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Title: Psychologische Typen
Author: Jung, C. G. (Carl Gustav)
Language: German
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*** Start of this LibraryBlog Digital Book "Psychologische Typen" ***


  ####################################################################

                     Anmerkungen zur Transkription

    Der vorliegende Text wurde anhand der 1921 erschienenen Buchausgabe
    so weit wie möglich originalgetreu wiedergegeben. Typographische
    Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Ungewöhnliche und heute
    nicht mehr gebräuchliche Schreibweisen sowie Schreibvarianten
    bleiben gegenüber dem Original unverändert, sofern der Sinn des
    Texts dadurch nicht beeinträchtigt wird.

    Das Inhaltsverzeichnis wurde vom Bearbeiter an den Anfang des Texts
    verschoben.

    Auf S. 297 wurde im Original eine Listennummer doppelt vergeben.
    In der vorliegenden Ausgabe wurde im Unterpunkt 7. ‚Damit stimmt
    folgende Stelle trefflich überein: ...‘ die Nummerierung entfernt,
    wodurch die korrekte Abfolge der Listenpunkte wiederhergestellt
    wurde. Das Inhaltsverzeichnis wurde vom Bearbeiter an den Anfang
    des Texts verschoben.

    In Kapitel XI, Punkt 20, soll der Begriff ‚Empfinden‘ erklärt
    werden, welcher in diesem Abschnitt mit ‚E.‘ abgekürzt werden
    soll. Im Zusammenhang wird aber klar, dass hier genau genommen das
    Wort ‚Empfindung‘ stehen muss. Infolgedessen wurde dies sowohl in
    der Überschrift des Unterpunktes als auch im Inhaltsverzeichnis
    abgeändert. Der Autor verwendet beide Begriffe als Synonyme.

    Besondere Schriftschnitte wurden mit Hilfe der folgenden
    Sonderzeichen gekennzeichnet:

        Fettdruck: =Gleichheitszeichen=
        gesperrt:  _Unterstriche_

    Das Caret-Symbol (^) steht für nachfolgende, hochgestellte Zeichen,
    welche in geschweifte Klammern eingeschlossen wurden.

  ####################################################################



[Illustration]



                         Psychologische Typen

                                  Von

                              C. G. Jung

                  Dr. med. et jur., vorm. Dozent der
                 Psychiatrie an der Universität Zürich

                 Rascher & Cie., Verlag, Zürich, 1921



                      Erstes und zweites Tausend.

                          Nachdruck verboten.
      Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung, vorbehalten.
           Copyright 1921 by Rascher & Cie., Verlag, Zürich.

            Buchdruckerei _Hans Schatzmann_, Horgen-Zürich.



Inhalt.


    =Einleitung:=                                                  Seite

      Die zwei Mechanismen der Extra- und der Introversion.
      Die vier psychologischen Grundfunktionen: Denken,
      Fühlen, Empfinden und Intuieren                                  7


    =I. Das Typenproblem in der antiken und mittelalterlichen
        Geistesgeschichte:=                                           17

      1. Zur Psychologie in der Antike. Tertullian und

      2. Die theologischen Streitigkeiten der alten Kirche.
         Homousie und Homoiusie. Der pelagianische Streit             33

      3. Das Problem der Transsubstantiation                          36

      4. Nominalismus und Realismus                                   40

        a) Das Universalienproblem in der Antike.

        b) Das Universalienproblem in der Scholastik.

        c) Der Einigungsversuch des Abaelard.

      5. Der Abendmahlstreit zwischen Luther und Zwingli              91


    =II. Über Schillers Ideen zum Typenproblem=                       97

      1. Die Briefe über die ästhetische Erziehung des
         Menschen                                                     97

        a) Über die wertvolle und die minderwertige
           Funktion. b) Über die Grundtriebe.

      2. Die Abhandlung über naive und sentimentalische
         Dichtung                                                    182

        a) Die naive Einstellung. b) Die sentimentalische
           Einstellung. c) Der Idealist und der Realist.


    =III. Das Appollinische und das Dionysische=                     193

      _Nietzsche_: Die Geburt der Tragödie.


    =IV. Das Typenproblem in der Menschenkenntnis=                   211

      _Furneaux Jordan_: Character as seen in body
      and parentage.

      1. Allgemeines über die Jordanschen Typen                      211

      2. Spezielle Darstellung und Kritik der Jordanschen
         Typen                                                       219

        a) Die introvertierte Frau. b) Die extravertierte
           Frau. c) Der extravertierte Mann. d) Der
           introvertierte Mann.

    =V. Das Typenproblem in der Dichtkunst=                          239

      _Carl Spitteler_: Prometheus und Epimetheus.

      1. Einleitendes über die Spittelerschen Typen                  239

      2. Vergleichung von Spittelers und Goethes Prometheus          248

      3. Die Bedeutung des vereinigenden Symbols                     269

        a) Die brahmanistische Auffassung des Gegensatzproblems.

        b) Über die brahmanistische Auffassung des vereinigenden
           Symbols.

        c) Das vereinigende Symbol als dynamische Gesetzmässigkeit.

        d) Das vereinigende Symbol in der chinesischen Philosophie.

      4. Die Relativität des Symbols                                 311

        a) Frauendienst und Seelendienst.

        b) Die Relativität des Gottesbegriffes bei Meister
           Eckehart.

      5. Die Natur des vereinigenden Symbols bei Spitteler           362


    =VI. Das Typenproblem in der Psychiatrie=                        383

      _Gross_: Die zerebrale Sekundärfunktion.


    =VII. Das Problem der Typischen Einstellungen
          in der Ästhetik=                                           407

      _Worringer_: Abstraktion und Einfühlung.


    =VIII. Das Typenproblem in der modernen Philosophie=             425

      1. Die James’schen Typen. 2. Die charakteristischen
         Gegensatzpaare der James’schen Typen. 3. Zur Kritik
         der James’schen Auffassung.


    =IX. Das Typenproblem in der Biographik=                         459

      _Ostwald_: Grosse Männer.


    =X. Allgemeine Beschreibung der Typen=                           473

      A. =Einleitung.=

      B. =Der extravertierte Typus.=                                 477

          I. Die allgemeine Einstellung des Bewusstseins             478

         II. Die Einstellung des Unbewussten                         483

        III. Die Besonderheiten der psychologischen
             Grundfunktionen in der extravertierten
             Einstellung                                             490

               1. Das Denken. 2. Der extravertierte Denktypus.
               3. Das Fühlen. 4. Der extravertierte Fühltypus.
               5. Zusammenfassung der rationalen Typen. 6. Das
               Empfinden. 7. Der extravertierte Empfindungstypus.
               8. Die Intuition. 9. Der extravertierte intuitive
               Typus. 10. Zusammenfassung der irrationalen Typen.

      C. =Der introvertierte Typus.=                                 535

          I. Die allgemeine Einstellung des Bewusstseins             535

         II. Die unbewusste Einstellung                              542

        III. Die Besonderheiten der psychologischen
             Grundfunktionen in der introvertierten Einstellung      545

               1. Das Denken. 2. Der introvertierte Denktypus.
               3. Das Fühlen. 4. Der introvertierte Fühltypus.
               5. Zusammenfassung der rationalen Typen. 6. Das
               Empfinden. 7. Der introvertierte Empfindungstypus.
               8. Die Intuition. 9. Der introvertierte intuitive
               Typus. 10. Zusammenfassung der irrationalen Typen.
               11. Hauptfunktion und  Hilfsfunktion.


    =XI. Definitionen=                                               587

               Begriffliche Umschreibung von 58 psychologischen
               Ausdrücken: 1. Abstraktion. 2. Affektivität.
               3. Affekt. 4. Apperception. 5. Archaïsmus.
               6. Assimilation. 7. Bewusstsein. 8. Bild. 9.
               Collektiv. 10. Compensation. 11. Concretismus.
               12. Construktiv. 13. Denken. 14. Differenzierung.
               15. Dissimilation. 16. Einfühlung. 17.
               Einstellung. 18. Enantiodromie. 19. Emotion.
               20. Empfindung. 21. Extraversion. 22. Fühlen.
               23. Funktion. 24. Gedanke. 25. Gefühl. 26. Ich.
               27. Idee. 28. Identifikation. 29. Identität.
               30. Individualität. 31. Individuation. 32.
               Individuum. 33. Intellekt. 34. Introjektion. 35.
               Introversion. 36. Intuition. 37. Irrational.
               38. Libido. 39. Machtcomplex. 40. Minderwertige
               Funktion. 41. Objektstufe. 42. Orientierung.
               43. „Participation mystique“. 44. Phantasie.
               45. Projektion. 46. Rational. 47. Reduktiv.
               48. Seele. 49. Seelenbild. 50. Selbst. 51.
               Subjektstufe. 52. Symbol. 53. Synthetisch. 54.
               Transscendente Funktion. 55. Trieb. 56. Typus.
               57. Unbewusst. 58. Wille.


    =Schlusswort=                                                    693



Vorrede.


Dies Buch ist die Frucht einer beinahe zwanzigjährigen Arbeit im
Gebiete der praktischen Psychologie. Es ist gedanklich allmählich
entstanden, einmal aus unzähligen Eindrücken und Erfahrungen der
psychiatrischen und nervenärztlichen Praxis sowohl, wie des Umganges
mit Menschen aller sozialen Schichten, sodann aus meiner persönlichen
Auseinandersetzung mit Freund und Feind, und schliesslich aus der
Kritik der psychologischen Eigenart meiner selbst. Ich habe mir
vorgenommen, den Leser nicht mit Kasuistik zu beschweren, dagegen
lag es mir daran, meine aus der Erfahrung abstrahierten Gedanken
historisch sowohl wie terminologisch der bereits vorhandenen Erkenntnis
anzugliedern. Ich habe dieses Unternehmen weniger aus einem Bedürfnis
historischer Gerechtigkeit durchgeführt, als vielmehr in der Absicht,
die Erfahrungen des ärztlichen Spezialisten aus dem engen Fachgebiete
in allgemeinere Zusammenhänge zu bringen; in Zusammenhänge, welche
es auch dem gebildeten Laien ermöglichen, sich die Erfahrungen eines
Spezialgebietes zu nutze zu machen. Ich hätte diese Angliederung,
die man leicht als einen Eingriff in andere Gebiete missverstehen
könnte, niemals gewagt, wenn ich nicht der Überzeugung wäre, dass
die in diesem Buche dargestellten psychologischen Gesichtspunkte von
allgemeiner Bedeutung und Anwendbarkeit sind, und darum auch besser
in einem allgemeinen Zusammenhang abgehandelt, als in der Form einer
fachwissenschaftlichen Hypothese belassen werden. Dieser meiner Absicht
entsprechend habe ich mich darauf beschränkt, mich mit den Ideen
einzelner Bearbeiter des vorliegenden Problems auseinanderzusetzen,
und habe darauf verzichtet, alles zu erwähnen, was überhaupt schon zu
unserer Frage gesagt wurde. Ganz abgesehen davon, dass es meine Kraft
um ein Vielfaches überstiege, eine auch nur annähernde Vollständigkeit
eines solchen Verzeichnisses von einschlägigen Materialien und
Meinungen zu erreichen, trüge eine solche Sammlung auch gar nichts
Gründliches bei zur Erörterung und Entwicklung des Problems. Ich habe
darum vieles, was ich mir im Laufe der Jahre gesammelt habe, ohne
Bedauern weggelassen und mich möglichst auf die Hauptsachen beschränkt.
Diesem Verzicht ist auch ein wertvolles Dokument, das mir sehr viele
Hilfe gewährte, zum Opfer gefallen. Dies ist ein umfangreicher
Briefwechsel mit meinem Freunde, Herrn Dr. med. _H. Schmid_ in
Basel, den ich mit ihm über die Typenfrage gepflogen habe. Ich verdanke
diesem Meinungsaustausch sehr viel Klärung, und vieles daraus ist auch
in allerdings veränderter und mehrfach überarbeiteter Form in mein
Buch übergegangen. Im wesentlichen gehört dieser Briefwechsel zu den
Vorarbeiten, deren Mitteilung mehr Verwirrung als Klarheit erzeugen
würde. Ich bin es aber den Bemühungen meines Freundes schuldig, ihm an
dieser Stelle meinen Dank auszusprechen.

    _Küsnacht-Zürich._
    Im Frühling 1920.

                                                       Dr. C. G. Jung.



Einleitung.

    Plato und Aristoteles! Das sind nicht bloss die zwei Systeme,
    sondern auch die Typen zweier verschiedener Menschennaturen, die
    sich seit undenklicher Zeit, unter allen Kostümen, mehr oder
    minder feindselig entgegenstehen. Vorzüglich das ganze Mittelalter
    hindurch, bis auf den heutigen Tag, wurde solchermassen gekämpft,
    und dieser Kampf ist der wesentlichste Inhalt der christlichen
    Kirchengeschichte. Von Plato und Aristoteles ist immer die
    Rede, wenn auch unter anderm Namen. Schwärmerische, mystische,
    platonische Naturen offenbaren aus den Abgründen ihres Gemütes die
    christlichen Ideen und die entsprechenden Symbole. Praktische,
    ordnende, aristotelische Naturen bauen aus diesen Ideen und
    Symbolen ein festes System, eine Dogmatik und einen Kultus. Die
    Kirche umschliesst endlich beide Naturen, wovon die einen sich
    meistens im Klerus und die andern im Mönchstum verschanzen, aber
    sich unablässig befehden.

    (_H. Heine_: Deutschland, I.)


Bei meiner praktischen ärztlichen Arbeit mit nervösen Patienten ist
mir schon lange aufgefallen, dass es neben den vielen individuellen
Verschiedenheiten der menschlichen Psychologie auch _typische
Unterschiede_ gibt, und zwar fielen mir zunächst _zwei Typen_
auf, die ich als _Introversions-_ und _Extraversionstypus_
bezeichnete.

Wenn wir einen menschlichen Lebensverlauf betrachten, so sehen wir, wie
die Schicksale des einen mehr bedingt sind durch die Objekte seiner
Interessen, während die Schicksale eines andern mehr durch sein eigenes
Inneres, durch sein Subjekt bedingt sind. Da wir nun alle etwas mehr
nach dieser oder jener Seite abweichen, so sind wir natürlicherweise
geneigt, alles jeweils im Sinne unseres eigenen Typus zu verstehen.

Ich erwähne diesen Umstand schon hier, um möglichen Missverständnissen
vorzubeugen. Begreiflicherweise erschwert dieser Umstand den Versuch
einer allgemeinen Beschreibung der Typen beträchtlich. Ich muss beim
Leser schon ein grosses Wohlwollen voraussetzen, wenn ich hoffen will,
richtig verstanden zu werden. Es wäre relativ einfach, wenn jeder Leser
von sich wüsste, zu welcher Kategorie er selber zählt. Es ist aber oft
sehr schwierig, herauszufinden, ob jemand zu diesem oder jenem Typus
gehört; besonders, wenn man selber in Frage kommt. Das Urteil in Bezug
auf die eigene Persönlichkeit ist ja immer ausserordentlich getrübt.
Diese subjektiven Urteilstrübungen sind darum so besonders häufig, weil
jedem ausgesprochenem Typus eine besondere _Tendenz zur Compensation
der Einseitigkeit seines Typus_ innewohnt, eine Tendenz, die
biologisch zweckmässig ist, da sie das seelische Gleichgewicht zu
erhalten strebt. Durch die Compensation entstehen sekundäre Charaktere
oder _Typen_, welche ein äusserst schwierig zu enträtselndes
Bild darbieten, so schwierig, dass man selbst geneigt ist, die
Existenz der Typen überhaupt zu leugnen und nur noch an individuelle
Verschiedenheiten zu glauben.

Ich muss diese Schwierigkeiten hervorheben, um eine gewisse
Eigentümlichkeit meiner spätern Darstellung zu rechtfertigen: Es
möchte nämlich scheinen, als ob der einfachste Weg der wäre, zwei
concrete Fälle zu beschreiben und zergliedert nebeneinander zu
stellen. Jeder Mensch aber besitzt beide Mechanismen, der Extraversion
sowohl, wie der Introversion, und nur das relative Überwiegen des
einen oder andern macht den Typus aus. Man müsste daher schon stark
retouchieren, um das nötige Relief in das Bild zu bringen, was auf
einen mehr oder weniger frommen Betrug hinausliefe. Dazu kommt, dass
die psychologische Reaktion eines Menschen ein dermassen kompliziertes
Ding ist, dass meine Darstellungsfähigkeit wohl kaum hinreichen würde,
um ein absolut richtiges Bild davon zu geben. Ich muss mich daher
notgedrungenerweise darauf beschränken, die Prinzipien darzustellen,
die ich aus der Fülle der beobachteten Einzeltatsachen abstrahiert
habe. Es handelt sich dabei um keine Deductio a priori, wie es etwa den
Anschein haben könnte, sondern um eine deduktive _Darstellung_
empirisch gewonnener Einsichten. Diese Einsichten sind, wie ich
hoffe, ein klärender Beitrag zu einem Dilemma, das nicht nur in der
analytischen Psychologie, sondern auch in andern Wissenschaftsgebieten
und ganz besonders auch in den persönlichen Beziehungen der Menschen
untereinander zu Missverständnis und Zwiespalt geführt hat und
immer noch führt. Daraus erklärt sich, warum die Existenz von zwei
verschiedenen Typen eine eigentlich schon längst bekannte Tatsache ist,
die in dieser oder jener Form, sei es dem Menschenkenner, sei es der
grübelnden Reflexion des Denkers, aufgefallen ist, oder der Intuition
_Goethes_ z. B. als das umfassende Prinzip der _Systole_
und _Diastole_ sich dargestellt hat. Die Namen und Begriffe,
unter denen der Mechanismus der Introversion und der Extraversion
gefasst wurde, sind recht verschieden und jeweils dem Standpunkt
des individuellen Beobachters angepasst. Trotz der Verschiedenheit
der Formulierungen leuchtet immer wieder das Gemeinsame in der
Grundauffassung hervor, nämlich eine Bewegung des Interesses auf das
Objekt hin in dem einen Falle, und eine Bewegung des Interesses vom
Objekt weg zum Subjekt und zu dessen eigenen psychologischen Vorgängen
im andern Falle. Im erstern Falle wirkt das Objekt wie ein Magnet auf
die Tendenzen des Subjekts, es zieht sie an und bedingt das Subjekt
in hohem Masse, ja, es entfremdet sogar das Subjekt sich selber und
verändert dessen Qualitäten im Sinne einer Angleichung an das Objekt so
sehr, dass man meinen könnte, das Objekt sei von höherm und in letzter
Linie von ausschlaggebender Bedeutung für das Subjekt, und als sei es
gewissermassen eine absolute Bestimmung und ein besonderer Sinn von
Leben und Schicksal, dass das Subjekt sich ganz ans Objekt aufgebe. Im
letztern Falle dagegen ist und bleibt das Subjekt das Zentrum aller
Interessen. Man könnte sagen, es scheine, als ob in letzter Linie alle
Lebensenergie das Subjekt suche und darum stets verhindere, dass das
Objekt einen irgendwie übermächtigen Einfluss erhalte. Es scheint, als
ob die Energie vom Objekt wegfliesse, als ob das Subjekt der Magnet
sei, der das Objekt an sich ziehen wolle.

Es ist nicht leicht, dieses gegensätzliche Verhalten zum Objekt in
einer leicht fasslichen und klaren Weise zu charakterisieren, und die
Gefahr ist gross, zu ganz paradoxen Formulierungen zu gelangen, welche
mehr Verwirrung als Klarheit stiften. Ganz allgemein könnte man den
introvertierten Standpunkt als denjenigen bezeichnen, der unter allen
Umständen das Ich und den subjektiven psychologischen Vorgang dem
Objekt und dem objektiven Vorgang überzuordnen oder doch wenigstens dem
Objekt gegenüber zu behaupten sucht. Diese Einstellung gibt daher dem
Subjekt einen höhern Wert als dem Objekt. Dementsprechend steht das
Objekt immer auf einem tiefern Wertniveau, es hat sekundäre Bedeutung,
ja, es steht gelegentlich nur als das äussere, objektive Zeichen eines
subjektiven Inhaltes, etwa als Verkörperung einer Idee, wobei aber die
Idee das Wesentliche ist; oder es ist der Gegenstand eines Gefühls,
wobei aber das Gefühlserlebnis die Hauptsache ist und nicht das Objekt
in seiner realen Individualität. Der extravertierte Standpunkt dagegen
ordnet das Subjekt dem Objekt unter, wobei dem Objekt der überragende
Wert zukommt. Das Subjekt hat stets sekundäre Bedeutung; der subjektive
Vorgang erscheint bisweilen bloss als störendes oder überflüssiges
Anhängsel objektiver Geschehnisse. Es ist klar, dass die Psychologie,
die aus diesen gegensätzlichen Standpunkten hervorgeht, in zwei total
verschiedene Orientierungen zerfallen muss. Der eine sieht alles
unter dem Gesichtswinkel seiner Auffassung, der andere unter dem des
objektiven Geschehens.

Diese gegensätzlichen Einstellungen sind zunächst nichts anderes als
gegensätzliche Mechanismen: ein diastolisches Herausgehen an und ein
Ergreifen des Objektes und ein systolisches Konzentrieren und Loslösen
der Energie von den ergriffenen Objekten. Jeder Mensch besitzt beide
Mechanismen als Ausdruck seines natürlichen Lebensrhythmus, den
_Goethe_ wohl nicht zufällig mit den physiologischen Begriffen
der Herztätigkeit bezeichnet hat. Eine rhythmische Abwechslung beider
psychischen Tätigkeitsformen dürfte dem normalen Lebensverlauf
entsprechen. Die komplizierten äusseren Bedingungen, unter denen wir
leben, sowohl, wie die vielleicht noch komplizierteren Bedingungen
unserer individuellen psychischen Disposition erlauben aber selten
einen gänzlich ungestörten Ablauf der psychischen Lebenstätigkeit.
Äussere Umstände und innere Disposition begünstigen sehr oft den
einen Mechanismus und beschränken oder hindern den andern. Daraus
entsteht natürlicherweise ein Überwiegen des einen Mechanismus. Wird
dieser Zustand in irgend einer Weise chronisch, so entsteht daraus
ein _Typus_, nämlich eine habituelle Einstellung, in welcher der
eine Mechanismus dauernd vorherrscht, allerdings ohne den andern je
völlig unterdrücken zu können, denn er gehört unbedingt zur psychischen
Lebenstätigkeit. Es kann daher niemals ein in dem Sinne reiner Typus
entstehen, dass er durchaus nur den einen Mechanismus besässe bei
völliger Atrophie des andern. Eine typische Einstellung bedeutet immer
bloss das relative Überwiegen des einen Mechanismus.

Mit der Konstatierung der Introversion und Extraversion war zunächst
eine Möglichkeit gegeben, zwei umfangreiche Gruppen von psychologischen
Individuen zu unterscheiden. Jedoch ist diese Gruppierung von so
oberflächlicher und allgemeiner Natur, dass sie eben nicht mehr als
eine so allgemeine Unterscheidung erlaubt. Eine genauere Untersuchung
jener Individualpsychologien, die in die eine oder andere Gruppe
fallen, ergibt sofort grosse Unterschiede zwischen den einzelnen
Individuen, die doch derselben Gruppe angehören. Wir müssen daher einen
weitern Schritt tun, um bezeichnen zu können, worin die Unterschiede
der zu einer bestimmten Gruppe gehörenden Individuen bestehen. Es
hat sich nun meiner Erfahrung gezeigt, dass ganz allgemein die
Individuen sich unterscheiden lassen, nicht nur nach der universellen
Verschiedenheit von Extra- und Introversion, sondern auch nach den
einzelnen psychologischen Grundfunktionen. In dem gleichen Masse
nämlich, wie äussere Umstände sowohl, wie innere Disposition ein
Vorherrschen von Extraversion oder Introversion veranlassen, so
begünstigen sie auch das Vorherrschen einer bestimmten Grundfunktion
im Individuum. Als Grundfunktionen, d. h. als Funktionen, die sich
sowohl genuin wie auch essentiell von andern Funktionen unterscheiden,
ergaben sich meiner Erfahrung das _Denken_, das _Fühlen_,
das _Empfinden_ und das _Intuieren_. Herrscht eine dieser
Funktionen habituell vor, so entsteht ein entsprechender Typus. Ich
unterscheide daher einen Denk-, einen Fühl-, einen Empfindungs-
und einen intuitiven Typus. _Jeder dieser Typen kann ausserdem
introvertiert oder extravertiert sein_, je nach seinem Verhalten
zum Objekt in der Weise, wie oben geschildert wurde. Ich habe
diese hier auseinandergesetzte Unterscheidung in zwei vorläufigen
Mitteilungen[1] über die psychologischen Typen nicht durchgeführt,
sondern den Denktypus mit dem Introvertierten und den Fühltypus mit
dem Extravertierten identifiziert. Diese Vermischung hat sich einer
vertieften Bearbeitung des Problems gegenüber als unhaltbar erwiesen.
Zur Vermeidung von Missverständnissen möchte ich daher den Leser
bitten, die hier durchgeführte Unterscheidung im Auge zu behalten. Um
die in solch komplizierten Dingen unbedingt erforderliche Klarheit
zu sichern, habe ich das letzte Kapitel dieses Buches der Definition
meiner psychologischen Begriffe gewidmet.



I

Das Typenproblem in der antiken und mittelalterlichen
Geistesgeschichte.



I.

Das Typenproblem in der antiken und mittelalterlichen Geistesgeschichte.


1. Zur Psychologie in der Antike. Die Gnostiker. Tertullian und
Origenes.

Es gab zwar immer Psychologie, solange die geschichtliche Welt besteht,
aber eine objektive Psychologie gibt es erst seit kurzem. Für die
Wissenschaft früherer Zeit gilt der Satz: Der Gehalt an subjektiver
nimmt zu mit dem Mangel an objektiver Psychologie. Daher die Werke
der Alten zwar voll Psychologie sind, aber nur weniges davon ist als
Objektiv-Psychologisches zu bezeichnen. Dies dürfte in nicht geringem
Masse bedingt sein durch die Eigentümlichkeit der menschlichen
Beziehung in Antike und Mittelalter. Die Antike hatte, wenn man so
sagen darf, eine beinahe ausschliesslich biologische Bewertung des
Mitmenschen, wie aus den Lebensgewohnheiten und den Rechtsverhältnissen
des Altertums überall hervorleuchtet. Das Mittelalter hatte, insofern
ein Werturteil überhaupt Ausdruck gefunden hat, eine metaphysische
Bewertung des Mitmenschen, die ihren Anfang mit dem Gedanken des
unverlierbaren Wertes der Menschenseele nahm. Diese, den Standpunkt der
Antike compensierende Bewertung, ist der persönlichen Wertschätzung,
welche allein die Grundlage einer objektiven Psychologie sein kann,
ebenso ungünstig wie die biologische Bewertung. Es gibt zwar nicht
wenige, welche meinen, eine Psychologie sei auch ex cathedra zu
schreiben. Heutzutage sind allerdings die meisten überzeugt, dass eine
objektive Psychologie sich zu allererst auf Beobachtung und Erfahrung
zu stützen habe. Diese Grundlage wäre ideal, wenn sie möglich wäre.
Das Ideal und der Zweck der Wissenschaft bestehen aber nicht darin,
eine möglichst genaue Beschreibung der Tatsachen zu geben -- die
Wissenschaft kann doch nicht konkurrieren mit kinematographischen und
phonographischen Aufnahmen --, sondern sie erfüllt ihren Zweck und
ihre Absicht nur in der Aufstellung des Gesetzes, welches nichts ist
als ein abgekürzter Ausdruck für mannigfaltige und doch als irgendwie
einheitlich erfasste Prozesse. Dieser Zweck erhebt sich mittelst der
_Auffassung_ über das schlechthin Erfahrbare und wird immer trotz
allgemeiner und erwiesener Gültigkeit ein Produkt der subjektiven
psychologischen Konstellation des Forschers sein. In wissenschaftlicher
Theorie- und Begriffsbildung liegt viel von persönlicher Zufälligkeit.
Es gibt auch eine psychologische persönliche Gleichung, nicht bloss
eine psychophysische. Wir sehen Farben, aber keine Wellenlängen. Diese
wohlbekannte Tatsache muss nirgends mehr beherzigt werden, als in der
Psychologie. Die Wirksamkeit der persönlichen Gleichung fängt schon an
bei der Beobachtung. _Man sieht, was man am besten aus sich sehen
kann._ So sieht man zu allererst den Splitter in seines Bruders
Auge. Kein Zweifel, der Splitter ist dort, aber der Balken sitzt im
eigenen und -- dürfte den Akt des Sehens einigermassen behindern.
Ich misstraue dem Prinzip der „reinen Beobachtung“ in der sogen.
objektiven Psychologie, es sei denn, man beschränke sich auf die Brille
des Chronoskopes, des Tachistoskopes und anderer „psychologischer“
Apparate. Man sichert sich damit auch gegen eine zu grosse Ausbeute
an psychologischen Erfahrungstatsachen. Noch viel mehr kommt aber die
persönliche psychologische Gleichung zur Geltung bei der Darstellung
oder Mitteilung des Beobachteten, gar nicht zu sprechen von der
Auffassung und Abstraktion des Erfahrungsmaterials! Nirgends, wie
in der Psychologie, ist es eine unerlässliche Grundanforderung,
dass der Beobachter und Forscher seinem Objekt adäquat sei, in dem
Sinne, dass er imstande sei, nicht nur das eine, sondern auch das
andere zu sehen. Die Forderung, dass er _nur_ objektiv sehe,
ist gar nicht zu erheben; denn das ist unmöglich. Wenn man nicht
_zu_ subjektiv sieht, so dürfte man schon zufrieden sein. Dass
die subjektive Beobachtung und Auffassung mit den objektiven Tatsachen
des psychologischen Objektes übereinstimmt, ist nur insofern für
die Auffassung beweisend, als die Auffassung keine allgemeine zu
sein prätendiert, sondern nur gültig sein will für das in Betracht
gezogene Gebiet des Objektes. Insofern befähigt der Balken im eigenen
Auge geradezu die Auffindung des Splitters in des Bruders Augen. In
diesem Fall beweist, wie gesagt, der Balken im eigenen Auge nicht,
dass der Bruder keinen Splitter im Auge habe. Aber die Behinderung
des Sehens könnte leicht Anlass zu einer allgemeinen Theorie werden,
dass alle Splitter Balken seien. Die Anerkennung und Beherzigung der
subjektiven Bedingtheit der Erkenntnisse überhaupt, und ganz besonders
der psychologischen Erkenntnisse, ist eine Grundbedingung für die
wissenschaftliche und gerechte Würdigung einer vom beobachtenden
Subjekt verschiedenen Psyche. Diese Bedingung ist nur dann erfüllt,
wenn der Beobachter über den Umfang und die Art seiner eigenen
Persönlichkeit hinreichend unterrichtet ist. Er kann aber nur dann
hinreichend unterrichtet sein, wenn er sich in hohem Masse von den
ausgleichenden Einflüssen der Collektivurteile und Collektivgefühle
freigemacht hat und dadurch zu einer klaren Auffassung seiner eigenen
Individualität gelangt ist.

Je weiter wir in der Geschichte zurückgehen, desto mehr sehen wir, dass
die Persönlichkeit unter der Decke der Collektivität verschwindet. Und
wenn wir gar zur primitiven Psychologie hinuntergehen, so finden wir,
dass dort vom Begriffe des Individuums überhaupt nicht zu reden ist.
Statt der Individualität finden wir nur collektive Bezogenheit oder
„participation mystique“ (_Lévy-Bruhl_). Die Collektiveinstellung
verhindert aber die Erkenntnis und die Würdigung einer vom Subjekt
verschiedenen Psychologie, indem der collektiv eingestellte Geist eben
unfähig ist, anders als projizierend zu denken und zu fühlen. Das, was
wir unter dem Begriff „Individuum“ verstehen, ist eine verhältnismässig
junge Errungenschaft der menschlichen Geistes- und Kulturgeschichte. Es
ist darum kein Wunder, dass die früher allmächtige Collektiveinstellung
eine objektive psychologische Würdigung der Individualdifferenzen
sozusagen gänzlich verhindert hat, wie überhaupt jede wissenschaftliche
Objektivierung individualpsychologischer Vorgänge. Gerade wegen dieses
Mangels an psychologischem Denken war die Erkenntnis „psychologisiert“,
d. h. angefüllt mit projizierter Psychologie. Dafür bieten die
Anfänge philosophischer Welterklärung treffende Beispiele. Hand
in Hand mit der Entwicklung der Individualität und der dadurch
bedingten psychologischen Differenzierung der Menschen geht die
Entpsychologisierung der objektiven Wissenschaft. Diese Erörterungen
dürften erklären, warum die Quellen objektiver Psychologie in den uns
aus dem Altertum überlieferten Stoffen äusserst spärlich fliessen.
Die Unterscheidung der vier Temperamente, die wir vom Altertum
übernommen haben, ist eine kaum noch psychologische Typisierung, indem
die Temperamente beinahe nichts anderes als psycho-physiologische
Komplexionen sind. Der Mangel an Nachricht will nun aber nicht sagen,
dass wir von der Wirksamkeit der in Frage stehenden psychologischen
Gegensätze keine Spuren in der antiken Geistesgeschichte besässen.

So hat die gnostische Philosophie drei Typen aufgestellt, vielleicht
entsprechend den drei psychologischen Grundfunktionen, _Denken_,
_Fühlen_ und _Empfinden_. Dem Denken entspräche der Pneumatiker, dem
Fühlen der Psychiker, dem Empfinden der Hyliker. Die mindere Schätzung
des Psychikers entspricht dem Geiste der Gnosis, welche gegenüber dem
Christentum auf dem Werte der Erkenntnis insistierte. Die christlichen
Prinzipien der Liebe und des Glaubens aber waren der Erkenntnis abhold.
Innerhalb der christlichen Sphäre wäre demnach der Pneumatiker der
Minderschätzung unterlegen, insofern er sich bloss durch den Besitz der
Gnosis, der Erkenntnis, auszeichnete.

Wir dürfen an die Typendifferenz auch denken, wenn wir den langen
und nicht gefahrlosen Kampf betrachten, den die Kirche seit den
ersten Anfängen gegen den Gnostizismus führte. Bei der unzweifelhaft
überwiegend praktischen Richtung des ersten Christentums kam der
Intellektuelle, insofern er nicht, seinem Kampftriebe folgend, sich
in der apologetischen Polemik verlor, kaum auf seine Rechnung. Die
„regula fidei“ war zu enge und erlaubte keine selbständige Bewegung.
Zudem war sie arm an positivem Erkenntnisinhalt. Sie enthielt wenige
Gedanken, die zwar praktisch ungeheuer wertvoll waren, aber dem
Denken einen Riegel vorschoben. Vom sacrificium intellectus war der
Intellektuelle weit schwerer betroffen als der Fühlmensch. Es ist
daher sehr begreiflich, dass die überwiegenden Erkenntnisinhalte der
Gnosis, welche im Lichte unserer heutigen Geistesentwicklung nicht
nur nicht an Wert verloren, sondern sogar bedeutend gewonnen haben,
für den Intellektuellen innerhalb der Kirche von grösster Anziehung
sein mussten. Sie waren für ihn recht eigentlich die Versuchung
der Welt. Besonders machte der _Doketismus_ der Kirche zu
schaffen mit seiner Behauptung, dass Christus nur einen Scheinleib
besessen habe, und dass sein ganzes Erdendasein und Leiden ein Schein
gewesen sei. In dieser Behauptung drängt sich das rein Denkmässige
gegenüber dem menschlich Erfühlbaren übermächtig in den Vordergrund.
Wohl am deutlichsten tritt uns der Kampf mit der Gnosis in zwei
Gestalten entgegen, die nicht nur als Väter der Kirche, sondern
auch als Persönlichkeiten überaus bedeutend waren. Es sind dies
_Tertullian_ und _Origenes_, ungefähre Zeitgenossen vom
Ende des 2. Jahrhunderts. Von ihnen sagt _Schultz_[2]: „Der eine
Organismus vermag den Nährstoff fast restlos in sich aufzunehmen und
seiner eigenen Beschaffenheit zu assimilieren, der andere scheidet ihn
unter stürmischen Abwehrerscheinungen ebenfalls wieder fast restlos
aus. So gegensätzlich hat sich Origenes auf der einen Seite verhalten,
Tertullianus auf der andern. Ihre Reaktion auf die Gnosis kennzeichnet
nicht nur die beiden Charaktere und ihre Weltanschauungen, sondern sie
ist auch von grundsätzlicher Bedeutung für die Stellung der Gnosis in
dem Geistesleben und den religiösen Strömungen von damals.“

Tertullian wurde etwa um 160 in Karthago geboren. Er war ein Heide,
dem lüsternen Leben seiner Stadt ergeben bis etwa zu seinem 35.
Lebensjahre, wo er ein Christ wurde. Er wurde der Verfasser zahlreicher
Schriften, aus denen sein Charakter, der uns besonders interessiert,
unverkennbar hervortritt. Vor allem deutlich ist sein beispielloser
edler Eifer, sein Feuer, sein leidenschaftliches Temperament und die
tiefe Innerlichkeit seiner religiösen Auffassung. Er ist fanatisch und
genial einseitig um einer erkannten Wahrheit willen, unduldsam, eine
Kampfnatur ohnegleichen, ein erbarmungsloser Streiter, der seinen Sieg
nur in der totalen Vernichtung seines Gegners sieht, seine Sprache
ist wie eine funkelnde Klinge, von grausamer Meisterschaft geführt.
Er ist der Schöpfer des auf mehr als 1000 Jahre hinaus gültigen
Kirchenlateins. Er prägt die Terminologie der jungen Kirche. „Hatte
er einen Gesichtspunkt aufgegriffen, so musste er ihn, gleichwie
gepeitscht von einem Heere der Hölle, in alle seine Konsequenzen
hinein auch durchführen, selbst wenn das Recht schon lange nicht mehr
auf seiner Seite stand und alle vernünftige Ordnung zerfetzt vor ihm
lag.“ Die Leidenschaftlichkeit seines Denkens war so unerbittlich,
dass er sich immer und immer wieder gerade davon entfremdete, wofür er
eigentlich sein Herzblut hergegeben hatte. Dementsprechend ist auch
seine Ethik von herber Strenge. Er gebot, das Martyrium aufzusuchen,
statt es zu fliehen, er erlaubte keine zweite Ehe und verlangte die
stete Verschleierung der Personen weiblichen Geschlechts. Die Gnosis,
die eben eine Leidenschaft des Denkens und Erkennens ist, bekämpfte
er mit fanatischer Unnachsichtigkeit, und mit ihr die von ihr
eigentlich wenig verschiedene Philosophie und Wissenschaft. Ihm wird
das grossartige Bekenntnis zugeschrieben: Credo quia absurdum est (Ich
glaube um des Widersinns willen). Dies dürfte historisch allerdings
nicht ganz stimmen, er sagte bloss: (De carne Christi. 5.): „Et mortuus
est dei filius, prorsus credibile est, quia ineptum est. Et sepultus
resurrexit; certum est, quia impossibile est.“

Vermöge der Schärfe seines Geistes durchschaute er die Kläglichkeit
philosophischen und gnostischen Wissens und wies es verächtlich von
sich. Er berief sich dagegen auf das Zeugnis seiner eigenen innern
Welt, auf seine eigenen innern Tatsachen, welche eins waren mit
seinem Glauben. Sie gestaltete er aus und wurde so zum Schöpfer der
begrifflichen Zusammenhänge, welche noch heute dem katholischen System
zu Grunde liegen. Die irrationale innere Tatsache, die ihm wesentlich
dynamischer Natur ist, war das Prinzip und die Grundlegung gegenüber
der Welt und der collektiv gültigen oder rationalen Wissenschaft und
Philosophie. Ich zitiere seine Worte:

„Ich rufe ein neues Zeugnis an, oder vielmehr ein Zeugnis, welches
bekannter ist als irgend ein Schriftdenkmal, mehr verhandelt als irgend
ein Lebenssystem, weiter verbreitet als irgend eine Veröffentlichung,
grösser als der ganze Mensch, nämlich das, was den ganzen Menschen
ausmacht. So tritt denn herzu, o du Seele, magst du nun etwas
Göttliches und Ewiges sein, wie manche Philosophen glauben -- du wirst
dann umso weniger lügen -- oder durchaus nicht göttlich, weil nämlich
sterblich, wie freilich Epikuros allein meint -- du wirst dann umso
weniger lügen dürfen -- magst du vom Himmel gekommen oder aus der Erde
geboren, magst du aus Zahlen oder Atomen gefügt sein, magst du zugleich
mit dem Leibe dein Dasein beginnen oder nachträglich in ihn eingefügt
werden, gleichviel woher immer du auch stammst und wie immer du auch
den Menschen zu dem machst, was er ist, nämlich ein vernünftiges
Wesen, der Wahrnehmung fähig und auch der Erkenntnis. Aber nicht dich
rufe ich, du Seele, die du in Schulen abgerichtet, in Bibliotheken
bewandert, in Akademien und attischen Säulenhallen gespeist und
gesättigt, Weisheit verkündest, nein, dich will ich sprechen, du Seele,
die du schlicht und ungebildet, unbeholfen und unerfahren bist, sowie
du bei denen bist, die nichts weiteres haben als dich, ganz wie du da
eben von der Gasse, von der Strassenecke, von der Werkstatt kommst. Ich
bedarf gerade deiner Unwissenheit.“

Die im sacrificium intellectus vollbrachte Selbstverstümmelung
_Tertullians_ führte ihn zur rückhaltlosen Anerkennung der
irrationalen innern Tatsache, der wirklichen Grundlage seines
Glaubens. Die Notwendigkeit des religiösen Prozesses, den er in sich
empfand, fasste er in die unübertreffbare Formel: _anima naturaliter
christiana_. Mit dem sacrificium intellectus fielen für ihn
Philosophie und Wissenschaft, konsequenterweise auch die Gnosis.

Im weitern Fortschritt seines Lebens verschärften sich die
geschilderten Züge. Als die Kirche mehr und mehr genötigt war,
Kompromisse mit der Masse zu schliessen, empörte er sich dagegen
und wurde ein Anhänger jenes phrygischen Propheten _Montanus_,
eines Ekstatikers, der das Prinzip der absoluten Verneinung der Welt
und der vollständigen Vergeistigung vertrat. In heftigen Pamphleten
begann er die Politik des Papstes _Calixtus I._ anzugreifen und
geriet so mit dem Montanismus mehr oder weniger extra ecclesiam. Nach
einem Berichte des _Augustin_ soll er später sogar noch mit dem
Montanismus sich überworfen und eine eigene Sekte gestiftet haben.

Tertullian ist sozusagen ein klassischer Vertreter des introvertierten
Denkmenschen. Sein beträchtlicher, überaus scharf entwickelter
Intellekt ist flankiert von unverkennbarer Sinnlichkeit. Der
psychologische Entwicklungsprozess, den wir als den _christlichen_
bezeichnen, führte ihn zum Opfer, zur Abschneidung des wertvollsten
Organes, welcher mythische Gedanke im grossen und vorbildlichen
Symbol der Opferung des Gottessohnes wiederum enthalten ist. Sein
wertvollstes Organ war eben der Intellekt und die durch ihn vermittelte
klare Erkenntnis. Durch das sacrificium intellectus wurde ihm der
Weg über eine rein verstandesmässige Entwicklung unmöglich, wodurch
er sich gezwungen fand, die irrationale Dynamis seines Seelengrundes
als Fundament seines Wesens anzuerkennen. Das Denkmässige der Gnosis,
ihre spezifische intellektuelle Ausmünzung dynamischer Phänomene des
Seelengrundes, musste ihm notwendigerweise verhasst sein, denn es war
eben der Weg, den er zu verlassen hatte, um das Prinzip des Fühlens
anzuerkennen.

In Origenes lernen wir den absoluten Gegensatz zu Tertullian kennen.
Origenes wurde um 185 in Alexandria geboren. Sein Vater war ein
christlicher Märtyrer. Er selber wuchs auf in jener ganz eigentümlichen
geistigen Atmosphäre, in der sich die Gedanken von Orient und Okzident
mischten. Mit grosser Wissbegier eignete er sich alles Wissenswerte
an, und so nahm er alles auf, was die überreiche alexandrinische
Gedankenwelt jener Zeit bot, Christliches, Jüdisches, Hellenistisches,
Ägyptisches. Er tat sich als Lehrer an einer Katechetenschule hervor.
Der heidnische Philosoph _Porphyrius_, ein Schüler _Plotins_,
sagte von ihm: „Sein äusseres Leben war das eines Christen und
widergesetzlich; in Bezug auf seine Ansicht von den Dingen und von der
Gottheit aber hellenisierte er und schob die Vorstellungen der Griechen
den fremden Mythen unter.“ Schon vor 211 fällt seine Selbstkastration,
deren nähere Motive zwar zu erraten, aber historisch unbekannt sind.
Er war persönlich von grossem Einfluss, von gewinnender Rede. Er war
stets umgeben von Schülern und einer ganzen Schar von Stenographen,
welche die kostbaren Worte, die aus dem Munde des verehrten Lehrers
fielen, auffingen. Er war schriftstellerisch ausserordentlich fruchtbar
und entfaltete eine grossartige Lehrtätigkeit. In _Antiochia_ hielt er
selbst der Kaiserin-Mutter _Mammaea_ Vorlesungen über Theologie. In
Caesarea war er Haupt einer Schule. Seine Lehrtätigkeit war vielfach
unterbrochen von ausgedehnten Reisen. Er war von ausserordentlicher
Gelehrsamkeit und hatte eine erstaunliche Fähigkeit, den Dingen
sorgfältig nachzugehen. Er spürte alte Bibelhandschriften auf und
erwarb sich um die Textkritik besondere Verdienste. „Er war ein
grosser Gelehrter, ja, der einzige wahrhafte Gelehrte, den die alte
Kirche besessen hat“, sagt _Harnack_. _Origenes_, ganz im Gegensatz
zu _Tertullian_, verschloss sich dem Einfluss des Gnostizismus
nicht, im Gegenteil, er führte ihn sogar in gemilderter Form in
den Schooss der Kirche über; wenigstens richtete sich darauf sein
Streben. Ja, er war sozusagen selber ein christlicher Gnostiker,
seinem Denken und seinen Grundanschauungen nach. Seine Stellung zu
_Glauben und Wissen_ schildert _Harnack_ mit folgenden psychologisch
bedeutsamen Worten: „Die Bibel ist in gleicher Weise beiden nötig:
die Gläubigen empfangen aus ihr die Tatsachen und Gebote, die sie
brauchen, und die Wissenden entziffern aus ihr die Ideen und ziehen
aus ihr die Kräfte, die sie bis zur Anschauung und Liebe Gottes führen
-- also dass alles Stoffliche durch geistliche Deutung (allegorische
Auslegung, Hermeneutik) umgeschmolzen erscheint zu einem Kosmos von
Ideen, ja, zuletzt alles durch den „Aufstieg“ überwunden und als Stufe
zurückgelassen ist, und allein das selige ruhende Verhältnis des von
Gott ausgegangenen kreatürlichen Geistes zu Gott übrig bleibt (amor et
visio).“ Seine Theologie war zum Unterschied von der des _Tertullian_
eine wesentlich philosophische, die sich sozusagen ganz in den Rahmen
einer neuplatonischen Philosophie schmiegt. In Origenes durchdringen
sich die Sphären griechischer Philosophie und Gnosis einerseits und der
christlichen Ideenwelt andererseits in friedlicher und harmonischer
Weise. Diese weitgehende einsichtsvolle Duldsamkeit und Gerechtigkeit
führten aber auch Origenes zum Schicksal der Verdammung durch die
Kirche. Allerdings fand die endgültige Verdammung erst posthum statt,
nachdem Origenes als Greis in der Christenverfolgung des _Decius_
gemartert worden und an den Folgen der Tortur bald nachher gestorben
war. 399 sprach Papst _Anastasius I._ seine Verdammung aus, und 543
wurde seine Irrlehre von einer von _Justinian_ einberufenen Synode
verflucht, woran sich auch die Urteile späterer Konzilien hielten.

Origenes ist ein klassischer Vertreter des extravertierten Typus.
Seine Grundorientierung geht auf das Objekt; das zeigt sich in
der gewissenhaften Berücksichtigung der objektiven Tatsachen und
ihrer Bedingungen, und es zeigt sich in der Formulierung jenes
höchsten Prinzips, des amor und der visio Dei. Der christliche
Entwicklungsprozess traf bei Origenes auf einen Typus, dessen
ursprüngliche Grundlage die Beziehung zu Objekten ist, welche sich von
jeher symbolisch in der Sexualität ausdrückt, weshalb gewisse Theorien
auch alle wesentlichen Seelenfunktionen eben auf die Sexualität
reduzieren. Die Kastration ist daher der adäquate Ausdruck des
Opfers der wertvollsten Funktion. Es ist durchaus charakteristisch,
dass _Tertullian_ das sacrificium intellectus vollbringt,
_Origenes_ aber das sacrificium phalli, denn der christliche
Prozess will eine vollständige Aufhebung der sinnlichen Bindung an
das Objekt, genauer gesagt: er will das Opfer der bislang am höchsten
gewerteten Funktion, des teuersten Gutes, des stärksten Triebes.
Das Opfer ist, biologisch betrachtet, im Dienste der Domestikation
gebracht, psychologisch betrachtet aber, um durch Auflösungen alter
Bindungen neue Entwicklungsmöglichkeiten für den Geist einzuführen.
_Tertullian_ opferte den Intellekt, weil es der Intellekt war, der
ihn am stärksten an die Weltlichkeit band. Er bekämpfte die Gnosis,
weil sie für ihn den Abweg in das Intellektuelle darstellte, das
zugleich auch die Sinnlichkeit bedingt. Dieser Tatsache entsprechend
finden wir, dass der Gnostizismus auch in Wirklichkeit in zwei
Richtungen geteilt ist: die eine Richtung der Gnostiker strebt nach
einer über alles Mass hinausgehenden Vergeistigung, die andere
Richtung verliert sich im ethischen Anomismus, in einem absoluten
Libertinismus, der von keiner Unzucht und keiner noch so abscheulichen
Perversität und Schamlosigkeit zurückschreckt. Man unterschied geradezu
Enkratiten (Enthaltsame) und Antitakten oder Antinomisten (Ordnungs-
und Gesetzesgegner), welche prinzipiell sündigten und sich absichtlich,
gewissen Lehrsätzen entsprechend, zügelloser Ausschweifung ergaben. Zu
den letztern gehören die Nicolaiten, Archontiker etc. und die treffend
benannten Borborianer. Wie nahe die anscheinenden Gegensätze beisammen
lagen, zeigt das Beispiel der Archontiker, wo dieselbe Sekte in eine
enkratitische und in eine antinomistische Richtung zerfiel, welche
beide logisch und konsequent blieben. Wenn man wissen will, was ein
kühn und grosszügig durchgeführter Intellektualismus ethisch bedeutet,
der studiere die gnostische Sittengeschichte. Man wird das sacrificium
intellectus durchaus begreifen. Jene Leute waren eben auch praktisch
konsequent und lebten ihr Erdachtes bis zur Absurdität. Origenes aber
opferte die _sinnliche_ Bindung an die Welt, indem er sich selbst
verstümmelte. Ihm war offenbar der Intellekt keine spezifische Gefahr,
sondern eher ein an das Objekt bindendes Fühlen und Empfinden. Durch
die Kastration befreite er sich von der mit dem Gnostizismus gepaarten
Sinnlichkeit und konnte sich darum ungescheut dem Reichtum gnostischen
Denkens ergeben, während Tertullian durch sein intellektuelles Opfer
sich der Gnosis verschloss, damit aber auch eine Tiefe des religiösen
Gefühls erreichte, die wir bei Origenes vermissen. „Vor Origenes
zeichnet ihn aus, dass er jedes seiner Worte in tiefstem Gemüte
erlebt hat, dass ihn nicht, wie jenen, der Verstand fortriss, sondern
das Herz. Dagegen steht er hinter ihm dadurch zurück, dass er, der
leidenschaftlichste aller _Denker_, knapp daran war, das Wissen
überhaupt zu verwerfen und seinen Kampf gegen die Gnosis zu einem
solchen gegen das menschliche Denken überhaupt zu erweitern“, sagt
_Schultz_.

Wir sehen hier, wie sich im christlichen Prozess der ursprüngliche
Typus recht eigentlich umgedreht hat: _Tertullian_, der scharfe
Denker, wird zum Gefühlsmenschen; _Origenes_ wird zum Gelehrten
und verliert sich an das Denkmässige. Es ist natürlich ein Leichtes,
die Sache auch logisch umzudrehen und zu sagen, Tertullian sei von
jeher der Gefühlsmensch gewesen und Origenes der Intellektuelle.
Abgesehen von der Tatsache, dass damit der typische Unterschied nicht
aus der Welt geschafft ist, sondern nach wie vor besteht, erklärt
aber die umgekehrte Anschauungsweise nicht, wieso es kommt, dass
Tertullian seinen gefährlichsten Feind im Denkmässigen, Origenes aber
in der Sexualität gesehen hat. Man könnte sagen, sie hätten sich beide
getäuscht, und man könnte dafür als Argument das fatale Resultat des
Lebens beider ins Feld führen. In diesem Falle müsste man annehmen,
dass beide das ihnen weniger Wichtige geopfert, also gewissermassen
einen Kuhhandel mit dem Schicksal gemacht hätten. Das ist auch eine
Ansicht, deren Prinzip von anerkennenswerter Gültigkeit ist. Gibt es
doch sogar unter den Primitiven solche Schlaumeier, die vor ihren
Fetisch treten mit einem schwarzen Huhn unter dem Arm und sagen:
„Siehe, ich opfere dir ein schönes schwarzes Schwein.“ Ich bin aber der
Ansicht, dass die entwertende Erklärungsweise, trotz der unverkennbaren
Erleichterung, die der gewöhnliche Mensch beim Herunterreissen von
etwas Grossem verspürt, nicht unter allen Umständen die richtige sei,
auch wenn sie sich sehr „biologisch“ anlässt. Soweit wir diese beiden
Grossen im Reiche des Geistes persönlich kennen, müssen wir aber sagen,
dass ihre ganze Art dermassen ernsthaft ist, dass ihre christliche
Umkehrung weder Erschleichung noch Betrug war, sondern Wirklichkeit und
Wahrhaftigkeit.

Wir verlieren uns nicht auf einen Nebenweg, wenn wir uns bei dieser
Gelegenheit vergegenwärtigen, was die Brechung der natürlichen
Triebrichtung, als welche der christliche (Opfer-) Prozess erscheint,
psychologisch bedeutet: Aus dem Obengesagten ergibt sich nämlich, dass
die Umkehrung zugleich auch den Übergang in eine andere Einstellung
bedeutet. Damit wird auch klar, woher das treibende Motiv zur Umkehrung
stammt, und inwiefern _Tertullian_ recht hat, die Seele als
„naturaliter christiana“ aufzufassen: Die natürliche Triebrichtung
folgt, wie alles in der Natur, dem Prinzip des kleinsten Kraftmasses.
Nun hat der eine Mensch etwas mehr Veranlagung hier, der andere dort.
Oder die Anpassung an die erste Umgebung der Kindheit erfordert
etwas mehr Zurückhaltung und Nachdenken oder etwas mehr Einfühlung,
je nach der Art der Eltern und der Umstände. Dadurch bildet sich
automatisch eine gewisse Vorzugseinstellung aus, welche verschiedene
Typen ergibt. Insofern nun jeder Mensch als relativ stabiles Wesen
alle psychologischen Grundfunktionen besitzt, so wäre es auch eine
psychologische Notwendigkeit hinsichtlich einer vollkommenen Anpassung,
dass der Mensch sie auch gleichmässig verwende. Denn es muss einen
Grund haben, warum es verschiedene psychologische Anpassungswege gibt:
offenbar genügt der eine allein nicht, indem das Objekt beispielsweise
als bloss Gedachtes oder als bloss Gefühltes nur teilweise erfasst
zu sein scheint. Durch einseitige („typische“) Einstellung bleibt
ein Fehlbetrag in der psychologischen Anpassungsleistung, der sich
im Laufe des Lebens aufhäuft, wodurch sich früher oder später
eine Anpassungsstörung entwickelt, welche das Subjekt zu einer
Compensation drängt. Die Compensation kann aber nur erreicht werden
durch eine _Abschneidung_ (Opfer) der bisherigen einseitigen
Einstellung. Dadurch entsteht eine temporäre Aufstauung der Energie
und ein Überfluten in bisher bewusst nicht benützte, aber unbewusst
bereitliegende Kanäle. Das Anpassungsdefizit, welches die causa
efficiens zum Prozess der Umkehrung ist, macht sich subjektiv bemerkbar
als Gefühl einer unbestimmten Unbefriedigung. Eine solche Atmosphäre
herrschte um die Wende unserer Zeitrechnung. Ein ausserordentliches und
erstaunliches Erlösungsbedürfnis überkam die Menschheit und bewirkte
jenes unerhörte Aufblühen von allen möglichen und unmöglichen Kulten
im alten Rom. Es mangelte auch nicht an Vertretern der Auslebetheorie,
die anstatt mit „Biologie“, mit Gründen damaliger Wissenschaft
operierten. Auch konnte man sich nicht genug tun mit Spekulationen
darüber, woher es komme, dass es den Menschen so schlecht gehe; nur
war der Kausalismus jener Zeit etwas weniger beschränkt, als der
unserer Wissenschaft; man griff nicht bloss in die Kindheit zurück,
sondern gleich in die Kosmogonie und ersann zahlreiche Systeme, welche
nachwiesen, was alles in der Vorzeit passiert war, wodurch dann
unleidliche Folgezustände für die Menschheit herauskamen.

Das Opfer, das _Tertullian_ und _Origenes_ brachten, ist
drastisch, zu drastisch für unsern Geschmack, aber es entsprach dem
Geiste jener Zeit, der durchaus _concretistisch_ war. Aus diesem
Geiste heraus nahm die Gnosis ihre Visionen für schlechthin real oder
doch wenigstens als direkt auf Reales bezüglich, und Tertullian setzt
die Tatsache seines Fühlens für objektiv gültig. Der Gnostizismus
projizierte die subjektive innere Wahrnehmung des Prozesses der
Einstellungsänderung als ein kosmogonisches System und glaubte an die
Realität seiner psychologischen Figuren.

In meinem Buch über „Wandlungen und Symbole der Libido“ liess
ich die Frage offen, woher die eigentümliche Libidorichtung im
christlichen Prozesse stamme. Ich sprach damals von einer Zerspaltung
der Libidorichtung in zwei gegeneinander gerichtete Hälften. Die
Erklärung hiefür ergibt sich aus der Einseitigkeit der psychologischen
Einstellung, die so einseitig geworden war, dass die Compensation aus
dem Unbewussten herauf sich aufdrängte. Es ist gerade die gnostische
Bewegung in den ersten christlichen Jahrhunderten, welche das
Hervorbrechen unbewusster Inhalte im Momente der Compensierung aufs
klarste dartut. Das Christentum selber bedeutete die Zertrümmerung
und Opferung antiker Kulturwerte, d. h. der antiken Einstellung.
In gegenwärtiger Zeit ist beinahe überflüssig zu bemerken, dass es
gleichgültig ist, ob wir von heute oder von der Zeit vor 2000 Jahren
reden.


