn allein das
Dampfer-Billet bis Hamburg kostet 30 £!

Den 22.

Heute war ich bei dem Pastor der hiesigen deutschen Gemeinde und auch
bei dem deutschen Konsul; beide waren sehr liebenswürdig, und der
Konsul, der ein feiner Mann ist und die Brasilianer auch nach Gebühr
„würdigt“, empfiehlt mir, lieber nach der Provinz Saõ Paulo zu gehen,
wenn ich dort irgend etwas bekommen könne; dies sei keine Stellung
für mich, und in Saõ Paulo seien auch mehr Kolleginnen. Ich habe mir
das gesagt sein lassen und studiere nun, wo ich es erhaschen kann,
eifrig das ~Jornal de Commercio~, wo unter Annoncen entlaufene Neger
betreffend und zwischen Sklavenverkaufsanzeigen auch „~professoras~“
mit zahllosen Fähigkeiten und Vollkommenheiten gesucht werden. Übrigens
habe ich hier im Collegio gelernt, daß es „~professora~“ nur heißt,
so lange man beliebt ist, sonst wird man auf das mindere „~mestra~“
herabgesetzt. Ein wahres Glück ist es, daß man hier keine Kontrakte
macht oder Kündigungsfristen innehält, denn wenn man dabei freilich
auch stets gewärtig sein muß, an irgend einem beliebigen Tage an die
Luft gesetzt zu werden, so kann man doch auch selber sein Ränzel
schnüren, wenn’s einem zu bunt wird. Adieu, mein Schatz; empfiehl mich
dem Wohlwollen aller neun Musen, daß sie mich nach Saõ Paulo gelangen
lassen!

    Deine +Ulla+.



[Illustration]



    Rio de Janeiro, den 17. Februar 1882.

Grete, bist Du schon einmal auf dem Wege zum Zahnarzt gewesen, um Dir
einen festen Backenzahn ausreißen zu lassen? Vielleicht. Aber ist es
Dir dann auch schon passiert, daß man Dir plötzlich an die sorgfältig
behütete Wange ein hartes Etwas geschleudert hat, das daselbst
zerplatzte und eine kleine Flut patchouliduftenden Wassers in Deinen
Hals ergoß? Nein? Dann weißt Du auch nicht, wie viel Galle Du hast.
Widersprich mir nicht -- Du weißt es nicht! Ich meinesteils wenigstens
erhielt durch die eben erzählte Prozedur einen so unvermuteten
Aufschluß über die Größe meines Quantums Cholerik, daß ich in meiner
guten Meinung von mir ganz beträchtlich gedemütigt wurde.

Es war in der ~rua dos Ourives~, wo ich meine Entdeckung machte.
Ihre erste Wirkung war, wie gesagt, mir mit +einem+ Schlage die
schönen Illusionen zu rauben, die ich in Bezug auf die Milde meiner
Gemütsart gehegt -- allein „paff“ betäubte ein zweites hartes Etwas mit
nachfolgender Wasserflut, das sich diesmal die entgegengesetzte Seite
aussuchte, meine Selbstanklagen, und es wallte wieder zorniger in mir
auf... „piff“ sauste es unmittelbar darauf an meiner Nase vorbei und
zerplatzte an der Wand neben mir -- ich wollte mich bücken, um die
Beschaffenheit dieser entsetzlichen kleinen Geschosse zu konstatieren
-- „puff“ zerplatzte es dumpf in meinem Nacken und lief mir den Rücken
hinab.

Außer mir vor Zorn stand ich still und blickte um mich, meine
Zahnschmerzen vollständig vergessend. Rings um mich her sah ich
Gesichter von einer so impertinenten Heiterkeit, wie Gesichter sie nur
anzunehmen pflegen, wenn sie sich in einem ohnmächtig-zornsprühendem
Antlitz reflektieren dürfen; elegante Herren, schmutzige
Mulattenjungen, Kommis, Straßenbummler, sogar die Damen auf den
Balkons, alles verwandelte sich mir in ebenso viele grinsende
Teufel, und alle zielten wie auf Verabredung auf mein unseliges,
zahnwehbehaftetes Ich mit jenen infamen kleinen harten und wässrigen
Geschossen. Mechanisch drückte ich mich an ein Haus, um wenigstens von
hinten gesichert zu sein... sssrrr floß es in wohlberechnetem Guß auf
meinen Hut (es war eine echte Feder darauf!) überschwemmte ihn und
suchte einen Ausweg in meinen Kragen.

Ich war vollständig betäubt. Was war dies? Was bedeutete es? Wachte ich
wirklich und befand ich mich in einer der besten Straßen Rios, oder war
dies alles ein wüster Traum?!

Da lehnt sich eine junge Brasilianerin lächelnd zu dem Fenster hinaus,
an dem ich wie angewurzelt stehe; ich wende mich an sie und will sie
anreden, da hebt sie die Hand -- ein kleines blankes Flakon glänzt
darin -- „huist“, „huist“ -- und meine beiden Augen waren momentan
dienstunfähig. Das war zu viel! Ich war außer mir. Eine ohnmächtige
Wut und zugleich eine unglaubliche Feigheit all diesen geheinmisvollen
Feinden gegenüber bemächtigte sich meiner, und als ob der Böse selber
mich verfolgte, legte ich den Rest meines Weges zurück.

Am ganzen Körper bebend vor Zorn und bei jeder Bewegung Tropfen
sprühend, sank ich, am Ziele angelangt, in Thränen ausbrechend auf ein
Sofa im Wartezimmer von Dr. Müller, der mich seit einer Woche unter
seiner zahnärztlichen Behandlung hatte.

„Aber liebes Fräulein, was fehlt Ihnen?“ rief er aus dem Nebenzimmer;
doch als er dann eintrat und mich so triefend dasitzen sah, verzog
sich auch sein Gesicht zu einer Spielart jenes bereits erwähnten
Heiterkeitsausdruckes, und ich sah, wie schwer es ihm wurde, nicht laut
heraus zu lachen.

„Ja, mein Gott“, rief ich außer mir vor Zorn, „was ist denn nur los,
ist denn hier in Rio alles toll geworden!“

Jetzt lachte der Doktor los, faßte mich bei der Hand, führte mich
an den Wandkalender und wies mit dem Finger auf eine Zeile des
Monats Februar -- „+Fastnacht+“ -- las ich da und sank, dumpf
aufseufzend, auf den nächsten Stuhl.

Der Doktor begann an mir herumzupflücken. „Was machen Sie denn?“ fragte
ich matt.

„Ich sammle Ihnen wenigstens einige Wachsstücke ab.“

„Wachsstücke?“ wiederholte ich ebenso matt, aber erstaunt.

„Nun ja, Sie haben, wie es scheint, eine gehörige Ladung von den
Dingern bekommen, Wachseier mit Wasser gefüllt, unter deren Zeichen Rio
nun bis zum Aschermittwoch fortwährend stehen wird.“

Bis zum Aschermittwoch, das waren damals noch eilf Tage! Mit stummem
Entsetzen überschlug ich das mögliche Quantum von Patchouliwasser
und Wachseier-Schalen, des aus Kübeln gegossenen Wassers garnicht zu
gedenken, das sich in diesen eilf Tagen noch den Weg in meine Garderobe
suchen konnte, und ingrimmig zerdrückte ich das Wachs einer halben
Eierschale, die ich eben aus meiner triefenden linken Manschette zog.

„Da ist wohl der Zahn noch für heute gerettet?“ lächelte der Doktor.

„Nein, im Gegenteil“, rief ich mit einer Erneuerung meiner vorherigen
„Energie“ -- „an etwas muß ich meinen Zorn auslassen, und sei es an
mir selber; reißen Sie -- reißen Sie --“ Und so wurde ich um einen
Weisheitszahn ärmer.

Als ich in das Collegio zurückkam und meine Abenteuer erzählte, geriet
die kleine Bande in eine schreckliche Aufregung -- „~Laranginhas,
Laranginhas!~“ wurde das allgemeine Feldgeschrei. Die Brasilianer
nennen diese abscheulichen kleinen Wachsgeschosse ~Laranginhas~ d. h.
kleine Orangen, mit denen sie jedoch meiner Ansicht nach nicht die
geringste Ähnlichkeit haben; sie haben vielmehr die Form und Größe von
Hühnereiern, und die Kinder gießen sie selbst mittels einer hölzernen
Form. Dutzende von solchen Formen kamen wie mit Zauberschlag in unserm
ehrenfesten Collegio zum Vorschein, und ehe wir Lehrerinnen es uns
versahen, war die Wasserschlacht im vollen Gange. Nicht nur, daß man
sich in den Pausen mit ~laranginhas~ bombardierte, sondern sogar in
den Stunden spritzten sich die Nachbarinnen mit den ~bisnagas~, die
durch Gott weiß wen eingeschmuggelt wurden, Wasser in die Ohren und
die Kleider, so daß an eine ruhige, gesammelte Stunde garnicht mehr
zu denken war. (Die Bisnagas sind kleine Flakons genau wie unsre
Farbenfläschchen, und man hat sie mit allen Parfüms gefüllt, bis zu den
feinsten Sorten). Am Sonntag aber, als die Kinder nun nichts zu thun
hatten, wurden sie ganz wild und begossen sich gegenseitig von oben
bis unten mit Wasser aus großen Steinkrügen und Waschschüsseln. Das
ganze Schlafzimmer schwamm, und Mlle. Lerôt und ich standen ratlos vor
der wasserberauschten Gesellschaft, die wie die Wilden umhersprangen
und schrieen, bis glücklicherweise Madame kam und der Sache ein Ende
machte. Seitdem haben wir hier im Hause Ruhe.

Draußen aber dauert dieser geschmackvolle Faschingssport ruhig fort,
so daß ich mein Schicksal verwünsche, das mich grade jetzt alle Tage
in die ~rua dos Ourives~ treibt, und halbe und ganze Stunden vergrüble
über der Zusammenstellung möglichst wasserdichter Kostümierungen. Die
Brasilianer aber sind selig in dieser Zeit, ganz „aus dem Häuschen“.
Man sieht reiche junge Brasilianer die Straße entlang wandern eigens
zum Zweck dieses wässrigen „Amüsements“, einen Negerjungen hinter
sich, der in einem mächtigen Korbe ~laranginhas~ und ~bisnagas~ bereit
hält, und hunderte von Franks sollen da von Einzelnen auf diese Weise
verschleudert werden. Obgleich es in jedem Jahre von neuem verboten
wird, geschieht es in jedem Jahre wieder, und an den Straßenecken
stehen ganz naiv sogar die Negerinnen da, welche große Tablets voller
~laranginhas~ zum Verkauf feil halten. In den Pferdebahnen fürchtet ein
Jeder einen Jeden, und wenn man eben anfängt, seinen Nachbarn mit ein
wenig mehr Vertrauen zu betrachten, so fährt man im nächsten Moment
entsetzt zusammen, da der Hintermann einem mit wahrhaft teuflichem
Genuß ein ganzes Fläschchen Wasser in den Kragen gießt. Aber ärgern
darf man sich nicht, denn wenn sie das sehen, so ist man erst recht
verloren, und je mehr man sich in der Kleidung zu schützen sucht, desto
nasser wird man. Jetzt naht sich aber die Sache glücklicherweise ihrem
Ende, denn gestern war der große Faschingsumzug, und heute ist der
beschließende Maskenball.

Den Umzug habe ich mit angesehen von dem Balkon einer mit Madame
befreundeten Familie in der ~rua d’ Ouvidor~, und ich kann nicht
anders sagen, als daß er ganz brillant war. Viele der Wagen, deren
Ausstattung man teils aus Lissabon, teils aus Paris hatte kommen
lassen, waren sogar hochkomisch, so einer derselben, „das wahre Bild
der Hölle“ betitelt, wo in Gestalt von lebensgroßen Strohpuppen Mönche
verbrannt, Pfaffen geprügelt und Nonnen gerädert wurden. Und das
in einem +katholischen+ Lande! Aber der Brasilianer ist nicht
mehr so fromm wie seine Vorfahren. Mit Jubel begrüßt wurde zumal ein
andrer Wagen, wo aus der Dachluke eines darauf stehenden Häuschens in
regelmäßigen Intervallen von einigen Minuten die täuschend ähnliche
Maske des hiesigen Telegraphendirektors heraussah, der mit einer
Schere die über dem Hause weggeleiteten Telephondrähte zu zerschneiden
suchte, was nämlich in der That auf sein Anstiften von den Unterbeamten
geschehen sein soll. An die eigentlichen darstellenden Wagen schloß
sich eine lange Reihe Kutschen mit Masken an, allerdings nur Herren mit
Damen vom Theater und der Demimonde. Da der Zug nicht beworfen werden
durfte, so konnte man ihn in Ruhe betrachten, aber dennoch kam ich die
ganze Zeit über nicht aus der Gänsehaut heraus wegen der gruseligen
Geschichten eines neben mir stehenden Brasilianers. Die eine handelte
von einem deutschen Lehrer, der wegen eines herausfordernden Havelocks
in der Faschingszeit vor einigen Jahren schließlich von zwei handfesten
Negern erfaßt und in eine mit Wasser gefüllte Badewanne geschleppt
worden war, worauf er die Cholera bekommen, die andre von einem
Engländer, der sich aus den ~bisnagas~ und den ~laranginhas~
das gelbe Fieber und den Tod geholt. Als er die dritte anfangen wollte,
die wahrscheinlich von einem Russen gehandelt hätte, bat ich ihn, mich
zu verschonen.

Nun -- Gute Nacht, mein Gretel -- es ist entsetzlich heiß, so daß
das Licht vor mir sich biegt, aber ich kann es aushalten, da ich es
selten drückend finde, indem die große atmosphärische Feuchtigkeit
sehr mildernd wirkt. Die schlimmste Zeit ist nun auch bald vorüber und
damit auch die Zeit des gelben Fiebers, die allerdings alljährlich nach
dieser wilden Faschingszeit noch einmal einen Aufschwung nimmt; noch
sterben wöchentlich gegen hundert Personen allein am gelben Fieber.
Mich muß es nicht wollen, Grete, denn sonst hätte ich es bei meiner
augenblicklichen schlechten Verpflegung längst bekommen müssen, zumal
es immer zuerst „die weißeste Haut“ nimmt; Europäer, und besonders
Engländer und Deutsche sind am meisten ausgesetzt, und zuletzt bekommen
es die Neger.

Übrigens ~à propos~ Verpflegung Grete! Die Zeit ist da, wo ich
„eine Passion für das gedörrte Hammelfleisch“ habe; es ist wenigstens
nicht so fett und läßt sich daher bei der Hitze am besten essen. Mit
Appetit esse ich aber nur, wenn mich Carsons einmal zu einem guten
englischen ~beef~ einladen, was sie thun, so oft ich abkommen
kann. Sie sind überhaupt rührend gut zu mir, Grete, und viel von
meiner Courage in diesem fremden Lande danke ich ihrem freundlichen
Zuspruch; ~God bless them~!

Aber Mademoiselle wird ungeduldig, ich muß schließen. Es küßt Dich,
mein Gretel,

    +Deine Ulla.+



[Illustration]



    Rio de Janeiro, den 2. März 1882.

In aller Eile ein paar Worte, Herzensgrete! Ich bin nach Saõ Paulo
engagiert und zwar, denke Dir mein Glück, nach der +Stadt+ Saõ
Paulo zu einer, wie es scheint sehr netten Familie. Herr Konsul Haupt
war so sehr liebenswürdig, eine Annonce für mich in das ~Jornal de
Commercio~ rücken zu lassen, wo er mich wohl sehr herausgestrichen
haben muß, denn dieser Herr Costa ist eigens von Saõ Paulo
hergekommen, um dies Wundertier von „~professora~“ (~vulgo~
„~mestra~“) zu engagieren. So geht’s denn morgen nach der
„geistigen Hauptstadt von Brasilien“, wie der Paulistaner seine Stadt
mit Stolz und Vorliebe nennt.

Madame war höchst ärgerlich, als ich ihr sagte, daß ich fort wolle, und
hat mir kaum Adieu gesagt, aber alle, die mir wohlwollen, raten mir zu.

Weißt Du aber, was mir jetzt klar geworden ist, Gretel? Der Grund,
warum meine deutschen Kolleginnen in ihrer Toilette nicht im Stande
waren, den Beifall ihrer brasilianischen Mitschwestern zu erlangen!
Ich werde wohl nächstens auch ohne denselben fertig werden müssen.
Stelle Dir vor, wenn es Dir möglich ist, daß ich neulich für ein
Kattunkleidel, das ich haben mußte und mir bei einer französischen
Schneiderin anfertigen ließ, dieser edlen „Madame Victorine“ baare
78 Mark Macherlohn auf den Tisch des Hauses niederlegen mußte!! Ich
war versteinert und werde nie mehr zu einer Madame Victorine gehen,
wenn meine mitgebrachten Sachen nicht mehr reichen, sondern es machen,
wie es wahrscheinlich meine Kolleginnen hier vielfach thun: ich werde
selber zu Schere und Nadel greifen!

Der erste „Erfolg“ dieses Kattunkleidels ist, daß ich Mr. Carson
anpumpen mußte, um an meinen neuen Bestimmungsort zu gelangen, und ich
schreibe Dir dies als ~exemplum tragicum~ zu Nutz und Frommen
aller Derer, die es bethören sollte, wenn man ihnen in Brasilien
4-5000 Mark Gehalt bietet. Jetzt werde ich übrigens nur 3000 bekommen.
Aber Courage habe ich doch noch, Gretel, unterkriegen lassen wir
uns nicht. Wie sagt jener geistreiche Franzose? ~Il faut fatiguer
l’infortune!~

    Unverwüstlich Deine +Ulla+.



[Illustration]



    Saõ Paulo, den 20. März 1882.

    +Meine einzige Grete!+

Heute bekam ich einen ganzen Haufen lieber freundlicher Briefe von Mr.
Carson nachgeschickt, und ich wundre mich nur, daß sie alle angekommen
sind! Du bedauerst mich so sehr wegen des „abscheulichen Collegio“, Du
Gute, aber das sind ja glücklicherweise jetzt schon wieder ~tempi
passati~, wie Du siehst, und ich fühle mich dagegen hier in Saõ
Paulo wie im Himmel.

Schon die Reise hierher war mir sehr interessant, da sie mich durch
eine recht vielseitige Landschaft führte. Um neun Uhr Morgens
installierte mich Mr. Carson in einem Coupé erster Klasse der Saõ
Paulo Railway -- +erster+ Klasse, Grete, nicht etwa aus Hochmut
oder aus plötzlich eingetretener Kassenflut (im Gegenteil, Du weißt
ja: Madame Victorine!) sondern weil es in diesem Lande überhaupt nur
zwei Eisenbahnklassen giebt, und in der zweiten nur der ~nigger~
aller Schattierungen fährt. Mein Aufenthaltsort hatte auch wenig
gemein mit unsern heimischen Coupés erster Klasse, mehr mit einem
solchen dritter. Ungeteilt bot der Waggon mit seinen 24 Plätzen auf
Sitzen von Rohrflechtwerk, seinen acht offenen Fenstern, die Wind,
Sonne und Staub zugleich hereinließen, einen möglichst ungemütlichen
Aufenthalt. Es reisten fast nur Herren in dem Wagen, und Nichtraucher-
oder Damen-Coupés, wohin ich mich hätte zurückziehen können, giebt es
hier zu Lande nicht. Sobald der Zug sich in Bewegung setzte, holten die
Brasilianer jeder ein großes weißes Laken hervor, das rings mit Franzen
besetzt war und in der Mitte ein Loch hatte, durch welches sie den Kopf
steckten, so daß das Laken um sie herumfiel. Diese Dinger nennt man
~ponchos~, und wärend die leichten gegen den Staub benutzt werden,
so dienen wärmere, buntfarbige gegen Regen und Kälte.

Die meisten der Herren versanken sehr bald hinter die riesigen Blätter
ihrer ~Jornals de Commercio~, und es dauerte nicht lange, da
erinnerten sie sich auch zu meinem Entsetzen ihrer Cigarretten. War die
Fahrt bisher nur mäßig angenehm gewesen, so wurde sie jetzt zu einer
wahren Kreuzfahrt. Nicht wegen des Rauches; Du weißt, Grete, ich bin
nicht so zimperlich, aber -- für den rauchenden Brasilianer scheint
die Welt um ihn her nichts zu sein als ein großes +Spucknapf+.
Der offen zur Schau getragene Ekel der Fremden, ja, manche recht
blamable Scenen in Restaurants und auf den englischen Küstendampfern
haben bis jetzt nichts an dieser widerlichen Unsitte ändern können.
Der Brasilianer sieht das fortwährende Umsichspucken für etwas ganz
Harmloses an, worauf er in seinen Häusern auch auf das Gründlichste
eingerichtet ist, denn neben jedem ihrer ungemütlichen Rohrsofas wirst
Du zu beiden Seiten die schönsten, buntesten Spucknäpfe erblicken,
immer gleich paarweise und so groß und schwungvoll, daß ich sie zuerst
immer für Blumentöpfe hielt.

Ich machte den Versuch, mich meiner Umgebung einigermaßen zu
entziehen, die sich gelegentlich um zwei und drei rauchende,
schwatzende Schaffner vermehrte, indem ich aufstand, um mir durch das
offne Fenster die Gegend zu betrachten. Aber mit diesem Einfall machte
ich ein klägliches Fiasko. So ein brasilianischer Zug, wenn er einmal
im Gange ist, rast mit unglaublicher Schnelligkeit, aber er wackelt
auch ebenso unglaublich hin und her, und wenn man dazu noch seinen Fuß
in der (natürlich unbefestigten und zerrissenen) Fußmatte verwickelt,
so darf man froh sein, wenn man sich nach drei Sekunden mit einer Beule
an der Stirn, im Übrigen aber mit heilen Gliedern auf seinen Sitz
zurückgeschleudert findet. Diese Schnelligkeit des Beförderns zusammen
mit so manchen Unzulänglichkeiten und Naivetäten hat Etwas, was sich am
besten durch „ungebildet Civilisiertes“ ausdrücken ließe, Etwas, das
unwillkürlich lächeln macht, ein Eindruck, den ich schon oft in diesem
Lande empfangen habe.

Trotz alledem und alledem gelang es mir doch, die Natur rings im Großen
und Ganzen aufzufassen und ihren Reichtum, ihre Großartigkeit und ihre
Weite zu würdigen. Es ist alles großartiger als bei uns, es ist überall
wie ein Überfluß an vorhandenem Raum, und es kommt mir immer so vor,
als habe die Natur mit großem Griff Berg und Thal hier verteilt, um nur
erst zu füllen, worauf sie’s dann freute, wiederum mit vollen Händen
ihr Werk zu schmücken mit großblättrigen Bäumen und deren seltsamen
Früchten, mit graziösem Strauchwerk, das hier aber auch immer Baum zu
werden trachtet, und mit großen, intensiv gefärbten Blumen, wie um den
kleinen Menschen über diesem phantastischen Schmuck ihre gewaltige
Größe weniger drückend empfinden zu lassen. Berg und Thal wechselte
fortwährend, und wir passierten dreizehn Tunnels, von denen der längste
vier Minuten Fahrzeit in Anspruch nahm.

Hier auf dem Bahnhof holte mich Dr. Costa (+natürlich+ „Doktor“)
mit meinen beiden ältesten Zöglingen ab. Das Mädel von zwölf Jahren,
Lavinia, machte mir gleich einen sehr netten, frischen Eindruck, und
ich kann wohl sagen, daß ich sie seitdem schon wirklich lieb gewonnen
habe. Überhaupt, Grete, fühle ich mich hier wie im Himmel, nachdem das
Collegio wie ein wüster Traum hinter mir liegt. Zwar schütteln die
Kolleginnen den Kopf über mein Entzücken und meinen, die Costaschen
Jungen seien in der ganzen Stadt berüchtigt wegen ihrer Ungezogenheit,
so daß sie +hier+ schon keine Erzieherin mehr bekämen. Ich mag
aber vorläufig von nichts hören und bin froh, daß ich hier bin und mit
Kolleginnen und andern +Menschen+ verkehren kann.

Hier in Saõ Paulo sind ziemlich viele Deutsche, aber meistens
Handwerker, und ich verkehre eigentlich nur im Hause des deutschen
Apothekers, den ich zuerst in seiner Eigenschaft als Konsul aufsuchte.
Das sind Prachtmenschen, sage ich Dir, Gretel! Hochgebildet und doch
schlicht dabei, klug, liebenswürdig und gastfreundlich. Schon mancher
deutsche Brasilienreisende hat in ihrem Hause ein paar frohe, anregende
Stunden oder Tage verlebt, und selbst fürstliche Gäste haben sich wohl
gefühlt in dem freundlichen Schaumannschen Hause. Ich bin am Sonntag
zu Mittag dagewesen und lernte bei der Gelegenheit zwei sehr nette
Kolleginnen kennen, Frl. Meyer und Frl. Harras, die ich Dir wohl noch
öfter nennen werde; da ich außerdem schon die Bekanntschaft einer
dritten, älteren Kollegin gemacht hatte, die schon seit Jahren die
Vettern und Kousinen meiner Schüler erzieht, so siehst Du, daß es
mir hier golden vorkommen muß gegen meine bisherigen brasilianischen
Erfahrungen. Ich bin doch unter Menschen, ich bin doch nicht so
entsetzlich allein!

Bei Schaumanns trifft man Gesellschaft aus aller Herren Länder, so daß
doch auch einmal wieder von einer Unterhaltung die Rede sein kann. Da
kamen neulich gegen Abend ein alter origineller dänischer Ingenieur und
früherer Hauptmann, ein französischer Musiklehrer, ein deutscher Arzt
und ein englischer Ingenieur, ein sehr netter Mensch, der sich fast
ausschließlich mit mir unterhielt und sich über mein Englisch freute,
das er sehr gut fand. Er heißt Mr. Hall und wohnt seit einem halben
Jahr hier in Saõ Paulo, wo er die Vertretung einer großen englischen
Maschinenfabrik hat. Er sieht aus wie -- nein, doch nicht! Ich glaubte,
eine Ähnlichkeit gefunden zu haben, aber er sieht doch eigentlich
niemandem ähnlich. Ach Gretele, ich bin so froh, daß ich hier bin, so
sehr froh!

    Deine glückliche +Ulla+.



[Illustration]



    Saõ Paulo, den 5. April 1882.

    +Mein liebes, herziges Gretele!+

Es ist wirklich wahr: Saõ Paulo ist der beste Platz für Erzieherinnen
in Brasilien, die Stadt sowohl wie die ganze Provinz, denn hier
kokettieren Männlein und Weiblein, d. h. die jüngere Generation, mit
der „Wissenschaft“ und spielen sich mit Vorliebe auf das Gelehrten- und
Philosophentum heraus. Man ist +Universitätsstadt+! Allerdings
darfst Du Dir darunter kein Bonn oder Heidelberg vorstellen, schon
darum nicht, weil diese ~Academia~ nur eine Facultät besonders
pflegt, nämlich die juristische. Weiter im Innern der Provinz, bei
den Padres (der Name des Ortes ist mir entfallen), werden die Pfaffen
zurechtgemacht, hier die Advokaten und in Rio de Janeiro die Jünger
Aeskulaps, die „Doktoren“ ~par excellence~.

Zu Advokaten passen die Brasilianer insofern ausgezeichnet, als sie da
ihr deklamatorisches Talent verwerten können. Sie +sprechen+ für
ihr Leben gern, wenn sie auch nichts +sagen+; mit dem Pathos, das
sie an eine einzige Rede verschwenden, könnte man bei uns bequem deren
zehn ausstatten, und dennoch haben sie keine eigentliche Begeisterung
noch auch individuelle Impulse -- denn alle reden in dem gleichen
traditionellen Tonfall, der auch bei allen Gelegenheiten derselbe zu
bleiben scheint. Alles ist äußerlich, alles Halbbildung und Geste.
Dieses pomphafte Phrasieren, dies hochtrabende Pathos ist an sich schon
immer verdächtig und komödiantenhaft, aber wenn Du wirklich einmal die
Probe darauf machst und die Leute nach etwas fragst, so können sie Dir
keine Rechenschaft geben.

Da sind Leute, die an der Spitze der republikanischen Partei stehen,
und sie kennen weder die Geschichte noch die Verfassung ihres Landes,
geschweige die andrer Nationen, da giebt es andere, die sich zu dem
philosophischen System des geistreichen Contes zu bekennen behaupten,
und sie haben nicht seine elementarsten Lehren begriffen, da geben sie
Urteile über die Sprachen fremder Nationen ab und können Dir keine
Regel der eigenen erklären. Alle neuen Erfindungen auf technischem
Gebiet müssen sie sofort haben, aber die Ingenieure zur Einrichtung
kommen gleich mit aus Europa, und wenn sie wieder fort sind und es
geht etwas an der betreffenden Maschinerie entzwei, dann kann ein
Einheimischer sie gewiß nicht reparieren. Gründlichkeit herrscht
nirgends, und wenn sie auch äußerlich Anschluß an deutsche Bildung
zu suchen scheinen auf allen Gebieten der Wissenschaft -- so lange
sie sich nicht zugleich auch deutschen Fleiß und Ernst, deutsche
Ausdauer und Gewissenhaftigkeit aneignen können, bleibt es doch nur
Pantomime. Sie gehören eben innerlich nicht zu uns, mir drängt sich
dies Gefühl immer von neuem auf, und die Brasilianer selbst bethätigen
die Richtigkeit desselben instinktiv, indem sie mit ihrem +Herzen+
doch immer wieder den Franzosen und andern romanischen Völkern
zuneigen, wenn ihnen auch deutscher Geist oder englische Thatkraft
mehr +imponieren+. Aber ich merke, daß ich +predige+ -- darum
schnell zu etwas Anderem.

Meine jetzigen „Erziehungssubstrate“ sind in der That wahre
Muster-Exemplare von Wildheit, und nur bei Lavinia hat sich diese
berechtigte(?) Familieneigentümlichkeit zu einer angenehmen Frische
abgeschwächt. Mit den Jungen habe ich einen schweren Stand, und mehr
als einmal haben sich die beiden Brüder schon in der Stunde beim Kragen
gehabt, ehe ich mich dessen versah. Da braucht der eine blos eine
falsche Antwort zu geben, dann wirft der andre eine lebhafte vorlaute
Verbesserung dazwischen, wofür ihm jener schneller als der Blitz eins
mit dem Lineal überzieht -- dann haben wir die schönste Rauferei,
und es ist für mich keine Kleinigkeit, diese Brüderzwiste immer
rasch wieder zu schlichten; neulich habe ich mich dazu aufgerafft,
den kleineren einfach vor die Thür zu setzen, und finde das Mittel
eigentlich ganz probat. Aber ich will versuchen, hier auszuhalten; man
muß streben, solche arme, schlechterzogene Kinder zu bessern. Meinst Du
nicht auch, meine süße Grete? Ich möchte doch nicht schon wieder fort.

Gestern traf ich zufällig auf Mr. Hall, als ich zu Frl. Meyer ging,
und er begleitete mich ganz bis an das Haus. Weißt Du Grete, er
ist wirklich sehr nett, garnicht wie die Brasilianer, fast wie ein
Deutscher; er hat so aufrichtige große blaue Augen und sieht so
männlich aus. Er fragte mich, ob ich nicht Sonntags in die englische
Kirche ginge; eine deutsche ist hier nämlich nicht. Ich bin zwar bis
jetzt noch nicht hingegangen, aber es ist wirklich wahr, ich sollte es
thun; es ist recht unrecht, daß ich bis jetzt nicht dagewesen bin.
Nächsten Sonntag muß ich bestimmt hingehen. Es küßt Dich tausendmal

    Deine +Ulla+.

~P. S.~ Anliegend schicke ich Dir zwei Verdeutschungen eines
brasilianischen Gedichtes von Goçalves Dias (in Europa gedichtet),
das wohl so eine Art von Anspruch auf Volkstümlichkeit hat, wenn man
in diesem Lande, wo es eigentlich gar kein Volk giebt, und wo ich
+niemanden+ finde, der mir den Text der Nationalhymne sagt, von so
etwas sprechen kann. Die eine ist von Herrn Schaumann und fast wörtlich
übersetzt, die andre, freiere, von unserm verehrten Dranmor; Du wirst
da den +Dichter+ sofort erkennen. Ich schicke die wortgetreuere
Übersetzung voraus.


Lied des Verbannten.

    Meine Heimat, die hat Palmen,
    Und dort singt der ~sabia~,
    Anders zwitschern hier die Vögel,
    Anders zwitschern sie da.

    Unser Himmel hat mehr Sterne
    Und mehr Leben unsre Wälder
    Und mehr Liebe unser Leben
    Und mehr Blumen unsre Felder.

    Dort des Abends, wenn alleine,
    Wie viel süßer träumt’ ich da!
    Ach, mein Heimatland hat Palmen,
    Und dort singt der ~sabia~.

    Volles Glück beut meine Heimat,
    Wie ich hier noch keines sah,
    Und des Abends, wenn alleine --
    Wie viel süßer träumt’ ich da!
    Ja, mein Heimatland hat Palmen,
    Und dort singt der ~sabia~.

    Wolle Gott nicht, daß ich stürbe,
    Ohn’ daß ich es wiedersah,
    Ferne von dem Glück der Heimat,
    (Ach, ich finde es nur da!)
    Ferne von der Heimat Palmen
    Und dem Lied des ~sabia~.

Und nun die Übertragung des Poeten:


Lied aus der Verbannung.

    Palmen schmücken meine Heimat,
    Und so traulich ist es da,
    Wo von grünen Blätterkronen
    Uns begrüßt der Sabia.

    Zeigt mir holden Waldesschatten,
    Fluren, die den unsern gleich,
    Sterne, wie sie niederleuchten
    Auf der Liebe Zauberreich.

    In den trüben Winternächten
    O, wie gramvoll denk’ ich da
    An das Land der Palmenhaine
    Und des Sängers Sabia.

    Denn es stralt in Schönheitsfülle,
    Wie ich sonst sie nirgends sah,
    Und in allen Traumgebilden
    Ist es meiner Sehnsucht nah
    Mit dem Flüstern seiner Palmen,
    Mit dem Gruß des Sabia.

    Laß, o Gott, erst dann mich sterben,
    Wenn mein Land ich wiedersah,
    Und die Heimat mich beglückte,
    Wie es hier noch nie geschah,
    Wie die Palmen es verkünden
    Und der Ruf des Sabia.



[Illustration]



    Saõ Paulo, den 21. April 1882.

Heute ist in unserm Hause etwas passiert, worüber sich Herr Costa und
seine Frau sehr geärgert haben, was ich aber nicht umhin kann, doch
wieder sehr komisch zu finden.

Wir hatten hier nämlich einen Sklaven im Hause, einen kräftigen
Burschen von etwa 25 Jahren, der in dieser Zeit, wo niemand neue
Sklaven kauft und auch keine mehr heranwachsen, für seinen Herrn
sehr wertvoll war. Dieser Gute war nun vorgestern zu irgendwelchen
Besorgungen in die Stadt geschickt, erschien aber nicht wieder. Zuerst
glaubte man, ihm sei ein Unglück geschehen, und ließ ihn suchen, aber
nichts fand sich. Dann nahm man an, er sei entlaufen, und Herr Costa
ließ es sofort in die Zeitung setzen. Gestern früh bekommt er plötzlich
eine Zuschickung von der hiesigen „Gesellschaft für Abolierung der
Sklaverei“, des Inhalts, der Sklave Tiberio habe sich im Büreau
der Gesellschaft zum Loskauf gemeldet und 200 Milreis (ca. 400 M.)
deponiert, die man ihm nun für denselben als Kaufpreis biete; man werde
den Schwarzen bis zur Entscheidung da behalten. Herr Costa schimpfte
und tobte wie ein Wilder im Hause herum, nannte sich selbst einen Esel,
daß er den Sklaven nicht längst auf die Pflanzung geschickt habe, und
stellte schließlich eine Gegenforderung von 2000 Mark. Heute Morgen
war nun der Termin, wo ein Arzt und ein andrer Sachverständiger über
den Wert dieser menschlichen Ware entscheiden sollte. War aber unser
guter Herbergsvater gestern schon wütend gewesen, so kam er heute
gradezu wie besessen zurück, fluchte und zeterte, daß die Wände bebten.
Was hatte man nämlich gethan? In der Zwischenzeit von vorgestern bis
heute war dem Tiberio +ein+ Purgativ über das andre eingegeben
worden, bis der früher so kräftige Bursche auf dem Termin natürlich als
eine elende knieschlotternde Kreatur erschien, die Arzt und Taxator
selbstverständlich nicht höher als 200 Milreis einschätzen konnten.
Wie findet Ihr dies? Ehrliche Arbeit ist es ja nicht, aber es ist auch
wieder ein gut Teil Humor dabei.

Es wird jetzt überhaupt sehr viel von der Sklaven-Emancipation
gesprochen, die Sache scheint plötzlich in Schwung zu kommen. Der Staat
wirft jedes Jahr einen Fond zum Loskauf im Budget aus, in den Provinzen
bilden sich Emancipationsgesellschaften, und viele Sklaven werden frei
durch Privat-Initiative.

Gewiß ist diese Bewegung sehr schön, aber was wird dabei auch für Staub
aufgewirbelt! Was für Schmutz kommt dabei zum Vorschein! Die deutsche
Zeitung in Rio bringt hin und wieder interessante Streiflichter über
diese Sachen. In der Provinz ~Espirito santo~ kaufte man aus den
staatlichen Fonds vor einiger Zeit zwei Sklaven im Alter von 69 und 70
Jahren ihren Herren für je 1000 Mark ab. Wem zu Nutzen geschah das: den
alten, verbrauchten Sklaven, die der Tod sowieso bald erlöst hätte, und
die jetzt ihr Brot erbetteln müssen -- oder ihren Herren? Bei einem
andern Sklavenhalter verheiratete sich eine 72jährige Sklavin mit
einem 75jährigen Freien. Da aber die an Freie verheirateten Sklaven
oder Sklavinnen beim Loskauf immer zuerst berücksichtigt werden sollen,
so empfahl ihr Herr die 72jährige junge Frau dem Emancipationsfonds
für 2000 Mark und -- bekam sie! In Tatuhy wurde ein Sklave, der sich
im letzten Stadium der Schwindsucht befand, aus den Mitteln des
staatlichen Emancipationsfonds für die Summe von 1 Conto 500 Milreis
(3000 Mark) freigekauft. Aber diese und ähnliche Durchstechereien
und Betrügereien sind nichts gegen die Entdeckung, daß +längst
verstorbene Neger+ als durch den Emancipationsfonds freigekauft
in den Listen figurierten und ihre früheren Herren natürlich die
Loskaufssumme für sie einsteckten, worauf man sie nach einiger Zeit
dann zum zweiten Male und endgültig sterben ließ!!

Anderseits ist aber auch viel wirklicher Edelmut zu verzeichnen, und
täglich kann man in den Zeitungen ganze Spalten angefüllt sehen mit
den Namen solcher Besitzer, die ihre Sklaven freiwillig entließen. Man
darf dies nicht zu gering anschlagen, und wenn ich jetzt im Geiste Euer
„Nun, das ist aber so natürlich!“ höre, so sage ich mir freilich, daß
ich in Europa ebenso gedacht haben würde, aber auch zugleich, daß man
hier an Ort und Stelle anderer Meinung werden muß! Erstens sind die
Sklaven ein, wenn auch nicht humaner, so doch ein ebenso rechtmäßig
erworbener Besitz wie jeder andre, anderseits aber heißt „alle seine
Sklaven plötzlich entlassen“ für die meisten Pflanzer nichts anderes
als: „sich ruinieren“. Denn was Ersatzschaffen für 80-100 oder 200
gehorsame Sklaven heißt, ganz besonders aber in Brasilien, wo es keinen
freien Arbeiterstand giebt, und auf entlegenen Pflanzungen heißt,
davon kann man sich nur schwer einen Begriff machen, wenn man nicht
einmal mit angesehen hat, was freie Arbeit heißt in einem Sklavenlande,
und wenn man selbst in einem Lande lebt wie Deutschland, wo das
Angebot der Arbeitskraft ihre Verwendbarkeit übersteigt. Ich kann es
mir also sehr gut erklären und finde es durchaus gerechtfertigt, wenn
auch sonst humane Pflanzer sich weigern, ihr bisheriges Vermögen, die
Sklavenarbeit, ohne Kampf und vor allen Dingen ohne Aufschub und Frist
herzugeben. Ich glaube nicht, daß irgend ein Europäer anders denken
würde, und Du mußt deshalb nicht glauben, mein Gretel, daß sich Deine
Ulla hier zur hartherzigen Sklaverei-Schwärmerin ausbildet.

Im Gegenteil, sie ist weichherzig wie immer und hat neulich sogar --
ein +lyrisches Gedicht+ gemacht! Das ist doch gewiß tröstlich!

    Deine +Ulla+.

Vor mir stehen ein paar herrliche Rosen, die mir Mr. Hall gestern
gegeben hat; ich war ihm neulich zufällig wieder begegnet, und er hatte
sie eben zufällig gekauft.



[Illustration]



    Saõ Paulo, den 5. Mai 1882.

    +Mein Herzensgretele!+

In Deinem letzten Briefe „lächelst Du eine Bemerkung“ über den
hochtrabenden Namen meiner kleinen Schülerin: +Lavinia!+ Ja, das
ist aber nur der Anfang zu einer ganzen antiken Gallerie, die ich
hier unter meiner pädagogischen Zuchtrute habe. Der älteste Junge
heißt Cajus Gracchus, mein dritter Zögling Plinius; er sollte zuerst
Tiberius heißen, erzählte mir Lavinia, doch wurde dieser Name als
speziell „negerhaft“ dann wieder verworfen. Auf ihn folgen ein paar
Römer+innen+: Clölia und Cornelia, die ich immer noch hoffe,
einmal mit reinen Gesichtern zu erblicken, wenn man das überhaupt
von echten und rechten, in der Wolle gefärbten Republikanerkindern
verlangen darf. Die Namen seiner Kinder machen nämlich einen Teil des
politischen Glaubensbekenntnisses von Herrn Costa aus. Bis zur Cornelia
kann ich ihm ja auch folgen; -- was ihn jedoch veranlaßt haben kann,
sein jüngstgebornes Knäblein Vercingetorix zu nennen, das ist mir ein
undurchdringliches Rätsel! Sollte er die Gefühle des biedern alten
Galliers für seine Lieblingsnation, die Römer, so gröblich mißkennen?!
Daß er für die nötigen zwei feindlichen Parteien beim Soldatenspiel
hätte sorgen wollen, ist nicht wahrscheinlich: brasilianische Kinder
spielen nie Soldat, und außerdem würden da auch schon die Vettern Rat
schaffen, die bereits, ebenfalls die landläufigen Joaõ, Luiz oder
Carlos verschmähend, einen Themistokles und einen Perikles unter sich
aufweisen.

Friedfertiger lassen sich die großen und kleinen Kousinen an. Da
rivalisiert keine Sappho oder Aspasia mit unsern Römerinnen, dafür
verwirren sie aber einen armen Europäer-Verstand um so ausgiebiger
durch eine überwältigende Einigkeit unter ihren Namen: Dona Maria, Dona
Maria Salome, Dona Maria Magdalena, Dona Maria da Gloria, Dona Maria da
Conceicaõ, Dona Maria da Cruz -- und so mit Grazie ~ad infinitum~.
Und dann zu sehen, mit welcher Sicherheit die Brasilianer unter all
diesen Marien herumunterscheiden, und sogar womöglich noch wissen:
Dona Maria Magdalena, Tochter von Dona Maria das Dores etc.! In diesem
Bevorzugen der Vornamen liegt aber eine gewisse Unzivilisiertheit, es
erinnert so an Adam und Eva, die auch keine Familiennamen hatten. Und
es wäre doch so viel leichter, alle jene Marien auseinander zu halten,
wenn man ihren Familiennamen hinzufügte, anstatt des Vornamens der
Mutter, denn die oben genannten sind +nur+ zwei- und dreiteilige
Vornamen. Auch schokiert es mich immer von neuem, so eine alte Dame
von dem jüngsten Jüngling etwa mit „Dona Gabriella“ oder einen alten
weißhaarigen Großvater mit „Senhor Carlos“ anreden zu hören. Da lobe
ich mir doch unsre Titel! Wenn es heißt „Frau Geheimerätin“, „Frau
Oberamtmann“, „Frau Superintendent“, da weiß man doch wenigstens, daß
nicht von der 17jährigen Tochter die Rede ist, wärend man hier nie
weiß, wie hoch oder wie niedrig auf der Staffel der Jahre man so eine
„Dona“ einzuschätzen hat. Wolltest Du jedoch eine Dame z. B. „Senhora
Maria“ anreden, so würdest Du sie sehr beleidigen, denn „Senhora“ ist
in der guten Gesellschaft nur ohne Namensanschluß zulässig und wird mit
Namen für die untere Klasse der Freien, freie Mulattinen etc. gebraucht.

Wir deutschen Erzieherinnen und wohl auch andre Ausländerinnen werden
in den Geschäften etc. gewöhnlich mit der Anrede „Madamma“ beglückt,
ein schon für’s Ohr abscheulich häßliches Wort, das aber noch
unleidlicher erscheint, da man sich sagen muß, daß der brasilianische
Hochmut es eigens erfunden hat, um die ~estrangeiras~ (bitte, sprich
das immer mit der gehörigen Verachtung aus) von den +~Brazileiras~+ zu
unterscheiden.

Die Dame des Hauses heißt in jeder Familie für die Bedienung
+Sinha+[5], der Herr +Sinho+, die älteste Tochter stets ~Sinhasinha~,
der älteste Sohn ~Nhonho~; letztere beiden Bezeichnungen werden auch
unter den Geschwistern gebräuchlich. Für die übrigen Kinder kommen
dann noch hinzu: Nhonhosinho, Nhanha, Senhara, Nunu, häufig auch
Bébé und ähnliche Benennungen, eine immer häßlicher als die andere.
Man denke sich eine Geschwisterreihe wie folgt: Sinhasinha, Nhonho,
Nhanha, Senhara, Nunu, Nhonhosinho, Bébé -- für unsre Ohren doch das
Erreichbare an Geschmacklosigkeit, in Brasilien aber faktisch in jeder
Familie vertreten. Mädchen, die Maricota heißen, werden mit Vorliebe in
„Cocotte“ abgekürzt!

Zahlreiche Leute gehen hier unter sogenannten ~appelidos~, Beinamen
oder Rufnamen. Diese Sitte wird ja auch wohl in Oberbayern und Tyrol
gefunden, doch sind dort die Rufnamen doch immer wirkliche Namen,
wärend sie hier oft ein ganz unerklärlicher Blödsinn sind. Auf Saõ
Francisco war als Erdarbeiter ein Portugiese beschäftigt, der nie
anders als „Johann mit dem Hut“ genannt wurde; selbst Dr. Rameiro
sprach so von ihm mit dem gleichmütigsten Gesicht, und ich bin
überzeugt, er stand auch so im Lohnbuch. Und als der Doktor einmal nach
einer kleinen Nachbarstadt ritt und nach dem Hause eines Senhor Carlos
de Oliveira fragte, konnte ihm kein Mensch dasselbe zeigen, wogegen er,
sich glücklich dessen dummen Appelidos „Nhonho Padre“ (kleiner Herr und
Pater) erinnernd, sofort Auskunft erhielt.

Anderseits erscheint es wieder, als könne dem Brasilianer sein Name
nicht prunkend genug sein, und er stellt ihn sich so mannichfaltig
zusammen, wie er nur irgend kann. Weißt Du noch, wie wir in der Pension
die kleine Brasilianerin oder eigentlich ihren herrlich-prunkenden
Namen unterthänigst verehrten? Julieta Olympia Leite da Costa Pinto!
Was war dagegen Anna Schulze, oder wie empfand man bei dem Bewußtsein,
daß es Leute gäbe, die Meier heißen! Aber, aber -- die Illusionen
weichen! Stelle Dir vor, daß Leite Milch heißt, Costa die Küste und
Pinto das Kücken, und Du wirst Dich, wie ich es gethan, mit Schulze,
Müller und vielleicht gar mit Meier aussöhnen. Und grade einen dieser
Namen Costa, Pinto, Leite führen hier wohl 50% aller Einwohner in
irgend einer Verbindung. Chaves bedeutet Schlüssel, Machado Axt, und
nun gar Leitaõ lautet im erbarmungslosen Deutsch: Ferkel! Ja, der
Marquis de la Marlinière hat Recht: „die deutsche Sprak ist ein arm
Sprak, ein plump Sprak --“! Durch all unsre leidigen Consonanten
verlaufen die meisten unsrer Namen auch so armselig und „klanglos“ im
Sande! Wie viel besser endet sich’s doch da auf ein a oder o oder gar
auf oa!

Ja, wenn es bei uns im guten Deutschland auch so leicht wäre wie
hier, sich einen schönen Namen zu verschaffen, ich glaube, da würden
die sogenannten „Sammelnamen“ bald aussterben, und wie würde das
Geschlecht der Cohne aufatmen! Gefällt +hier+ jemandem sein
Name nicht oder giebt er zu Verwechselungen Anlaß, so legt er sich
einfach einen andern bei, läßt das in die Zeitung setzen und damit
basta. Frl. Meyer ist hier in einer Familie, wo der Hausherr und seine
beiden rechten Brüder total verschiedene Namen haben. Sie nehmen da
übrigens das Gute, wo sie es finden. Es giebt im Lande Leute, die sich
Montmorency, Medina-Coeli etc. nennen, und zahlreich sind die Pedro de
Alcantara, wie Du weißt, der Hausname des Kaisers. Seit dem letzten
Jahrzehnt haben auch einige deutsche Namen Gnade vor brasilianischen
Augen gefunden. Einer Veröffentlichung zufolge wollte sich ein
Namens-Unzufriedener fortan noch Habsburgio zubenennen, was mich ja
an und für sich ziemlich kalt lassen würde, wenn nur nicht plötzlich
ein deutscher Forscher Wind bekommt von der Existenz dieses Namens in
Brasilien und uns, in enthusiastischer Entdeckungsfreude, noch eine
ausgewanderte Linie der Habsburger mit allerlei verwickelten Daten und
Zahlen in die Geschichtstabellen hineinforscht. Na, ich bewahre den
Zeitungsausschnitt auf, bis Du das Examen wenigstens glücklich hinter
Dir hast.

Neulich habe ich übrigens ob dieses Namens-Unfugs meinen gehörigen
kleinen Zorn gehabt, als nämlich ein wenig reputierliches Individuum,
das wegen Ruhestörung sistiert wurde, seinen Namen als Joaõ Leaõ
+Bismarckio+ angab[6]. Wenn der Kaiser sich alle die Pseudo-Pedro de
Alcantara in seinem Lande gefallen lassen will, und der Sklavenbaron es
duldet, daß seine freigewordenen Sklaven sich +seinen+ Familiennamen
beilegen, so sagen wir: „~De gustibus non est disputandum~“ -- allein,
ich denke, wir Deutschen halten unsre großen Namen heiliger, und man
müßte sich dergleichen auch im fremden Lande verbitten.