=2. Die theologischen Streitigkeiten der alten Kirche.=

Es ist nicht unwahrscheinlich, dass wir dem Typengegensatz auch sonst
in der Geschichte der Schismen und Häresieen der an Streitigkeiten
so reichen frühchristlichen Kirche begegnen. Die vielleicht mit den
Urchristen überhaupt identischen Ebioniten oder Judenchristen glaubten
an die ausschliessliche Menschlichkeit Christi und hielten ihn für den
Sohn der Maria und des Joseph, der erst nachträglich seine Weihe durch
den heiligen Geist empfangen habe. Die Ebioniten sind somit in diesem
Punkte das den Doketen gegenüber liegende Extrem. Dieser Gegensatz
wirkte noch lange nach. In veränderter Form trat der Gegensatz in
kirchenpolitisch verschärfter aber inhaltlich gemilderter Form um 320
in der Häresie des _Arius_ wieder zu tage. Arius leugnete die von der
orthodoxen Kirche proponierte Formel τῷ Πατρὶ ὁμοούσιος (dem Vater
gleich). Wenn wir die Geschichte des grossen arianischen Streites
um Homousie und Homoiusie (Wesengleichheit und Wesensähnlichkeit
Christi mit Gott) genauer ansehen, so scheint uns zwar die Homoiusie
deutlich den Akzent auf das Sinnliche und menschlich Erfühlbare zu
legen, gegenüber dem rein Denkmässigen und Abstrakten des Standpunktes
der Homousie. Gleichermassen möchte es uns scheinen, als ob die
Empörung der _Monophysiten_ (welche die absolute Einheit der Natur
Christi vertraten) gegen die dyophysitische Formel des Konzils von
Chalcedon (welches die unzertrennbare Doppelnatur Christi, nämlich
seine geeinte _menschliche_ und _göttliche_ Natur vertrat) wiederum
den Standpunkt des Abstrakten und Unvorstellbaren gegenüber dem
Sinnlich-Natürlichen der dyophysitischen Formel zur Geltung brächte.
Zugleich aber tritt uns die Tatsache überwältigend vor Augen, dass an
der arianischen Bewegung, sowohl wie am Monophysitenstreit, die subtile
dogmatische Frage zwar für diejenigen Köpfe, welche sie ursprünglich
herausbrachten, die Hauptsache war, nicht aber für die grosse Masse,
welche sich parteinehmend des Dogmenstreites bemächtigte. Für sie
hatte auch zu jenen Zeiten eine so subtile Frage keine Motivkraft,
sondern sie war bewegt durch Probleme und Ansprüche politischer Macht,
die mit der theologischen Differenz nichts zu tun hatten. Wenn die
Typendifferenz hier überhaupt eine Bedeutung hatte, so war es die,
dass sie die Schlagworte lieferte, welche die groben Masseninstinkte
in schmeichelhafter Weise etikettierten. Damit soll aber keineswegs
die Anerkennung der Tatsache ausgelöscht sein, dass für die, die den
Streit entfachten, Homousie und Homoiusie, eine ernsthafte Sache
war. Denn dahinter verbarg sich historisch wie psychologisch das
ebionitische Bekenntnis zum reinen Menschen Christus mit relativer
(„scheinbarer“) Göttlichkeit, und das doketische Bekenntnis zum
reinen Gott Christus mit nur scheinbarer Körperlichkeit. Und unter
dieser Schicht wiederum liegt das grosse psychologische Schisma.
Einerseits die Behauptung, der Hauptwert und die Hauptbedeutung liege
bei dem sinnlich Erfassbaren, dessen Subjekt, wenn auch nicht immer
menschlich-persönlich, so doch immer ein projiziertes menschliches
Empfinden ist; andererseits die Behauptung, der Hauptwert liege bei
dem Abstrakten und Aussermenschlichen, dessen Subjekt die Funktion
ist, das heisst: der objektive Naturprozess, der in unpersönlicher
Gesetzmässigkeit abläuft, jenseits menschlicher Empfindung, ja sogar
als deren Grundlage. Ersterer Standpunkt übersieht die Funktion zu
Gunsten des Funktionskomplexes, als welcher der Mensch erscheint;
letzterer Standpunkt übersieht den Menschen als den unerlässlichen
Träger zu Gunsten der Funktion. Beide Standpunkte leugnen einander
gegenseitig ihren Hauptwert. Je entschiedener sich die Vertreter der
beiden Standpunkte mit ihrem Standpunkt identifizieren, desto mehr
versuchen sie auch, in bester Absicht vielleicht, sich gegenseitig den
eigenen Standpunkt aufzudrängen und vergewaltigen dadurch den Hauptwert
des andern.

Eine andere Seite des Typengegensatzes scheint im _pelagianischen_
Streit im Beginn des 5. Jahrhunderts hervorzutreten. Die von
_Tertullian_ tiefempfundene Erfahrung, dass der Mensch auch nach
der Taufe die Sünde nicht vermeiden kann, wurde bei _Augustin_,
der in vielen Beziehungen Tertullian nicht unähnlich ist, zu jener
durchaus charakteristischen, pessimistischen Lehre der Erbsünde, deren
Wesen in der seit Adam vererbten _Concupiscentia_ besteht.[3] Der
Tatsache der Erbsünde gegenüber stand bei Augustin die erlösende Gnade
Gottes mit der durch sie geschaffenen Institution der Kirche, welche
die Erlösungsmittel verwaltete. In dieser Auffassung steht der Wert
des Menschen sehr tief. Er ist eigentlich nichts als ein armseliges,
verworfenes Geschöpf, das dem Teufel unter allen Umständen verfallen
ist, wenn er nicht durch das Medium der alleinseligmachenden Kirche
der göttlichen Gnade teilhaftig wird. Damit fiel nicht nur der
Wert, sondern auch die sittliche Freiheit und Selbstbestimmung des
Menschen mehr oder weniger weg, wodurch allerdings der Wert und die
Bedeutung der _Idee_ der Kirche umsomehr stieg, was dem in der
augustinischen civitas Dei ausgesprochenen Programm entsprach.

Einer solch erdrückenden Auffassung gegenüber erhebt sich immer wieder
das Gefühl der Freiheit und des sittlichen Wertes des Menschen, das auf
die Länge sich von keiner noch so tiefen Einsicht oder noch so scharfen
Logik unterdrücken lässt. Das Recht des menschlichen Wertgefühles fand
seinen Verteidiger in _Pelagius_, einem britannischen Mönch und
seinem Schüler _Caelestius_. Ihre Lehre gründete sich auf die
sittliche Freiheit des Menschen als einer gegebenen Tatsache. Für die
psychologische Verwandtschaft des pelagianischen Standpunktes mit der
dyophysitischen Auffassung ist bezeichnend, dass die angefeindeten
Pelagianer bei _Nestorius_, dem Metropoliten von Konstantinopel,
Aufnahme fanden. Nestorius betonte die Trennung der beiden Naturen
Christi gegenüber der Cyrillischen Lehre der φυσιχὴ ἕνωσις, der
physischen Einheit Christi als Gottmenschen. Nestorius wollte auch
Maria durchaus nicht als θεοτόκος (Gottesgebärerin), sondern bloss
als Χριστοτόκος (Christusgebärerin) aufgefasst wissen. Er nannte den
Gedanken, dass Maria Gottesmutter sei, mit gutem Recht sogar heidnisch.
Von ihm aus ging der nestorianische Streit, der schliesslich mit der
Abspaltung der nestorianischen Kirche endete.


=3. Das Problem der Transsubstantiation.=

Mit den grossen politischen Umwälzungen, dem Zusammenbruch des
römischen Reiches und dem Untergang der antiken Zivilisation
fanden auch diese Streitigkeiten ein Ende. Als aber nach mehreren
Jahrhunderten wieder eine gewisse Stabilität erreicht war, traten auch
die psychologischen Differenzen wieder in ihrer charakteristischen
Weise hervor, zuerst zaghaft, aber mit steigender Kultur intensiver
werdend. Zwar waren es nicht mehr die Probleme, welche die alte Kirche
in Aufruhr gebracht hatten, sondern neue Formen waren gefunden worden,
aber die darunter versteckte Psychologie war dieselbe.

Um die Mitte des 9. Jahrhunderts trat der Abt _Paschasius Radbertus_
mit einer Schrift über das Abendmahl an die Öffentlichkeit, worin er
die Transsubstantiationslehre vertrat, d. h. die Behauptung, dass der
Wein und die Hostie in der Kommunion sich in das wirkliche Blut und
das wirkliche Fleisch Christi verwandeln. Diese Auffassung wurde,
wie bekannt, zu einem Dogma, wonach sich die Verwandlung „vere,
realiter, substantialiter“ vollziehe, obschon zwar die „Akzidentien“,
nämlich Brot und Wein, ihr Aussehen behielten, so seien sie doch,
der Substanz nach, Fleisch und Blut Christi. Gegen diese extreme
Concretisierung eines Symbols wagte _Ratramnus_, ein Mönch desselben
Klosters, wo _Radbertus_ Abt war, gewissen Widerspruch zu erheben.
Einen entschiedenen Gegner aber fand Radbertus in _Scotus Eriugena_,
dem grossen Philosophen und kühnen Denker des frühen Mittelalters,
der so hoch und einsam über seiner Zeit stand, dass der Fluch der
Kirche ihn erst nach Jahrhunderten erreichte, wie _Hase_ in seiner
Kirchengeschichte sagt. Als Abt von Malmesbury wurde er um 889 von
seinen Mönchen ermordet. _Scotus Eriugena_, dem wahre Philosophie auch
wahre Religion war, war kein blinder Anhänger der Autorität und des
einmal Gegebenen, denn er konnte, zum Unterschiede von den meisten
seiner Zeit, selber denken. Er stellte die Vernunft über die Autorität,
vielleicht in sehr unzeitgemässer Weise, aber der Anerkennung späterer
Jahrhunderte gewiss. Sogar die über jede Diskussion erhabenen Väter
der Kirche hielt er nur darum und insofern für Autoritäten, als in
ihren Schriften Schätze menschlicher Vernunft enthalten waren. So hielt
er auch dafür, dass das Abendmahl nichts anderes sei, als ein Andenken
an jenes letzte Mahl, das Jesus mit seinen Jüngern feierte, was auch
sonst der vernünftige Mensch zu allen Zeiten denken wird. Aber Scotus
Eriugena, so klar und einfach menschlich er dachte, und so wenig er
geneigt war, vom Sinne und Wert der heiligen Zeremonie abzustreichen,
war nicht eingefühlt in den Geist seiner Zeit und in die Wünsche seiner
Umgebung, was auch aus dem Umstand seiner Ermordung durch seine eigenen
Klostergenossen hervorgehen dürfte. Darum konnte er vernünftig und
folgerichtig denken, hatte aber damit keinen Erfolg, welcher nämlich
dem Radbertus zufiel, der zwar nicht denken konnte, dafür aber das
Symbolische und Sinnreiche „transsubstantiierte“ und ins Sinnenfällige
vergröberte, eingefühlt, wie er offenbar war, in den Geist seiner Zeit,
die nach der Concretisierung religiöser Geschehnisse verlangte.

Man erkennt unschwer in diesem Streit wieder jene Grundelemente,
denen wir schon bei den früher besprochenen Streitigkeiten begegnet
sind, nämlich den abstrakten, der Vermischung mit dem concreten
Objekt abholden und den concretisierenden, dem Objekt zugewandten
Standpunkt. Es liegt uns fern, vom intellektuellen Standpunkte aus
ein einseitiges entwertendes Urteil über Radbertus und seine Leistung
auszusprechen. Obschon gerade dieses Dogma dem modernen Geiste als
absurd vorkommen muss, so darf man sich dadurch doch nicht verleiten
lassen, es historisch für wertlos zu erklären. Es ist zwar ein
Prunkstück für jede Sammlung menschlicher Irrtümer, aber sein Unwert
geht daraus nicht eo ipso hervor, denn vor aller Verurteilung müssten
wir weitläufig untersuchen, was dieses Dogma im religiösen Leben
jener Jahrhunderte wirkte, und was unsere Zeit noch dieser Wirkung
indirekt verdankt. Es ist nämlich nicht zu übersehen, dass gerade der
Glaube an die Wirklichkeit dieses Wunders eine Ablösung des psychischen
Prozesses vom rein Sinnenfälligen verlangt, welche nicht ohne Einfluss
auf die Natur des psychischen Prozesses bleiben kann. Der Prozess des
gerichteten Denkens nämlich wird schlechterdings zur Unmöglichkeit,
wenn das Sinnenfällige einen zu hohen Schwellenwert besitzt. Vermöge
eines zu hohen Wertes dringt es beständig in die Psyche ein, zerreisst
und zerstört die gerade auf Ausschliessung des Nichtpassenden
basierte Funktion des gerichteten Denkens. Aus dieser einfachen
Überlegung ergibt sich ohne weiteres der praktische Sinn derartiger
Riten und Dogmen, die von eben diesem Standpunkt aus auch einer rein
opportunistischen, biologischen Betrachtungsweise standhalten, ganz
zu schweigen von den direkten, spezifisch religiösen Wirkungen, die
vom Glauben an dieses Dogma auf den einzelnen ausgingen. So hoch uns
Scotus Eriugena steht, so wenig ist es erlaubt, die Leistung des
Radbertus gering zu schätzen. Wir dürfen aus diesem Fall aber lernen,
dass der Gedanke des Introvertierten inkommensurabel ist dem Gedanken
des Extravertierten, da die beiden Denkformen hinsichtlich ihrer
Bestimmungen gänzlich und gründlichst verschieden sind. Man dürfte
vielleicht sagen: das Denken des Introvertierten sei _vernünftig_,
das des Extravertierten aber _programmatisch_.

Mit diesen Ausführungen soll, wie ich ausdrücklich hervorheben will,
keineswegs etwas ausgemacht sein über die individuelle Psychologie der
beiden Autoren. Was wir von Scotus Eriugena persönlich wissen -- es ist
wenig genug -- genügt nicht, um eine sichere Diagnose seines Typus zu
machen. Das, was wir wissen, spricht zu Gunsten des Introversionstypus.
Von Radbertus wissen wir so gut wie nichts. Wir wissen nur, dass er
etwas dem allgemeinen menschlichen Denken Widerstreitendes sagte,
aber mit sicherer Gefühlslogik das erschloss, was jene Zeit als das
Passende anzunehmen bereit war. Diese Tatsache würde zu Gunsten
des Extraversionstypus sprechen. Aus ungenügender Kenntnis beider
Persönlichkeiten müssen wir aber unser Urteil suspendieren, denn
besonders bei Radbertus könnte die Sache auch ganz anders liegen.
Er könnte ebenso gut ein Introvertierter gewesen sein, der bei
beschränktem Verstande in keiner Weise über die Auffassungen seiner
Umgebung hinausragte, und dessen Logik bei gänzlicher Unoriginalität
gerade soweit reichte, einen nächstliegenden Schluss aus den in den
Schriften der Väter bereitgelegten Prämissen zu ziehen. Und umgekehrt
könnte Scotus Eriugena auch ein Extravertierter gewesen sein, wenn
nachgewiesen wäre, dass er von einem Milieu getragen war, das sich
sowieso durch common sense auszeichnete und auch eine dementsprechende
Äusserung als das Passende und Wünschenswerte empfand. Letzteres ist
nun gerade für Scotus Eriugena keineswegs nachgewiesen. Auf der andern
Seite aber wissen wir auch, wie gross die Sehnsucht jener Zeit nach der
Realität des religiösen Wunders war. Diesem Charakter des Zeitgeistes
musste die Ansicht des Scotus Eriugena als kalt und ertötend
erscheinen, während des Radbertus Behauptung als lebenfördernd musste
empfunden werden, denn sie concretisierte das, was jedermann wünschte.


=4. Nominalismus und Realismus.=

Der Abendmahlstreit des IX. Jahrhunderts war nichts als der Auftakt
zu einem weit grössern Streite, der die Geister auf Jahrhunderte
hinaus trennte und unabsehbare Folgen in sich schloss. Es war der
Gegensatz zwischen _Nominalismus_ und _Realismus_. Unter
Nominalismus versteht man jene Richtung, welche behauptete, dass die
sogenannten Universalia, nämlich die Gattungs- oder Allgemeinbegriffe,
wie z. B. die Schönheit, das Gute, das Tier, der Mensch etc. nichts
seien als Nomina (Namen) oder Wörter, spöttisch auch „flatus vocis“
genannt. _Anatole France_ sagt: „Et qu’est-ce que penser? Et
comment pense-t-on? Nous pensons avec des _mots_--songez-y, un
métaphysicien n’a, pour constituer le système du monde, que le cri
perfectionné des singes et des chiens.“ Dies ist extremer Nominalismus,
ebenso wenn _Nietzsche_ die Vernunft als „Sprachmetaphysik“
auffasst.

Umgekehrt behauptete der Realismus die Existenz der Universalia ante
rem, nämlich, dass die Allgemeinbegriffe ihre Existenz für sich nach
Art der platonischen Ideen hätten. Trotz seiner Kirchlichkeit ist
der Nominalismus eine skeptische Strömung, welche die dem Abstrakten
eigentümliche Sonderexistenz bestreiten will. Es ist eine Art von
wissenschaftlichem Skeptizismus innerhalb der starrsten Dogmatik. Sein
Realitätsbegriff fällt notwendigerweise zusammen mit der sinnenfälligen
Realität der Dinge, deren Individualität das Reale darstellt gegenüber
der abstrakten Idee. Der strikte Realismus dagegen verlegt den
Wirklichkeitsakzent auf das Abstrakte, die Idee, das Universale, das er
ante rem (vor die Sache) setzt.

a) _Das Universalienproblem in der Antike._ Wie der Hinweis auf
die platonische Ideenlehre zeigt, handelt es sich um einen weit
zurückreichenden Konflikt. Einige giftige Bemerkungen bei _Platon_
über „spätlernende Greise“ und „Arme im Geiste“ weisen uns hin auf
die Vertreter von zwei verwandten Philosophenschulen, die sich mit
platonischem Geiste schlecht vertrugen, nämlich die _Kyniker_ und
die _Megariker_. Der Vertreter der erstern Schule, _Antisthenes_,
war, obschon der sokratischen Geistesatmosphäre keineswegs fern und
sogar ein Freund des _Xenophon_, doch der schönen Ideenwelt Platons
ausgesprochenermassen abhold. Er schrieb sogar eine Streitschrift gegen
Platon, worin er dessen Namen unanständigerweise in Σάθων verkehrte.
Σάθων, heisst Knabe oder Mann, aber unter dem geschlechtlichen
Aspekt, denn σάθων kommt von σάθη, penis, womit _Antisthenes_ auf
dem uns wohlbekannten Projektionswege zart andeutete, wessen Sache
er gegen Platon zu verfechten gedenke. Für den Christen _Origenes_
war dieser Auch-Urgrund, wie wir sehen, eben gerade der Teufel, dem
er durch Selbstkastration beizukommen suchte, worauf er ungehindert
in die reichgeschmückte Welt der Ideen hinüberging. Antisthenes aber
war ein vorchristlicher Heide, dem die Sache, wofür der Phallus seit
Alters als Symbol gesetzt ist, nämlich das sinnliche Empfinden,
noch am Herzen lag; nicht nur ihm, sondern, wie bekannt, auch der
ganzen kynischen Schule, deren Leitmotiv war: zurück zur Natur! Die
Gründe, die das concrete Fühlen und Empfinden des Antisthenes in den
Vordergrund schieben konnten, waren nicht wenige: vor allem, er war
ein Proletarier, der aus seinem Neid eine Tugend machte. Er war kein
ἰθαγενής, kein Vollblutgrieche. Er war von der Peripherie; er lehrte
auch draussen vor den Toren von Athen und befleissigte sich eines
proletarischen Benehmens, ein Vorbild der kynischen Philosophie. Auch
die ganze Schule setzte sich aus Proletariern oder doch wenigstens
aus „peripheren“ Leuten zusammen, denen allen eine zersetzende Kritik
hergebrachter Werte eigentümlich war. Nach Antisthenes war einer der
hervorragendsten Vertreter der Schule _Diogenes_, der sich selbst den
Titel Kyon -- Hund beilegte, und dessen Grabmal auch ein Hund aus
parischem Marmor zierte. So warm seine Menschenliebe, und so menschlich
verständnisvoll sein ganzes Wesen war, so unerbittlich riss er auch
alles herunter, was den Menschen seiner Zeit heilig war. Er verlachte
sie ob der Schauer, die die Zuschauer beim Anblick der thyesteischen
Mahlzeit oder der Incesttragödie des Oedipus im Theater befielen, denn
die Anthropophagie sei doch nicht so schlimm, indem das Menschenfleisch
keine Ausnahmestellung gegenüber anderm Fleisch beanspruchen könne,
und auch das Missgeschick eines Incestverhältnisses kein besonderes
Unheil sei, wie uns das lehrreiche Beispiel unserer Haustiere zeige.
In mehrfacher Hinsicht verwandt mit den Kynikern war die megarische
Schule. War doch Megara die unglückliche Nebenbuhlerin Athens! Nach
einem vielversprechenden Anfang, wo Megara durch die Gründung von
Byzanz und des hybläischen Megara in Sizilien sich hervortat, brachen
bald innere Wirren aus, an denen Megara bis zum Verfall hinsiechte und
von Athen in jeder Hinsicht überflügelt wurde. Tölpelhafte Bauernwitze
hiessen in Athen „megarische Spässe“. Aus diesem mit der Muttermilch
eingesogenen Neid des Unterlegenen dürfte sich nicht weniges, was für
die megarische Philosophie kennzeichnend ist, erklären. Auch diese
Philosophie, wie die kynische, war eine durchaus nominalistische, die
zum Ideenrealismus des Platon in striktem Gegensatz stand.

Ein hervorragender Vertreter dieser Richtung war _Stilpon_ von
Megara, von dem folgende charakteristische Anekdote geht: Stilpon kam
einmal nach Athen und sah auf der Akropolis das von Phidias geschaffene
Wunderbild der Pallas. Echt Megarisch bemerkte er dazu, das sei
_nicht die Tochter des Zeus, sondern die des Phidias_. In diesem
Scherz ist auch der ganze Geist des megarischen Denkens ausgedrückt,
denn Stilpon lehrte, dass die Gattungsbegriffe ohne Realität und
objektive Gültigkeit seien, wer also von dem Menschen spreche,
spreche von keinem, weil er οὔτε τόνδε οὔτε τόνδε (weder diesen noch
jenen) bezeichne. _Plutarch_ schreibt ihm den Satz zu: ἕτερον
ἑτέρον μὴ κατηγορεῖσθαι dass eines über ein anderes nicht aussagen
könne. _Antisthenes_ lehrte Ähnliches. Der älteste Vertreter
dieser Art von Urteilsbildung scheint _Antiphon von Rhamnus_
gewesen zu sein, ein Sophist und Zeitgenosse des Socrates. Ein von
ihm überlieferter Satz lautet: „Die Länge sieht weder mit Augen, noch
kann sie mit dem Geist erkennen, wer irgend welche langen Gegenstände
erkennt.“ Aus diesem Satz geht die Leugnung der Substantialität des
Gattungsbegriffes ohne weiteres hervor. Mit dieser eigentümlichen Art
des Urteils wird den Platonischen Ideen allerdings der Boden entzogen,
denn bei Platon kommt gerade den Ideen eine ewige und unveränderliche
Gültigkeit und Dauer zu, während das „Wirkliche“ und die „Vielheit“
bloss vergänglicher Abglanz ist. Der kynisch-megarische Kritizismus
dagegen löst vom Standpunkt des Wirklichen aus jene Gattungsbegriffe
in rein kasuistische und descriptive Nomina auf ohne irgend welche
Substantialität. Der Akzent liegt auf dem individuellen Ding.

Diesen offenkundigen und fundamentalen Gegensatz hat _Gomperz_ klar
erfasst als das Problem der _Inhärenz_ und der _Prädikation_:

Wenn wir z. B. von „warm“ und „kalt“ reden, so reden wir von „warmen“
und „kalten“ Dingen, zu denen „warm“ und „kalt“ als Attribute resp.
Prädikate oder Aussagen gehören. Die Aussage bezieht sich auf
Wahrgenommenes und wirklich Existierendes, nämlich auf einen warmen
oder kalten Körper. Aus einer Mehrheit ähnlicher Fälle abstrahieren
wir den Begriff der „Wärme“ und „Kälte“, womit wir auch unmittelbar
etwas Dinghaftes verbinden, resp. mitdenken. So ist uns „Wärme“ und
„Kälte“ etc., etwas Dingliches infolge des Nachklanges der Wahrnehmung
in der Abstraktion. Es ist uns geradezu schwierig, das Dinghafte
von der Abstraktion abzustreifen, indem es jeder Abstraktion ihrer
Herkunft entsprechend natürlicherweise anhaftet. In diesem Sinne
ist die Dinghaftigkeit des Prädikates eigentlich a priori. Wenn wir
nunmehr auf den nächsthöhern Gattungsbegriff „Temperatur“ übergehen,
so fühlen wir auch hier noch ohne Schwierigkeit das Dinghafte, welches
zwar seine sinnliche Bestimmtheit in etwas abgelegt, aber in nichts an
seiner Vorstellbarkeit eingebüsst hat. Aber auch die Vorstellbarkeit
haftet enge an der sinnlichen Wahrnehmung. Wenn wir zu einem noch viel
höhern Gattungsbegriff aufsteigen, nämlich zu dem der _Energie_,
so schwindet zwar der Charakter des Dinghaften und ebenso in gewissem
Grade die Qualität der Vorstellbarkeit, damit eröffnet sich aber
auch der Konflikt über die „Natur“ der Energie, nämlich ob sie rein
denkmässig, abstrakt sei, oder ob sie etwas „Wirkliches“ sei. Zwar ist
der gelehrte Nominalist unserer Tage davon überzeugt, dass „Energie“
ein blosses Nomen ist und „Rechenpfennig“ unseres geistigen Calcüls,
kann aber nicht verhindern, dass der gewöhnliche Sprachgebrauch
„Energie“ als etwas durchaus Dinghaftes handhabt und in den Köpfen
beständig die grösste erkenntnistheoretische Verwirrung anrichtet.

Die Dinglichkeit des rein Denkmässigen, die so natürlich sich in unsern
Abstraktionsprozess einschleicht und die „Realität“ des Prädikates
oder der abstrakten Idee bewirkt, ist kein Kunstprodukt, keine
willkürliche Hypostasierung eines Begriffes, sondern etwas eigentümlich
Naturnotwendiges. Es ist nämlich nicht so, dass der abstrakte Gedanke
willkürlich hypostasiert und in eine Jenseitswelt ebenso künstlicher
Herkunft versetzt wird, sondern der wirkliche historische Prozess
ist umgekehrt. Beim Primitiven nämlich ist die Imago, der psychische
Widerhall der Sinnesempfindung so stark und so ausgesprochen sinnlich
gefärbt, dass er, wenn er reproduktiv auftritt, d. h. als spontanes
Erinnerungsbild, gelegentlich sogar die Qualität der Hallucination hat.
Wenn also einem Primitiven das Erinnerungsbild seiner verstorbenen
Mutter wieder einfällt, so sieht und hört er sozusagen ihren Geist. Wir
„denken“ nur an die Toten, der Primitive nimmt sie wahr, eben wegen der
ausserordentlichen Sinnlichkeit seiner geistigen Bilder. Daher kommt
der primitive Geisterglaube. Die Geister sind das, was wir ganz einfach
Gedanken nennen. Wenn der Primitive „denkt“, so hat er eigentlich
Visionen, deren Realität so gross ist, dass er das Psychische und
das Reale beständig verwechselt. _Powell_ sagt: „La confusion
des confusions dans la pensée des non-civilisés est la confusion de
l’objectif et du subjectif.“ _Spencer_ und _Gillen_ sagen:
„What a savage experiences during a dream is just as real to him as
what he sees when he is awake.“ Was ich selber von der Psychologie
des Negers gesehen habe, bestätigt das Angeführte durchaus. Aus
dieser Grundtatsache des psychischen Realismus der Selbständigkeit
des Bildes gegenüber der Selbständigkeit der Sinnesempfindung stammt
der Geisterglaube und nicht aus irgend einem Erklärungsbedürfnis
des Wilden, das ihm bloss von Europäern angedichtet wird. Der
Gedanke hat für den Primitiven visionären, auditiven und darum auch
Offenbarungscharakter. Daher der Zauberer, nämlich der Visionäre, auch
immer der Denker des Stammes ist, der die Offenbarung der Geister oder
Götter vermittelt. Eben daher kommt auch die magische Wirkung des
Gedankens, denn weil er real ist, ist er so gut wie Tat, ebenso das
Wort, als äussere Bekleidung des Gedankens, denn das Wort ruft „reale“
Erinnerungsbilder heraus, hat also „reale“ Wirkung. Wir wundern uns
über den primitiven Aberglauben nur darum, weil uns eine weitgehende
Entsinnlichung des psychischen Bildes gelungen ist, d. h. wir lernten
„abstrakt“ denken, natürlich mit den obenerwähnten Einschränkungen.
Immerhin weiss derjenige, der sich auch praktisch mit analytischer
Psychologie beschäftigt, dass er des öftern genötigt ist, auch seinen
„gebildeten“ europäischen Patienten in Erinnerung zu rufen, dass
„Denken“ kein „Tun“ ist, dem einen, weil er glaubt, etwas zu denken,
genüge, dem andern, weil er meint, er dürfe etwas nicht denken, weil
er es sonst tun müsste. Wie leicht die ursprüngliche Realität des
psychischen Bildes wieder hervortritt, zeigt der Traum beim Normalen
und die Hallucination bei Verlust des geistigen Gleichgewichtes.
Die mystische Praxis bestrebt sich sogar, die primitive Realität
der Imago durch künstliche Introversion wieder herzustellen, um das
Gegengewicht gegenüber der Extraversion zu erhöhen. Ein treffendes
Beispiel ist die Initiation des mohammedanischen Mystikers Tewekkul-Beg
durch Molla-Shâh.[4] Tewekkul-Beg erzählt: „Nach diesen Worten hiess
er (Molla-Shâh) mich ihm gegenübersetzen, während meine Sinne wie
berauscht waren, und befahl mir, in meinem Innern sein eigenes Bild
zu erzeugen; und nachdem er mir die Augen verbunden hatte, forderte
er mich auf, alle meine Seelenkräfte auf mein Herz hinzusammeln.
Ich gehorchte, und im Augenblick, auf die göttliche Gunst und den
geistigen Beistand des Scheichs hin, öffnete sich mein Herz. Ich sah,
dass in meinem Innern etwas war, das einem umgestürzten Becher glich;
als dieser Gegenstand aufgerichtet worden war, erfüllte ein Gefühl
uneingeschränkter Glückseligkeit mein Wesen. Ich sagte zum Meister:
„Von dieser Zelle, in der ich vor dir sitze, sehe ich ein treues
Bild in meinem Innern, und das erscheint mir, als ob ein anderer
Tewekkul-Beg vor einem andern Molla-Shâh sässe.“ Der Meister erklärte
ihm dies als die erste Erscheinung seiner Initiation. Bald darauf
folgten in der Tat noch andere Visionen, nachdem einmal der Weg zum
primitiven Realbilde eröffnet war.“

_Die Realität des Prädikates ist a priori gegeben_, denn sie war
von jeher im menschlichen Geiste vorhanden. Nur durch nachträgliche
Kritik wird der Abstraktion der Wirklichkeitscharakter entzogen. Noch
in den Zeiten _Platons_ war der Glaube an die magische Realität
des Wortbegriffes so gross, dass es sich für den Philosophen lohnte,
Fang- oder Trugschlüsse zu ersinnen, wobei er mittelst der absoluten
Wortbedeutung eine absurde Antwort erzwang. Ein einfaches Beispiel ist
der Enkekalymmenos (der Verhüllte) genannte Trugschluss des Megarikers
_Eubulides_. Er lautet: „Kannst Du deinen Vater erkennen? Ja.
Kannst du diesen Verhüllten erkennen? Nein. Du widersprichst dir; denn
dieser Verhüllte ist dein Vater. Du kannst also deinen Vater erkennen
und doch auch nicht erkennen.“ Der Trug liegt bloss darin, dass der
Befragte naiverweise voraussetzt, dass das Wort „erkennen“ allemal
auch einen und denselben objektiven Tatbestand kennzeichne, während
seine Gültigkeit in Wirklichkeit nur auf gewisse Fälle beschränkt ist.
Auf demselben Prinzip beruht der Keratines (der Gehörnte), welcher
folgendermassen lautet: „Was du nicht verloren hast, hast du noch,
Hörner hast du nicht verloren. Also hast du Hörner.“ Auch hier liegt
der Trug in der Naivität des Befragten, der in der Prämisse einen
bestimmten Tatbestand annimmt. Mit dieser Methode konnte überzeugend
dargetan werden, dass die absolute Wortbedeutung eine Illusion war.
Damit ging man auch der Realität des Gattungsbegriffes zu Leibe, der
in der Form der platonischen Idee sogar metaphysische Existenz und
ausschliessliche Gültigkeit hatte. _Gomperz_ sagt: „Man war eben
noch nicht von jenem Misstrauen gegen die Sprache erfüllt, das uns
beseelt und in den Worten einen häufig so wenig adäquaten Ausdruck
der Tatsachen erkennen lässt. Es herrschte vielmehr der naive Glaube
vor, dass ein Begriffskreis und der Gebrauchskreis des ihm im grossen
und ganzen entsprechenden Wortes einander jedesmal decken müssen.“
Gegenüber der magischen absoluten Wortbedeutung, welche voraussetzt,
dass durch sie auch jeweilen das objektive Verhalten der Sachen
gegeben sei, ist die sophistische Kritik durchaus am Platze. Sie
beweist schlagend die Ohnmacht der Sprache. Insofern nun die Ideen
blosse Nomina sind -- eine Annahme, die zu beweisen wäre -- ist der
Angriff auf Platon gerechtfertigt. Die Gattungsbegriffe hören aber
auf, blosse Nomina zu sein, wenn sie Ähnlichkeiten oder Konformitäten
der Dinge unter sich bezeichnen. Dann handelt es sich um die Frage, ob
diese Konformitäten objektiv sind oder nicht. Tatsächlich existieren
diese Konformitäten, daher auch die Gattungsbegriffe einer Realität
entsprechen. Sie enthalten Reales so gut, wie die exakte Beschreibung
eines Dinges. Der Gattungsbegriff ist davon nur dadurch unterschieden,
dass er die Beschreibung oder die Bezeichnung der Konformitäten der
Dinge ist. Die Hinfälligkeit liegt daher nicht im Begriff oder in der
Idee, sondern in ihrem sprachlichen Ausdruck, der selbstverständlich
unter keinen Umständen das Ding oder die Konformität der Dinge adäquat
wiedergibt. Der nominalistische Angriff auf die Ideenlehre ist daher
im Prinzip ein Übergriff ohne Rechtfertigung. Platons irritierte
Abwehr war daher vollständig berechtigt. Das Inhärenz-Prinzip bei
_Antisthenes_ besteht darin, dass von einem Subjekt nicht
nur nicht viele Prädikate, sondern überhaupt keines, das von ihm
verschieden ist, ausgesagt werden kann. Antisthenes hat nur Aussagen
als gültig zugelassen, die mit dem Subjekt identisch waren. Abgesehen
von dem Umstand, dass solche identische Sätze (wie „das Süsse ist
süss“) überhaupt nichts aussagen und darum sinnlos sind, liegt die
Schwäche des Inhärenzprinzips darin, dass auch ein identisches Urteil
mit dem Ding nichts zu tun hat; das Wort „Gras“ hat mit dem Ding
„Gras“ an sich gar nichts zu tun. Das Inhärenzprinzip leidet in ebenso
hohem Masse an dem alten Wortfetischismus, der naiv voraussetzt, dass
das Wort auch die Sache decke. Wenn daher der Nominalist dem Realisten
zuruft: „Du träumst, du meinst es mit Dingen zu tun zu haben, während
du doch nur mit Wortchimären fichtst!“ So kann der Realist dasselbe dem
Nominalisten antworten, denn auch der Nominalist handelt nicht mit den
Dingen selbst, sondern mit Worten, die er für die Dinge setzt. Auch
wenn er für jedes einzelne Ding ein besonderes Wort setzt, so sind es
doch immer nur Worte und nicht die Dinge selbst.

So ist nun die Idee der „Energie“ zwar zugestandenermassen ein
blosser Wortbegriff, aber doch so ausserordentlich real, dass die
Aktiengesellschaft eines Elektrizitätswerkes Dividende daraus bezahlt.
Der Verwaltungsrat liesse sich von der Irrealität und sonstiger
Metaphysik der Energie keineswegs überzeugen. „Energie“ bezeichnet eben
die Konformität der Krafterscheinungen, die nicht wegzuleugnen ist und
die ihre Existenz tagtäglich aufs Schlagendste beweist. Insofern das
Ding real ist, und ein Wort das Ding konventionell bezeichnet, so kommt
auch dem Wort „Realbedeutung“ zu. Insofern die Konformität der Dinge
real ist, so kommt auch dem die Konformität der Dinge bezeichnenden
Gattungsbegriff „Realbedeutung“ zu, und zwar eine Bedeutung, die
nicht kleiner und nicht grösser ist, als die des Wortes, das die
Einzelsache bezeichnet. Die Verschiebung des Wertakzentes von der einen
auf die andere Seite, ist Sache der individuellen Einstellung und
der zeitgenössischen Psychologie. Diese Grundlage hat _Gomperz_
auch bei Antisthenes herausgefühlt und hebt folgende Punkte
hervor: „Handfester Menschenverstand, das Widerstreben gegen alle
Schwärmerei, vielleicht auch die Stärke des Individualgefühles, dem die
Einzelpersönlichkeit und darum wohl auch das Einzelwesen überhaupt
als der Typus der vollen Wirklichkeit gilt.“ Wir fügen dazu noch den
Neid des Nicht-Vollbürgers, des Proletariers, des Menschen, den das
Geschick spärlich mit Schönheit bedachte und der wenigstens dadurch
in die Höhe kommen will, dass er die Werte der andern herunterreisst.
Dies ist besonders charakteristisch für den Kyniker, der immer andere
bekrittelte, dem nichts heilig war, wenn es nämlich einem andern
gehörte, und der sich sogar vor Hausfriedensbruch nicht scheute, um
eine Gelegenheit zu haben, seine Ratschläge an den Mann zu bringen.

Dieser wesentlich kritischen Geistesrichtung gegenüber steht die
Ideenwelt Platons mit ihrer ewigen Wesenhaftigkeit. Es ist klar,
dass die Psychologie desjenigen, der jene Welt schuf, gegensätzlich
orientiert war zu der oben geschilderten kritisch-zersetzenden
Urteilsbildung. Das Denken _Platons_ abstrahiert von der Vielheit
der Dinge und schafft synthetisch-construktiv Begriffe, welche die
allgemeinen Konformitäten der Dinge als das eigentlich Seiende
bezeichnen und ausdrücken. Ihre Unsichtbarkeit und Übermenschlichkeit
ist ein gerades Gegenteil zum Concretismus des Inhärenzprinzipes,
welches den Stoff des Denkens auf das Einmalige, Individuelle,
Sächliche reduzieren möchte. Dieses Unternehmen ist aber ebenso
unmöglich, wie die ausschliessliche Geltung des Prädikationsprinzipes,
welches das über viele Einzeldinge Ausgesagte zu einer jenseits der
Hinfälligkeit existierenden ewigen Substanz erheben möchte. Beide
Urteilsbildungen sind daseinsberechtigt, sowie auch beide in jedem
Menschen natürlicherweise vorhanden sind. Man sieht dies meines
Erachtens am besten an der Tatsache, dass gerade der Gründer der
megarischen Schule, Eukleides von Megara, eine All-Einheit aufstellte,
die unermesslich hoch und unerreichbar über dem Individuellen und
Kasuistischen stand. Er verband nämlich das eleatische Prinzip des
„Seienden“ mit dem „Guten“, sodass für ihn das „Seiende“ und das
„Gute“ identisch waren. Dagegen stand nur das „Nicht-Seiende-Böse“.
Diese optimistische All-Einheit ist natürlich nichts anderes als ein
Gattungsbegriff höchster Ordnung, einer, der das Seiende schlechthin
umfasst, zugleich auch aller Evidenz zuwiderläuft, und dies in weit
höherm Masse als die Platonischen Ideen. Damit schaffte Eukleides eine
Compensation für die kritische Auflösung des construktiven Urteils
in lauter Wortdinge. Diese All-Einheit ist so fern und so vage, dass
sie auch schlechterdings keine Konformität der Dinge mehr ausdrückt,
kein Typus ist, sondern das Gebilde eines Wunsches nach einer Einheit,
welche den ungeordneten Haufen der Einzeldinge zusammenfasst. Der
Wunsch nach einer solchen Einheit drängt sich allen auf, die einem
extremen Nominalismus huldigen, insofern sie überhaupt aus ihrer
negativ-kritischen Haltung herauszukommen versuchen. Wir finden daher
bei dieser Art Leute gar nicht selten einen einheitlichen Grundbegriff
von hervorragender Unwahrscheinlichkeit und Willkürlichkeit. Es
ist nämlich eine unmögliche Sache, sich auf das Inhärenzprinzip
ausschliesslich zu gründen. _Gomperz_ sagt darüber treffend:
„Solch ein Versuch wird voraussichtlich zu allen Zeiten misslingen.
Ganz und gar ausgeschlossen war sein Gelingen in einem Zeitalter, dem
es an geschichtlichem Verständnis gebrach, und dem eine vertiefte
Seelenlehre so gut als vollständig abging. Hier war die Gefahr nicht
nur drohend, sondern unabwendbar, dass die offenkundigeren und
durchsichtigeren, aber alles in allem minder gewichtigen Nützlichkeiten
die versteckteren, aber in Wahrheit schwerer wiegenden in den
Hintergrund drängen würden. Indem man die Tierwelt und den Urmenschen
zum Vorbild nahm, um nach diesem Muster die Auswüchse der Kultur zu
beschneiden, legte man Hand an gar vieles von dem, was die Frucht
einer nach Jahrmyriaden zählenden, im grossen und ganzen aufsteigenden
Entwicklung gewesen ist.“

Das construktive Urteil, das im Gegensatz zur Inhärenz, auf die
Konformität der Dinge abstellt, hat allgemeine Ideen erzeugt, die
zu den höchsten Kulturgütern gehören. Auch wenn diese Ideen zu den
Toten gehören, so verbinden uns mit ihnen doch noch Fäden, die, wie
_Gomperz_ sagt, eine kaum zerreissbare Stärke gewonnen haben. Er
fährt weiter: „Wie der entseelte Leichnam, so kann auf diesem Wege auch
das an sich Unbeseelte einen Anspruch auf Schonung, Ehrung und selbst
aufopfernde Hingebung erwerben; man denke an Bildnisse, an Gräber,
an die Fahne des Soldaten. Tue ich mir aber Gewalt an und bemühe ich
mich mit Erfolg, jenes Gespinnst zu zerreissen, so verfalle ich der
Verrohung, so erleide ich schwere Einbusse an all den Empfindungen,
welche den harten Felsboden der nackten Wirklichkeit wie mit einer
reichen Decke blühenden Lebens umkleiden. Auf der Hochhaltung dieses
Überwuchses, auf der Schätzung alles dessen, was man erworbene Werte
nennen möchte, beruht jede Verfeinerung, alle Zier und Anmut des
Lebens, alle Veredelung tierischer Triebe, so gut als aller Kunstgenuss
und Kunstbetrieb -- eben all dasjenige, was die Kyniker skrupel- und
mitleidslos auszurotten bemüht waren. Gewisslich -- das darf man
ihnen und ihren nicht allzuseltenen modernen Nachfolgern bereitwillig
zugestehen -- es gibt eine Grenze, über welche hinaus wir dem Walten
des Associationsprinzipes nicht Folge leisten dürfen, ohne der Torheit,
ja des Aberglaubens geziehen zu werden, der ganz und gar aus dem
schrankenlosen Walten jenes Prinzipes erwachsen ist.“

Wir sind so ausführlich auf das Problem der Inhärenz und der
Prädikation eingegangen, weil dieses Problem nicht nur im
scholastischen Nominalismus und Realismus wieder aufgetaucht ist,
sondern auch, weil es immer noch nicht zur Ruhe und Ausgleichung
gelangt ist und wohl nie dazu gelangen wird. Denn es handelt sich hier
wiederum um den typischen Gegensatz zwischen dem abstrakten Standpunkt,
wo der ausschlaggebende Wert im Denkprozess selber liegt, und dem
Denken und Fühlen, das (bewusst oder unbewusst) der Orientierung durch
das sinnliche Objekt unterliegt. In letzterm Fall ist der geistige
Prozess Mittel zum Zweck der Heraushebung der Persönlichkeit. Es ist
kein Wunder, dass es gerade die Proletarierphilosophie war, welche
das Inhärenzprinzip adoptierte. Wo immer genügend Gründe vorhanden
sind, das Schwergewicht auf das Individualfühlen zu verlegen, wird das
Denken und Fühlen notwendigerweise durch Armut an positiv-schaffender
Energie (die nämlich alle dem persönlichen Zwecke zugeführt wird)
negativ-kritisch, es analysiert und reduziert auf concrete Einzelheit.
Der daraus entstehenden Anhäufung ungeordneter Einzeldinge wird
bestenfalls eine vage All-Einheit übergeordnet, deren Wunschcharakter
mehr oder weniger durchsichtig ist. Wo das Schwergewicht aber auf
dem geistigen Prozesse liegt, da wird das Resultat des geistigen
Schaffens der Vielheit als Idee übergeordnet. Die Idee ist möglichst
depersonalisiert; das persönliche Empfinden aber geht soweit als
möglich in den geistigen Prozess über, den es hypostasiert.

Wie oben, so müssen wir uns auch hier im Vorübergehen die Frage
vorlegen, ob die Psychologie der platonischen Ideenlehre uns zu der
Annahme berechtige, dass _Platon_ persönlich dem introvertierten
Typus angehöre, und ob die Psychologie der Kyniker und Megariker uns
gestatte, einen _Antisthenes_, _Diogenes_ und _Stilpon_
dem extravertierten Typus zuzurechnen? Von dieser Fragestellung
aus ist eine Entscheidung _ganz unmöglich_. Aus einer höchst
sorgfältigen Durchforschung der authentischen Schriften Platons als
seiner „documents humains“ liesse sich vielleicht erschliessen,
welchem Typus er persönlich angehörte. Ich selber wage es nicht,
irgend ein positives Urteil auszusprechen. Wenn jemand den Beweis
erbrächte, dass Platon dem extravertieren Typus angehörte, würde es
mich nicht erstaunen. Von den andern ist die Überlieferung dermassen
fragmentarisch, dass eine Entscheidung meines Erachtens zu den
Unmöglichkeiten gehört. Da die beiden besprochenen Arten des Denkens
von einer Verlagerung des Wertakzentes herrühren, so ist es natürlich
ebensogut möglich, dass durch gewisse Gründe bei einem Introvertierten
das persönliche Empfinden in den Vordergrund geschoben und dem
Denken superordiniert wird, sodass das Denken negativ-kritisch wird.
Für den Extravertierten liegt der Wertakzent auf der Beziehung zum
Objekt schlechthin, aber nicht notwendigerweise auf dem persönlichen
Verhältnis dazu. Wenn die Beziehung zum Objekt im Vordergrund steht,
dann ist der geistige Prozess zwar schon subordiniert, entbehrt aber
des destruktiven Charakters, wenn er sich ausschliesslich mit der Natur
des Objektes befasst und die Einmischung des persönlichen Empfindens
fernhält. Wir haben daher den besondern Konflikt zwischen Inhärenz- und
Prädikationsprinzip als einen _Spezialfall_ anzumerken, der im
weitern Verlauf der Untersuchung eine tiefergehende Würdigung finden
soll. Das Besondere dieses Falles liegt im positiven und negativen
Mitspielen des persönlichen Empfindens. Wo der Typus (Gattungsbegriff)
das Einzelding bis zum Schatten herunterdrückt, da hat der Typus,
die Idee, Wirklichkeit gewonnen. Wo der Wert des Einzeldinges den
Typus (Gattungsbegriff) aufhebt, da ist anarchistische Zersetzung am
Werke. Beide Positionen sind extrem und ungerecht, aber sie erzeugen
ein Gegensatzbild, das an Deutlichkeit nichts zu wünschen lässt und
eben durch Übertreibung Züge hervorhebt, die, allerdings in milderer
und darum versteckterer Form, auch dem Wesen des introvertierten und
extravertierten Typus anhaften, auch wenn es sich um Persönlichkeiten
handelt, bei denen das persönliche Empfinden nicht in den Vordergrund
geschoben ist. Denn es macht einen beträchtlichen Unterschied im Wesen
aus, ob z. B. das Geistige Herr ist oder Diener. Der Herr denkt und
fühlt anders als der Diener. Auch eine weitgehende Abstraktion vom
Persönlichen zu Gunsten des Allgemeinwertes vermag die persönlichen
Beimischungen nicht gänzlich zu eliminieren. Und insofern diese
existieren, enthalten auch Denken und Fühlen jene destruktiven
Tendenzen, die aus der Selbstbehauptung der Person gegenüber der
Ungunst sozialer Bedingungen herrühren. Man würde aber einen grossen
Irrtum begehen, wenn man, um der Existenz der persönlichen Tendenzen
willen, auch die hervorgebrachten Allgemeinwerte auf persönliche
Unterströmungen reduzieren wollte. Das wäre Afterpsychologie. Aber
solche gibt es.

b) _Das Universalienproblem in der Scholastik._ Das Problem der
beiden Urteilsbildungen blieb ungelöst, denn -- tertium non datur.
So überlieferte _Porphyrius_ das Problem auch dem Mittelalter:
„Mox de generibus et speciebus illud quidem sive subsistant sive in
nudis intellectibus posita sint, sive subsistentia corporalia sint
an incorporalia, et utrum separata a sensibilibus an in sensibilibus
posita et circa haec consistentia, dicere recusabo.“ (Was die
Allgemein-und Gattungsbegriffe betrifft, so ist die Frage, ob sie
substantiell oder bloss intellektuell sind, ob sie körperlich oder
unkörperlich sind, ob sie getrennt von den Wahrnehmungsdingen oder in
und um dieselben sind.) In dieser Form etwa nahm das Mittelalter das
Problem auf: Man unterscheidet die platonische Ansicht, die universalia
ante rem, das Allgemeine oder die Idee als Muster oder Beispiel vor
allen Einzeldingen und gänzlich losgelöst von ihnen ἐν οὐρανίῳ τόπῳ (an
himmlischen Orte) existierend, wie die weise Diotima im Gespräch über
das „Schöne“, zu Sokrates sagt:

„Dieses _Schöne_ wird sich ihm nicht darstellen als ein Gesicht
oder Hände oder was sonst zum Körper gehört, noch auch als ein
begrifflicher Ausdruck oder Erkenntnis, noch überhaupt als etwas, was
an einem andern ist, sei es an einem Einzelwesen oder auf der Erde
oder im Himmel oder sonstwo, sondern _an sich und für sich selbst
und sich selber ewig gleich_, alles andere Schöne aber seiner nur
dergestalt teilhaft, dass es selber durch Entstehen und Vergehen des
andern Schönen weder vermehrt, noch vermindert wird, noch irgend etwas
erleidet.“ (Symposion 211 B.)

Der platonischen Form gegenüber stand, wie wir sahen, die kritische
Annahme, dass Gattungsbegriffe blosse Wörter seien. In diesem Falle ist
das Reale prius, das Ideale posterius. Man bezeichnete diese Ansicht
mit dem Schlagwort: universalia post rem.

Zwischen beiden Auffassungen steht die gemässigte realistische
Auffassung des _Aristoteles_, die als „universalia in re“
bezeichnet werden kann, dass nämlich Form (εἶδος) und Stoff zusammen
existieren. Der aristotelische Standpunkt ist ein concretistischer
Vermittlungsversuch, welcher dem Wesen des _Aristoteles_ völlig
entspricht. Gegenüber dem Transscendentalismus seines Lehrers
_Platon_, dessen Schule dann einem pythagoräischen Mystizismus
verfiel, war _Aristoteles_ ganz ein Mann der Wirklichkeit, seiner
antiken Wirklichkeit, muss man sagen, die vieles concret enthielt, was
spätere Zeiten herausnahmen und dem Inventar des menschlichen Geistes
zurechneten. Seine Lösung entspricht dem Concretismus des antiken
common sense.

Diese drei Formen geben auch die Gliederung der mittelalterlichen
Ansichten im grossen Universalienstreit, der eigentlich die Essenz der
Scholastik war. Es kann nicht meine Aufgabe sein -- schon um meiner
mangelnden Kompetenz willen -- bis in die Einzelheiten des grossen
Streites einzudringen. Ich begnüge mich mit orientierenden Andeutungen.
Der Streit hob an mit den Ansichten des _Johannes Roscellinus_
gegen Ende des 11. Jahrhunderts. Für ihn waren die Universalia
bloss nomina rerum, Namen der Dinge, oder, wie die Tradition sagt:
„flatus vocis“. Es gab für ihn nur Einzeldinge, Individuen. Er war,
wie _Taylor_ treffend bemerkt, „strongly held by the reality
of individuals.“ Der nächst liegende Schluss war, auch Gott nur
als Individuum zu denken, damit auch die Trinität in drei Personen
aufzulösen, womit _Roscellinus_ eigentlich zu einem Tritheismus
gelangte. Das konnte sich der vorherrschende Realismus nicht bieten
lassen; 1092, auf einer Synode zu Soissons, wurden Roscellins Ansichten
verdammt. Auf der andern Seite stand _Wilhelm von Champeaux_, der
Lehrer _Abälards_, ein extremer Realist, aber von aristotelischer
Färbung. Nach Abälard lehrte er, dass ein und dasselbe Ding in seiner
Totalität und zu gleicher Zeit in den verschiedenen Einzeldingen
existiere. Zwischen den Einzeldingen sei überhaupt keine wesentliche
Verschiedenheit, sondern bloss eine Mannigfaltigkeit der „Akzidentien“.
Mit letzterm Begriff sind die wirklichen Verschiedenheiten der
Dinge als Zufälligkeiten charakterisiert, sowie im Dogma der
Transsubstantiation Brot und Wein als solche nur „Akzidentien“ sind.

Auf Seiten des Realismus stand auch _Anselm von Canterbury_, der
Vater der Scholastik. Echt platonisch liegen bei ihm die universalia im
göttlichen Logos. Aus diesem Geiste heraus ist auch der psychologisch
wichtige _Gottesbeweis_ zu verstehen, den Anselm aufgestellt
hat und den man den _ontologischen_ nennt. Dieser Beweis tut
die Existenz Gottes aus der Idee Gottes dar. _J. H. Fichte_
(Psychologie II, 120) hat diesen Beweis kurz folgendermassen
formuliert: „Das Vorhandensein der Idee eines Unbedingten in unserm
Bewusstsein beweist die reale Existenz dieses Unbedingten.“ Anselms
Gedanke ist, dass der im Intellekte vorhandene Begriff eines höchsten
Wesens auch die Qualität der Existenz einschliesst (non potest esse
in intellectu solo). Er folgert also: „Vero ergo est aliquid, quo
majus cogitari non potest, ut nec cogitari posset non esse, et hoc es
tu, Deus noster.“ Die logische Schwäche des ontologischen Argumentes
ist so offenkundig, dass es schon psychologischer Erklärungsgründe
bedarf, weshalb ein Geist wie Anselm diese Argumentation aufstellen
konnte. Der nächste Grund ist in der allgemeinen psychologischen
Disposition des Realismus überhaupt zu suchen, nämlich in der Tatsache,
dass sowohl eine gewisse Menschenklasse, als auch, entsprechend der
Zeitströmung, gewisse Menschengruppen ihren Wertakzent auf die Idee
verlegen, sodass die Idee ihnen einen höhern Real- resp. Lebenswert
darstellt, als die Wirklichkeit der Einzeldinge. Daher es ihm einfach
als eine Unmöglichkeit erscheint, anzunehmen, dass das, was ihnen das
Wertvollste und Bedeutsamste ist, nicht auch _wirklich_ existieren
sollte. Sie haben ja den schlagendsten Beweis für dessen Wirksamkeit
selber in Händen, indem ihr Leben, Denken und Fühlen offenkundigerweise
ganz nach diesem Gesichtspunkt orientiert ist. Die Unsichtbarkeit
der Idee tut nichts zur Sache neben ihrer ausserordentlichen
_Wirksamkeit_, die eben eine _Wirklichkeit_ ist. Sie haben
einen ideellen und keinen sensualistischen Wirklichkeitsbegriff.

Ein zeitgenössischer Gegner des Anselm, _Gaunilo_, wendete schon
ein, dass die häufig vorkommende Vorstellung einer glückseligen
und vollkommenen Insel (nach Art des Phäakenlandes) doch nicht
notwendigerweise auch deren wirkliche Existenz beweise. Dieser Einwand
ist tastbar vernünftig. Solcher und ähnlicher Einwände wurden im Laufe
der Jahrhunderte nicht wenige erhoben, was aber keineswegs hinderte,
dass das ontologische Argument bis auf neueste Zeit nicht ausgestorben
ist, sondern noch im 19. Jahrhundert von _Hegel_, _Fichte_
und _Lotze_ vertreten wurde. Derartige Kontradiktionen sind
nicht einem ganz besondern Mangel an Logik oder einer noch viel
grössern Verblendung auf der einen oder andern Seite zuzuschreiben.
Das wäre abgeschmackt. Vielmehr handelt es sich um tiefgreifende
psychologische Unterschiede, die einmal anzuerkennen und fest zu halten
sind. Die Annahme, es gebe nur _eine_ Psychologie oder nur ein
psychologisches Grundprinzip, ist eine unerträgliche Tyrannei des
pseudowissenschaftlichen Vorurteils vom Normalmenschen. Man spricht
immer von _dem_ Menschen und seiner „Psychologie“, die allemal
auf „nichts anderes, als“ zurückgeführt wird. Ebenso spricht man immer
von _der_ Wirklichkeit, als ob es nur eine gäbe. Wirklichkeit
ist das, was in einer menschlichen Seele wirkt, und nicht das, was
von gewissen Leuten als wirkend angenommen und in voreingenommener
Weise verallgemeinert wird. Auch wenn dabei noch so wissenschaftlich
vorgegangen wird, so ist nicht zu vergessen, dass die Wissenschaft
nicht die „summa“ des Lebens ist, und dass sie sogar nur eine der
psychologischen Einstellungen, sogar nur eine Form des menschlichen
Denkens ist.

Das ontologische Argument ist kein Argument und kein Beweis,
sondern die psychologische Konstatierung der Tatsache, dass es eine
Menschenklasse gibt, der eine bestimmte Idee das Wirksame und Wirkliche
ist, eine Wirklichkeit, welche sozusagen an die der Wahrnehmungswelt
heranreicht. Der Sensualist pocht auf die Gewissheit seiner
„Realität“, und der Mensch der Idee besteht auf seiner psychologischen
Wirklichkeit. Die Psychologie muss sich mit der Existenz dieser zwei
(oder mehrerer) Typen abfinden, und es jedenfalls unter allen Umständen
vermeiden, den einen als ein Missverständnis des andern aufzufassen,
und sie darf niemals ernsthaft den Versuch machen, den einen Typus auf
den andern zu reduzieren, als ob alles Anderssein nur eine Funktion des
einen sei. Damit soll das bewährte Wissenschaftsprinzip -- principia
explicandi praeter necessitatem non sunt multiplicanda -- nicht
aufgehoben sein. Denn die Notwendigkeit einer Mehrheit psychologischer
Erklärungsprinzipien besteht. Ganz abgesehen von dem zu Gunsten dieser
Annahme hier Vorgebrachten sollte einem die bemerkenswerte Tatsache
die Augen öffnen, dass nämlich, trotz der anscheinend endgültigen
Erledigung des ontologischen Argumentes durch _Kant_, nicht
wenige der nachkantischen Philosophen das Argument wieder aufgenommen
haben. Und heute sind wir wieder ebenso weit oder vielmehr noch viel
weiter entfernt von einer Verständigung über die Gegensatzpaare
Idealismus-Realismus, Spiritualismus-Materialismus einschliesslich
aller Nebenfragen, als das frühe Mittelalter, das wenigstens eine
gemeinsame Weltanschauung hatte.

Zu Gunsten des ontologischen Beweises gibt es wohl kein den modernen
Intellekt ansprechendes logisches Argument. Das ontologische Argument
hat eben in sich selber mit Logik gar nichts zu tun, sondern es ist in
der Form, in der _Anselm_ es der Geschichte hinterlassen hat, eine
nachträglich intellektualisierte oder rationalisierte _psychologische
Tatsache_, was natürlich ohne petitio principii und sonstige
Sophismen nicht geschehen konnte. Darin aber eben zeigt sich die
unerschütterliche Gültigkeit des Argumentes, dass es existiert, und
dass der consensus gentium es als eine allgemein vorhandene Tatsache
beweist. Mit der Tatsache ist zu rechnen, nicht mit dem Sophismus
ihrer Begründung, denn der Fehler des ontologischen Argumentes besteht
einzig und allein darin, dass es logisch argumentieren will, wo es doch
viel mehr ist als bloss ein logischer Beweis; es handelt sich nämlich
um eine psychologische Tatsache, deren Vorkommen und Wirksamkeit so
überwältigend klar ist, dass sie gar keiner Argumentation bedarf.
Der consensus gentium beweist, dass Anselm mit der Konstatierung,
dass Gott _ist_, weil er gedacht wird, recht hat. Das ist eine
offenkundige Wahrheit, sogar nichts anderes als ein identischer
Satz. Die „logische“ Begründung ist daneben ganz überflüssig und ist
erst noch falsch, insofern Anselm seiner Gottesidee eine dingliche
Wirklichkeit anbeweisen wollte. Er sagt: „Existit ergo procul dubio
aliquid, quo majus cogitari non volet, et in intellectu et in re.“
Es existiert also über allen Zweifel hinaus etwas, grösser als
welches nichts gedacht werden kann, und zwar sowohl im Intellekt
als auch im Ding (Dinglichkeit, „Realität“). Der Begriff „res“ war
aber der Scholastik etwas, das mit dem Gedanken auf gleicher Höhe
stand. So unterschied _Dionysius Areopagita_, dessen Schriften
einen bedeutenden Einfluss auf die frühmittelalterliche Philosophie
ausübten, neben einander entia rationalia, intellectualia, sensibilia,
simpliciter existentia (rationale, intellektuelle, wahrnehmbare,
schlechthin existierende Dinge) _Thomas von Aquino_ nennt „res“
das, quod est in anima (was in der Seele ist) und auch das „quod est
extra animam“ (was ausserhalb der Seele ist). Diese bemerkenswerte
Gleichstellung lässt noch die primitive Dinglichkeit („Realität“)
des Gedankens in der damaligen Auffassung erkennen. Aus diesem
Geisteszustand heraus ist daher auch die Psychologie des ontologischen
Beweises leicht verständlich. Die Hypostasierung der Idee war gar
kein wesentlicher Schritt, sondern als ein Nachklang der primitiven
Sinnlichkeit des Gedankens ohne weiteres gegeben. Das Gegenargument des
_Gaunilo_ ist psychologisch ungenügend, indem auch die Idee einer
glückseligen Insel, wie der consensus gentium beweist, häufig vorkommt,
jedoch unzweifelhaft weniger wirksam ist, als die Gottesidee, der
infolgedessen ein höherer „Realitätswert“ zukommt.

Alle Spätern, die das ontologische Argument wieder aufgenommen
haben, sind dem Irrtum des Anselm, wenigstens im Prinzip, verfallen.
_Kants_ Argumentation dürfte endgültig sein. Wir wollen daher
in Kürze darauf eintreten: er sagt, „dass der Begriff eines absolut
notwendigen Wesens ein reiner Vernunftbegriff, d. h. eine blosse Idee
sei, deren objektive Realität dadurch, dass die Vernunft ihrer bedarf,
noch lange nicht bewiesen ist.“

„Die unbedingte Notwendigkeit der Urteile aber ist nicht eine absolute
Notwendigkeit der Sachen. Denn die absolute Notwendigkeit des Urteils
ist nur eine bedingte Notwendigkeit der Sache oder des Prädikates im
Urteile.“

Unmittelbar vorher gibt _Kant_ als Beispiel eines notwendigen
Urteils, dass ein Dreieck drei Winkel habe. Auf diesen Satz bezieht er
sich, indem er weiterfährt: „Der vorige Satz sagte nicht, dass drei
Winkel schlechterdings notwendig seien, sondern unter der Bedingung,
dass ein Triangel da ist, sind auch drei Winkel notwendigerweise da.
Gleichwohl hat diese logische Notwendigkeit eine so grosse Macht ihrer
Illusion bewiesen; dass, indem man sich einen Begriff a priori von
einem Ding gemacht hatte, der so gestellt war, dass man seiner Meinung
nach das Dasein mit in seinem Umfang begriff, man daraus glaubte,
sicher schliessen zu können, dass, weil dem Objekt dieses Begriffes
das Dasein notwendig zukommt, d. i. unter der Bedingung, dass ich
dieses Ding als gegeben (existierend) setze, auch sein Dasein notwendig
(nach der Regel der Identität) gesetzt werde, und dieses Wesen daher
schlechterdings selbst notwendig sei, weil sein Dasein in einem nach
Belieben angenommenen Begriffe und unter der Bedingung, dass ich den
Gegenstand desselben setze, mit gedacht wird.“ Die Macht der Illusion,
auf die Kant hier anspielt, ist nichts anderes, als die primitive,
_magische Macht des Wortes_, die auch dem Begriffe heimlicherweise
innewohnt. Es hat einer langen Entwicklung bedurft, bis die Menschen
einmal gründlichst einsahen, dass das Wort, der flatus vocis, nicht
auch jedesmal eine Realität bedeute oder bewirke. Aber die Tatsache,
dass gewisse Menschen dies einsahen, hat noch lange nicht vermocht,
die abergläubische Macht, die dem formulierten Begriff innewohnt, in
allen Köpfen auszurotten. Offenbar ist auch in diesem „instinktiven“
Aberglauben etwas, das nicht ausgerottet sein will, weil es irgend
eine Daseinsberechtigung aufweist, die allerdings bis jetzt nicht
genügend gewürdigt wurde. Der Paralogismus (Fehlschluss) kommt in
einer ähnlichen Weise in das ontologische Argument hinein, nämlich
durch eine Illusion, die _Kant_ folgendermassen erläutert: Er
spricht zunächst von der Behauptung von „schlechterdings notwendigen
Subjekten“, deren Begriff der Begriff der Existenz schlechthin inhärent
ist, die also ohne innern Widerspruch nicht aufgehoben werden können.
Dieser Begriff wäre der des „allerrealsten Wesens“. „Er hat, sagt
ihr, alle Realität, und ihr seid berechtigt, ein solches Wesen als
möglich anzunehmen .... Nun ist unter aller Realität auch das Dasein
mitbegriffen: Also liegt das Dasein in dem Begriff von einem Möglichen.
Wird dieses Ding nun aufgehoben, so wird die innere Möglichkeit des
Dinges aufgehoben, welches widersprechend ist. Ich antworte: Ihr habt
schon einen Widerspruch begangen, wenn ihr in den Begriff eines Dinges,
welches ihr lediglich seiner Möglichkeit nach denken wolltet, es sei
unter welchem versteckten Namen, schon den Begriff seiner Existenz
hereinbrachtet. Räumet man auch dieses ein, so habt ihr dem Scheine
nach gewonnen Spiel, in der Tat aber nichts gesagt, denn ihr habt eine
blosse Tautologie begangen.“

„Sein ist offenbar kein reales Prädikat, d. i. ein Begriff von irgend
etwas, was zu dem Begriffe eines Dinges hinzukommen könne. Es ist bloss
die Position eines Dinges oder gewisser Bestimmungen an sich selbst.
Im logischen Gebrauche ist es lediglich die Copula eines Urteiles.
Der Satz: Gott ist allmächtig, enthält zwei Begriffe, die ihn zum
Objekte haben: Gott und Allmacht. Das Wörtchen: ist, ist nicht noch ein
Prädikat oben ein, sondern nur das, was das Prädikat beziehungsweise
aufs Subjekt setzt. Nehme ich nun das Subjekt (Gott) mit allen seinen
Prädikaten (worunter auch die Allmacht gehört) zusammen und sage:
Gott ist, oder: es ist ein Gott, so setze ich kein neues Prädikat zum
Begriffe von Gott, sondern nur das Subjekt an sich selbst, mit allen
seinen Prädikaten und zwar den Gegenstand in Beziehung auf meinen
Begriff. Beide müssen genau einerlei enthalten, und es kann daher zu
dem Begriffe, der bloss die Möglichkeit ausdrückt, darum, dass ich
dessen Gegenstand als schlechthin gegeben (durch den Ausdruck: er ist)
denke, nichts weiter hinzukommen. Und so enthält das Wirkliche nichts
mehr als das bloss Mögliche. Hundert wirkliche Taler enthalten nicht
das mindeste mehr, als hundert mögliche.“

„Aber in meinem Vermögenszustande ist mehr bei hundert wirklichen
Talern, als bei dem blossen Begriffe derselben (d. i. ihrer
Möglichkeit).“

„Unser Begriff von einem Gegenstande mag also enthalten, was und
wieviel er wolle, so müssen wir doch aus ihm herausgehen, um diesem
die Existenz zu erteilen. Bei Gegenständen der Sinne geschieht dieses
durch den Zusammenhang mit irgend einer meiner Wahrnehmungen nach
empirischen Gesetzen; aber für Objekte des reinen Denkens ist ganz und
gar kein Mittel, ihr Dasein zu erkennen, weil es gänzlich a priori
erkannt werden müsste, unser Bewusstsein aller Existenz aber, gehöret
ganz und gar zur Einheit der Erfahrung, und eine Existenz ausser diesem
Felde kann zwar nicht schlechterdings für unmöglich erklärt werden, sie
ist aber eine Voraussetzung, die wir durch nichts rechtfertigen können.“

Diese ausführliche Erinnerung an die grundlegende Auseinandersetzung
_Kants_ erscheint mir nötig, da wir gerade hier die reinlichste
Scheidung finden zwischen dem esse in intellectu und esse in re.
_Hegel_ warf Kant vor, dass man den Begriff Gott nicht mit hundert
Talern in der Phantasie vergleichen könne. Wie aber Kant mit Recht
sagt, abstrahiert die Logik von allem Inhalt, denn dann wäre sie keine
Logik mehr, wenn ein Inhalt prävalierte. Wie immer gibt es zwischen
dem logischen Entweder-Oder kein Drittes -- nämlich vom Standpunkt
der Logik gesehen. Aber zwischen „intellectus und res“ gibt es noch
„anima“, und dieses „esse in anima“ macht die ganze ontologische
Argumentation überflüssig. Kant selber hat in der Kritik der
praktischen Vernunft einen grosszügigen Versuch gemacht, das „esse in
anima“ philosophisch zu würdigen. Er führt dort Gott ein als Postulat
der praktischen Vernunft, das sich aus der durch die a priori erkannte
„Achtung fürs moralische Gesetz notwendigen Absicht aufs höchste
Gut und der darausfliessenden Voraussetzung der objektiven Realität
desselben“ ergibt.[5]

Das „esse in anima“ nun ist ein psychologischer Tatbestand, von dem
einzig nur auszumachen ist, ob er einmalig, vielmalig oder universell
in der menschlichen Psychologie vorkommt. Der Tatbestand, der Gott
genannt und als „höchstes Gut“ formuliert wird, bedeutet, wie schon
der Terminus zeigt, den höchsten seelischen Wert oder, mit andern
Worten, die Vorstellung, welcher die höchste und allgemeinste Bedeutung
hinsichtlich der Bestimmung unseres Handelns und unseres Denkens
erteilt wird oder faktisch zukommt. In der Sprache der analytischen
Psychologie fällt der Gottesbegriff zusammen mit demjenigen
Vorstellungskomplex, welcher entsprechend der vorigen Definition die
höchste Summe von Libido (psychische Energie) auf sich vereinigt.
Demnach wäre der faktische Gottesbegriff der Anima bei verschiedenen
Menschen durchaus verschieden, was auch der Erfahrung entspricht.
Gott ist nicht einmal ein in der Idee feststehendes Wesen, viel
weniger noch in Wirklichkeit. Denn der höchste wirkende Wert einer
menschlichen Seele ist, wie bekannt, sehr verschieden lokalisiert. Es
gibt solche, ὧν ὁ θεὸς ἡ κοιλία (deren Gott der Bauch, Phil. 3, 19),
das Geld, die Wissenschaft, die Macht, die Sexualität etc. ist. Je
nach der Lokalisation des höchsten Gutes verschiebt sich die ganze
Psychologie des Individuums, wenigstens in den Hauptzügen, sodass
eine psychologische „Theorie“, die auf irgend einem Grundtrieb
ausschliesslich basiert ist, wie z. B. auf Machtgier oder Sexualität,
auf einen Menschen anderer Orientierung appliziert, immer nur die Züge
nebensächlicher Bedeutung adäquat erklären kann.

c) _Der Einigungsversuch des Abälard._ Es ist nun nicht ohne
Interesse, nachzuforschen, wie die Scholastik selber es versuchte,
den Universalienstreit zu schlichten und ein Gleichgewicht zwischen
den typischen Gegensätzen, die das tertium non datur trennte, zu
schaffen. Dieser Ausgleichsversuch ist das Werk _Abälards_,
jenes unglücklichen Mannes, der in Liebe zu Heloise entbrannte und
seine Leidenschaft mit dem Verluste seiner Mannheit bezahlen musste.
Wer das Leben Abälards kennt, weiss, in welchem Masse seine eigene
Seele jene getrennten Gegensatzpaare beherbergte, deren Vereinigung
ihm philosophisch am Herzen lag. _Rémusat_[6] charakterisiert
Abälard als einen Eklektiker, der zwar alle ausgesprochenen Theorien
über die Universalien kritisierte und zurückwies, aber von allen
doch das Wahre und Haltbare entlehnte. Abälards Schriften sind,
soweit sie den Universalienstreit betreffen, schwerverständlich und
verwirrend, denn der Autor ist in beständiger Abwägung aller Argumente
und Aspekte begriffen; und gerade die Tatsache, dass er keinem
ausgesprochenen Standpunkt recht gab, sondern das Gegensätzliche zu
begreifen und zu einigen suchte, hat es vermocht, dass er nicht einmal
von seinen Schülern richtig verstanden wurde. Einige verstanden ihn
als Nominalisten, andere als Realisten. Dieses Missverständnis ist
charakteristisch, denn es ist viel leichter, einem bestimmten Typus
entsprechend zu denken, weil man in ihm logisch und konsequent bleiben
kann, als beiden Typen entsprechend, denn ein mittlerer Standpunkt
fehlt. Der Realismus sowohl als der Nominalismus führen, in ihnen
selber verfolgt, zu Geschlossenheit, Klarheit und Einheitlichkeit. Die
Abwägung und Ausgleichung der Gegensätze aber führt zur Verwirrung
und zu einem im Sinne der Typen unbefriedigenden Abschluss, indem
die Lösung weder den einen noch den andern völlig zufrieden stellen
kann. _Rémusat_ hat eine ganze Reihe von fast kontradiktorischen
Behauptungen aus den Schriften Abälards, unsern Gegenstand betreffend,
zusammengestellt. Er ruft aus: „Faut-il admettre, en effet, ce vaste
et incohérent ensemble de doctrines dans la tête d’un seul homme, et
la philosophie d’Abélard est-elle le chaos?“ Vom Nominalismus nimmt
Abälard die Wahrheit, dass die Universalia in dem Sinne „Worte“ sind,
als sie durch Sprache ausgedrückte geistige Konventionen sind; ferner
nimmt er daraus die Wahrheit, dass ein Ding in Wirklichkeit nichts
allgemeines, sondern immer ein gesondertes ist, und dass die Substanz
in Wirklichkeit niemals eine universelle, sondern eine individuelle
Tatsache ist. Vom Realismus nimmt Abälard die Wahrheit, dass die
„genera“ und „species“ Vereinigungen von Individualfakten und -Dingen
auf Grund ihrer unzweifelhaften Ähnlichkeiten sind. Der vermittelnde
Standpunkt ist für ihn der _Konzeptualismus_, der als eine
Funktion zu verstehen ist, welche die wahrgenommenen Individualobjekte
begreift, auf Grund ihrer Ähnlichkeit in genera und species
klassifiziert und so von ihrer absoluten Vielheit auf eine relative
Einheit bringt. So unzweifelhaft die Vielheit und Verschiedenheit
der Einzeldinge ist, so unzweifelhaft ist auch die Existenz von
Ähnlichkeiten, welche die Vereinigung unter dem Begriff ermöglicht. Wer
psychologisch so eingestellt ist, hauptsächlich die Ähnlichkeit der
Dinge wahrzunehmen, für den ist der Sammelbegriff sozusagen gegeben,
d. h. er drängt sich förmlich auf, man könnte sagen, mit der unleugbaren
Tatsächlichkeit der Sinneswahrnehmung. Wer aber psychologisch so
eingestellt ist, dass er hauptsächlich die Verschiedenheit der Dinge
wahrnimmt, dem ist die Ähnlichkeit nicht ausschliesslich gegeben,
sondern die Diversität der Dinge, die sich ihm mit ebenso grosser
Tatsächlichkeit aufdrängt, wie dem andern die Ähnlichkeit. Es scheint,
als ob die _Einfühlung_ ins Objekt derjenige psychologische
Vorgang wäre, der eben die Verschiedenheit dieses Objektes von einem
andern in ein besonders helles Licht rückt, und als ob die Abstraktion
vom Objekt derjenige Vorgang wäre, der besonders geeignet ist, über die
tatsächliche Verschiedenheit der Einzeldinge hinwegzusehen, zu Gunsten
ihrer allgemeinen Ähnlichkeit, welche eben die Grundlage der Idee ist.
Einfühlung und Abstraktion vereinigt ergeben jene Funktion, die dem
Begriff des Konzeptualismus zu Grunde liegt. Er gründet sich auf die
psychologische Funktion, welche wirklich die einzige Möglichkeit ist,
die Divergenz des Nominalismus und des Realismus auf eine gemeinsame
Bahn zusammen zu bringen.

Obschon das Mittelalter grosse Worte von der Seele zu reden wusste,
so hatte es doch keine Psychologie, welche eine der jüngsten
Wissenschaften überhaupt ist. Hätte es damals eine Psychologie gegeben,
so hätte Abälard das esse in anima zur vermittelnden Formel erhoben.
Das hat Rémusat klar erkannt, indem er sagt: „Dans la logique pure, les
universalia ne sont que les termes d’un langage de convention. Dans
la physique, qui est pour lui plus transscendante qu’expérimentale,
qui est sa véritable ontologie, les genres et les espèces se fondent
sur la manière dont les êtres sont réellement produits et constitués.
Enfin, entre la logique pure et la physique, il y a un milieu et
comme une science mitoyenne, qu’on peut appeler une psychologie, où
Abélard recherche comment s’engendrent nos concepts et retrace toute
cette généalogie intellectuelle des êtres, tableau ou symbole de leur
hiérarchie et de leur existence réelle.“ (Rémusat: T. II, p. 112.)

Die Universalia ante rem und post rem sind eine Streitfrage für alle
folgenden Jahrhunderte geblieben, wenn sie auch ihr scholastisches
Gewand abgeworfen haben und in neuen Verkleidungen aufgetreten sind. Im
Grunde genommen, war es die alte Frage. Bald neigte der Lösungsversuch
auf die realistische, bald auf die nominalistische Seite. Die
Wissenschaftlichkeit des XIX. Jahrhunderts hat dem Problem wieder
einen Ruck nach der nominalistischen Seite hinüber gegeben, nachdem
die Philosophie des Anfanges des XIX. Jahrhunderts dem Realismus in
höherm Masse Genüge getan hatte. Aber die Gegensätze sind nicht mehr
soweit von einander getrennt, wie zu Abälards Zeiten. Wir haben eine
Psychologie, eine vermittelnde Wissenschaft, welche Idee und Ding
einzig zu einigen vermag, ohne dem einen oder andern Gewalt anzutun.
Diese Möglichkeit liegt im Wesen der Psychologie, aber niemand könnte
behaupten, dass bis jetzt die Psychologie diese Aufgabe auch erfüllt
hätte. Man muss in diesem Sinn den Worten Rémusats beipflichten:
„Abélard a donc triomphé; car, malgré les graves restrictions qu’une
critique clairvoyante découvre dans le nominalisme ou le conceptualisme
qu’on lui impute, son esprit est bien l’esprit moderne à son origine.
Il l’annonce, il le dévance, il le promet. La lumière qui blanchit au
matin l’horizon est déjà celle de l’astre encore invisible qui doit
éclairer le monde.“

Wer über die Existenz der psychologischen Typen und damit auch über
die Tatsache hinwegsieht, dass die Wahrheit des einen der Irrtum
des andern ist, dem wird Abälards Bemühung nichts weiter bedeuten
als eine scholastische Spitzfindigkeit mehr. Insofern wir aber die
Existenz der beiden Typen anerkennen, muss uns der Versuch Abälards
doch sehr bedeutend vorkommen. Er sucht den mittleren Standpunkt im
„sermo“, worunter er weniger die „Rede“, als den geformten, zu einem
bestimmten Sinn gefügten Satz versteht, also eine Definition, die
sich zur Befestigung ihres Sinnes mehrerer Worte bedient. Er spricht
nicht von „verbum“, denn dies ist im Sinne des Nominalismus nichts
weiter als eine „vox“, ein „flatus vocis“. Denn das ist eben die
grosse psychologische Leistung des antiken wie des mittelalterlichen
Nominalismus, dass er die primitive, magische oder mystische Identität
von Wort und objektivem Tatbestand gründlich aufgelöst hat, zu
gründlich für den Typus Mensch, der nicht im Anhalten an die Dinge,
sondern in der Abstraktion der Idee über die Dinge sein Fundament hat.
Abälard war zu weiten Geistes, als dass er diesen Wert des Nominalismus
übersehen hätte. Das Wort allerdings war ihm eine „vox“, der Satz
hingegen, eben der „sermo“ in seiner Sprache, war ihm mehr, denn er
brachte festen Sinn mit sich, er beschrieb das Gemeinsame, das Ideelle,
das Gedachte, denkend Wahrgenommene an den Dingen. Im sermo lebte das
Universale und nur dort. Weshalb es begreiflich ist, dass Abälard auch
unter die Nominalisten gezählt wurde, mit Unrecht allerdings, denn das
Universale war ihm von grösserer Tatsächlichkeit als eine vox.

Der Ausdruck seines Konzeptualismus muss Abälard wohl schwer gefallen
sein, denn er hatte sich notwendigerweise aus Contradictionen
zusammenzusetzen. Ein in einem Oxforder Manuskript erhaltenes Epitaph
auf Abälard gibt uns einen, wie mir scheint, trefflichen Einblick in
das Paradoxale seiner Lehre:

    Hic docuit voces cum rebus significare,
    Et docuit voces res significando notare;
    Errores generum correxit, ita specierum.
    Hic genus et species in sola voce locavit,
    Et genus et species sermones esse notavit.

    --    --    --    --    --    --    --    --

    Sic animal nullumque animal genus esse probatur.
    Sic et homo et nullus homo species vocitatur.

Das Gegensätzliche lässt sich wohl kaum anders als im Paradoxon
zusammenfassen, insofern nämlich ein Ausdruck erstrebt wird, der sich
im Prinzip auf den einen Standpunkt stützt, nämlich im vorliegenden
Fall auf den intellektuellen Standpunkt. Wir dürfen nicht vergessen,
dass der grundliegende Unterschied zwischen Nominalismus und Realismus
nämlich nicht bloss ein logisch-intellektueller ist, sondern ein
psychologischer, der in letzter Linie auf eine typische Verschiedenheit
der psychologischen Einstellung zum Objekt sowohl wie zur Idee
hinausläuft. Wer ideell eingestellt ist, erfasst und reagiert unter dem
Gesichtswinkel der Idee. Wer aber auf das Objekt eingestellt ist, der
erfasst und reagiert unter dem Gesichtswinkel seines Empfindens. Das
Abstrakte kommt für ihn in zweiter Linie, daher ihm eben das, was an
den Dingen gedacht werden muss, als das minder Wesentliche vorkommt,
dem ersteren aber umgekehrt. Der auf das Objekt Eingestellte ist
natürlicherweise Nominalist -- „Name ist Schall und Rauch“ -- insofern
er nämlich noch nicht gelernt hat, seine nach dem Objekt orientierte
Einstellung zu compensieren. Ist dieser letztere Fall eingetreten, so
wird aus ihm, falls er das Zeug dazu hat, ein haarscharfer Logiker,
der an Exaktheit, Methode und Trockenheit seinesgleichen sucht. Der
ideell Eingestellte ist natürlicherweise logisch, weshalb er das
Lehrbuch der Logik im Grunde genommen nicht verstehen und nicht
schätzen kann. Die Entwicklung zur Compensation seines Typus macht
ihn, wie wir bei _Tertullian_ sahen, zum leidenschaftlichen
Gefühlsmenschen, dessen Gefühle aber im Bannkreis seiner Ideen bleiben.
Der Compensationslogiker aber bleibt mit seiner Ideenwelt im Bannkreis
seiner Objekte.

Mit dieser Überlegung gelangen wir zur Schattenseite des
Abälardschen Gedankens. Sein Lösungsversuch ist einseitig. Wenn es
sich beim Gegensatz von Nominalismus und Realismus bloss um eine
logisch-intellektuelle Auseinandersetzung handelte, so wäre nicht
einzusehen, warum keine andere als eine paradoxale Endformulierung
möglich wäre. Da es sich aber um einen psychologischen Gegensatz
handelt, so muss eine einseitig logisch-intellektuelle Formulierung im
Paradoxon enden. -- Sic et homo et nullus homo species vocitatur. --
Der logisch-intellektuelle Ausdruck ist schlechthin unfähig, auch in
der Form des sermo, uns jene mittlere Formel zu geben, welche dem Wesen
der zwei entgegengesetzten psychologischen Einstellungen gleichermassen
gerecht wird, denn er ist ganz von der abstrakten Seite genommen und
ermangelt völlig der Anerkennung der concreten Wirklichkeit.

Jede logisch-intellektuelle Formulierung -- sei sie auch noch so
vollkommen -- streift die Lebendigkeit und Unmittelbarkeit des
Objekteindruckes ab. Sie muss sie abstreifen, um überhaupt zur
Formulierung gelangen zu können. Damit geht aber gerade das verloren,
was der extravertierten Einstellung das Allerwesentlichste zu sein
dünkt, nämlich die Bezogenheit auf das wirkliche Objekt. Es ist daher
keine Möglichkeit vorhanden, auf dem Wege der einen oder andern
Einstellung eine irgendwie befriedigende, vereinigende Formel zu
finden. Und doch kann der Mensch nicht -- auch wenn sein Geist es
könnte -- in diesem Zwiespalt verharren, denn dieser Zwiespalt ist
nicht bloss eine Angelegenheit einer fernabgelegenen Philosophie,
sondern das tagtäglich sich wiederholende Problem des Verhältnisses
des Menschen zu sich selber und zur Welt. Und weil es sich im Grunde
genommen um dieses Problem handelt, so kann der Zwiespalt auch nicht
durch die Diskussion nominalistischer und realistischer Argumente
gelöst werden. Es bedarf zur Lösung eines dritten, vermittelnden
Standpunktes. Dem „esse in intellectu“ fehlt die tastbare Wirklichkeit,
dem „esse in re“ fehlt der Geist. Idee und Ding aber treffen sich
in der Psyche des Menschen, welche zwischen Idee und Ding die Wage
hält. Was ist schliesslich die Idee, wenn ihr die Psyche nicht
lebendigen Wert ermöglicht? Was ist auch das objektive Ding, wenn
ihm die Psyche die bedingende Kraft des sinnlichen Eindruckes
entzieht? Was ist Realität, wenn sie nicht eine Wirklichkeit in
uns, ein „esse in anima“ ist? Die lebendige Wirklichkeit ist weder
durch das tatsächliche, objektive Verhalten der Dinge, noch durch
die ideelle Formel ausschliesslich gegeben, sondern nur durch die
Zusammenfassung beider im lebendigen psychologischen Prozess, durch
das „esse in anima“. Nur durch die spezifische Lebenstätigkeit der
Psyche erreicht die Sinneswahrnehmung jene Eindruckstiefe, und die
Idee jene wirkende Kraft, welche beide unerlässliche Bestandteile
einer lebendigen Wirklichkeit sind. Diese Eigentätigkeit der Psyche,
die sich weder als reflektorische Reaktion auf den Sinnesreiz,
noch als Exekutivorgan ewiger Ideen erklären lässt, ist wie jeder
Lebensprozess ein beständiger Schöpferakt. Die Psyche erschafft täglich
die Wirklichkeit. Ich kann diese Tätigkeit mit keinem andern Ausdruck
als mit _Phantasie_ bezeichnen. Die Phantasie ist ebensosehr
Gefühl, wie Gedanke, sie ist ebenso intuitiv, wie empfindend. Es gibt
keine psychische Funktion, die in ihr nicht ununterscheidbar mit den
andern psychischen Funktionen zusammenhinge. Sie erscheint bald als
uranfänglich, bald als letztes und kühnstes Produkt der Zusammenfassung
alles Könnens. Die Phantasie erscheint mir daher als der deutlichste
Ausdruck der spezifischen psychischen Aktivität. Sie ist vor allem die
schöpferische Tätigkeit, aus der die Antworten auf alle beantwortbaren
Fragen hervorgehen, sie ist die Mutter aller Möglichkeiten, in der
auch, wie alle psychologischen Gegensätze, Innenwelt und Aussenwelt
lebendig verbunden sind. Die Phantasie war es und ist es immer, die die
Brücke schlägt zwischen den unvereinbaren Ansprüchen von Objekt und
Subjekt, von Extraversion und Introversion.

In der Phantasie allein sind die beiden Mechanismen verbunden.

Wenn Abälard bis zur Erkenntnis der psychologischen Verschiedenheit der
beiden Standpunkte durchgedrungen wäre, so hätte er folgerichtigerweise
die Phantasie zur Formulierung des vereinigenden Ausdruckes heranziehen
müssen. Aber die Phantasie ist tabu im Reiche der Wissenschaft,
gleichermassen wie das Gefühl. Wenn wir aber den grundliegenden
Gegensatz als einen psychologischen erkennen, so wird sich die
Psychologie genötigt sehen, nicht nur den Gefühlsstandpunkt, sondern
auch den vermittelnden Phantasiestandpunkt anzuerkennen. Hier aber
kommt die grosse Schwierigkeit: Die Phantasie ist grösstenteils
ein Produkt des Unbewussten. Sie enthält zwar zweifellos bewusste
Bestandteile, aber es ist doch ein besonderes Charakteristikum
der Phantasie, dass sie im wesentlichen unwillkürlich ist und dem
Bewusstseinsinhalt eigentlich fremd gegenübersteht. Sie hat diese
Eigenschaften mit dem Traum gemeinsam, welch letzterer allerdings
in noch weit höherm Masse unwillkürlich und fremdartig ist. Das
Verhältnis des Menschen zu seiner Phantasie ist in hohem Masse bedingt
von seinem Verhältnis zum Unbewussten überhaupt. Und diese letztere
Beziehung ist wiederum besonders bedingt durch den Zeitgeist. Je nach
dem Grade des vorherrschenden Rationalismus wird der einzelne mehr
oder weniger geneigt sein, sich auf das Unbewusste und dessen Produkte
einzulassen. Die christliche Sphäre, wie überhaupt jede geschlossene
Religionsform, hat die unzweifelhafte Tendenz, das Unbewusste im
Individuum möglichst zu unterdrücken, und damit auch seine Phantasie
lahmzulegen. An ihrer Statt gibt die Religion festgeprägte symbolische
Anschauungen, welche das Unbewusste des Individuums vollgültig
ersetzen sollen. Die symbolischen Vorstellungen aller Religionen sind
Gestaltungen unbewusster Vorgänge in typischer, allgemeinverbindlicher
Form. Die religiöse Lehre gibt sozusagen endgültige Auskunft über die
„letzten Dinge“, über das Jenseits des menschlichen Bewusstseins.
Wo immer wir eine Religion im Entstehen beobachten können, da sehen
wir, wie beim Stifter selbst die Figuren seiner Lehre ihm als
Offenbarungen, d. h. als Concretisierungen seiner unbewussten Phantasie
zufliessen. Die aus seinem Unbewussten heraus entstandenen Formen
werden für allgemeingültig erklärt und ersetzen solchermassen die
individuellen Phantasien anderer. Das Evangelium Matthäi hat uns ein
Fragment dieses Vorganges aus dem Leben Christi aufbewahrt: in der
Versuchungsgeschichte sehen wir, wie die Idee des Königtums aus dem
Unbewussten an den Stifter herantritt in Form der Vision des Teufels,
der ihm die Macht über die Reiche der Erde anbietet. Hätte Christus die
Phantasie concretistisch missverstanden, und somit wörtlich genommen,
so wäre ein Verrückter mehr in der Welt gewesen. Er wies aber den
Concretismus seiner Phantasie ab und trat in die Welt als ein König,
dem die Reiche des _Himmels_ untertan sind. Darum war er kein
Paranoiker, wie auch der Erfolg bewiesen hat. Die von psychiatrischer
Seite gelegentlich geäusserten Ansichten über das Krankhafte der
Psychologie Christi sind nichts als ein lächerliches rationalistisches
Gerede, fern von jeglichem Verständnis für derartige Vorgänge in der
Geschichte der Menschheit. Die Form, in der Christus den Inhalt seines
Unbewussten der Welt vorstellte, wurde angenommen und für allgemein
verbindlich erklärt. Damit verfielen alle individuellen Phantasien der
Ungültigkeit und Wertlosigkeit, ja sogar der Ketzerverfolgung, wie das
Schicksal der gnostischen Bewegung und aller spätern Häretiker zeigt.
Ganz in diesem Sinne sagte schon der Prophet Jeremias (23, 16):

„So spricht der Herr Zebaoth: Gehorcht nicht den Worten der Propheten,
so euch weissagen. Sie betrügen euch; denn sie predigen ihres
_Herzens Gesicht_, und nicht aus des Herrn Munde.“

(25) „Ich höre es wohl, was die Propheten predigen, und falsch
weissagen in meinem Namen, und sprechen: _Mir hat geträumet_, mir
hat geträumet.

(26) Wann wollen doch die Propheten aufhören, die falsch weissagen, und
ihres Herzens Trügerei weissagen.

(27) und wollen, dass mein Volk meines Namens vergesse über ihren
Träumen, die einer dem andern erzählet? gleichwie ihre Väter meines
Namens vergassen über dem Baal.

(28) Ein Prophet, der Träume hat, der erzähle Träume; wer aber mein
Wort hat, der predige mein Wort recht. Wie reimen sich Stroh und Weizen
zusammen? spricht der Herr.“

Ebenso sehen wir im frühen Christentum, wie z. B. die Bischöfe eifrig
bemüht waren, die Wirksamkeit des individuellen Unbewussten unter den
Mönchen auszurotten. Besonders wertvolle Einblicke in dieser Hinsicht
gewährt uns der Erzbischof _Athanasius_ von Alexandria in seiner
Biographie des heiligen Antonius.[7] Er beschreibt darin zum Zwecke der
Belehrung seiner Mönche die Erscheinungen und Gesichte, die Gefahren
der Seele, die den einsam Betenden und Fastenden befallen. Er belehrt
sie, wie geschickt der Teufel sich verkleide, um die Heiligen zu Falle
zu bringen. Der Teufel ist natürlich die Stimme des eigenen Unbewussten
des Anachoreten, das sich empört gegen die gewaltsame Unterdrückung der
individuellen Natur. Ich gebe eine Reihe von wörtlichen Anführungen aus
diesem schwer zugänglichen Buche. Sie zeigen sehr deutlich, wie das
Unbewusste systematisch unterdrückt und entwertet wurde:

„Es gibt Zeiten, wo wir niemand sehen, und doch das Geräusch vom
Arbeiten der Teufel hören, und es ist, wie wenn jemand ein Lied
mit lauter Stimme sänge, und zu andern Zeiten ist es, wie wenn wir
die Worte der heiligen Schrift hörten, wie wenn ein Lebender ihre
Worte wiederholte, und sie sind genau gleich den Worten, die wir
hören würden, wenn jemand aus dem Buch (Bibel) vorliest. Und es kam
auch vor, dass sie (die Teufel) uns aufrissen zum Nachtgebet und
uns antrieben, aufzustehen. Und sie täuschten uns auch Ähnlichkeit
mit Mönchen vor und die Erscheinung von solchen, die trauern (d. h.
Anachoreten). Und sie nähern sich uns, wie wenn sie von weither kämen,
und sie beginnen Worte zu äussern, die geeignet sind, das Verständnis
der Kleinmütigen zu schwächen: „Es ist jetzt ein Gesetz über aller
Schöpfung, dass wir die Verwüstung lieben, aber wir waren unfähig durch
Gotteswillen, in unsere Häuser einzutreten, als wir zu ihnen kamen,
und das Rechte zu tun.“ Und wenn es ihnen nicht gelingt, ihren Willen
auf diese Weise durchzusetzen, so geben sie diesen Betrug auf für
einen andern und sagen: „Wie ist es möglich für dich, zu leben? Denn
du hast gesündigt und Unrecht in mancherlei Dingen begangen. Denkst
du, dass der Geist mir nicht offenbart hat, was du getan hast, oder
dass ich nicht weiss, dass du dieses und jenes getan hast?“ Darum,
wenn ein einfältiger Bruder diese Dinge hört, und innerlich fühlt,
dass er wirklich so gehandelt hat, wie der Böse ihm sagte, und wenn er
die Listigkeit des Bösen nicht kennt, dann wird sein Geist sogleich
verwirrt, er wird verzweifeln und einen Rückfall erleiden. Es ist, o
meine Geliebten, uns nicht nötig, über diese Dinge erschrocken zu sein,
aber wir müssen uns fürchten, wenn die Teufel anfangen noch mehr von
den Dingen zu reden, _welche wahr sind_, und dann müssen wir sie
unnachsichtlich schelten. -- Darum lasst uns auf der Hut sein, dass
wir unser Ohr nicht ihren Worten leihen, auch wenn die Worte, die sie
sprechen, Worte der Wahrheit sind. Denn es wäre eine Schande für uns,
wenn die, die sich gegen Gott empörten, unsere Lehrer werden sollten.
Und lasst uns wappnen, o meine Brüder, mit dem Panzer der Gerechtigkeit
und lasst uns den Helm der Erlösung anziehen, und im Augenblick des
Kampfes lasst uns aus einem gläubigen Sinne geistige Pfeile abschiessen
wie von einem gespannten Bogen. Denn sie (die Teufel) sind gar nichts,
und auch, wenn sie etwas wären, ihre Stärke hätte nichts in sich, das
der Macht des Kreuzes widerstehen könnte.“

St. Antonius erzählt: „Einmal erschien mir ein Teufel von ganz
besonders hochmütigem und unverschämtem Benehmen, und er trat vor mich
mit dem tumultuarischen Lärm einer Volksmenge, und er wagte mir zu
sagen: „Ich und gerade ich bin die Kraft Gottes; ich und gerade ich bin
der Herr der Welten.“ Und er sprach weiter zu mir: „Was wünschest du,
dass ich dir geben soll? Verlange und du wirst empfangen.“ Da blies
ich ihn an und wies ihn zurück im Namen Christi. -- Bei einer andern
Gelegenheit, als ich fastete, erschien mir der Listige, in Gestalt
eines Bruders, der Brot brachte, und er fing an, mir Ratschläge zu
erteilen, indem er sagte: „Stehe auf und stille dein Herz mit Brot und
Wasser und ruhe dich ein wenig aus von deinem übermässigen Mühen, denn
du bist ein Mensch und so hoch du auch stehen magst, so bist du doch
mit einem sterblichen Leibe bekleidet und du solltest ängstlich sein
wegen Krankheiten und Trübsal.“ Darauf betrachtete ich seine Worte
und bewahrte meine Ruhe und hielt mit der Antwort zurück. Und ich
beugte mich in Ruhe nieder und tat Busse im Gebet und sagte: „O, Herr,
mache du ein Ende mit ihm, wie du dies zu allen Zeiten zu tun gewohnt
warest.“ Und als ich diese Worte gesprochen hatte, da kam er zum Ende
und schwand dahin wie Staub und ging aus meiner Türe wie Rauch.

Und einmal in einer Nacht näherte sich der Satan meinem Hause und
klopfte an die Türe, und ich ging hinaus, zu sehen, wer anklopfte, und
ich erhob meine Augen und ich sah die Gestalt eines ausserordentlich
grossen und starken Mannes und als ich ihn fragte: „Wer bist du?“
antwortete er und sprach zu mir: „Ich bin Satan.“ Darauf sagte ich zu
ihm: „Was suchest du?“ Und er antwortete und sprach zu mir: „Warum
schmähen mich die Mönche und die Anachoreten und die andern Christen,
und warum häufen sie zu allen Zeiten Verfluchung auf mich?“ Ich fasste
meinen Kopf in Erstaunen über seine unsinnige Torheit und ich sagte
zu ihm: „Warum quälst du sie?“ Darauf antwortete er und sagte zu mir:
„Nicht ich bin es, der sie quält, sondern sie quälen sich selber,
denn es geschah mir bei einer gewissen Gelegenheit, was sich wirklich
begeben hat, dass sie sich, hätte ich ihnen nicht zugerufen, dass
_ich_ der Feind sei, für immer umgebracht hätten. Ich habe darum
keinen Platz, wo ich sein könnte, und kein schimmerndes Schwert und
nicht einmal Menschen, die mir wirklich untertan wären, denn die, die
mir dienen, verachten mich gänzlich, und überdies, ich muss sie in
Fesseln halten, denn sie hängen mir nicht an, weil sie es für recht
halten, so zu tun, und sie sind immer bereit, bei jeder Gelegenheit mir
davon zu laufen. Die Christen haben die ganze Welt erfüllt, und siehe,
sogar die Wüste ist voll von ihren Klöstern und Wohnstätten. Lass sie
sich in acht nehmen, wenn sie mich mit Missbrauch überhäufen.“ Darauf
sagte ich zu ihm in Bewunderung der Gnade unseres Herrn: „Wie kommt es,
dass du, der du bei jeder andern Gelegenheit ein Lügner warest, jetzt
die Wahrheit sprichst? Und wie kommt es, dass du jetzt die Wahrheit
sagst, wenn du doch gewohnt bist, Lügen zu reden? Es ist in der Tat
wahr, dass du, als Christus in diese Welt kam, in die tiefsten Tiefen
hinuntergeworfen wardst, und dass die Wurzel deines Irrtums aus der
Erde gerissen wird.“ Und als Satan den Namen Christi hörte, da schwand
seine Gestalt und seine Worte nahmen ein Ende.“

Diese Anführungen zeigen, wie das Unbewusste des Individuums
verworfen wurde mit Hilfe des allgemeinen Glaubens, obschon es in
durchsichtiger Weise die Wahrheit sprach. Dass es verworfen wurde,
hat seine besondern Gründe in der Geistesgeschichte. Es liegt uns
hier nicht ob, diese Gründe näher zu erläutern. Wir müssen uns mit
der Tatsache begnügen, dass es unterdrückt wurde. Diese Unterdrückung
besteht, psychologisch gesprochen, in einer Entziehung der Libido,
der psychischen Energie. Die dadurch gewonnene Libido diente dem
Aufbau und der Entwicklung der bewussten Einstellung, wodurch sich
allmählich eine neue Weltanschauung herausbildete. Die dadurch
erlangten unzweifelhaften Vorteile befestigen natürlicherweise diese
Einstellung. Es ist daher kein Wunder, dass unsere Psychologie durch
eine vorzugsweise ablehnende Einstellung gegenüber dem Unbewussten
gekennzeichnet ist.

Es ist nicht nur begreiflich, sondern auch durchaus notwendig,
dass alle Wissenschaften den Gefühlstandpunkt sowohl, wie den der
Phantasie auszuschliessen haben. Darum sind es eben Wissenschaften.
Wie steht es aber mit der Psychologie? Insofern sie sich als
Wissenschaft betrachtet, muss sie dasselbe tun. Wird sie aber dadurch
ihrem Stoffe gerecht? Jede Wissenschaft sucht schliesslich ihren
Stoff in Abstraktionen zu formulieren und auszudrücken, also könnte
und kann auch die Psychologie den Prozess des Fühlens, Empfindens
und Phantasierens in intellektuellen Abstraktionen fassen. Diese
Behandlung sichert zwar das Recht des intellektuell-abstrakten
Standpunktes, nicht aber das Recht der andern möglichen psychologischen
Gesichtspunkte. Diese andern möglichen Gesichtspunkte können in einer
wissenschaftlichen Psychologie nur erwähnt, nicht aber als selbständige
Prinzipien einer Wissenschaft auftreten. Wissenschaft ist unter allen
Umständen eine Angelegenheit des Intellekts, und ihm sind die andern
psychologischen Funktionen als Objekte unterworfen. Der Intellekt ist
der Souverain des Wissenschaftsgebietes. Ein anderes ist es aber,
wenn die Wissenschaft in ihre praktische Verwendung übertritt. Der
Intellekt, der vordem König war, wird hier blosses Hilfsmittel, zwar
ein wissenschaftlich verfeinertes Instrument, aber doch nur ein
Handwerksgerät, das nicht mehr Selbstzweck, sondern blosse Bedingung
ist. Der Intellekt und mit ihm die Wissenschaft wird hier in den Dienst
der schöpferischen Kraft und Absicht gestellt. Auch dies ist noch
„Psychologie“, jedoch keine Wissenschaft mehr; es ist eine Psychologie
im weitern Sinne des Wortes, eine psychologische Tätigkeit von
schöpferischer Natur, in welcher der schaffenden Phantasie das Primat
zukommt. Man könnte ebenso gut, statt von schaffender Phantasie zu
sprechen, auch sagen, dass in einer solch praktischen Psychologie dem
_Leben_ selbst die führende Rolle zugefallen sei; denn einerseits
ist es zwar schon die zeugende und schöpfende Phantasie, welche sich
der Wissenschaft als eines Hilfsmittels bedient, andererseits aber sind
es auch die mannigfaltigen Anforderungen der äussern Realität, welche
die Tätigkeit der schöpferischen Phantasie anregen. Die Wissenschaft
als Selbstzweck ist gewiss ein hohes Ideal, aber seine konsequente
Durchführung erzeugt so viele Selbstzwecke als es Wissenschaften
und Künste gibt. Dies führt zwar zu einer hohen Differenzierung und
Spezialisierung der jeweils in Betracht fallenden Funktionen, aber
damit auch zu ihrer Welt- und Lebensferne und überdies zu einer
Anhäufung von Spezialgebieten, die allmählich allen Zusammenhang unter
sich verlieren. Damit beginnt nicht nur eine Verarmung und Verödung
im Spezialgebiete, sondern auch in der Psyche des Menschen, der zum
Spezialisten sich hinaufdifferenziert hat, oder hinuntergesunken
ist. Die Wissenschaft aber muss ihren Lebenswert dadurch beweisen,
dass sie nicht nur Herrin, sondern auch Magd sein kann. Sie entehrt
sich damit keineswegs. Wenn uns zwar schon die Wissenschaft zur
Erkenntnis der Ungleichmässigkeiten und Störungen der Psyche geführt
hat, und daher der ihr innewohnende Intellekt unsere höchste Achtung
verdient, so ist es doch ein schwerwiegender Irrtum, ihr darum einen
Selbstzweck anzudichten, der sie unfähig macht, blosses Instrument
zu sein. Wenn wir aber mit dem Intellekt und seiner Wissenschaft in
das wirkliche Leben treten, so erkennen wir gleich, dass wir uns in
einer Beschränkung befinden, welche uns andere, ebenso wirkliche
Lebensgebiete verschliesst. Wir sind darum genötigt, die Universalität
unseres Ideals als eine Beschränktheit aufzufassen und uns nach einem
spiritus rector umzusehen, welcher in Ansehung der Forderungen eines
völligen Lebens eine grössere Gewähr der psychologischen Universalität
bietet als der Intellekt allein. Wenn Faust ausruft: „Gefühl ist
alles“, so spricht er das Gegenteil des Intellektes aus, und damit
gewinnt er bloss eine andere Seite, aber nicht jene Totalität des
Lebens und damit der eigenen Psyche, welche Fühlen und Denken in
einem höhern Dritten vereinigt. Dieses höhere Dritte kann, wie ich
bereits andeutete, als ein praktisches Ziel sowohl als die das Ziel
erschaffende Phantasie verstanden werden. Dieses Ziel der Totalität
kann weder von der Wissenschaft, die sich Selbstzweck ist, noch vom
Fühlen, das der Sehkraft des Denkens ermangelt, erkannt werden. Das
eine muss sich den andern als Hilfsmittel leihen, aber ihr Kontrast ist
dermassen gross, dass wir einer Brücke bedürfen. Diese Brücke ist uns
in der schaffenden Phantasie gegeben. Sie ist keines von beiden, denn
sie ist die Mutter beider -- ja noch mehr, sie ist schwanger mit dem
Kinde, dem Ziele, welches die Gegensätze einigt.

Wenn uns Psychologie nur Wissenschaft bleibt, so erreichen wir das
Leben nicht, sondern dienen dem Selbstzweck der Wissenschaft. Sie führt
uns zwar zur Erkenntnis der Sachlage, widersetzt sich aber jedem andern
Zwecke als dem eigenen. Der Intellekt bleibt in sich selbst solange
gefangen, als er sein Primat nicht freiwillig opfert, um die Würde
anderer Zwecke anzuerkennen. Er schreckt davor zurück, den Schritt über
sich selbst hinaus zu tun und seine universelle Gültigkeit zu leugnen,
denn alles andere ist ihm _nichts als Phantasie_. Was aber hat
es je Grosses gegeben, das nicht zuvor Phantasie war? Solchermassen
schneidet sich der im Selbstzweck der Wissenschaft versteifte Intellekt
die Lebensquelle ab. Ihm ist Phantasie nichts als Wunschtraum, worin
alle der Wissenschaft sowohl willkommene als nötige Unterschätzung
ausgedrückt ist. Die Wissenschaft als Selbstzweck ist unumgänglich,
solange es sich darum handelt, die Wissenschaft zu entwickeln. Das
Selbe aber wird ein Übel, wenn es sich um das Leben selber handelt,
das entwickelt werden sollte. So war es eine historische Notwendigkeit
im christlichen Kulturprozess, dass die freischaffende Phantasie
unterdrückt wurde, und so war es auch eine Notwendigkeit unseres
naturwissenschaftlichen Zeitalters, die Phantasie in anderer Hinsicht
zu unterdrücken. Es ist nicht zu vergessen, dass die schöpferische
Phantasie auch zu einer schädlichsten Wucherung entarten kann, wenn
ihr nicht gerechte Grenzen gesetzt werden. Diese Grenzen sind aber
niemals jene künstlichen Schranken, welche der Intellekt oder das
vernünftige Gefühl setzen, sondern sie sind gegeben durch die Not
und die unumstössliche Wirklichkeit. Die Aufgaben der Zeitalter sind
verschieden, und immer kann man erst nachher mit Sicherheit erkennen,
was hat sein müssen, und was nicht hätte sein sollen. In der jeweiligen
Gegenwart wird immer der Streit der Überzeugungen herrschen, denn
„der Krieg ist der Vater von allem“. Nur die Geschichte entscheidet.
Die Wahrheit ist nicht ewig, sie ist ein Programm. Je „ewiger“ eine
Wahrheit ist, desto unlebendiger und wertloser ist sie, denn sie sagt
uns nichts mehr, weil sie selbstverständlich ist.

Wie die Psychologie die Phantasie bewertet, solange sie bloss
Wissenschaft ist, zeigen uns die bekannten Ansichten von _Freud_
und _Adler_. Die _Freud_sche Deutung reduziert die Phantasie auf
die kausalen elementaren Triebprozesse. Die _Adler_sche Auffassung
dagegen reduziert sie auf die elementaren finalen Absichten des Ich.
Ersteres ist eine Triebpsychologie, letzteres eine Ich-Psychologie.
Der Trieb ist ein unpersönliches biologisches Phänomen. Eine darauf
basierte Psychologie muss naturgemäss das Ich vernachlässigen, denn
das Ich verdankt seine Existenz dem principium individuationis, der
individuellen Differenzierung, die kein allgemeines biologisches
Phänomen ist wegen ihrer Vereinzelung. Obschon allgemeine biologische
Triebkräfte auch die Persönlichkeitsbildung ermöglichen, so ist doch
eben gerade das Individuelle essentiell verschieden vom allgemeinen
Triebe, steht dazu sogar im striktesten Gegensatz, wie das Individuum
als Persönlichkeit sich immer von der Collektivität unterscheidet.
Sein Wesen besteht eben gerade in dieser Unterscheidung. Jede
Ich-Psychologie muss daher gerade das Collektive der Triebpsychologie
ausschliessen und übergehen, denn sie beschreibt eben den Ich-Prozess,
der sich vom Collektivtriebe differenziert. Die charakteristische
Animosität zwischen den Vertretern der beiden Standpunkte rührt von
der Tatsache her, dass der eine Standpunkt konsequenterweise eine
Entwertung und Heruntersetzung des andern Standpunktes bedeutet.
Denn solange die Unterscheidung zwischen Trieb- und Ichpsychologie
nicht anerkannt ist, so muss natürlich die eine wie die andere Seite
ihre Theorie für allgemeingültig halten. Damit ist nun keineswegs
gesagt, dass z. B. die Triebpsychologie nicht auch eine Theorie des
Ichprozesses aufstellen könnte. Sie kann das sehr wohl tun, aber in
einer Art und Weise, die dem Ichpsychologen wie ein Negativ zu seiner
Theorie erscheint. Daher kommt es, dass bei _Freud_ die „Ichtriebe“
zwar gelegentlich auftauchen, in der Hauptsache aber ein bescheidenes
Dasein fristen. Umgekehrt erscheint bei _Adler_ die Sexualität beinahe
wie ein blosses Vehikel, das den elementaren Machtabsichten in dieser
oder jener Weise dient. Das Adlersche Prinzip ist die Sicherung der
persönlichen Macht, die sich dem allgemeinen Triebe superponiert. Bei
Freud ist es der Trieb, der sich das Ich dienstbar macht, sodass das
Ich nur als eine Funktion des Triebes erscheint.

Innerhalb beider Typen geht die wissenschaftliche Tendenz dahin, alles
auf das eigene Prinzip zu reduzieren und daraus wieder zu deduzieren.
Diese Operation lässt sich besonders leicht an den Phantasien
vollziehen, indem diese nicht wie die Funktionen des Bewusstseins, sich
an die Realität adaptieren und darum objektiv orientierten Charakter
haben, sondern rein trieb- und ichgemäss sind. Wer vom Standpunkt
des Triebes aus sieht, findet unschwer die „Wunscherfüllung“, den
„infantilen Wunsch“, die „verdrängte Sexualität“. Wer vom Standpunkt
des Ich aus sieht, findet ebenso leicht die elementaren Absichten auf
die Sicherung und Differenzierung der Ichpersönlichkeit, denn die
Phantasien sind Vermittlungsprodukte zwischen Ich und allgemeinem
Trieb. Demgemäss enthalten sie die Elemente beider Seiten. Die Deutung
nach der einen oder andern Seite ist daher immer etwas gewalttätig und
willkürlich, indem dabei immer der eine Charakter unterdrückt wird.
Aber im grossen und ganzen kommt doch eine beweisbare Wahrheit dabei
heraus, nur ist sie eine Partialwahrheit, die keinen Anspruch auf
allgemeine Gültigkeit erheben kann. Ihre Gültigkeit erstreckt sich
auf die Reichweite ihres Prinzipes. Im Gebiete des andern Prinzipes
aber ist sie ungültig. Die Freudsche Psychologie ist charakterisiert
durch den zentralen Begriff der _Verdrängung_ inkompatibler
Wunschtendenzen. Der Mensch erscheint als ein Bündel von Wünschen, die
dem Objekt gegenüber nur teilweise anpassbar sind. Seine neurotischen
Schwierigkeiten bestehen darin, dass Milieueinfluss, Erziehung und
objektive Bedingungen ein Ausleben der Triebe teilweise verhindern.
Von Vater und Mutter stammen teils moralisch erschwerende Einflüsse,
teils infantile, das spätere Leben kompromittierende Bindungen. Die
ursprüngliche Triebveranlagung ist ein unabänderlich gegebenes Etwas,
das hauptsächlich durch Objekteinflüsse störende Modifikationen
erleidet, daher ein möglichst ungestörtes Ausleben der Triebe gegenüber
passend gewählten Objekten als das nötige Heilmittel erscheint.
Umgekehrt ist Adlers Psychologie charakterisiert durch den zentralen
Begriff der Ich-Superiorität. Der Mensch erscheint in erster Linie
als ein Ichpunkt, der unter keinen Umständen dem Objekt unterlegen
sein darf. Während bei Freud das Begehren nach dem Objekt, die Bindung
an das Objekt und die dem Objekt gegenüber unmögliche Art gewisser
Begehren eine bedeutende Rolle spielen, richtet sich bei Adler alles
nach der Superiorität des Subjektes. Freuds Triebverdrängung gegenüber
dem Objekt ist bei Adler zur Sicherung des Subjektes geworden. Das
Heilmittel ist bei ihm die Aufhebung der isolierenden Sicherung, bei
Freud die Aufhebung der Verdrängung, welche das Objekt unerreichbar
macht.

Das Grundschema ist daher bei Freud die _Sexualität_, welche die
stärkste Beziehung zwischen Subjekt und Objekt ausdrückt; bei Adler
dagegen die _Macht_ des Subjektes, welche am wirksamsten gegen
die Objekte sichert und dem Subjekt eine jede Beziehung aufhebende
und unangreifbare Isolierung gibt. Freud möchte das ungestörte
Herausfliessen der Triebe an ihre Objekte gewährleisten, Adler aber
möchte den feindseligen Bann der Objekte durchbrechen, um das Ich von
der Erstickung im eigenen Panzer zu erlösen. Erstere Ansicht dürfte
daher im wesentlichen extravertiert, letztere dagegen introvertiert
sein. Die extravertierte Theorie gilt für den extravertierten Typus,
die introvertierte Theorie gilt für den introvertierten Typus. Insofern
nun der reine Typus ein ganz einseitiges Entwicklungsprodukt ist, ist
er auch notwendigerweise unbalanciert. Die Überbetonung der einen
Funktion ist gleichbedeutend mit der Verdrängung der andern Funktion.
Diese Verdrängung wird auch durch die Psychoanalyse insofern nicht
aufgehoben, als die jeweils applizierte Methode nach der Theorie des
eigenen Typus orientiert ist. Der Extravertierte wird nämlich seine
aus dem Unbewussten auftauchenden Phantasien auf ihren Triebgehalt
reduzieren, seiner Theorie entsprechend. Der Introvertierte aber auf
seine Machtabsichten. Der Gewinn aus einer solchen Analyse fällt
jeweils dem schon bestehenden Übergewicht zu. Diese Art der Analyse
verstärkt also bloss den schon bestehenden Typus und ermöglicht dadurch
keine Verständigung oder Vermittlung zwischen den Typen. Im Gegenteil,
die Kluft wird erweitert und zwar äusserlich sowohl wie innerlich.
Es entsteht auch innerlich eine Dissociation, indem jeweils die in
den unbewussten Phantasien (Träumen etc.) auftauchenden Partikel der
andern Funktion entwertet und wieder verdrängt werden. Darum hatte
ein gewisser Kritiker einigermassen recht, als er behauptete, Freuds
Theorie sei eine neurotische Theorie, abgesehen von dem Umstand, dass
dieser Ausdruck übelwollend ist und nur dazu dienen soll, von der
Pflicht ernsthafter Beschäftigung mit den angeregten Problemen zu
entbinden. Freuds sowohl wie Adlers Standpunkt ist einseitig und nur
charakteristisch für einen Typus.