Jetzt bin ich aber so in den Ärger hineingeraten, daß ich mich auf dem
Wege des Übergangs nicht wieder herausfinde; Du bist darum wohl nicht
böse, liebe Grete, wenn ich einen Sprung mache; es ist ja das ohnehin
modern, unsre Schriftsteller machen ja oft wahre ~salto mortales~, wenn
die Handlung nicht so recht schreiten will. Ich finde das bequem,
also..... denke Dir, daß mich neulich ein junger Brasilianer zum Tanz
aufforderte mit den Worten: „Haben Euer Excellenz schon einen Partner?“
Auf der einen Seite neben mir saß sein jüngerer Bruder, an dem andern
Stuhl lehnte ein Cello -- blieb nur ich für die „Excellenz“ -- Der
Mensch sah zu einfältig aus, um mich aufziehen zu wollen, also die
Excellenz tanzte. Die Sache amüsierte mich aber so, daß ich sie bei
erster Gelegenheit lachend an Lavinia’s Mutter erzählte -- da kam ich
aber schön an! Das erfordre die einfachste Höflichkeit, hieß es (bitte,
versuche nicht, Dir eine Vorstellung von der komplizierten danach zu
machen, es könnte Dir zu Kopf steigen), und „~Vossa Excellencia~“
klinge doch entschieden schöner als das simple „~A Senhora~“
-- -- Dagegen ließ sich absolut nichts einwenden, und „schluckuhrig“
zog ich mit dieser Belehrung von dannen. Das Titelwesen hier ist das
reine Studium und meiner Ansicht nach viel komplizierter als bei
uns. Über die Titulatur der Damen habe ich Dir schon gesprochen. Die
Herren heißen alle Senhor; der „Don“ kommt im Portugiesischen, wo es
Dom geschrieben wird, nur den Prinzen zu. Aber mit „Senhor“ kannst
Du freigiebig sein, das ist jeder, der nicht Sklave ist, auch der
barfüßige Erdarbeiter, doch haben sie in solchem Falle eine pfiffige
Art, das Wort ganz kurz, etwa wie „Sior“ auszusprechen, so daß der Mann
den Abstand begreift. Auch im Satz heißt die Anrede meistens Senhor und
Senhora: „Würde mir der Senhor dies Buch leihen?“ „Wünscht die Senhora
ein Glas Wasser?“

~Vossé~ ist unserm Du gleich, man redet die Sklaven so an und
die Kinder, wogegen diese Vater und Mutter Senhor und Senhora und nur
selten Papa und Mama titulieren. So ziemlich zwischen ~vossé~ und
Senhor resp. Senhora steht ~Vosse mercé~, was Du im Ollendorf mit
„Euer Gnaden“ übersetzt findest; es bedeutet aber thatsächlich bei
weitem nicht so viel, kommt vielmehr unserm einfachen „Sie“ am nächsten
und ist im Ganzen sehr wenig gebräuchlich. Etwas unterwürfiger wiederum
als das einfache Senhor ist ~Vossa Senhoria~, und da erzählte mir
neulich unser sehr verdienter Landsmann Gruber hier, der durch sein
Wirken und seine Verbindungen auch einigen politischen Einfluß hat,
eine nette kleine Steigerungsgeschichte.

Er hatte mit einem ganz einfachen Brasilianer vom Lande (man nennt die
Leute ~Caïpira~) wegen einer Wahl verhandelt und ihn dabei einfach
~vossé~ angeredet. Als aber der Mann seinerseits ihn ~vosse
mercé~ titulierte, hatte Gruber ihm an Höflichkeit nicht nachstehen
wollen und folglich dieselbe Anrede aufgenommen. Da sprang aber unser
guter ~Caïpira~ zu Senhor und dann zu ~Vossa Senhoria~ über,
wohin ihm Herr Gruber auch noch folgte. Als jener aber dann sofort eine
Stufe höher rutschte und sich zu ~Vossa Excellencia~ verstieg,
sagte unser Landsmann lachend: „Na, mein Bester, nun wollen wir man
stoppen, wir können uns doch schließlich nicht einander ~Vossa
Majestade~ anreden!“

Schicke doch den nächsten Titelhasser, der Dir begegnet, einmal
herüber, Grete -- hier würde er alle unsre einheimischen Titel segnen
lernen, die so oft die Zielscheibe des Spottes fremder Nationen sind.
Das Wunderbarste ist die Adels-Aristokratie dieses Landes, es giebt
darunter Leute, die als barfüßige Erdarbeiter s. Z. aus Portugal
eingewandert sind, aber die Barone, Marquis und Vicondes aus Dom Pedros
Adelsfabrik bringen dem Staate ein hübsches Sümmchen ein. Schade
nur, daß so ein teuer erstandener Marquis oder der bar bestrittene
Vicomte mit dem glücklichen Käufer begraben wird! Dom Pedro traut
seinem heißblütigen Völkchen nicht; der Vater ein Baron und der
Sohn vielleicht ein Bummler -- da wird nichts dergleichen vererbt.
Was aber solch eine Aristokratie dem Lande nur soll! Sehr selten
und nur aus besonderer Gunst, und wenn der Kaiser den Betreffenden
wirklich ehren möchte, wird das „von“ oder der Titel einfach zu dem
Namen des Belehnten gesetzt, sonst wird er fast immer mit einem
Ortsnamen verbunden. Die meisten dieser Ortsnamen sind der alten
einheimischen Guarany-Sprache entnommen, der noch unzählige Orte hier
in Brasilien ihre Benennung verdanken. So giebt es z. B. einen Marquis
de Itanhaem d. h. „vom steinernen Mörser“; einen Visconde de Suassuna
d. h. „vom schwarzen Reh“; einen Visconde de Uruguay d. h. „vom
Hahnenschwanzflusse“; einen Visconde de Muritiba d. h. „von dem Orte,
wo es Fliegen giebt“; einen Baron de Cambathy d. h. vom „schwarzen
Affen“; einen Visconde de Iroumitatá d. h. von „bringe mir Feuer“ etc.
Manche Namen sind natürlich auch portugiesisch, und da übt der Kaiser
denn manchmal seinen Spott daran aus. Ein Baron „Groß-Mogul“, den er
creïrt hat, ist noch lange nicht das Schlimmste, es soll sogar Bewerber
genug gegeben haben, die der erfinderische Spott des kaiserlichen
Titelfabrikanten abgeschreckt hat.

Und dennoch, liebe Grete -- mit den Wölfen muß man heulen: Wenn Du mir
wieder schreibst, so bitte adressiere den Brief:

    ~Illustrissima Excellentissima
    Senhora Dona Ulla von Eck.~

Das ist das mindeste, was dazu gehört, sonst halten sie mich hier für
gar zu simpel. Womit ich verbleibe

    D. O.


  [5] nh ist überall wie nj zu sprechen, entspricht also dem
      französischen ~gn~.

  [6] Deutsche Allgemeine Ztg. für Brasilien vom 30. Juni 1883



[Illustration]



    Saõ Paulo, den 29. Mai 1882.

    +Meine liebe gute Grete!+

Meine antiken Zöglinge sind wirklich sehr ungezogen, und ich habe
alle möglichen pädagogischen Finessen nötig, um mit ihnen fertig zu
werden. Besonders kann ich die beiden Jungen nie allein unten im
Schulzimmer arbeiten lassen, wenn Lavinia oben Klavierstunde hat.
Es kommt mir immer vor wie die Geschichte mit dem Wolf, der Ziege
und den Kohlköpfen, die ein Schiffer einzeln über den Fluß zu setzen
hatte und von denen er doch niemals Ziege und Kohl oder Wolf und Ziege
unbeaufsichtigt zusammen zurücklassen konnte. Neulich hatte Cajus
Gracchus -- sein Vater nennt ihn immer pomphaft „~Gracho~“ --
als der Stärkere, wenn auch weniger Begabte von beiden, seinen Bruder
einfach zu dem niedrigen Parterre-Fenster hinausgesteckt, und dieser
stand nun zeternd davor und warf Sand und Steine hinein -- Du kannst
Dir den Zustand meines Zimmers nachher vorstellen!

Die Eltern kümmern sich absolut nicht um das, was die Kinder thun,
vielleicht gehört das zu Herrn Costas republikanischem „System“.
Die drei ältesten sind ganz meiner geistigen Fürsorge anvertraut,
und die jüngeren Römer werden von den Negerinnen so gut oder so
schlecht versorgt, wie es diesen paßt. Neulich sah ich den kleinen
zweijährigen Mucius vollständig nackt im Garten umher laufen, nachdem
er eben gebadet war, und die Grachenmutter, sowie die tapfere
Schwimmerin Clölia erblicke ich nur selten anders als in den ersten
Toilettenstadien. So sehr überhaupt bei „Gelegenheiten“ und auf der
Straße die Brasilianerinnen das sind, was der Engländer ~dressy~
nennt, so primitiv ist ihre Haustoilette. Auch die vornehmste und
reichste Brasilianerin geht im Hause vom Morgen bis zum Abend in einem
einfachsten, völlig besatzlosen Kattunrocke und weiter Jacke, sowie
mit herabhängenden Zöpfen. In der heißen Zeit ist das ja allerdings
ganz angenehm und erquicklich, allein in den kühleren Monaten ist es
absolut nichts als Faulheit, denn da ist ein fester Anzug sehr gut zu
vertragen, ja wünschenswert. Aber die Wollkleider hängen im Schrank,
oder sie haben überhaupt keine: im Hause wird Kattun getragen, auf der
Straße trägt man feinere Waschstoffe und vielfach Seide; sie finden
die wollnen Kleider auch unreinlich, weil sie nicht alle acht Tage
gewaschen werden können! Weißt Du, Grete, diese Brasilianer haben
eine wunderbare Art von Reinlichkeit und Ordnung an sich. Sie baden
oft, die meisten jeden Tag, und doch sind viele Kinder und Erwachsene
nie so recht „zweifelsohne“ um Ohren und Hals herum; sie wechseln
sehr oft Wäsche und Kleidung, aber wie oft ist beides zerrissen und
unordentlich! Es besteht hier über diesen Punkt zwischen Einheimischen
und Fremden eine kleine Gereiztheit. Viele Gewohnheiten der Brasilianer
erregen wohl mit Recht den Widerwillen der letzteren, wenn’s auch nicht
ganz so schlimm ist, wie Herr Zöllner macht. Dafür rächen sich dann
die Brasilianer mit der Anekdote von jenem Deutschen, der, als sein
Wirt ihm am zweiten Tage seines hübenschen Aufenthaltes, wie am ersten
ein Bad angeboten, ganz empört geantwortet habe: „nein, so ein Ferkel
sei er nicht, daß er jeden Tag zu baden brauche“, auf welche Anekdote
dann natürlich wieder mit deutschen und englischen, z. T. weit derberen
Geschichten gedient wird. Nun, derlei Streitereien sind unfruchtbar und
werden vor allen Dingen nichts ändern an eingeborenen und durch das
Klima begünstigten Eigenschaften.

Ich persönlich leide unter diesen Landeseigentümlichkeiten besonders
nach der Seite der Fußbekleidung hin. Hier im Hause wird außer meinen
kein Stiefel gewichst, und Du machst Dir keinen Begriff von den
Manipulationen, Listen und Mühen, die nötig waren, um den Haushalt
mit einer Wichs-Einrichtung, und eine Negerin mit der Fähigkeit
auszustatten, dieselbe angemessen zu benutzen; letzteres ist auch bis
heute noch sehr unvollkommen geglückt. Herr Costa läßt seine Stiefel
mit Lack einschmieren, was ja sehr bequem ist und den Negern daher weit
besser gefällt als das Wichsen, Madame trägt im Hause Pantoffeln, auf
der Straße feine Halbstiefelchen oder Bronzeschuhe; ordentliche, feste
Chauffüre brauchen die hiesigen Damen nicht, da sie bei schlechtem
Wetter einfach nicht ausgehen. Die Kinder laufen mit ungepflegtem
Schuhzeug einher, bis es ihnen sozusagen in Fetzen von den Füßen fällt,
was z. B. bei Plinio alle 14 Tage der Fall ist. Schuhwerk ausbessern
zu lassen, ist den Brasilianern fremd; es wird eben so lange getragen,
bis es schlecht wird; dann wird es weggeworfen und durch neues ersetzt.
Es giebt hier auch gar keinen ordentlichen Schuhmacher, sondern nur
Läden mit fertiger, meist aus Frankreich bezogener Ware, so daß es
für uns Ausländer sehr schwierig ist, etwas ausgebessert zu bekommen,
es sei denn, daß man die Sache den umherziehenden italienischen
Flickern anvertraue, die vor der Hausthür die Stiefel flicken wie die
Kesselflicker bei uns die Töpfe.

Ein tüchtiger Handwerkerstand fehlt hier überhaupt noch fast ganz,
und vor allem wird man selten einen +brasilianischen+ Handwerker
finden; die wenigen, die vorhanden sind, sind meist Deutsche,
Portugiesen und Italiener. Dieser Mangel verteuert hier das Leben
sehr, insofern als man zwar die fertigen Sachen kaufen kann, aber
nicht die Möglichkeit hat, sie sich durch gelegentliches Ausbessern
oder Aufarbeiten zu erhalten. Ich meine, für fleißige Handwerker wäre
hier ein weit dankbareres Feld als für den einwandernden Landmann,
der Klima, Bodenverhältnisse, Absatzwege etc. nicht kennt, der
augenblicklich durch die Sklaven-Emancipation die ungünstigsten
Verhältnisse vorfindet, und dessen Auskommen schon durch die bereits
vorhandene Überproduktion des einen großen Export-Artikels, des
Kaffees, erschwert wird. Was der +Handwerker+ arbeitet, hat aber
stets seinen Markt, und fleißige, tüchtige Leute bringen es nach dieser
Richtung hin hier immer zu etwas.

Nur einmal habe ich in diesen Tagen Gelegenheit gehabt, den Mangel an
tüchtigen „erhaltenden“ Kräften zu preisen.

Cajus und Plinius besaßen nämlich jeder ein Velociped, ersterer sogar
ein ganz modernes Bicycle, das Herr Costa ihm aus England hatte kommen
lassen. Auf diesen unseligen Vehikeln brachten nun die Römerjünglinge
außer den Schulstunden ihr Dasein zu und entwickelten eine derartige
Anhänglichkeit an dieselben, daß sie sogar „vom hoh’n Velociped herab“
zu Mittag speisten. Da die Eltern gleichmütig dabei saßen, mochte ich
nicht wehren, aber meine Mahlzeiten wurden durch Plinio’s bedrohliche
dreirädrige Nachbarschaft entschieden in ihrer Gemütlichkeit nicht
gehoben; zumal waren die Momente beunruhigend, wenn er von kleinen
zerstreulichen Rundfahrten um den Tisch, die er in seinen Essenpausen
unternahm, auf seinen Platz zurückkehrte. Nachdem er denn auch richtig
einmal derartig in meinen Stuhl gefahren war, daß er mich fast mit
dem Gesicht in meinen Teller schickte, bekam er zwar eine Rüge, aber
das aufregende Vehikel blieb zu Rechtens bestehen. Jetzt ist aber das
abscheuliche Ding glücklich zerbrochen, und wärend ich hier unten in
meinem Zimmer schreibe, rollt doch wenigstens nur das große Zweirad
über meinem Kopfe herum, auf dem der Grache sich im Eßzimmer Bewegung
macht, da es draußen regnet. Es ist eine ordentliche Erlösung!

Ich erzählte es neulich Mr. Hall, und er sagte, sie hätten zwar unter
ihren Arbeitern einen, der es würde ausbessern können, doch wolle er
ihn zu Gunsten meiner Nerven „unterschlagen“, wenn er danach gefragt
würde. Das ist doch nett von ihm, nicht wahr, Gretele? Er heißt George
mit Vornamen; er gab mir neulich einen Brief von seiner Schwester an
ihn zu lesen, da habe ich es gesehen.

Aber nun schnell zum Schluß, denn da kommt Frl. Harras; sie kommt jeden
Montag zu mir, und Donnerstags gehen wir zusammen zu Fräulein Meyer...
da ist sie schon. Sie läßt „die Grete“ grüßen, von der ihr schon so
viel erzählt hat

    Deine +Ulla+.



[Illustration]



    Saõ Paulo, den 20. Juni 1882.

    +Mein Herzensgretele!+

Ich schreibe in einer Atmosphäre von Pulverdampf! Wirf nur einen Blick
auf das Datum oben, und Du wirst vielleicht von selbst darauf kommen,
warum. Es ist nämlich gestern wieder der Tag des Täufers gewesen,
(schon ein Jahr, seitdem ich Dir damals von Saõ Francisco aus schrieb!)
und hier in der Stadt merkt man erst so recht, was das in Brasilien
sagen will!

Schon seit einigen Tagen spukte der Heilige vor; jeden Abend wurde
gefeuerwerkelt, und selbst dem hellen Sonnenlichte prasselte man
lustig seine Raketen entgegen. An dem pomphaften Knall des Feuerwerks
und seinem momentanen Scheinen und Blenden scheint der Brasilianer
noch mehr Gefallen zu finden, als an seinem wässrigen Faschingssport,
wenigstens schmuggelt er die Sitte, Feuersport zu machen, eigentlich
durch das ganze Jahr hindurch, während er die Wasserfreuden doch auf
die Karnevalszeit beschränkt. In Rio de Janeiro ist es uns an schönen
Abenden öfters begegnet, daß wir aus dem Garten in das Haus flüchten
mußten, weil in der Nähe gesportet wurde und es dem brasilianischen
Feuerwerkler ganz gleichgültig ist, wohin er seine Rakete richtet, oder
wem seine Leuchtkugeln um den Kopf fliegen, wenn’s nur gut aufsprüht
und gehörig knattert und knistert. Auf dem Verkaufsstand jeder Negerin
in den Städten kannst Du das ganze Jahr hindurch einfacheres Feuerwerk
zum Verkauf ausliegen sehen, und jeder Muleque (Mulattenjunge mit der
Bedeutung unseres „Straßenjungen“) der ein paar ~reis~ sein eigen
nennt, kauft neben den beliebten Süßigkeiten und Papier-Cigaretten
gewiß sein Feuerwerkstengelchen oder seinen ~cracker~, um an dem
Gespritze und Geknattere sein Herz zu erfreuen.

Die letzte und vorletzte Nacht habe ich kein Auge geschlossen: in
allen Straßen, auf allen Höfen, in sämtlichen Gärten unsrer Umgebung
knisterte, knatterte, puffte, knallte und zischte es in einer solchen
Profusion und mit einer solchen Ausdauer, daß ich glaube, jetzt eine
ungefähre Vorstellung davon zu haben, wie sich’s anhören muß, wenn man
in einem heftigen Kleingewehrfeuer steht. Die ganze Stadt riecht nach
Pulver, und mein Schlafzimmer, das wieder so ein Alcoven ohne direkte
Lüftung ist, ist derartig solide eingeräuchert, daß ich wohl noch
mehrere Nächte nicht in die Gefahr kommen werde, den heiligen Johannes
zu vergessen.

Gestern war es geradezu gefährlich, die Straßen zu passieren. Am
frühen Morgen begann der Sport, bei dem natürlich die Studenten
die schlimmsten waren. Ein ganz besonderes Vergnügen fand man
daran, anscheinend harmlos einherzuschreiten und dann plötzlich dem
Begegnenden, zumal aber dem leicht erkannten Fremden, ein halbes
Dutzend Knallerbsen auf einmal vor die Füße zu prasseln oder ihm eines
der bekannten kleinen Handstengelchen von Sternfeuerwerk unter die Nase
zu halten. Früher waren die Krone des ganzen Feuersports sogenannte
Schlangen gewesen, die brennend auf der Erde umherkreisten, und die
man demgemäß ein ebenso kindisches wie frevelhaftes Vergnügen gefunden
hatte, weiblichen Personen gegen Füße und Kleider zu jagen. Der Spaß
dauerte so lange, bis einmal ein allzu geschickter Musensohn das
leichte Kattunkleid einer Mulattin in Feuer setzte, und diese selbst
erhebliche Brandwunden davontrug. Da fand man es denn freilich an der
Zeit, diesen Brunnen zuzudecken -- ein wenig spät, sintemalen das Kind
darin lag, doch muß man hier in Brasilien, scheint’s, in derlei Dingen
für alles dankbar sein.

Du kannst Dir denken, Gretele, daß die Antiken völlig außer Rand und
Band waren; mich wundert nur, daß sie uns nicht das Haus über’m Kopf
angezündet haben! Daß der Gracche sich das Haar versengt und Plinius
sich einen Finger gehörig angeschmort hat, gehört so sehr zu den
Selbstverständlichkeiten, daß ich es kaum zu erwähnen brauchte; selbst
Lavinia artete ein wenig aus und hat ein Kleid völlig mit Brandwunden
bedeckt.

Der gestrige Abend war der Feuerwerksabend ~par excellence~,
und Herr Costa forderte mich noch besonders feierlich auf, nach dem
Abendbrot oben zu bleiben, sie wollten „ein wenig Feuerwerk machen“.
Natürlich -- es war ja auch bis dahin noch zu wenig darin geschehen!

Erstaunlicherweise hatte sich die Polizei zu einer Verordnung
aufgerafft, daß an diesem Abend kein Feuerwerk in den Straßen oder
zu den Straßenfenstern hinaus abgebrannt werden dürfe, und was noch
mehr war, dem Verbote wurde nachgekommen! Ich glaubte daher in meiner
europäischen Einfalt, Herr Costa würde in dem Gärtchen, das hinter
dem Hause liegt und vom Eßzimmer zu übersehen ist, durch die Neger ein
hübsch geordnetes Feuerwerk aufführen lassen: mit bengalischem Licht,
kerzengraden Raketen, sanftglänzenden Leuchtkugeln und stralenden
Feuerrädern, wie wir uns daheim ein solches Schauspiel ungefähr
vorstellen würden. Bestärkt wurde ich in diesem Glauben durch die
Anwesenheit von 10-12 Gästen, und so trat ich denn erwartungsvoll
an eines der in die Höhe geschobenen Fenster heran. Aber Grete, ich
habe Pech mit den brasilianischen Lieblingssports, denn.... ßßßscht!
-- begrüßte es mich, und entsetzt prallte ich zurück vor den letzten
Sprühfunken einer mißleiteten Rakete, mit der ein geschickter
Verherrlicher des umknallten und umzischten Heiligen die Richtung
nach oben zu Gunsten unsrer Fenster verfehlt hatte. Mehrere Damen und
Kinder, die mit mir zugleich herangetreten waren, sprangen lachend und
kreischend zurück, ja, die ganze Sache erregte eigentlich geradezu
einen entzückten Jubel bei ihnen, so daß ich ganz verblüfft in meine
eigne innere Empörung blickte. Ist diese Gutmütigkeit richtig, sind wir
etwa daheim gar zu „discipliniert“?!

Nun begann aber unser Vergnügen auch, und zwar bestand es zu meiner
größten Enttäuschung darin, daß -- wir selbst uns Feuerwerk vormachen
sollten; die Brasilianer allerdings amüsiert das weit mehr als ein
ruhiges Zusehen, und die Jungen zappelten schon vor Ungeduld.

Herr Costa hatte eine Unmasse von Feuerwerk eigens für diesen Abend aus
Rio kommen lassen, das er nun auf das Freigiebigste verteilte. Lange
Rohre mit Sprühregen und englische ~crackers~ spielten dabei die
Hauptrolle; jeder bekam, so viel er wollte. Die vier Fenster des Raumes
waren dicht umdrängt, und aus jedem derselben ragten drei bis vier
solcher Sprühstöcke hervor, gehalten von braunen beringten Damenhänden
oder den ungeduldigen Fingern der kleinen wilden Rangen, die gewöhnlich
die noch unausgebrannten Rohre in den Hof hinunterwarfen, nur um
schleunigst ein neues oder etwas anderes ergreifen zu können. Nach
und nach füllte sich trotz der offenen Fenster das Zimmer mit dem
abscheulichsten Pulverdampf, den die Sprühstöcke wahrscheinlich nicht
bescheidentlich entwickelten, und den der Abendwind zu uns hereintrieb.

Die Scene hatte für den kaltblütigen Zuschauer etwas unendlich
Komisches: diese buntgekleideten, goldbehangenen Schönen mit den
qualmenden Stöcken in der Hand, die mit abgewandtem Gesicht und
zugekniffenen Augen den -- Rauch ihres Feuerwerks genossen, die
lärmenden, aufgeregten Jungen, die mit heißen Köpfen wie toll im
Zimmer umhersprangen und einen ~cracker~ nach dem andern zu
den Fenstern hinauswarfen, dem kein Mensch nachsah, so daß nur das
Zerplatzen auf dem Steinpflaster des Hofes von seiner Ankunft meldete,
dazu der unerschütterliche Ernst, mit dem der Hausherr sein Feuerwerk
verteilte, und das Ganze eingehüllt in eine dicke Atmosphäre von
Pulverdampf -- ich gestand mir, daß ich ein derartiges „Vergnügen“
noch nicht mitgemacht hatte. Nach einer Stunde war für sechzig Francs
Stoff verpufft, die ganze obere Etage des Hause für die Nacht und
den nächsten Tag verpestet und zwei fremde sowie ein antiker Finger
verbrannt, allein -- die Hinterthür des Hauses, die Waschleinen auf dem
Hof und der windschiefe Gartenzaun, hoffen wir’s, hatten sich amüsiert!

Plinio möchte seine verbrannte linke Hand zum Vorwand machen, um mit
der rechten nicht zu schreiben, und war höchlich aufgebracht, als mir
das nicht ebenso sehr wie ihm einleuchtete. Ach ja, Grete, schlimm
sind die Antiken, aber ich will Geduld haben; Mr. Hall meint auch, ich
solle nur auszuhalten versuchen. Aber was Bormann betrifft -- Du siehst
selbst, Grete, daß er auf brasilianische Kinder mit republikanischer
Erziehung nicht vorbereitet gewesen ist! Na, Kopf oben, er ist ja oben
gewachsen!

    Deine alte +Ulla+.



[Illustration]



    Saõ Paulo, den 28. Juni 1882.

Denke Dir, Grete, was für ein Schlag aus heiterm Himmel mich getroffen
hat! Ich muß fort aus Saõ Paulo! Das ist des Schicksals Rache für
meine Flucht aus dem Collegio! Nun werde ich wieder auf eine Pflanzung
wandern müssen und wieder allein sein und zwischen Schlangen und Negern
hausen!

Aber höre.