Beide Theorien stehen dem Prinzip der Imagination insofern ablehnend
gegenüber, als sie die Phantasien reduzieren und nur als einen
semiotischen[8] Ausdruck behandeln. In Wirklichkeit aber bedeuten
die Phantasien mehr als das: sie sind nämlich zugleich auch die
Repräsentanten des andern Mechanismus, also beim Introvertierten
der verdrängten Extraversion, beim Extravertierten der verdrängten
Introversion. Die verdrängte Funktion aber ist unbewusst, daher
unentwickelt, embryonal und archaïsch. Sie ist in diesem Zustand
unvereinbar mit dem höhern Niveau der bewussten Funktion. Das
Unannehmbare der Phantasie rührt hauptsächlich her aus dieser
Eigentümlichkeit der zugrunde liegenden, nicht anerkannten Funktion.

Aus diesen Gründen ist die Imagination für jeden, dem die Anpassung an
äussere Realität Hauptprinzip ist, etwas Verwerfliches und Nutzloses.
Immerhin weiss man, dass noch jede gute Idee und jede Schöpfertat aus
der Imagination hervorgegangen ist und ihren Anfang in dem nahm, was
man als infantile Phantasie zu bezeichnen gewohnt ist. Es ist nicht
nur der Künstler, der alles Grösste in seinem Leben der Phantasie
verdankt, sondern überhaupt jeder schöpferische Mensch. Das dynamische
Prinzip der Phantasie ist das _Spielerische_, das ebenfalls dem
Kinde eignet, und als solches ebenfalls unvereinbar mit dem Prinzip
ernster Arbeit erscheint. Aber ohne dieses Spiel mit Phantasien ist
noch nie ein schöpferisches Werk geboren worden. Wir verdanken dem
Imaginationsspiel unabsehbar viel. Es ist daher kurzsichtig, wenn die
Phantasien ihres abenteuerlichen oder unannehmbaren Charakters wegen
mit Geringschätzung behandelt werden. Es ist nicht zu vergessen, dass
eben gerade in der Imagination eines Menschen sein Wertvollstes
liegen kann. Ich sage ausdrücklich: _kann_, denn auf der andern
Seite sind die Phantasien auch wertlos, indem sie in der Form des
Rohstoffes keinerlei Verwertbarkeit besitzen. Um das Wertvolle, das in
ihnen liegt, zu heben, bedarf es einer Entwicklung derselben. Diese
Entwicklung wird aber nicht geleistet durch reine Analyse derselben,
sondern auch eine synthetische Behandlung, durch eine Art construktiven
Verfahrens.[9]

Es bleibt eine offene Frage, ob der Gegensatz zwischen den beiden
Standpunkten intellektuell jemals befriedigend ausgeglichen
werden kann. Obschon der Versuch _Abälards_ dem Sinne nach
ausserordentlich geschätzt werden muss, so hat er doch praktisch keine
nennenswerten Folgen gezeitigt, denn er konnte keine vermittelnde
psychologische Funktion herstellen ausser eben dem Konzeptualismus
oder Sermonismus, der eine einseitige intellektuelle Neuauflage des
alten Logosgedankens zu sein scheint. Der Logos als Mittler hatte
allerdings den Vorteil vor dem Sermo, dass er in seiner menschlichen
Erscheinungsweise auch den nicht-intellektuellen Erwartungen gerecht
wurde.


5. Der Abendmahlstreit zwischen Luther und Zwingli.

Von den spätern Gegensätzen, welche die Geister bewegten, sollte
eigentlich der Protestantismus und die Reformationsbewegung überhaupt
zur Sprache kommen. Allein diese Erscheinung ist dermassen komplex,
dass sie in viele psychologische Einzelprozesse zuvor aufgelöst werden
müsste, um Gegenstand der analytischen Betrachtung werden zu können.
Das aber liegt ausserhalb des Bereiches meines Könnens. Ich muss mich
darum begnügen, nur einen Einzelfall aus jenem grossen Streit der
Geister hervorzuheben, nämlich den Abendmahlstreit zwischen _Luther_
und _Zwingli_. Die bereits erwähnte Transsubstantiationslehre wurde vom
Laterankonzil von 1215 sanktioniert und bildete von da an eine feste
Glaubensüberlieferung, in der auch Luther aufwuchs. Obschon nun der
Gedanke, dass eine Zeremonie und ihre concrete Ausübung eine objektive
Heilsbedeutung habe, eigentlich durchaus unevangelisch ist, indem die
evangelische Richtung sich gerade gegen die Bedeutung der katholischen
Institutionen wendete, so konnte Luther sich doch nicht befreien von
dem unmittelbar wirkenden sinnlichen Eindruck des Geniessens von Brot
und Wein. Er konnte darin nicht bloss ein Zeichen erblicken, sondern
die sinnenfällige Tatsächlichkeit und ihr unmittelbares Erleben waren
für ihn ein unerlässliches religiöses Erfordernis. Er forderte darum
die wirkliche Gegenwart des Leibes und Blutes Christi im Abendmahl. Er
empfing „in und unter“ Brot und Wein den Leib und das Blut Christi. Die
religiöse Bedeutung des unmittelbaren Erlebens am Objekt war ihm so
gross, dass auch sein Vorstellen an den Concretismus einer stofflichen
Gegenwart des heiligen Leibes gebannt war. Seine Erklärungsversuche
stehen daher alle unterhalb dieser Tatsache: der Leib Christi ist
allerdings bloss „unräumlich“ gegenwärtig. In Anlehnung an die sogen.
Consubstantiationslehre ist neben der Substanz von Brot und Wein auch
die Substanz des heiligen Leibes real gegenwärtig. Die durch diese
Annahme verlangte Ubiquität des Leibes Christi, die dem menschlichen
Begreifen besondere Beschwerden verursacht, wurde zwar ersetzt durch
den Begriff der Volipräsenz, welche bedeutet, dass Gott überall da
gegenwärtig ist, wo er gegenwärtig sein will. Unbekümmert um all
diese Schwierigkeiten hat Luther unentwegt am unmittelbaren Erleben
des sinnlichen Eindruckes festgehalten und lieber alle Bedenken
des menschlichen Verstehens mit teils absurden, teils sonstwie
ungenügenden Erklärungen abgefunden. Es ist kaum anzunehmen, dass es
bloss die Macht der Tradition war, welche Luther bestimmt hat, dieses
Dogma festzuhalten, denn gerade er hat es zur Genüge bewiesen, dass er
mit den traditionellen Glaubensformen aufräumen konnte. Man wird wohl
nicht fehlgehen in der Annahme, dass es gerade die Berührung mit dem
„Wirklichen“ und Stofflichen im Abendmahl war, deren Gefühlsbedeutung
für Luther selbst über dem evangelischen Prinzip stand, dass nämlich
das Wort der alleinige Träger der Gnade ist, und keine Zeremonie. So
hatte bei Luther zwar das Wort die Heilsbedeutung, daneben aber war
auch der Genuss des Abendmahls ein Übermittler der Gnade. Wie gesagt,
dies dürfte nur anscheinend eine Konzession an die Institutionen der
katholischen Kirche sein, in Wirklichkeit war es wohl eine durch die
Psychologie Luthers geforderte Anerkennung der auf unmittelbares
Sinnenerlebnis gegründeten Gefühlstatsache.

Dem Lutherischen Standpunkt gegenüber vertrat _Zwingli_ die
reine Symbolauffassung. Es handelt sich für ihn um ein „geistliches“
Geniessen des Leibes und Blutes Christi. Dieser Standpunkt ist
charakterisiert durch die Vernunft und durch eine ideelle Auffassung
der Zeremonie. Er hat den Vorteil, das evangelische Prinzip nicht
zu verletzen und zugleich auch alle vernunftwidrigen Hypothesen zu
vermeiden. Aber diese Auffassung wird dem nicht gerecht, was Luther
erhalten wissen wollte, nämlich der Realität des Sinneneindruckes und
seines besondern Gefühlswertes. Zwar teilte auch Zwingli das Abendmahl
aus, und bei ihm wurden Brot und Wein ebenso genossen, wie bei Luther,
jedoch enthielt seine Auffassung keine Formel, welche den Standpunkt
des dem Objekt eigentümlichen Empfindungs- und Gefühlswertes adäquat
wiedergegeben hätte. Luther gab dafür eine Formel, aber sie stiess
sich an der Vernunft und am evangelischen Prinzip. Den Empfindungs-
und Gefühlsstandpunkt kümmert das nicht, und zwar mit Recht, denn die
Idee, das „Prinzip“, kümmert sich um die Empfindung des Objektes ebenso
wenig. Die beiden Gesichtspunkte schliessen sich in letzter Linie aus.

Für die extravertierte Auffassung ist die Lutherische Formulierung ein
Vorteil, für den ideellen Standpunkt die Zwinglische. Obschon Zwinglis
Formel dem Gefühl und der Empfindung keine Gewalt antut, sondern bloss
eine ideelle Auffassung gibt, so ist zwar anscheinend der Objektwirkung
Raum gelassen. Aber es scheint, als ob der extravertierte Standpunkt
sich nicht damit begnüge, offenen Raum zu haben, sondern er verlangt
auch eine Formulierung, wobei das Ideelle dem Empfindungswerte folgt,
genau so, wie die ideelle Formulierung ein Nachfolgen des Fühlens und
Empfindens erheischt.

Ich schliesse hier dieses Kapitel über das Typenprinzip in der
antiken und mittelalterlichen Geistesgeschichte mit dem Bewusstsein,
eine blosse Fragestellung gegeben zu haben. Meine Kompetenz reicht
bei weitem nicht aus, ein so schwieriges und umfangreiches Problem
irgendwie erschöpfend behandeln zu können. Wenn es mir gelungen
sein sollte, dem Leser einen Eindruck vom Vorhandensein typischer
Standpunktverschiedenheiten zu vermitteln, so ist meine Absicht
erfüllt. Ich brauche wohl kaum beizufügen, dass ich weiss, dass keiner
der hier berührten Stoffe in abschliessender Weise behandelt ist. Ich
muss diese Arbeit denjenigen überlassen, die über reichere Kenntnisse
auf diesem Gebiete verfügen als ich.



II

Über Schillers Ideen zum Typenproblem.



II.

Über Schillers Ideen zum Typenproblem.


=1. Die Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen.=

a) _Über die wertvolle und die minderwertige Funktion._ Soweit
ich mit meinen beschränkten Mitteln in Erfahrung zu bringen vermochte,
scheint _Friedrich Schiller_ der Erste zu sein, der eine bewusste
Unterscheidung typischer Einstellungen in grösserm Masstab und mit
völligerer Darstellung der Einzelheiten durchzuführen versucht
hat. Wir begegnen diesem bedeutenden Versuche, die beiden in Frage
stehenden Mechanismen darzustellen und zugleich eine Möglichkeit ihrer
Vereinigung aufzufinden, in dem im Jahre 1795 erstmals veröffentlichten
Aufsatz: „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“. Der Aufsatz
besteht aus einer Reihe von Briefen, die Schiller an den Herzog von
Holstein-Augustenburg[10] richtete.

Durch die Tiefe der Gedanken, die psychologische Durchdringung
des Stoffes und durch den weiten Blick auf die Möglichkeit der
psychologischen Lösung des Konfliktes, veranlasst mich Schillers
Aufsatz zu einer umfänglichern Darstellung und Würdigung seiner Ideen,
denen es wohl bis jetzt noch nie begegnet ist, in solchem Zusammenhange
abgehandelt zu werden. Schillers Verdienst in unserer psychologischen
Hinsicht ist, wie aus dem Folgenden erhellen wird, auch wirklich kein
geringes; gibt er uns doch ausgearbeitete Gesichtspunkte, die wir in
unserer psychologischen Wissenschaft eben erst zu würdigen anfangen.
Mein Unternehmen wird allerdings nicht zu leicht sein, indem es mir
passieren könnte, den Ideen Schillers eine Auslegung zu geben, von der
man behaupten könnte, ihr Sinn läge nicht in dem, was er sagt. Denn
obschon ich mich bemühen werde, an allen wesentlichen Stellen die Worte
des Autors selber anzuführen, so wird es doch nicht wohl möglich sein,
seine Ideen in den Zusammenhang, den ich hier aufzustellen unternehme,
hineinzubringen, ohne gewisse Deutungen oder Auslegungen zu geben.
Dazu wird mich einerseits der erwähnte Umstand nötigen, andererseits
aber auch die nicht zu übersehende Tatsache, dass Schiller selber
einem bestimmten Typus zugehört, und infolgedessen, auch gegen seinen
Willen, gezwungen ist, eine Beschreibung von der einen Seite aus zu
geben. Die Beschränktheit unserer Auffassung und Erkenntnis tritt wohl
nirgends deutlicher zutage, als in psychologischen Darstellungen,
wo es uns fast unmöglich ist, ein anderes Bild zu zeichnen als
jenes, dessen Grundzüge in unserer eigenen Seele vorgezeichnet
liegen. Ich schliesse aus vielerlei Zügen, dass Schillers Art dem
introvertierten Typus zugehört, während _Goethes_ Art -- wenn
wir von seinem alles überragenden Intuitivismus absehen wollen --
mehr nach der extravertierten Seite neigt. Man wird auch Schillers
eigenes Bild unschwer in seiner Schilderung des idealistischen Typus
wiederfinden. Durch diese Zugehörigkeit ist seiner Formulierung eine
unvermeidliche Beschränkung auferlegt, deren Vorhandensein wir um
eines völligern Verständnisses willen nie ausser Acht lassen dürfen.
Dieser Beschränkung ist es zuzuschreiben, dass der eine Mechanismus in
grösserer Vollständigkeit von Schiller dargestellt ist, als der andere,
welcher beim Introvertierten nur unvollständig entwickelt ist und
darum noch gewisse minderwertige Charaktere an sich hat, die ihm eben
aus Gründen der Mangelhaftigkeit seiner Entwicklung anhaften müssen.
In solchen Fällen bedarf die Darstellung des Autors unserer Kritik
und Korrektur. Es ist selbstredend, dass diese Beschränkung Schiller
auch Anlass gegeben hat, zu einer Art der Terminologie, welche der
Eignung zu allgemeiner Verwendbarkeit ermangelt. Als Introvertierter
hat Schiller ein besseres Verhältnis zu den Ideen, als zu den Dingen
der Welt. Das Verhältnis zu den Ideen kann ein mehr gefühlsmässiges
oder mehr reflektierendes sein, je nachdem das Individuum mehr dem
Fühl- oder mehr dem Denktypus zugehört. Ich möchte hier den Leser,
der vielleicht durch frühere Publikationen angeleitet worden ist, das
Fühlen mit Extraversion und das Denken mit Introversion gleichzusetzen,
bitten, sich der im letzten Kapitel gegebenen Definitionen erinnern
zu wollen. Ich habe dort mit Introversions- und Extraversionstypus
zwei allgemeine Klassen von Menschen unterschieden, zu denen sich
die Einteilung in Funktionstypen wie Denk-, Fühl-, Empfindungs- und
Intuitionstypus als Unterabteilung verhält. Ein Introvertierter kann
daher ein Denk- oder ein Fühltypus sein, denn sowohl der Denkende wie
der Fühlende kann unter dem Primate der Idee stehen, so wie auch beide
gegebenenfalls unter dem Primate des Objektes stehen können.

Wenn ich nun Schiller seiner Art und besonders seinem
charakteristischen Gegensatz zu Goethe entsprechend als Introvertierten
auffasse, so bleibt zunächst die Frage offen, zu welcher Unterabteilung
er gehört. Diese Frage ist schwer zu beantworten. Ohne Zweifel spielt
das Moment der Intuition bei ihm eine grosse Rolle, weshalb man ihn,
wenn man ihn ausschliesslich als Dichter betrachtet, dem intuitiven
Typus Mensch zurechnen könnte. In den Briefen über die ästhetische
Erziehung tritt uns allerdings der Denker Schiller entgegen. Nicht
nur hieraus, sondern auch aus dem wiederholten Eingeständnis Schillers
selber, wissen wir, wie stark das reflektierende Element in ihm war.
Dementsprechend müssen wir seinen Intuitivismus sehr nach der Seite
des Denkens verschieben, sodass wir ihn auch vom Gesichtspunkte der
Psychologie des introvertierten Denktypus aus unserm Verständnis näher
bringen können. Es wird sich im Folgenden, hoffe ich, zur Genüge
erweisen, dass diese Auffassung mit der Wirklichkeit sich deckt, indem
es in den Schillerschen Schriften nicht wenige Stellen gibt, welche
vernehmlich zu ihren Gunsten sprechen. Ich möchte daher den Leser
bitten, im Auge zu behalten, dass meinen Ausführungen die Annahme, die
ich eben skizziert habe, zu Grunde liegt. Dies erscheint mir darum
notwendig, weil Schiller das ihm vorliegende Problem als solches
behandelt, wie er es aus seiner eigenen innern Erfahrung herausgehoben
hat. Die höchst allgemeine Formulierung, die er ihm gibt, könnte,
in Anbetracht der Tatsache, dass eine andere Psychologie, d. h. ein
anderer Typus Mensch dasselbe Problem in ganz andere Formen fassen
würde, als ein Übergriff oder als eine vorschnelle Verallgemeinerung
angesehen werden. Das wäre aber insofern ungerecht, als es tatsächlich
eine ganze Klasse von Menschen gibt, für die das Problem der getrennten
Funktionen ebenso liegt, wie für Schiller. Wenn ich daher bisweilen in
meinen folgenden Ausführungen die Einseitigkeit und den Subjektivismus
Schillers hervorhebe, so will ich damit nichts an der Gültigkeit
und Wichtigkeit des von ihm hervorgehobenen Problems abstreichen,
sondern vielmehr Raum schaffen für andere Formulierungen. Meine
bisweilen vorgebrachte Kritik hat daher mehr die Bedeutung einer
_Transscription_ in eine Ausdrucksweise, welche die Schillersche
Formulierung ihrer subjektiven Bedingtheit entledigt. Immerhin
schliessen sich meine Ausführungen so enge an Schiller an, dass sie
weit weniger die allgemeine Frage von Introversion und Extraversion,
die uns im I. Kapitel ausschliesslich beschäftigt hat, behandeln, als
vielmehr den _typischen Konflikt des introvertierten Denktypus_.

Zuallererst beschäftigt Schiller die Frage nach der Ursache und
Herkunft der Trennung der beiden Mechanismen. Mit sicherm Griffe
hebt er als Grundmotiv die Differenzierung der Individuen heraus.
„Die Kultur selbst war es, welche der neuen Menschheit diese Wunde
schlug.“[11] Schon dieser eine Satz zeigt das umfassende Verständnis
Schillers für unser Problem. Die Auflösung des harmonischen
Zusammenwirkens der seelischen Kräfte im instinktiven Leben ist wie
eine stets offene und nie verheilende Wunde, eine wahre Amfortaswunde,
weil die Differenzierung einer Funktion aus mehreren ein Überwuchern
dieser und eine Vernachlässigung und Verkrüppelung jener unvermeidlich
mit sich führt.

„Ich verkenne nicht die Vorzüge,“ sagt Schiller, „welche das
gegenwärtige Geschlecht, als Einheit betrachtet, und auf der Wage
des Verstandes, vor dem besten in der Vorwelt behaupten mag; aber in
geschlossenen Gliedern muss es den Wettkampf beginnen, und das Ganze
mit dem Ganzen messen. Welcher einzelne Neuere tritt heraus, Mann gegen
Mann, mit dem einzelnen Athenienser um den Preis der Menschheit zu
streiten? Woher wohl dieses nachteilige Verhältnis der Individuen bei
allem Vorteil der Gattung?“[12]

Schiller schiebt die Schuld an dieser Unterlegenheit der Neuern auf die
Kultur, d. h. auf die Differenzierung der Funktionen. Zunächst weist er
darauf hin, wie in Kunst und Gelehrsamkeit sich der intuitive und der
spekulative Verstand entzweit und ihre Anwendungsgebiete eifersüchtig
gegeneinander abgeschlossen hätten. „Und mit der Sphäre, auf die man
seine Wirksamkeit einschränkt, hat man sich auch in sich selbst einen
Herrn gegeben, der nicht selten mit Unterdrückung der übrigen Anlagen
zu endigen pflegt. Indem hier die luxurierende Einbildungskraft die
mühsamen Pflanzungen des Verstandes verwüstet, verzehrt dort der
Abstraktionsgeist das Feuer, an dem das Herz sich hätte wärmen, und die
Phantasie sich entzünden sollen.“ (l. c. p. 23.)

Und weiter: „Wenn das gemeine Wesen das Amt des Mannes zum Masstab
macht, wenn es an dem einen seiner Bürger nur die Memorie, an einem
andern nur den tabellarischen Verstand, an einem Dritten nur die
mechanische Fähigkeit ehrt; wenn es hier, gleichgültig gegen den
Charakter, nur auf Kenntnisse dringt, dort hingegen einem Geiste der
Ordnung und einem gesetzlichen Verhalten die grösste Verfinsterung des
Verstandes zu gut hält -- wenn es zugleich diese einzelnen Fertigkeiten
zu einer eben so grossen Intensität will getrieben wissen, als es dem
Subjekt an Extensität erlässt -- darf es uns da nicht wundern, dass die
übrigen Anlagen des Gemütes vernachlässigt werden, um der einzigen,
welche ehrt und lohnt, alle Pflege zuzuwenden?“

In diesen Gedanken Schillers liegt viel Wichtiges. Es ist begreiflich,
dass Schillers Zeit bei der damaligen unvollkommenen Kenntnis des
Griechentums den griechischen Menschen nach der Grösse seiner
überlieferten Werke einschätzte und damit auch masslos überschätzte,
denn die besondere griechische Schönheit verdankte ihr Dasein nicht
zuletzt dem Kontraste mit dem Milieu, aus dem sie hervorging. Der
Vorteil des griechischen Menschen bestand darin, dass er weniger
differenziert war als der Neuere, wenn man darin einen Vorteil zu sehen
geneigt ist; denn die Nachteile eines solchen Zustandes dürften zum
mindesten ebenso einleuchtend sein. Die Differenzierung der Funktionen
erfolgte sicherlich nicht aus Tücke, sondern eben wie immer und überall
in der Natur, aus _Not_. Wenn einer von diesen späten Bewunderern des
griechischen Himmels und der arkadischen Seligkeiten zufälligerweise
als attischer Helot zur Welt gekommen wäre, so hätte er wohl die
Schönheiten Griechenlands mit etwas andern Blicken betrachtet. Wenn
schon unter den primitiven Bedingungen des 5. Jahrhunderts a. Chr. n.
das einzelne Individuum eine grössere Möglichkeit zu einer allseitigen
Entfaltung seiner Eigenschaften und Fähigkeiten hatte, so war dies
doch nur dadurch möglich, dass Tausende seiner Mitmenschen von desto
elendern Umständen eingeschränkt und verkrüppelt wurden. In einzelnen
Exemplaren wurde gewiss eine hohe Individualkultur erreicht, aber eine
Collektivkultur war der Antike fremd. Diese Errungenschaft war dem
Christentum vorbehalten. Daher kommt es, dass die Neuern als Masse sich
mit dem griechischen Menschen nicht bloss messen können, sondern ihn
auch bei weitem überragen in jeder Hinsicht einer collektiven Kultur.
Dagegen hat Schiller durchaus recht, dass unsere Individualkultur
nicht gleichen Schritt gehalten hat mit der Collektivkultur; und das
ist auch in den 120 Jahren, die seit der Abfassung der Schillerschen
Arbeit verflossen sind, nicht besser geworden, im Gegenteil: wenn
wir nicht zu Ungunsten der Individualentwicklung noch weiter in
die Collektivatmosphäre hineingeraten wären, so hätte es kaum der
gewaltsamen Reaktionen, die sich im Geiste eines _Stirner_ und
_Nietzsche_ personifizieren, bedurft. Schillers Worte dürften daher
heute noch ebensoviel Geltung haben.

Wie die Antike die Förderung einer obern Klasse hinsichtlich der
Individualentwicklung durch die Unterdrückung einer Mehrheit gemeinen
Volkes (Heloten, Sklaven) besorgte, so erreichte die nachfolgende
christliche Sphäre den Zustand einer Collektivkultur dadurch, dass sie
denselben Prozess soviel wie möglich ins Individuum selber verlegte
(auf die Subjektivstufe erhob, wie wir uns auszudrücken pflegen). Indem
der Wert des Einzelnen durch das christliche Dogma einer unverlierbaren
Seele proklamiert war, so konnte nun nicht mehr die minderwertige
Mehrheit des Volkes in Wirklichkeit der Freiheit einer mehrwertigen
Minderheit unterworfen werden, sondern es wurde im Einzelnen die
mehrwertige Funktion den minderwertigen Funktionen vorgezogen. Auf
diese Weise ergab sich eine Verlegung der Hauptbedeutung auf die eine
wertvolle Funktion zu Ungunsten aller andern Funktionen. Damit wurde
psychologisch die äussere soziale Form der antiken Kultur ins Subjekt
verlegt, wodurch im Einzelnen ein innerer Zustand erzeugt wurde, der in
der Antike ein äusserer Zustand gewesen war, nämlich eine herrschende
bevorzugte Funktion, die auf Kosten einer minderwertigen Mehrheit
sich entwickelte und differenzierte. Durch diesen psychologischen
Prozess kam allmählich eine collektive Kultur zustande, welche zwar
dem Einzelnen die „droits de l’homme“ in ungleich höherm Masse
gewährleistet, als die Antike, dafür aber den Nachteil hat, dass sie
auf einer subjektiven Sklavenkultur beruht, d. h. also auf einer
Verlegung der antiken Mehrheitsversklavung ins Psychologische, wodurch
zwar die Collektivkultur erhöht, die Individualkultur aber erniedrigt
wird. Wie die Versklavung der Masse die offene Wunde der Antike war,
so ist die Sklaverei der minderwertigen Funktionen eine stets blutende
Wunde in der Seele des heutigen Menschen.

„Einseitigkeit in Übung der Kräfte führt zwar das Individuum
unausbleiblich zum Irrtum, aber die Gattung zur Wahrheit,“ sagt
Schiller.[13] Die Bevorzugung der mehrwertigen Funktion dient
wesentlich zum Vorteil der Societät, aber zum Nachteil der
Individualität. Dieser Nachteil geht soweit, dass die grossen
Organisationen unserer heutigen Kultur nach der völligen Auslöschung
des Individuums streben, indem sie ganz auf eine maschinelle Verwendung
der einzelnen bevorzugten Funktionen des Menschen beruhen. Nicht die
Menschen zählen, sondern ihre eine differenzierte Funktion. Der Mensch
präsentiert sich in der Collektivkultur nicht als solcher, sondern
er ist bloss durch eine Funktion repräsentiert, ja er identifiziert
sich sogar ausschliesslich mit dieser Funktion und verleugnet die
Zugehörigkeit der andern, minderwertigen Funktionen. Damit sinkt das
moderne Individuum zu einer blossen Funktion hinab, weil eben bloss
diese Funktion einen Collektivwert repräsentiert und daher auch allein
eine Lebensmöglichkeit gewährt. Dass eine Differenzierung der Funktion
aber anders auch gar nicht hätte zustande kommen können, sieht Schiller
deutlich ein: „Die mannigfaltigen Anlagen im Menschen zu entwickeln,
war kein anderes Mittel, als sie einander entgegen zu setzen. Dieser
Antagonismus der Kräfte ist das grosse Instrument der Kultur, aber auch
nur das Instrument, denn solange derselbe dauert, ist man erst auf dem
Wege zu dieser.“[14]

Nach dieser Auffassung wäre der gegenwärtige Zustand des Antagonismus
der Kräfte noch kein Kulturzustand, sondern wir wären erst auf dem
Wege zur Kultur. Darüber wird man allerdings geteilter Meinung
sein: denn die einen werden als Kultur eben den Zustand der
Collektivkultur verstehen, während die andern diesen Zustand bloss
als _Zivilisation_ verstehen und an die Kultur die strengere
Anforderung der Individualentwicklung stellen. Darin täuscht sich
allerdings Schiller, wenn er sich ausschliesslich auf den zweiten
Standpunkt begibt und unserer Collektivkultur die griechische
Individualkultur entgegenhält, denn er übersieht dabei die
Mangelhaftigkeit der damaligen Zivilisation, welche die unumschränkte
Gültigkeit jener Kultur in Zweifel zieht. So ist eigentlich keine
Kultur je vollständig, insofern sie immer entweder mehr auf dieser
oder mehr auf jener Seite steht, d. h. das einemal ist das Ideal
der Kultur ein extravertiertes, d. h. der Hauptwert liegt beim
_Objekte_ und der Beziehung zu ihm; das anderemal ist das Ideal
ein introvertiertes und die Hauptbedeutung liegt beim Individuum,
oder _Objekte_ und den Beziehungen zur Idee. In der erstern Form
nimmt die Kultur eine collektive Art an, in der letztern aber eine
individuale. Es ist daher begreiflich, dass gerade unter der Einwirkung
der christlichen Sphäre, deren Prinzip die christliche Liebe ist
(und durch Kontrastassociation auch deren Gegenstück, nämlich die
Vergewaltigung der Individualität), eine Collektivkultur zustande kam,
in welcher der Einzelne unterzugehen droht, weil die individuellen
Werte schon aus Prinzip einer Minderbewertung verfallen. Daraus
ergab sich auch in der Zeit der deutschen Klassiker jene besondere
Sehnsucht nach der Antike, die ihnen ein Symbol individueller Kultur
wurde und eben deshalb meistens sehr überschätzt und öfters unmässig
idealisiert wurde. Auch fanden nicht wenige Versuche statt, den
griechischen Geist sozusagen nachzuahmen und anzuempfinden, Versuche,
die uns heute etwas abgeschmackt vorkommen, die aber doch als Vorläufer
einer Individualkultur gewürdigt sein wollen. In den 120 Jahren, die
vergangen sind seit der Abfassung der Schillerschen Schrift, sind die
Umstände hinsichtlich einer Individualkultur nicht besser, sondern
schlimmer geworden, indem das Interesse des einzelnen in noch weit
höherm Masse als damals für collektive Beschäftigungen in Anspruch
genommen ist, und darum weit weniger Musse dem einzelnen übrig bleibt
zur Entwicklung einer Individualkultur; daher wir heutzutage eine
hoch entwickelte Collektivkultur besitzen, die alles, was je zuvor
war, an Organisation bei weitem übertrifft, dafür aber auch die
Individualkultur in zunehmendem Masse geschädigt hat. Es besteht heute
eine tiefe Kluft zwischen dem, was einer ist und was einer vorstellt,
d. h. zwischen dem, was er als Individuum, und dem, als das er als
Collektivwesen funktioniert. Seine Funktion ist entwickelt, seine
Individualität aber nicht. Ist er trefflich, so ist er mit seiner
Collektivfunktion identisch, ist er aber das Gegenteil davon, so ist er
zwar als Funktion in der Societät geschätzt, aber als Individualität
ist er ganz auf der Seite seiner minderwertigen, unentwickelten
Funktionen, infolgedessen er einfach barbarisch ist, während der
erstere sich über seine tatsächlich bestehende Barbarei glücklich
hinweggetäuscht hat. Gewiss hat diese Einseitigkeit hinsichtlich der
Societät nicht zu unterschätzende Vorteile gebracht, und es werden
dadurch Errungenschaften erzielt, die anderswie nicht zu erreichen
gewesen wären, wie Schiller treffend sagt: „Dadurch allein, dass wir
die ganze Energie unseres Geistes in einem Brennpunkt versammeln,
und unser ganzes Wesen in eine einzige Kraft zusammenziehen, setzen
wir dieser einzelnen Kraft gleichsam Flügel an, und führen sie
künstlicherweise weit über die Schranken hinaus, welche die Natur ihr
gesetzt zu haben scheint.“[15]

Aber diese einseitige Entwicklung muss und wird zu einer Reaktion
führen, weil die unterdrückten minderwertigen Funktionen nicht bis ins
Endlose vom Mitleben und von der Entwicklung ausgeschlossen werden
können. Einmal wird der Moment kommen, wo „die Trennung in dem innern
Menschen wieder aufgehoben“ werden muss, um dem Unentwickelten eine
Lebensmöglichkeit zu gewähren. Ich habe bereits angedeutet, dass
die Differenzierung in der Kulturentwicklung in letzter Linie eine
Dissociation der Grundfunktionen des psychischen Lebens schafft,
gewissermassen über die Differenzierung der Fähigkeiten hinausgehend
und übergreifend in das Gebiet der allgemeinen psychologischen
Einstellung überhaupt, welche die Art und Weise der Verwendung der
Fähigkeiten regiert. Dabei bewirkt die Kultur eine Differenzierung
jener Funktion, die wohl schon angeborenerweise sich einer bessern
Ausbildungsfähigkeit erfreut. So ist bei dem einen das Denkvermögen,
beim andern das Fühlen einer weitern Entwicklung in besonderm Masse
zugänglich und darum wird er sich unter dem Drängen der Kulturforderung
in besonderm Masse mit der Entwicklung jenes Vermögens beschäftigen,
dessen Anlage in ihm von Natur aus schon eine besonders günstige resp.
ausbildungsfähige ist. Die Ausbildungsfähigkeit bedeutet allerdings
nicht, dass die Funktion a priori eine Anwartschaft auf besondere
Tüchtigkeit hätte, sondern sie setzt -- man möchte sagen: im Gegenteil
-- eine gewisse Zartheit, Labilität und Formbarkeit der Funktion
voraus, weshalb auch durchaus nicht immer der höchste Individualwert
in dieser Funktion zu suchen und zu finden ist, sondern vielleicht
nur der höchste Collektivwert, insofern nämlich diese Funktion zu
einem collektiven Wert entwickelt ist. Es mag, aber, wie gesagt, sehr
leicht so sein, dass unter den vernachlässigten Funktionen viel höhere
Individualwerte versteckt liegen, die zwar für das collektive Leben von
geringer Bedeutung, für das individuelle Leben dagegen von grösstem
Werte sind und daher Lebenswerte darstellen, welche dem einzelnen eine
Intensität und Schönheit des Lebens zu verleihen vermögen, welche er
von seiner Collektivfunktion vergebens erwartet. Zwar verschafft ihm
die differenzierte Funktion die Möglichkeit des collektiven Daseins,
nicht aber die Befriedigung und Lebensfreude, welche bloss die
Entwicklung der Individualwerte geben kann. Ihre Abwesenheit ist daher
ein oft tief empfundener Mangel, der Abstand von ihnen aber eine innere
Spaltung, die man mit Schiller einer schmerzhaften Wunde vergleichen
könnte.

„Wieviel also auch für das Ganze der Welt durch die getrennte
Ausbildung der menschlichen Kräfte gewonnen werden mag, so ist nicht
zu leugnen, dass die Individuen, welche sie trifft, unter dem Fluche
dieses Weltzweckes leiden. Durch gymnastische Übungen bilden sich zwar
athletische Körper aus, aber nur durch das freie und gleichförmige
Spiel der Glieder die Schönheit. Ebenso kann die Anspannung einzelner
Geisteskräfte zwar ausserordentliche, aber nur durch die gleichförmige
Temperatur derselben, glückliche und vollkommene Menschen erzeugen. Und
in welchem Verhältnis stünden wir also zu dem vergangenen und kommenden
Weltalter, wenn die Ausbildung der menschlichen Natur ein solches
Opfer notwendig machte? Wir wären die Knechte der Menschheit gewesen,
wir hätten einige Jahrtausende lang die _Sklavenarbeit_ für sie
getrieben, und unserer verstümmelten Natur die beschämenden Spuren
dieser Dienstbarkeit eingedrückt -- damit das spätere Geschlecht, in
einem seligen Müssiggange, seiner moralischen Gesundheit warten, und
den freien Wuchs seiner Menschheit entwickeln könnte! Kann aber wohl
der Mensch dazu bestimmt sein, über irgend einem Zwecke sich selbst zu
versäumen? Sollte uns die Natur durch ihre Zwecke eine Vollkommenheit
rauben können, welche uns die Vernunft durch die ihrigen vorschreibt?
Es muss also falsch sein, dass die Ausbildung der einzelnen Kräfte das
Opfer ihrer Totalität notwendig macht; oder wenn auch das Gesetz der
Natur noch so sehr dahin strebte, _so muss es bei uns stehen, diese
Totalität in unserer Natur, welche die Kunst zerstört hat, durch eine
höhere Kunst wieder herzustellen_.“[16]

Es ist unverkennbar, dass Schiller in seinem persönlichen Leben
diesen Konflikt aufs tiefste empfunden hat, und dass aus eben diesem
Widerstreit in ihm die Sehnsucht entsprungen ist, jene Einheitlichkeit
oder Gleichförmigkeit zu finden, welche auch den unterdrückten und im
Sklavendienste schmachtenden Funktionen die Erlösung bringen sollte
und damit die Wiederherstellung eines harmonischen Lebens. Dieser
Gedanke bewegte auch _Wagner_ in seinem Parsifal, und er verlieh
ihm symbolischen Ausdruck in der Wiederbringung des verlorenen
Speeres und der Heilung der Wunde. Was _Wagner_ im künstlerischen
symbolischen Ausdruck zu sagen versuchte, das bemüht sich _Schiller_ in
philosophischer Überlegung klar zu machen. Er sagt es nicht laut, aber
implicite deutlich genug, dass sein Problem um ein _Wiederaufnehmen
antiker Lebensart und Lebensauffassung_ geht, woraus sich unmittelbar
der Schluss ergibt, dass er die christliche Lösung seines Problems
entweder übersieht oder absichtlich übergeht. Auf alle Fälle ist sein
geistiger Blick mehr auf die antike Schönheit gerichtet, als auf die
christliche Erlösungslehre, welche doch nichts anderes bezweckte, als
eben dasselbe, um das sich Schiller bemüht, nämlich um eine _Erlösung
vom Übel_. Wie _Julian_, der Apostat, in seiner Rede über König Helios
sagt, ist des Menschen Herz von „tobendem Kampfe erfüllt“, womit
er treffend nicht nur sich selber, sondern auch seine ganze Zeit
kennzeichnet, nämlich die innere Zerrissenheit der spätern Antike, die
ihren äussern Ausdruck in jener beispiellosen chaotischen Verwirrung
der Köpfe und Herzen fand, aus welcher die christliche Lehre den
Menschen zu erlösen versprach. Was das Christentum gab, war allerdings
keine _Lösung_, sondern eine _Erlösung_, eine Loslösung der einen
wertvollen Funktion von allen andern Funktionen, die damals ebenso
gebieterisch mitregieren wollten. Das Christentum gab _eine_ bestimmte
Richtung unter Ausschliessung aller andern möglichen Richtungen. Dieser
Umstand dürfte wesentlich dazu beigetragen haben, dass Schiller die
durch das Christentum dargebotene Heilsmöglichkeit mit Stillschweigen
übergeht.

Die nahe Beziehung der Antike zur Natur schien jene Möglichkeit
zu versprechen, welche das Christentum nicht gewährte. „Die Natur
zeichnet uns in ihrer physischen Schöpfung den Weg vor, den man
in der moralischen zu wandeln hat. Nicht eher, als bis der Kampf
elementarischer Kräfte in den niedrigern Organisationen besänftigt
ist, erhebt sie sich zu der edeln Bildung des physischen Menschen.
Ebenso muss der Elementenstreit in dem ethischen Menschen, der
Konflikt blinder Triebe, fürs erste beruhigt sein, und die grobe
Entgegensetzung muss in ihm aufgehört haben, ehe man es wagen
darf, die Mannigfaltigkeit zu begünstigen. Auf der andern Seite
muss die Selbständigkeit seines Charakters gesichert sein, und die
Unterwürfigkeit unter fremde despotische Formen einer anständigen
Freiheit Platz gemacht haben, ehe man die Mannigfaltigkeit in ihm der
Einheit des Ideals unterwerfen darf.“ (1. c. pag. 32.)

Also nicht eine Loslösung oder Erlösung von der minderwertigen Funktion
soll es sein, sondern eine Berücksichtigung von ihr, sozusagen eine
Auseinandersetzung mit ihr soll es sein, welche auf natürlichem
Wege die Gegensätze vereint. Schiller fühlt aber, dass das Annehmen
minderwertiger Funktionen zu einem „Konflikt blinder Triebe“ führen
könnte, wie ebenso, aber umgekehrt, die Einheit des Ideals wieder jenen
Vorrang der wertvollen Funktion vor den minderwertigen Funktionen
herstellen und damit den alten Zustand wieder herbeiführen könnte. Die
minderwertigen Funktionen sind der wertvollen Funktion entgegengesetzt,
nicht etwa ihrem tiefsten Wesen, sondern ihrer derzeitigen Gestalt
nach. Sie wurden ursprünglich vernachlässigt und verdrängt, weil sie
dem Kulturmenschen hinderlich waren in der Erreichung seiner Ziele,
welche nämlich einseitige Interessen und nicht gleichbedeutend mit
einer Vollendung der menschlichen Individualität sind. Dazu aber wären
diese nicht anerkannten Funktionen unerlässlich und widerstreiten
ihrem Wesen nach auch gar nicht dem gedachten Ziele. Solange aber
das Kulturziel nicht zugleich mit dem Ideal der Vollendung des
menschlichen Wesens zusammenfällt, werden diese Funktionen auch einer
Minderschätzung unterliegen und darum einer relativen Verdrängung
verfallen. Das Annehmen der verdrängten Funktionen ist gleichbedeutend
mit innerm Bürgerkrieg, mit einer Entfesselung der vorher gebändigten
Gegensätze, wodurch die „Selbständigkeit des Charakters“ ohne weiteres
aufgehoben ist. Diese Selbständigkeit kann nur durch Schlichtung dieses
Kampfes erreicht werden, was ohne Despotie über die widerstreitenden
Kräfte unmöglich erscheint. Damit ist aber die Freiheit kompromittiert,
ohne welche der Aufbau einer sittlich freien Persönlichkeit unmöglich
ist. Gewährt man aber die Freiheit, so verfällt man dem Konflikt der
Triebe.

„Von der Freyheit erschreckt, die in ihren ersten Versuchen sich immer
als Feindin ankündigt, wird man dort einer bequemen Knechtschaft sich
in die Arme werfen, und hier, von einer pedantischen Curatel zur
Verzweiflung gebracht, in die wilde Ungebundenheit des Naturstandes
entspringen. Die Usurpation wird sich auf die Schwachheit der
menschlichen Natur, die Insurrektion auf die Würde derselben berufen,
bis endlich die grosse Beherrscherin aller menschlichen Dinge, die
blinde Stärke, dazwischen tritt, und den vorgeblichen Streit der
Prinzipien wie einen gemeinen Faustkampf entscheidet.“[17]

Die zeitgenössische französische Revolution hat diesen Sätzen einen
ebenso lebendigen, als blutigen Hintergrund gegeben, begonnen im
Zeichen der Philosophie und der Vernunft mit hohem idealistischem
Aufschwung und endigend in einem blutrünstigen Chaos, aus dem das
despotische Genie Napoleons hervorging. Die Göttin der Vernunft
erwies sich als ohnmächtig gegenüber der Gewalt der entfesselten
Bestie. Schiller fühlt die Unterlegenheit der Vernunft und Wahrheit
und postuliert darum, dass die Wahrheit selbst eine _Kraft_
werde. „Hat sie bis jetzt ihre siegende Kraft noch so wenig bewiesen,
so liegt dies nicht an dem Verstande, der sie nicht zu entschleyern
wusste, sondern an dem Herzen, das sich ihr verschloss, und an dem
Triebe, der nicht für sie handelte. Denn woher diese noch so allgemeine
Herrschaft der Vorurteile und diese Verfinsterung der Köpfe bey allem
Licht, das Philosophie und Erfahrung aufsteckten? _Das Zeitalter ist
aufgeklärt_, das heisst, die Kenntnisse sind gefunden und öffentlich
preisgegeben, welche hinreichen würden, wenigstens unsere praktischen
Grundsätze zu berichtigen. Der Geist der freyen Untersuchung hat die
Wahnbegriffe zerstreut, welche lange Zeit den Zugang zu der Wahrheit
verwehrten, und den Grund unterwühlt, auf welchem Fanatismus und Betrug
ihren Thron erbauten. Die Vernunft hat sich von den Täuschungen der
Sinne und von betrüglicher Sophistik gereinigt, und die Philosophie
selbst, welche uns zuerst von ihr abtrünnig machte, ruft uns laut und
dringend in den Schooss der Natur zurück -- woran liegt es, dass wir
noch immer Barbaren sind?“[18]

Wir fühlen in diesen Worten Schillers die Nähe der französischen
Aufklärung und des phantastischen Intellektualismus der Revolution.
„Das Zeitalter ist aufgeklärt“ -- welche Überschätzung des
Intellekts! „Der Geist der freien Untersuchung hat die Wahnbegriffe
zerstreut“ -- welcher Rationalismus! Man wird lebhaft an die Worte
des Proktophantasmisten erinnert: „Verschwindet doch! Wir haben ja
aufgeklärt!“ Wenn schon es einerseits durchaus im Geiste jener Zeit
lag, die Bedeutung und Wirksamkeit der Vernunft zu überschätzen,
wobei man gänzlich vergass, dass, wenn die Vernunft wirklich eine
solche Kraft besässe, sie schon längst die reichlichste Gelegenheit
gehabt hätte, sie zu beweisen, so ist auch andererseits die Tatsache
nicht zu übersehen, dass nicht alle massgebenden Köpfe damals so
dachten, und dass also mithin dieser Anflug eines rationalistischen
Intellektualismus sich wohl auch auf eine besonders starke subjektive
Entwicklung dieses selben Elementes bei Schiller begründet. Wir
haben bei ihm mit einem Vorwiegen des Intellektes, nicht vor seiner
poetischen Intuition, wohl aber vor seinem Fühlvermögen zu rechnen.
Schiller selbst erschien es, als ob ein Konflikt in ihm bestünde
zwischen Imagination und Abstraktion, d. h. zwischen Intuition und
Intellekt. So schreibt er an _Goethe_ (31. August 1794): „Dies
ist es, was mir, besonders in frühern Jahren, sowohl auf dem Felde
der Spekulation als der Dichtkunst ein ziemlich linkisches Ansehen
gegeben; denn gewöhnlich übereilte mich der Poet, wo ich philosophieren
sollte, und der philosophische Geist, wo ich dichten wollte. Noch
jetzt begegnet es mir häufig genug, dass die Einbildungskraft meine
Abstraktion, und der kalte Verstand meine Dichtung stört.“ Seine
ausserordentliche Bewunderung des Goetheschen Geistes, seine beinahe
weibliche An- und Nachempfindung der Intuition seines Freundes, der
er in seinen Briefen so häufig Ausdruck verleiht, beruht eben auf
der eindringlichen Wahrnehmung dieses Konfliktes, den er der beinahe
vollkommen synthetischen Natur Goethes gegenüber doppelt empfinden
musste. Dieser Konflikt verdankt sein Dasein dem psychologischen
Umstande, dass die Energie des Fühlens sich in gleichem Masse dem
Intellekte sowohl als der schöpferischen Imagination lieh. Schiller
scheint diesen Umstand erkannt zu haben; im selben Briefe an Goethe
macht er die Bemerkung, dass, nachdem er seine moralischen Kräfte,
die der Imagination und dem Intellekt die rechten Grenzen anweisen
sollten, zu „kennen und zu gebrauchen“ angefangen habe, eine physische
Krankheit sie zu untergraben drohe. Es ist nämlich das schon öfter
erwähnte Kennzeichen einer mangelhaft entwickelten Funktion, dass sie
sich der bewussten Disposition entzieht und aus eigenem Antriebe,
d. h. mit einer gewissen Autonomie, sich unbewusst andern Funktionen
beimischt, wobei sie sich ohne differenzierte Auswahl, rein dynamisch
benimmt, etwa als ein Impetus oder als eine blosse Verstärkung,
welche der bewussten, differenzierten Funktion den Charakter des
Hingerissenseins oder des Zwanghaften verleiht, wodurch die bewusste
Funktion im einen Falle über ihre durch Absicht und Entschluss
gesteckten Grenzen hinausgeführt, im andern Falle dagegen noch vor der
Erreichung ihres Zieles angehalten und auf einen Nebenweg verführt, im
dritten Falle endlich zu einem Widerstreit mit der andern bewussten
Funktion geführt wird, welcher Konflikt solange ungelöst bleibt, als
die unbewusst beigemengte störende Triebkraft nicht an und für sich
differenziert, und solchermassen einer gewissen bewussten Disposition
unterworfen wird. Man wird also wohl kaum fehlgehen mit der Vermutung,
dass der Ausruf: „Woran liegt es, dass wir noch immer Barbaren sind?“
nicht bloss im Geiste jener Zeit begründet ist, sondern auch in der
subjektiven Psychologie Schillers. Mit der damaligen Zeit sucht auch
er die Wurzel des Übels an der falschen Stelle, denn das Barbarische
bestand und besteht nie darin, dass die Vernunft oder die Wahrheit
ungenügende Wirkung haben, sondern darin, dass man von ihnen eine
solche Wirkung erwartet, oder sogar darin, dass man der Vernunft
eine solche Wirkung überhaupt verschafft aus einer abergläubischen
Überschätzung der „Wahrheit“. Das Barbarische liegt in der
Einseitigkeit und im Masslosen, in der schlechten Proportion überhaupt.

Gerade am eindrucksvollen Beispiel der französischen Revolution,
die damals eben den Höhepunkt des Schreckens erreicht hatte, konnte
Schiller sehen, wie weit die Macht der Göttin Vernunft reicht, und
inwiefern die vernunftlose Bestie im Menschen triumphiert. Es waren
gewiss auch diese Zeitereignisse, welche Schiller dieses Problem in
besonderm Masse aufdrängten, wie es ja oftmals geschieht, dass ein
im Grunde persönliches und darum anscheinend subjektives Problem mit
einem Male zu einer allgemeinen, die ganze Societät umfassenden Frage
emporwächst, wenn es auf äussere Ereignisse stösst, deren Psychologie
dieselben Elemente enthält wie der persönliche Konflikt. Dadurch fällt
auch dem persönlichen Problem eine Würde zu, die es vorher nicht
besass, indem nämlich das Uneinssein mit sich selber immer etwas
Beschämendes und Heruntersetzendes an sich hat, wodurch man in eine
nach aussen und innen erniedrigte Lage gerät, wie ein Staat, der durch
einen Bürgerkrieg entehrt ist. Darum scheut man sich auch, einen rein
persönlichen Konflikt vor einem grössern Publikum auszubreiten --
vorausgesetzt, dass man nicht an einer allzu kühnen Selbstüberschätzung
leidet. Gelingt es aber, den Zusammenhang des persönlichen Problems mit
grössern zeitgenössischen Ereignissen aufzufinden und einzusehen, so
bedeutet ein solches Zusammentreffen soviel als eine Erlösung aus der
Einsamkeit des rein Persönlichen, und das subjektive Problem erweitert
sich zu einer allgemeinen Frage unserer Societät. Dies ist kein
geringer Gewinn in Ansehung der Möglichkeit einer Lösung. Denn während
dem persönlichen Problem nur jene spärlichen Energieen des bewussten
Interesses für die eigene Person zur Verfügung stehen, fliessen jetzt
die collektiven Triebkräfte ein und vereinigen sich mit den Interessen
des Ich, und dadurch entsteht nunmehr eine neue Lage, welche neue
Möglichkeiten einer Lösung gewährt. Was nämlich die persönliche Kraft
des Willens oder des Mutes nie vermocht hätte, vermag die collektive
Triebkraft; sie trägt den Menschen über Hindernisse hinweg, die er mit
seiner persönlichen Energie nie bewältigen könnte.

So dürfen wir auch vermuten, dass die Eindrücke der zeitgenössischen
Ereignisse Schiller den Wagemut gegeben haben, den Versuch zu
unternehmen zu einer Lösung des Konfliktes zwischen Individuum und
sozialer Funktion. Diesen Widerspruch hat auch _Rousseau_ tief
empfunden; er ist ihm sogar zum Ausgangspunkt geworden für sein Werk
„Émile ou de l’Éducation“ (1762). Wir finden dort einige Stellen, die
für unser Problem von Bedeutung sind: „L’homme civil n’est qu’une unité
fractionnaire qui tient au dénominateur, et dont la valeur est dans son
rapport avec l’entier, qui est le corps social. Les bonnes institutions
sociales sont celles qui savent le mieux dénaturer l’homme, lui ôter
son existence absolue pour lui en donner une relative, et transporter
le moi dans l’unité commune.“

„Celui qui dans l’ordre civil veut conserver la primauté des sentiments
de la nature ne sait ce qu’il veut. Toujours en contradiction avec
lui-même, toujours flottant entre ses penchants et ses devoirs, il ne
sera jamais ni homme ni citoyen; il ne sera bon ni pour lui ni pour les
autres.“[19]

Rousseau eröffnet sein Werk mit dem berühmten Satze: „Tout est bien,
sortant des mains de l’Auteur des choses; tout dégénère entre les
mains de l’homme.“ Dieser Satz ist für Rousseau und die ganze Epoche
charakteristisch. Auch Schiller blickt zurück, allerdings nicht nach
dem natürlichen Menschen Rousseau’s -- hier liegt ein wesentlicher
Unterschied -- sondern nach dem Menschen, der „unter griechischem
Himmel“ lebte. Gemeinsam aber ist beiden die _retrospektive
Orientierung_ und, damit unzertrennlich verknüpft, die Idealisierung
und Überschätzung der Vergangenheit. Schiller vergisst über der
Schönheit der Antike den wirklichen Alltagsgriechen, Rousseau versteigt
sich zu dem Satze: „l’homme naturel est tout pour lui; il est l’unité
numérique, l’entier absolu“, und übersieht dabei, dass der natürliche
Mensch durchaus collektiv ist, d. h. ebensosehr in sich wie in andern
und alles andere mehr ist als eine Einheit. Rousseau sagt an einer
Stelle: „nous tenons à tout, nous nous accrochons à tout, les temps,
les lieux, les hommes, les choses, tout ce qui est, tout ce qui sera,
importe à chacun de nous, notre individu n’est plus que la moindre
partie de nous-mêmes. Chacun s’étend, pour ainsi dire, sur la terre
entière, et devient sensible sur toute cette grande surface.“

„Est-ce la nature qui porte ainsi les hommes si loin d’eux-mêmes?“[20]

Rousseau lässt sich täuschen: er glaubt, dieser Zustand sei neuerdings
so geworden. Nein! Er ist uns bloss neuerdings _bewusst_ geworden,
nachdem er immer so war und um so mehr so, je weiter wir in die Anfänge
hinuntersteigen. Denn das, was Rousseau schildert, ist nichts als jene
Collektivmentalität des Primitiven, die _Lévy-Bruhl_ trefflich
als „participation mystique“ gekennzeichnet hat. Dieser Zustand der
Unterdrückung der Individualität ist keine neuere Erwerbung, sondern
ein Überrest jener archaïschen Zeit, wo es überhaupt noch keine
Individualität gab. Es handelt sich also keineswegs um eine neuerliche
Unterdrückung der Individualität, sondern bloss um das Bewusstwerden
und die Empfindung der überwältigenden Macht des Collektiven. Man
projiziert natürlicherweise diese Macht in die staatlichen und
kirchlichen Institutionen, wie wenn nicht jedermann schon Mittel
und Wege gefunden hätte, sich gegebenenfalls auch um Moralgebote zu
drücken! Diese Institutionen besitzen keineswegs jene ihnen zugemutete
Allmacht, um derentwillen sie von Zeit zu Zeit von Neuerern aller Art
bekämpft wurden, sondern jene unterdrückende Macht liegt unbewusst in
uns und zwar in der weiterbestehenden Collektivmentalität des Barbaren.
Der Collektivpsyche ist gewissermassen jede Individualentwicklung
verhasst, wenn sie nicht den Zielen der Collektivität unmittelbar
dient. So ist die Differenzierung der einen Funktion, von der wir
oben sprachen, zwar eine Entwicklung eines individuellen Wertes,
aber dermassen noch unter dem Gesichtswinkel der Collektivität,
dass, wie wir bereits sahen, das Individuum selber dabei zu Schaden
kommt. Ihrer Unkenntnis der ältern Zustände der menschlichen
Psychologie haben es die beiden Autoren zu danken, dass sie einer
Urteilstäuschung in Bezug auf die Werte der Vergangenheit verfielen.
Die Folge der Urteilstäuschung ist die Anlehnung an das Trugbild
eines früher vollkommenern Typus Mensch, der von seiner Höhe
irgendwie heruntergeriet. Die Rückwärtsorientierung ist an sich
bereits ein Überbleibsel antiken Denkens, denn es ist bekanntlich
ein Charakteristikum der ganzen antiken und barbarischen Mentalität,
dass sie ein goldenes paradiesisches Zeitalter vor dem Beginne der
gegenwärtigen schlechten Zeit vermutete. Es war erst die grosse
soziale und geistesgeschichtliche Tat des Christentums, dass es dem
Menschen eine Zukunftshoffnung gab und ihm damit eine Möglichkeit der
Verwirklichung seiner Ideale in der Zukunft versprach.[21] Die stärkere
Betonung dieser Rückwärtsorientierung in der neuern Geistesentwicklung
dürfte mit der Erscheinung jener allgemeinen Regression zum Heidnischen
zusammenhängen, die sich mit der Renaissance in zunehmendem Masse
bemerkbar macht.