Ich schrieb Dir schon in meinem letzten Briefe, den Du wahrscheinlich
mit diesem zusammen erhalten wirst, daß die Römlinge ganz aus Rand
und Band gewesen seien in diesen Tagen des Feuersports; wie weit das
aber gegangen war, wußten wir selbst nicht. Sie müssen unbedingt „Max
und Moritz“ studiert haben, sie haben so viel in’s Brasilianische
übertragene Ähnlichkeit mit diesen Klassikern der dummen Streiche!
Was, denkst Du wohl, war ihr Hauptstreich am Sanct Johannestage? Sie
waren nach der Hauptstraße gelaufen und hatten den Pferden der Trambahn
Feuerwerk vor die Füße geworfen und Knallerbsen auf die Schienen
gelegt und sich dabei natürlich wie die jungen Teufel amüsiert, bis
sie schließlich ein Pferd zum Stürzen gebracht hatten, das denn auch
richtig ein Bein gebrochen. Gestern wurden sie nun von dem Direktor
der Trambahn bei ihrem Vater verklagt, dieser muß das Pferd bezahlen
und hat den Ärger gratis. Dieses vergnügliche Intermezzo hat den
Republikaner und Römervater aber doch so in Harnisch gebracht, daß
er seine Jungen sofort zu den Mönchen zur Erziehung schicken will;
Lavinia, für die allein eine Erzieherin zu halten ihm nicht lohnt, soll
in ein Collegio. Arme Lavinia! Aber auch arme Ulla, die nun wieder
wandern muß! Es gefiel mir hier sonst so gut in Saõ Paulo! Da kann ich
wirklich mit dem Trompeter seufzen:

    „All Jahr’ wächst eine andre Pflanz’
    Im Garten als vorher --
    Das Leben wär’ ein Narrentanz,
    Wenn’s nicht so ernsthaft wär’!“

Ach Grete, ich bin mit einem Male schrecklich mutlos geworden; ich
möchte immerfort weinen. Ich habe auch nichts wie Unglück! Mr. Hall,
dem ich es heute Abend erzählt -- ich ging zu Fräulein Meyer, weißt Du,
und er begegnete mir zufällig -- meinte auch ganz betroffen: „~It’s
too bad, yes, this is too bad!~“

Fräulein Meyer glaubt eine Stelle für mich zu wissen bei den Cousinen
ihrer eignen Zöglinge, aber das ist wieder auf dem Lande, und so muß
ich fort aus Saõ Paulo, das ich doch so sehr liebe! Ach Grete, ich sage
Dir, ich liebe Saõ Paulo schwärmerisch, ich werde unglücklich sein,
wenn ich fort bin, ganz elend! Das Leben ist doch recht schwer, Grete!

    Deine sehr betrübte +Ulla+.



[Illustration]



    Saõ Paulo, den 1. Juli 1882.

Ja, Gretel -- „sie muß auf’s Land“. Aber es ist glücklicherweise nicht
weit; nur zwei Stunden mit der Bahn von hier bis zur Station, zu der
die Pflanzung gehört. Das tröstet mich schon einigermaßen, da ist man
doch nicht ganz aus der Welt. Die Kinder, drei Mädchen, sollen auch
sehr gut geartet sein, und die Mutter, Dona Maria Louisa, ist als
liebenswürdig bekannt und hat eine große Vorliebe für alles Deutsche;
sie selber hat bereits deutsche Erzieherinnen gehabt, und den einzigen
Sohn lassen sie auch in Deutschland erziehen. Nur sagte man mir, daß
ich es äußerst primitiv auf der Pflanzung finden würde, die noch ganz
nach altem Landesstyl eingerichtet sein soll. Halb graut mir vor
diesem „Styl“, halb bin ich aber auch neugierig darauf, das echte,
brasilianische Landleben kennen zu lernen, von dem viele Hunderte, die
Brasilien besuchen, nie einen Begriff bekommen. In dieser Weise sind
wir Erzieherinnen im Vorteil gegen die Kaufleute und andere Europäer,
von denen die wenigsten je die Küstenplätze verlassen, sondern die
meisten nach zehn und zwanzig Jahren nach Europa zurückkehren, ohne das
Land oder das Leben der Brasilianer im geringsten zu kennen, während
wir, die wir direkt in den Familien leben, auf diese Weise ja alle
Chikanen mitmachen müssen.

Nun also, auf denn nach Saõ Sebastiaõ. ~Variatio delectat!~ Ich
schreibe bald, wie dieser neue Heilige sich anläßt.

    Deine getreue +Ulla+,
    „fahrende“ Lehrerin.



[Illustration]



    Saõ Sebastiaõ, den 11. Juli 1882.

    +Meine liebe Grete!+

Das ist wahr, Sanct Franziscus war entschieden der elegantere Heilige,
wir sind hier sehr ursprünglich -- und dennoch vertrage ich mich besser
mit dem heiligen Sebastian! Die Familie hier ist die liebenswürdigste,
die ich bisher unter den Einheimischen kennen gelernt, sie sind auch
in jeder Weise verständiger, ich möchte sagen europäischer (trotz der
Urzustände auf der Pflanzung) und nicht so schwerfällig und faul wie
die meisten ihrer Landsleute.

Zu dem „Europäischen“ rechne ich zunächst, daß Herr de Souza mich
selbst von der Bahn abholte. Die Brasilianer haben nämlich sonst so
wundersame Begriffe von dem, was sich schickt, daß sie es höchst
unpassend finden, wenn eine junge Erzieherin den Weg von der
Station nach der Pflanzung in der Gesellschaft des Vaters ihrer
Zöglinge zurücklegt, dagegen sehr angemessen, wenn dies allein mit
dem Negerkutscher oder zu Pferde mit einem freien Arbeiter, einem
sogenannten „~camarada~“, geschieht, wie man es neulich erst
von Saõ Paulo aus einer Collegin für einen 7stündigen Weg zugemutet
hatte! Herr de Souza war sogar sehr nett und unterhielt sich auch
mit mir, während sonst, nach Frl. Meyers drolliger Behauptung,
wir Europäerinnen es uns immer als eine Höflichkeit vonseiten der
brasilianischen Herren anrechnen müssen, wenn sie uns ignorieren.
Leider hat sie damit so ganz Unrecht nicht, und darum bin ich um so
froher, daß ich hier unter verständige Menschen geraten bin.

Wir legten den Weg von der Station nach der Pflanzung, der in der
heißen, nassen Jahreszeit nur zu reiten gewesen wäre, zu Wagen zurück
und fuhren fast fünf Stunden. Manchmal dachte ich, wir würden nicht
heil in Saõ Sebastiaõ ankommen, so wild ging’s die steilsten Abhänge
bergab und bergauf, durch riesige Pfützen und sonstige abnorme
Variationen eines „Weges“. Ich lernte hier einen gewaltigen Unterschied
kennen gegen die Provinz Rio oder speziell den Weg nach Saõ Francisco,
der fast so gut wie eine Chaussee war. Aber interessanter ist es doch
eigentlich hier, Grete; es hat mehr „Lokalfarbe“.

Wir passierten auf unserm Wege eine ganze Strecke Urwaldes, wo der
Weg ziemlich schlecht und eigentlich nur für ein Reittier berechnet
war; die Pflanzer der Gegend haben unendliche Mühe, sich solch einen
Weg offen zu halten, da er so leicht wieder zuwächst und dabei in
der nassen Jahreszeit nicht einmal gut zu bearbeiten ist. Wenn er
gebessert und frei gemacht werden soll, schickt jeder Fazendeiro, der
den Weg mit benutzt, eine Anzahl Sklaven nach der Station, von wo aus
dieselben alle mit einander zurück arbeiten; allmählich fallen dann
die einzelnen Parteien ab, entweder bei der betreffenden Pflanzung,
oder, wenn diese nicht unmittelbar am Wege liegt, da, wo derselbe dahin
abbiegt. Unsere Waldfahrt hatte wenig Ähnlichkeit mit einer solchen
durch heimische Buchenwälder oder Tannenforsten, da so ein Wald hier
ganz anders ausschaut als daheim. Von Ordnung oder Pflege ist nichts
zu entdecken, und hineingehen oder auch nur hindurchsehen kann man
auch nicht. Jene gewisse Feierlichkeit, die uns daheim so leicht in
stillem Waldesdom überkommt, darf man hier nicht suchen; das Ganze hat
mehr etwas Aufregendes, halb Phantastisches und Geheimnisvolles, halb
Beängstigendes und Beklemmendes; der Zauber des Urwaldes und was ihm
Reiz verleiht, ist eben ganz etwas anderes als der Eindruck, den unsere
Wälder machen. Du mußt nicht denken, daß die Bäume darin grade so sehr
dick und mächtig wären -- zuerst macht das Ganze sogar einen viel
weniger gewaltigen Eindruck als z. B. einer der großen holsteinischen
oder westfälischen Buchenwälder, und ich brachte das Vehmgericht s.
Z. einmal fürchterlich in Harnisch durch meine Behauptung, ich, ein
Forstmannskind, hätte in Brasilien noch keinen ordentlichen Wald
gesehen, denn diese langen, dünnen, den verschiedensten Holzarten
angehörenden Stämme, die in der ungleichsten Entfernung von einander
stehen, könne ich keinen Wald nennen. Man muß, wie ich jetzt sehe,
hindurchfahren oder reiten, um einen Eindruck zu haben. Dann sieht
man, was so recht den Urwald ausmacht, was aber auch wohl zugleich
verhindert, daß die einzelnen Stämme sehr umfangreich werden. Schier
undurchdringlich steht nämlich das Unterholz um dieselben herum, und
wer da eindringen wollte, müßte sich in der That seinen Weg Schritt
für Schritt mit der Axt in der Hand bahnen. Daß die Bäume nicht
dicht stehen, sieht man auch nur von weitem, wo die grauen, lang
hinausragenden Stämme mit ihrer spärlichen Kronen-Belaubung das Einzige
sind, was ins Auge fällt. In der Nähe sieht man, wie die einzelnen
Bäume einander näher gerückt sind oder doch scheinen durch märchenhaft
üppige, fünfzehn bis zwanzig Meter lange Lianen, die an ihren Stämmen
emporklettern und wieder herabhängen, ja die oft von einem Stamme
zum andern sich ranken, eine grüne, zitternde Wand bildend, aus der
seltsame, dunkellilla oder rot gefärbte Blumen großäugig herausschauen.

Ich kam weit zufriedener in Saõ Sebastiaõ an, als ich bei meinem
Abschied aus Saõ Paulo für möglich gehalten hätte, und wurde es noch
mehr, als ich Dona Maria Louisa und meine Schülerinnen sah. Erstere ist
zwar ebenso wenig eine Schönheit wie alle Brasilianerinnen, die ich
bisher gesehen habe, sie geht zwar auch in dem obligaten Kattunröckchen
und mit herabhängenden Zöpfen einher, aber sie hat etwas sehr
Liebenswürdiges und Frisches und hat die kleinen Mädchen gut erzogen.
Meine älteste Schülerin, Maricota, ist ein sehr liebes Geschöpf,
obgleich ihre große Schweigsamkeit ihr leicht etwas Moroses giebt, und
die beiden Kleinen sind so artig, daß mir zuerst ganz unheimlich dabei
wurde. Wir arbeiten sehr nett zusammen, wobei ich Maricota besonders
auf das Englische hinlenke, das ihr immerhin noch leichter wird als
Deutsch, und Du weißt ja, daß ich Englisch auch sehr liebe. Mr. Hall
fand auch immer, daß ich es sehr gut spräche -- er war auf der Bahn,
als ich abfuhr, was mir aber eigentlich gar nicht sehr angenehm war,
denn einzelne Kolleginnen haben mich schon viel mit ihm geneckt.

Aber zurück zu meinem Berichte von hier.

Es ist wahr, diese Pflanzung läßt sich mit Saõ Francisco nicht
vergleichen. Sie stammt noch von den Großeltern Herrn de Souzas und
ist lange Jahre von der Familie nicht bewohnt worden. Auch jetzt dient
sie ihnen gewissermaßen nur als Arbeitsstation, und man verwendet
keinen Luxus auf sie. Mein Zimmer ist bei all seinen Mängeln doch das
besteingerichtete im Hause, und das ist auch der Grund, weshalb ich
über nichts klagen will; ich sehe ja, daß die Familie selbst sich
noch weit mehr begnügt, und die Stube ist wenigstens luftig und hell.
Die ~salla de visita~ ist ein großer fünffenstriger Raum mit
weißgetünchten Wänden und ausmöblirt durch ein Rohrsopha, 12 Wiener
Stühle, eine Hängematte und eine Singer-Nähmaschine. Auch hier keine
Gardine am Fenster, kein Teppich auf den rohen Bohlen, kein Bild an
der Wand -- nur, und ich konstatiere das als eine höchst vorteilhafte
Ausnahme hier zu Lande, eine stets richtig gehende Uhr! Dona Maria
Louisa hält auf Pünktlichkeit und besonders, was sehr dankenswert ist,
auf Pünktlichkeit inbezug auf die Mahlzeiten, so daß nach denselben
immer noch ein Viertel- oder halbes Stündchen zur Erholung bleibt,
ehe der Unterricht wieder beginnt. Punkt neun Uhr Morgens und Punkt 3
Uhr Nachmittags finden wir uns in der „Veranda“ zum Frühstück, resp.
Mittagessen zusammen. Veranda nennen die Brasilianer, abweichend von
+unserm+ Begriff einer Veranda, immer das Eßzimmer, und die
unzähligen Thüren und Fenster, mit denen der Raum gewöhnlich gesegnet
ist, rechtfertigen ja auch einigermaßen diese Bezeichnung. Die
rustikale Veranda ist nun meistens noch dadurch ausgezeichnet, daß ihre
Außenthür zugleich Hinterthür des Hauses ist und unmittelbar ins Freie
führt, wodurch dieselbe alle Eigenschaften einer Berliner Hintertreppe
gewinnt. So ist es auch hier. Durch sie gehen die dienenden Neger und
Negerinnen hin und her; Wasser, Holz, Vorräte, Wäsche, alles wandert
dort in großen Kübeln und Körben auf den Köpfen der Schwarzen aus
und ein, und da der Raum meistens auch noch mit der Küche und häufig
sogar mit der Kammer der Negerinnen in directer Verbindung steht, so
wird auf diese Weise für die Hausfrau ein ähnlich bewundernswerter
Kontrolposten geschaffen, wie die Küche der holländischen Häuser ihn
bieten soll. Dona Maria Louisa übt nun aber auch, im Gegensatz zu
den meisten brasilianischen Hausfrauen, diese Kontrole wirklich aus;
sie ist überall und sieht den Negerinnen auf die Finger, sie bäckt
selber ausgezeichnetes Weißbrot, so daß ich glücklicherweise hier den
~biscoitos~ entrinne; sie macht selber Butter auf die mühsamste
Weise, indem sie die Sahne in einer Satte schlägt, bis sie zu Butter
geworden. Sie näht auch unermüdlich an der Singermaschine und fördert
Kleider und Wäsche für die Kinder, ja, Hemden und derbe Winterjacken
für die Hausneger, kurz, sie ist thätiger, als manche berühmte
„deutsche Hausfrau“ und unter schwierigeren Verhältnissen obendrein,
so daß sie mir wirklich imponiert und ich sie sehr gern habe. Sie hat
auch viel Humor und amusierte sich königlich über mein Entsetzen beim
Anblick der hiesigen Veranda, die allerdings noch ganz nach dem mir
bereits in Saõ Paulo avisierten „alten Styl“ sein muß. Ich will sie Dir
beschreiben.

Der sehr große, aber mehr lange als breite Raum ist weder plafoniert
noch gedielt. Der Fußboden ist zur einen Hälfte mit Backsteinen
ausgelegt, während die andere ungeniert den Lehmboden zeigt, auf
dem das Haus steht, das, wie alle brasilianischen Häuser, nicht
unterkellert ist. In diesem Lehmboden ist eine Feuerstelle, um die sich
an kalten Abenden die Familie sammelt, wie man bei uns im Winter am
Ofen zusammenrückt; natürlich ist bei dieser Einrichtung der Mangel
eines Plafonds nur wohlthuend, da kein anderer Abzug für den Rauch
vorhanden ist als der, den die Löcher und Ritzen in der Ziegeldeckung
über den Dachbalken gewähren.

An der einen Seite dieses wunderbaren Saales steht der Eßtisch,
wo gefrühstückt, Mittag gegessen und Abends beim Schein eines
Stearinlichtes Thee getrunken wird.

Gleich am ersten Abend bekam ich da von meinem Platze aus einen
Begriff von der vielseitigen Nützlichkeit dieser Veranda. Während wir
tranken, stand in der gegenüberliegenden Ecke des Raumes eine Negerin
und plättete Wäsche, was mir schon von vornherein für meine eigenen
Sachen ein gewisses Grauen einflößte, denn in jenem Winkel mußte es
erstens stockfinster sein, und dann bewegte sie auch sekundenlang das
Eisen garnicht, sondern starrte mit offenem Munde zu uns herüber;
man kann nur hoffen, daß es nicht sehr heiß war. Neben ihr knetete
eine zweite Brotteig aus Weizenmehl. Dies und die Uhr, sowie das
ungezwungenere Wesen der ganzen Familie hatte mir schon die größte
Befriedigung abgerungen, als mich ein neuer Anblick ganz und gar
entzückte. Du wirst Dir nicht denken können, was es ist, drum will ich
es lieber gleich sagen: es war ein stiefelputzender Mulattenjunge, der
in einer anderen abgelegenen Gegend dieses bewundernswerten Saales
etabliert war. Also Ausnahme Nummer drei: -- Nichtvorhandensein der
allgemeinen brasilianischen Aversion gegen Wichse! Die Zufriedenheit
mit meinem neuen Lose wuchs. Dieser kleine Mulatte -- er ist übrigens
zugleich Mittags der Fahnenjunge -- war urkomisch anzusehen. Das
einförmige, im langsamsten Tempo vollführte Wichsen mochte wohl eine
unüberwindlich einschläfernde Wirkung auf ihn ausüben, denn alle
Augenblicke stockte seine Thätigkeit, und er stand mit geschlossenen
Augen und gehobener Bürste, gegen die Wand gelehnt, bis ihn das Fallen
des Wichsinstrumentes oder ein aufscheuchendes „Nun, Ivo?“ der Hausfrau
wieder in eine schläfrige Bewegung setzte. Nach gethaner Arbeit mußte
er der Herrin die ganze Stiefelreihe an den Tisch bringen, wo die Dame
sie musterte und den schmutzigen kleinen Kerl dann in Gnaden entließ.
Nach einigen Augenblicken kam er jedoch wieder hereingelaufen und
meldete: „Cäsario bringt noch das Schwein, Senhora.“ „Mein Gott, wie
lästig, so spät!“ rief die Herrin -- „nun, dann hilft es nichts, er
komme, aber schnell!“ Herein zu der famosen Hinterthür kam „Cäsario“,
der ein kleines ausgenommenes Schwein auf dem Rücken trug, das er
auf einen ihm zurechtgerückten Tisch deponierte und dort zu zerlegen
begann. Wahrlich, diese Veranda war ein ~non plus ultra~ von
Vielseitigkeit, und ihre ausgedehnte Nutzbarmachung als Backstube,
Plättkammer, Wichskabinett und Schlachthaus erspart jedenfalls, was
man auch sonst davon denken mag, der Herrschaft manchen Schritt und
-- manches Scheltwort. Hier ist lange nicht so viel Geschrei wie in
Saõ Francisco, weil von vornherein mehr Kontrole ist und daher weniger
Fehler gemacht werden. Also der „alte Styl“ -- er lebe!

    Deine urwäldliche +Ulla+.



[Illustration]



    Saõ Sebastiaõ, den 19. Juli 1882.

    +Liebste Grete!+

Ich bin ganz glückselig -- mein längst gehegter Wunsch ist in Erfüllung
gegangen: ich +reite+ jetzt! Vor einigen Tagen hatte ich meinen
ersten und einzigsten Unterricht. Umständlich war er nicht. Dona Maria
Louisa lieh mir ihren Reitrock, bis für mich einer genäht sein wird,
und sagte dabei lächelnd: „~Mais ne tombez pas, mademoiselle.~“
Dann half mir Herr de Souza aufs Pferd und meinte schmunzelnd: „~Nao
caïa,[7] mademoiselle~“, und als ich oben saß, beschloß Maricota
diese ausgiebigen Anweisungen durch eine dritte Variation desselben
Themas: „~But don’t fall off, miss~“, rief sie von ihrem eigenen
Gaul herunter mir zu, und dann trabten wir drei los, Herr de Souza
voran und ich der größeren Sicherheit wegen in der Mitte. Da meine
Rosinante aber nach der Gewöhnung der hiesigen Pferde immer genau dem
vorangehenden Tier folgt, ich also mit dem Lenken nichts zu schaffen
hatte, so war das Festsitzen nicht so schwer, oder ich habe, wie Herr
de Souza meinte, das Talent zum Reiten mit auf die Welt gebracht.
Seitdem haben wir schon zweimal wieder kleine Ritte auf dem Gebiete
der Pflanzung unternommen, und ich komme jetzt auch schon ohne einen
geehrten Vorreiter zurecht. Müssen doch manche Kolleginnen, frisch
wie sie aus Europa kommen, an der Station aufs Pferd und stundenweit
bis an ihren Bestimmungsort reiten! Die Damensättel kommen vielfach
aus England und Nordamerika, doch hat man auch hiesige, während in
Herrensätteln meist einheimische Arbeit genommen wird, die allerdings
auch in diesem Fache ausgezeichnet ausfällt.

Sehr drollig ist es zu sehen, wie die Schwarzen die Pferde einfangen,
wenn wir ausreiten wollen. Ställe giebt es hier nämlich nicht,
weder für das Rindvieh noch die Schweine, noch auch für die Pferde;
diese werden auch weiter nicht gepflegt, als daß sie ab und zu zum
Salzfressen herangetrieben werden. Im Übrigen laufen sie frei umher und
fressen, was sie an Gras und Kräutern finden, was manchmal recht wenig
ist, da auch nach dieser Richtung hin nichts für das Land geschieht,
und man z. B. keine ordentliche Wiese hier sieht. Sollen nun Pferde
gebraucht werden, so jagt ein Bursche so viel Tiere als der Zufall ihn
erreichen läßt, in den inneren Hof; dort greift man die, die man haben
will, heraus und läßt die anderen wieder laufen. Diese Freiheit, in
der die Haustiere hier leben, ist ja an sich recht schön, aber fett
werden sie nicht dabei, und in den jetzigen kalten Nächten, die hier im
Hochland manchmal recht sehr frisch sind, erfriert manch ein armes Tier
im Walde, besonders von den Jungen. Wie viel Vieh sie besitzen, wissen
Souzas garnicht, eine Kontrole ist darin schwer möglich, die Kühe
kalben im Walde und kommen dann eines schönen Tages mit den Kälbern an.
Natürlich herrscht auch auf diese Weise absolut keine Regelmäßigkeit
in der Milchgewinnung; gewöhnlich kommen allerdings die Kühe zum Melken
herein, wenn es aber sehr kalt ist, bleiben sie im Walde, und dann
meldet Cäsario einfach: „Heut’ giebt’s keine Milch, Senhora, ’s ist
keine Kuh hereingekommen.“ Es ist eben alles urwüchsig unter der Ägide
des heiligen Sebastian.

Am besten haben es die kleinen schwarzen Schweine, die sich hier
beängstigend vermehren, von denen aber allerdings auch fast jeden Tag
eines daran glauben muß, da die Pflanzung viel verbraucht.

Sklaven sind hier fast gar keine, da sowohl Herr de Souza wie Dona
Maria Louisa die Sklavenwirtschaft nicht lieben; man hat nur wenige
Schwarze hier für den unmittelbaren Hausdienst, und die Außenarbeit
wird von freien Arbeitern gethan. Alle übrigen Sklaven, die die
Familie besitzt, arbeiten auf einer zweiten Pflanzung, Saõ Luiz, unter
einem portugiesischen Administrator, und Herr de Souza reitet nur
alle 2-3 Wochen einmal die 9 Stunden hin und zurück, um alles dort zu
inspizieren. Saõ Luiz ist Kaffeeplantage, während wir hier Zucker und
Baumwolle haben und vor allem eine Holzschneidemühle, was ja alles
weniger Arbeitskräfte verlangt als die Kaffeekultur.

Ich glaube, es ist ganz klug von den Brasilianern, sich allmählich
auf den „~camarada~“ einzuarbeiten: +leicht+ ist es aber
+nicht+, das sehe ich hier: ich würde mich über solche Menschen
zu Tode ärgern! Die „~camaradas~“ sind Brasilianer, vielfach
Halbindiauer, Caboclos genannt, oder auch ganz verarmte Nachkommen
der eingewanderten Portugiesen, bettelhaft armes und zerlumptes Volk,
in ihrem Aussehen weit elender als die Sklaven, aber -- sie sind
+frei+ in einem Sklavenlande! Was sie daraufhin für einen Hochmut
entwickeln und für Ansprüche machen, das ist unglaublich! Dabei
arbeiten sie natürlich höchstens halb so viel wie ein Sklave. Unseren
deutschen Gutsbesitzern würden die Haare zu Berge stehen, wenn sie mit
solchen Menschen zu thun hätten! Als die jetzt hier vorhandenen hier
ankamen, hat Herr de Souza ihnen erst alles Material zu ihren Hütten
gegeben und die eigenen Leute beim Bau derselben helfen lassen. Dann
bekam jede Familie eine Summe Geldes vorgestreckt, um davon zu leben,
bis das eigene Bohnen- und Maisfeld Erträge lieferte. Natürlich sollte
dies allmählich wieder vom Lohn abgezogen werden. Nun aber „kaufen“
diese Menschen, nachdem sie das Geld verbraucht, alle ihre Bedürfnisse
hier im Hause, d. h. sie entnehmen Speck, Mehl, Kaffee, Mais und Zucker
in unbescheidenen Mengen und verheißen, auch dies wieder abzuarbeiten.
Da sie jedoch häufig garnicht zur Arbeit kommen und gewöhnlich eine
große Familie haben, die viel verbraucht, so werden ihre Schulden nicht
kleiner, sondern größer. Herr de Souza behauptet, er könne da wenig
thun; weigere er ihnen die Lebensmittel, so zögen sie ab, und wenn er
auch einen Contrakt mit ihnen habe, so nütze ihm der doch garnichts; da
sie nichts haben, könne man ihnen nichts nehmen, und zur Arbeit zwingen
könne man sie auch nicht. So läßt er alles dies gehen, so gut es will,
und nimmt so viel Arbeitsleistung mit, als er kriegen kann; wird es ihm
dann zu bunt, so jagt er die Leute fort; die vorige Serie hat er mit
2000 Mark Schaden zum Kuckuck geschickt. Wenn man diese Verhältnisse
mit ansieht, kann man sich wahrlich nicht wundern, wenn der größere
Pflanzer sich mit Händen und Füßen gegen die Aufhebung der Sklaverei
sträubt. Woher soll er denn seine Arbeiter nehmen! Die freigewordenen
Neger bleiben nicht auf den Pflanzungen, so wenig wie sie das in andern
früheren Sklavenstaaten gethan haben, und europäische Arbeiter sind
ihnen oft zu teuer oder zu unbequem. Portugiesen und Italiener suchen
nur viel Geld zu verdienen, um dann mit einer kleinen Wohlhabenheit
in die Heimat zurückkehren zu können, und Deutsche streben nach dem
selbständigen Erwerb von Grund und Boden. Die Arbeiterfrage ist hier
wie bei uns eine ganz böse, nur daß es dort zu viele giebt und hier
eigentlich keine.