Es scheint mir gewiss, dass diese Rückwärtsorientierung auch einen
bestimmten Einfluss haben muss auf die Auswahl der Mittel zur Erziehung
des Menschen. Dieser Geist sucht Anlehnung am Trugbild des Vergangenen.
Wir könnten darüber hinweggehen, wenn uns nicht die Erkenntnis des
Konfliktes zwischen den Typen und den typischen Mechanismen dazu
zwänge, zugleich nach dem zu suchen, was ihre Einigkeit herstellen
könnte. Das lag auch Schiller am Herzen, wie wir im folgenden sehen
werden. Was sein Grundgedanke dabei ist, spricht er in folgenden Worten
aus, die das Obengesagte resümieren: „Eine wohlthätige Gottheit reisse
den Säugling bey Zeiten von seiner Mutter Brust, nähre ihn mit der
Milch eines bessern Alters, und lasse ihn unter fernem griechischem
Himmel zur Mündigkeit reifen. Wenn er dann Mann geworden ist, so
kehre er, eine fremde Gestalt, in sein Jahrhundert zurück; aber
nicht, um es mit seiner Erscheinung zu erfreuen, sondern furchtbar,
wie Agamemnons Sohn, um es zu reinigen.“[22] Die Anlehnung an das
griechische Vorbild könnte kaum deutlicher ausgesprochen werden. In
dieser engen Formulierung eröffnet sich aber auch der Anblick einer
Beschränkung, welche Schiller im folgenden zu einer sehr wesentlichen
Erweiterung nötigt; er fährt nämlich weiter: „Den Stoff zwar wird er
von der Gegenwart nehmen, aber die Form von einer edlern Zeit, _ja
jenseits aller Zeit, von der absoluten unwandelbaren Einheit seines
Wesens entlehnen_.“ Schiller fühlte wohl deutlich, dass er noch
weiter zurückgreifen müsste, in eine Urzeit göttlichen Heroentums, wo
die Menschen noch Halbgötter waren. Daher sagt er weiter: „Hier aus dem
reinen Aether seiner daemonischen Natur rinnt die Quelle der Schönheit
herab, unangesteckt von der Verderbnis der Geschlechter und Zeiten,
welche tief unter ihr in trüben Strudeln sich wälzen.“ Hier kommt das
schöne Trugbild eines goldenen Zeitalters herein, wo die Menschen noch
Götter waren, und sich am Anblick ewiger Schönheit erlabten. Hier aber
hat auch der Dichter den Denker Schiller übereilt. Einige Seiten weiter
gewinnt der Denker wieder die Oberhand. „In der Tat“, sagt Schiller
(p. 47), „muss es Nachdenken erregen, dass man beynahe in jeder Epoche
der Geschichte, wo die Künste blühen und der Geschmack regiert, die
Menschheit gesunken findet, und _auch nicht ein einziges Beispiel
aufweisen kann_, dass ein hoher Grad und eine grosse Allgemeinheit
aesthetischer Cultur bey einem Volke mit politischer Freyheit und
bürgerlicher Tugend, dass schöne Sitten mit guten Sitten, und Politur
des Betragens mit Wahrheit desselben Hand in Hand gegangen wäre.“

Dieser weder im einzelnen noch allgemeinen zu leugnenden wohlbekannten
Erfahrung entsprechend müssten also wohl jene Heroen der Vorzeit sich
keines besonders sittlichen Lebenswandels erfreut haben, was übrigens
auch nicht ein einziger griechischer oder anderer Mythus behauptet.
Denn alle jene Schönheit konnte sich doch nur darum ihres Daseins
freuen, weil es damals noch kein Strafgesetz und keine Sittenpolizei
gab. Mit der Anerkennung dieser psychologischen Tatsache, dass nämlich
lebendige Schönheit nur da ihren goldenen Schimmer ausbreitet, wo sie
sich über einer Wirklichkeit voll Finsternis, Qual und Hässlichkeit
erhebt, entzieht Schiller seiner eigentlichen Absicht den Boden; er
hat sich vorgenommen, zu zeigen, dass das Getrennte sich vereinigen
lasse durch den Anblick, den Genuss und die Erschaffung des Schönen.
Die Schönheit sollte zum Mediator werden, der die ursprüngliche Einheit
des menschlichen Wesens wiederherstellte. Demgegenüber aber weist
alle Erfahrung darauf hin, dass die Schönheit zu ihrem Dasein ihres
Gegenstückes notwendig bedarf.

Wie vorher der Dichter, so geht hier nunmehr der Denker mit Schiller
durch: er _misstraut_ der Schönheit, er hält es sogar für möglich,
an Hand der Erfahrung, dass sie einen ungünstigen Einfluss ausübt:
„Wohin wir immer in der vergangenen Welt unsere Augen richten, da
finden wir, dass Geschmack und Freyheit einander fliehen, und _dass
die Schönheit nur auf den Untergang heroischer Tugenden ihre Herrschaft
gründet_.“

Auf diese Einsicht, welche die Erfahrung vermittelt hat, lässt sich
wohl kaum der Anspruch gründen, den Schiller an die Schönheit richtet.
In der weitern Verfolgung seines Gegenstandes gelangt er sogar dazu,
den Revers der Schönheit in aller nur wünschenswerten Klarheit zu
konstruieren: „Hält man sich also einzig nur an das, was die bisherigen
Erfahrungen über den Einfluss der Schönheit lehren, so kann man in
der Tat nicht sehr aufgemuntert seyn, _Gefühle auszubilden, die der
wahren Cultur des Menschen so gefährlich sind_; und lieber wird
man, auf die Gefahr der Rohigkeit und Härte, die schmelzende Kraft der
Schönheit entbehren, als sich bey allen Vorteilen der Verfeinerung
ihren erschlaffenden Wirkungen überliefert sehen.“

Der Streit zwischen Dichter und Denker liesse sich wohl beilegen,
wenn der Denker die Worte des Dichters nicht wörtlich nähme, sondern
_symbolisch_, wie eben die Sprache des Dichters verstanden sein
will. Sollte Schiller sich selbst missverstanden haben? Es scheint
fast, denn sonst könnte er doch nicht dermassen gegen sich selber
argumentieren. Der Dichter spricht von einer Quelle lauterer Schönheit,
die hinter allen Zeiten und Geschlechtern liegt, darum wohl stets und
in jedem Menschen quillt. Es ist auch nicht der Mensch des griechischen
Altertums, den der Dichter meint, sondern den alten Heiden in uns
selber, das Stück ewig unverdorbener Natur und natürlicher Schönheit,
das unbewusst aber lebendig in uns liegt, und dessen Abglanz uns die
Gestalten der Vorzeit verklärt, um dessentwillen wir auch dem Irrtum
verfallen, dass jene Menschen das besessen hätten, wonach wir suchen.
Es ist der von unserm collektiv orientierten Bewusstsein verworfene,
archaïsche Mensch in uns, der uns so hässlich und unannehmbar
erscheint, und der doch der Träger jener Schönheit ist, die wir
anderswo vergeblich suchen. Von diesem spricht der Dichter Schiller,
aber der Denker Schiller missversteht ihn als griechisches Vorbild. Was
der Denker aber nicht logisch aus seinen Beweismaterialien erfolgern
kann und worum er sich vergeblich bemüht, das verheisst ihm der Dichter
in symbolischer Sprache.

Aus allem bisher Gesagten geht zur Genüge hervor, dass jeder
Versuch zu einer Ausgleichung des einseitig differenzierten
menschlichen Wesens unserer Zeit mit dem ernsthaften Aufnehmen der
minderwertigen, weil nicht differenzierten Funktionen zu rechnen hat.
Kein Vermittlungsversuch wird gelingen, der nicht die Energieen der
minderwertigen Funktionen auszulösen und dann zur Differenzierung
überzuleiten versteht. Dieser Vorgang kann nur stattfinden den
Gesetzen der Energetik entsprechend, d. h. es muss ein Gefälle
geschaffen werden, welches den latenten Energieen eine Möglichkeit
der Auswirkung anbietet. Es wäre eine gänzlich aussichtslose Aufgabe,
die schon vielmals unternommen und schon vielmals gescheitert ist,
eine minderwertige Funktion direkt in eine hochwertige Funktion
umzusetzen. Man könnte dann ebenso gut auch ein Perpetuum mobile
erzeugen. Keine minderwertige Energieform kann einfach umgesetzt werden
in eine höherwertige, es sei denn, dass zugleich noch eine Quelle
höhern Wertes ihren Beistand leiht, d. h. die Umsetzung kann sich nur
auf Kosten der hochwertigen Funktion vollziehen, wobei aber unter
keinen Umständen der Anfangswert der hochwertigen Energieform auch
für die minderwertigen Formen, ja nicht einmal für die hochwertige
Funktion wieder erreicht werden kann, sondern es wird und muss sich
eine Ausgleichung in einer mittlern Temperatur ergeben. Das bedeutet
aber für jeden, der sich mit seiner einen, differenzierten Funktion
identifiziert, ein Heruntersteigen zu einem zwar ausgeglichenen, aber
in Ansehung des anscheinenden Anfangswertes niedriger zu bewertenden
Zustand. Diese Folgerung ist unumgänglich. Jede Erziehung des Menschen,
welche die Einheit und Harmonie seines Wesens erstrebt, hat sich mit
dieser Tatsache auseinanderzusetzen. Schiller zieht diesen Schluss
in seiner Art, wobei er sich aber sträubt, seine Folgen anzunehmen,
selbst auf die Gefahr hin, auf die Schönheit verzichten zu müssen.
Nachdem aber der Denker seine unerbittliche Folgerung ausgesprochen
hat, ergreift der Dichter wieder das Wort: „Aber vielleicht ist
die _Erfahrung_ der Richterstuhl nicht, vor welchem sich eine
Frage, wie diese, ausmachen lässt, und ehe man ihrem Zeugnis Gewicht
einräumte, müsste erst ausser Zweifel gesetzt seyn, dass es dieselbe
Schönheit ist, von der wir reden, und gegen welche jene Beispiele
zeugen.“[23] Man sieht, hier versucht Schiller sich über die Erfahrung
zu stellen, d. h. mit andern Worten: der Schönheit eine Qualität zu
verleihen, die ihr erfahrungsgemäss nicht zukommt. Er glaubt: „_die
Schönheit müsste sich als eine notwendige Bedingung der Menschheit
aufzeigen lassen_,“ d. h. also, als eine notwendige, zwingende
Kategorie; darum spricht er auch von einem reinen Vernunftbegriff
der Schönheit und von einem „transscendentalen Weg“, der uns aus dem
„Kreis der Erscheinungen und aus der lebendigen Gegenwart der Dinge“
entfernt. „Wer sich über die Wirklichkeit nicht hinauswagt, der
wird nie die Wahrheit erobern.“ Der subjektive Widerstand gegen den
erfahrungsgemäss unabwendbaren Weg abwärts veranlasst Schiller, den
logischen Intellekt stark in den Dienst des Gefühls zu pressen und ihn
dadurch zu zwingen, eine Formel herzugeben, welche die Erreichung der
ursprünglichen Absicht schliesslich doch noch möglich macht, obschon
ihre Unmöglichkeit bereits genügend dargelegt ist. Einen ähnlichen
Gewaltstreich begeht auch _Rousseau_ mit seiner Annahme, dass
die Abhängigkeit von der Natur keine Laster bedinge, wohl aber die
von Menschen, womit er zu folgendem Schluss gelangt: „Si les lois des
nations pouvaient avoir comme celles de la nature, une inflexibilité
que jamais aucune force humaine ne pût vaincre, la dépendance des
hommes redeviendrait alors celle des choses; on réunirait dans la
république tous les avantages de l’état naturel à ceux de l’état civil;
on joindrait à la liberté qui maintient l’homme exempt de vice la
moralité qui l’élève à la vertu.“

Auf Grund dieser Überlegung gibt er den Rat: „Maintenez l’enfant dans
la seule dépendance des choses, vous aurez suivi l’ordre de la nature
dans le progrès de son éducation.“ -- „Il ne faut point contraindre un
enfant de rester quand il veut aller, ni d’aller quand il veut rester
en place. Quand la volonté des enfants n’est point gâtée par notre
faute, ils ne veulent rien inutilement.“[24]

Das Unglück ist eben, dass die „lois des nations“ niemals und unter
keinen Bedingungen dermassen mit denen der Natur übereinkommen, dass
der zivilisierte Zustand auch zugleich der natürliche Zustand wäre.
Wenn eine solche Übereinkunft überhaupt als möglich gedacht werden
soll, so kann sie nur als ein Kompromiss gedacht werden, bei welchem
aber keiner der beiden Zustände sein eigenes Ideal erreichen könnte,
sondern erheblich darunter bliebe. Wer aber das Ideal des einen oder
andern Zustandes erreichen will, der wird bei dem von Rousseau selber
formulierten Satz bleiben müssen: „Il faut opter entre faire un homme
ou un citoyen; car on ne peut faire a la fois l’un et l’autre.“

In uns sind beide Notwendigkeiten: Natur und Kultur. Wir können nicht
nur uns selber sein, sondern wir müssen auch auf anderes bezogen sein.
Es muss daher auch einen Weg geben, der nicht bloss ein rationaler
Kompromiss ist, sondern auch einen dem lebenden Wesen durchaus
entsprechenden Zustand oder Prozess, etwa wie der Prophet sagt: eine
„semita et via sancta“, eine „via directa ita ut stulti non errent per
eam“. Ich bin also geneigt, dem Dichter in Schiller, der den Denker in
ihm in diesem Fall etwas gewalttätig in Anspruch genommen hat, auch
seinen Teil an Recht zu geben, denn schliesslich gibt es nicht bloss
rationale, sondern auch irrationale Wahrheiten. Und was auf dem Wege
des Intellekts von menschlichen Dingen unmöglich erscheint, ist schon
öfters auf dem Wege des Irrationalen wahr geworden. Wirklich sind auch
alle grössten Wandlungen, die der Menschheit zugestossen sind, ihr
nicht auf dem Wege des intellektuellen Calcul zugekommen, sondern auf
Wegen, die der Zeitgenosse übersah, oder als unsinnig ausschloss, und
die erst lange Zeit nachher in ihrer innern Notwendigkeit durchschaut
wurden. Noch öfter aber werden sie überhaupt nicht durchschaut,
denn noch sind uns die allerwichtigsten Gesetze der menschlichen
Geistesentwicklung ein Buch mit sieben Siegeln.

Allerdings bin ich wenig geneigt, der philosophischen Gebärde des
Dichters einen besondern Wert zuzuerkennen, denn der Intellekt im
Dienste des Dichters ist ein trügerisches Instrument. Was der Intellekt
leisten kann, hat er ja in diesem Falle bereits geleistet, indem er
den Widerspruch zwischen Wunsch und Erfahrung aufdeckte. Es ist darum
vergeblich, nunmehr noch vom philosophischen Denken eine Lösung dieses
Widerspruches zu verlangen. Und wenn schliesslich eine Lösung noch
gedacht werden könnte, so stünde man damit doch noch vor dem Hindernis,
denn es liegt ja überhaupt nicht an der Denkbarkeit oder Auffindung
einer rationalen Wahrheit, sondern an der Entdeckung eines Weges,
den das wirkliche Leben annimmt. An Vorschlägen und weisen Lehren
hats ja nie gefehlt. Wenn es nur daran läge, so hätte die Menschheit
schon zu Zeiten des Pythagoras die schönste Gelegenheit gehabt, um
in jeder Beziehung auf die Höhe zu kommen. Darum darf man das, was
Schiller vorschlägt, sozusagen nicht wörtlich nehmen, sondern als ein
_Symbol_, das, entsprechend Schillers philosophischer Neigung,
in das Gewand des philosophischen Begriffes gehüllt auftritt. In
diesem Sinne ist auch der „transscendentale Weg“, den Schiller sich
zu beschreiten anschickt, nicht etwa als ein erkenntniskritisches
Raisonnement, sondern vielmehr symbolisch als jener Weg zu verstehen,
den der Mensch immer dann geht, wenn er auf ein mit seiner Vernunft
zunächst nicht zu bewältigendes Hindernis, eine unlösbare Aufgabe,
gestossen ist. Um diesen Weg aber auffinden und gehen zu können, muss
er zuerst längere Zeit bei den Gegensätzen verweilen, in die sich sein
früherer Weg gegabelt hat. Durch das Hindernis wird der Fluss seines
Lebens aufgestaut. Wo immer eine Aufstauung der Libido stattfindet, da
zerfallen auch die vorher im beständigen Fliessen des Lebens geeinten
Gegensätze und treten nunmehr als kampfbegierige Gegner voreinander.
In einem längern und in Dauer und Ausgang nicht abzusehenden Kampfe
erschöpfen sich dann die Gegensätze und aus der Energie, die ihnen
verloren geht, bildet sich das Dritte, welches dann eben der Beginn des
neuen Weges ist.

Dieser Regel entsprechend begibt sich auch Schiller nunmehr in
eine vertiefte Untersuchung der wirkenden Gegensätze. Auf was für
ein Hindernis wir immer auch stossen mögen -- wenn es nur ein sehr
schwieriges ist -- so wird bald der Zwiespalt zwischen der eigenen
Absicht und dem widerstrebenden Objekte auch ein Widerstreit in uns
selber. Denn, indem ich mich anstrenge, das widerstrebende Objekt
meinem Willen unterzuordnen, setzt sich allmählich mein ganzes
Wesen mit ihm in Beziehung, nämlich eben entsprechend der starken
Libidobesetzung, welche einen Teil meines Wesens sozusagen ins Objekt
hinüberzieht. Dadurch entsteht eine teilweise Identifikation gewisser
ähnlicher Stücke meiner Persönlichkeit mit dem Wesen des Objektes.
Sobald diese Identifikation eingetreten ist, so ist der Konflikt in
meine eigene Seele versetzt. Diese „Introjektion“ des Konfliktes mit
dem Objekt macht mich uneins mit mir selber, verursacht dadurch eine
Ohnmacht gegenüber dem Objekt und löst damit auch Affekte aus, welche
immer das Symptom eines innerlichen Uneinsseins sind. Die Affekte aber
beweisen, dass ich mich selber wahrnehme, und dadurch in den Stand
gelange -- wenn ich nämlich nicht blind bin -- meine Aufmerksamkeit
mir selber zuzuwenden und das Spiel der Gegensätze in mir selber zu
verfolgen.

Diesen Weg geht Schiller: er findet den Zwiespalt nicht zwischen Staat
und Individuum, sondern er fasst ihn zu Beginn des 11. Briefes[25]
als die Zweiheit von „Person und Zustand“, nämlich als das Selbst
oder Ich und sein wechselndes Affiziertsein. Während das Ich von
relativer Beharrung ist, ist sein Bezogensein (das Affiziertsein)
wechselnd. Schiller will damit den Zwiespalt an der Wurzel fassen.
Tatsächlich ist auch die eine Seite die bewusste Ichfunktion, und die
andere Seite das collektive Bezogensein. Beide Bestimmungen gehören
zur menschlichen Psychologie. Aber die verschiedenen Typen werden
diese Grundtatsachen in einem jeweils andern Licht sehen. Für die
Introvertierten ist zweifellos die Idee des Ich das Kontinuierliche und
die Dominante des Bewusstseins, und das im Gegensatz dazu Befindliche
ist das Bezogen- oder Affiziertsein. Für den Extravertierten dagegen
liegt der Akzent vielmehr auf der Kontinuität der Beziehung zum
Objekt und weniger auf der Idee des Ich. Für ihn läge das Problem
daher anders. Diesen Punkt muss man im Auge behalten und in Betracht
ziehen, wenn wir Schillers weitern Überlegungen folgen. Wenn er z. B.
sagt: die Person offenbare sich „in dem ewig beharrenden Ich und
nur in diesem“, so ist dies vom Standpunkt des Introvertierten aus
gedacht. Man müsste vom Standpunkt der Extravertierten dagegen sagen,
dass sich die Person offenbare einzig und allein in ihrer Bezogenheit,
in der Funktion der Beziehung zum Objekt. „Person“ nämlich ist nur
beim Introvertierten ausschliesslich Ich, beim Extravertierten liegt
die Person in seinem Affiziertsein und nicht im affizierten Ich.
Sein Ich liegt gewissermassen unter seiner Affektion, d. h. seiner
Beziehung. Der Extravertierte findet sich selbst im Veränderlichen,
im Wechsel, der Introvertierte im Beharren. Das Ich ist nicht „ewig
Beharrendes“, zuallerletzt beim Extravertierten, der hiefür ein
geringes Augenmerk hat. Der Introvertierte hingegen hat hievon zu
viel und erschrickt darum vor jedem Wechsel, insofern sein Ich
berührt wird. Das Affiziertsein kann für ihn etwas direkt Peinliches
bedeuten, während es der Extravertierte unter keinen Umständen
missen möchte. Folgende Formulierung lässt ebenfalls ohne weiteres
den Introvertierten erkennen: „In allem Wechsel beständig er selbst
zu bleiben, alle Wahrnehmungen zu Erfahrung, d. h. zur Einheit
der Erkenntnis, und jede seiner Erscheinungsarten in der Zeit zum
Gesetz für alle Zeiten zu machen, ist die Vorschrift, die durch
seine vernünftige Natur ihm gegeben ist.“[26] Die abstrahierende,
sich selber behaltende Einstellung ist deutlich; sie wird sogar zur
obersten Richtschnur gemacht. Jedes Erlebnis muss sofort zur Erfahrung
erhoben werden, und aus der Summe der Erfahrungen muss auch sofort
ein Gesetz für alle Zukunft hervorgehen, während der andere Zustand,
wobei aus dem Erlebnis keine Erfahrung gemacht werden darf, damit
nicht etwa Gesetze entstehen, die die Zukunft behindern, ebenso
menschlich ist. Dem entspricht es völlig, wenn sich Schiller Gott
nicht als _werdend_, sondern nur als ewig seiend denken kann[27],
daher er auch mit sicherer Intuition die „Gottähnlichkeit“ des
introvertierten Idealzustandes erkennt: „Der Mensch, vorgestellt in
seiner Vollendung, wäre demnach die beharrliche Einheit, die in den
Fluten der Veränderung ewig dieselbe bleibt.“ „Die Anlage zu der
Gottheit trägt der Mensch unwidersprechlich in seiner Persönlichkeit
in sich.“[28] Diese Anschauung vom Wesen Gottes verträgt sich
schlecht mit seiner christlichen Menschwerdung und jenen ähnlichen
neuplatonischen Ansichten von der Göttermutter und ihrem Sohne, der als
Demiurg in das Werden hinuntersteigt.[29] Die Anschauung Schillers
aber zeigt, welcher Funktion er den höchsten Wert, die Göttlichkeit,
zuerkennt, nämlich der Beharrung der Idee des Ich. Das Ich, das sich
vom Affiziertsein abstrahiert, ist ihm das Wichtigste, und daher
hat er diese Idee auch am meisten differenziert, wie dies bei jedem
Introvertierten der Fall ist. Sein Gott, sein höchster Wert, ist ihm
die Abstraktion und Erhaltung des Ich. Dem Extravertierten dagegen
ist der Gott das Erleben am Objekt, das völlige Aufgehen in der
Wirklichkeit, daher ihm ein menschgewordener Gott sympathischer ist als
ein ewig unveränderlicher Gesetzgeber. Diese Gesichtspunkte dürften,
wie ich antizipierend hier bemerken möchte, nur für die bewusste
Psychologie der Typen gelten. Im Unbewussten dreht sich das Verhältnis
um. Davon scheint Schiller eine Ahnung gehabt zu haben: wenn sein
Bewusstsein zwar schon an einen unveränderlich seienden Gott glaubt,
so ist ihm doch der Weg zur Gottheit aufgetan in den Sinnen, also im
Affiziertsein, im Wechselnden, im lebendigen Prozess. Dieses aber ist
für ihn die sekundär wichtige Funktion, und in dem Masse, als er sich
mit seinem Ich identifiziert, und es vom Wechselnden abstrahiert,
wird seine bewusste Einstellung auch ganz abstrahierend, während das
Affiziertsein, die Bezogenheit auf das Objekt dann notgedrungenerweise
mehr dem Unbewussten verfällt. Aus dieser Sachlage ergeben sich
bemerkenswerte Folgen:

1. Durch die bewusste abstrahierende Einstellung, die ihrem Ideale
folgend aus jedem Erlebnis eine Erfahrung macht und aus den Erfahrungen
Gesetz, entsteht eine gewisse Beschränkung und Armut, die für den
Introvertierten charakteristisch ist. Schiller hat sie in seinem
Verhältnis zu Goethe deutlich gefühlt, denn er empfand Goethes mehr
extravertierte Natur als ihm objektiv entgegenstehend.[30] Goethe sagt
bezeichnenderweise von sich: „Ich bin nämlich als ein beschauender
Mensch ein Stockrealiste, sodass ich bei allen Dingen, die sich mir
darstellen, nichts davon und nichts dazu zu wünschen im Stande bin, und
ich unter den Objekten gar keinen Unterschied kenne als den, ob sie
mich interessieren oder nicht.“[31] Über Schillers Wirkung auf ihn,
sagt Goethe sehr charakteristisch: „Wenn ich Ihnen zum Repräsentanten
mancher Objekte diente, so haben Sie mich von der _allzustrengen
Beobachtung der äussern Dinge und ihrer Verhältnisse auf mich selbst
zurück geführt, Sie haben mich die Vielseitigkeit des innern Menschen
mit mehr Billigkeit anzuschauen gelehrt_,“ etc.[32] In Goethe
dagegen fand Schiller eine oftmals betonte Ergänzung oder Vollendung
seines Wesens und zugleich empfand er seine Verschiedenheit, die er
folgendermassen charakterisiert: „Erwarten Sie bei mir keinen grossen
materialen Reichtum von Ideen; dies ist es, was ich bei Ihnen finden
werde. Mein Bedürfnis und Streben ist es, aus wenigem viel zu machen,
und wenn Sie meine Armut an allem, was man erworbene Erkenntnis nennt,
einmal näher kennen sollten, so finden Sie vielleicht, dass es mir
in manchen Stücken damit mag gelungen sein. Weil mein Gedankenkreis
kleiner ist, so durchlaufe ich ihn eben darum schneller und öfter,
und kann eben darum meine kleine Barschaft besser nutzen, und eine
Mannigfaltigkeit, die dem Inhalte fehlt, durch die Form erzeugen. Sie
bestreben sich, Ihre grosse Ideenwelt zu simplifizieren, ich suche
Varietät für meine kleinen Besitzungen. Sie haben ein Königreich zu
regieren, ich nur eine etwas zahlreiche Familie von Begriffen, die ich
herzlich gerne zu einer kleinen Welt erweitern möchte.“[33]

Ziehen wir die Äusserung gewisser, für den Introvertierten
charakteristischer Minderwertigkeitsgefühle ab und rechnen wir dazu,
dass die „grosse Ideenwelt“ vom Extravertierten weniger regiert
wird, als er selber Untertan in jenem Reiche ist, so gibt Schillers
Darstellung ein treffendes Bild jener Dürftigkeit, die sich infolge
einer wesentlich abstrahierenden Einstellung zu entwickeln pflegt.

2. Eine weitere Folge aus der abstrahierenden Bewusstseinseinstellung,
die im weitern Verlauf unserer Untersuchung sich als bedeutsam
erweisen wird, ist der Umstand, dass das Unbewusste in diesem Fall
eine compensierende Einstellung entwickelt. Je mehr nämlich die
bewusste Abstraktion die Beziehung zum Objekt einschränkt (weil zu
viele „Erfahrungen“ und „Gesetze“ gemacht werden), desto mehr entsteht
dafür im Unbewussten ein Verlangen nach dem Objekt, welche sich im
Bewusstsein schliesslich als eine _zwanghafte sinnliche Bindung ans
Objekt äussert_. Dabei steht die sinnliche an Stelle einer fehlenden
resp. durch Abstraktion unterdrückten _gefühlsmässigen_ Beziehung
zum Objekt. Daher Schiller bezeichnenderweise die _Sinne_ als
den Weg zur Gottheit auffasst und nicht die _Gefühle_. Sein Ich
liegt beim Denken, sein Affiziertsein, seine Gefühle aber in der
Sinnlichkeit. Der Zwiespalt liegt also für ihn zwischen Geistigkeit
als Denken und Sinnlichkeit als Affiziertsein oder Gefühl. Beim
Extravertierten aber liegt die Sache umgekehrt: seine Beziehung zum
Objekt ist entwickelt, seine Ideenwelt ist aber sinnlich, concret.

Das sinnliche Fühlen, oder besser gesagt, das im Zustande der
Sinnlichkeit befindliche Fühlen ist _collektiv_, d. h. es schafft
ein Bezogen- oder Affiziertsein, welches den Menschen immer zugleich
auch in den Zustand der „participation mystique“ versetzt, also in
den Zustand einer partiellen Identität mit dem empfundenen Objekt.
Diese Identität äussert sich in einer zwangsmässigen Abhängigkeit vom
empfundenen Objekte, und das ist es, was den Introvertierten auf dem
Wege des circulus vitiosus wieder zu einer Verstärkung der Abstraktion
veranlasst, welche nämlich die lästige Beziehung und den von ihr
ausgehenden Zwang aufheben soll. Schiller hat diese Eigentümlichkeit
des sinnlichen Fühlens erkannt: „Solange er bloss empfindet, bloss
begehrt und aus blosser Begierde wirkt, _so ist er noch weiter
nichts als Welt_“ (l. c. p. 55). Da nun aber der Introvertierte
nicht endlos abstrahieren kann, um dem Affiziertsein zu entgehen,
so sieht er sich schliesslich gezwungen, das Äussere zu formen. „Um
also nicht bloss Welt zu sein, muss er der Materie Form erteilen,“
sagt Schiller[34], „er soll alles Innere veräussern und alles Äussere
formen. Beyde Aufgaben in ihrer höchsten Erfüllung gedacht, führen zu
dem Begriff der Gottheit zurück, von dem ich ausgegangen bin.“

Dieser Zusammenhang ist bedeutsam. Setzen wir, das Objekt des sinnlich
Gefühlten sei ein Mensch -- wird er sich dieses Rezept gefallen
lassen? Nämlich, wird er sich formen lassen, wie wenn der, der auf
ihn bezogen ist, sein Schöpfer wäre? Gott im kleinen zu spielen, dazu
ist ja der Mensch berufen, aber schliesslich haben auch die leblosen
Dinge ein göttliches Recht auf ihr eigenes Sein, und die Welt war
längstens kein Chaos mehr, als die ersten Menschenaffen anfingen,
Steine zu schärfen. Es wäre wohl ein bedenkliches Unternehmen, wenn
jeder Introvertierte seine beschränkte Begriffswelt veräussern
und das Äussere danach formen wollte. Solches geschieht zwar
alltäglich, aber der Mensch leidet auch, und zwar mit bestem Recht,
an dieser Gottähnlichkeit. Für den Extravertierten würde diese Formel
lauten: „Alles Äusserliche verinnerlichen und alles Innere formen.“
Diese Reaktion hat, wie wir oben sahen, Schiller bei Goethe auch
hervorgerufen. Goethe gibt dazu noch eine treffliche Parallele; er
schreibt an Schiller: „Dagegen bin ich bei jeder Art von Tätigkeit,
ich darf beinah sagen, vollkommen _idealistisch: ich frage nach den
Gegenständen gar nicht, sondern fordere, dass sich alles nach meinen
Vorstellungen bequemen soll_.“ (April 1798.) Das heisst, wenn der
Extravertierte denkt, so geht es ebenso selbstherrlich zu, wie wenn
der Introvertierte nach aussen wirkt. Diese Formel kann also nur
da Gültigkeit beanspruchen, wo ein fast vollkommener Zustand schon
erreicht ist, und zwar beim Introvertierten eine so reiche, schmiegsame
und ausdrucksfähige Begriffswelt, dass sie das Objekt nicht mehr in
ein Prokrustesbett zwingt, und beim Extravertierten eine so völlige
Kenntnis und Berücksichtigung des Objektes, dass keine Karikatur mehr
aus ihm entstehen kann, wenn mit ihm gedacht wird. Wir sehen also,
dass Schiller seine Formel auf das Höchstmögliche gründet und damit
eine fast unerschwinglich hohe Anforderung an die psychologische
Entwicklung des Individuums stellt -- vorausgesetzt, dass er sich
auch in allen Stücken klar gemacht hat, was seine Formel heisst.
Sei dem, wie ihm wolle, jedenfalls ist etwas deutlich, nämlich dass
diese Formel: „Alles Innere veräussern und alles Äussere formen“ das
Ideal der bewussten Einstellung des Introvertierten ist. Sie gründet
sich auf die Annahme einerseits eines idealen Umfanges der innern
Begriffswelt, des formalen Prinzipes, und andererseits einer idealen
Verwendungsmöglichkeit des sinnlichen Prinzipes, das in diesem Falle
nicht mehr als Affiziertsein, sondern als eine aktive Potenz auftritt.
Solange der Mensch „sinnlich“ ist, ist er „nichts als Welt“, um „nicht
bloss Welt zu sein, muss er der Materie Form erteilen“. Hierin liegt
eine Umkehrung des passiven, erleidenden sinnlichen Prinzipes. Doch wie
kann eine solche Umkehrung geschehen? Darum handelt es sich eben. Es
ist kaum anzunehmen, dass der Mensch zugleich seiner Begriffswelt jenen
ausserordentlichen Umfang gibt, der nötig wäre, um der materiellen Welt
zusagende Form zu erteilen, zugleich auch sein Affiziertsein, seine
Sinnlichkeit, aus einem passiven in einen aktiven Zustand umzukehren,
und dadurch auf die Höhe seiner Ideenwelt zu bringen. Irgendwo muss
der Mensch bezogen, sozusagen _unterlegen_ sein, sonst wäre er
ja wirklich gottähnlich. Es müsste denn sein, dass Schiller es darauf
ankommen liesse, dem Objekt Gewalt anzutun. Damit würde er aber der
archaïschen minderwertigen Funktion ein uneingeschränktes Existenzrecht
einräumen, was bekanntlich _Nietzsche_ dann -- wenigstens
theoretisch -- getan hat. Diese Annahme trifft nun allerdings für
Schiller keineswegs zu, indem er sich, soweit es mir bekannt ist,
nirgends bewusst in dieser Hinsicht ausgesprochen hat. Seine Formel hat
vielmehr einen durchaus naiv-idealistischen Charakter, der sich wohl
mit dem Geiste seiner Zeit verträgt, die noch nicht von jenem tiefen
Misstrauen in menschliches Wesen und menschliche Wahrheit angekränkelt
ist, wie die von Nietzsche inaugurierte Epoche des psychologischen
Kritizismus. Die Schillersche Formel liesse sich nur durchführen mit
der Anwendung eines rücksichtslosen Machtstandpunktes, welcher sich
nicht mehr weiter um Gerechtigkeit und Billigkeit dem Objekte gegenüber
oder um eine gewissenhafte Berücksichtigung der eigenen Kompetenz
kümmert. Einzig in diesem Falle, den Schiller gewiss nie im Auge hatte,
könnte auch die minderwertige Funktion zum Mitleben gelangen. Auf
diese Weise hat sich auch das Archaïsche naiv und unbewusst und erst
noch gedeckt durch den Schimmer grosser Worte und einer schönen Geste
immer durchgedrückt und uns zur gegenwärtigen „Kultur“ verholfen,
über deren Wesen allerdings die Menschheit jetzt einigermassen uneins
geworden ist. Der archaïsche Machttrieb, der hinter der Kulturgeste
sich bis dahin verborgen hatte, kam nunmehr als solcher an die
Oberfläche und bewies unwiderleglich, dass wir „noch immer Barbaren
sind“. Es ist nämlich nicht zu vergessen, dass im gleichen Masse, wie
die bewusste Einstellung sich einer gewissen Gottähnlichkeit wegen
ihres hohen und absoluten Standpunktes rühmen darf, eine unbewusste
Einstellung sich entwickelt, deren Gottähnlichkeit aber nach unten
orientiert ist, nämlich nach einem archaïschen Gotte sinnlicher und
gewalttätiger Natur. Heraklits Enantiodromie sorgt dafür, dass die Zeit
kommt, wo auch dieser deus absconditus an die Oberfläche kommt und den
Gott unserer Ideale an die Wand drückt. Es ist, wie wenn die Menschen
am Ende des XVIII. Jahrhunderts nicht recht hingesehen hätten auf das,
was damals in Paris geschah, sondern in einer gewissen schöngeistigen,
schwärmerischen oder spielerischen Einstellung verharrten, wohl um sich
über den Anblick der Abgründe menschlichen Wesens hinwegzutäuschen.

    „Da unten aber ist’s fürchterlich,
    Und der Mensch versuche die Götter nicht,
    Und begehre nimmer und nimmer zu schauen,
    Was sie gnädig bedecken mit Nacht und mit Grauen.“

Als Schiller lebte, war eben die Zeit der Auseinandersetzung mit dem
Untern noch nicht gekommen. Nietzsche stand dieser Zeit auch innerlich
viel näher, daher es ihm gewiss war, dass wir uns einer Epoche grössten
Kampfes nähern. Darum zerriss er auch, als der einzige wahre Schüler
_Schopenhauers_, den Schleier der Naivetät und holte in seinem
Zarathustra einiges davon herauf, was zum lebendigsten Inhalt einer
kommenden Zeit bestimmt war.

b) _Über die Grundtriebe._ Im zwölften Briefe setzt sich
Schiller mit den beiden Grundtrieben auseinander, denen er hier auch
eine völligere Beschreibung widmet. Der „sinnliche“ Trieb ist damit
beschäftigt, den Menschen „in die Schranken der Zeit zu setzen, und
zur Materie zu machen“. Dieser Trieb fordert, dass „Veränderung sey,
dass die Zeit einen Inhalt habe. Dieser Zustand der bloss erfüllten
Zeit heisst _Empfindung_“.[35] „Der Mensch ist in diesem Zustande
nichts als eine Grösseneinheit, ein erfüllter Moment der Zeit -- oder
vielmehr, er ist es nicht, denn seine Persönlichkeit ist solange
aufgehoben, als ihn die Empfindung beherrscht, und die Zeit mit sich
fortreisst“.[36] „Mit unzerreissbaren Banden fesselt dieser Trieb den
höher strebenden Geist an die Sinnenwelt, und von ihrer freyesten
Wanderung ins Unendliche ruft er die Abstraktion in die Grenzen der
Gegenwart zurück.“

Es ist durchaus für die Psychologie Schillers bezeichnend, dass er die
Äusserung dieses Triebes als „Empfindung“ auffasst, und nicht etwa als
das aktive sinnliche _Begehren_. Das zeigt, dass Sinnlichkeit für
ihn den Charakter des _Reaktiven_, des Affiziertseins, hat, was
für den Introvertierten bezeichnend ist. Ein Extravertierter würde
gewiss den Charakter des _Begehrens_ zuerst hervorheben. Des
Weitern ist kennzeichnend, dass es dieser Trieb sei, der Veränderung
fordere. Die Idee will Unveränderlichkeit und Ewigkeit. Wer unter dem
Primat der Idee steht, strebt nach Beharrung, daher alles, was nach
Veränderung strebt, auf ihrer Gegenseite liegen muss. In Schillers
Fall bei Gefühl und Empfindung, die, der Regel entsprechend, wegen
ihres unentwickelten Zustandes mit einander verschmolzen sind.
Schiller unterschied auch ungenügend zwischen _Gefühl_ und
_Empfindung_, was folgender Passus beweist: „Das Gefühl kann bloss
sagen, das ist wahr für dieses Subjekt und in diesem Moment, und ein
anderer Moment, ein anderes Subjekt kann kommen, das die Aussage der
gegenwärtigen Empfindung zurücknimmt“. (l. c. p. 59.)

Diese Stelle zeigt deutlich, dass bei Schiller Empfindung und Gefühl
auch im Sprachgebrauch zusammenlaufen. Der Inhalt dieses Passus
zeigt eine ungenügende Bewertung und Differenzierung des Gefühls vor
der Empfindung. Das differenzierte Fühlen kann auch _allgemeine
Gültigkeiten_ feststellen und nicht bloss kasuistische. Es ist aber
wahr, dass die _Gefühlsempfindung_ des introvertierten Denktypus
wegen ihres passiven und reaktiven Charakters bloss kasuistisch ist,
weil sie über den einzelnen Fall, durch den allein sie angeregt wurde,
sich nie zu einer abstrakten Vergleichung aller Fälle erheben kann,
denn dieses Geschäft besorgt beim introvertierten Denktypus nicht die
Fühlfunktion, sondern die Denkfunktion. Umgekehrt aber liegt es beim
introvertierten Fühltypus, wo das Gefühl abstrakten und allgemeinen
Charakter erreicht und daher auch allgemeine und dauernde Werte
feststellen kann.

Aus Schillers Beschreibung geht des Fernern hervor, dass die
Gefühlsempfindung (womit ich eben die charakteristische Mischung
von Gefühl und Empfindung beim introvertierten Denktypus bezeichne)
diejenige Funktion ist, mit der sich das Ich nicht identisch erklärt.
Sie hat den Charakter des Widerstrebenden, des Fremden, das die
Persönlichkeit „aufhebt“, sie mit sich fortreisst, den Menschen ausser
sich selber stellt, sich selber entfremdet. Daher parallelisiert
Schiller auch mit dem _Affekt_, der den Menschen „ausser
sich“ bringt.[37] Wenn man darauf wieder zur Besonnenheit komme, so
nenne man das „ebenso richtig _in sich gehen_[38], d. h. in
sein Ich zurückkehren, seine Person wiederherstellen“. Daraus geht
unmissverständlich hervor, dass für Schiller die Gefühlsempfindung
eigentlich als nicht zur Person gehörig erscheint, sondern ein mehr
oder weniger misslicher Begleitumstand ist, dem sich gelegentlich
„ein fester Wille sieghaft entgegensetzt“. Dem Extravertierten aber
erscheint es, als ob eben gerade diese Seite sein eigentliches Wesen
ausmache, und als ob er gerade dann wirklich bei sich selber sei,
wenn er vom Objekt affiziert ist, was wir wohl verstehen können,
wenn wir berücksichtigen, dass für ihn die Beziehung zum Objekt die
differenzierte hochwertige Funktion ist, der das abstrakte Denken und
Fühlen ebenso entgegensteht, wie es dem Introvertierten unerlässlich
ist. Vom Vorurteil der Sinnlichkeit wird das Denken des extravertierten
Fühltypus ebenso sehr betroffen wie das Fühlen des introvertierten
Denktypus. Für beide bedeutet es äusserste „Beschränkung“ auf das
Materielle und Kasuistische. Auch das Erleben am Objekt kennt „freyeste
Wanderung ins Unendliche“, nicht nur die Abstraktion wie bei Schiller.

Wegen dieser Ausschliessung der Sinnlichkeit vom Begriff und Umfang der
Person kann Schiller zu der Behauptung kommen, die Person sei „absolute
und unteilbare Einheit“, „die mit sich selbst nie im Widerspruch
seyn kann“. Diese Einheit ist ein Desiderat des Intellektes, der
sein Subjekt in idealster Integrität erhalten möchte, und daher als
hochwertige Funktion die ihm minderwertig erscheinende Funktion
der Sinnlichkeit ausschliesst. Das Resultat ist die Verstümmelung
menschlichen Wesens, die eben gerade Motiv und Ausgangspunkt der
Schillerschen Untersuchung ist.

Da das Gefühl für Schiller die Qualität der Gefühlsempfindung hat und
darum nur kasuistisch ist, so fällt natürlich die höchste Schätzung,
ein richtiger Ewigkeitswert, dem formenden Gedanken zu, dem sog.
„Formtrieb“, wie ihn Schiller nennt[39]: „Aber wenn der Gedanke einmal
ausspricht: _das ist, so entscheidet er für immer und ewig_, und
die Gültigkeit seines Ausspruches ist durch die _Persönlichkeit_
selbst verbürgt, die _allem Wechsel Trotz bietet_.“[40] Man muss
sich aber fragen: ist wirklich bloss das Beharrende der Sinn und
Wert der Persönlichkeit? Ist es nicht auch die Veränderung und das
Werden, die Entwicklung, welche vielleicht sogar noch höhere Werte
repräsentiert, als der blosse „Trotz“ gegen den Wechsel?[41]

„Wo also der Formtrieb die Herrschaft führt, und das reine Objekt in
uns handelt, da ist die höchste Erweiterung des Seyns, da verschwinden
alle Schranken, da hat sich der Mensch aus einer Grössen-Einheit,
auf welche der dürftige Sinn ihn beschränkte, zu einer Ideen-Einheit
erhoben, die das ganze Reich der Erscheinungen unter sich fasst.“
„Wir sind nicht mehr Individuen, sondern Gattung; das Urteil aller
Geister ist durch das unsrige ausgesprochen, die Wahl aller Herzen ist
repräsentiert durch unsere Tat.“

Es ist unzweifelhaft, dass der Gedanke des Introvertierten nach diesem
Hyperion strebt, nur schade, dass die Ideeneinheit das Ideal einer an
Zahl beschränkten Menschenklasse ist. Das Denken ist nur eine Funktion,
die, wenn völlig entwickelt und ihrem eigenen Gesetze ausschliesslich
gehorchend, natürlicherweise den Anspruch auf Allgemeingültigkeit
erhebt. Es kann daher nur ein Teil der Welt durch das Denken erfasst
werden, ein anderer nur durch das Gefühl, ein dritter nur durch die
Empfindung usw. Darum gibt es wohl auch verschiedene psychische
Funktionen, denn das psychische System kann doch biologisch nur als ein
Anpassungssystem verstanden werden, daher es vermutlich darum Augen
gibt, weil es Licht gibt. Das Denken hat daher unter allen Umständen
nur eine Drittels- oder Viertelsbedeutung, obschon es in seiner eigenen
Sphäre ausschliesslich gültig ist, so wie das Sehen die ausschliesslich
gültige Funktion für die Aufnahme der Lichtschwingungen, das Hören
für die Schallschwingungen ist. Wer daher die „Ideeneinheit“ zuoberst
setzt, und die Gefühlsempfindung als einen Gegensatz zu seiner
Persönlichkeit empfindet, ist einem Menschen zu vergleichen, der zwar
gute Augen hat, daneben aber völlig taub und anästhetisch ist.

„Wir sind nicht mehr Individuen, sondern Gattung“, gewiss, wenn wir uns
mit dem Denken, überhaupt mit der _einen_ Funktion ausschliesslich
identifizieren, dann sind wir collektive allgemeingültige Wesen, sind
aber uns selber gänzlich entfremdet. Ausser dieser einen Viertelspsyche
sind die andern drei Viertel im Dunkeln, in der Verdrängung und
Minderbewertung. „Est-ce la nature, qui porte ainsi les hommes si
loin d’eux-mêmes?“ können wir hier mit _Rousseau_ fragen -- kaum
in erster Linie die Natur, sondern unsere eigene Psychologie, welche
in barbarischer Weise die eine Funktion überschätzt und sich davon
wegreissen lässt. Dieser Impetus ist allerdings ein Stück Natur,
nämlich jene ungezähmte Triebenergie, vor der der differenzierte Typus
erschrickt, wenn sie sich „zufällig“ einmal nicht in der idealen
Funktion, wo sie als göttlicher Enthusiasmus gepriesen und verehrt
wird, sondern in einer minderwertigen Funktion manifestiert, wie
Schiller es deutlich sagt: „Aber dein Individuum und dein jetziges
Bedürfnis wird die _Veränderung mit sich fortreissen, und was
du jetzt feurig begehrst, dereinst zum Gegenstand deines Abscheus
machen_.“

Ob sich nun aber das Ungezähmte, Masslose und Disproportionierte in der
Sinnlichkeit -- in abjectissimo loco -- oder in der höchst entwickelten
Funktion als Überschätzung und Deifikation derselben zeigt, es ist im
Grunde genommen dasselbe, nämlich _Barbarei_. Dies kann allerdings
so lange nicht eingesehen werden, als man noch vom _Gegenstande_
des Tuns hypnotisiert ist und dabei das Wie des Handelns übersieht.

Identisch sein mit der einen differenzierten Funktion heisst collektiv
sein, allerdings nicht mehr _collektiv_ _identisch_, wie
der Primitive, sondern _collektiv angepasst_, insofern ist „das
Urteil aller Geister durch das unsrige ausgesprochen“, indem wir dann
genau so denken und reden, wie eben die allgemeine Erwartung ist bei
denen, deren Denken im selben Masse differenziert und angepasst ist.
Auch „die Wahl aller Herzen ist repräsentiert durch unsere Tat“,
insofern wir eben so denken und handeln, wie alle wünschen, dass
gedacht und gehandelt werde. Alle glauben und wünschen ja, dass es das
Beste und am meisten Erstrebenswerte sei, wenn man soviel wie möglich
zu einer Identität mit der einen differenzierten Funktion gelange,
denn das bringt die deutlichsten sozialen Vorteile, den Minderheiten
der menschlichen Natur aber, welche bisweilen einen grossen Teil
der Individualität ausmachen, die grössten Nachteile. „Sobald man“,
sagt Schiller, „einen ursprünglichen, mithin notwendigen Antagonism
beider Triebe behauptet, so ist freylich kein anderes Mittel, die
Einheit im Menschen zu erhalten, als dass man den sinnlichen Trieb
dem vernünftigen _unbedingt unterordnet_. Daraus kann bloss
Einförmigkeit, aber keine Harmonie entstehen, und der Mensch bleibt
noch ewig fort geteilt“.[42] „Weil es Schwierigkeit kostet, bey
aller Regsamkeit des Gefühls seinen Grundsätzen treu zu bleiben, so
ergreift man das bequemere Mittel, _durch Abstumpfung der Gefühle
den Charakter sicher zu stellen_; denn freylich ist es unendlich
leichter, vor einem entwaffneten Gegner Ruhe zu haben, als einen
mutigen und rüstigen Feind zu beherrschen. In dieser Operation besteht
denn auch grösstenteils das, was man einen Menschen formieren nennt,
und zwar im besten Sinne des Wortes, wo es Bearbeitung des innern,
nicht bloss des äussern Menschen bedeutet. Ein so formierter Mensch
wird freylich davor gesichert seyn, rohe Natur zu seyn und als solche
zu erscheinen; er wird aber zugleich gegen alle Empfindungen der Natur
durch Grundsätze geharnischt seyn, und die Menschheit von aussen wird
ihm ebenso wenig als die Menschheit von innen beykommen können.“[43]

Es ist auch Schiller bekannt, dass die beiden Funktionen, das
Denken und das Affiziertsein (Gefühlsempfindung) sich _einander
unterschieben_ können (was eben dann geschieht, wie wir sahen, wenn
die eine Funktion vorgezogen wird). „Er kann die Intensität, welche
die tätige Kraft erheischt, auf die leidende (Affiziertsein) legen,
durch den Stofftrieb dem Formtrieb vorgreifen, und das empfangende
Vermögen zum bestimmenden machen. Er kann die _Extensität_, welche
der leidenden Kraft gebührt, der tätigen Kraft (dem positiven Denken)
_zuteilen_, durch den Formtrieb dem Stofftrieb vorgreifen und dem
empfangenden Vermögen das bestimmende unterschieben. In dem ersten
Fall wird er nie er selbst, in dem zweiten wird er nie etwas Anderes
seyn.“[44]

In diesem sehr bemerkenswerten Passus ist vieles von dem enthalten, was
wir oben bereits besprachen. Wenn die Kraft des positiven Denkens der
Gefühlsempfindung zufliesst, was einer Umkehrung des introvertierten
Typus gleichkäme, dann werden die Qualitäten der nicht differenzierten,
archaïschen Gefühlsempfindungen zur Herrschaft gebracht, d. h.
das Individuum verfällt damit einer äussersten Bezogenheit, einer
Identität mit dem empfundenen Objekt. Dieser Zustand entspricht einer
sog. _minderwertigen Extraversion_, d. h. einer Extraversion,
welche den Menschen sozusagen gänzlich von seinem Ich loslöst und in
archaïsche Collektivbindungen und -identitäten auflöst. Er ist dann
nicht mehr „Er selbst“, sondern blosse Bezogenheit, identisch mit
seinem Objekt und deshalb standpunktlos. Gegen diesen Zustand empfindet
der Introvertierte instinktiv den grössten Widerstand, was ihn aber
nicht hindert, öfters unbewusst hineinzugeraten. Dieser Zustand ist
nun unter keinen Umständen mit der Extraversion eines extravertierten
Typus zu verwechseln, obschon der Introvertierte stets geneigt ist,
diese Verwechslung zu begehen und dieser Extraversion dieselbe
Verachtung zu bezeugen, die er im Grunde genommen stets für seine
eigene extravertierte Beziehung hat.[45] Umgekehrt bedeutet der zweite
Fall die reine Darstellung des introvertierten Denktypus, welcher sich
durch die Abschneidung der minderwertigen Gefühlsempfindungen zur
Sterilität verurteilt, d. h. in jenen Zustand begibt, in welchem „ihm
die Menschheit von aussen ebenso wenig als die Menschheit von innen
beykommen kann.“

Es ist auch hier deutlich, dass Schiller stets nur vom Standpunkt des
Introvertierten aus schreibt. Der Extravertierte nämlich, der sein Ich
nicht beim Denken, sondern bei der Gefühlsbeziehung zum Objekte hat,
findet sich selber eben am Objekt, während der Introvertierte sich
daran verliert. Der Extravertierte aber, wenn er introvertiert, gelangt
zu seiner minderwertigen Bezogenheit auf collektive Gedanken, zu einer
Identität mit einem Collektivdenken archaïscher, concretistischer
Art, das man als _Empfindungsvorstellen_ bezeichnen könnte. In
dieser minderwertigen Funktion verliert er sich selber ebenso, wie
der Introvertierte in seiner Extraversion. Der Extravertierte hat
daher dieselbe Abneigung oder Furcht oder stille Verachtung für die
Introversion, wie der Introvertierte für die Extraversion.

Schiller empfindet den Gegensatz zwischen den beiden Mechanismen, in
seinem Fall also zwischen Empfinden und Denken, oder, wie er auch sagt,
„Materie und Form“ oder „Leiden und Tätigkeit“ (Affiziertsein und
aktives Denken)[46] als _unüberbrückbar_. „Der Abstand zwischen
Empfinden und Denken“ ist „unendlich“ und kann „schlechterdings
durch nichts vermittelt werden“. Die beiden „Zustände sind einander
entgegengesetzt und können niemals eins werden.“[47] Beide Triebe
aber wollen sein, und als „Energieen“, wie sie sich Schiller in sehr
moderner Weise denkt[48], wollen und bedürfen sie der „Abspannung“.
„Dem Stofftrieb, wie dem Formtrieb, ist es mit ihren Forderungen
ernst, weil der eine sich beym Erkennen auf die _Wirklichkeit_,
der andere auf die _Notwendigkeit_ der Dinge bezieht.“[49] Die
„Abspannung des sinnlichen Triebes darf aber keineswegs die Wirkung
eines physischen Unvermögens und einer Stumpfheit der Empfindung sein,
welche überall nur Verachtung verdient; sie muss eine Handlung der
Freyheit, eine Tätigkeit der Person seyn, die durch ihre moralische
Intensität jene sinnliche mässigt.“[50] „Nur an den Geist darf der Sinn
verlieren.“ Dementsprechend muss gefolgert werden, dass der Geist nur
an den Sinn verlieren dürfe. Schiller sagt es zwar nicht direkt, aber
meint es wohl so, dem Sinne nach, wenn er sagt: „Jene Abspannung des
Formtriebes darf ebenso wenig die Wirkung eines geistigen Unvermögens
und einer Schlaffheit der Denk- oder Willenskräfte seyn, welche
die Menschheit erniedrigen würde. Fülle der Empfindungen muss ihre
rühmliche Quelle seyn; die Sinnlichkeit selbst muss mit siegender Kraft
ihr Gebiet behaupten und der Gewalt widerstreben, die ihr der Geist
durch seine vorgreifende Tätigkeit gern zufügen möchte.“

In diesen Worten ist eine Anerkennung der Gleichberechtigung der
„Sinnlichkeit“ mit der Geistigkeit ausgesprochen. Schiller spricht
also dem Empfinden das Recht auf eigene Existenz zu. Zugleich aber
sehen wir in diesem Passus auch noch einen tiefern Gedanken angedeutet,
nämlich die Idee einer „Wechselwirkung“ der beiden Triebe, einer
Interessengemeinschaft oder _Symbiose_, wie wir etwas moderner sagen
würden, wobei das Abfallprodukt der einen Tätigkeit der Nährstoff
der andern wäre. Schiller sagt, dass „die Wechselwirkung der beiden
Triebe darin bestehe, dass die Wirksamkeit des einen die Wirksamkeit
des andern zugleich _begründet_ und _begrenzt_,“ und dass „jeder
einzelne für sich gerade dadurch zu seiner höchsten Verkündigung
gelangt, dass der andere tätig ist.“ Diesem Gedanken entsprechend
dürfte daher ihr Gegensatz gar nicht als etwas zu Lösendes aufgefasst
werden, sondern im Gegenteil als etwas Nützliches und Lebenförderndes,
das man nur erhalten und unterstützen sollte. Diese Forderung richtet
sich geradeswegs gegen die Vorherrschaft der einen differenzierten
und sozial wertvollen Funktion, denn sie ist es, die in erster Linie
die minderwertigen Funktionen unterdrückt und aussaugt. Das würde
eine Sklavenrevolte gegen das heroische Ideal bedeuten, welches uns
zwingt für das _Eine_ alles _Andere_ aufzuopfern. Wenn mit diesem
Prinzip, welches bekanntlich durch das Christentum in besonders hohem
Masse zuerst für die Vergeistigung des Menschen ausgebildet wurde,
und dann für seine Vermaterialisierung ebenfalls die wirksamste
Hilfe lieh, einmal gebrochen wird, so befreien sich natürlich die
minderwertigen Funktionen und verlangen zu Recht oder Unrecht
gleiche Anerkennung wie die differenzierte Funktion. Dadurch wird
sich der volle Gegensatz zwischen Sinnlichkeit und Geistigkeit,
oder zwischen Gefühlsempfinden und Denken beim introvertierten
Denktypus offen darstellen. Der volle Gegensatz führt, wie es
auch Schiller sagt, eine wechselseitige Beschränkung herbei, was
psychologisch einer Abolition des Machtprinzipes gleichkommt, d. h.
einem Verzichte auf Allgemeingültigkeit vermöge einer differenzierten
und allgemeinangepassten, collektiven Funktion. Daraus ergibt sich
ohne weiteres der _Individualismus_, d. h. die Notwendigkeit einer
Anerkennung der Individualität, einer Anerkennung des Menschen, wie
er ist. Doch hören wir, wie Schiller dem Problem beizukommen sucht!
„Dieses Wechselverhältnis beyder Triebe ist zwar bloss eine Aufgabe
der Vernunft, die der Mensch nur in der Vollendung seines Daseins
ganz zu lösen im Stande ist. Es ist im eigentlichsten Sinne des
Wortes die Idee seiner Menschheit, mithin ein Unendliches, dem er
sich im Laufe der Zeit immer mehr nähern kann, aber ohne es jemals zu
erreichen.“[51] Es ist schade, dass Schiller als Typus bestimmt ist;
wäre er es nicht, so hätte ihm nie einfallen können, das Zusammenwirken
der beiden Triebe als eine „Aufgabe der Vernunft“ zu betrachten, denn
rational sind Gegensätze nicht zu vereinen -- tertium non datur --
darum heissen sie eben Gegensätze. Es müsste denn sein, dass Schiller
unter Vernunft etwas anderes versteht als ratio, nämlich ein höheres,
beinahe mystisches Vermögen. Gegensätze lassen sich nur praktisch als
Kompromiss vereinigen oder _irrational_, indem zwischen ihnen ein
_Novum_ entsteht, das von beiden verschieden ist und doch geeignet,
ihre Energieen gleichermassen aufzunehmen als ein Ausdruck beider und
keines von beiden. Dergleichen ist nicht zu ersinnen, sondern kann
allein durchs Leben geschaffen werden. Diese letztere Möglichkeit meint
auch Schiller in der Tat, wie wir an den folgenden Sätzen sehen: „Gäbe
es aber Fälle, wo er (der Mensch) diese doppelte Erfahrung zugleich
machte, wo er sich zugleich seyner Freyheit bewusst würde, und sein
Dasein empfände, wo er sich zugleich als Materie fühlte und als Geist
kennen lernte, so hätte er in diesen Fällen, und schlechterdings nur
in diesen, eine vollständige Anschauung seiner Menschheit, und der
Gegenstand, der diese Anschauung ihm verschaffte, würde ihm zu einem
Symbol seiner ausgeführten Bestimmung dienen.“ (l. c. p. 70.)