Ich spreche viel über diese Zustände mit Herrn de Souza und Dona Maria
Louisa, die, wie mir scheint, sehr verständige Ansichten darüber
haben. Sie selbst verwerfen die Sklaverei im Prinzip und wünschen,
daß sie aufhöre, aber sie haben auch ein offenes Auge für die Gefahr,
die dem Lande dadurch zunächst insofern droht, als viele seiner
wohlhabenden Grundbesitzer durch die Emancipation ruiniert werden oder
doch verarmen, und zwar gestaltet sich die Sache um so schwieriger, je
entfernter die betreffende Pflanzung von den Küstenplätzen gelegen ist,
welche die Einwanderer zuerst bekommen. So kann man sich einerseits
nicht wundern, wenn der Brasilianer die fremden Gäste nur als Ersatz
für die Sklaven wünscht, anderseits kann es aber allerdings nicht der
Zweck sein für unsere nach Brasilien auswandernden Landsleute, sich
hier wiederum in Abhängigkeit zu begeben und sich als Knechte einer
fremden Nation zu verdingen. Wer dem Lande seine und seiner Nachkommen
Arbeit zuwendet, der beansprucht Selbständigkeit und eigenen Anteil
an eben diesem Lande, und das mit Recht. Die Brasilianer sollten
sich +in ihrem eigenen Volke+ einen Arbeiterstand heranziehen,
den sie so wenig wie einen Handwerkerstand bis jetzt haben, und sie
könnten dies mit einem wenigstens teilweisen Erfolg thun, wenn sie die
freien Negerkinder an eine regelmäßige Arbeit zu gewöhnen suchten. Es
geschieht aber gerade das Gegenteil.

Das Emancipationsgesetz vom 28. September 1871 befiehlt u. a. auch
jedem Sklavenbesitzer, diese Kinder im Lesen und Schreiben unterrichten
zu lassen, aber es giebt wahrscheinlich im ganzen Kaiserreiche keine
zehn Häuser, wo diesem Gesetze nachgekommen wird. Auf den Pflanzungen
ist seine Befolgung auch eigentlich unmöglich. Hier im Innern giebt es
ja keine Dorfschulmeister wie bei uns, und wenn es sie gäbe -- soll
der Fazendeiro denn etwa jeden Tag zwischen 20 und 50 Tiere satteln
lassen, um die kleinen Neger in das nächste, gewöhnlich sehr entfernte
Städtchen zu schicken, oder soll er einen besonderen Erzieher für
die kleine Bande halten? Man mag diese Fragen beantworten, wie man
will -- jedenfalls thut hier niemand dergleichen, und so wächst das
freigeborene Sklavenkind vollständig ohne Erziehung und Unterricht auf
und wird demgemäß dereinst mit den Wilden auf gleicher Stufe stehen,
denn es hat nicht einmal den Vorteil, daß ihn die Herrschaft dies und
jenes an körperlicher Arbeit erlernen läßt, wie es beim Sklaven geschah
-- sie sind ja frei, warum soll man sich zu Gunsten Anderer Mühe und
Kosten machen, man hat ja nichts davon.

Wunderbarerweise denken auch Herr de Souza und Dona Maria Louisa
ebenso, die doch sonst sehr human und auch klug sind. Ob man denn gar
nicht bedenkt, daß man auf diese Weise eine Generation von „Mitbürgern“
für die eigenen Kinder heranwachsen läßt, wie sie schlimmer nicht
gedacht werden kann?!

Aber ich merke, daß ich schon wieder predige und Dich mit einer
vollständigen national-ökonomischen Abhandlung beglückt habe.
Du glaubst aber auch nicht, wie sehr sich einem hier alle diese
Verhältnisse aufdrängen, und wie sie fast ausschließlich Gesprächsthema
sind -- da wird selbst die harmloseste Seele zum Socialpolitiker.

Und nun kann ich diesem Briefe auch nicht einmal mehr ein leichteres
Anhängsel verleihen, damit Du nicht allzu sehr unter dem Eindrucke
dieses sozialen Vortrages bleibst, denn da erscheint eben der
Zimmermann, der hier gearbeitet hat und heute Abend wieder zur Stadt
zurückkehrt, und der aus Gefälligkeit unsere Postsachen mitnimmt. Denn
Herr de Souza schickt nur des Donnerstags zur Post -- ich bin richtig
ganz und gar in den „alten Styl“ hineingeraten.

Also ein Lebewohl für heute und nächstens mehr von

    Deiner +Ulla+.


  [7] Fallen Sie nicht!



[Illustration]



    Saõ Sebastiaõ, den 28. Juli 1882.

    +Liebste, beste Grete!+

Denke Dir meine Freude, hier ist eine Pflanzung ganz in der Nähe, die
amerikanischen Ansiedlern gehört, also ganz zivilisierten Menschen!
Niemand hatte mir davon erzählt, bis sie uns heute besuchten -- man
wußte ja nicht, wieviel mir das wert sein konnte! Ach, Grete, so
nett diese Souzas auch sind, fremd bleiben die Brasilianer einem
doch, fremder sogar als alle anderen Fremden hier, die schon ein
gewisses Gefühl der Zusammengehörigkeit als Gäste auf hiesigen Boden
zusammenzieht. Zudem ist mir doch immer das ganze Wesen und Sein
germanischer Volksstämme weit sympathischer als diese Romanen; schon
beim Klange der englischen Sprache atmete ich auf, ganz abgesehen
davon, daß Mr. Quimby und seine Schwägerin wirklich sehr liebenswürdig
und nett waren. Mrs. Quimby war zu Hause geblieben bei den kleinen
Kindern, während das älteste zwölfjährige Mädchen schon flott
mitgeritten war. Es war am vorigen Sonnabend, als sie kamen und --
„Wollen Sie morgen mit uns zur Kirche?“ fragten sie mich plötzlich.

„Zur Kirche?“ wiederholte ich erstaunt -- „wo?“

„O, hat man Ihnen noch nicht von unserer Kirche erzählt? Nun, ein
Prachtgebäude ist sie freilich nicht, aber wir können doch so jeden
dritten Sonntag im Monat unseren Gottesdienst haben. Kommen Sie mit und
übernachten Sie bei uns, wir reiten dann morgen alle zusammen hin, wenn
Sie wollen.“

Ob ich wollte! Natürlich wollte ich. Schnell war ein Pferd gesattelt,
und vergnügt galloppierten wir die zwei Meilen bis zu Mr. Quimbys
Pflanzung zurück. Ich „galloppiere“ nämlich jetzt auch schon flottweg,
und Mr. Quimby schmeichelte meiner empfänglichsten Schwäche, als er
meinte: „~You look as if you’d been born and bred on your horse.~“
Mrs. Quimby empfing mich herzlich wie einen erwarteten Gast, und in den
Hängematten sitzend, verbrachten wir plaudernd den Rest des Abends.

Am andern Morgen um 9 Uhr brach eine ganze kleine Kavalkade zur Kirche
auf, denn noch einige Damen und Herren aus der Umgegend schlossen sich
uns an.

Solange der Weg auf dem Terrain der Pflanzung lag, war er nicht gar zu
schlecht, obgleich Du Dir unter dem Worte „Weg“ auch nichts weiter als
einen grade für +ein+ Pferd hinreichenden Pfad vorstellen darfst,
dann aber wurde er stellenweise so schlecht, daß man bei uns wohl
überhaupt davon abgestanden wäre, ihn zu passieren. Aber brasilianische
Pferde sind nicht verwöhnt; obgleich unbeschlagen, gehen sie sehr
sicher ihren Weg, und man kann es ihnen bei schwierigen Stellen getrost
selbst überlassen, sich denselben auszusuchen.

Recht seltsam malerisch nahm sich unsere kleine Gesellschaft aus: die
hellen Kleider und Hüte der Damen, die weißen Staubmäntel der Herren,
und die großen, meist auch weißen Sonnenschirme -- alles hellglänzend
beschienen von einer bereits recht brennend werdenden Sonne, und hin
und wieder verschwindend und wieder auftauchend zwischen den mannshohen
Farren, die die Pferde durchschnitten, einmal sogar sich spiegelnd in
einer großen, einem See gleichenden Lache, wo die Tiere bis an den
Bauch im Wasser gingen.

Ich war noch nie um diese Tageszeit geritten, da wir auf Saõ Sebastiaõ
immer den frühen Morgen oder den späten Abend wählen, daher empfand ich
die Sonne doch ziemlich unangenehm; der Weg zeigte unglücklicherweise,
so weit das Auge reichte, nicht einen einzigen Baum, einzelne lange
Palmen abgerechnet, deren graziöse, doch spärlich bewachsene Kronen
aber keine Kühlung schufen und keinen Schatten auf den Boden warfen.
Da habe ich denn doch gesehen, welche Erschlaffung einen doch nach nur
dreistündigem Ritt in der Tropensonne befallen kann; die Hitze der Luft
wäre ja noch zu ertragen, aber das unmittelbare Einwirken der Sonne ist
das Schlimme! Es schien auch allen mehr oder weniger zu gehen wie mir,
denn unsere Unterhaltung wurde immer einsilbiger und war zuletzt ganz
verstummt. Da zeigte sich bei einer Biegung des Weges plötzlich ein
langes, strohbedecktes Lehmgebäude.

„Wer kann sich denn hier auf der Roça (das ungerodete Feld) eine
Scheune gebaut haben, so abgelegen von allen Pflanzungen?“ äußerte ich
erstaunt.

„Das ist die Kirche“, sagte Mr. Quimby mit halbem Lächeln und bog
zugleich in einen kleinen Seitenweg ein, dem Gebäude zu.

Mein Erstaunen war fast Entsetzen -- +dies+ eine Kirche, diese
Scheune mit den durchlöcherten Lehmwänden, dem Strohdach, den
Fensterluken ohne Rahmen, geschweige denn mit Fenstern! Aber ich
konnte nicht länger zweifeln: unsere Gesellschaft ritt auf, die Herren
sprangen von den Pferden, halfen uns von den unsrigen und befestigten
die Tiere an einigen Bäumen neben dem Gebäude. Jetzt bemerkte ich auch
eine Anzahl anderer Pferde und Maultiere, die rings umher standen,
sowie deren Reiter und Reiterinnen, welche hie und da im Schatten oder
bereits in der „Kirche“ saßen, und die nun Mr. Quimby und seine Familie
zu begrüßen kamen. „~How do you do?~“ erklang es von allen Seiten,
dazwischen vielfach das gemütliche „~How d’ye?~“ der Südstaaten,
und dann wurden solche Neuigkeiten ausgetauscht, wie sie sich seit
dem letzten „dritten Sonntag im Monat“ in dieser Zurückgezogenheit
ereignet hatten. Ein Trunk aus der nahen Quelle erfrischte in etwas
die erschlafften Lebensgeister, und dann traten wir in das Gebäude
ein, wo wir, nachdem wir die Bänke mit einem dazu vorhandenen Besen
abgefegt, dankbar für eine Weile der kühlen Stille genossen, während
sich allmählich 50 bis 60 Personen ansammelten, fast ohne Ausnahme von
ihren Pflanzungen oder der Kolonie Santa Barbara kommende Amerikaner.

Durch ein großes Loch in der Lehmwand neben mir beobachtete ich
die Scene draußen, wie sie sich immer bunter gestaltete durch neu
aufreitende Personen, ihre Pferde und Maulesel, die rings umher
grasten, und durch die bunten, in die Bäume gehängten Reitröcke der
Damen. So hatte ich noch nie in einer Kirche gesessen, dachte ich, als
hinter mir eine junge Mutter vergeblich ihren jüngsten schreienden
Sprößling zu beruhigen suchte, dem der Ritt wohl nicht behagt haben
mochte, und dann ein altes, weißhaariges Mütterchen sich neben mir
niederließ, die ich eben durch meine Wand angestaunt hatte, wie sie so
munter auf ihrem Maulesel herangetrabt war.

Nach einer Weile kam der Prediger, und der Gottesdienst begann. Ein
noch junger Mann ohne Talar oder sonstiges geistliches Abzeichen
trat mit großer Einfachheit vor den hölzernen Altar (eine Kanzel war
natürlich nicht vorhanden) und, nur ein Testament in der Hand, hielt
er eine sehr durchdachte, wirklich schöne Predigt über Christi Antwort
auf die Frage des Täufers: „Bist Du, der da kommen soll, oder sollen
wir eines Anderen warten?“ Grete, da konnte man fromm werden. Es war
tief ergreifend, die Bibelworte, die wir Zivilisationsmenschen gewohnt
werden, mit der Katechismusstunde oder den geheiligten Hallen unserer
Kirchen zu verbinden und sie gewissermaßen unwillkürlich dahin zu
bannen, diese Bibelworte dort in jener Lehmhütte, in der tropischen
Umgebung und so wenig unterstützt durch äußere Heiligungs-Hülfsmittel
erklingen zu hören. Und sie klangen nicht anders als daheim, nicht
weniger ernst oder feierlich als in geschmückten Kathedralen, unter
herrlich ragenden Säulen und hinter bunten Fahnen. Ich war lange nicht
in einer Kirche gewesen, aber ich bezweifle, ob die glanzvollste Messe
in Sankt Peters Dom auf mich auch nur nahezu den Eindruck gemacht
hätte, wie unser einfacher evangelischer Gottesdienst in der Lehmhütte,
auf diesem verlorenen Posten im Innern Brasiliens. Der Gedanke von
der Allgegenwart des Christengottes und die Predigt: „Gott wohnet
nicht in Tempeln von Menschenhänden gemacht“, drängte sich dort mit
einer gewaltigen Unmittelbarheit und einer gewissen rührenden Größe
sicherlich auch denen auf, die einen solchen Eindruck nicht suchten.

Die drückende Hitze hatte nach und nach etwas nachgelassen, ein
leichter Wind machte sich auf und plötzlich sah ich durch mein Wandloch
einzelne große Regentropfen herabfallen.... O weh, die Sättel! Rasch
wurde der Regen stärker, so daß nichts übrig blieb, als Sättel und
Reitkleider hereinzuholen in die Kirche, wollte man sich nicht einen
höchst unangenehmen Heimweg schaffen. Gegen 60 Sättel und einige 30
Reitkleider fanden in einem Winkel der Kirche ein Unterkommen, und
lächelnd mußte ich daran denken, wie sich, was hier ganz natürlich
erschien, wohl in einer europäischen Kirche oder Kapelle ausnehmen
würde.

Plötzlich, wie er gekommen, hörte aber der Regen wieder auf, und als
der Gottesdienst beendet war und man einander Lebewohl gesagt hatte für
einen Monat, konnten die Sättel wieder aufgelegt werden.

Mit weit besserem Humor gings nun in der kühleren, staubfreien Luft
heimwärts, und abends brachten mich Mr. Quimby und seine Schwägerin
wieder nach Saõ Sebastiaõ zurück, versprechend, mich bald wieder einmal
abzuholen.

Aber da ruft die alte dicke Anna an meiner Thür: „~Chà, Senhora~“
-- ich schließe. Schreibe bald

    Deiner feschen Amazone +Ulla+.



[Illustration]



    Saõ Sebastiaõ, den 5. August 1882.

    +Herzensgretele!+

Dieser Brief wird wohl etwas zerfahren ausfallen, denn ich schreibe bei
dem Gebell von 37 Hunden. Hier ist nämlich seit gestern Treibjagd, und
Herr de Souza hat dazu 6 Herren eingeladen, von denen jeder ein Pferd
oder zwei und so viel Hunde mitgebracht hat, als er besitzt; denn die
Jagd ist um so viel schöner und forscher, je größer die Meute ist.
Gestern sah ich den Zug oben am Walde vorbeirasen, ein Rehbock voraus
-- es sah ganz gut aus und ist jedenfalls eine Art zu jagen, wie sie
für dies Land paßt. Aber von der Beute hat man nichts. Zwei erlegte
Tiere hängen seit gestern an der Wand des Geschirrhauses, und als ich
Dona Maria Louisa fragte, wann sie denn als Braten auf den Tisch kommen
würden, lächelte sie und meinte, Rehe seien doch für Menschen nicht
eßbar, die bekämen die Hunde! Mein Haar wollte sich schon wieder mal
aufrichten, als ich mich noch zur rechten Zeit erinnerte, daß mir Herr
Schaumann in der That einmal gesagt hatte, das Rotwild hier habe eine
zu große Strenge, als daß es für Menschen genießbar sei. So essen wir
denn unser ~carne de porco~ frisch und fröhlich weiter, obgleich
ich sagen muß, daß Dona Maria Louisa alles thut, um Abwechslung in
das Essen zu bringen; wir haben schon alles mögliche Getier gegessen,
sogar einmal Gürteltier, das aber ganz gut, etwa wie zartes Kalbfleisch
oder Huhn schmeckte. Der Panzer dieses Tropenbewohners prangt als
Dekorationsstück in meinem Zimmer; wenn er eben abgezogen ist, ist er
ganz weich und läßt sich in jede Form biegen, die man ihm geben will,
und in welcher er dann beim Eintrockenen völlig verhärtet und beharrt.
Überhaupt sammle ich an Merkwürdigkeiten, was ich bekommen kann,
obgleich dies weit schwerer ist, als man es bei uns gemeiniglich denkt.
Wir stellten uns die Sache doch ungefähr so vor, als raffte man hier
die Indianerpfeile und andere wunderbare Dinge nur so nebenher am Wege
zusammen, und ich sehe jetzt, daß die Sachen hier sehr teuer sind und
schwer zu bekommen. Ich begnüge mich also mit einem sehr bescheidenen
Naturalienkabinett eigener Sammlung. Die Neger bringen mir alles an,
was sie draußen Merkwürdiges finden, und strahlen förmlich, wenn ich
mich darüber freue; sie nennen mich „~a professora que gosta dos
bixos feios~“ (die Gouvernante, die die häßlichen Tiere liebt),
und fast jeden Tag finde ich auf meinem Fensterbrett irgend einen
Käfer oder eine Raupe oder eine merkwürdige Pflanze aufgebaut. Eine
Schlange, und zwar eine hübsche Korallenschlange, habe ich mir auch
schon „eingemacht.“ Besonders aber habe ich eine Sammlung von reizenden
Nestern, worunter entzückende Kolibrinester verschiedener Sorten und
ein höchst merkwürdiges, mächtig großes Nest von Lehm, das sich ein
mittelgroßer Vogel baut, den sie nach seiner Wohnung ~Joaõ de
barro~ d. h. Lehmjohann nennen. Das Lehmnest ist noch etwas größer,
als ein Menschenkopf und der Eingang so sinnreich seitwärts gearbeitet,
daß es absolut nicht hinein regnen kann; inwendig befindet sich dann
erst das eigentliche weiche Nestchen. -- Meine letzte Errungenschaft
ist ein Fischotternfell und das allerliebste Fell eines schwarzen
Affen, den ein ~camarada~ hier neulich auf der Pflanzung getötet
hat; und gestern brachte mir Maricota, die immer sehr lieb und gut
ist, eine sehr nette Sammlung von 21 Holzarten, die sie sammeln und
zu zierlichen gleichmäßigen Proben hatte zuschneiden lassen. Mit Holz
verschwenden sie übrigens hier in Saõ Sebastiaõ nach unseren Begriffen
fürchterlich; so ist z. B. meine Kommode, ein schweres, ungeschickt
gearbeitetes Ding, ganz aus Cedernholz gemacht, und auch die plumpen
Möbel im Schulzimmer bestehen aus dem kostbarsten Holzmaterial,
wiederum ein Beispiel von den vielen Mißverhältnissen hier zu Lande an
Verschwendung auf der einen Seite und Unzulänglichkeit auf der anderen.

+Abends.+ Gretele, ich bin ganz außer mir vor Freude -- vorhin
unterbrach mich Maricota mit der entzückenden Nachricht, daß wir in
etwa 8 Tagen nach Santos an die See gehen, um dort 5-6 Wochen Bäder zu
nehmen! So bald soll ich mein geliebtes Saõ Paulo schon wiedersehen!
Denn dahin müssen wir zuerst. Wir bleiben dort 1-2 Tage bei Dona Maria
Louisas Eltern und fahren dann über die Serra nach Santos, dem großen
Kaffeehafen der Provinz Saõ Paulo. Dort werden wir an der „Barra“, d.
h. am Strande außerhalb der Stadt und vor dem Hafen wohnen in einem
Hause, das der ganzen Familie gemeinschaftlich gehört und immer von
denen benutzt wird, die es gerade für die Bäder brauchen.

Adieu, adieu, ich muß schnell an Fräulein Meyer schreiben, die
augenblicklich auch mit der Familie in Santos ist; sie wird sich
freuen, Gesellschaft zu bekommen.

    Deine glückliche +Ulla+.



[Illustration]



    Santos, den 20. August 1882.

    +Meine liebe, gute Grete!+

Ich sage Dir, dies Haus ist furchtbar poetisch -- verzeih’, ich muß
erst diese Wespe vertreiben... also, was ich sagen wollte: das reine
Idyll! Draußen rauschen und branden die Wogen -- Donner und Doria, das
ist heute die fünfte handgroße Spinne! -- und die Sonne funkelt darauf
und macht sie -- schon wieder eine Fliege im Tintefaß? -- glitzern wie
Silber. Der Garten ist ein wenig vernachlässigt, aber gerade darum um
so roma... na, da sehe ich eben, daß mir die Baraten auch meine neue
Schreibmappe schon angefressen haben! -- romantischer. Reizend ist
es, wenn wir die Schiffe so von weitem hereinkommen sehen -- o diese
Mosquiten, verzeih den Klex -- und die vorhandenen Operngläser wandern,
wenn ein großes Fahrzeug in Sicht ist, auch immer sofort heraus, um
die Nationalität zu bestimmen. -- Ach, ich Ärmste, da wimmelt’s auf
dem Tisch vor mir von Ameisen! Warum habe ich auch den Zucker stehen
lassen! Nun heißt’s erst Pause und Ameisenjagd...

Später. Du siehst, mein Gretele, daß hier die Poesie mit
Schwierigkeiten verknüpft ist, das Ganze hier ist eine Idylle mit
Hindernissen. Diese Chakara (so nennen sie hier derartige Gebäude,
die halb Villa, mehr Landhaus sind) ist jedenfalls früher einmal für
menschliche Bewohnungszwecke gebaut worden, doch haben anscheinend
seit längerer Zeit Baraten, Spinnen, Eidechsen und Ameisen sich hier
derartig häuslich und unbehelligt einrichten können, daß es ihnen
nicht zu verdenken ist, wenn sie jetzt uns gegenüber den Standpunkt
unbedingter Herrschaft nur schwer und sehr allmälig aufgeben.

Meine erste Nacht hier war nichts wie ein einziger „Kampf mit dem
Insekt“, aber seitdem ich dann alle meine Mußestunden auf Grübeln
über die besten Verteidigungsmittel verwendet habe, kommt es mir
vor, als finge ich doch allmälig wieder an, diesen herrschsüchtigen
Mitgeschöpfen gegenüber den richtigen Standpunkt als Mensch zu
gewinnen. Mein Bett steht in der Mitte des Zimmers, wie ich überhaupt
kein Möbel an die Wand gerückt habe; diese gebe ich „dem Insekt“ frei.
Unter +Möbeln+ verstehe ich den Waschständer, einen Tisch, einen
Stuhl und meinen Koffer. Letzterer dient als Kommode und überhaupt
als Aufbewahrungsort für all mein Besitztum außer den Kleidern.
Diese habe ich, nachdem ich eine breite alte Gardine untergenagelt,
malerisch an der Wand gruppiert und sie mit einem Bettlaken verhangen,
doch benutze ich sie auch nach diesen Vorsichtsmaßregeln immer nur
wie solche Medizinen, die das Etiquette tragen: „Vor dem Gebrauch zu
schütteln“, und die Anhäufung einer kleinen Insektensammlung auf dem
Fußboden bei solcher Prozedur lehrt, wie weise ich daran thue. Bei
meinem Waschständer habe ich, seitdem er den Wänden fern, wenigstens
die Befriedigung, jetzt meine Seife allein zu verbrauchen und sie
nicht des Morgens halb von den Baraten genossen zu finden, die sie
als ganz besondere Delikatesse zu betrachten schienen. Das meiste
Nachdenken kostete es mich, mein Bett unter möglichst günstige
Insekten-Verhältnisse zu bringen. Die erste Nacht stand es an der Wand
zum größten Gaudium der heimischen Spinnen, Baraten, Eidechsen und
Ameisen, die zweite Nacht rückte ich es ab, so daß nur das Kopfende an
der Wand blieb, doch legte auch dies, wie ich sah, den ebengenannten
Hausbewohnern keine wesentliche Beschränkung in der Bewegung auf.
So rückte ich denn am dritten Tage in die Mitte der Stube, welcher
luftige Standort noch den übrigen Vorteil gewährt, daß er mich lehrt,
auch im Schlafe Balance zu halten, denn die erste derartig „im Freien“
zugebrachte Nacht begann damit, daß ich auf der einen Seite von meinem
Spartanerlager, das natürlich wieder jede Seitenwand verschmäht,
herunterrutschte und einige Baraten totfiel. Nachdem ich mich bei
derselben Gelegenheit überzeugte, daß diese angenehmen Tierchen auch
eine besondere Vorliebe für die Reibeflächen der Schwedenschachteln
haben und einen so angesichts der vollen Streichholzschachtel einer
unerleuchtbaren Finsternis preisgeben können, quittierte ich auch
den Stuhl neben meinem Bett, stelle jetzt das Licht in armlanger
Entfernung auf die Erde und stecke die Schachtel Schweden nebst Uhr
und Taschentuch geheimnisvoll unter mein Kopfkissen, auf dem sich’s
allerdings seitdem, da es von bekannter brasilianischer Größe, recht
holprig schläft. Nun galt es nur noch, die Ameisenfrage zu lösen, der
ich aber schließlich auch beigekommen bin, indem ich nachmachte, was
ich neulich in einem Bahnhofsrestaurant an einem Tische gesehen: ich
habe alle vier Bettfüße in Blechgefäße mit Wasser gestellt, so daß
jetzt -- hurrah! -- das Insekt auf die Angriffe beschränkt bleibt, die
es von der Decke herab auf mich vollführen kann.

Im Übrigen sind diese interessanten Mitbewohner unserer Chakara
insofern wertvoll, als sie dauernd für unsere Unterhaltung sorgen.
Des Morgens beim Kaffee muß jedesmal die Zuckerdose hinauswandern,
damit die Ameisen ausgeräuchert werden, während Maricota und ich
die Milch ausfischen; des Mittags sind wir jetzt so sehr an Fliegen
auf den Tellerrändern gewöhnt, daß ich mir ein Essen ohne diesen
Zierrat eigentlich schon recht öde vorstelle, und abends, wenn die
Baraten munter werden, ist der Hauptspaß. Maricota und ich sitzen
dann gewöhnlich in meinem Zimmer über unserem Dickens, und nebenan im
Eßzimmer spielen Dona Maria Louisa, ihre Schwester und Herr de Souza
Whist mit ’nem Strohmann. Plötzlich entsteht dort ein Heidenlärm, man
kreischt auf, und sämtliche Morgenschuhe fliegen; sofort ergreifen auch
wir die immer bereitstehenden Stiefel und schleudern sie gegen die
Thür, denn durch ihre handbreite Spalte über der Schwelle saust das
bedrohte Insekt von den Whistspielern herein zu uns Pickwickiern, um
hier so ziemlich sicher den Untergang zu finden, denn auf Baratenmord
bin ich noch vom Collegio her eingeübt.

Das „Leben in und mit der Natur“ ist überhaupt hier die Devise unseres
Banners. Um fünf Uhr früh, so ungefähr, wenn der Mond zum Abschied
noch der Sonne sein schiefstes Gesicht zuschneidet, stürzen sich
sämtliche menschliche Hausbewohner in den Schoß der Wellen. Männlein
und Weiblein, Schwarz und Weiß, alles läuft in flanellenen Badeanzügen
durch den Garten an den Strand und ins Wasser, um dort in schönster
Harmonie beim Mondenschein die Glieder zu erfrischen. Es ist ein
heilloses Gekreische, das mich immer schon für den ganzen kommenden Tag
betäubte, und da mir Seebäder überhaupt nicht sehr gut bekommen, so
habe ich mich nach den ersten 5 Tagen aus dem Gewimmel zurückgezogen
und bade nun nach wie vor im Zimmer in einer der üblichen großen runden
Blechwannen, die die Negerinnen auf dem Kopfe hereintragen.

Der Abend endet nach anderer Richtung hin in recht harmloser Weise.
Unsere Chakara steht nämlich sehr einsam, da sich auf der einen Seite
ein großer Garten, auf der andern eine unbewohnte Chakara befindet;
trotzdem ist sie von der Strandseite ganz unverschließbar. Da wird
nun des Abends einfach eine Barrikade aus einem Tisch und zwei
daraufgetürmten Stühlen vor der Glasthür aufgeführt, und damit Gott
befohlen für die Nacht.... Wie ich Dich kenne, würde Dich diese Seite
unserer Strandidylle ganz besonders anmuten!

Der Unterricht geht fort wie gewöhnlich, nur daß zur Betrübnis der
Familie und +meiner+ höchsten Wonne -- das Klavier fortfällt. Das
betrachte ich als meine Badereise!

Aber ich habe Dir noch garnicht erzählt, wie es in Saõ Paulo war. Wir
sind zwei Tage dageblieben und logierten bei Maricotas Großeltern.
Den ersten Tag war ich Nachmittags bei Schaumanns und den zweiten
mit Fräulein Harras bei Fräulein Meyer, die leider, leider mit ihrer
Familie von hier wieder abgereist war und in Saõ Paulo zurück. Am
dritten Vormittag fuhren wir dann hier herunter, den imposanten Weg
über die Serra mit der Seilbahn, und denke Dir, wer auch herunterfuhr
-- -- Mr. Hall! Er saß neben mir im Coupé und erzählte mir, daß er
nach Santos ginge, weil eine Sendung Maschinen aus England avisiert
sei, die er gern selbst aus dem Zoll nehmen wollte. Seitdem habe ich
ihn noch nicht wiedergesehen, aber, Grete, ich glaube -- wir freuten
uns +beide+ über die netten Maschinen, die grade jetzt ankommen
mußten.

Ach, Gretele, ich bin so froh! Und es ist doch eigentlich ganz hübsch
in Brasilien.

Nächstens mehr von

    Deiner +Ulla+.



[Illustration]



    Santos, den 22. September 1882.

    +Meine Herzensgrete!+

Unsere Strandidylle nähert sich ihrem Ende, und es werden wohl kaum
noch 8 Tage vergehen, da werden die 32 Stück Gepäck, mit denen wir
hier eingezogen, wieder zusammengepackt und heim nach Saõ Sebastiaõ
dirigiert werden. Ich bedaure das wirklich von Herzen, denn ich habe
mich, trotz der mehr für Insektologen als für sonstige Sterbliche
geeigneten Verhältnisse so sehr an diese Chacara gewöhnt, daß ich sie
ordentlich lieb gewonnen habe; ob auch das +Unmusikalische+ unseres
hiesigen Aufenthaltes dabei ein Wort mitspricht, darüber wollen wir
ein wohlwollendes Auge zudrücken. Als Ersatz für die Klavierstunden
habe ich übrigens den einzigen Sohn von Dona Lydia, der Schwester von
Dona Maria Louisa mit zu unterrichten gehabt für diese Badezeit. Dona
Lydia ist Wittwe und hat gewöhnlich keine eigene Erzieherin gehalten,
sondern ihren Luiz-Guilherme (Ludwig-Wilhelm) immer mit bei einer ihrer
vielen Schwestern in Saõ Paulo pädagogisch zu Gaste gegeben; sämtliche
~professoras~ der Familie kannten ihn bereits und behaupteten, ihn
nach Gebühr zu „schätzen.“ Ich war daher nur sehr wenig entzückt,
als ich gefragt wurde, ob ich ihn mit zu Maricota in die Stunden
nehmen wollte, denn ich fürchtete eine Wiederholung meiner Zeit des
klassischen Altertums in Saõ Paulo. Aber siehe da, er entpuppte sich
als ein ganz traitabler, sogar ziemlich liebenswürdiger und recht
intelligenter Junge von 13 Jahren, der auf den Spaziergängen schon den
Cavalier spielt, und dem ich bis jetzt weiter keine Verdrehtheiten
angemerkt habe, als daß er steif und fest behauptet, er habe die Gicht
in den Füßen. Ich bin die 14. unter den Lehrern und Lehrerinnen, die
er in seinem, wie Du siehst, wechselreichen Schulleben bisher gehabt
hat; und daß er neulich zu seiner Mutter gesagt, ich sei von allen 14
der vernünftigste Mensch, darauf bin ich demgemäß nicht wenig stolz,
denn Du mußt zugeben, daß ihm eine gewisse Urteilsfähigkeit in dieser
Beziehung wohl nicht gut abzusprechen sein dürfte.

Luiz-Guilherme ist mein hauptsächlichster Versorger in der
Richtung +Muschel+. Ich sammle natürlich auch darin auf geradezu
gemeingefährliche Weise, und ein kleines leeres Zimmer neben dem
meinen, sowie mein eigenes Fensterbrett „duften“ fortwährend auf das
Penetranteste nach Seetang und faulenden Muscheltieren. Es ist ein
rechtes Kreuz für mich, aber ich mache hier die Erfahrung: wenn den
Menschen einmal die Sammelwut packt, da ist ihm zuletzt nichts mehr
heilig, nicht einmal die eigene Nase!

Heute kommt Herr de Souza zurück von der Fazenda, wo er einmal nach dem
Rechten gesehen hat. Während seines Fortseins war es hier natürlich
nicht gerade anheimelnder, zumal da einige Tage oder vielmehr Nächte
vor seiner Abreise ganz in unserer Nähe eingebrochen und gestohlen
worden war. Am Morgen seiner Abreise trat er daher beim Frühstück mit
einem großen Revolver auf mich zu und meinte, ich sei ja wohl noch
die Tapferste von der zurückbleibenden ewig weiblichen Gesellschaft,
und er lege daher die Verteidigung des Platzes in meine Hände. Ich
muß gestehen, daß dies auch meine erste Bekanntschaft mit Revolvern
oder sonstigen Mordinstrumenten war, allein ich übernahm kühn meine
Rolle als wehrhafte Besatzung der Chakara und ließ mir nur zur
größeren Sicherheit -- +meiner selbst+ -- das Ding von einem mir
bekannten deutschen Herrn in unserer Nachbarschaft erklären. Seitdem
droht es nun von meiner Wand herab und macht in der That neben meinen
Kattunkleidern und Röcken einen höchst schreckhaften Eindruck, dessen
erste Wirkung sich auf die Negerin warf, welche seitdem kaum zu
bewegen ist, das Zimmer aufzuräumen. Eine weitere Vorsichtsmaßregel
war, daß wir sämtliche Damen alle die Tage über ganz ohne Schmuck
und in den schlechtesten Kleidern ostentativ auf der Praia, d. h. am
Strande spazieren gehen mußten, um den Dieben zu demonstrieren, daß
bei uns nichts zu holen sei, eine Maßregel, die gewiß nicht verfehlt
hat, auf die Diebe den größten Eindruck zu machen! Endlich wurde der
Barrikadenbau des Abends etwas raffinierter betrieben. Ein disponibles
Rohrsopha wurde dem Tische hinzugefügt, und die Stühle wurden in der
Anzahl auf 5 erhoben, sowie etwas „kippeliger“ aufgebaut; das Werk
krönten ein paar leere Schubladen (+meine+ Erfindung!) und das Ganze
machte stets, wenn es fertig gestellt war, einen erhebenden Eindruck
auf uns alle. Mit heute werden wir denn wohl wieder zu Barrikade Nr.
~I~ zurückkehren, und ich werde die Verteidigung des Platzes in Herrn
de Souzas Hände zurücklegen.

Ob er mir einen Brief von meiner Grete aus Saõ Sebastiaõ mitbringen
wird? Adieu, mein Herzle, das Licht brennt, Dickens tritt in seine
Rechte, und die Baratenstunde naht.

    Deine +Ulla+.



[Illustration]



    Saõ Sebastiaõ, den 4. Oktober 1882.

    +Meine gute Grete!+

Da sitzen wir wieder in Saõ Sebastiaõ und warten auf die Hitze und
die Zuckerrohrernte, auf das letztere mit großer, auf das andere mit
mäßiger Sehnsucht.

Unsere Abreise von der guten alten schmutzigen Chakara und der Abschied
von dem Insekt wurde uns schwer trotz alledem und alledem, und außer
Herrn de Souza und Dona Maria Louisa mußten wir alle darüber getröstet
werden, die Kinder mit der kommenden „süßen“ Zeit, ich mit dem kleinen
muntern Lazaõ, meinem Lieblingspferd, das ich immer geritten, und mit
dem mir Herr de Souza lachend ein Wiedersehen schon an der Station
versprach. Es ist wahr, das Reiten ist hier mein schönstes Vergnügen,
ja, meine +einzigste+ Zerstreuung, und wenn mir die Einsamkeit
einmal gar zu traurig wird, kann ich leicht wieder froh gemacht werden
durch einen besonders schönen Ritt.

Es ist wirklich bezaubernd und giebt einen fast berauschenden Begriff
von dem Reichtum und dem Reiz der Tropenwelt, wenn wir so langsam
und schweigend neben dem abendlichen Wald herreiten, manchmal
Viertelstunden lang begleitet von dem wollüstigen Duft prachtvoller
Orchideen, die in selbstgenügsamer Schöne hier an den uralten einsamen
Stämmen tief im Walde blühen, oder wenn am Nachmittag im hellen
Sonnenlicht handgroße blaue Schmetterlinge paarweise, die Köpfe unserer
Pferde fast streifend, vorüberflattern.

Aber wir +gehen+ auch viel spazieren, bei welchen Gelegenheiten
ich meine „Naturalien“-Sammlung zu vervollständigen suche. Neulich fand
ich eine ganze Anzahl riesengroßer leerer Häuser von Erdschnecken, und
von Schlangen könnte ich schon eine ganze Collection haben, wenn ich
alle aufheben wollte, die hier getötet werden. Vor einigen Tagen habe
ich selber mit meinem Regenschirm ein kleineres Exemplar von diesen
Unholden totgeschlagen, und das Kindermädchen bringt, wenn sie mit den
Kleinen spazieren geht, öfters solche ekelhafte Reptilienleichen an,
für die wir uns ein besonderes „Massengrab“ eingerichtet haben. Meine
Käfersammlung aber habe ich in ihren Anfängen verkümmern lassen müssen;
ich konnte das Morden nicht mehr aushalten, Grete. Wenn ich sie eben
mit Chloroform getötet zu haben glaubte und sie dann vor das Fenster
in die Sonne zum Trocknen legte, dann lebten sie nach einer Stunde oft
wieder auf und krochen schwerfällig umher. Das war mir zu ekelhaft,
meine Kaltblütigkeit scheint sich nur auf Baraten und Schlangen zu
beschränken. Von ersteren haben wir hier, Gott sei Dank, so gut wie
gar keine, wie denn überhaupt das Insect auf dieser hochgelegenen
Pflanzung glücklicherweise nur eine sehr untergeordnete Rolle spielt.
Worunter wir am meisten leiden, ist die auch hier herrschende große
atmosphärische Feuchtigkeit, deren Regiment jetzt mit der heißen Zeit,
wo es fast jeden Tag regnet oder gewittert, wieder beginnt. Da werde
ich denn wohl von Zeit zu Zeit eine Trödelbude aus meinem Zimmer machen
müssen, wenn mir nicht alles verstocken soll. Übrigens habe ich jetzt
als vortreffliches Mittel gegen Stockflecke in Handschuhen gelernt,
diese in einer Schachtel mit Hirschhornholz aufzubewahren, wobei man
nur die Knöpfe zu umwickeln hat, da diese sonst anlaufen.

Heute fördert’s schlecht mit meinem Briefe, Herzensgretel, denn
vor meinem Fenster auf dem freien Platz werden schwarze Bohnen
ausgedroschen. Sechs Neger stehen einander zu je dreien gegenüber und
schlagen mit langen Bambusstöcken auf die Bohnen los; das eintönige,
taktmäßige Geräusch geht nun schon seit heute Morgen um 7 Uhr vor
sich und hat uns auch durch sämtliche Schulstunden begleitet. Das
gelegentliche Singen unserer Drescher daheim wird hier ersetzt durch
einen beliebigen aber rhythmischen, oft allerdings ganz blödsinnigen
Satz, den der erste Drescher erfindet oder doch vorspricht, und den
die anderen mitsprechen, und nach dessen Takt gearbeitet wird. „~Que
bom chà, que bom~“ (Welch’ guter Thee, welch’ guter) ist Cäsarios
geistreiche Erfindung, nach der hier die schwarzen Bohnensträucher
geprügelt werden, und ich darf wohl mit Wahrheit behaupten, daß ich
diesen imaginären Thee heute wohl einige tausend Mal habe loben hören.
Übrigens trinke ich hier jetzt keinen chinesischen Thee mehr, weil
er mir Schlaflosigkeit verursacht, sondern ich nehme des Abends auf
Dona Maria Louisas Rat statt dessen Thee von Kopfsalat zu mir, der mir
anfangs natürlich schauderhaft schmeckte, an den ich mich jetzt aber
sehr gewöhnt habe, zumal er in der That eine leicht beruhigende Wirkung
hat.

Was gäbe ich um ein kleines Fläschchen Bier hier am Abend! Aber
das ist auf den Pflanzungen nicht zu halten und kostet schon an den
Hafenplätzen einen Milreis, also 2 Mark die Flasche! Mit Getränken
ist man überhaupt schlecht daran in Brasilien! Mittags wird von den
Brasilianern ein kleines Glas Portwein getrunken, wie wir es zum
Frühstück nehmen, aber die Sorte ist gewöhnlich so schlecht, daß wir
daheim sie verschmähen würden, und dann ist das doch auch kein Wein,
der in größeren Mengen als Tischwein genossen werden kann. Unser Wasser
hier in Saõ Sebastiaõ ist recht schlecht und oft ganz gelb und lehmig,
und den roten Lissabon-Wein, den mir Herr de Souza aus Saõ Paulo hat
kommen lassen, trinke ich nur aus Courtoisie. Der Brasilianer ist kein
Weinkenner und trinkt überhaupt wenig außer Wasser und Kaffee, von
welchen beiden Flüssigkeiten er allerdings tagsüber erstaunliche Mengen
zu sich nimmt.

Widme mir das erste Glas Bowle, Gretele, das Du nach Empfang dieses
Stoßseufzers zu Dir nimmst, und verurteile nie mehr einen Studenten,
wenn er singt: „Ein Bursch wie ich, säuft ganze Fässer aus -- Fässer
aus“ -- vielleicht will er nach Brasilien gehen und trinkt Vorrat,
+woran er recht thut+!

Mit welchem höchst forschen und schneidigen Ausspruch ich für heute
schließe.

    Deine +Ulla+.



[Illustration]



    Saõ Sebastiaõ, den 27. Oktober 1882.

    +Meine süße Grete!+

Heute muß ich Dir eine vollständige kleine Geschichte erzählen, und
hoffentlich wirst Du sie nicht allzu unsympatisch finden, weil sie von
einem -- Aussätzigen handelt. Die ganze Sache hat mich so beschäftigt
und erinnerte mich zugleich unwillkürlich an die rührende Erzählung
Xavier de Maistre’s: „~Le lépreux d’Aoste~“, daß ich nicht umhin
kann, sie meiner Grete mitzuteilen.

Es ist schon eine Zeitlang her und war vor unsrer Reise nach Santos,
da ging ich eines Abends mit den Kindern langsam dem berittenen Neger
entgegen, der die Briefe für die Pflanzung von der Station holte. „Da
kommt er“, rief ich freudig aus, als sich vor uns in der Dämmerung
etwas bewegte.

„Ach, das ist ja gar kein Reiter“, lachte die kleine Albertina, „das
ist Ignacio.“

„Wer ist Ignacio?“

„Nun -- Ignacio, wissen Sie.“

„Ist er ein Neger der Pflanzung?“

„O ja, aber er arbeitet nicht, er ist krank.“

„Was fehlt ihm denn?“

„Weiß nicht, er hat ein Loch unterm Fuß und an der Hand auch eins, und
das will gar nicht heilen.“

Du weißt ja, Greteherz, daß ich einen fast krankhaften Ekel gegen alle
Hautleiden habe, und so bog ich etwas seitwärts ab, als wir dem Neger
nahe kamen.

Eine große und durchaus nicht unkräftige Gestalt stand, als wir
vorbeigingen, mit dem Hute in der Hand still, grinste und murmelte
„~Soss kiss~“, um dann aber auf der Kinder freundliches „Guten
Abend, Ignacio, wie geht’s, Ignacio?“ uns ein wiederholtes „danke,
danke, Senhora; guten Abend, meine kleine Herrin, gelobt sei Jesus
Christus“ nachzurufen.

Die entsetzlich zerlumpte und schmutzige Kleidung des Schwarzen,
das verwilderte Wollhaar und der große, struppige, für einen Neger
ungewöhnlich starke Bart gaben dem auf seinen Stock Gestützten und
sich mühsam weiter Schleppenden ein so abstoßendes Aussehen, daß der
Widerwille in mir das Mitleid bei weitem überwog, und die Kinder nicht
so ganz unrecht hatten, als sie nachher lachend zu Hause verkündeten,
Mademoiselle habe sich vor Ignacio „gefürchtet.“

„Was fehlt ihm?“ fragte ich wieder statt aller Verteidigung.

„~Quem sabe!~“ machte Dona Mara Louisa, „er hat überall am Körper
Löcher und wunde Stellen, gegen welche auch die bewährtesten Blätter
und Kräuter nicht helfen, so daß wir jetzt fast glauben, er ist
lazaruskrank.“

Das wurde so ruhig hingesagt, als wenn man erzähle, es habe jemand
einen Schnupfen. Grete, es überlief mich kalt. Ein Gefühl unsäglichen
Jammers für den Unglücklichen, den die Schickung nicht tief genug
demütigen zu können schien, überkam mich. Neger -- Sklave -- aussätzig!
Es war fast eine Erleichterung zu denken, daß ihn nun nichts
Schlimmeres mehr treffen könne. Was seine eignen Gedanken wohl darüber
waren? Ob er um Hülfe rufen würde, wenn er in’s Wasser fiele? Ob er uns
haßte, die wir gesund waren? Ich grübelte den ganzen Tag über diesen
unglücklichen, vom Geschick gezeichneten Paria, und sein Bild ängstigte
mich im Traum.

Einige Tage später erzählte man mir, Ignacio sei aus der nächsten
Umgebung des Hofes verbannt und der Verkehr mit ihm den Negern
untersagt, damit er niemanden mit seiner traurigen Krankheit anstecke.

Wie erbärmlich selbstisch ist doch der Mensch! Mein erstes unbewachtes
und wie instinktives Gefühl war das der Erleichterung, daß ich die
verwilderte, hinkende Gestalt des zerlumpten Aussätzigen nicht
wiedersehen sollte, dann erst dachte ich an +sein+ Elend und --
suchte schließlich auch das zu vergessen.

Bald darauf machte ich eines Morgens meinen gewohnten Frühspaziergang.
Dabei schmetterte ich im Frohgefühl meiner Gesundheit und Kraft ein
vergnügtes deutsches Lied in die brasilianische Landschaft hinein....

Plötzlich aber brach der Ton in meiner Kehle ab -- da kam ja der
Aussätzige auf mich zugehinkt!

Dem ersten blitzartigen Impuls gehorchend, kehrte ich jäh um und maß
bereits mit eiligen Schritten meinen Weg zurück, als ich zur Besinnung
kam.

„Edel sei der Mensch, hülfreich und gut“ -- ich wagte es garnicht,
Grete, diesen unseren Lieblingsspruch auszudenken, als er mir einfiel.
Pfui ob meiner verletzenden Hast!... Dann war eine Stimme da, die
mich entschuldigen wollte: die Erscheinung war so plötzlich gewesen,
ich hatte auch gar nicht an den verkommenen Neger gedacht. -- -- Aber
wiederum nein, nein, es half nichts, ich schämte mich, o wie sehr!

Am folgenden Morgen ging ich zur gleichen Stunde denselben Weg. Das
war meine Buße. An der nemlichen Stelle, wie am Tage vorher, traf
ich den Aussätzigen. Sein unbedecktes Haar stand im Morgenwind, die
Kleider umhingen zerlumpt den großen Körper, die dick umwickelten Füße
erinnerten an seine Krankheit. Ein Schauer überlief mich, doch zwang
ich mich, weiterzugehen. Da, als er ungefähr zehn Schritte von mir
entfernt war, bog der Schwarze seitwärts in das wegelose Gestrüpp ein
und schritt so, sich in ziemlicher Entfernung haltend, mit dem Gruße:
„Gelobt sei Jesus Christus“ an mir vorüber. Mir brannte das Gesicht vor
Scham in Gedanken an meine gestrige Flucht -- wie unsäglich klein war
das gewesen! Ob er das wohl auch gedacht hatte? Ich wünschte, er wäre
mir nicht so sorgfältig ausgewichen.

Auf meinem Rückwege sah ich ihn nicht, aber der Lazaruskranke begann,
fortan in meinem Gemütsleben eine Rolle zu spielen. Ich quälte mich
mit dem Gedanken an ihn herum, fand mich jetzt klein und erbärmlich in
meiner Scheu, dann wieder läppisch und überspannt in meinem Kampf gegen
einen Ekel, den jedermann offen zur Schau trug, und dessen Berechtigung
sein unglücklicher Gegenstand offenbar selbst anerkannte. Warum sollte
ich allein mich überwinden, einem Menschen zu begegnen, den jedes
glückliche Geschöpf floh!

Ohne Ergebnis jedoch in diesem Gedankenstreit fand mich der folgende
Morgen zunächst wieder auf dem alten Wege. Wie an den beiden anderen
Tagen traf ich den Aussätzigen. Wieder bog er tief in das Gestrüpp
ein, als wir an einander vorüberschritten, aber es fiel mir auf, daß
er reinere Kleider trug und einen Hut auf dem Kopfe, den er lebhaft
abzog, als er mir zweimal eifrig sein „~Soss kiss~“ zurief. Der
Gedanke kam mir, als könne der arme Ausgestoßene diesem Austausch eines
Morgengrußes mit einem der glücklicheren Wesen, aus deren Nähe ihn sein
Elend bannte, mit einer gewissen Freude entgegen gesehen haben, und
der Streit in mir war beendet. Ich beschloß, er solle dieses kleinen
Trostes nun nie mehr entbehren.

Da mich der folgende Morgen ein wenig früher als gewöhnlich
hinausführte, so traf ich erst auf Ignacio, als derselbe eben aus
einer kleinen Hütte von Bambus und Lehm trat, die zwischen Farren und
Gesträuch lag. Als er mich sah, blieb er zurück.

„Ist das Deine Hütte, Ignacio?“ rief ich ihm zu.

„Ja, Senhora, meine“, rief er mit strahlendem Gesicht zurück.

„Wohin gehst Du jeden Morgen?“

„Wasser holen zum Kaffee, Senhora.“

Seit wieviel Tagen, vielleicht Wochen mochten dies seine ersten Worte
wieder sein!

Jeden Morgen brachte ich nun dem Unglücklichen seinen Gruß aus der
Welt der Menschen, und es war mir jedesmal eine Befriedigung, in der
Entfernung sein Gesicht freudig aufleuchten zu sehen hinter dem hohen
Ginster hervor, durch den er sich allmählich einen vollständigen Weg
gemacht hatte. Dennoch blieben meine Morgenspaziergänge, die früher der
schönste Teil des Tages gewesen, noch lange eine Überwindung -- vor
allen Dingen sang und jubelte ich nicht mehr unterwegs.

Dann kam unser Aufenthalt in Santos, und der Gedanke an den Aussätzigen
wurde in den Hintergrund gedrängt. Kurz nach unserer Rückkehr sollte
ich wieder an ihn erinnert werden. Eines Tages sah ich nämlich, wie
Dona Maria Louisa verschiedene große Papierdüten mit Kaffee, Reis,
Zucker und schwarzen Bohnen füllte.

„Für wen ist das?“ fragte ich.

„Die Lazaruskranken sind da“, war die Antwort.