Wenn der Mensch also im Stande wäre, beide Kräfte oder Triebe zugleich
zu leben, d. h. denkend zu empfinden und empfindend zu denken, so
entstünde in ihm aus dem, das er erlebt (was Schiller den Gegenstand
nennt), ein _Symbol_, das seine erreichte Bestimmung, d. h.
seinen Weg, auf dem sich Ja und Nein vereinigen, ausdrücken würde.
Bevor wir auf die Psychologie dieses Gedankens näher eintreten, wollen
wir uns vergewissern, wie Schiller das Wesen und die Entstehung des
Symbols auffasst. „Der Gegenstand des sinnlichen Triebes -- heisst
_Leben_ in weitester Bedeutung; ein Begriff, der alles materiale
Seyn, und alle unmittelbare Gegenwart in den Sinnen bedeutet. Der
Gegenstand des Formtriebes -- heisst _Gestalt_ -- ein Begriff,
der alle formalen Beschaffenheiten der Dinge und alle Beziehungen
derselben auf die Denkkräfte unter sich fasst.“[52] Der Gegenstand
der vermittelnden Funktion heisst nun, nach Schiller, „_lebende
Gestalt_“, als welche eben das Symbol wäre, in welchem sich
die Gegensätze einigen, „ein Begriff, der allen aesthetischen
Beschaffenheiten der Erscheinungen, und mit einem Worte dem, was man in
weitester Bedeutung Schönheit nennt, zur Bezeichnung dient.“[53] Das
Symbol aber setzt auch eine Funktion voraus, welche Symbole schafft
und wiederum aufnimmt, indem sie sie schafft. Diese Funktion nennt
Schiller einen dritten Trieb, den _Spieltrieb_, der keiner der
beiden gegensätzlichen Funktionen ähnlich ist, aber doch zwischen
beiden steht und beider Wesen gerecht wird, vorausgesetzt nämlich
(was Schiller nicht anmerkt), dass Empfinden und Denken dann die
_ernsthaften_ Funktionen wären. Es gibt aber nicht wenige, bei
denen weder das Empfinden noch das Denken ganz ernst ist, dort müsste
dann wohl statt des Spieles der Ernst mitten inne stehen. Obschon
Schiller an anderer Stelle die Existenz eines dritten vermittelnden
Grundtriebes verneint (p. 61), so wollen wir doch annehmen, dass zwar
seine Konklusion etwas mangelhaft ist, aber seine Intuition umso
richtiger. Denn tatsächlich steht etwas zwischen den Gegensätzen,
aber es ist beim rein differenzierten Typus unsichtbar geworden. Es
liegt beim Introvertierten in dem, was ich Gefühlsempfindung nenne.
Wegen der relativen Verdrängung ist die minderwertige Funktion nur zum
Teil ans Bewusstsein angeschlossen, zum andern Teil aber hängt sie am
Unbewussten. Die differenzierte Funktion ist möglichst an die äussere
Realität angepasst, sie ist recht eigentlich Wirklichkeitsfunktion,
und darum ist in ihr das phantastische Element so viel wie möglich
ausgeschlossen. Es hat sich darum mit den minderwertigen Funktionen,
die in ähnlicher Weise unterdrückt werden, associiert. Daher hat das
Empfinden des Introvertierten, das gewöhnlich sentimental ist, einen
sehr starken Einschlag an unbewusster Phantasie. Das dritte Element, in
welchem die Gegensätze zusammenlaufen, ist die einerseits schöpferische
und andererseits rezeptive _Phantasietätigkeit_. Diese Funktion
ist es, die Schiller als Spieltrieb bezeichnet, womit er mehr meint,
als er tatsächlich sagt. Er ruft aus: „Denn, um es endlich auf einmal
herauszusagen, der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des
Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“[54]
Gegenstand des Spieltriebes ist ihm die Schönheit. „Der Mensch soll mit
der Schönheit nur spielen, und er soll nur mit der Schönheit spielen.“

Es war Schiller eigentlich bewusst, was es heissen könnte, den
„Spieltrieb“ gewissermassen an oberste Stelle zu setzen. Wie
wir bereits sahen, bewirkt die Aufhebung der Verdrängung ein
Aufeinanderprallen der Gegensätze und eine Ausgleichung, die notwendig
mit einer Heruntersetzung der bisher höchsten Werte endet. Es ist
eine Katastrophe der Kultur, so wie wir sie heute noch verstehen,
wenn die barbarische Seite des Europäers sich zum Worte meldet, denn
wer bürgt dafür, dass der Mensch dieser Art, wenn er zu spielen
anfängt, sich gerade die ästhetische Stimmung und den Genuss ächter
Schönheit zum Ziel setzen wird? Das wäre eine Antizipation gänzlich
ungerechtfertigter Art. Vielmehr ist aus der notwendigen Erniedrigung
der Kulturleistung zunächst ganz anderes zu erwarten. Schiller sagt
darum mit Recht: „Der aesthetische Spieltrieb wird also in seinen
ersten Versuchen noch kaum zu erkennen sein, da der sinnliche mit
seiner eigensinnigen Laune, und seiner wilden Begierde unaufhörlich
dazwischen tritt. Daher sehen wir den rohen Geschmack das Neue und
Überraschende, das Bunte, Abenteuerliche und Bizarre, das Heftige und
Wilde zuerst ergreifen, und vor nichts so sehr als vor der Einfalt
und Ruhe fliehen.“[55] Daraus muss man schliessen, dass Schiller die
Gefahr dieser Verwandlung bewusst war. Aus diesem Umstand erklärt
sich nun auch, dass er selber sich mit der gefundenen Lösung nicht
zufrieden geben kann, sondern das dringende Bedürfnis fühlt, dem
Menschen ein sichereres Fundament für seine Menschheit zu geben, als
es der unsichere Grund einer ästhetisch-spielerischen Einstellung sein
kann. Das muss auch so sein. Denn der Gegensatz zwischen den beiden
Funktionen oder Funktionsgruppen ist dermassen gross und ernsthaft,
dass das Spiel wohl kaum genügen dürfte, um all das Schwere und
Ernsthafte dieses Konfliktes aufzuwiegen. Similia similibus curantur
-- es bedarf eines Dritten, das es an Ernsthaftigkeit den beiden
andern mindestens gleich tut. Bei der spielerischen Einstellung muss
alle Ernsthaftigkeit wegfallen, und damit ist die Möglichkeit einer
absoluten Bestimmbarkeit eröffnet. Bald gefällt es dem Triebe vom
Empfinden, bald vom Denken angelockt zu werden, und das eine Mal mit
Objekten, das andere Mal mit Gedanken zu spielen. Jedenfalls aber
wird er nicht mit der Schönheit ausschliesslich spielen, denn dazu
müsste eben der Mensch kein Barbar mehr, sondern bereits ästhetisch
erzogen sein, während es sich doch eben darum handelt, wie er aus
dem barbarischen Zustand herauskommen kann. Darum muss vor allen
Dingen einmal festgestellt werden, wo der Mensch eigentlich in seinem
innersten Wesen steht. Er ist a priori ebenso wohl Empfinden, wie
Denken, er ist mit sich selber im Gegensatz, daher er auch irgendwie
dazwischen stehen und im Innersten eigentlich ein Wesen sein muss,
das zwar an beiden Trieben teilnimmt, jedoch von beiden Trieben auch
unterschieden werden kann, dergestalt, dass er zwar die Triebe erleiden
und sich ihnen gegebenenfalls beugen muss, oder sie auch anwenden
kann, aber indem er sich selbst von ihnen unterscheidet, als wie von
Naturkräften, denen er zwar unterworfen ist, mit denen er sich aber
nicht identisch erklärt. Schiller spricht sich darüber folgendermassen
aus: „Diese Inwohnung zweier Grundtriebe widerspricht übrigens auf
keine Weise der absoluten Einheit des Geistes, sobald man nur von
beiden Trieben ihn selbst unterscheidet. Beide Triebe existieren und
wirken zwar in ihm, aber er selbst ist weder Materie noch Form, weder
Sinnlichkeit noch Vernunft.“ (l. c. p. 99.)

Mir scheint, dass Schiller hier etwas sehr Wichtiges andeutet, nämlich
die _Ausscheidbarkeit eines individuellen Kerns_, der zwar bald
Subjekt, bald Objekt der gegensätzlichen Funktionen sein kann, immer
aber von ihnen unterscheidbar bleibt. Die Unterscheidung selbst ist ein
intellektuelles sowohl wie moralisches Urteil. Beim einen geschieht es
durchs Denken, beim andern durchs Fühlen. Gelingt die Unterscheidung
nicht oder wird sie überhaupt nicht gemacht, so ist die unweigerliche
Folge davon, dass eine Auflösung des Individuums in die Gegensatzpaare
eintritt, indem es eben mit ihnen identisch wird. Die weitere Folge ist
eine Entzweiung mit sich selbst, oder eine willkürliche Entscheidung
für diese oder jene Seite unter gewaltsamer Verdrängung der
entgegenstehenden. Dieser Gedankengang ist eine sehr alte Überlegung,
die meines Wissens durch _Synesius_, den christlichen Bischof von
Ptolemais und Schüler der Hypatia, psychologisch am interessantesten
formuliert worden ist. In seinem Buch de somniis[56] weist er dem
spiritus phantasticus praktisch dieselbe Stelle in der Psychologie
an, wie Schiller dem Spieltrieb und ich der schöpferischen Phantasie,
nur drückt er sich statt psychologisch _metaphysisch_ aus, was
für unsere Zwecke aber wie ein alter Sprachgebrauch nicht in Betracht
fällt. Synesius sagt von ihm: „Spiritus phantasticus inter aeterna
et temporalia medius est, quo et plurimum vivimus.“ Der Spiritus
phantasticus einigt in sich die Gegensätze, und daher begibt er sich
auch in die Triebnatur hinunter bis zum Tierischen, wo er zum Instinkt
wird und zum Erreger dämonischer Begierden: „Vendicat enim sibi
spiritus hic aliquid velut proprium, tanquam ex vicinis quibusdam ab
extremis utrisque, et quae tam longe disjuncta sunt, occurrunt in una
natura. Atqui essentiae phantasticae latitudinem natura per multas
rerum sortes extendit, descendit utique usque ad animalia, quibus
non adest ulterius intellectus. -- Atque est animalis ipsius ratio,
multaque per phantasticam hanc essentiam sapit animal etc. -- Tota
genera daemonum ex ejusmodi vita suam sortiuntur essentiam. Illa enim
ex toto suo esse imaginaria sunt, et iis quae fiunt intus, imaginata.“

Die Dämonen sind ja psychologisch nichts anderes als Interferenzen des
Unbewussten, d. h. Einbrüche spontaner Natur in die Kontinuität des
bewussten Ablaufes von Seiten unbewusster Komplexe. Die Komplexe sind
Dämonen vergleichbar, die launisch unser Denken und Handeln stören,
daher das Altertum und Mittelalter schwere neurotische Störungen als
Besessenheit auffasste. Wenn also das Individuum sich konsequent
auf die eine Seite stellt, so stellt sich das Unbewusste auf die
andere und rebelliert, was natürlich gerade den neuplatonischen oder
christlichen Philosophen am meisten aufgefallen sein muss, insofern
sie den Standpunkt einer ausschliesslichen Vergeistigung vertraten.
Besonders wertvoll ist der Hinweis auf die imaginäre Natur der Dämonen.
Wie ich oben erörtert habe, ist es gerade das phantastische Element,
welches im Unbewussten mit den verdrängten Funktionen associiert ist.
Dadurch, dass das Individuum (wie wir statt individuellem Kern kürzer
sagen können) sich von den Gegensätzen nicht unterscheidet, wird es mit
ihnen identisch und dadurch innerlich zerrissen, d. h. es entsteht ein
qualvolles Uneinssein. Dies drückt _Synesius_ folgendermassen aus:
„Proinde spiritus hic animalis, quem beati spiritualem quoque animam
vocaverunt, fit deus et daemon omniformis et idolum. In hoc etiam anima
poenas exhibet.“

Durch die Teilnahme am Triebhaften wird der Geist „ein Gott und
vielgestaltiger Dämon“. Diese eigentümliche Idee wird sofort
verständlich, wenn wir uns daran erinnern, dass Empfinden und Denken
an sich collektive Funktionen sind, in die sich das Individuum (der
Geist bei Schiller) durch Nichtunterscheidung aufgelöst hat. Es wird
also dadurch zu einem Collektivwesen, d. h. gottähnlich, weil Gott eine
Collektivvorstellung vom allverbreiteten Wesen ist. „In diesem Zustand“
sagt _Synesius_, „leidet die Seele die Qual.“ Die Erlösung aber
erfolgt durch Unterscheidung, indem nämlich der Geist, wenn er „humidus
et crassus“ geworden ist, in die Tiefe heruntersinkt, d. h. ins Objekt
verwickelt wird, dagegen, wenn durch die Qual geläutert, er „trocken
und heiss“ wieder nach oben steigt, indem er sich eben durch die
feurige Qualität von der feuchten Beschaffenheit seines unterirdischen
Aufenthaltsortes unterscheidet.

Naturgemäss erhebt sich hier die Frage, vermöge welcher Kraft sich
das Unteilbare, eben das Individuum, gegen die trennenden Triebe
verteidigen könne. Dass es auf dem Wege des Spieltriebes geschehen
könne, daran denkt auch Schiller an dieser Stelle nicht mehr, denn hier
muss es sich wohl um etwas Ernsthaftes handeln, um eine bedeutende
Kraft, welche das Individuum wirksam von den Gegensätzen abzutrennen
vermag. Denn auf der einen Seite ruft der höchste Wert, das höchste
Ideal, auf der andern Seite lockt die stärkste Lust. „Jeder dieser
beiden Grundtriebe“, sagt Schiller, „strebt, sobald er zur Entwicklung
gekommen, seiner Natur nach und notwendig nach Befriedigung, aber eben
darum, weil beide notwendig und beide doch nach entgegengesetzten
Objekten streben, so hebt diese doppelte Nötigung sich gegenseitig
auf, und der _Wille_ behauptet eine vollkommene Freyheit zwischen
beiden. Der Wille ist es also, der sich gegen beide Triebe als eine
Macht verhält, aber keiner von beiden kann sich für sich selbst, als
eine Macht gegen den andern verhalten.“ „Es gibt in dem Menschen keine
andere Macht als seinen Willen, und nur was den Menschen aufhebt,
der Tod und jeder Raub des Bewusstseins kann die innere Freyheit
aufheben.“[57]

Es ist richtig, dass _logisch_ sich die Gegensätze aufheben,
aber _praktisch_ ist dem nicht so, sondern praktisch stehen die
Triebe aktiv gegeneinander und verursachen den zunächst unauflösbaren
Konflikt. Der Wille könnte zwar entscheiden, aber nur dann, wenn wir
jenen Zustand, der eben erst noch zu erreichen ist, antizipieren. Aber
noch ist das Problem, wie der Mensch aus der Barbarei herauskommt,
nicht gelöst, und noch ist jener Zustand nicht hergestellt, der
allein dem Willen diejenige Richtung verleihen könnte, welche beiden
Trieben gerecht wird und sie vereinigt. Es ist eben das Zeichen des
barbarischen Zustandes, dass der Wille einseitig durch die eine
Funktion bestimmt ist, denn der Wille muss doch einen Inhalt, ein Ziel
haben. Und wie ist dieses Ziel gegeben? Wie anders, als durch einen
vorhergehenden psychischen Prozess, der durch ein intellektuelles
oder gefühlsmässiges Urteil oder durch ein sinnliches Begehren
dem Willen den Inhalt und das Ziel gibt? Geben wir dem sinnlichen
Begehren als einem Willensmotiv nach, so handeln wir dem einen Trieb
entsprechend gegen unser rationales Urteil. Überlassen wir es dagegen
dem rationalen Urteil, den Streit zu schlichten, so wird auch die
gerechteste Verteilung der Berücksichtigung sich doch immer auf das
rationale Urteil stützen und daher dem andern Trieb ein Vorrecht über
die Sinnlichkeit einräumen. Der Wille wird unter allen Umständen bald
mehr von dieser, bald mehr von jener Seite bestimmt sein, solange er
nämlich darauf angewiesen ist, seine Inhalte von der einen oder andern
Seite zu beziehen. Damit er aber wirklich den Streit entscheiden
könnte, müsste er sich auf einen mittlern Zustand oder Prozess gründen,
der ihm einen Inhalt gibt, welcher weder der einen noch der andern
Seite zu nahe oder zu ferne ist. Dieser Inhalt müsste, nach Schillers
Definition, ein _symbolischer_ sein, denn nur dem Symbol kann
die vermittelnde Stellung zwischen den Gegensätzen zukommen. Die
Wirklichkeit, welche der eine Trieb voraussetzt, ist eine andere
als die des andern Triebes. Sie wäre jener andern _unwirklich_
oder _Schein_ und vice versa. Dem Symbol aber kommt dieser
Doppelcharakter des Realen und Irrealen zu. Es wäre kein Symbol, wenn
es nur real wäre, denn dann wäre es eine reale Erscheinung, die nicht
symbolisch sein könnte. Symbolisch kann aber nur sein, was im einen
auch noch das andere einschliesst. Wenn es irreal wäre, so wäre es
nichts als eine leere Imagination, die sich auf nichts Reales bezöge,
und wäre auf diese Weise auch kein Symbol.

Die rationalen Funktionen sind ihrer Natur nach unfähig, Symbole zu
erzeugen, denn sie produzieren nur Rationales, welches eindeutig
bestimmt ist und nicht zugleich auch das andere, Entgegengesetzte,
einschliesst. Die Funktionen der Sinnlichkeit sind ebenfalls unfähig,
Symbole zu erzeugen, denn sie sind auch eindeutig bestimmt durch
das Objekt und enthalten nur sich und nicht das andere. Man müsste
also, um jene unparteiische Basis für den Willen aufzusuchen, sich
an eine andere Instanz wenden, bei welcher die Gegensätze nicht klar
geschieden, sondern noch ursprünglich geeint sind. Dies ist offenkundig
beim Bewusstsein nicht der Fall. Denn das Bewusstsein ist seinem ganzen
Wesen nach _Diskrimination_, Unterscheidung von Ich und Nicht-Ich,
Subjekt und Objekt, Ja und Nein, usw. Der bewussten Unterscheidung
ist überhaupt die Trennung der Gegensatzpaare zu verdanken, denn das
Bewusstsein allein kann das Passende erkennen und vom Nichtpassenden
oder Wertlosen unterscheiden. Es allein kann diese Funktion für
wertvoll und jene für wertlos erklären, und darum dieser die Kraft des
Willens leihen und damit die Ansprüche jener niederhalten. Wo aber kein
Bewusstsein ist, wo noch unbewusst Instinktmässiges die Herrschaft
führt, da ist keine Überlegung, kein pro et contra, keine Uneinigkeit,
sondern einfaches Geschehen, geordnete Triebmässigkeit, Proportion des
Lebens. (Insofern nämlich der Instinkt nicht Situationen begegnet,
denen er unangepasst ist. In diesem Falle tritt Aufstauung, Affekt,
Konfusion und Panik ein.)

Es wäre also aussichtslos, wenn man sich zur Entscheidung des
Konfliktes zwischen den Trieben an das Bewusstsein wendete. Eine
bewusste Entscheidung wäre blosse Willkür und könnte daher dem Willen
nie jenen symbolischen Inhalt verleihen, der allein imstande ist,
einen logischen Gegensatz irrational zu vermitteln. Dazu müssen
wir tiefer gehen, wir müssen hinuntergreifen in jene Grundlagen
des Bewusstseins, welche ihre ursprüngliche Instinktmässigkeit
noch erhalten haben, nämlich ins Unbewusste, wo alle psychischen
Funktionen ununterschieden zusammenfliessen in die ursprüngliche und
fundamentale Aktivität des Psychischen. Die mangelnde Unterschiedenheit
im Unbewussten rührt zunächst von der fast unmittelbaren Verknüpfung
aller Gehirnzentren unter sich her und dann, in zweiter Linie, von dem
relativ schwachen energetischen Werte der unbewussten Elemente.[58]
Dass sie relativ wenig Energie besitzen, geht daraus hervor, dass ein
unbewusstes Element, wenn es je eine stärkere Betonung erhält, auch
sofort aufhört, subliminal zu bleiben, indem es dann nämlich über
die Schwelle des Bewusstseins emporsteigt, wozu es nur vermöge einer
besondern ihm innewohnenden Energie befähigt ist. Es wird dadurch
zum „Einfall“, zur „freisteigenden Vorstellung“ (_Herbart_).
Die starken energetischen Werte der Bewusstseinsinhalte wirken wie
eine intensive Beleuchtung, wodurch deren Unterschiede deutlich
erkennbar und Verwechslungen ausgeschlossen werden. Im Unbewussten
dagegen unterschieben sich die heterogensten Elemente gegenseitig,
insofern sie auch nur eine vage Analogie besitzen, eben vermöge ihrer
geringen Helligkeit, ihres schwachen energetischen Wertes. Sogar
heterogene Sinneseindrücke verschmelzen, wie wir bei den „Photismen“
(_Bleuler_), der „audition coloriée“ sehen. Auch enthält die
Sprache nicht weniges von diesen unbewussten Verschmelzungen, wie ich
dies z. B. für Ton, Licht und Gemütszustände gezeigt habe.[59] Das
Unbewusste also dürfte jene psychische Instanz sein, wo all das, was
im Bewusstsein getrennt und gegensätzlich ist, in Gruppierungen und
Gestaltungen zusammenfliesst, welche, wenn als solche zum Lichte des
Bewusstseins emporgehoben, eine Natur zeigen, die Bestandteile der
einen Seite sowohl wie der andern aufweist, ohne jedoch zu dieser
oder jener Seite zu gehören, sondern eine selbständige Mittelstellung
beansprucht. Diese ihre Mittelstellung macht ihren Wert und Unwert fürs
Bewusstsein aus, einen Unwert insofern als unmittelbar nichts deutlich
Unterscheidbares an ihrer Gruppierung wahrzunehmen ist, weshalb das
Bewusstsein in Verlegenheit darüber gerät, was damit anzufangen sei:
einen Wert aber insofern, als gerade ihr Nichtunterscheidbares jenen
symbolischen Charakter ergibt, welcher dem Inhalte eines vermittelnden
Willens zukommen muss. Ausser dem Willen, der ganz von seinem Inhalt
abhängt, ist dem Menschen als Hilfsmittel noch jene Mutterstätte
der schöpferischen Phantasie, das Unbewusste, gegeben, welches
jederzeit die Symbole auf dem Wege des Naturprozesses der elementaren
psychischen Tätigkeit zu bilden vermag, die Symbole, welche zur
Bestimmung des vermittelnden Willens dienen _können_. Ich sage
„können“, weil das Symbol nicht eo ipso in die Lücke tritt, sondern im
Unbewussten bleibt, und zwar so lange, als die energetischen Werte der
Bewusstseinsinhalte den Wert des unbewussten Symbols übersteigen. Unter
normalen Bedingungen ist dies aber immer der Fall, und unter abnormen
Bedingungen handelt es sich um eine Umkehrung der Wertverteilung, wobei
dem Unbewussten ein höherer Wert zukommt, als dem Bewussten. In diesem
Falle tritt zwar das Symbol an die Oberfläche des Bewusstseins heraus,
ohne aber eine Aufnahme beim bewussten Willen und bei den exekutiven
bewussten Funktionen zu finden, indem diese nämlich, wegen der
Umkehrung der Werte, _subliminal_ geworden sind. Das Unbewusste
ist _superliminal_ geworden, wodurch ein geistig abnormer Zustand,
eine Geistesstörung, eingetreten ist.

Unter normalen Bedingungen daher ist dem unbewussten Symbol
_künstlich_ Energie zuzuführen, um es höherwertig zu machen
und dadurch dem Bewusstsein zuzuführen. Dies geschieht -- und damit
schliessen wir uns wieder dem durch Schiller angeregten Gedanken der
Unterscheidung an -- durch eine Unterscheidung des _Selbst_ von
den Gegensätzen. Die Unterscheidung ist gleichbedeutend mit einem
Zurückziehen der Libido von beiden Seiten, insoweit die _Libido
disponibel_ ist. Die in den Trieben investierte Libido ist nämlich
nur zu einem gewissen Teil frei disponibel, genau soweit als die
Willenskraft reicht, als welche diejenige Energiemenge darstellt,
die das Ich zu „freier“ Verfügung hat. Der Wille hat in diesem Fall
das Selbst zum möglichen Ziele. Dieses Ziel ist umso möglicher, je
mehr die weitere Entwicklung durch den Konflikt stillgestellt ist.
Der Wille entscheidet in diesem Falle nicht zwischen den Gegensätzen,
_sondern bloss für das Selbst_, d. h. die disponible Energie wird
auf das Selbst zurückgezogen, mit andern Worten _introvertiert_.
Die Introversion bedeutet bloss, dass die Libido beim Selbst gehalten
und ihr verwehrt wird, an den streitenden Gegensätzen teilzunehmen.
Da ihr der Weg nach aussen versperrt ist, so wendet sie sich
natürlich dem Denken zu, wodurch sie wiederum in Gefahr ist, in den
Konflikt hineinzugeraten. Es gehört zum Akte der Unterscheidung
und Introversion, dass die disponible Libido nicht nur vom äussern
Objekt, sondern auch vom innern Objekt, nämlich vom Gedanken, gelöst
wird. Dadurch wird sie gänzlich objektlos, sie ist auf nichts mehr
bezogen, was Bewusstseinsinhalt sein könnte, und versinkt daher ins
Unbewusste, wo sie das bereitliegende Phantasiematerial automatisch
ergreift, und es dadurch zum Emporsteigen bewegt. Schillers Ausdruck
für das Symbol, nämlich „lebende Gestalt“, ist glücklich gewählt,
weil das emporgehobene Phantasiematerial Bilder der psychologischen
Entwicklung des Individuums in seinen nachfolgenden Zuständen enthält,
gewissermassen eine Vorzeichnung oder Schilderung des weitern Weges
zwischen den Gegensätzen. Wenn schon die diskriminierende Tätigkeit
des Bewusstseins öfters nicht viel an den Bildern unmittelbar zu
verstehen findet, so enthalten diese Intuitionen doch eine lebendige
Kraft, welche auf den Willen bestimmend wirken kann. Die Bestimmung
des Willens übt sich nach beiden Seiten aus, wodurch nach einiger
Zeit die Gegensätze wieder stärker werden. Der erneute Konflikt aber
nötigt wieder zum selben eben geschilderten Prozess, wodurch immer
wieder ein weiterer Schritt ermöglicht wird. Ich habe diese Funktion
der Vermittlung der Gegensätze als _transscendente Funktion_
bezeichnet, worunter ich also nichts Geheimnisvolles, sondern bloss
eine Funktion bewusster und unbewusster Elemente oder, etwa wie in der
Mathematik, eine gemeinsame Funktion realer und imaginärer Grössen
verstehe.[60] Wir haben ausser dem Willen -- dessen Wichtigkeit damit
nicht geleugnet werden soll -- noch die schöpferische Phantasie
als eine irrationale instinktmässige Funktion, welche allein dem
Willen einen Inhalt von einer Beschaffenheit, welche die Gegensätze
zusammenführt, zu geben vermag. Diese Funktion ist es, die Schiller
wohl intuitiv als Symbolquelle erfasste, aber als „Spieltrieb“
bezeichnete und darum für die Motivierung des Willens nicht weiter
nutzbar machen konnte. Um zum Willensinhalt zu gelangen, rekurrierte
er zur Vernunft, und damit gerät er auf die eine Seite. Er ist aber
unserm Problem überraschend nahe gekommen, wenn er sagt: „Jene Macht
der Empfindung muss also vernichtet werden, ehe das Gesetz (der
vernünftige Willen nämlich) dazu erhoben werden kann. Es ist also
nicht damit getan, dass etwas anfange, was noch nicht war. Der Mensch
kann nicht unmittelbar vom Empfinden zum Denken übergehen; _er muss
einen Schritt zurücktun_, weil nur, indem eine Determination wieder
aufgehoben wird, die entgegengesetzte eintreten kann. Er muss also --
augenblicklich von aller Bestimmung frey seyn und einen Zustand der
blossen Bestimmbarkeit durchlaufen. Mithin muss er auf gewisse Weise zu
jenem negativen Zustand der blossen Bestimmungslosigkeit zurückkehren,
in welchem er sich befand, ehe noch irgend etwas auf seinen Sinn
einen Eindruck machte. Jener Zustand aber war an Inhalt völlig leer,
und jetzt kommt es darauf an, eine gleiche Bestimmungslosigkeit, und
eine gleich unbegrenzte Bestimmbarkeit mit dem grösstmöglichen Gehalt
zu vereinbaren, weil unmittelbar aus diesem Zustand etwas Positives
erfolgen soll. Die Bestimmung, die er durch Sensation empfangen, muss
also festgehalten werden, weil er die Realität nicht verlieren darf;
zugleich aber muss sie, insofern sie Begrenzung ist, aufgehoben werden,
weil eine unbegrenzte Bestimmbarkeit stattfinden soll.“[61]

Diese schwer verständliche Stelle kann nunmehr an Hand des Obengesagten
leicht verstanden werden, wenn wir nur immer im Auge behalten, dass
Schiller beständig geneigt ist, die Lösung beim vernünftigen Willen
zu suchen. Dieses Moment muss weggedacht werden. Dann aber ist das,
was er sagt, völlig klar. Der Schritt zurück ist die Unterscheidung
von den gegensätzlichen Trieben, die Ablösung und Zurückziehung
der Libido von den innern und äussern Objekten. Schiller hat hier
allerdings zunächst das sinnliche Objekt im Auge, indem es ihm, wie
schon gesagt, immer darum zu tun ist, auf die Seite des vernünftigen
Denkens hinüberzugelangen, das ihm zur Willensbestimmung unerlässlich
zu sein scheint. Jedoch drängt sich ihm die Notwendigkeit, jede
Bestimmung aufzuheben, trotzdem auf. Damit ist implicite auch die
Ablösung vom innern Objekt, der Idee, gegeben, sonst wäre es unmöglich,
zu einer völligen Inhalts- und Bestimmungslosigkeit zu gelangen,
also zu jenem ursprünglichen Zustand der Unbewusstheit, wo noch
kein diskriminierendes Bewusstsein Subjekt und Objekt setzte. Damit
meint Schiller offenkundig dasselbe, was ich als _Introversion ins
Unbewusste_ formuliert habe.

Die „unbegrenzte Bestimmbarkeit“ bedeutet offenbar etwas Ähnliches, wie
der Zustand des Unbewussten, in welchem alles auf alles unterschiedslos
wirken kann. Dieser leere Zustand des Bewusstseins soll mit dem
„grösstmöglichen Gehalt vereinbart“ werden. Dieser Gehalt, als das
Gegenstück zur Leere des Bewusstseins, kann nur der unbewusste Inhalt
sein, denn irgend ein anderer Inhalt ist nicht gegeben. Damit ist
offenbar die Vereinigung vom Unbewussten und Bewussten ausgedrückt,
und „aus diesem Zustand soll etwas Positives“ erfolgen. Dieses
„Positive“ ist für uns die _symbolische Bestimmung des Willens_.
Für Schiller ist es ein „mittlerer Zustand“, durch den die Vereinigung
von Empfinden und Denken erfolgt. Er nennt ihn eine „mittlere
Stimmung“, in welcher Sinnlichkeit und Vernunft zugleich tätig sind,
eben deswegen aber ihre bestimmende Gewalt gegenseitig aufheben, und
durch eine Entgegensetzung eine Negation bewirken. Die Aufhebung der
Gegensätze bewirkt eine Leere, die wir eben das Unbewusste nennen.
Dieser Zustand ist, weil nicht durch die Gegensätze bestimmt, jeder
Bestimmung zugänglich. Schiller nennt ihn einen „_aesthetischen_“
Zustand. (l. c. p. 105.) Es ist merkwürdig, dass er dabei übersieht,
dass Sinnlichkeit und Vernunft in diesem Zustand nicht zugleich „tätig“
sein können, denn wie Schiller selbst sagt, sind sie ja aufgehoben
durch gegenseitige Negation. Da aber doch etwas tätig sein muss und
Schiller keine andere Funktion zur Verfügung hat, so müssen eben
für ihn wieder die Gegensatzpaare tätig sein. Ihre Tätigkeit ist
allerdings vorhanden, aber da das Bewusstsein „leer“ ist, so muss
sie notwendigerweise im Unbewussten sein.[62] Dieser Begriff aber
fehlt Schiller, weshalb er hier widerspruchsvoll wird. Die mittlere
ästhetische Funktion würde daher unserer symbolbildenden Tätigkeit,
der schöpferischen Phantasie, gleichkommen. Schiller definiert die
„aesthetische Beschaffenheit“ als die Beziehung einer Sache „auf
das Ganze unserer verschiedenen Kräfte (Seelenvermögen), ohne für
eine einzelne derselben ein bestimmtes Objekt zu seyn.“ Er hätte
vielleicht besser getan, statt dieser vagen Definition hier auf seinen
frühern Begriff des Symbols zurückzukommen, denn das Symbol hat die
Qualität, dass es sich auf alle psychischen Funktionen bezieht, ohne
ein bestimmtes Objekt einer einzelnen derselben zu sein. Als Erfolg
der Erreichung dieser mittlern Stimmung sieht Schiller die Tatsache
an, dass es dem Menschen „nunmehr von Natur wegen möglich gemacht
ist, aus sich selbst zu machen, was er will -- dass ihm die Freyheit,
zu seyn, was er seyn soll, vollkommen zurückgegeben ist.“ Weil
Schiller vorzugsweise intellektuell und rational verfährt, so fällt
er seinem Urteil zum Opfer. Dies zeigt schon die Wahl des Ausdruckes
„ästhetisch“. Wenn er bekannt gewesen wäre mit der indischen Literatur,
so hätte er gesehen, dass das _urtümliche Bild_, das ihm innerlich
vorschwebt, eine ganz andere Bedeutung hat, als eine „ästhetische“.
Seine Intuition fand das unbewusste Modell, das seit Alters in unserm
Geiste bereit liegt. Er deutet es aber als „ästhetisch“, obschon
er selber zuerst das Symbolische hervorgehoben hat. Das urtümliche
Bild, das ich meine, ist jene eigenartige Ideenbildung des Ostens,
die sich in Indien zur _Brahman-Atmanlehre_ verdichtet hat, in
China aber ihren philosophischen Vertreter in _Lao-tse_ fand.
Die indische Auffassung lehrt die Befreiung von den Gegensätzen,
als welche alle affektiven Zustände und emotionalen Bindungen ans
Objekt verstanden sind. Die Befreiung erfolgt nach Zurückziehung der
Libido von allen Inhalten, wodurch eine völlige Introversion eintritt.
Dieser psychologische Vorgang wird in sehr charakteristischer Weise
als _tapas_ bezeichnet, das man am besten als Selbstbebrütung
wiedergibt. Dieser Ausdruck schildert trefflich den Zustand der
inhaltlosen Meditation, in welchem die Libido gewissermassen als
Brutwärme dem eigenen Selbst zugeführt wird. Durch die völlige
Abziehung aller Funktionen vom Objekt entsteht notwendigerweise im
Innern (im Selbst) ein Äquivalent der objektiven Realität, resp.
eine völlige Identität des Innen und des Aussen, welche technisch
als das tat twam asi (das bist du) bezeichnet werden kann. Durch die
Zusammenschmelzungen des Selbst mit den Beziehungen zum Objekt entsteht
die Identität des Selbst (Atman) mit dem Wesen der Welt (d. h. mit
den Beziehungen des Subjektes zum Objekt), sodass die Identität des
innern und äussern Atman erkannt wird. Der Begriff des Brahman ist
nur um weniges verschieden vom Begriff des Atman, indem in Brahman
der Begriff des Selbst nicht explicite gegeben ist, sondern bloss
ein sozusagen allgemeiner, nicht näher zu definierender Zustand der
Identität des Innern und Äussern. Ein zu _tapas_ in gewissem Sinne
paralleler Begriff ist _yoga_, worunter weniger ein Zustand der
Meditation, als eine bewusste Technik der Erzielung des tapas-Zustandes
zu verstehen ist. Yoga ist eine Methode, nach der die Libido planmässig
„eingezogen“ und dadurch aus den Gegensatzbindungen befreit wird.
Der Zweck von tapas und yoga ist die Herstellung eines mittlern
Zustandes, aus dem das Schöpferische und Erlösende hervorgeht. Der
psychologische Erfolg für den Einzelnen ist die Erreichung des Brahman,
des „höchsten Lichtes“, oder „ânanda“ (Wonne). Dies ist der Endzweck
der Erlösungsübung. Zugleich ist aber auch derselbe Vorgang als
kosmogonisch gedacht, indem aus Brahman-Atman als Weltgrund die ganze
Schöpfung hervorgeht. Der kosmogonische Mythus ist, wie jeder Mythus,
eine Projektion unbewusster Vorgänge. Die Existenz dieses Mythus
beweist also, dass im Unbewussten des tapas-Übenden schöpferische
Vorgänge stattfinden, welche zu verstehen sind als Neuadjustierungen
gegenüber dem Objekt. Schiller sagt: „Sobald es _Licht_ wird
in dem Menschen, ist auch ausser ihm keine Nacht mehr. Sobald es
stille wird in ihm, legt sich auch der Sturm in dem Weltall, und die
streitenden Kräfte der Natur finden Ruhe zwischen bleibenden Grenzen.
Daher kein Wunder, wenn die uralten Dichtungen von dieser grossen
Begebenheit im Innern des Menschen als von einer Revolution in der
Aussenwelt reden“ etc.[63] Durch Yoga werden die Beziehungen zum
Objekt introvertiert und durch Beraubung des Wertes ins Unbewusste
versenkt, worin sie, wie oben dargestellt, neue Associationen mit
andern unbewussten Inhalten eingehen können und darum, nach Vollendung
der tapas-Übung, verändert wieder ans Objekt heraustreten. Durch die
Veränderung der Beziehung zum Objekt hat das Objekt ein neues Gesicht
bekommen. Es ist wie neugeschaffen; daher der kosmogonische Mythus
ein treffendes Symbol für das Resultat der tapas-Übung ist. In der
sozusagen ausschliesslich introvertierenden Richtung der indischen
Religionsübung hat die Neuanpassung ans Objekt allerdings keine
Bedeutung, sondern verharrt als unbewusst projizierter kosmogonischer
Lehrmythus, ohne zu praktischer Neugestaltung zu gelangen. Hierin steht
die indische religiöse Einstellung der abendländisch-christlichen
sozusagen diametral gegenüber, indem das christliche Prinzip der Liebe
extravertierend ist und des äussern Objektes unbedingt bedarf. Das
erstere Prinzip gewinnt dafür den Reichtum der Erkenntnis, das letztere
die Fülle der Werke.

Im Begriff des Brahman ist auch der Begriff des _ritam_ (rechter
Gang), die Weltordnung, enthalten. In Brahman, als dem schöpferischen
Weltwesen und Weltgrunde kommen die Dinge auf den rechten Weg,
denn in ihm sind sie ewig aufgelöst und neugeschaffen; aus Brahman
erfolgt alle Entwicklung auf geordnetem Wege. Der Begriff des ritam
führt uns hinüber zum Begriff des Tao bei _Lao-tse_. Tao ist
der „rechte Weg“, das gesetzmässige Walten, eine mittlere Strasse
zwischen den Gegensätzen, befreit von ihnen und sie doch in sich
einigend. Der Sinn des Lebens ist, diese Bahn des Mittlern zu wandeln
und nie in die Gegensätze abzuschweifen. Das ekstatische Moment fehlt
bei _Lao-tse_ gänzlich; es ist ersetzt durch eine überlegene
philosophische Klarheit, durch eine, von keinem mystischen Nebel
getrübte intellektuelle und intuitive Weisheit, welche wohl das
schlechthin Höchsterreichbare an geistiger Überlegenheit darstellt,
und darum auch des Chaotischen in dem Grade ermangelt, dass sie sich
in Gestirnsweite vom Ungeordneten dieser wirklichen Welt entfernt.
Sie zähmt alles Wilde, ohne es läuternd zu ergreifen und in Höheres
umzugestalten.

Man könnte leicht den Einwand erheben, die Analogie der Schillerschen
Gedankengänge mit diesen anscheinend entlegenen Ideen sei weit
hergeholt. Es ist aber nicht zu übersehen, dass bald nach Schiller
eben dieselben Ideen sich mit Macht im Genius _Schopenhauers_
durchgedrängt und sich mit dem abendländischen germanischen Geist aufs
Innigste vermählt haben, um von da an bis jetzt nicht mehr daraus
zu verschwinden. Es will meines Erachtens wenig bedeuten, dass die
lateinische Upanishadübersetzung des _Anquetil du Perron_ (1802)
Schopenhauer zugänglich war, während Schiller auf die zu seiner
Zeit noch sehr spärlichen Nachrichten jedenfalls keine bewusste
Beziehung nimmt. Ich habe in meiner praktischen Erfahrung zur Genüge
gesehen, dass es direkter Übermittlungen nicht bedarf, um solche
Verwandtschaften zu erzeugen. Wir sehen ja etwas ganz Ähnliches bei
den Grundanschauungen _Meister Eckeharts_ und auch zum Teil
_Kants_, die eine ganz erstaunliche Ähnlichkeit mit den Ideen der
Upanishads haben, ohne im mindesten unmittelbar oder mittelbar deren
Einwirkung erfahren zu haben. Es ist dasselbe, wie mit den Mythen und
Symbolen, die in allen Winkeln der Erde autochthon entstehen können
und trotzdem identisch sind, weil sie eben aus demselben und überall
verbreiteten menschlichen Unbewussten erzeugt werden, dessen Inhalte
unendlich weniger verschieden sind, als die Rassen und Individuen.

Ich halte es auch für nötig, die Parallele der Schillerschen zu den
Gedanken des Ostens zu ziehen, damit nämlich die Gedanken Schillers
aus dem zu engen Gewande des Ästhetismus[64] befreit werden. Der
Ästhetismus ist ungeeignet, die überaus ernste und schwere Aufgabe der
Erziehung des Menschen zu lösen, indem er immer das schon voraussetzt,
was er eben erzeugen sollte, nämlich die Fähigkeit der Liebe zur
Schönheit. Er verhindert geradezu eine Vertiefung des Problems,
indem er immer vom Übeln, Hässlichen und Schweren wegblickt und nach
dem Genuss zielt, wenn auch nach einem edeln. Darum mangelt auch
dem Ästhetismus jede sittlich motivierende Kraft, da er im tiefsten
Wesen doch nur verfeinerter Hedonismus ist. Schiller gibt sich zwar
Mühe, ein unbedingtes sittliches Motiv hereinzubringen, ohne dass
ihm dies aber überzeugend gelänge, denn es ist ihm, eben wegen der
ästhetischen Einstellung, unmöglich zu sehen, zu was für Konsequenzen
die Anerkennung der andern Seite der menschlichen Natur führt.
Der Konflikt, der nämlich dadurch entsteht, bedeutet eine solche
Verwirrung und ein solches Leiden für den Menschen, dass er durch den
Anblick des Schönen im besten Falle den Gegensatz wieder verdrängen
kann, ohne sich aber davon zu erlösen, womit der alte Zustand --
bestenfalls -- wieder hergestellt ist. Um dem Menschen aus diesem
Konflikt herauszuhelfen, bedarf es einer andern Einstellung als der
ästhetischen. Dies zeigt eben die Parallele mit den Ideen des Ostens.
Die indische Religionsphilosophie hat dieses Problem in seiner ganzen
Tiefe erfasst und gezeigt, welcher Kategorie von Mitteln es bedarf,
um die Lösung des Konfliktes zu ermöglichen. Es bedarf für sie der
höchsten sittlichen Anstrengung, der grössten Selbstverleugnung
und Aufopferung, der höchsten religiösen Ernsthaftigkeit, der
eigentlichen Heiligkeit. Wie bekannt, hat _Schopenhauer_ bei
aller Anerkennung des Ästhetischen, gerade diese Seite des Problems
am deutlichsten hervorgehoben. Wir dürfen nun allerdings keineswegs
der Täuschung verfallen, dass die Worte „ästhetisch“ „Schönheit“ etc.
für Schiller ebenso geklungen hätten, wie für uns. Ich sage wohl
nicht zu viel, wenn ich behaupte, dass die „Schönheit“ für Schiller
ein _religiöses Ideal_ war. Schönheit war seine Religion. Seine
„ästhetische Stimmung“ liesse sich wohl ebenso gut mit „religiöse
Andacht“ wiedergeben. Ohne etwas Derartiges auszusprechen und ohne
sein Kernproblem explicite als ein religiöses zu bezeichnen, ist
Schillers Intuition aber zum religiösen Problem gekommen, allerdings
zum religiösen Problem des Primitiven, das er in seiner Untersuchung
sogar ziemlich ausführlich erörtert, ohne diese Linie bis zum Ende
durchzuführen. Es ist merkwürdig, dass im weitern Verlauf seiner
Überlegungen die Frage des „Spieltriebes“ ganz in den Hintergrund
tritt zu Gunsten des Begriffes der ästhetischen Stimmung, welche
eine beinahe mystische Bewertung zu erlangen scheint. Ich glaube,
das ist nicht zufällig, sondern beruht auf einem bestimmten Grunde.
Es sind oftmals gerade die besten und tiefsten Gedanken eines Werkes,
welche sich am hartnäckigsten einer klaren Erfassung und Formulierung
widersetzen, wenn schon sie an verschiedenen Orten angedeutet und
daher eigentlich genügend bereit wären, um ihre Synthese zu einem
klaren Ausdruck zu ermöglichen. Es scheint mir, als ob auch hier eine
solche Schwierigkeit vorläge. Zum Begriff der „ästhetischen Stimmung“
als eines mittlern schöpferischen Zustandes bringt Schiller selber
Gedanken bei, welche unschwer die Tiefe und Ernsthaftigkeit dieses
Begriffes erkennen lassen. Andererseits sah er ebenso deutlich den
„Spieltrieb“ als jene gesuchte mittlere Tätigkeit. Man kann nun nicht
leugnen, dass diese beiden Fassungen in einem gewissen Gegensatz
zu einander stehen, indem sich Spiel und Ernst schwer vertragen
wollen. Der Ernst kommt durch tiefe innere Nötigung, das Spiel aber
ist ihr äusserer Ausdruck, ihr dem Bewusstsein zugewendeter Aspekt.
Es handelt sich, wohlverstanden, nicht um ein _Spielenwollen_,
sondern um ein _Spielenmüssen_, eine spielerische Betätigung
der Phantasie durch _innere_ Nötigung, ohne Zwang der Umstände,
ohne Zwang des Willens auch. _Es ist ein ernstes Spiel._[65]
Und doch ist es Spiel, von Aussen, vom Bewusstsein, d. h. also vom
Standpunkt des Collektivurteils gesehen. Aber es ist ein Spiel aus
innerer Nötigung. Das ist die zweideutige Eigenschaft, die allem
Schöpferischen anhaftet. Verläuft das Spiel in sich selbst, ohne ein
Dauerndes und Lebendiges zu erzeugen, so war es eben nur Spiel, im
andern Fall aber nennt man es Schöpferarbeit. Aus einer spielerischen
Bewegung von Faktoren, deren Beziehungen zunächst nicht feststehen,
entstehen die Gruppierungen, welche ein beobachtender und kritischer
Intellekt erst nachträglich bewertet. Die Erzeugung des Neuen besorgt
nicht der Intellekt, sondern der Spieltrieb aus innerer Nötigung. Der
schaffende Geist spielt mit den Objekten, die er liebt. Daher man
leicht jede schöpferische Tätigkeit, deren Möglichkeiten der Menge
verborgen bleiben, als Spielerei ansehen kann. Es gibt wohl sehr wenige
schöpferische Menschen, denen Spielerei nicht vorgeworfen wurde. Für
den genialen Menschen, wie es Schiller war, ist man wohl geneigt,
diese Gesichtspunkte gelten zu lassen. Aber er selber möchte über den
Ausnahmemenschen und seine Art hinaus und zum allgemeinern Menschen
gelangen, um auch ihm das Fördernde und Erlösende zu Teil werden zu
lassen, das der Schöpfer sowieso schon aus stärkster innerer Nötigung
gar nicht vermeiden kann. Die Möglichkeit der Ausdehnung eines solchen
Gesichtspunktes auf die Erziehung des Menschen überhaupt ist aber nicht
von vornherein gewährleistet, sie scheint es wenigstens nicht zu sein.

Zur Entscheidung dieser Frage müssen wir, wie immer in solchen Fällen,
die Zeugnisse der menschlichen Geistesgeschichte anrufen. Dazu ist es
nötig, dass wir uns noch einmal vergegenwärtigen, von welcher Basis
wir bei der Behandlung dieser Frage ausgehen: wir haben gesehen, dass
Schiller eine Loslösung von den Gegensätzen fordert bis zu einer
völligen Leere des Bewusstseins, in der also weder Empfindungen, noch
Gefühle, noch Gedanken, noch Absichten irgendwie eine Rolle spielen.
Dieser erstrebte Zustand ist also ein Zustand eines undifferenzierten
Bewusstseins, oder eines Bewusstseins, in dem durch Depotenzierung
der energetischen Werte alle Inhalte ihre Unterschiedenheit eingebüsst
haben. Ein wirkliches Bewusstsein aber ist nur da möglich, wo Werte
eine Unterschiedlichkeit der Inhalte bewirken. Wo die Unterschiedenheit
fehlt, kann auch kein wirkliches Bewusstsein stattfinden. Infolgedessen
dürfen wir einen solchen Zustand als „unbewusst“ bezeichnen, obschon
die Bewusstseinsmöglichkeit jederzeit vorhanden ist. Es handelt sich
also um ein „abaissement du niveau mental“ (_Janet_) artefizieller
Natur, daher auch die Ähnlichkeit mit yoga und den Zuständen des
hypnotischen „engourdissement“. Meines Wissens hat sich Schiller
nirgends darüber ausgesprochen, wie er sich eigentlich die Technik --
um dieses Wort zu gebrauchen -- zur Erzeugung der ästhetischen Stimmung
denkt. Das Beispiel mit der Juno Ludovisi, das er beiläufig in seinen
Briefen gibt[66], zeigt uns den Zustand einer „ästhetischen Andacht“,
deren Charakter in einer völligen Hingabe an und Einfühlung in das
Objekt der Betrachtung besteht. Der Zustand dieser Andacht lässt aber
das Charakteristikum der Inhalts- und Bestimmungslosigkeit vermissen.
Das Beispiel zeigt aber immerhin, im Verein mit noch andern Stellen,
dass Schiller die Idee der „Andacht“ vorschwebt.[67] Damit greifen
wir wiederum ins Gebiet der religiösen Phänomene; zugleich eröffnet
sich uns aber auch ein Ausblick auf die tatsächliche Möglichkeit einer
Ausdehnung solcher Gesichtspunkte auf den allgemeinen Menschen. _Der
Zustand der religiösen Andacht ist ein Collektivphänomen, das nicht an
individuelle Begabung geknüpft ist._

Aber es gibt noch mehr Möglichkeiten. Wir sahen oben, dass die
Bewusstseinsleere resp. der unbewusste Zustand durch eine Versenkung
der Libido ins Unbewusste hervorgerufen wird. Im Unbewussten liegen
relativ betonte Inhalte bereit, nämlich die Reminiszenzkomplexe
der individuellen Vergangenheit, vor allem der Elternkomplex, der
identisch ist mit dem Kindheitskomplex überhaupt. Durch die Andacht,
d. h. also durch die Versenkung der Libido ins Unbewusste wird der
Kindheitskomplex reaktiviert, wodurch die Kindheitsreminiszenzen,
z. B. vor allem die Beziehungen zu den Eltern wieder belebt werden.
Die aus dieser Reaktivierung hervorgehenden Phantasien geben Anlass
zur Entstehung der Vater- und Muttergottheiten, sowie zum Erwachen
religiöser Kindschaftsbeziehungen zum Gotte und der entsprechenden
kindlichen Gefühle. Bezeichnenderweise sind es Symbole der Eltern,
welche bewusst werden und durchaus nicht immer die Bilder der
wirklichen Eltern, welche Tatsache _Freud_ durch die Verdrängung
der Elternimago aus Inzestwiderständen erklärt. Ich bin mit dieser
Erklärung einverstanden, bin aber der Ansicht, dass sie nicht
erschöpfend sei, indem sie den _ausserordentlichen Sinn dieser
symbolischen Ersetzung_ übersieht. Die Symbolisierung im Gottesbilde
bedeutet einen gewaltigen Fortschritt über den Concretismus, die
Sinnlichkeit der Reminiszenz, hinaus, indem die Regression sich durch
das Annehmen des „Symbols“ als eines wirklichen Symbols alsbald in eine
Progression verwandelt, während sie Regression bliebe, wenn das sog.
Symbol endgültig bloss als ein _Zeichen_ für die wirklichen Eltern
erklärt und damit seines selbständigen Charakters entkleidet würde.[68]
Durch das Tatsächlichnehmen des Symbols kam die Menschheit zu ihren
Göttern, d. h. zur _Tatsächlichkeit des Gedankens_, welcher den
Menschen zum Herrn der Erde gemacht hat. Die Andacht ist, wie sie
auch Schiller richtig auffasst, eine regressive Bewegung der Libido
zum Ursprünglichen, ein Hinuntertauchen in die Quelle des Anfangs.
Daraus erhebt sich als ein Bild der beginnenden Progressivbewegung
das _Symbol_, welches eine zusammenfassende Resultante aller
unbewussten Faktoren darstellt, die „_lebende Gestalt_“, wie
Schiller das Symbol nennt, ein Gottesbild, wie die Geschichte es zeigt.
Es ist daher wohl kein Zufall, dass unser Autor gerade ein Götterbild,
die Juno Ludovisi, als Paradigma erkoren hat. _Goethe_ lässt dem
Dreifuss der Mütter die Götterbilder von Paris und Helena entschweben,
das verjüngte Elternpaar einerseits, andererseits aber das Symbol
eines innern Vereinigungsprozesses, den Faust leidenschaftlich für
sich begehrt als höchste innere Versöhnung, wie die nachfolgende Szene
deutlich zeigt, und wie aus dem weitern Verlauf des zweiten Teiles
ebenso deutlich hervorgeht. Wie wir gerade an dem Beispiele des Faust
sehen können, bedeutet die Vision des Symbols einen Hinweis auf den
weitern Weg des Lebens, eine Anlockung der Libido zu einem annoch
fernen Ziel, das aber von da an unauslöschlich in ihm wirkt, sodass
sein Leben, entfacht wie eine Flamme, stetig weiter schreitet zu
fernen Zielen. Das ist auch die spezifisch lebenfördernde Bedeutung
des Symbols. Das ist auch der Wert und Sinn des religiösen Symbols.
Ich meine damit natürlich nicht dogmatisch erstarrte, tote Symbole,
sondern Symbole, die dem schaffenden Unbewussten des lebendigen
Menschen entsteigen. Die ungeheure Bedeutung solcher Symbole kann
eigentlich nur der leugnen, der die Weltgeschichte mit dem heutigen
Tage beginnen lässt. Es sollte überflüssig sein, von der Bedeutung
der Symbole zu reden, aber leider ist dem nicht so, denn der Geist
unserer Zeit glaubt sogar über seine eigene Psychologie erhaben zu
sein. Der moralisch-hygienische Standpunkt unserer Zeit will natürlich
immer wissen, ob ein solches Ding schädlich oder nützlich, richtig
oder unrichtig sei. Eine wirkliche Psychologie kann sich darum nicht
kümmern; ihr genügt es, zu erkennen, wie die Dinge an und für sich sind.

Die Symbolbildung, die sich aus dem Zustand der „Andacht“ ergibt, ist
wiederum eines jener religiösen Collektivphänomene, welche nicht an
individuelle Begabung gebunden sind. Also dürfen wir auch in diesem
Punkte eine Möglichkeit der Ausdehnung der besprochenen Gesichtspunkte
auf den allgemeinen Menschen annehmen. Damit glaube ich, wenigstens
die theoretische Möglichkeit der Schillerschen Gesichtspunkte für die
allgemeine menschliche Psychologie hinlänglich dargetan zu haben. Der
Vollständigkeit und Klarheit halber möchte ich hier noch anfügen,
dass mich die Frage der Beziehung des Bewusstseins und der bewussten
Lebensführung zum Symbol seit langem beschäftigt. Ich bin dabei zum
Schlusse gekommen, dass dem Symbol in Ansehung seiner grossen Bedeutung
als eines Repräsentanten des Unbewussten ein nicht zu kleiner Wert
beizumessen sei. Wir wissen ja aus der täglichen Erfahrung in der
Behandlung nervöser Kranken, welche eminent praktische Bedeutung die
unbewussten Interferenzen besitzen. Je grösser die Dissociation, d. h.
die Entfernung der bewussten Einstellung von den individuellen und
collektiven Inhalten des Unbewussten ist, desto grösser sind auch
die schädlichen, ja gefährlichen Hemmungen oder Verstärkungen der
Bewusstseinsinhalte durch das Unbewusste. Aus praktischen Erwägungen
heraus muss also wohl dem Symbol ein nicht unbeträchtlicher Wert
zugesprochen werden. Wenn wir dem Symbol aber einen Wert zusprechen,
gleichviel ob einen grossen oder kleinen, so erhält dadurch das
Symbol bewussten Motivwert, d. h. es wird wahrgenommen und dadurch
wird seiner unbewussten Libidobesetzung Gelegenheit zur Entfaltung in
der bewussten Lebensführung gegeben. Damit ist -- meines Erachtens
-- ein nicht unwesentlicher praktischer Vorteil gewonnen: nämlich
die _Mitarbeit des Unbewussten_, sein Zusammenfliessen mit der
bewussten psychischen Leistung und damit die Ausschaltung der störenden
Einflüsse des Unbewussten. Diese gemeinsame Funktion, die Beziehung
zum Symbol, habe ich als _transscendente Funktion_ bezeichnet.
Ich kann es mir an dieser Stelle nicht zur Aufgabe machen, dieses
Problem bis zur völligen Klarstellung durchzuführen. Dazu wäre es
unbedingt erforderlich, alle jene Materialien beizubringen, welche
sich als Resultate der unbewussten Tätigkeit ergeben. Die in der
bisherigen Fachliteratur beschriebenen Phantasien geben kein Bild von
den symbolischen Schöpfungen, um die es sich hier handelt. Wohl aber
gibt es von diesen Phantasien in der belletristischen Literatur nicht
wenige Beispiele, die aber allerdings nicht „rein“ beobachtet und
dargestellt sind, sondern eine intensive „ästhetische“ Bearbeitung
durchlaufen haben. Ich möchte unter diesen Beispielen vor allem die
beiden Werke von _Meyrink_: „Der Golem“ und „das grüne Gesicht“
hervorheben. Ich muss die Behandlung dieser Seite des Problems einer
spätern Untersuchung vorbehalten.

Mit diesen Ausführungen über den mittlern Zustand sind wir nun,
trotzdem wir uns durch Schiller haben dazu anregen lassen, weit über
seine Auffassungen hinaus gegangen. Obschon er die Gegensätze in
der menschlichen Natur scharf und tief erfasst, so bleibt er beim
Lösungsversuch auf einer anfänglichen Stufe stehen. Es scheint mir,
dass der Terminus „ästhetische Stimmung“ daran nicht unschuldig ist.
Schiller setzt nämlich die „ästhetische Stimmung“ als sozusagen
identisch mit dem _Schönen_, welches das Gemüt in diese Stimmung
versetzt.[69] Er nimmt damit nicht bloss Ursache und Wirkung zusammen,
sondern gibt auch dem Zustand der „Bestimmungslosigkeit“, ganz entgegen
seiner eigenen Definition, eine eindeutige Bestimmtheit, indem er ihn
mit dem Schönen gleichsetzt. Damit ist auch der vermittelnden Funktion
die Spitze von vornherein abgebrochen, indem sie als Schönheit ohne
weiteres die Hässlichkeit, um die es sich doch auch handelt, zu kurz
kommen lässt. Schiller definiert als „ästhetische Beschaffenheit“ einer
Sache, dass sie sich „auf das Ganze unserer verschiedenen Kräfte“
bezieht. Dementsprechend kann also „schön“ und „ästhetisch“ nicht
zusammenfallen, denn unsere verschiedenen Kräfte sind auch ästhetisch
verschieden, schön und hässlich, und nur ein unverbesserlicher Idealist
und Optimist könnte das „Ganze“ menschlicher Natur als schlechthin
„schön“ erdichten. Es ist vielmehr, wenn man gerecht sein will, einfach
tatsächlich und hat seine hellen und dunklen Seiten. Die Summe aller
Farben ist grau, hell auf dunklem, dunkel auf hellem Hintergrund.