„Ignacio?“

„Nein, die Aussätzigen von Santa Barbara, eine ganze Anzahl dieser
Kranken, die dort in der Nähe eine Art von Kolonie bilden und ihren
Unterhalt erbetteln, um nicht durch das Geld[8] und den Eintritt in
die Venden[9] ihr schreckliches Leiden zu übertragen. Die mittellosen
Kranken sind auf diese Weise besser daran als in einsamer Verbannung,
und wer daher z. B. einen lazaruskranken Sklaven hat, schickt ihn
gewöhnlich dorthin. Sie leiden keine Not, denn jeder giebt ihnen
reichlich.“

„Warum lassen Sie Ignacio sich ihnen nicht anschließen?“

„Er will nicht, weil er seine Tochter hier hat; wir haben es ihm oft
vorgeschlagen.“

Trauriger und rührender Gedanke, diese Familie von Parias, die,
durch einen gemeinsamen Fluch von der übrigen Welt geschieden, sich
zu gegenseitiger Samariterschaft verbrüderte -- die Freimaurer des
Elends....

Ich blickte der weiterziehenden Schar der Kranken nach, und ihr
dankbares „Gelobt sei Jesus Christus“ schnitt mir ins Herz.

Am folgenden Tage traf ich Ignacio nicht, so daß ich annahm, er sei ein
Stück Weges mit seinen Leidensgenossen einhergezogen; als man ihn aber
dann auch am anderen Tage bei der Rationenverteilung auf seinem Posten
hinter der Barriere vermißte, wurde ein alter Neger hingeschickt, um
nach ihm zu sehen. Der Auftrag war wohl ein unliebsamer, der Bericht
jedenfalls ein liebloser: Ignacio behaupte, krank zu sein, hieß es,
doch könne er nicht sagen, wo es ihm fehle, und demnach würde wohl das
ganze Übel nichts weiter als Trägheit sein, er wolle bedient werden und
scheue gar die kleine Mühe des Kochens. Ich war erstaunt und verletzt
zu sehen, ein wie bereitwilliges Echo diese lieblose Äußerung fand, und
sann nach, was zu thun sei, wenn dies fortdauere.

Am nächsten Morgen traf ich jedoch den Aussätzigen, der aber schmutzig
und nachlässig aussah, und dessen unglücklicher Gesichtsausdruck und
matter Gruß mir das größte Mitleid abnötigten.

Derselbe Tag brachte einen Regen, der mich durch seine Heftigkeit
und Dauer mehrere Tage am Ausgehen hinderte. Ich dachte während der
Zeit öfter an Ignacio, und ob er genügenden Mundvorrat und trocknes
Brennholz in seiner Hütte haben werde; bei der Rationenverteilung
fehlte er wiederum, und so oft ich täglich nach der Richtung seiner
Hütte blickte, nie sah ich dort ein Rauchwölkchen aufsteigen. Grete,
da kämpfte ich mit einem schweren Entschluß: sollte ich eintreten in
die Hütte des Aussätzigen?! Ein Grauen schüttelte meinen ganzen Körper
bei dem bloßen Gedanken daran. Aber: „Edel sei der Mensch, hülfreich
und gut“ mahnte es wieder in mir. Was hatte ich denn bisher gethan für
den Unglücklichen, was war mein Samaritertum gewesen? Ich errötete bei
dem Gedanken, wie viel Überwindung mir das Wenige gekostet hatte, und
mehr noch, da ich mir sagen mußte, daß meine Scheu vor dem Kranken weit
weniger auf der Furcht vor Ansteckung beruhe, die bei mir immer sehr
gering ist, vielmehr fast einzig in einem rückhaltlos groß gezogenen
Ekel zu suchen sei. Um so mehr glaubte ich, mich überwinden zu müssen,
und wiederholte mir, daß ich nichts gethan habe, wenn ich nicht dies
eine thäte. Der Kampf war hart, und das erbitterte Ringen gegen mich
selbst machte mich fast fieberisch. Einen Augenblick wies ich die Idee,
bei dem Aussätzigen einzutreten, als eine wahnsinnige von mir und
verspottete mich selbst ob meiner eingebildeten Samariterpflichten da,
wo der Priester und der Levit vorübergingen; mochten doch seine Herren
für den Leibeigenen sorgen, was ging er mich an! Dann wieder graute mir
vor meiner eigenen Lieblosigkeit, und ich hatte ein Gefühl, als hätte
mir die Vorsehung diesen Unglücklichen so recht besonders in den Weg
geführt, als ginge er mich sehr viel an, mich vor allen andern, und als
würde ich mehr als irgend jemand freveln, wenn ich ihn am Wege liegen
ließe....

Ich faßte endlich den Entschluß, in die Hütte des Aussätzigen
einzutreten, aber Grete -- ich will es Dir gestehen -- ich hatte
am Abend vorher eine wilde, fieberhafte Hoffnung, in der Nacht zu
sterben...!

Früh am nächsten Morgen pochte es an die Hausthür. Einer der
Holzfäller, die von der nächsten Kolonie hierher kommen, meldete, er
habe aus der Hütte des Ignacio im Vorbeigehen ein vernehmliches Stöhnen
hervordringen hören, habe sich jedoch gegraut, hineinzugehen, der arme
Teufel sei gewiß recht krank. Ein Neger wurde hingeschickt, um nach
dem Unglücklichen zu sehen und ihn mit Stärkungsmitteln zu versorgen.
Ich begann meine Stunden, konnte aber meine Aufregung kaum bemeistern!
Grade als wir Pause hatten, kam der Bote zurück. Er hatte einen
+Toten+ gefunden.

Gretele, da drang mir ein Erlösungsschrei aus der immer doch
menschlichen Brust hervor, und „~homo sum~“ mußte ich mit
Beschämung erkennen. Als aber dann ein heftiges Weinen mir die
angespannten Nerven gelöst hatte, konnte ich ohne selbstischen
Nebengedanken dem unglücklichen Paria die ewige Ruhe gönnen, und ich
konnte nicht anders als mir vorstellen, wie das Wort, das fast das
einzige war, das ich aus seinem Munde gehört, gewiß auch sein letztes
gewesen sei: „Gelobt sei Jesus Christus.“

Ein alter, fast unbrauchbarer Ochsenwagen wurde bespannt, und, in
eine Hängematte gelegt, fuhren zwei Neger den Toten zu seiner letzten
Ruhestatt. Es war schon stark dämmerig gewesen, als sie im Dorfe
anlangten und vor der Wohnung des Kaplans hielten, um diesen um
Beerdigung der Leiche in einem der immer bereiten Gräber zu ersuchen.
Aber so spät eine Beerdigung, und nun gar eines Schwarzen -- eines
Sklaven -- eines Aussätzigen -- unverschämtes Ansinnen! Rauh war ihnen
bedeutet worden, bis zum anderen Morgen zu warten. „Es geht nicht,
wir müssen heim, Herr, wo sollen wir auch die Nacht über bleiben?“
hatten die Neger remonstriert. „Erlaubt denn, daß wir die Leiche in
den Kirchhof stellen und selber umkehren.“ Auch dies war ihnen barsch
verweigert worden, so daß die aufgebrachten Leute endlich gedroht
hatten, die Leiche des Aussätzigen dem christlichen Geistlichen auf die
Schwelle zu legen. Da befahl ihnen der Priester, die Aussätzigen der
Kolonie herbeizuholen und von diesen die Leiche während der Nacht vor
dem Kirchhofsthor hüten zu lassen. Die stille Krankenbrüderschaft ist
dann gekommen, und es haben dem früheren Genossen ihres Elends, den die
Menschen selbst über den Tod hinaus aus ihrer Gemeinschaft stießen,
diese Paria der Menschheit die nächtliche Totenwacht gehalten.

Ich erinnere mich, daß in jener Nacht hellglänzend das Sternbild des
Kreuzes am Himmel stand. Aber jetzt muß ich oft denken bei dem heiligen
Zeichen: Warum bescheint es +die Erde+! Ich will heute nichts mehr
hinzufügen mein Gretele, aber ich schicke dieses erst mit dem nächsten
Briefe zusammen ab.


  [8] In Brasilien zirkuliert fast nur Papiergeld.

  [9] Krämereien.



[Illustration]



    Saõ Sebastiaõ, den 17. November 1882.

Heute ging es mir und den Kindern wie dem Reiter über’n Bodensee; wir
haben einen tüchtigen nachträglichen Schreck davongetragen. Bei unserem
Spaziergange, den wir, durch das prächtige Wetter verlockt, ziemlich
weit ausdehnten, kamen wir auch an einer großen Zuckerrohrplantage
vorbei, wo wir an einer Stelle das kaum reife Rohr in einem großen
viereckigen Stück herausgeschnitten fanden. Wir wunderten uns alle über
diese merkwürdige stückweise Ernte und erzählten davon zu Hause. „O,
das sind Maraõs, Senhor“, sagte Cäsario, der dabei stand, „ich habe
in dieser Zeit auch manchmal geglaubt, spät Abends da drüben im Walde
Rauch aufsteigen zu sehen, aber es war zu dunkel und neblig, um es
genau zu unterscheiden.“

Du magst Dir meinen Schreck vorstellen, als mir auf meine Frage „was
sind Maraõs?“ geantwortet wurde:

„O, vor denen müssen Sie sich sehr in Acht nehmen und dürfen jetzt
nie mehr allein so weit gehen. Maraõs nennen wir entlaufene und
verwilderte Sklaven, die sich in die Wälder geflüchtet haben und dort
wie die Wilden leben, die Nachbarschaft plündernd, wo sie können. Sie
stehlen ihren Unterhalt meist auf den Pflanzungen zusammen, seltener
bauen sie selbst im Walde etwas Bohnen und Mais; sie sind gefürchteter
als die Indianer. In letzter Zeit gesellen sich auch manchmal
+freigelassene+ Neger zu ihnen, die zu faul sind, um zu arbeiten.
Diese Banden sind eine schlimme Wunde für Brasilien und würden dies
noch mehr sein, wenn sie nicht durch das wilde Leben häufig zu Grunde
gingen oder überhaupt sich mehr fortpflanzen könnten; Frauen gehen sehr
selten mit, und so hoffen wir, wird dies mit einer Generation abgethan
sein.“

Von jetzt ab werde ich wohl kaum den Mut haben, mehr zu thun, als feige
ein wenig um’s Haus zu schleichen, denn diese Maraõs haben mir die
Freude an unseren weiteren Spaziergängen auf’s Gründlichste verdorben.

Was überhaupt diese schwarze Race für ein Druck auf Brasilien ist,
und daß die Sklaverei schließlich ein weit größerer Fluch für die
Sklaven+halter+ als für die Neger ist, das zeigt sich jetzt so
recht, wo sie aufgegeben werden soll. Was, um Gotteswillen, soll aus
den Millionen von freien Schwarzen hier werden! Bei uns in Deutschland,
wo man die inneren Verhältnisse Brasiliens so gut wie garnicht
kennt, wird man vielfach denken (und ich hätte das wahrscheinlich
dort auch behauptet), sie würden gewiß meistens auf den Pflanzungen
ihrer bisherigen Herren bleiben und dort als freie und bezahlte Leute
weiter arbeiten, schon die Not würde sie lehren, tüchtige Menschen
und nützliche Staatsbürger zu werden! Hier sehe ich aber, daß
nichts dergleichen der Fall sein wird. Selbst ein Vergleich mit den
Verhältnissen in der nordamerikanischen Union ist unangebracht. Erstens
haben sie hier nicht das Beispiel der Tüchtigkeit vor sich wie dort.
Der Nordamerikaner achtet die Arbeit und den Arbeitenden; er schafft
selber und legt ungeniert mit Hand an; er verachtete in dem Schwarzen
nur die untergeordnete Race. Der Brasilianer, weniger peinlich, aber
anderseits hochmütiger und doch wieder ungebildeter, verachtet gradezu
die Arbeit und den Arbeitenden. Er selbst arbeitet nicht, wenn er es
irgend vermeiden kann, er sieht das Nichtsthun als ein Attribut des
Freien an, und woher will man denn erwarten, daß der in tierischer
Unwissenheit erzogene Sklave sich über solche Ansichten hinwegsetze,
sich eine selbständige philosophische Ansicht gebildet habe oder bilden
werde?! Er wird’s ruhig der weißen Race nachmachen und so wenig wie
möglich arbeiten, und +wie+ wenig dieses „Mögliche“ ist, kann
man nur hier an Ort und Stelle angesichts der Freundlichkeit der
Tropennatur und der schier unglaublichen Anspruchslosigkeit jener Leute
ermessen. Ich habe, seitdem ich hier bin, natürlich unendlich viel mehr
als früher Interesse für diese Dinge genommen, lese auch viel darüber,
und da sehe ich denn, daß manch ein geistreicher Tropenkenner zu den
gleichen Ansichten gekommen ist, wie sie sich mir hier aufdrängen.

Absolut das Gleiche, was ich eben behauptete, sagt Smarda, in seinem
Ausspruche: „In den Tropen arbeitet niemand zum Vergnügen -- warum
sollte es der bedürfnißlose Neger thun?“

Lewes schreibt: „Hunger ist das wahre Lebensfeuer, von dem alle
Anregung zur Arbeit und Thätigkeit ausgeht, und wir mögen hinblicken,
wohin wir wollen, wir finden in ihm die bewegende Kraft, welche die
unermeßliche Kette menschlichen Treibens und Schaffens in Thätigkeit
und Bewegung setzt. Laßt Nahrung im Überfluß vorhanden sein und leicht
zu erringen -- und die Zivilisation wird unmöglich werden.“ Das paßt
hierher; die Notdurft ist vorhanden oder doch leicht zu beschaffen, und
Ehrgeiz oder Erwerbssinn (portugiesisch heißt beides mit dem gleichen
Wort ~ambiçaõ~), die ihn zu persönlichen Anstrengungen geneigt
machen könnten, liegen dem Sklaven und selbst dem Freigelassenen
mit seltenen Ausnahmen fern; warum sollten sie sich also plötzlich
in seinen vollkommen müßig aufgewachsenen Kindern finden? Und der
geistreiche Fernando Schmidt (Dranmor), der 40jährige Beobachter
brasilianischer Verhältnisse, sagt in einem seiner Leitartikel: „Keiner
menschlichen Kreatur ist Feldarbeit verhaßter, als dem freien Neger.
Nicht wie in den Südstaaten der amerikanischen Union heißt es bei
uns, „wenn Dir die Sonne auf den Scheitel brennt, erringe im Schweiße
deines Angesichts das, womit Du Deines Körpers Blöße bedecken kannst,
wenn eisiger Frost sich über den Erdboden lagert“ -- in dem gesegneten
Brasilien, in jenen Distrikten wenigstens, wo zur Zeit noch leider nur
Zwangsarbeit die großen tropischen Handelsartikel erzeugt, ist uns
die afrikanische Race darin überlegen, daß sie Jahr aus, Jahr ein dem
ihren Aspirationen angemessenen Schlaraffenleben zu fröhnen versteht,
und sobald sie der Zucht entrinnt, sich für die tägliche, leicht
zu beschaffende Atzung keine großen Sorgen zu machen braucht. Eine
geistige Regeneration kommt nicht in Betracht.“

Es geht eben hier in Brasilien, wie es nach einer Notiz in einer
älteren Nummer des „~Economiste français~“, die mir neulich
in die Hände fiel, in Jamaica seiner Zeit gegangen ist. Das Blatt
sagt: „Neben der Aufhebung der Differentialzölle hat besonders die
Sklaven-Emancipation die Prosperität der früher blühenden englischen
Besitzung Jamaica vernichtet. Die Neger ergaben sich der Faullenzerei,
und noch heute verdienen sie ihren Unterhalt nicht in den Pflanzungen;
die Insel bedarf hunderttausend Kulies.“

Ich habe nach meinen Beobachtungen den Eindruck, daß auch Brasilien
zunächst furchtbar leiden wird durch die Aufhebung der Sklaverei, zumal
da man sich immer noch nicht entschließt, europäischen und besonders
den nützlicheren germanischen Einwanderern günstigere Bedingungen
zu stellen. Es wird nach zwei Seiten hin leiden, einmal durch den
Wegfall der Arbeitskräfte auf dem Lande und dann durch die plötzliche
Überschwemmung seiner Städte mit faulen und im besten Falle unnützen
Bevölkerungs-Elementen.

Man sieht ja jetzt schon so ziemlich, was Brasilien wenigstens von den
ersten beiden Generationen seiner freien schwarzen Mitbürger erwarten
und hoffen darf. Von den Männern bleibt nur ein verschwindend kleiner
Teil auf dem Lande als freie Feldarbeiter; nur ein geringer Prozentsatz
von Allen wurde bisher, wenn auch nicht zu besonders fördernden, so
doch auch nicht zu störenden oder schädlichen Mitgliedern der freien
Gesellschaft. An ein Plus von Arbeit und Schaffen der schwarzen
Bevölkerung aber, über die eigenen bescheidensten Bedürfnisse hinaus,
ein Plus, das also indirekt dem Lande zugute käme, sei es was
Bodenkultur, sei es was Industrie anbetrifft, ist wohl noch in vielen
Jahrzehnten nicht, wenn überhaupt zu denken.

Von den alten, verbrauchten Freigelassenen schrieb ich Dir schon,
daß sie oft dem größten Elend ausgesetzt sind; von einer alten
Negerin las ich einmal, daß sie in der Nacht nach ihrer Freilassung
aus Mangel an Obdach in einem hochgelegenen Bergstädtchen erfroren
sei, und mit was für einer Unzahl von Bettlern beiderlei Geschlechts
die Sklaven-Emancipation die Städte beglückt hat, ist gradezu
überwältigend. Ich weiß nicht, ob es Selbstironie sein sollte, was in
Saõ Paulo die Polizei bewog, die dortigen -- mit Nummern zu versehen!!
Die jüngeren Frauen, besonders die Mulattinnen, sind zum großen Teil
moralisch verkommen und rühren gewiß keine Arbeit an, wenn sie anders
existieren können. Die älteren Weiber schmarotzern sich so durch, essen
heute bei der früheren Herrschaft, morgen bei deren Eltern, einmal in
der Küche befreundeter Sklavinnen, ein ander Mal wird das Mittagbrot
aus einigen Bananen und etwas Brot billig zusammengesetzt. Wer die
Schlafstelle einer Negerin kennt, weiß, daß sie überall aufzuschlagen
ist: eine Matte und ein Tuch über dem Kopf ist leicht irgendwo gewährt.
Das wenige Geld, dessen sie doch etwa noch benötigen, verdienen sie
meistens durch Waschen oder Nähen, öfter noch durch Früchte- oder
Konfekt-Verkauf in den Straßen; doch darf bei ihrer Arbeit nicht im
entferntesten an eine regelmäßige und angestrengte Thätigkeit gedacht
werden. Selbst wenn sie in einen Dienst treten, so ist ein ewiges
Wechseln desselben die Hauptsache dabei.

Und zu alledem giebt es jetzt (1882) etwa noch eine Million Sklaven
in Brasilien. Wie werden die Zustände nun erst werden, wenn die alle
auch noch frei sind! Und dieser Zeitpunkt wird nicht mehr allzu
fern sein, denn die Emanzipation schreitet täglich vorwärts. Der
staatliche Fonds reicht ja allerdings nicht entfernt aus, aber die
provinziellen Verbände helfen, und unzählige Sklaven werden frei durch
Privat-Initiative.

Ein Verwandter von Herrn de Souza, der sehr reich ist, hat alle seine
Sklaven, deren gegen 300 waren, freigegeben und sie mit enormen Kosten
durch „Kolonisten“ aus der Schweiz und Tyrol ersetzt; und dies Beispiel
ist nicht das einzige seiner Art. Auch manch deutschen Namen sieht man
unter der Zahl solch edelmütiger Herren. Bei besonders erfreulichen
Familienereignissen oder sonstigen Anlässen ist es jetzt allgemein
Brauch, seiner Freude durch Befreiung eines oder mehrerer Sklaven
Ausdruck zu geben; bei der Geburt eines Kindes, bei der glücklichen
Rückkehr eines in Europa erzogenen Sohnes, bei einer besonders günstig
ausgefallenen Ernte oder Spekulationen erhält mancher Sklave seine
„Carta“. Wenn Maricotas Bruder Bento aus Cassel zurückkommt, erhält das
hiesige Factotum, Cäsario, die seine, wurde mir neulich anvertraut.

Eine Menge Sklaven werden frei durch testamentarische Verfügung, doch
wird von den Besitzern ein derartiges Testament streng geheim gehalten,
da sie sonst fürchten, vergiftet zu werden.

Alleinstehende Leute machen sogar manchmal ihre Sklaven zu, natürlich
freien, Erben ihrer Pflanzung, doch scheint mir diese Art von Humanität
recht wenig angebracht, da die Schwarzen in solchem Falle gewöhnlich
schon nach kurzer Zeit Besitzer einer Wildnis sind und dieselbe
sämtlich verlassen, um in den Städten ein mäßiges Vagabundenleben zu
führen, das ihren Neigungen weit mehr entspricht, als ein geordnetes,
arbeitsvolles Dasein. Daher wußte eine kürzlich verstorbene Dame aus
Minas geraes auch wohl, was sie that, wenn sie bestimmt hatte, daß
eine ihrer Pflanzungen nur für eine bestimmte Anzahl von Jahren ihren
32 freizulassenden Negern zur Nutznießung überlassen werden und dann an
zwei milde Stiftungen fallen solle.

Von dem eklatantesten Fall aber, wie gefährlich unbedachte Humanität
wirken kann, erzählte mir neulich Dona Maria Louisa. Eine alte
Schwarze, die ihr früher einmal gehört hatte, war vor einiger Zeit zu
ihr gekommen, um ihre Not zu klagen. Sie war bei ihrer neuen Herrin
nach deren Tode auch Miterbin der Pflanzung geworden und erzählte
nun, daß auf derselben ein schrecklicher Zustand herrsche. Einige der
früheren Sklaven und jetzigen Besitzer arbeiteten und ernteten, die
Faulen verlangten dann, von deren Mühen mitzuleben, was ihnen jene
natürlich weigerten. Darüber käme es dann oft zu blutigen Raufereien,
bei denen schon fast die Hälfte der Neger um’s Leben gekommen sei.
„Nein“, hat sie ganz überzeugt geschlossen, „damit hat unser Senhor
keinen Segen gestiftet, daß er uns die Fazenda hinterlassen hat,
dafür kommt er in die Hölle!“ Das scheint mir nun allerdings für
den seligen Sklavenbaron und sein gewiß gutgemeintes Testament ein
etwas gar zu hartes Prognostikon, aber es liegt thatsächlich eine
enorme Ungeschicklichkeit darin, ohne Übergang den Sklaven zum Herrn
zu machen, so durchaus abhängig erzogene Wesen plötzlich mündig zu
erklären. Aber das Ganze „mutet an“, nicht wahr? Die Zustände sind so
recht behaglich und vertrauenerweckend? Ich kann Dir nur sagen, Grete,
daß ich auf einer großen Sklavenpflanzung jetzt nicht sein möchte.

Aber nun wirst Du wohl genug haben von Negern und Sklaverei, und da
kommt auch Albertina, mich zu holen, damit ich das längste Zuckerrohr
ansähe, das ich je gesehen hätte!

Adieu, mein Herzensgretel, schreibt mir nur ja rechtzeitig zu
Weihnachten; nächste Woche müßten Eure Briefe dazu schon abgehen; ob
Ihr wohl daran denkt?

    Deine alte +Ulla+.



[Illustration]



    Saõ Sebastiaõ, den 5. Dezember 1882.

    +Meine liebe Grete!+

„Das längste Zuckerrohr, das ich je gesehen“, steht in der Veranda
in einer Ecke; das feierliche Herbeibringen des längsten Rohres ist
hier, was bei uns der Erntekranz. Die Zuckerernte ist in vollem Gange
und -- alles klebt. Es ist scheußlich. Die Kinder kauen von Morgen
bis zum Abend „~canna~“, das sie manchmal hübsch abschälen und
in Stückchen schneiden lassen, gewöhnlich aber einfach aussaugen, so
gut es die Rohrschale erlaubt, und die Reste um sich herum spucken.
Die kleinen Neger konntest Du die letzten Tage absolut nicht anders
erblicken, als mit Zuckerstöcken in den Mündern, über deren mögliche
Bewältigung einen nur die Verhältnismäßigkeit ihrer Kauwerkzeuge
beruhigte. Jetzt ist die rohe ~canna~-Periode vorbei, und wir
sind in das Zeichen des Syrups eingetreten, ein recht zweifelhafter
Fortschritt.

Gestern wurde die Maschine aufgestellt, die das Rohr zermalmt und
auspreßt, und heute Morgen vor dem ersten Frühstück brachten die
Kinder mir triumphierend einen großen Becher Zuckersaft, wie er
unmittelbar den ausgepreßten Stangen entquillt. Er ist dann grünlich,
verhältnismäßig klar und dünnflüssig wie Wasser und schmeckt
merkwürdigerweise lange nicht so ekelhaft süß, wie man vermuten
sollte; Klein und Groß vertilgt ihn literweise.

Dieser Saft läuft durch Röhren in große Kessel, wo er gekocht wird und
sich so zu Melasse verdickt, die, abgesehen von einem etwas feineren
Geschmack, völlig unserem Syrup entspricht. Heute Mittag brach diese
„Melado“-Periode an, wir hatten welchen zu Tisch mit ~canjica~
(gekochtem Mais) zusammen, und seitdem sind die Kinder schon zwei Mal
umgezogen worden. Alles schwelgt in der Zuckerernte, sogar, oder vor
allem, die Schweine, die die ausgepreßten Rohre bekommen und dabei
zusehends an Umfang zunehmen.

Die ganze Natur rings um die Fazenda riecht, aber nicht unangenehm,
nach dem gekochten Saft. Wenn die Melasse dick genug ist, kommt
sie in große hölzerne Behälter zum Krystallisieren, und damit dies
schneller und besser vor sich gehe, wird sie mit -- Kuhmist bedeckt! So
wenigstens machen es die meisten kleinen Pflanzer, sagte mir Dona Maria
Louisa; hier wird glücklicherweise statt dessen eine besonders fette
Lehmsorte genommen, die sie auf der Pflanzung haben.

Im Großen wird die Zuckerbereitung in Brasilien eigentlich nur vom
Staat betrieben, und in dem fiskalischen Etablissement sind die ganzen
Einrichtungen auch modernerer Art; die Pflanzer bauen meistens nur, was
sie zum eigenen Verbrauch benötigen, und wer die Rohrkultur in größerem
Maßstabe betreibt, der verkauft gewöhnlich die rohe ~canna~ an den
Staat.

Den 11. Wir sind in eine neue Zuckerphase getreten; die Melasse hat
regelrecht ihre Metamorphose zum gelben Streuzucker durchgemacht, und
dieser liegt nun in hellen Haufen auf Matten im Hofe aufgeschüttet,
um zu trocknen. Grete, weißt Du, worüber ich mich bei der ganzen Sache
am meisten freue? -- Daß ich nicht immer dabei bin, denn sonst wäre
ich wahrscheinlich nicht im Stande, hier noch irgend etwas Süßes zu
genießen. Von den unzähligen Mosquiten, Fliegen, Wespen, Bienen und
Ameisen, die sich ihr Scherflein von dem Zuckerhaufen holen, will ich
noch garnicht einmal reden, aber da keinerlei Umzäumung diese süßen
Berge schützt, so kommen auch Katzen und Hunde zu Gaste und wollen
ihr Teil an der allgemeinen Zuckerfreude von Saõ Sebastiaõ. Diesen
ersten, noch ziemlich dunkeln Zucker bekommen allerdings nur die Neger
zu ihrem Kaffee, aber ich habe so meinen leisen Verdacht, als würde er
zum Kochen doch auch für uns in die Küche geschmuggelt. Der für die
Herrschaft bestimmte Zucker wird raffiniert, aber auch nur hier auf
der Pflanzung und auf die ursprünglichste Manier. Ganz hell wird er
überhaupt nicht, und absolut weißen Zucker sieht mancher Brasilianer
nicht, so alt er wird. Du siehst auch in den besten Häusern hier keinen
Brodzucker, und die Kinder amusierten sich neulich höchlich darüber,
daß in ihrem französischen Lesebuch von einem „Stück“ Zucker die Rede
war; sie hielten das für einen wunderbaren schriftstellerischen Lapsus.
Weißt Du, Gretele, im Ganzen, glaube ich, können wir mit unserem
Runkelrübenlande zufrieden sein -- etwas appetitlicher scheint es mir
denn doch da zuzugehen. Schließe sie mit in das bewußte Glas Bowle ein:
Deutschland und -- seine Runkelrübe!

    Deine +Ulla+.



    _Saõ Sebastiaõ, den 18. Dez. 1882._

    _Gretele, Herzensgretele, denke Dir, ich reise zu Weihnachten nach
    Saõ Paulo! Schaumanns haben mich eingeladen, und ich gehe am 22.
    hin. Ich kann mich gar nicht fassen vor Glück! Wie anders wird es
    sein als im vorigen Jahr! Und ich werde sie alle wiedersehen, die
    lieben Menschen, Schaumanns vor allem und Fräulein Meyer und die
    kleine Harras und -- und -- alle!_

    _Ach, Grete, ich bin ja_

    _Deine so glückliche_

    _Ulla!_



[Illustration]



    Saõ Paulo, den 28. Dezember 1882.

    +Meine einzige Grete!+

Ist das eine hübsche Weihnachtszeit mit deutschen Menschen,
deutschen Liedern, deutschem Festtagskuchen! Nur daß die Tropensonne
dreinleuchtet und sengt, als wolle sie sich rächen für unser Versenken
in die Bräuche der kalten nordischen Heimat, und die Bananen draußen
scheinen unzufrieden zu rascheln, und die Palmen schütteln die Häupter,
wie wenn sie sagen wollten: „Wie könnt ihr bei unserem Anblick an
düstere Tannen denken!“ Und doch -- und doch, Grete! Dranmors „einzige,
schneebehang’ne Tanne“, sie hat mich diese ganzen Tage über verfolgt,
denn der Christbaum fehlte, wenn auch sonst alles weihnachtlich war,
und man mit überreichen Gaben freundlich auf den Gast bedachte. Was
doch an solch einem Baum für eine Poesie haften kann! Mein Bruder
behauptete immer, ihm wäre nicht eher weihnachtlich zu Mute, als bis
diverse Wachsflecke den Fußboden zierten und es durch alle Stuben nach
versengten Tannennadeln röche. Ich wußte auch früher, daß er auf dem
Grunde dieser immer halb spöttisch vorgebrachten Äußerung die Poesie
der Weihnachtszeit mehr empfand, als er es je Wort haben wollte,
aber wie viel daran war, merke ich erst jetzt, wo ich vergeblich den
„Weihnachtsduft“ in den Zimmern suche.

Und selbst draußen -- ach Grete, wie viel schöner ist doch solch’ ein
weißer, schneeiger Platz in Berlin, auf dem in langen Reihen die Tannen
stehen, als dieser sonnengetränkte südliche Garten mit seinen Rosen und
Palmen...

Ich bin undankbar, wirklich, ich muß es sein, denn die Menschen sind so
unendlich lieb zu mir, und das Land ist so märchenhaft schön, und dabei
kann ich es nicht ändern, daß mir immer der Refrain des Liedes durch
den Kopf summt, das wir neulich sangen:

    „’S ist zwar schön im fremden Lande,
    Doch zur Heimat wird es nie!“

Gestern war ich nämlich bei einer Erzieherin, die ein Klavier im
Schulzimmer hat und ein deutsches Volkslieder-Album besitzt; wir waren
im ganzen 6 deutsche Mädchen und haben das Album bis auf das letzte
bekannte Lied durchgesungen, so daß ich heute noch heiser bin. O grüße
es mir, grüße mir mein schönes Deutschland und seinen frohen Sang!

+Den 29. Abends.+ Soeben komme ich von der englischen Familie,
mit der ich zur Zeit meines klassischen Römertums bekannt geworden
war, und die mich zum Christmas-Pudding eingeladen hatten. Mr. Hall
hat mich nach Hause gebracht, denn er war auch da, wie er überhaupt
sehr befreundet mit Emersons ist. Aber ich weiß garnicht, Grete, was
mit ihm vorgegangen ist, seitdem er damals mit nach Santos hinunter
fuhr: er hat kein Wort gesprochen den ganzen Weg über, so daß wir
völlig stumm neben einander hergeschritten sind, denn ich sagte auch
nichts. Und hier vor der Thür war er noch sonderbarer. Erst hielt
er meine Hand eine Zeitlang fest und sah mich an (er hat wirklich
bezaubernde blaue Augen!) als ob er etwas sagen wolle, dann ließ er
sie rasch los, stieß hastig ein kurzes „~Good night~“ hervor und
war so unartig, davonzulaufen, ehe ich die Thür aufgeschlossen hatte.
Was sagst Du dazu, und was soll ich davon denken? Ob er verletzt war,
daß ich garnicht gesprochen habe auf dem Wege? Aber es war doch seine
Sache, von irgend etwas zu beginnen, und ich wußte auch wirklich nichts
zu sagen, Grete. Es war ganz komisch; ich schwatze doch manchmal das
Blaue vom Himmel herunter, aber vorhin fiel mir absolut nichts ein, was
ich hätte sagen können, oder was mir einfiel, war dumm. Nun, die ganze
Sache ist ja auch gleichgültig, und ich brauche ja nicht mehr daran zu
denken.

Morgen sollte ich eigentlich mit Emersons nach dem Maschinenlager
gehen, wo er uns einige interessante Sachen zeigen wollte, aber jetzt
werde ich +nicht+ hingehen, sondern dafür mein verwichenes
klassisches Altertum aufsuchen, von dem ich allerdings wohl nur die
kleineren Heldinnen vorfinden werde; die großen werden wohl in den
~collegios~ geblieben sein, die Brasilianer machen sich ja nichts
aus Weihnachten.

Adieu für heute, mein Gretel.

    Deine +Ulla+.

~P. S.~, +den 30. früh+. Soeben bringt die Post aus Santos
eine Einladung zum Sylvesterball in der dortigen „Germania“ für
Fräulein Schaumann und Bruder und „Besuch.“ Das bin ich, und so ist
das Blauseidene denn doch nicht vergebens von Saõ Sebastiaõ hierher
gewandert! Wie drollig kommt mir’s vor, hier zu einem Ball und sogar zu
einem +deutschen+ Ball gehen zu können. Nur warm wird’s werden!



[Illustration]



    Santos, den 2. Januar 1883.

Liebe Grete! Der Ball ist gewesen und das Blauseidene auch. Wir haben
viel getanzt, und es war furchtbar staubig und heiß in dem kleinen
Saal. Was soll ich Dir sonst noch davon erzählen -- Du weißt ja, wie
ein Ball ausschaut. Es ist eigentlich ein kindisches Vergnügen, nicht
wahr, Grete? Ich habe mich im Grunde gelangweilt.

Von Saõ Paulo war außer uns nur noch ein einziger deutscher Kaufmann
da; ich hatte geglaubt, man würde sehr Viele von dort einladen. Ach
Grete, manche Vergnügungen der Jugend sind doch recht thöricht! Ich
werde jetzt verständig werden und mich so allmählich in die alte
Jungfer hineinkapseln, das ist doch das einzig Richtige!

Wie geht es Dir? Hoffentlich besser als

    Deiner +Ulla+.

Das heißt, mir fehlt eigentlich nichts. --



[Illustration]



    Saõ Sebastiaõ, den 9. Januar 1883.

Greteherz -- er war hier! Mr. Hall! Herr de Souza hat neue Maschinen
gekauft, und da war er so gewissenhaft, selbst ihre Aufstellung zu
überwachen. Ich war so überrascht und erschrocken! Aber ich muß Dir die
ganze Geschichte erzählen, es war zu drollig! Wundre Dich nur nicht,
wenn eine Melone die Hauptrolle in meiner Geschichte spielt -- sie
verdient es!

Wie ich von Saõ Paulo zurück- und in Santa Barbara auf der Station
ankam, stand Cäsario schon da mit seinem Wagen. Ich wäre eigentlich
lieber geritten, aber da ich Gepäck hatte, so mußten wir fahren. Santa
Barbara ist berühmt wegen der prachtvollen Wassermelonen, die dort von
nordamerikanischen Ansiedlern gezogen werden, und weil der Wagen nun
doch einmal da war, so kaufte ich die größte, die ich bekommen konnte.
„Die wiegt gut ihre 12 bis 15 Pfund“, grinste der Jüngling, von dem ich
sie erhandelte, und der mir sie an den Wagen trug.

„Nun, Cäsario“, sagte ich, vergnügt über meinen famosen Handel, „wo
bringen wir denn diesen zierlichen Gegenstand noch unter? Er ist für
die Kinder.“

Cäsario kraute sich das schwarze Wollhaar.

„Hm, Senhora, es ist nirgend Platz.“

„Was“, rief ich, „ein ganzer Wagen und kein Platz für eine Melone --
hier ist ja ein Kasten unter dem Sitz.“

„Darin ist Senhoras Handköfferchen und Fleisch aus dem Dorf und etwas
Weißbrot, es geht nichts mehr hinein.“

„So nimm die Melone auf den Bock.“

„Ja, Senhora, gern, Senhora, aber sie wird hinunterfallen, denn ich
habe die vier Maultiere und die Peitsche.“

„Nun, so wird sie stolz neben mir auf dem Sitz fahren, gieb her“,
entschied ich, als in der That der Wagen keinen weiteren Raum für die
schöne Frucht zu haben schien.

Das kleine offene Gefährt hatte auf einem höckerigen Rasenplatze hinter
dem Stationsgebäude gehalten, aus dessen Höhen und Tiefen ihn jetzt
wieder herauszuarbeiten, keine kleine Aufgabe war. Aber Cäsario wußte
seine Tiere zu nehmen.

Er verfügt über eine erstaunliche Menge ermunternder Zurufe und
illustriert sie auf das Geschickteste durch kleine geeignete
Peitschenbewegungen. Die Maulesel faßten endlich einen Entschluß und
zogen an.

„Hoho“, schrie ich zu gleicher Zeit, denn -- die Melone war zum Wagen
hinaus. Alles, was ich bei dem plötzlichen Ausbruch von Eselsenergie
hatte thun können, war, meinen Hut auf dem Kopf zu behalten, meinen
Regenschirm aufzufangen, als er eben auf seinem Wege zum Wagen hinaus
war, und selber darin zu bleiben, was ich auch nur mit Hülfe der
verwickeltsten equilibristischen Kunststücke fertig brachte... „Halt,
Cäsario, meine Melone!“

Glücklicherweise lag sie unversehrt in einer der Untiefen des höckrigen
Rasens; Cäsario kletterte vom Bocke herunter und brachte sie wieder
heran. „’S ist schlimm damit, Senhora“, sagte er, die große Frucht
ratlos angrinsend. Aber ich war zuversichtlich: „O, ich werde sie jetzt
schon besser festhalten“, behauptete ich, und Cäsario stieg wieder auf.

Die ganze Serie von Schmeicheleien, Drohungen und Ermunterungen für die
Maulesel wurde wiederholt; als diese dann aber wiederum einen Entschluß
faßten, brachten sie den Wagen mit seinem ganzen Inhalt, Regenschirm
und Wassermelone eingerechnet, glücklich aus dem Bereich des fatalen
Rasenplatzes heraus.

Eine mächtige Pfütze unter dem Schlagbaum, der das Bahnhofsterrain
abgrenzt, brachte die glatte Frucht nochmals in nicht unerhebliche
Gefahr, der sie nur dadurch entging, daß ich aufopfernd die rechte
Seite meines Kattunkleides dem Einfluß der spritzenden Räder preisgab
und der Melone beide Hände widmete. Aber nun sah der Weg vor uns
friedlich aus. Ich versuchte es, die große grüne Kugel jetzt nur mit
einer Hand zu stetigen und der Erfolg war zufriedenstellend, obgleich
mir das Vergnügen, das große Ding vier Stunden lang festhalten zu
sollen, bereits anfing, in zweifelhaftem Glanze zu erscheinen.
Wenigstens wollte ich den Schirm aufspannen, ich brauchte mich wegen
der dummen Melone doch nicht zum Mohren brennen zu lassen! Grete, ich
sehe mich selbst noch, wie ich langsam, langsam den festen Griff, mit
dem ich sie gepackt, ein wenig lockerte, dann vorsichtig die Hand
emporhob und wachsam mit den Augen die Bewegungen der Frucht verfolgte,
die unter meinen gespreizten Fingern immerhin noch mißtrauenerweckend
genug wackelte. Aber es ging wirklich! Man konnte sie einen Augenblick
loslassen!

Der Schirm war aufgespannt und die Melone sich selbst überlassen
-- wie erleichtert ich war! Nur beobachten muß man sie noch ein
Weilchen... Ein Seitenblick: -- alles in Ordnung.

Ob sie aber auch nicht nach vorn wegrutscht? Wieder ein Blick -- nein,
da ist sie ja auf derselben Stelle...

Aber sie konnte von der Seite unter dem Armgeländer wegschlüpfen... ein
dritter Blick! Ach, da kann sie ja gar nicht durch....

In der Gegend, wo wir grade fuhren, wird die Landschaft sehr hübsch;
einzelne Palmen auf den welligen Hügeln heben sich sehr malerisch
gegen den südlichen Himmel ab und -- +nur+ eine rasche Wendung
nach links: ja, sie ist da -- und dort die kleine Ansiedlung, das
weidende Vieh -- Herrjeh, die Melone! Ach was, sie ist ja auf derselben
Stelle....

Da hast Du einen Begriff, wie mich das lästige Ding quälte, das ewige
Hin- und Herdrehen des Kopfes war nicht zu ertragen, lieber hielt ich
sie wieder fest!

Endlich kamen wir an eine Biegung, von wo aus, wie ich wußte, der Weg
eine ganze Zeitlang sanft ansteigt -- hurrah, jetzt war ich wieder Herr
über beide Hände. -- „Hier +kann+ sie nicht fort“, jubelte ich,
und ich glaube, ich habe meine glatte und doch so ungefüge Peinigerin
ordentlich triumphierend angelächelt. Aber, aber, Grete, das war die
Rechnung ohne den Wirt gemacht oder hier ohne die mutwillig erstandene
Frucht! Das Ding hatte wahrhaftig die perfidesten Einfälle, die man
gewiß je an einer Wassermelone wahrgenommen. Nach vorn konnte sie nun
allerdings nicht wegrutschen, aber nun begann sie, in Übereinstimmung
mit dem leichten Trab der Maultiere, mir in regelmäßigen Intervallen
von 30 Sekunden gegen die Seite zu prallen mit einer Vehemenz, die
sich absolut nicht ignorieren ließ, und gegen die es einen passiven
Widerstand nicht gab.

Ich war empört auf die Melone, auf mich selbst, auf den Jüngling, der
sie mir verkauft und noch grinsend ihre 12 bis 15 Pfund Gewicht betont
hatte; es war grade, als hätte er gewußt, wie sich das große Geschöpf
benehmen würde. Ein Versuch, die Melone, ohne sie mit der Hand zu
stetigen, vor mir auf dem Schooß zu balancieren, scheiterte an einer
Serie urkräftiger, auf meine Magengegend gerichteter Püffe von Seiten
der Melone -- es war dem teuflischen Ding mit List nun einmal nicht
beizukommen, sie war voller Ressourcen.

Ein besonders lebhafter Zornesausruf von meiner Seite veranlaßte
Caesario zu dem Rat, den Plagegeist auf den Boden des Wägelchens zu
legen und ihn mit den Füßen zu halten. Dies schien mir eine glänzende
Idee! Aber es war auch nichts mit ihr. Die schwere Frucht rollte den
sie einschließenden Füßen nach vorn weg, und als ich diese dann mit
zorniger Energie heftiger anpreßte, glitt das unleidliche glatte
Ding auf der einen Seite hinüber, und ich mußte wieder allerlei
gymnastische Kunststücke vollführen, damit sie nur nicht unter die
Räder kam. Einen Augenblick war mir allerdings der Gedanke durch den
Kopf geblitzt, was für eine Erleichterung es gewesen wäre, sie los zu
sein, aber dann wieder dachte ich auch: „Nein, nun erst recht nicht!“
und stellte die Melone von neuem, jetzt aber auf ihre Spitze, zwischen
meine Füße. Das ging auch ein Weilchen gut, und ich dachte schon, ich
hätte nun wirklich und endgültig den Vorteil über sie errungen, als
plötzlich Caesario es für gut befand, das rechte Rad des Wagens in
eine tiefe Furche zu schicken, während das linke oben blieb. -- Ja,
da half kein Widerstreben! Zwar klammerte ich mich mit eigensinnig
zusammengekniffenen Lippen an den Armstütz des Wägelchens, zwar suchte
ich mit aller Kraft auch die Melone zu dem gleichen Beharrungsvermögen
zu zwingen, allein, Grete, dem Ungestüm einer fünfzehnpfündigen
Wassermelone, die entschlossen ist, ihren Willen zu haben, ist man
nicht gewachsen: abwärts rutschten Fuß und Frucht, und hinaus zum Wagen
war die tückische Melone und lag in empörender Ruhe im Wegestaub, ehe
ich mich noch von dem Schrecken, beinahe mit aus dem Wagen geschleudert
worden zu sein, erholt hatte. Caesario hatte bereits gehalten und
überreichte mir die wiederum unversehrte Frucht mit dem gleichen
verlegenen Grinsen wie das erste Mal, während ich meinem Grimm gegen
dieselbe auf deutsch Luft machte. Allein, hatte ich mich so lange mit
dem dummen Ding gequält, so wäre es doch thöricht gewesen, jetzt in der
letzten Stunde die Geduld zu verlieren. Ich gab der Melone ihren alten
Platz auf dem Wagensitz wieder und verdammte wiederum meine linke Hand
dazu, ihre Fluchtversuche zu vereiteln.

Der Wagen stuckerte weiter.

Die Sonne war schon seit einiger Zeit hinter Wolken getreten, und
einzeln, wie zögernd fielen endlich die ersten Regentropfen aus der
Luft. Ich will es Dir nur gestehen, Gretele: ich war mittlerweile schon
so ärgerlich und nervös geworden, daß ein zorniger kleiner Faustschlag
die Melone traf, als sei sie unfehlbar auch an dieser Prüfung
schuld, und der verzweifelte Ausruf: „Und dabei keinen Regenmantel!“
begleitete ihn, ohne daß beides jedoch die hartherzige Melone in ihrem
aufregenden Wackeln und Rucksen irre gemacht hätte. Nur Cäsario ließ
ein, dem deutschen Ausruf ~au hasard~ angepaßtes „Sim, Senhora“,
hören.

Rasch wurde der Regen stärker, und mein wieder aufgespannter Entoutcas
bedeutete sehr bald nur noch eine Traufe, die sich mir auf Schultern,
Hut und in den Kragen hinein entleerte, je nachdem die Bewegungen des
Wagens den Schirm dirigierten. Und zu alledem immer die Melone! Da
lag das unförmliche Ding und triefte von Regenwasser, dem sich der
aufgesammelte Staub liebreich gesellte und als Schmutz dem hellen
Handschuh, der darauf herumzurutschen verdammt war, bald eine völlig
undefinierbare Farbe verlieh. Ich hätte schließlich weinen können vor
Zorn! Mit förmlichem Haß betrachtete ich die widerspänstige große
Melone, erwägend, ob ich mich während der noch fehlenden Stunde Wegs
mehr über etwaige neue Chikanen derselben oder darüber ärgern würde,
wenn ich sie jetzt noch aus dem Wagen schleuderte. Ein plötzlicher
heftiger Anprall des Wagens an einen Stein, der die Melone zu dem
entsprechenden Angriff gegen meine Seite veranlaßte, entschied die
Frage. Der unnütze Schirm wurde energisch zugeklappt, und mit beiden
Händen ergriff ich die abscheuliche Frucht, um sie aus dem Wagen zu
schleudern.

„Was wollen Sie denn mit der schönen Melone thun?“ fragte in demselben
Augenblick auf englisch eine Stimme hinter mir und ich sah, mich
umwendend, einen Reiter unmittelbar hinter meinem Wagen... Grete,
ich hätte in die Erde sinken können vor Scham! Das war Mr. Hall, und
ich in dieser Verfassung! Das Kleid bespritzt, total verregnet, mit
schmutzigen Handschuhen und mit dem zornigen Gesicht über der großen
grünen Frucht -- ich war versteinert vor Schreck und wünschte ihn, ja
denke Dir, im Ernst, ich wünschte ihn lieber tausend Meilen entfernt,
als gerade in dem Augenblicke vor mir! Er ritt langsam neben dem Wagen
her, während ich ganz rot und verlegen auf die Melone starrte, die ich
noch steif in Händen hielt. „~Well?~“ machte er und lächelte. Da
sah ich ihn an, und da lachten wir beide.

„Das große Ding war auch zu unleidlich geworden“, sagte ich, begann
jedoch unwillkürlich, ich weiß nicht warum, das „unleidliche“ Ding mit
erneuter Sanftmut zu halten.

„Geben Sie her“, sagte Mr. Hall, „ich werde sie Ihnen für den Rest des
Weges tragen.“

„Ah! -- aber wie?“

„Hier in diesem Sack; den kann ich so an meinen Sattel hängen... Sehen
Sie, so!“

„O danke!“

Grete, wenn ich nur nicht so zerzaust ausgesehen hätte! Ich freute mich
förmlich, daß es nicht mehr weit war bis nach Saõ Sebastiaõ. Aber wo
mochte Mr. Hall hinwollen, und wo kam er her?

Ich scheute mich, ihn zu fragen, aber ich hätte es zu gerne gewußt.
Wir sprachen überhaupt wenig, aber ich hatte so eine Ahnung, als
+müsse+ er nach Saõ Sebastiaõ reiten.

Jetzt kam ein Seitenweg, da wollte ich es schon erfahren.

„Sie sollen um meinetwillen aber keinen Umweg machen“, sagte ich.
Gretel, das war doch gewiß fein ausgedacht, und ich dachte, er würde
nichts merken, aber er machte ein so drolliges Gesicht zu dieser
Bemerkung und ich wurde so rot dabei, daß ich sie augenblicklich
zehntausendmal mehr verwünschte, als vorhin die Tücken der Melone.

„Ich reite meinen Weg“, lächelte Mr. Hall.

„Ja, wollen Sie denn auch --“

„Nach Saõ Sebastiaõ, ja, genau wie Sie; ich komme von der Fazenda Santa
Catharina.“

„Aber was --?“

Es machte ihm augenscheinlich Spaß, mich neugierig zu machen, was er
in Saõ Sebastiaõ wolle, bis er mir zuletzt die Maschinen-Angelegenheit
erzählte. So kamen wir zusammen auf Saõ Sebastiaõ an. Du kannst Dir
denken, daß Souzas nicht wenig erstaunt waren zu finden, daß wir beide
uns recht -- oder ziemlich -- ich meine, daß wir beide uns schon
kannten.

Er blieb nur einen Tag, aber diesmal war es so, als sei ich dazu
bestimmt gewesen, mich einfältig zu betragen. Was mag er nur jetzt von
mir denken!

Als er nämlich gegen Abend fortreiten wollte, kam er, um mir Adieu zu
sagen, in’s Schulzimmer, wo ich allein war und sang. Ich stand auf vom
Klavier und reichte ihm die Hand. Da hielt er sie wieder fest in der
seinen, wie an jenem Abend in Saõ Paulo und sah mich ebenso an wie
damals. Diesmal aber sagte er auch etwas -- viel war es nicht -- nur
„Ulla“ -- aber, Grete, mir war’s, als hätte ich meinen Namen noch nie
zuvor gehört. Mir wurde einen Augenblick ganz wirr und betäubt zu Mute
und dann -- -- bin ich dumme, ungezogene Gans davongelaufen und habe
mich nicht wieder blicken lassen, bis er fortgeritten war. Werde ich
denn ewig kindisch bleiben!

    Deine unartige +Ulla+.

Er hat mir auch gesagt, Emersons wollten mich nächstens zum Ball
einladen; ich freue mich schon furchtbar darauf -- ein Ball ist doch
ein entzückendes Vergnügen, meinst Du nicht auch, Herzensgrete?

Himmel, was er nur denken mag!



                             Ulla von Eck

                              George Hall

                               Verlobte.

    +Saõ Paulo+, im Januar 1883.

    Süße Grete, es war auf dem Ball! Ich habe ja immer für Bälle
    geschwärmt!! Nun schreibe ich nicht mehr. Wir kommen bald beide,
    und ich -- als

        Deine überglückliche

                                                      +Ulla Hall+.

      Wie drollig sich das anhört!



Druck von Greßner & Schramm in Leipzig.





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