Aus dieser begrifflichen Unfertigkeit und Unzulänglichkeit erklärt sich
auch der Umstand, dass es völlig im Dunkeln bleibt, wie denn dieser
vermittelnde Zustand hergestellt werden könnte. Es gibt zahlreiche
Stellen, aus denen unzweideutig hervorgeht, dass es der „Genuss ächter
Schönheit“ sei, der den mittlern Zustand hervorrufe. So sagt Schiller:
„Was unsern Sinnen in der unmittelbaren Empfindung schmeichelt, das
öffnet unser weiches und bewegliches Gemüt jedem Eindruck, aber macht
uns auch in demselben Grad zur Anstrengung weniger tüchtig. Was unsere
Denkkräfte anspannt und zu abgezogenen Begriffen einladet, das stärkt
unsern Geist zu jeder Art des Widerstandes, aber verhärtet ihn auch in
demselben Verhältnis, und raubt uns ebenso viel an Empfänglichkeit, als
es uns zu einer grössern Selbsttätigkeit verhilft. Eben deswegen führt
auch das eine, wie das andere, zuletzt notwendig zur Erschöpfung“,
etc. „Haben wir uns hingegen dem Genuss ächter Schönheit hingegeben,
so sind wir in einem solchen Augenblick unserer leidenden und tätigen
Kräfte im gleichen Grade Meister und mit gleicher Leichtigkeit werden
wir uns zum Ernst und zum Spiele, zur Ruhe und zur Bewegung, zur
Nachgiebigkeit und zum Widerstand, zum abstrakten Denken und zur
Anschauung wenden.“

Diese Darstellung steht in schroffem Gegensatz zu den früher
aufgestellten Bestimmungen des „ästhetischen Zustandes“, in dem der
Mensch „Null“ sein soll, bestimmungslos, während er doch hier gerade
in höchstem Mass durch die Schönheit bestimmt ist („dahingegeben“).
Es lohnt sich nicht, dieser Frage bei Schiller weiter nachzugehen.
Er ist hier an einer Grenze seiner selbst und seiner Zeit angelangt,
die ihm zu überschreiten unmöglich war, denn überall stiess er an
den unsichtbaren „hässlichsten Menschen“, dessen Entdeckung unserm
Zeitalter und _Nietzsche_ vorbehalten war.

Schiller möchte das sinnliche Wesen zu einem vernünftigen machen,
indem er es zuvor ästhetisch macht, wie er selber sagt.[70] Man muss
die Natur des sinnlichen Menschen verändern[71], sagt er, man muss
das physische Leben „der Form unterwerfen“, er muss „seine physische
Bestimmung nach den Gesetzen der Schönheit ausführen“[72], „auf dem
gleichgültigen Felde des physischen Lebens muss der Mensch sein
moralisches anfangen“[73], er muss „noch innerhalb seiner sinnlichen
Schranken seine Vernunftfreyheit beginnen“, „schon seinen Neigungen
muss er das Gesetz seines Willens auflegen“, „er muss lernen, edler
begehren“.[74]

Das „müssen“, von dem unser Autor spricht, ist das wohlbekannte
„sollen“, das immer dann angerufen wird, wenn man keinen andern Weg
sieht. Auch hier stossen wir an die unvermeidlichen Grenzen. Es wäre
ungerecht, von einem einzelnen Geiste, und wäre er noch so gross, die
Bewältigung dieses gigantischen Problems erwarten zu wollen, eines
Problems, das nur Zeiten und Völker, und auch diese nicht bewusst,
sondern nur aus Schicksal lösen können.

Die Grösse der Schillerschen Gedanken liegt in der psychologischen
Beobachtung, und intuitiven Erfassung des Beobachteten. Dazu möchte
ich noch einen seiner Gedankengänge anführen, welcher in hohem Masse
verdient hervorgehoben zu werden. Wir haben oben gesehen, dass der
mittlere Zustand charakterisiert ist durch die Hervorbringung eines
„Positiven“, nämlich des _Symbols_. Das Symbol vereinigt in
seiner Natur das Gegensätzliche, so vereinigt es auch den Gegensatz
real-irreal, indem es zwar einerseits eine psychologische Realität oder
Wirklichkeit (seiner _Wirksamkeit_ wegen) ist, andererseits aber
keiner physischen Realität entspricht. Es ist eine Tatsache und doch
ein _Schein_. Diesen Umstand hebt Schiller deutlich hervor[75],
um daran eine Apologie des _Scheins_ anzuschliessen, die in jeder
Hinsicht von Bedeutung ist.

„Die höchste Stupidität und der höchste Verstand haben darin eine
gewisse Affinität miteinander, dass Beyde nur das _Reelle_ suchen
und für den blossen Schein gänzlich unempfindlich sind. Nur durch die
unmittelbare Gegenwart eines Objektes in den Sinnen wird jene aus
ihrer Ruhe gerissen, und nur durch Zurückführung seiner Begriffe auf
Tatsachen der Erfahrung wird der letztere zur Ruhe gebracht; mit einem
Wort, die Dummheit kann sich nicht über die Wirklichkeit erheben, und
der Verstand nicht unter der Wahrheit stehen bleiben. Insofern also das
Bedürfnis der Realität und die Anhänglichkeit an das Wirkliche blosse
Folgen des Mangels sind, ist die Gleichgültigkeit gegen Realität und
das Interesse am Schein eine wahre Erweiterung der Menschheit und ein
entschiedener Schritt zur Cultur.“[76]

Als ich oben von der Werterteilung an das Symbol sprach, wies ich auf
den praktischen Vorteil, den die Bewertung des Unbewussten hat: Wir
schliessen die unbewusste Störung bewusster Funktionen aus, indem
wir das Unbewusste von vornherein durch die Berücksichtigung des
Symbols in Rechnung stellen. Das Unbewusste, wenn nicht realisiert,
ist bekanntlich immer am Werk, über alles einen falschen Schein zu
verbreiten: _es erscheint uns immer an den Objekten_, denn alles
Unbewusste ist projiziert. Wenn wir daher das Unbewusste als solches
erfassen können, so lösen wir von den Objekten den falschen Schein
ab, was der Wahrheit nur förderlich sein kann. Schiller sagt: „Dieses
menschliche Herrscherrecht übt er (der Mensch) aus in der _Kunst des
Scheins_, und je strenger er hier das Mein und Dein von einander
sondert, je sorgfältiger er die Gestalt von dem Wesen trennt, und je
mehr Selbständigkeit er derselben zu geben weiss, desto mehr wird er
nicht bloss das Reich der Schönheit erweitern, sondern selbst die
Grenzen der Wahrheit bewahren; denn er kann den Schein nicht von der
Wirklichkeit reinigen, ohne zugleich die Wirklichkeit von dem Schein
frey zu machen“.[77] „Dem selbständigen Schein nachzustreben erfordert
mehr Abstraktionsvermögen, mehr Freyheit des Herzens, mehr Energie
des Willens, als der Mensch nötig hat, um sich auf die Realität
einzuschränken, und er muss diese schon hinter sich haben, wenn er bei
jenem anlangen will.“[78]


2. Die Abhandlung über naive und sentimentalische Dichtung.

Eine Zeitlang kam es mir vor, als ob _Schillers_ Einteilung
der Dichter als _naive_ und _sentimentalische_[79] eine
Einteilung wäre nach Gesichtspunkten, die mit den hier exponierten
übereinstimmten. Nach reiflichem Nachdenken bin ich aber zum Schluss
gekommen, dass dem nicht so ist. Die Schillersche Definition ist
einfach: _Der naive Dichter ist Natur, der sentimentalische sucht
sie._ Diese einfache Formel ist insofern verführerisch, als sie
zwei verschiedene Arten der Beziehung zum Objekt aufstellt. Es läge
daher nahe, etwa zu sagen: Der, der die Natur als Objekt sucht oder
begehrt, hat sie nicht, er wäre demnach der Introvertierte, und
umgekehrt wäre der, der schon Natur selber ist, also mit dem Objekt
in innigster Beziehung steht, ein Extravertierter. Eine solche, etwas
gewaltsame Interpretation hätte aber wenig zu tun mit dem Schillerschen
Gesichtspunkt. Seine Einteilung in naiv und sentimentalisch ist eine
Einteilung, die sich im Gegensatz zu unserer Typeneinteilung gerade
nicht mit der individuellen Mentalität des Dichters befasst, sondern
mit dem Charakter seiner schöpferischen Tätigkeit, resp. ihres
Produktes. Derselbe Dichter kann in einem Gedichte sentimentalisch
sein, in einem andern aber naiv. _Homer_ ist zwar durchgehend
naiv, aber wie viele von den Neuern sind nicht zum grössten Teil
sentimentalisch? Schiller fühlte offenbar diese Schwierigkeit und
sprach es darum aus, dass der Dichter durch seine Zeit bedingt sei,
nicht als Individuum, sondern als Dichter. So sagt er: „Alle Dichter,
die es wirklich sind, werden, je nachdem die Zeit beschaffen ist, in
der sie blühen, oder zufällige Umstände auf ihre allgemeine Bildung
und auf ihre vorübergehende Gemütsstimmung Einfluss haben, entweder
zu den naiven oder zu den sentimentalischen gehören.“ Es handelt sich
demnach auch für Schiller nicht um fundamentale Typen, sondern mehr um
gewisse Characteristica oder Eigenschaften einzelner Produkte. Es ist
demnach ohne weiteres einleuchtend, dass ein introvertierter Dichter
gelegentlich sowohl naiv als sentimentalisch dichten kann. Damit
fällt auch eine Identität von naiv und sentimentalisch einerseits mit
extravertiert und introvertiert andererseits, gänzlich ausser Betracht,
insofern die _Typen_ in Frage kommen. Anders aber, insofern es
sich um die _typischen Mechanismen_ handelt.


a) _Die naive Einstellung._

Ich stelle zunächst die Definitionen dar, die Schiller von dieser
Einstellung gegeben hat. Es wurde bereits erwähnt, dass der Naive
„Natur“ ist. Er „folgt der einfachen Natur und Empfindung und
beschränkt sich bloss auf Nachahmung der Wirklichkeit“.[80] Wir
„erfreuen uns bei naiven Darstellungen über die lebendige Gegenwart
des Objektes in unserer Einbildungskraft“.[81] „Die naive Dichtung ist
eine Gunst der Natur. Ein glücklicher Wurf ist sie; keiner Verbesserung
bedürftig, wenn er gelingt, aber auch keiner fähig, wenn er verfehlt
wird.“ (l. c. p. 303.) „Durch seine Natur muss das naive Genie alles
tun, durch seine Freyheit vermag es wenig; und es wird seinen Begriff
erfüllen, sobald nur die Natur in ihm nach einer innern Notwendigkeit
wirkt“.[82] Die naive Dichtung „ist das Kind des Lebens und in das
Leben führt sie auch zurück“.[83] Das naive Genie hängt gänzlich ab
von der „Erfahrung“, von der Welt, von der es „unmittelbar berührt“
wird. Es „bedarf eines Beystandes von aussen“.[84] Dem naiven Dichter
kann die „gemeine Natur“ seiner Umgebung „gefährlich werden“, denn
„die Empfänglichkeit ist immer mehr oder weniger von dem äussern
Eindruck abhängig und nur eine anhaltende Regsamkeit des produktiven
Vermögens, welche von der menschlichen Natur nicht zu erwarten ist,
würde verhindern können, dass der Stoff nicht jeweilen eine blinde
Empfänglichkeit ausübte. So oft aber dies der Fall ist, wird aus einem
dichterischen Gefühl ein gemeines“.[85] „Das naive Genie lässt die
Natur in sich unumschränkt walten“.[86] Aus dieser Begriffsbestimmung
leuchtet besonders die Abhängigkeit des Naiven vom Objekt ein. Seine
Beziehung zum Objekt hat einen zwingenden Charakter, indem er das
Objekt introjiziert, d. h. unbewusst sich damit identifiziert oder
sozusagen a priori damit identisch ist. _Lévy-Bruhl_ bezeichnet
diese Beziehung zum Objekt als „participation mystique“.[87] Diese
Identität stellt sich immer her über eine Analogie zwischen dem Objekt
und einem unbewussten Inhalt. Man kann auch sagen: die Identität kommt
zustande durch eine Projektion einer unbewussten Analogieassociation
auf das Objekt. Eine solche Identität hat immer zwingenden Charakter,
weil es sich um eine gewisse Libidosumme handelt, die, wie jede aus
dem Unbewussten wirkende Libidoquantität, in Bezug auf das Bewusste
Zwangscharakter hat, d. h. sie ist dem Bewusstsein nicht disponibel.
Der naiv Eingestellte ist daher in hohem Mass durch das Objekt bedingt,
das Objekt wirkt sich sozusagen selbständig in ihm aus, es erfüllt sich
selbst in ihm, indem er selber mit dem Objekte identisch wird. Dadurch
leiht er gewissermassen seine Expressivfunktion dem Objekt und stellt
es auf diese Weise dar, nicht indem er es aktiv oder absichtlich
darstellt, sondern es stellt sich in ihm dar. Er ist selbst Natur,
Natur schafft in ihm das Produkt. Er lässt Natur unumschränkt in sich
walten. Dem Objekt kommt das Primat zu. Insofern ist naive Einstellung
extravertiert.


b) _Die sentimentalische Einstellung._

Wir haben oben bereits erwähnt, dass der Sentimentalische die Natur
_sucht_. Er „reflektiert über den Eindruck, den die Gegenstände
auf ihn machen, und nur auf jene Reflexion ist die Rührung gegründet,
in die er selbst versetzt wird, und uns versetzt. Der Gegenstand
wird hier auf eine Idee bezogen, und nur auf dieser Beziehung beruht
seine dichterische Kraft“.[88] Er „hat es immer mit zwey streitenden
Vorstellungen und Empfindungen, mit der Wirklichkeit als Grenze, und
mit seiner Idee als dem Unendlichen zu tun, und das gemischte Gefühl,
das er erregt, wird immer von dieser doppelten Quelle zeugen.“[89]
„Die sentimentalische Stimmung ist das Resultat des Bestrebens, auch
_unter den Bedingungen der Reflexion_ die naive Empfindung, dem
Inhalt nach, wiederherzustellen“.[90] „Die sentimentalische Dichtung
ist das Produkt der Abgezogenheit“.[91] „Das sentimentalische Genie
ist der Gefahr ausgesetzt, über dem Bestreben, alle Schranken von ihr
(der menschlichen Natur) zu entfernen, die menschliche Natur ganz und
gar aufzuheben, und sich nicht bloss, was sie darf und soll, über
jede bestimmte und begrenzte Wirklichkeit hinweg zu der absoluten
Möglichkeit zu erheben -- oder zu idealisieren, sondern über die
Möglichkeit selbst noch hinauszugehen -- oder zu _schwärmen_.“
„Das sentimentalische Genie verlässt die Wirklichkeit, um zu
Ideen aufzusteigen und mit freyer Selbsttätigkeit seinen Stoff zu
beherrschen.“ (l. c. p. 314.)

Es ist leicht zu sehen, dass der Sentimentalische im Gegensatz zum
Naiven durch eine reflektierende und abstrahierende Einstellung zum
Objekt gekennzeichnet ist. Er „reflektiert“ über das Objekt, indem er
vom Objekt „abgezogen“ ist. Er ist also sozusagen a priori vom Objekt
getrennt, wenn seine Produktion anhebt; nicht das Objekt wirkt in ihm,
sondern er selber wirkt. Er wirkt aber nicht in sich selber hinein,
sondern über das Objekt hinaus. Er ist unterschieden vom Objekt, nicht
identisch mit ihm, er sucht _seine_ Beziehung zu ihm herzustellen,
seinen „Stoff zu beherrschen.“ Aus dieser seiner Geschiedenheit
vom Objekt entspringt der von Schiller hervorgehobene Eindruck der
Zweiheit, indem der Sentimentalische aus zwei Quellen schöpft, aus
dem Objekt, resp. aus dessen Wahrnehmung und aus sich selbst. Der
äussere Eindruck des Objektes ist ihm nicht etwas Unbedingtes, sondern
Material, das er nach Massgabe seiner eigenen Inhalte behandelt. Er
steht daher über dem Objekt, und doch hat er eine Beziehung dazu, aber
nicht die Beziehung der Empfänglichkeit, sondern er verleiht nach
Willkür dem Objekt den Wert oder die Eigenschaft. Seine Einstellung ist
also eine introvertierte.

Mit der Charakteristik dieser beiden Einstellungen als introvertiert
und extravertiert haben wir aber den Gedanken Schillers nicht
erschöpft. Unsere beiden Mechanismen bedeuten nur Grundphänomene
ziemlich allgemeiner Natur, die das Spezifische nur vage andeuten. Wir
müssen zum Verständnis des Naiven und Sentimentalischen zwei weitere
Prinzipien zu Hilfe rufen, nämlich die Elemente der _Empfindung_
und der _Intuition_. Ich werde im spätern Verlaufe unserer
Untersuchung noch ausführlicher auf diese Funktionen zu sprechen
kommen. Hier möchte ich nur erwähnen, dass der Naive durch das
Vorwiegen des Empfindungselementes, der Sentimentalische durch das
Vorwiegen des intuitiven Elementes gekennzeichnet ist. Die Empfindung
bindet an das Objekt, ja sie zieht sogar das Subjekt in das Objekt,
daher die „Gefahr“ für den Naiven darin besteht, dass er im Objekt
untergeht. Die Intuition als eine Wahrnehmung der eigenen unbewussten
Vorgänge zieht vom Objekte ab, erhebt sich über das Objekt, sucht daher
immer den Stoff zu beherrschen und nach subjektiven Gesichtspunkten
zu formen, sogar zu vergewaltigen, ohne dessen bewusst zu sein. Die
„Gefahr“ des Sentimentalischen ist daher eine völlige Loslösung von
der Realität und der Untergang in der dem Unbewussten entströmenden
Phantasie („schwärmen“!).


c) _Der Idealist und der Realist._

In derselben Abhandlung führen Schillers Überlegungen zu einer
Aufstellung zweier psychologischer Menschentypen. Er sagt: „Dieses
führt mich auf einen sehr merkwürdigen psychologischen Antagonism
unter den Menschen in einem sich cultivierenden Jahrhundert: einen
Antagonism, der, weil er radical und in der innern Gemütsform gegründet
ist, eine schlimmere Trennung unter den Menschen anrichtet, als der
zufällige Streit der Interessen je hervorbringen könnte, der dem
Dichter und Künstler alle Hoffnung benimmt, allgemein zu gefallen und
zu rühren, was doch seine Aufgabe ist; der es dem Philosophen, auch
wenn er alles getan hat, unmöglich macht, allgemein zu überzeugen, was
doch der Begriff einer Philosophie mit sich bringt; der es endlich
dem Menschen im praktischen Leben niemals vergönnen wird, seine
Handlungsweise allgemein gebilligt zu sehen: kurz einen Gegensatz,
welcher Schuld ist, dass kein Werk des Geistes und keine Handlung des
Herzens bey einer Klasse ein entscheidendes Glück machen kann, ohne
eben dadurch bey der andern sich einen Verdammungsspruch zuzuziehen.
Dieser Gegensatz ist ohne Zweifel so alt als der Anfang der Cultur,
und dürfte vor dem Ende derselben schwerlich anders, als in einzelnen
seltenen Subjekten, deren es hoffentlich immer gab und immer geben
wird, beygelegt werden; aber obgleich zu seinen Wirkungen auch diese
gehört, dass er jeden Versuch zu seiner Beylegung vereitelt, weil
kein Teil dahin zu bringen ist, einen Mangel auf seiner Seite und
eine Realität auf der andern einzugestehen, so ist es doch immer
Gewinn genug, eine so wichtige Trennung bis zu ihrer letzten Quelle zu
verfolgen und dadurch den eigentlichen Punkt des Streits wenigstens auf
eine einfachere Formel zu bringen.“[92]

Aus dieser Stelle geht unzweideutig hervor, dass Schiller durch die
Betrachtung der gegensätzlichen Mechanismen zu der Aufstellung von
zwei psychologischen Typen gelangt, welche in seiner Auffassung
jene Bedeutung beanspruchen, die ich dem Introvertierten und dem
Extravertierten beilege. Ich kann in Bezug auf die gegenseitige
Beziehung der beiden von mir aufgestellten Typen sozusagen Wort für
Wort bestätigen, was Schiller von seinen Typen sagt. In Übereinstimmung
mit dem, was ich oben sagte, gelangt Schiller vom Mechanismus zum
Typus, indem er „sowohl von dem naiven als von dem sentimentalischen
Character absondert, was beyde Poetisches haben.“[93] Wenn wir diese
Operation vollziehen, so haben wir das Geniale, Schöpferische in Abzug
zu bringen und dann bleibt beim Naiven die Gebundenheit ans Objekt
und dessen Selbständigkeit im Subjekt übrig, beim Sentimentalischen
aber die Überlegenheit über das Objekt, die sich in mehr oder
weniger arbiträrer Beurteilung oder Behandlung des Objektes äussern
wird. Schiller sagt: „Es bleibt alsdann von dem erstern (naiven)
nichts übrig, als, in Rücksicht auf das Theoretische, ein nüchterner
Beobachtungsgeist und eine feste Anhänglichkeit an das gleichförmige
Zeugnis der Sinne; in Rücksicht auf das Praktische eine resignierte
Unterwerfung unter die Notwendigkeit der Natur.“ „Es bleibt von
dem sentimentalischen Character nichts übrig, als ein unruhiger
Speculationsgeist, der auf das Unbedingte in allen Erkenntnissen
dringt, im Praktischen ein moralischer Rigorism, der auf dem
Unbedingten in allen Willenshandlungen besteht. Wer zu der ersten
Klasse zählt, kann ein _Realist_, und wer zu der andern, ein
_Idealist_ genannt werden.“[94]

Die weitern Ausführungen Schillers über seine beiden Typen beziehen
sich demgemäss ausschliesslich auf die bekannten Phänomene
realistischer und idealistischer Einstellung und interessieren daher
unsere Untersuchung nicht.



III

Das Apollinische und das Dionysische.



III.

Das Apollinische und das Dionysische.


Das von _Schiller_ empfundene und teilweise bearbeitete Problem wurde
in neuer und eigenartiger Weise von _Nietzsche_ wieder aufgenommen in
seiner von 1871 datierenden Schrift „Die Geburt der Tragödie“. Dieses
Jugendwerk bezieht sich zwar nicht auf Schiller, sondern weit mehr auf
_Schopenhauer_ und _Goethe_. Es hat aber, wenigstens anscheinend, mit
Schiller den Ästhetismus und den Griechenglauben, mit Schopenhauer
den Pessimismus und das Erlösungsmotiv, und unendlich vieles mit
Goethes Faust gemeinsam. Von diesen Beziehungen ist natürlich die zu
Schiller für unsere Absicht am bedeutsamsten. Wir können jedoch an
Schopenhauer nicht vorübergehen, ohne zu bemerken, in welchem Masse er
die bei Schiller als blasse Schemen auftauchenden Ahnungen östlicher
Erkenntnisse in die Wirklichkeit übergeführt hat. Wenn wir von dem aus
dem Kontraste mit christlicher Glaubensfreude und Erlösungsgewissheit
stammenden Pessimismus absehen wollen, so ist Schopenhauers
Erlösungslehre wesentlich buddhistisch. Er trat hinüber auf die Seite
des Ostens. Dieser Schritt ist unzweifelhaft eine Kontrastreaktion
gegen unsere okzidentalische Atmosphäre. Wie bekannt setzt sich auch
gegenwärtig diese Reaktion noch in nicht unbeträchtlichem Masse fort
in verschiedenen Bewegungen, welche mehr oder weniger vollständig nach
Indien orientiert sind. Dieser Zug nach Osten macht für _Nietzsche_ in
Griechenland Halt. Er empfindet Griechenland auch als das Mittelstück
zwischen Osten und Westen. Insofern berührt er sich mit Schiller --
wie so ganz anders aber ist seine Auffassung des griechischen Wesens!
Er sieht die dunkle Folie, auf der die golden heitere Welt des Olymps
gemalt ist. „Um leben zu können, mussten die Griechen diese Götter,
aus tiefster Nötigung, schaffen.“ „Der Grieche kannte und empfand
die Schrecken und Entsetzlichkeiten des Daseins: um überhaupt leben
zu können, musste er vor sie hin die glänzende Traumgeburt der
Olympischen stellen. Jenes ungeheure Misstrauen gegen die titanischen
Mächte der Natur, jene über allen Erkenntnissen erbarmungslos tronende
Moira, jener Geier des grossen Menschenfreundes Prometheus, jenes
Schreckenslos des weisen Oedipus, jener Geschlechtsfluch der Atriden,
der Orest zum Muttermorde zwingt“ -- „wurde von den Griechen durch
jene künstlerische Mittelwelt der Olympier fortwährend von neuem
überwunden, jedenfalls verhüllt und dem Anblick entzogen“.[95] Die
griechische „Heiterkeit“, der lachende Himmel von Hellas als eine
schimmernde Illusion vor düstern Hintergründen -- diese Erkenntnis war
den Neuern vorbehalten; ein gewichtiges Argument gegen den moralischen
Ästhetismus! Damit betritt Nietzsche einen gegenüber Schiller bedeutend
veränderten Standpunkt. Was wir bei Schiller ahnen durften, dass
nämlich seine Briefe über ästhetische Erziehung auch ein Versuch in
eigener Sache waren, wird zur völligen Gewissheit bei Nietzsches
Schrift -- es ist ein „tief persönliches“ Buch. Und in dem Masse, als
Schiller sozusagen zaghaft und mit blassen Farben anfängt, Licht und
Schatten zu malen, und den in der eigenen Seele empfundenen Gegensatz
als „naiv“ gegen „sentimentalisch“ zu begreifen, unter Ausschliessung
alles Hintergründlichen und Abgründlichen menschlicher Natur, greift
Nietzsches Auffassung tiefer und spannt einen Gegensatz, der in seinem
einen Teile der strahlenden Schönheit der Schillerschen Vision in
nichts nachgibt, aber in seinem andern Teile unendlich dunklere Töne
findet, welche zwar die Kraft des Lichtes erhöhen, aber eine noch
tiefere Nacht hinter sich ahnen lassen.

Nietzsche nennt sein fundamentales Gegensatzpaar:
_Apollinisch-Dionysisch_. Wir wollen nun zunächst versuchen, uns
die Natur dieses Gegensatzpaares zu vergegenwärtigen. Zu diesem Zwecke
setze ich eine Reihe wörtlicher Zitate her, mittelst welcher der Leser
-- auch ohne die Schrift Nietzsches gelesen zu haben -- in den Stand
gesetzt ist, sich selber ein Urteil zu bilden, und zugleich meine
Auffassung daran zu messen.

1. „Wir werden viel für die ästhetische Wissenschaft gewonnen haben,
wenn wir nicht nur zur logischen Einsicht, sondern zur unmittelbaren
Sicherheit der Anschauung gekommen sind, dass die Fortentwicklung
der Kunst an die Duplizität des _Apollinischen_ und des
_Dionysischen_ gebunden ist: in ähnlicher Weise wie die Generation
von der Zweiheit der Geschlechter, bei fortwährendem Kampfe, und nur
periodisch eintretender Versöhnung abhängt.“ (l. c. p. 19.)

2. „An ihre beiden Kunstgottheiten, Apollo und Dionysus, knüpft sich
unsere Erkenntnis, dass in der griechischen Welt ein _ungeheurer
Gegensatz_, nach Ursprung und Zielen, zwischen der Kunst des
Bildners, der apollinischen, und der unbildlichen Kunst der Musik,
als der des Dionysus, besteht: beide so verschiedenen Triebe gehen
nebeneinander her, zumeist in offenem Zwiespalt miteinander, und
sich gegenseitig zu immer neuen kräftigern Geburten reizend, um in
ihnen den Kampf jenes Gegensatzes zu perpetuieren, den das gemeinsame
Wort „Kunst“ nur scheinbar überbrückt; bis sie endlich, durch einen
metaphysischen Wunderakt des hellenischen „Willens“ _mit einander
gepaart_ erscheinen und in dieser Paarung zuletzt das eben so
dionysische wie apollinische Kunstwerk der attischen Tragödie
erzeugen.“[96]

Um die beiden „Triebe“ näher zu charakterisieren, vergleicht Nietzsche
die durch sie hervorgebrachten eigentümlichen psychologischen Zustände
denen des _Traumes_ und des _Rausches_. Der apollinische
Trieb erzeugt den mit dem _Traum_, der dionysische Trieb den
mit dem _Rausch_ verglichenen Zustand. Unter „Traum“ versteht
Nietzsche, wie er selber belegt, wesentlich „innere Vision“ den
„schönen Schein der Traumwelten“. Apollo „beherrscht den schönen
Schein der innern Phantasiewelt“, er ist „der Gott aller bildnerischen
Kräfte“. Er ist Mass, Zahl, Begrenzung und Beherrschung alles Wilden
und Ungebändigten. „Man möchte -- Apollo als das herrliche Götterbild
des prinzipii individuationis bezeichnen.“[97] Das Dionysische
hingegen ist die Befreiung des schrankenlosen Triebes, das Losbrechen
der ungezügelten Dynamis tierischer und göttlicher Natur, daher der
Mensch im dionysischen Chore als _Satyr_, oben Gott und unten
Bock, auftritt.[98] Es ist das Grauen über die Zerbrechung des
Individuationsprinzipes, und zugleich die „wonnevolle Verzückung“
darüber, dass es zerbrochen ist. Das Dionysische ist daher vergleichbar
dem Rausch, der das Individuelle auflöst in die collektiven Triebe
und Inhalte, eine Zersprengung des abgeschlossenen Ich durch die
Welt. Daher findet sich im Dionysischen Mensch zu Mensch, „auch
die entfremdete, feindliche oder unterjochte Natur feiert wieder
ihr Versöhnungsfest mit ihrem verlorenen Sohne, dem Menschen.“[99]
Jeder fühlt sich mit seinem Nächsten „Eins“, („nicht nur vereinigt,
versöhnt, verschmolzen“). Seine Individualität muss daher gänzlich
aufgehoben sein. „Der Mensch ist nicht mehr Künstler, er ist Kunstwerk
geworden.“ „Die Kunstgewalt der ganzen Natur -- offenbart sich hier
unter den Schauern des Rausches.“[100] D. h. die schöpferische Dynamis,
die Libido in der Form des Triebes, bemächtigt sich des Individuums
als eines Objektes und gebraucht es als Werkzeug oder Ausdruck.
Wenn man das natürliche Wesen als „Kunstwerk“ auffassen darf, dann
wird der Mensch im dionysischen Zustand allerdings zum natürlich
gewordenen Kunstwerk; insofern das natürliche Wesen aber auch eben
gerade kein Kunstwerk ist im Sinne dessen, was wir „Kunstwerk“ zu
nennen pflegen, so ist es auch nichts als blosse Natur, ungezügelt,
in jeder Hinsicht ein Wildbach und nicht einmal ein auf sich und
sein Wesen beschränktes Tier. Ich muss der Klarheit und der spätern
Diskussion wegen diesen Punkt hervorheben, denn aus gewissen Gründen
hat Nietzsche diese Hervorhebung unterlassen und dadurch einen
trügerischen ästhetischen Schleier über das Problem ausgebreitet,
den er allerdings an einigen Stellen unwillkürlich lüften muss. So
z. B. wie er von den dionysischen Orgien spricht: „Fast überall lag
das Zentrum dieser Feste in einer überschwänglichen geschlechtlichen
Zuchtlosigkeit, deren Wellen über jedes Familientum und dessen
ehrwürdige Satzungen hinwegfluteten; gerade die wildesten Bestien der
Natur wurden hier entfesselt, bis zu jener abscheulichen Mischung von
Wollust und Grausamkeit.“[101] Nietzsche betrachtet die Versöhnung des
delphischen Apollo mit Dionysos als ein Symbol der Versöhnung dieser
Gegensätze in der Brust des zivilisierten Griechen. Er vergisst aber
dabei seine eigene compensatorische Formel nach der die Götter des
Olymps ihr Licht der Dunkelheit der griechischen Seele verdanken:
danach wäre die Versöhnung Apollos mit Dionysos ein schöner Schein,
ein Desideratum, hervorgerufen durch die Not, die die zivilisierte
Hälfte des Griechen empfand im Kampfe mit seiner barbarischen Seite,
die sich eben gerade im dionysischen Zustand hemmungslose Bahn brach.
Zwischen der Religion eines Volkes und seinem wirklichen Lebenswandel
besteht immer eine compensatorische Beziehung, sonst hätte ja die
Religion gar keinen praktischen Sinn. Angefangen mit der höchst
moralischen Religion der Perser und der schon im Altertum berühmten
moralischen Zweifelhaftigkeit persischer Lebensgewohnheiten hinunter
bis in unsere „christliche“ Epoche, wo die Religion der Liebe dem
grössten Blutbad der Weltgeschichte assistiert, bewährt sich diese
Regel. Darum dürfen wir auch gerade aus dem Symbol der delphischen
Versöhnung auf einen besonders heftigen Zwiespalt im griechischen Wesen
schliessen. Daraus würde sich die Erlösungssehnsucht erklären, welche
den Mysterien jene gewaltige Bedeutung für das griechische Volksleben
gab, und welche von den frühern Griechenschwärmern gänzlich übersehen
wurde. Man begnügte sich damit, den Griechen naiv alles anzusehen,
was einem selber fehlte. Im dionysischen Zustande wurde also der
Grieche keineswegs zunächst zum Kunstwerk, sondern er wurde von seinem
eigenen barbarischen Wesen ergriffen, seiner Individualität beraubt,
in alle seine collektiven Bestandteile aufgelöst, eins gemacht mit dem
collektiven Unbewussten (unter Dahingabe seiner individuellen Ziele),
eins mit „dem Genius der Gattung, ja der Natur“. Für die bereits
erreichte apollinische Bändigung musste dieser Rauschzustand, der
den Menschen gänzlich seiner selbst und seiner Menschheit vergessen
liess und ihn zu einem blossen Triebwesen machte, etwas Verächtliches
gewesen sein, weshalb unzweifelhaft zunächst ein heftiger Kampf
zwischen den beiden Trieben ausbrechen musste. Man befreie die Triebe
des zivilisierten Menschen! Der Kulturschwärmer bildet sich ein,
dass eitel Schönheit herausströme. Dieser Irrtum beruht auf einem
tiefgehenden psychologischen Kenntnismangel. Die im zivilisierten
Menschen aufgestauten Triebkräfte sind ungeheuer destruktiv und um
vieles gefährlicher als die Triebe der Primitiven, der seine negativen
Triebe beständig in bescheidenem Masse lebt. Dementsprechend kann kein
Krieg der historischen Vergangenheit an grandioser Scheusslichkeit
mit dem Krieg zivilisierter Nationen rivalisieren. Es wird bei den
Griechen nicht anders gewesen sein. Eben gerade aus der lebendigen
Empfindung des Grauens heraus ist ihnen allmählich eine Versöhnung
des Dionysischen mit dem Apollinischen gelungen -- „durch einen
metaphysischen Wunderakt“, wie Nietzsche gleich anfangs sagt. Wir
müssen diese Äusserung festhalten, ebenso die andere Bemerkung, dass
der in Frage stehende Gegensatz „durch das gemeinsame Wort ‚Kunst‘ nur
scheinbar überbrückt“ werde. Wir müssen uns dieser Sätze erinnern,
weil Nietzsche gleich wie Schiller die ausgesprochene Tendenz hat, der
Kunst die vermittelnde und erlösende Rolle zuzuschreiben. Und damit
bleibt das Problem im Ästhetischen stecken -- das Hässliche ist auch
„schön“; das Abscheuliche, ja das Böse sogar erglänzt begehrenswert
im trügerischen Schimmer des Ästhetisch-Schönen. Die Künstlernatur in
Schiller sowohl wie in Nietzsche vindiziert sich und ihrer spezifischen
Schaffens- und Ausdrucksmöglichkeit die erlösende Bedeutung. Darob
vergisst Nietzsche völlig, dass es sich beim Kampfe Apollos gegen
Dionysos und ihrer schliesslichen Versöhnung für die Griechen niemals
um ein ästhetisches Problem handelte, sondern um eine _religiöse
Frage_. Die dionysischen Satyrfeste waren nach aller Analogie
eine Art Totemfeste mit Rückidentifikation mit mythischen Ahnen oder
direkt mit dem Totemtier. Der Dionysoskult hatte vielerorts einen
mystisch-spekulativen Einschlag, und hat jedenfalls einen sehr starken,
religiös erregenden Einfluss ausgeübt. Dass aus der ursprünglich
religiösen Zeremonie die Tragödie hervorging, bedeutet genau soviel wie
der Zusammenhang unseres modernen Theaters mit den mittelalterlichen
Passionsspielen und ihrer ausschliesslich religiösen Grundlage, und
erlaubt deshalb nicht, das Problem unter seinem bloss ästhetischen
Aspekt zu beurteilen. Der Ästhetismus ist eine moderne Brille, durch
welche die psychologischen Geheimnisse des Dionysoskultes in einem
Lichte gesehen werden, in dem sie die Alten sicherlich nie sahen und
erlebten. Wie bei Schiller, so auch bei Nietzsche wird der religiöse
Gesichtspunkt völlig übersehen und durch die ästhetische Betrachtung
ersetzt. Gewiss haben diese Dinge ihre ausgesprochen ästhetische
Seite, die man nicht vernachlässigen darf.[102] Wenn man jedoch das
mittelalterliche Christentum nur ästhetisch begreift, so wird sein
wirklicher Charakter verfälscht und veräusserlicht und zwar ebenso
sehr, wie wenn man es von ausschliesslich historischem Standpunkt
aus begreift. Ein wirkliches Verstehen kann nur auf gleichem Grunde
erfolgen, denn niemand wird behaupten wollen, das Wesen einer
Eisenbahnbrücke sei hinlänglich verstanden, wenn man sie ästhetisch
anempfunden hat. So ist mit der Auffassung, der Kampf zwischen
Apollo und Dionysos sei eine Frage gegensätzlicher Kunsttriebe, das
Problem in einer historisch und materiell ungerechtfertigten Weise
auf das ästhetische Gebiet verschoben, womit es einer Teilbetrachtung
unterworfen wird, die niemals im Stande ist, seinem wirklichen Inhalt
gerecht zu werden.

Unzweifelhaft muss diese Verschiebung ihren psychologischen Grund
und Zweck haben. Der Gewinn der Prozedur ist unschwer zu entdecken:
die ästhetische Betrachtung macht aus dem Problem sofort ein Bild,
welches der Beschauer gemächlich betrachtet, seine Schönheit sowohl
wie seine Hässlichkeit bewundernd, in sicherer Entfernung von jeder
Mitempfindung und jedem Miterleben die Leidenschaft des Bildes bloss
anempfindend. Die ästhetische Einstellung schützt vor der Anteilnahme,
vor der eigenen Hineinverwicklung, welche das religiöse Begreifen
des Problems bedeutet. Den gleichen Vorteil sichert die historische
Betrachtungsweise, zu deren Kritik Nietzsche selbst eine Reihe der
kostbarsten Beiträge geliefert hat.[103] Die Möglichkeit, ein solch
gewaltiges Problem -- „ein Problem mit Hörnern“, wie er es nennt --
bloss ästhetisch nehmen zu können, ist allerdings verlockend, denn
sein religiöses Begreifen, welches in diesem Fall das einzig adäquate
Begreifen ist, setzt ein Erleben oder ein Erlebthaben voraus, dessen
sich der moderne Mensch wohl selten rühmen kann. Dionysos scheint sich
aber an Nietzsche gerächt zu haben -- man vergleiche seinen „Versuch
einer Selbstkritik“, der vom Jahre 1886 stammend, der „Geburt der
Tragödie“ einleitend vorgesetzt ist: „Ja, was ist dionysisch? --
In diesem Buche steht eine Antwort darauf -- ein „Wissender“ redet
da, der _Eingeweihte und Jünger seines Gottes_.“ Das war aber
Nietzsche nicht, als er die „Geburt der Tragödie“ schrieb; damals war
er ästhetisch affiziert, dionysisch aber erst, als er den „Zarathustra“
schrieb und jene denkwürdige Stelle, mit der er seinen „Versuch einer
Selbstkritik“ beschliesst: „Erhebt eure Herzen, meine Brüder, hoch,
höher! Und vergesst mir auch die Beine nicht! Erhebt auch eure Beine,
ihr guten Tänzer, und besser noch: ihr steht auch auf dem Kopf!“

Die besondere Tiefe, mit der Nietzsche das Problem trotz ästhetischer
Selbstsicherung erfasst hat, war der Wirklichkeit schon so nahe,
dass sein späteres dionysisches Erleben beinahe als unvermeidliche
Konsequenz erscheint. Sein Angriff auf _Sokrates_ in der „Geburt
der Tragödie“ gilt dem Rationalisten, der sich für den dionysischen
Orgiasmus als unzugänglich erweist. Dieser Affekt entspricht dem
analogen Fehler, den die ästhetische Betrachtung macht; _sie hält
sich das Problem vom Leibe_. Trotz der ästhetischen Auffassung
aber hat Nietzsche doch damals schon die Ahnung der wirklichen Lösung
des Problems gehabt, als er schrieb, dass der Gegensatz nicht durch
Kunst, sondern durch einen „metaphysischen Wunderakt des hellenischen
Willens“ überbrückt wurde. Er setzt „Willen“ in Anführungszeichen,
was wir bei seiner damaligen starken Beeinflussung durch Schopenhauer
wohl als Beziehung auf den metaphysischen Willensbegriff deuten
dürfen. „Metaphysisch“ hat für uns die psychologische Bedeutung von
„unbewusst“. Wenn wir also „metaphysisch“ in Nietzsches Formel durch
„unbewusst“ ersetzen, dann wäre der gesuchte Schlüssel dieses Problems
ein unbewusster „Wunderakt“. Ein „Wunder“ ist irrational, also ist der
Akt ein unbewusstes irrationales Geschehen, eine Bildung aus sich ohne
Dazutun der Vernunft und der zielbewussten Absicht; es ergibt sich,
es wird als ein Wachstumsphänomen der schaffenden Natur und nicht
aus Erklügelung menschlichen Witzes, eine Geburt aus sehnsüchtiger
Erwartung, aus Glauben und Hoffnung.

Ich lasse dieses Problem hier zunächst fallen, da wir im weitern
Verlauf unserer Untersuchung Gelegenheit haben werden, noch
ausführlicher auf diese Frage zurückzukommen. Dafür wollen wir daran
gehen, die Begriffe Apollinisch-Dionysisch auf ihre psychologischen
Qualitäten näher zu prüfen. Betrachten wir zunächst das Dionysische.
Die Darstellung Nietzsches lässt ohne weiteres erkennen, dass damit
eine Entfaltung gemeint ist, ein Herauf- und Herausströmenlassen, eine
_Diastole_, wie Goethe sagte, eine die Welt umfassende Bewegung,
wie sie auch Schiller in seiner Ode „an die Freude“ schildert:

    „Seid umschlungen, Millionen.
    Diesen Kuss der ganzen Welt.“

und weiter:

    „Freude trinken alle Wesen
    An den Brüsten der Natur;
    Alle Guten, alle Bösen
    Folgen ihrer Rosenspur.
    Küsse gab sie uns und Reben,
    Einen Freund geprüft im Tod;
    Wollust war dem Wurm gegeben
    Und der Cherub steht vor Gott.“

Das ist dionysische Expansion. Es ist ein Strom mächtigsten
All-Empfindens, der unwiderstehlich hervorbricht und wie stärkster Wein
den Sinn berauscht. Es ist eine Trunkenheit im höchsten Sinne.

An diesem Zustand ist das psychologische Element der _Empfindung_,
sei es der Sinnesempfindung, sei es der Affektempfindung, in höchstem
Masse beteiligt. Es handelt sich also um eine Extraversion von
Gefühlen, die ununterscheidbar an das Element der Empfindung geknüpft
sind, weshalb wir sie als Gefühlsempfindungen bezeichnen. Es sind
daher mehr Affekte, welche in diesem Zustande hervorbrechen, also
Triebmässiges, blind Zwingendes, das sich namentlich in einer Affektion
der Körpersphäre ausdrückt.

Dem gegenüber ist das Apollinische eine Wahrnehmung der innern Bilder
der Schönheit, des Masses und der in Proportionen gebändigten Gefühle.
Der Vergleich mit dem Traum weist deutlich auf den Charakter des
Apollinischen Zustandes hin: es ist ein Zustand der Introspektion, der
nach innen, nach der Traumwelt ewiger Ideen gekehrten Kontemplation,
also ein Zustand der _Introversion_.

Insoweit ist die Analogie mit unsern Mechanismen wohl unzweifelhaft.
Wenn wir aber uns mit der Analogie begnügten, so würden wir mit dieser
Beschränkung den Begriffen Nietzsches Gewalt antun, indem wir sie
nämlich in ein Prokrustesbett legten.

Wir sehen im Verlaufe unserer Untersuchung, dass der Zustand
der Introversion, insofern er zum Habitus wird, immer auch eine
Differenzierung der Beziehung zur Ideenwelt, und die habituelle
Extraversion eine solche der Beziehung zum Objekt mit sich führt. Von
dieser Differenzierung sehen wir bei Nietzsches Begriffen nichts.
Das dionysische Gefühl hat den durchaus archaïschen Charakter der
affektiven Empfindung. Es ist also nicht rein, abgezogen und aus
dem Triebmässigen zu jenem beweglichen Element differenziert, das
beim extravertierten Typus den Anweisungen der Ratio gehorcht und
sich ihr als williges Instrument leiht. Ebenso betrifft Nietzsches
Introversionsbegriff keine reine, differenzierte Beziehung zu Ideen,
die sich aus der Anschauung, sei es der sinnlich bedingten, sei es
der schöpferisch erzeugten, befreit hätte, zu abgezogenen und reinen
Formen. Das Apollinische ist eine innere Wahrnehmung, eine Intuition
der Ideenwelt. Der Vergleich mit dem Traum zeigt deutlich, dass
Nietzsche sich diesen Zustand als einerseits bloss anschauend, und
andererseits als bloss bildmässig denkt.

Diese Characteristica bedeuten etwas Eigenartiges, das wir unserm
Begriff der introvertierten oder extravertierten Einstellung nicht
zurechnen dürfen. Bei einem vorwiegend reflektierend eingestellten
Menschen erfolgt aus dem apollinischen Zustand der Anschauung innerer
Bilder eine dem Wesen des intellektuellen Denkens gemässe Bearbeitung
des Geschauten. Daraus gehen die Ideen hervor. Bei einem vorwiegend
fühlend eingestellten Menschen erfolgt ein ähnlicher Prozess, eine
Durchfühlung der Bilder und eine Herstellung einer Gefühlsidee,
welche essentiell mit der denkend hergestellten Idee zusammenfallen
kann. Ideen sind darum ebenso sehr Gedanke wie Gefühl, z. B. die Idee
des Vaterlandes, der Freiheit, Gottes, der Unsterblichkeit, etc.
Das Prinzip beider Bearbeitungen ist ein rationales und logisches.
Es gibt nun aber auch einen ganz andern Standpunkt, von dem aus die
logisch-rationale Bearbeitung ungültig ist. Dieser _andere Standpunkt
ist der ästhetische_. Er verweilt in der Introversion bei der
_Anschauung_ der Ideen, er entwickelt die Intuition, die innere
Anschauung; in der Extraversion verweilt er bei der _Empfindung_
und entwickelt die Sinne, den Instinkt, die Affizierbarkeit. Für
diesen Standpunkt ist das Denken keinesfalls das Prinzip der innern
Wahrnehmung der Ideen und ebenso wenig das Gefühl, sondern für ihn ist
vielmehr das Denken und Fühlen blosses Derivat der innern Anschauung
oder der Sinnesempfindung.

Nietzsches Begriffe führen uns somit zu den Prinzipien eines dritten
und vierten psychologischen Typus, die man als ästhetische Typen
gegenüber den rationalen Typen (Denk- und Fühltypen) bezeichnen könnte.
Es ist der _intuitive_ und der _Sinnes-_ oder _Empfindungstypus_.
Diese beiden Typen haben zwar das Moment der Introversion und
Extraversion mit den rationalen Typen gemein, ohne aber einerseits wie
der Denktypus, die Wahrnehmung und Anschauung der innern Bilder zum
Denken, und andererseits, wie der Fühltypus, das affektive Trieb- und
Empfindungserleben zum Gefühl zu differenzieren. Dagegen erhebt der
Intuitive die unbewusste Wahrnehmung zu einer differenzierten Funktion,
über die auch seine Anpassung an die Welt stattfindet. Er passt sich
an mittels unbewusster Direktiven, die er empfängt durch eine besonders
feine und geschärfte Wahrnehmung und Deutung dunkelbewusster Regungen.
Wie eine solche Funktion aussieht, ist natürlich ihres irrationalen
und sozusagen unbewussten Charakters wegen schwer zu beschreiben. Man
kann sie etwa dem Daimonion des Sokrates vergleichen; allerdings mit
dem Unterschied, dass die ungewöhnlich rationalistische Einstellung des
Sokrates die intuitive Funktion möglichst verdrängte, sodass sie sich
concret-hallucinatorisch durchsetzen musste, weil sie keinen direkten
psychologischen Zugang zum Bewusstsein hatte. Dieses letztere ist aber
beim Intuitiven gerade der Fall.

Der Empfindungstypus ist in jeder Hinsicht eine Umkehrung des
Intuitiven. Er basiert sozusagen ausschliesslich auf dem Element der
Sinnesempfindung. Seine Psychologie orientiert sich nach Trieb und
Empfindung. Er ist daher ganz auf den realen Reiz angewiesen.

Die Tatsache, dass Nietzsche gerade die psychologische Funktion
der Intuition einerseits und die der Empfindung und des Triebes
andererseits hervorhebt, dürfte kennzeichnend sein für seine eigene,
persönliche Psychologie. Er ist wohl dem intuitiven Typus zuzurechnen
mit Neigung nach der introvertierten Seite. Für ersteres spricht seine
vorwiegend intuitiv-künstlerische Art der Produktion, für welche
gerade seine uns vorliegende Schrift über die Geburt der Tragödie
sehr charakteristisch ist, in noch höherm Masse aber sein Hauptwerk:
„Also sprach Zarathustra.“ Für seine introvertiert-intellektuelle
Seite kennzeichnend sind seine aphoristischen Schriften, die trotz
eines starken gefühlsmässigen Einschlages den ausgesprochen kritischen
Intellektualismus in der Art der französischen Intellektuellen des
XVIII. Jahrhunderts zeigen. Für seinen intuitiven Typus im allgemeinen
spricht die mangelnde rationale Beschränkung und Geschlossenheit.
Es ist bei dieser Sachlage nicht erstaunlich, dass er in seinem
Anfangswerk die Tatsachen seiner persönlichen Psychologie unbewusst in
den Vordergrund stellt. Dies entspricht der intuitiven Einstellung,
welche in erster Linie über das Innere das Äussere wahrnimmt, bisweilen
sogar auf Kosten der Realität. Mittels dieser Einstellung gewann
er auch die tiefe Einsicht in die dionysischen Qualitäten seines
Unbewussten, deren rohe Form allerdings, soweit wir wissen, erst beim
Ausbruch seiner Krankheit die Oberfläche des Bewusstseins erreichte,
nachdem sie sich in mannigfachen erotischen Andeutungen in seinen
Schriften schon vorher verraten hatte. Es ist in psychologischer
Hinsicht daher äusserst bedauerlich, dass die nach der Erkrankung
in Turin vorgefundenen, eben in dieser Hinsicht sehr bezeichnenden
Schriftstücke dem moralisch-ästhetischen Bedauern zu Liebe der
Vernichtung anheimgefallen sind.



IV

Das Typenproblem in der Menschenkenntnis.



IV.

Das Typenproblem in der Menschenkenntnis.


1. Allgemeines über die Jordanschen Typen.

In der weitern chronologischen Verfolgung der Vorarbeiten zu der uns
interessierenden Frage psychologischer Typen gelange ich jetzt zu einem
kleinen, etwas seltsamen Werke, dessen Kenntnis ich meiner geschätzten
Mitarbeiterin Dr. _Constance E. Long_ in London verdanke:
_Furneaux Jordan_. F. R. C. S. Character as seen in Body and
Parentage. London 1896. Third ed.

_Jordan_ beschreibt in seinem kleinen Buch von 126 Seiten in der
Hauptsache zwei charakterologische Typen, deren Definition uns in mehr
als einer Hinsicht interessiert, obschon -- um es vorweg zu nehmen
-- der Autor im Grunde genommen nur zu einer Hälfte unsere Typen im
Auge hat, zur andern Hälfte aber den Gesichtspunkt des intuitiven und
des Empfindungstypus hereinbringt und ihn mit dem andern vermischt.
Ich will zunächst dem Autor das Wort lassen und seine einleitende
Definition wiedergeben. Er sagt p. 5: „Es gibt zwei fundamental
verschiedene Charaktere, zwei deutliche Charaktertypen (mit einem
dritten, mittlern): einen bei dem die Tendenz zur Aktivität stark,
und die Tendenz zur Reflexion schwach ist, und einen andern, bei dem
die Neigung zur Reflexion vorherrscht, während der Tätigkeitstrieb
schwächer ist. Zwischen diesen beiden Extremen gibt es unzählige
Abstufungen: Es genügt aber, noch einen dritten Typus aufzuzeigen,
bei dem die Kräfte der Reflexion und der Tat sich mehr oder weniger
die Wage halten. In einer mittlern Klasse können auch jene Charaktere
untergebracht werden, bei denen eine Neigung zur Exzentrizität besteht,
oder wo andere, möglicherweise abnorme Tendenzen gegenüber den
emotionalen und nicht-emotionalen Vorgängen überwiegen.“

Aus dieser Definition ist klar ersichtlich, dass _Jordan_
der Reflexion, dem Denken, die Tätigkeit oder die Aktivität
gegenüberstellt. Es ist durchaus verständlich, dass dem nicht tiefer
forschenden Menschenbeobachter zunächst das reflektive Wesen im
Gegensatz zum tätigen Wesen auffällt, und er daher geneigt ist, den
beobachteten Gegensatz unter diesem Gesichtswinkel zu definieren.
Aber schon die einfache Überlegung, dass das tätige Wesen nicht
notwendigerweise bloss aus Impulsen hervorgeht, sondern auch dem Denken
entspringen kann, lässt es als nötig erscheinen, die Definition etwas
zu vertiefen. Jordan selbst kommt zu diesem Schluss, indem er pag.
6 ein weiteres Element in die Betrachtung einführt, das für uns von
ganz besonderm Wert ist, nämlich das Gefühlselement. Er konstatiert
nämlich, dass der aktive Typus weniger leidenschaftlich sei, während
das reflektive Temperament sich durch Leidenschaftlichkeit auszeichne.
Daher benennt Jordan seine Typen als „the less impassioned“ und „the
more impassioned“. Das Element, das er in der einleitenden Definition
überging, erhebt er also nachträglich zum ständigen Terminus. Was ihn
aber von unserer Auffassung unterscheidet, ist die Tatsache, dass er
den weniger „leidenschaftlichen“ Typus immer auch zugleich „aktiv“
sein lässt, und den andern „inaktiv“. Ich halte diese Vermischung
für unglücklich, indem es höchst leidenschaftliche und tiefe Naturen
gibt, die auch zugleich sehr tatkräftig und tätig sind, und umgekehrt
wenig leidenschaftliche, oberflächliche Naturen, die sich keineswegs
durch Aktivität, nicht einmal durch die niedere Form der Tätigkeit,
die Geschäftigkeit, auszeichnen. Meines Erachtens hätte seine sonst
wertvolle Auffassung bedeutend an Klarheit gewonnen, wenn er die
an sich charakterologisch bedeutsame Bestimmung der Aktivität und
Inaktivität als einen ganz andern Gesichtspunkt hätte ausser Betracht
fallen lassen. Es wird aus den folgenden Ausführungen hervorgehen,
dass Jordan mit dem „less impassioned and more active“ Typus den
Extravertierten und mit dem „more impassioned and less active“ Typus
den Introvertierten beschreibt. Beide können tätig oder untätig sein,
ohne dabei ihren Typus zu verändern, weshalb meines Erachtens das
Moment der Aktivität als ein Hauptcharakteristikum in Wegfall kommen
sollte; als Bestimmung sekundärer Bedeutung spielt es aber immerhin
insofern eine Rolle, als der Extravertierte, seiner Art entsprechend,
in der Regel viel beweglicher, lebendiger und tätiger erscheint, als
der Introvertierte. Diese Eigenschaft hängt aber ganz an der Phase, in
der sich das Individuum momentan der Aussenwelt gegenüber befindet.
Ein Introvertierter in einer extravertierten Phase erscheint aktiv,
ein Extravertierter in einer introvertierten Phase erscheint passiv.
Die Aktivität selber, als ein Grundzug des Charakters kann bisweilen
introvertiert sein, d. h. sie richtet sich ganz nach innen und
entfaltet eine rege Gedanken- oder Gefühlstätigkeit, während aussen
tiefe Ruhe herrscht; bisweilen kann sie extravertiert sein, wo sie
sich dann in bewegtem, lebendigem Handeln zeigt, während ein fester
unbewegter Gedanke oder ein ebensolches Gefühl dahinter steht.

Bevor wir des Nähern auf die Jordanschen Ausführungen eintreten, muss
ich zur Klarstellung der Begriffe noch einen Umstand hervorheben,
der, wenn nicht berücksichtigt, Anlass zu Verwirrung geben könnte.
Ich habe eingangs bemerkt, dass ich in frühern Publikationen den
Introvertierten mit dem Denktypus und den Extravertierten mit dem
Fühltypus identifiziert hätte. Es ist mir erst später, wie ich schon
bemerkte, klar geworden, dass Introversion und Extraversion als
allgemeine Grundeinstellungen von den Funktionstypen zu unterscheiden
sind. Diese beiden Einstellungen sind auch am leichtesten zu erkennen,
während es schon einer umfangreichen Erfahrung bedarf, um auch die
Funktionstypen, zu unterscheiden. Es ist bisweilen ungemein schwierig,
herauszufinden, welcher Funktion das Primat zukommt. Verführerisch
wirkt die Tatsache, dass der Introvertierte naturgemäss einen
reflektierenden und überlegenden Eindruck macht, infolge seiner
abstrahierenden Einstellung. Man ist daher leicht geneigt, bei ihm
deshalb das Primat des Denkens zu vermuten. Umgekehrt zeigt der
Extravertierte natürlicherweise sehr viele unmittelbare Reaktionen,
welche leicht ein Vorherrschen des Gefühlselementes vermuten lassen.
Diese Vermutungen sind aber täuschend, indem der Extravertierte leicht
auch ein Denktypus und der Introvertierte ein Fühltypus sein kann.
_Jordan_ beschreibt im allgemeinen bloss den Introvertierten und
den Extravertierten. Wo er aber in die Einzelheiten geht, wird seine
Beschreibung missverständlich, indem sich dort Züge verschiedener
Funktionstypen mischen, die wegen ungenügender Durcharbeitung des
Stoffes nicht auseinander gehalten sind. In den allgemeinen Zügen aber
ist das Bild der introvertierten und der extravertierten Einstellung
unmissverständlich herausgekommen, sodass das Wesen der beiden
Grundeinstellungen völlig ersichtlich wird.

Die Charakterisierung der Typen von der Affektivität her erscheint mir
als das eigentlich Bedeutungsvolle der Jordanschen Schrift. Wir sahen
ja bereits, dass das „reflektive“ überlegende Wesen des Introvertierten
durch ein unbewusstes archaïsches Trieb- und Empfindungsleben
compensiert ist. Man könnte auch sagen, dass er eben deshalb
introvertiert eingestellt sei, weil er über ein archaïsch-impulsives,
leidenschaftliches Wesen sich zu der sichern Höhe der Abstraktion
emporheben muss, um von dort aus die unbotmässigen, wildbewegten
Affekte beherrschen zu können. Dieser Gesichtspunkt passt für viele
Fälle gar nicht schlecht. Umgekehrt liesse sich auch sagen, dass das
weniger tiefwurzelnde Affektleben des Extravertierten sich leichter
zur Differenzierung und Domestikation eignet, als das archaïsche,
unbewusste Denken und Fühlen, das Phantasieren, das einen gefährlichen
Einfluss auf seine Persönlichkeit haben kann. Daher er ja immer der
ist, der möglichst geschäftig und massenhaft zu leben und zu erleben
sucht, um ja nicht zu sich und seinen bösen Gedanken und Gefühlen
kommen zu müssen. Aus diesen leicht zu machenden Beobachtungen erklärt
sich eine sonst als paradox anmutende Stelle bei Jordan p. 6, wo er
sagt, dass beim „less impassioned“ (extravertierten) Temperament der
Intellekt vorherrsche und einen ungewöhnlich grossen Anteil an der
Formung des Lebens habe, während beim reflektiven Temperament es gerade
die Affekte seien, welche die grössere Bedeutung beanspruchen.

Diese Auffassung scheint auf den ersten Blick meiner Behauptung, der
„less impassioned“ Typus entspreche meinem extravertierten Typus,
direkt ins Gesicht zu schlagen. Dem ist aber bei näherm Zusehen
keineswegs so, indem das reflektive Wesen es wohl _versucht_, den
unbotmässigen Affekten beizukommen, um in Wirklichkeit aber in höherm
Masse von der Leidenschaft beeinflusst zu sein, als der, der seine am
Objekt orientierten Wünsche zur bewussten Richtschnur seines Lebens
genommen hat. Dieser letztere, der Extravertierte nämlich, versucht
damit überall durchzukommen, muss es aber erleben, dass es seine
subjektiven Gedanken und Gefühle sind, die ihm überall störend in den
Weg treten. Er ist in höherm Masse durch seine psychische Innenwelt
beeinflusst, als er es ahnt. Er selber kann es nicht sehen, aber eine
aufmerksame Umgebung sieht die persönliche _Absichtlichkeit_
seines Strebens. Daher es immer seine Grundregel sein muss, sich zu
fragen: „Was will ich eigentlich? Was ist meine geheime Absicht?“
Der andere, der Introvertierte, mit seinen bewussten, ausgedachten
Absichten übersieht immer das, was seine Umgebung nur allzu deutlich
wahrnimmt, nämlich, dass seine Absichten eigentlich starken, aber
absicht- und objektlosen Trieben dienen und in hohem Masse durch sie
beeinflusst sind. Wer den Extravertierten beobachtet und beurteilt, ist
geneigt, das zur Schau getragene Fühlen und Denken für einen dünnen
Schleier zu halten, der die kalte und ausgeklügelte persönliche Absicht
nur unvollständig verhüllt. Wer den Introvertierten zu verstehen sucht,
wird leicht dem Gedanken verfallen, dass eine heftige Leidenschaft
durch anscheinende Vernünftelei nur mühsam im Zaume gehalten werde.

Beide Urteile sind richtig und falsch. Das Urteil ist _falsch_,
wenn der bewusste Standpunkt, das Bewusstsein überhaupt dem Unbewussten
gegenüber stark und widerstandsfähig ist; richtig aber dann, wenn ein
schwacher bewusster Standpunkt einem starken Unbewussten gegenüber
steht und ihm gegebenenfalls weichen muss. In diesem letztern Falle
bricht dann das hervor, was im Hintergrunde stand, bei dem einen die
egoistische Absicht, beim andern aber die zügellose Leidenschaft,
der elementare Affekt, der sich jeder Konsideration enthebt. Diese
Überlegungen mögen zugleich erkennen lassen, wie Jordan beobachtet:
er ist offenbar auf die Affektivität des Beobachteten eingestellt,
daher seine Nomenklatur: „less emotional“ und „more impassioned“.
Wenn er daher den Introvertierten von der Affektseite aus als
den Leidenschaftlichen auffasst, den Extravertierten vom selben
Standpunkt aus als den weniger Leidenschaftlichen, und sogar als den
Intellektuellen, so beweist er damit eine eigentümliche Art der
Erkenntnis, die man als _intuitiv_ bezeichnen muss. Ich habe
daher oben bereits darauf hingewiesen, dass Jordan den rationalen mit
dem ästhetischen Gesichtspunkt vermische. Wenn er den Introvertierten
als den Leidenschaftlichen, den Extravertierten aber als den
Intellektuellen charakterisiert, so sieht er die beiden Typen offenbar
von der _unbewussten_ Seite her an, d. h. er _nimmt sie wahr
über sein Unbewusstes_. Er beobachtet und erkennt _intuitiv_,
was beim praktischen Menschenkenner mehr oder weniger immer der Fall
sein dürfte. So richtig und so tief eine solche Auffassung gelegentlich
sein mag, so unterliegt sie doch einer sehr wesentlichen Beschränkung:
sie übersieht die tatsächliche Wirklichkeit des Beobachteten, indem
sie immer nur aus seinem unbewussten Spiegelbild, anstatt aus
seiner wirklichen Erscheinung urteilt. Dieser Urteilsfehler haftet
der Intuition ganz allgemein an, weshalb die Vernunft seit jeher
auf gespanntem Fusse mit ihr steht und ihr nur widerwillig ein
Existenzrecht einräumt, obschon sie sich in gewissen Fällen von der
objektiven Richtigkeit der Intuition überzeugen muss. So stimmen die
Jordanschen Formulierungen im grossen und ganzen mit der Wirklichkeit,
jedoch nicht mit der Wirklichkeit, als welche sie die rationalen Typen
verstehen, sondern mit der ihnen unbewussten Wirklichkeit. Diese
Verhältnisse sind natürlich wie nichts geeignet, die Beurteilung des
Beobachteten zu verwirren und die Verständigung über das Beobachtete
zu erschweren. Man streite sich daher in dieser Frage nie um die
Nomenklatur, sondern halte sich ausschliesslich an die Tatsache der
beobachtbaren, gegensätzlichen Verschiedenheit. Obschon ich mich,
meiner Art entsprechend, gänzlich anders ausdrücke als Jordan, so
stimmen wir doch in der Klassifikation des Beobachteten überein (mit
gewissen Abweichungen).

Bevor ich dazu übergehe, die Jordansche Typisierung des
Beobachtungsmateriales zu besprechen, möchte ich noch kurz auf den
postulierten, dritten oder „intermediate“ Typus zurückkommen. Wie wir
sahen, rubriziert Jordan darunter einesteils die ganz Balancierten,
andernteils die Unbalancierten. Es wird nicht überflüssig sein, an
dieser Stelle die Klassifikation der valentinianischen Schule nochmals
in Erinnerung zu rufen: der _hylische_ Mensch, der dem psychischen
und dem pneumatischen untergeordnet ist. Der hylische Mensch entspricht
seiner Definition nach dem Empfindungstypus, d. h. demjenigen
Menschen, dessen dominierende Bestimmungen durch und in den Sinnen,
in der sinnlichen Wahrnehmung gegeben sind. Der Empfindungstypus hat
weder ein differenziertes Denken, noch ein differenziertes Fühlen,
aber seine Sinnlichkeit ist wohl entwickelt. Dies ist, wie bekannt
auch beim Primitiven der Fall. Die triebmässige Sinnlichkeit des
Primitiven hat aber ein Gegenstück, und das ist die Spontaneität des
Psychischen. Das Geistige, die Gedanken erscheinen ihm sozusagen.
Nicht er ist es, der sie macht oder erdenkt -- dazu fehlen ihm die
Fähigkeiten -- sondern sie machen sich selbst und befallen ihn, ja
erscheinen ihm sogar hallucinatorisch. Diese Mentalität ist als
intuitiv zu bezeichnen, denn Intuition ist instinktmässige Wahrnehmung
eines erscheinenden psychischen Inhaltes. Während in der Regel die
psychologische Hauptfunktion des Primitiven die Sinnlichkeit ist, so
ist die weniger hervortretende compensierende Funktion die Intuition.
Auf höherer Stufe der Zivilisation, wo die einen das Denken und die
andern das Fühlen mehr oder weniger differenziert haben, gibt es auch
nicht wenige, welche die Intuition in höherm Masse entwickelt haben und
als wesentlich bestimmende Funktion benützen. Daraus ergibt sich der
intuitive Typus. Ich glaube daher, dass die Jordansche Mittelgruppe in
den Empfindungs- und den Intuitionstypus aufzulösen ist.


2. Spezielle Darstellung und Kritik der Jordanschen Typen.


Was die allgemeine Erscheinung der beiden Typen betrifft, so hebt
Jordan (p. 17) hervor, dass der weniger emotionale Typus viel mehr
hervortretende oder markante Persönlichkeiten aufweise als der
emotionale Typus. Diese Behauptung rührt davon her, dass Jordan den
aktiven Typus Mensch mit dem weniger Emotionalen identifiziert,
was meines Erachtens unzulässig ist. Abgesehen von diesem Irrtum
ist es natürlich richtig, dass sich der weniger Emotionale oder
Extravertierte, wie wir wohl sagen dürfen, durch sein Benehmen viel
bemerkbarer macht als der Emotionale oder Introvertierte.

a) _Die introvertierte Frau._ (The more impassioned woman.) Jordan
bespricht zunächst den Charakter der _introvertierten Frau_. Ich
erwähne die Hauptpunkte seiner Beschreibung im Auszug (p. 17 ff.):
„Ruhiges Benehmen, nicht leicht zu lesender Charakter, gelegentlich
kritisch bis sarkastisch; wenn schon schlechte Launen bisweilen
sehr merklich vorhanden sind, so ist sie doch weder launenhaft noch
rastlos, noch tadelsüchtig, noch „censorious“ (das dem Sinne nach
als „censorhaft“ wiedergegeben werden müsste), noch nörgelnd. Sie
verbreitet Ruhe um sich, und sie ist unbewusst tröstend und heilend.
Unter dieser Oberfläche schlummern aber Affekt und Leidenschaft.
Ihre Gefühlsnatur gedeiht langsam zur Reife. Mit dem Alter gewinnt
ihr Charakter an Reiz. Sie ist „sympathisch“, d. h. mitfühlend und
miterlebend. Die schlechtesten weiblichen Charaktere finden sich in
diesem Typus. Sie sind die grausamsten Stiefmütter. Sie sind zwar
die liebevollsten Mütter und Gattinnen, aber ihre Leidenschaften und
Affekte sind so stark, dass ihre Vernunft davon mitgerissen wird. Sie
lieben zu viel, sie hassen aber auch zu viel. Die Eifersucht kann sie
zum wilden Tier machen. Die Stiefkinder, wenn gehasst, können durch
sie physisch zu Tode gemartert werden. Wo das Böse nicht Herr ist,
da ist die Moralität selbst ein tiefes Gefühl, das seinen eigenen
und unabhängigen Weg geht, der sich nicht immer konventionellen
Ansichten anpasst. Dieser Weg wird nicht begangen aus Nachahmung oder
Unterwerfung und keinesfalls um einer Belohnung willen, weder im
Diesseits noch im Jenseits. In der intimen Beziehung allein entfaltet
sie ihre Vorzüge und Nachteile; hier zeigt sie den Reichtum ihres
Herzens, ihre Sorgen und Freuden, aber auch ihre Leidenschaften und
Fehler, wie Unversöhnlichkeit, Eigensinn, Zorn, Eifersucht oder gar
Zügellosigkeit. Sie ist dem Einfluss des Momentes unterworfen und
wenig fähig an die Wohlfahrt der Abwesenden zu denken. Sie kann
leicht andere vergessen und die Zeit dazu. Wenn sie affektiert ist,
so beruht ihre Pose nicht auf Nachahmung, sondern sie zeigt eine
Veränderung des Benehmens und der Sprache entsprechend veränderten
Gedanken und Gefühlen. In gesellschaftlicher Hinsicht bleibt sie sich
in den verschiedensten Umgebungen möglichst gleich. Im häuslichen wie
im gesellschaftlichen Leben macht sie keine grossen Ansprüche und ist
leicht zufrieden zu stellen. Sie gibt spontan ihre zustimmenden oder
lobenden Urteile. Sie versteht es zu beruhigen oder aufzumuntern. Sie
besitzt das Mitgefühl für alle Schwachen, seien es Zweifüssler oder
Vierfüssler. „Sie erhebt sich zum Hohen und beugt sich zum Niedrigen,
sie ist Schwester und Spielgefährte der ganzen Natur.“ Ihr Urteil ist
milde und tolerant. Wenn sie liest, so sucht sie den innersten Gedanken
und das tiefste Gefühl des Buches zu erfassen; sie misshandelt deshalb
das Buch mit Bleistiftstrichen und Randbemerkungen und liest es noch
einmal.“

Aus dieser Beschreibung ist unschwer der introvertierte Charakter zu
erkennen. Die Beschreibung ist aber in einem gewissen Sinne einseitig,
indem, sie hauptsächlich die Gefühlsseite in Betracht zieht, ohne
gerade jenes Charakteristikum zu betonen, auf das ich einen besondern
Wert lege, nämlich das _bewusste Innenleben_. Jordan erwähnt
zwar, dass die introvertierte Frau „contemplative“ sei, ohne aber
näher darauf einzugehen. Seine Beschreibung bestätigt aber, wie mir
scheint, meine Ausführungen über die Art seines Beobachtens; er sieht
hauptsächlich das durch Gefühle konstellierte äussere Benehmen und
die Äusserungen der Leidenschaft, er geht aber nicht ein auf das
Wesen des Bewusstseins dieses Typus. Er erwähnt daher nicht, dass das
Innenleben eine ganz ausschlaggebende Rolle spielt für die bewusste
Psychologie dieses Typus. Warum z. B. liest die introvertierte Frau
aufmerksam? Weil sie vor allem das Verstehen und das Erfassen der
Gedanken liebt. Warum ist sie ruhig und beruhigend? Weil sie in der
Regel ihre Gefühle bei sich behält und sie in ihren Gedanken betätigt,
statt sie den andern aufzuladen. Ihre unkonventionelle Moralität stützt
sich auf tiefgehende Überlegung und innere überzeugende Gefühle. Der
Reiz ihres ruhigen und verständigen Charakters beruht nicht bloss
auf einer ruhigen Einstellung, sondern darauf, dass man vernünftig
und zusammenhängend mit ihr reden kann, und dass sie im Stande ist,
das Argument ihres Partners zu würdigen. Sie unterbricht ihn nicht
mit impulsiven Äusserungen, sondern begleitet seine Meinungen mit
ihren Gedanken und Gefühlen, die gleichwohl feststehen und nicht am
gegnerischen Argument umfallen.

Dieser festen und wohl ausgebildeten Ordnung der bewussten seelischen
Inhalte stemmt sich ein chaotisch-leidenschaftliches Affektleben
entgegen, das der Introvertierten sehr oft, wenigstens in seinem
persönlichen Aspekt bewusst ist, und das sie fürchtet, weil sie es
kennt. Sie denkt über sich selber nach und ist darum nach aussen
gleichmässig und kann anderes erkennen und anerkennen, ohne darüber
mit Beifall oder Tadel herzufallen. Weil ihr Affektleben ihr diese
guten Eigenschaften aber verdirbt, so lehnt sie ihre Triebe und Affekte
möglichst ab, ohne aber ihrer Herr zu werden. So wie ihr Bewusstsein
logisch und festgefügt ist, so ist ihr Affekt elementar, verworren
und unbeherrschbar. Es fehlt ihm die eigentlich menschliche Note, es
ist disproportioniert, irrational, es ist ein _Naturphänomen_,
das menschliche Ordnung durchbricht. Es fehlt ihm jeglicher tastbare
Hintergedanke, jede Absicht, darum ist es unter Umständen schlechthin
destruktiv, ein Wildbach, der keine Zerstörung beabsichtigt und keine
vermeidet, rücksichtslos und notwendig, nur seinem Gesetze gehorchend,
ein Prozess, der sich selbst erfüllt. Ihre guten Eigenschaften rühren
davon her, dass es dem Denken, einer toleranten oder wohlwollenden
Auffassung, gelungen ist, einen Teil des Trieblebens zu beeinflussen
und nachzuziehen, ohne aber das Ganze des Triebes ergreifen und
umgestalten zu können. Die Affektivität der introvertierten Frau
ist ihr weit weniger klar bewusst in seinem ganzen Umfang als
ihre rationalen Gedanken und Gefühle. Sie ist unfähig, ihre ganze
Affektivität zu umfassen, während sie verwendbare Auffassungen hat.
Ihre Affektivität ist weit weniger beweglich als ihre geistigen
Inhalte, sie ist gewissermassen zähflüssig, von bedeutender Inertie,
daher schwer zu ändern, sie ist perseverierend, daher ihre unbewusste
Stetigkeit und Gleichmässigkeit, daher aber auch ihr Eigensinn und
ihre bisweilen unvernünftige Unbeeinflussbarkeit in Dingen, welche die
Affektivität betreffen.

Diese Überlegungen können erklären, warum ein Urteil über die
introvertierte Frau ausschliesslich von der Seite der Affektivität
unvollständig und ungerecht ist im schlechten wie im guten Sinne.
Wenn Jordan die schlechtesten weiblichen Charaktere unter den
Introvertierten findet, so rührt dies meines Erachtens daher, dass
er ein zu grosses Gewicht auf die Affektivität legt, wie wenn nur die
Leidenschaft die Mutter des Bösen wäre. Man kann Kinder auch anders
zu Tode quälen als bloss physisch. Und umgekehrt ist jener besondere
Reichtum an Liebe bei introvertierten Frauen keineswegs immer ihr
eigener Besitz, sondern sie sind öfters vielmehr davon besessen und
können nicht wohl anders, bis einmal eine günstige Gelegenheit kommt,
wo sie zum Erstaunen ihres Partners plötzlich eine unerwartete Kälte
zeigen. Das Affektleben des Introvertierten überhaupt ist seine
schwache Seite, es ist nicht unbedingt verlässlich. Er täuscht sich
selber darüber, und andere täuschen und enttäuschen sich an ihm, wenn
sie zu ausschliesslich auf seine Affektivität abstellen. Sein Geist ist
verlässlicher, weil angepasster. Sein Affekt ist zu sehr ungebändigte
Natur.

b) _Die extravertierte Frau._ (The less impassioned woman.)
Wir gehen nunmehr über zu Jordans Schilderung der „less impassioned
woman“. Ich muss auch hier alles ausscheiden, was der Autor in punkto
Aktivität hineinmengt, denn diese Beimischung ist nur geeignet, den
typischen Charakter weniger gut erkennen zu lassen. Wenn daher von
einer gewissen Raschheit der Extravertierten die Rede ist, so ist damit
nicht das Element des Tatkräftigen, Aktiven gemeint, sondern nur die
Beweglichkeit aktiver Vorgänge. Jordan sagt von der extravertierten
Frau[104]: „Eine gewisse Raschheit und ein gewisser Opportunismus, eher
als Ausdauer und Konsequenz. Ihr Leben ist in der Regel von vielen
kleinen Dingen ausgefüllt. Sie überbietet selbst Lord Beaconsfield,
wenn er sagt, dass die unwichtigen Dinge nicht sehr unwichtig sind,
und die wichtigen Dinge nicht sehr wichtig. Sie verweilt gerne --
wie ihre Grossmutter tat, und wie ihre Enkel noch tun werden -- bei
der allgemeinen Verschlechterung der Menschen und Dinge. Sie ist
überzeugt, dass nichts geriete, wenn sie nicht danach sähe. Öfters
äusserst nützlich in sozialen Bewegungen. Energieverschwendung in
häuslichem Reinemachen, ein ausschliesslicher Lebenszweck für viele.
Öfters keine Ideen, keine Leidenschaften, keine Ruhe und keine Fehler.
Ihre affektive Entwicklung ist früh vollendet. Sie ist mit 18 Jahren
ebenso weise wie mit 48. Ihr geistiges Blickfeld ist weder tief noch
weit, aber es ist von vornherein klar. Bei guter Begabung führende
Stellung. In Gesellschaft zeigt sie gütige Gefühle, ist freigebig,
gastfreundlich zu jedermann. Sie beurteilt jedermann, und vergisst,
dass sie selbst beurteilt wird. Sie ist hilfreich. Keine tiefe
Leidenschaft. Lieben ist für sie Vorziehen, Hass ist bloss Abneigung,
Eifersucht bloss gekränkter Stolz. Ihr Enthusiasmus hält nicht an.
Sie geniesst die Schönheit der Dichtkunst, weniger ihr Pathos. Ihr
Glauben und ihr Unglauben ist mehr vollständig als stark. Sie hat
keine richtigen Überzeugungen, aber auch keine bösen Ahnungen. Sie
glaubt nicht, sondern nimmt an; sie ist nicht ungläubig, sondern sie
weiss nicht. Sie forscht nicht nach und zweifelt nicht. In wichtigen
Angelegenheiten überlässt sie sich der Autorität, in kleinern Dingen
macht sie voreilige Schlüsse. In ihrer eigenen kleinen Welt ist alles
so, wie es nicht sein sollte, in der grossen Welt ist alles recht. Sie
wehrt sich instinktiv, Vernunftschlüsse in die Praxis umzusetzen. Zu
Hause zeigt sie einen ganz andern Charakter als in der Gesellschaft.
Die Eheschliessung ist stark beeinflusst durch Ehrgeiz, Lust zur
Veränderung, oder Gehorsam gegenüber hergebrachter Gewohnheit, oder
durch das Verlangen, das Leben auf eine „solide Basis“ zu stellen,
oder um eine grössere Wirkungssphäre zu erreichen. Wenn ihr Mann zum
„impassioned“ Typus gehört, so liebt er die Kinder mehr als sie. Im
häuslichen Kreise kommt bei ihr alles Unerfreuliche zu Tage. Hier
lässt sie sich in unzusammenhängenden Tadelsvoten gehen. Unmöglich,
vorauszusehen, wann für einen Augenblick die Sonne herauskommt. Sie
beobachtet und kritisiert sich nicht. Wenn man ihr das beständige
Beurteilen und Tadeln einmal vorwirft, so ist sie erstaunt und
beleidigt und versichert, dass sie doch nur das Beste wolle, „aber
es gibt Leute, die nicht wissen, was für sie gut ist“. Die Art, wie
sie ihrer Familie Gutes tun möchte, ist ganz verschieden von der, wie
sie andern Leuten nützen möchte. Der Haushalt muss immer bereit sein,
von der Welt gesehen zu werden. Die Gesellschaft muss unterstützt und
gefördert werden. Auf die obern Klassen muss man Eindruck machen, die
niedern müssen in Ordnung gehalten werden. Das eigene Haus ist ihr
Winter, die Gesellschaft ihr Sommer. Die Verwandlung beginnt, sobald
ein Besuch kommt. Keine Neigung zur Askese, ihre Respektabilität hat
es nicht nötig. Liebe zum Wechsel, zur Bewegung und Erholung. Sie
kann den Tag mit einem Gottesdienst anfangen und mit der komischen
Oper beschliessen. Gesellschaftliche Beziehung ist ihr Genuss. Dort
findet sie alles, Arbeit und Glück. Sie glaubt an die Gesellschaft,
und die Gesellschaft glaubt an sie. Ihre Gefühle sind wenig durch
Vorurteil beeinflusst und sie ist gewohnheitsmässig „anständig“. Sie
imitiert gerne und wählt dazu die besten Modelle aus, gibt sich darüber
aber keine Rechenschaft. Die Bücher, die sie liest, müssen Leben und
handelnde Personen enthalten.“

Dieser wohlbekannte Typus Frau, den Jordan als „less impassioned“
bezeichnet, ist ohne Zweifel extravertiert. Darauf deutet das ganze
Benehmen, das, um seiner Art willen, eben als extravertiert bezeichnet
wird. Das beständige Beurteilen, das nie auf wirklicher Überlegung
beruht, ist ein Extravertieren eines flüchtigen Eindruckes, das mit
einem wirklichen Gedanken nichts zu tun hat. Ich erinnere mich an
einen witzigen Aphorismus, den ich einmal irgendwo gelesen habe:
„Denken ist so schwer -- darum _urteilen_ die Meisten“. Überlegung
fordert vor allem Zeit, daher der, der überlegt, schon gar keine
Gelegenheit zu beständiger Urteilsäusserung hat. Die Inkohärenz
und Inkonsequenz des Urteils, seine Abhängigkeit von Tradition und
Autorität zeigt die Abwesenheit eines selbständigen Überlegens an;
ebenso deutet der Mangel an Selbstkritik und die Unselbständigkeit
der Auffassung auf einen Defekt der Urteilsfunktion. Die Abwesenheit
des geistigen Innenlebens bei diesem Typus kommt viel deutlicher zum
Ausdruck als seine Anwesenheit beim introvertierten Typus in der oben
vorangegangenen Schilderung. Man wäre nun leicht geneigt, nach dieser
Schilderung auf einen ebenso grossen oder noch grössern Defekt der
Affektivität zu schliessen, die offenkundig oberflächlich, ja seicht
ist, fast unecht, denn die immer damit verbundene oder dahinter
erkennbare Absicht macht das affektive Streben fast wertlos. Ich bin
aber geneigt anzunehmen, dass der Autor hier ebenso unterschätzt, wie
er im frühern Fall überschätzt. Trotz den gelegentlichen Anerkennungen
von guten Eigenschaften kommt der Typus im ganzen doch recht schlecht
weg. Ich glaube in diesem Fall an eine gewisse Voreingenommenheit
des Autors. Es genügt ja meistens, dass man mit einigen oder einem
Vertreter eines Typus schlechte Erfahrungen gemacht hat, um einem für
jeden ähnlichen Fall den Geschmack zu nehmen. Man darf nicht vergessen,
dass, wie die Verständigkeit der introvertierten Frau auf einer
genauen Einpassung ihrer geistigen Inhalte in das allgemeine Denken
beruht, so die Affektivität der extravertierten Frau eine gewisse
Beweglichkeit und geringe Tiefe besitzt wegen ihrer Einpassung in das
allgemeine Leben der menschlichen Gesellschaft. Es handelt sich in
diesem Fall um eine sozial differenzierte Affektivität von nicht zu
bestreitender Allgemeingültigkeit, die von der Schwere, Zähigkeit und
Leidenschaftlichkeit des introvertierten Affektes sogar vorteilhaft
absticht. Die differenzierte Affektivität hat das Chaotische des
Pathos abgestreift und ist zu einer disponibeln Anpassungsfunktion
geworden, allerdings auf Kosten des geistigen Innenlebens, das sich
durch Abwesenheit bemerkbar macht. Nichtsdestoweniger aber ist es
im Unbewussten vorhanden und zwar in einer der introvertierten
Leidenschaft entsprechenden Form, nämlich in einem unentwickelten
Zustand. Dieser Zustand ist charakterisiert durch Infantilismus und
Archaïsmus. Aus dem Unbewussten gibt der unentwickelte Geist dem
affektiven Streben Inhalte und geheime Motive mit, die nicht verfehlen,
auf den kritischen Beobachter einen übeln Eindruck zu machen, während
der Unkritische sie übersieht. Über dem unerfreulichen Eindruck, den
die beständige Wahrnehmung schlecht verhüllter egoistischer Motive auf
den Beschauer macht, vergisst man allzuleicht die Tatsächlichkeit und
die angepasste Nützlichkeit der zur Schau getragenen Bestrebungen.
Alles Leichte, Unverbindliche, Gemässigte, Harmlose, Oberflächliche
des Lebens verschwände, wenn es keine differenzierten Affekte gäbe.
Man würde entweder im immerwährenden Pathos oder in der gähnenden
Leere verdrängter Leidenschaft ersticken. Wenn die soziale Funktion
des Introvertierten hauptsächlich den Einzelnen wahrnimmt, so fördert
der Extravertierte das Leben der Gesellschaft, die ebenfalls ein
Anrecht auf Existenz hat. Dazu bedarf er der Extraversion, weil sie
in erster Linie die Brücke zum Nächsten schlägt. Die Affektäusserung
wirkt bekanntlich suggestiv, während das Geistige erst mittelbar,
nach mühsamer Übersetzung, seine Wirksamkeit entfalten kann. Die zu
der sozialen Funktion benötigten Affekte dürfen gar nicht tief sein,
sonst erzeugen sie Leidenschaft beim Andern. Leidenschaft aber stört
das Leben und Gedeihen der Societät. So ist auch der angepasste,
differenzierte Geist des Introvertierten nicht tief, sondern mehr
extensiv, und daher nicht störend und aufreizend, sondern vernünftig
und beruhigend. Wie aber der Introvertierte störend wird durch die
Heftigkeit seiner Leidenschaft, so wird der Extravertierte aufreizend
durch sein halb unbewusstes Denken und Fühlen, das inkohärent und
abgerissen oft in Form von takt- und schonungslosen Urteilen dem
Mitmenschen appliziert wird. Wenn man die Gesamtheit solcher Urteile
zusammensetzt und versucht, daraus synthetisch eine Psychologie zu
konstruieren, so gelangt man zunächst zu einer ganz animalischen
Grundauffassung, die an trostloser Wildheit, Roheit und Dummheit dem
mörderischen Affektwesen des Introvertierten in keiner Weise nachsteht.
Ich kann daher die Behauptung Jordans, dass die schlechtesten
Charaktere unter den leidenschaftlichen introvertierten Naturen
zu finden seien, nicht unterschreiben. Unter den Extravertierten
gibt es ebenso viele und ebenso gründliche Schlechtigkeit. Wo die
introvertierte Leidenschaftlichkeit in rohen Taten sich äussert,
da begeht die Gemeinheit des unbewussten extravertierten Denkens
und Fühlens Schandtaten an der Seele des Opfers. Ich weiss nicht,
was schlimmer ist. Der Nachteil des erstern Falles ist, dass die
Tat sichtbar ist, die Gesinnungsgemeinheit des letztern Falles aber
verbirgt sich hinter dem Schleier eines akzeptabeln Benehmens.
Ich möchte die soziale Fürsorglichkeit dieses Typus, seine aktive
Anteilnahme am Wohlergehen des Andern hervorheben, ebenso auch seine
ausgesprochene Tendenz, andern eine Freude zu bereiten. Diese Qualität
hat der Introvertierte meist nur in der Phantasie. Die differenzierten
Affekte haben den weitern Vorteil der Anmut, der schönen Form.
Sie verbreiten eine ästhetische, wohltuende Atmosphäre, Es gibt
überraschend viele Extravertierte, die eine Kunst (meistens Musik)
üben, weniger, weil sie dazu besonders befähigt sind, als weil sie
damit der Gesellschaftlichkeit dienen können. Auch die Tadelsucht hat
nicht immer einen unangenehmen oder gar wertlosen Charakter. Sehr
oft beschränkt sie sich auf eine angepasste erzieherische Tendenz,
welche sehr viel Gutes stiftet. Ebenso ist die Abhängigkeit des Urteils
nicht unter allen Umständen von Übel, sondern trägt vielmehr bei zur
Unterdrückung von Extravaganzen und schädlichen Auswüchsen, die dem
Leben und der Wohlfahrt der Societät keineswegs förderlich sind. Es
wäre überhaupt ganz ungerechtfertigt, behaupten zu wollen, der eine
Typus sei in irgend einer Hinsicht wertvoller als der andere. Die Typen
ergänzen sich gegenseitig, und ihre Verschiedenheit ergibt gerade jenes
Mass an Spannung, dessen das Individuum sowohl wie die Societät zur
Erhaltung des Lebens bedarf.

c) _Der extravertierte Mann._ Vom extravertierten Manne
sagt Jordan (p. 26 ff.): „Unberechenbar und unbestimmt in seiner
Einstellung, Neigung zur Launenhaftigkeit, aufgeregtem Getue,
Unzufriedenheit und Urteilerei, beurteilt alles und jedes in abfälliger
Weise, ist aber immer mit sich selber zufrieden. Obschon sein
Urteil oft falsch ist und seine Projekte scheitern, so hat er doch
grenzenloses Vertrauen in sie. Wie Sydney Smith von einem berühmten
Staatsmann seiner Zeit sagte: er war jeden Moment bereit, das Kommando
der Kanalflotte zu übernehmen, oder ein Bein zu amputieren. Er hat
eine bestimmte Formel für alles, was ihm vorkommt: entweder ist die
Sache nicht wahr -- oder man kennt sie schon längst. An seinem Himmel
gibt es nicht Platz für zwei Sonnen. Gibt es aber ausser ihm noch
eine, so ist er ein Märtyrer. Er ist frühreif. Er liebt das Verwalten,
oft ist er der Gesellschaft äusserst nützlich. Wenn er in einer
Wohltätigkeitskommission sitzt, so interessiert er sich ebenso sehr für
die Auswahl einer Waschfrau wie für die Wahl des Vorsitzenden. In der
Gesellschaft ist er ganz dabei mit allen Kräften. Mit Selbstvertrauen
und Ausdauer führt er sich der Gesellschaft vor. Er ist immer darauf
aus, Erfahrungen zu machen, weil Erfahrung ihm hilft. Er zieht es vor,
der öffentlich _bekannte_ Vorsitzende einer Kommission von drei
Mitgliedern, statt der _unbekannte_ Wohltäter eines ganzen Volkes
zu sein. Mindere Begabung verhindert keineswegs seine Wichtigkeit. Ist
er tätig? Er ist überzeugt, dass er energisch ist. Ist er geschwätzig?
Er glaubt an sein Rednertalent. Er erzeugt selten neue Ideen oder
eröffnet neue Pfade, aber er ist rasch bei der Hand, zu folgen,
zu erfassen, anzuwenden und auszuführen. Er ist geneigt, sich an
bereits bestehende und allgemein angenommene religiöse und politische
Überzeugungen zu halten. Bei gewissen Gelegenheiten ist er geneigt mit
Bewunderung die Kühnheit seiner ketzerischen Ideen zu betrachten. Nicht
selten ist aber sein Ideal so hoch und stark, dass nichts die Bildung
einer weiten und gerechten Lebensauffassung hindern kann. Sein Leben
ist meistens gekennzeichnet durch Moralität, Wahrhaftigkeit und ideale
Prinzipien, aber bisweilen führt ihn die Lust nach unmittelbarem Effekt
in Schwierigkeiten. Wenn er in öffentlicher Versammlung zufälligerweise
unbeschäftigt ist, d. h. nichts vorzuschlagen oder zu unterstützen oder
zu beantragen oder zu opponieren hat, dann wird er doch aufstehen und
wenigstens verlangen, dass man ein Fenster des Zuges wegen schliesse
oder vielmehr, dass man eines öffne, um mehr Luft hereinzulassen.
Denn er verlangt ebenso sehr Luft, wie Aufmerksamkeit. Immer geneigt,
das zu tun, worum ihn niemand gebeten hat. Überzeugt, dass die Leute
ihn so sehen, wie er wünscht, dass sie ihn sehen, nämlich als einen,
der schlaflos auf seines Nächsten Wohl bedacht ist. Er verpflichtet
sich andere, und kann infolgedessen doch nicht wohl ohne Belohnung
von dannen gehen. Er vermag durch die Rede zu bewegen, ohne selbst
bewegt zu sein. Er findet rasch die Wünsche und Meinungen der andern
heraus. Er warnt vor drohendem Unheil, organisiert und unterhandelt
geschickt mit Gegnern. Er hat immer Projekte und zeigt sensationelle
Geschäftigkeit. Wenn irgend möglich, muss die Gesellschaft angenehm
beeindruckt werden, und wenn das nicht möglich, so doch wenigstens in
Erstaunen versetzt, und wenn auch das nicht verfängt, dann muss sie
wenigstens beängstigt und erschüttert werden. Er ist ein Heiland von
Beruf; als anerkannter Heiland gefällt er sich nicht übel. Wir können
von uns aus ja nichts recht machen -- aber wir können an ihn glauben,
von ihm träumen, Gott für ihn danken und ihn bitten, uns anzureden.
Er ist unglücklich in der Ruhe und kann nicht richtig ausruhen. Nach
einem Tag voll Arbeit muss er einen prickelnden Abend haben in Theater,
Konzert, Kirche, Bazar, Diner, Klub oder in allen zusammen. Hat er eine
Versammlung versäumt, so stört er sie wenigstens mit einem ostentativen
Entschuldigungstelegramm.“

Auch diese Beschreibung lässt den Typus wohl erkennen. Aber fast noch
mehr als bei der Beschreibung der extravertierten Frau tritt, trotz
einzelnen anerkennenden Feststellungen, das Moment einer karikierenden
Entwertung hervor. Dies liegt zum Teil daran, dass diese Methode der
Beschreibung dem extravertierten Wesen überhaupt nicht gerecht werden
kann, indem es sozusagen unmöglich ist, mit intellektuellen Mitteln den
spezifischen Wert des Extravertierten ins richtige Licht zu rücken,
während dies beim Introvertierten viel leichter möglich ist, indem
seine bewusste Vernünftigkeit und seine bewusste Motivation sich durch
intellektuelle Mittel ausdrücken lassen, ebenso die Tatsache seiner
Leidenschaft und die daraus erfliessenden Taten. Beim Extravertierten
dagegen liegt der Hauptwert bei den Beziehungen zum Objekt. Einzig das
Leben selbst scheint mir dem Extravertierten jenes Recht einzuräumen,
das ihm die intellektuelle Kritik nicht geben kann. Das Leben allein
zeigt seine Werte und anerkennt sie. Man kann zwar konstatieren, dass
der Extravertierte sozial nützlich sei, dass er sich grosse Verdienste
um den Fortschritt der menschlichen Gesellschaft erwerbe usw. Aber eine
Analyse seiner Mittel und seiner Motivationen wird immer ein negatives
Resultat geben, denn der Hauptwert des Extravertierten liegt nicht in
ihm selbst, sondern in der wechselseitigen Beziehung mit dem Objekt.
Die Beziehung zum Objekt gehört zu jenen Imponderabilien, welche die
intellektuelle Formulierung nie wird erfassen können.

Die intellektuelle Kritik kann es nicht unterlassen, analysierend
vorzugehen und mittelst Angabe von Motivationen und Zwecken das
Beobachtete zur völligen Deutlichkeit zu bringen. Daraus entsteht
aber ein Bild, das für die Psychologie des Extravertierten so gut
wie ein Zerrbild ist, und wer etwa glauben sollte, er fände die
richtige Einstellung zu einem Extravertierten auf Grund einer solchen
Beschreibung, der würde zu seinem Erstaunen sehen, dass die wirkliche
Persönlichkeit ihrer Beschreibung spottet. Eine solch einseitige
Auffassung verhindert die Anpassung an den Extravertierten durchaus.
Um ihm gerecht zu werden, muss das Denken über ihn ganz ausgeschlossen
werden, so wie auch der Extravertierte sich dem Introvertierten nur
richtig anpassen kann, wenn er im Stande ist, seine geistigen Inhalte
als solche zu nehmen, abgesehen von ihrer möglichen praktischen
Verwendbarkeit. Die intellektuelle Analyse kann gar nichts anderes,
als dem Extravertierten alle möglichen Hinter- und Nebengedanken,
Zweckabsichten, und dergleichen mehr zuzuschieben, die in Wirklichkeit
nicht eigentlich existieren, sondern höchstens als schattenhafte
Effekte unbewusster Hintergründe mit einfliessen. Es ist ja gewiss
so, dass der Extravertierte, wenn er sonst nichts zu sagen hat, doch
wenigstens ein Fenster schliessen oder öffnen lässt. Doch wer hat
es bemerkt? Wem ist es wesentlich aufgefallen? Doch nur einem, der
sich Rechenschaft zu geben versucht über die möglichen Gründe und
Absichten solchen Handelns, also einem, der reflektiert, zergliedert
und rekonstruiert, während für alle andern dieser kleine Lärm in das
allgemeine Lebensgeräusch überhaupt aufgeht, ohne dass sie irgend
welchen Anlass fänden, darin dies oder jenes zu sehen. Aber eben in
dieser Weise manifestiert sich die Psychologie des Extravertierten:
sie gehört zu den Ereignissen des täglichen menschlichen Lebens und
bedeutet nichts darüber und nichts darunter. Nur wer überlegt, sieht
weiter und sieht schief -- was das Leben anbelangt -- richtig aber,
was den unbewussten gedanklichen Hintergrund des Extravertierten
anbetrifft. Er sieht nicht den positiven Menschen, sondern bloss
seinen _Schatten_. Und der Schatten gibt dem Urteil recht zum
Nachteil des bewussten positiven Menschen. Ich glaube, man tut,
aus Gründen der Verständigung, gut daran, den Menschen von seinem
Schatten, dem Unbewussten, zu trennen, sonst ist die Diskussion von
einer Begriffsverwirrung sondergleichen bedroht. Man nimmt vieles
am andern Menschen wahr, was nicht zu seiner bewussten Psychologie
gehört, sondern aus seinem Unbewussten herausleuchtet, und lässt sich
dadurch verführen, ihm als einem bewussten Ich die beobachtete Qualität
auch zuzurechnen. Das Leben und das Schicksal tun auch so, aber der
Psycholog, dem die Erkenntnis der Struktur der Psyche einerseits und
die Ermöglichung einer bessern Verständigung der Menschen unter sich am
Herzen liegt, sollte nicht so tun, sondern den bewussten Menschen vom
unbewussten reinlich scheiden, denn nur über die Angleichung bewusster
Standpunkte lässt sich Klarheit und Verständigung erreichen, niemals
aber durch Reduktion auf die unbewussten Hintergründe, Nebenlichter und
Viertelstöne.

d) _Der introvertierte Mann._ Vom Charakter des introvertierten
Mannes (the more impassioned and reflective man) sagt Jordan[105]:
„Seine Vergnügungen wechseln nicht von Stunde zu Stunde, seine Liebe zu
einem Vergnügen ist genuiner Natur, er sucht das Vergnügen nicht aus
blosser Rastlosigkeit. Wenn er in öffentlicher Stellung ist, so ist er
dies auf Grund einer bestimmten Befähigung, oder er hat etwas im Sinn,
das er ausführen möchte. Wenn seine Arbeit getan ist, so geht er gerne,
er kann andere anerkennen und zöge es vor, seine Sache in der Hand
eines Andern gedeihen zu sehen als in der eigenen zu Grunde zu gehen.
Er überschätzt leicht die Verdienste seiner Mitarbeiter. Er ist und
kann nie ein habitueller Schimpfer sein. Er entwickelt sich langsam,
ist ein Zauderer, kein religiöser Führer, hat nie die Selbstsicherheit,
derart zu wissen, was ein Irrtum ist, dass er dafür seinen Nächsten
verbrennen könnte. Obschon es ihm nicht an Mut fehlt, so bringt er doch
nicht soviel Überzeugung für seine eigene unfehlbare Wahrheit auf, dass
er sich dafür verbrennen liesse. Bei bedeutender Begabung wird er von
seiner Umgebung in den Vordergrund geschoben, während sich der andere
Typus von selbst in Szene setzt.“

Es ist, wie mir scheint, bezeichnend, dass der Autor im Kapitel über
den introvertierten Mann, um den es sich hier handelt, tatsächlich
nicht mehr sagt, als ich hier auszugsweise angegeben habe. Am meisten
wird eine Schilderung der Passion vermisst, um derentwillen er doch
als „impassioned“ bezeichnet wird. Gewiss muss man in diagnostischen
Mutmassungen vorsichtig sein -- aber dieser Fall scheint zu der Annahme
einzuladen, dass der Abschnitt über den introvertierten Mann wohl aus
subjektiven Gründen so mager ausgefallen ist. Man hätte nach der ebenso
eingehenden wie ungerechten Schilderung des extravertierten Typus eine
ähnliche Gründlichkeit der Beschreibung auch für den introvertierten
Typus erwartet. Warum ist sie ausgeblieben?

Setzen wir den Fall, Jordan sei selber auf der introvertierten Seite,
so wäre es begreiflich, dass ihm eine ähnliche Beschreibung, wie er
sie für seinen Gegentypus mit unbarmherziger Schärfe gibt, wohl kaum
gelegen hätte. Ich möchte nicht sagen, wegen Mangels an Objektivität,
sondern wegen Mangels an Kenntnis seines eigenen Schattens. Wie der
Introvertierte seinem Gegentypus erscheint, das kann der Introvertierte
unmöglich wissen oder erdenken, es sei denn, dass er es sich vom
Extravertierten vorsagen liesse auf die Gefahr hin, dass er ihn
zum Duell fordern müsste. Denn ebensowenig, wie der Extravertierte
ohne weiteres gewillt ist, die oben gegebene Charakteristik als ein
wohlwollendes und zutreffendes Bild seines Charakters anzunehmen,
ist der Introvertierte geneigt, seine Charakteristik von einem
extravertierten Beobachter und Kritiker zu empfangen. Sie wäre nämlich
ebenso entwertend. Denn in derselben Weise, wie der Introvertierte den
Extravertierten zu erfassen versucht und dabei gänzlich daneben gerät,
so versucht der Extravertierte das geistige Innenleben des Andern vom
Standpunkt der Äusserlichkeit zu verstehen und gerät ebenso gründlich
daneben. Der Introvertierte macht immer den Fehler, das Handeln aus der
subjektiven Psychologie des Extravertierten ableiten zu wollen, der
Extravertierte aber kann das geistige Innenleben immer nur als eine
Folge äusserer Umstände begreifen. Ein abstrakter Gedankengang muss
für den Extravertierten eine Phantasie, eine Art Hirngespinnst sein,
wenn eine objektive Beziehung nicht ersichtlich ist. Und tatsächlich
sind introvertierte Gedankengespinnste oft nichts weiteres als solche.
Jedenfalls wäre vom introvertierten Mann vieles zu sagen, und ein
ebenso vollständiges wie ungünstiges Schattenbild zu geben, wie Jordan
dies im frühern Abschnitt über den Extravertierten getan hat.

Von Wichtigkeit scheint mir die Bemerkung Jordans zu sein, dass das
Vergnügen des Introvertierten „genuiner Natur“ sei. Das scheint
überhaupt eine Eigentümlichkeit des introvertierten Gefühls zu sein:
es ist genuin, es ist, weil es aus sich selber da ist, es wurzelt in
der tiefern Natur des Menschen, es steigt gewissermassen als sein
eigener Zweck aus sich selber empor; es will keinem andern Zwecke
dienen, leiht sich auch keinem und begnügt sich damit, sich selbst zu
erfüllen. Das hängt zusammen mit der Spontaneität des archaïschen und
natürlichen Phänomens, das sich bis dahin noch nicht den Zweckabsichten
der Zivilisation gebeugt hat. Zu Recht oder Unrecht, jedenfalls
ohne Rücksicht auf Recht oder Unrecht, auf Zweckmässigkeit oder
Unzweckmässigkeit, manifestiert sich der affektive Zustand, dem Subjekt
aufgedrängt, auch gegen seinen Willen und seine Erwartung. Er hat
nichts an sich, was auf gedachte Motivation schliessen liesse.

Auf die weitern Abschnitte des Buches von Jordan möchte ich hier nicht
eintreten. Er zitiert historische Persönlichkeiten als Beispiele, wobei
vielerlei schiefe Gesichtspunkte herauskommen, die auf dem bereits
erwähnten Übelstande beruhen, dass der Autor das Kriterium des Aktiven
und des Passiven hereinbringt und mit den andern Kriterien vermengt.
Daraus ergibt sich öfters der Schluss, dass eine aktive Persönlichkeit
auch zum leidenschaftslosen Typus gerechnet wird und umgekehrt eine
leidenschaftliche Natur auch immer passiv sein sollte. Meine Ansicht
sucht diesen Irrtum zu vermeiden, indem sie das Moment der Aktivität
als Gesichtspunkt überhaupt ausscheidet.

Jordan gebührt aber das Verdienst, zum ersten Mal (meines Wissens!)
eine relativ zutreffende Charakterschilderung der emotionalen Typen
gegeben zu haben.



V

Das Typenproblem in der Dichtkunst.

Carl Spittelers Prometheus und Epimetheus.



V.

Das Typenproblem in der Dichtkunst.

Carl Spittelers Prometheus und Epimetheus.


1. _Einleitendes über die Spittelersche Typisierung._ Wenn neben
den Vorwürfen, welche die Verwicklungen des Affektlebens dem Dichter
geben, nicht auch das Typenproblem eine bedeutende Rolle spielte, so
wäre dies beinahe ein Beweis, dass es gar nicht existiert. Wir sahen
aber schon bei _Schiller_, wie dieses Problem ebenso sehr den
Dichter wie den Denker in ihm passionierte. Wir wenden nun in diesem
Kapitel unsere Aufmerksamkeit einer dichterischen Schöpfung zu, welche
sich fast ausschliesslich auf dem Motiv des Typenproblems begründet.
Ich meine _Carl Spittelers Prometheus und Epimetheus_, ein Werk,
das 1881 zum ersten Mal erschien.

Ich möchte keineswegs von vornherein erklären, dass Prometheus, der
Vorausdenkende, den Introvertierten bedeute, und Epimetheus, der
Handelnde und Nachdenkende, den Extravertierten. Es handelt sich ja in
erster Linie beim Konflikt dieser beiden Gestalten um den Kampf der
introvertierten mit der extravertierten Entwicklungslinie in einem und
demselben Individuum, welche aber die dichterische Darstellung in zwei
selbständigen Figuren und ihren typischen Schicksalen verkörpert hat.

Es ist unverkennbar, dass Prometheus introvertierte Charakterzüge
aufweist. Er bietet das Bild eines seiner Innenwelt, seiner Seele
getreuen Introvertierten. Er drückt sein Wesen treffend aus in den
Worten[106], die er dem Engel erwidert: „Jedoch nicht stehts bei mir
zu richten über meiner Seele Angesicht, denn siehe, meine Herrin ists,
und ist mein Gott in Freud und Leid, und was ich immer bin, von ihr hab
ichs zu eigen.

Und drum so will mit ihr ich teilen meinen Ruhm, und wenn es muss
geschehen, wohlan, so mag ich ihn entbehren.“

Prometheus ergibt sich damit auf Gnade und Ungnade seiner Seele, d. h.
also der Funktion der Beziehung zur Innenwelt. Darum hat auch die
Seele einen geheimnisvollen, metaphysischen Charakter, eben um der
Beziehung zum Unbewussten willen. Prometheus verleiht ihr die absolute
Bedeutung als Herrin und Führerin in derselben unbedingten Weise, wie
sich Epimetheus der Welt ergibt. Er opfert sein individuelles Ich
der Seele, der Beziehung zum Unbewussten als der Mutterstätte der
ewigen Bilder und Bedeutungen und wird dadurch entselbstet, indem
ihm das Gegengewicht der Persona[107], der Beziehung zum äussern
Objekt entgeht. Mit der Dahingebung an seine Seele gerät Prometheus
ausser allen Zusammenhang mit der Umwelt und verliert dadurch die
unerlässliche Korrektur durch die äussere Realität. Dieser Verlust
verträgt sich aber schlecht mit dem Wesen dieser Welt. Daher erscheint
dem Prometheus ein Engel, offenbar ein Repräsentant der Weltregierung;
ins Psychologische übersetzt: das projizierte Bild einer auf
Realanpassung gerichteten Tendenz. Dementsprechend sagt der Engel zu
Prometheus:

„Es wird geschehen, wenn du es nicht vermagst und dich befreist von
deiner Seele ungerechter Art, so ist dahin für dich der vielen Jahre
grosser Lohn und deines Herzens Glück und all die Früchte deines
vielgestalten Geistes,“ und an anderer Stelle: „Verworfen wirst du
sein am Tag des Ruhms um deiner Seele willen, die da kennet keinen
Gott und achtet kein Gesetz und nichts ist ihrem Hochmut heilig, so im
Himmel als auf Erden.“ Da Prometheus einseitig auf Seiten der Seele
steht, so geraten alle Tendenzen zur Anpassung an die äussere Welt
in die Verdrängung und verfallen so dem Unbewussten. Infolgedessen
erscheinen sie, wenn sie wahrgenommen werden, als nicht zur eigenen
Persönlichkeit gehörend und darum als projiziert. Damit steht in
einem gewissen Widerspruch, dass auch die Seele, auf deren Seite ja
Prometheus getreten ist, und die er sozusagen voll ins Bewusstsein
aufnimmt, projiziert erscheint. Da die Seele eine Beziehungsfunktion
ist, wie die Persona, so besteht sie gewissermassen aus zwei Teilen,
einem Anteil, der dem Individuum zugehört und einem Anteil, der dem
Objekte der Beziehung, in diesem Fall dem Unbewussten zufällt. Man
ist zwar allgemein geneigt -- wenn man nicht gerade ein Anhänger
der Hartmannschen Philosophie ist -- dem Unbewussten nur die
relative Existenz eines psychologischen Faktors zuzubilligen. Aus
erkenntnistheoretischen Gründen sind wir nun keineswegs in der Lage
irgend etwas Gültiges auszusagen hinsichtlich einer objektiven Realität
des psychologischen Erscheinungskomplexes, den wir als Unbewusstes
bezeichnen, so wenig wie wir in der Lage sind, irgend etwas Gültiges
über das Wesen der realen Dinge, das jenseits unseres psychologischen
Vermögens liegt, auszumachen. Ich muss aber aus Gründen der Erfahrung
darauf hinweisen, dass die Inhalte des Unbewussten in Bezug auf die
Tätigkeit unseres Bewusstseins denselben Wirklichkeitsanspruch erheben
vermöge ihrer Hartnäckigkeit und Persistenz, wie die realen Dinge der
Aussenwelt, wenn schon dieser Anspruch einer vorzugsweise nach Aussen
gerichteten Mentalität sehr unwahrscheinlich vorkommt. Es ist nicht
zu vergessen, dass es immer sehr viele Menschen gegeben hat, für
welche die Inhalte des Unbewussten einen grössern Wirklichkeitswert
besassen, als die Dinge der Aussenwelt. Das Zeugnis der menschlichen
Geistesgeschichte spricht zu Gunsten beider Wirklichkeiten. Eine
tiefergehende Untersuchung der menschlichen Psyche zeigt auch
ohne weiteres eine im allgemeinen gleich starke Beeinflussung der
Bewusstseinstätigkeit von beiden Seiten, sodass wir psychologisch aus
rein empirischen Gründen ein Recht haben, die Inhalte des Unbewussten
als ebenso _wirklich_ zu behandeln, wie die Dinge der Aussenwelt,
wenn schon diese beiden Realitäten sich kontradizieren und ihrem Wesen
nach gänzlich verschieden zu sein scheinen. Es wäre aber eine durch
nichts gerechtfertigte Unbescheidenheit, wenn wir die eine Realität der
andern überordnen wollten. Theosophie und Spiritualismus sind dieselben
gewalttätigen Übergriffe, wie der Materialismus. Wir haben uns wohl
in der Sphäre unseres psychologischen Vermögens zu bescheiden. Wegen
der eigenartigen Wirklichkeit der unbewussten Inhalte darf man sie als
Objekte bezeichnen mit demselben Rechte, wie wir die äussern Dinge als
Objekte bezeichnen. Wie nun die Persona als Beziehung immer auch durch
das äussere Objekt bedingt und daher ebenso sehr im äussern Objekt
verankert ist, wie im Subjekt, so ist auch die Seele als Beziehung
zum innern Objekt repräsentiert durch das innere Objekt, daher stets
auch vom Subjekt noch in gewissem Sinne verschieden und darum als
Verschiedenes wahrnehmbar. Sie erscheint darum dem Prometheus als etwas
von seinem individuellen Ich durchaus Verschiedenes. Wenn schon ein
Mensch sich der äussern Welt gänzlich hingeben kann, so steht die Welt
doch immer noch als ein von ihm verschiedenes Objekt da, gleichermassen
verhält sich auch die unbewusste Welt der Bilder als ein vom Subjekt
verschiedenes Objekt, auch wenn der Mensch sich ihr ganz dahingibt.

In derselben Weise, wie die unbewusste Welt der mythologischen Bilder
indirekt durch das Erleben am äussern Ding zu dem spricht, der sich der
Aussenwelt ganz ergibt, so spricht auch die reale Aussenwelt und ihre
Forderung indirekt zu dem, der sich ganz der Seele ergibt, denn niemand
kann den beiden Wirklichkeiten entgehen. Geht einer nur nach aussen,
so muss er seinen Mythus leben, geht er nach innen, so muss er sein
äusseres, das sogenannte reale Leben träumen. So spricht die Seele zu
Prometheus:

„Ein Gott des Frevels bin ich, der dich abseits führet auf den
ungebahnten Pfaden. Du aber hattest nicht gehört und nun so ist nach
meinen Worten dir geschehen, und also haben sie dir weggestohlen deines
Namens Ruhm und deines Lebens Glück um meinetwillen.“[108]

Prometheus lehnt das Königtum, das ihm der Engel anbietet, ab, d. h.
er verwirft die Anpassung an das Gegebene, weil seine Seele dafür von
ihm gefordert wird. Während das Subjekt, nämlich Prometheus, durchaus
menschlicher Natur ist, ist die Seele von ganz anderer Art. Sie ist
dämonisch, weil das innere Objekt, mit dem sie als Beziehung verknüpft
ist, durch sie hindurch schimmert, nämlich das überpersönliche,
collektive Unbewusste. Das Unbewusste, betrachtet als der historische
Untergrund der Psyche, enthält in konzentrierter Form die ganze
Abfolge der Engramme, welche seit unmessbar langer Zeit die jetzige
psychische Struktur bedingt haben. Die Engramme sind nichts anderes
als Funktionsspuren, welche andeuten, in welcher Art durchschnittlich
und am häufigsten und intensivsten die menschliche Psyche funktioniert
hat. Diese Funktionsengramme stellen sich dar als mythologische Motive
und Bilder, wie sie teils identisch, teils sehr ähnlich bei allen
Völkern vorkommen und auch in den unbewussten Materialien des modernen
Menschen unschwer nachzuweisen sind. Es ist daher verständlich, wenn
auch ausgesprochene tierische Züge oder Elemente unter den unbewussten
Inhalten auftreten neben jenen erhabenen Figuren, welche den Menschen
von jeher auf seinem Lebenswege begleitet haben. Es handelt sich
um eine ganze Welt von Bildern, deren Grenzenlosigkeit in nichts
derjenigen der Welt der „realen“ Dinge nachgibt. Wie dem Menschen, der
sich persönlich ganz der äussern Welt ergibt, diese ihm in Gestalt
eines nächsten, geliebten Wesens entgegentritt, an welchem er, falls
ihm die äusserste Hingebung an das persönliche Objekt Schicksal ist,
die Zweideutigkeit der Welt und des eigenen Wesens erfahren wird,
so tritt dem Andern eine dämonische Personifikation des Unbewussten
entgegen, welche die Gesamtheit, die äusserste Gegensätzlichkeit
und Zweideutigkeit der Welt der Bilder verkörpert. Dies sind
Grenzerscheinungen, die das normale Mittelmass überschreiten, und darum
weiss die normale Mitte nicht um diese grausamen Rätsel. Sie existieren
für sie nicht. Es sind immer nur die Wenigen, welche den Rand der Welt
erreichen, wo ihr Spiegelbild beginnt. Wer immer in der Mitte steht,
für den hat die Seele menschlichen, und nicht dubiosen, dämonischen
Charakter, so wie ihm auch die Nächsten nie fragwürdig vorgekommen
sind. Nur völlige Hingebung an das Eine oder Andere bewirkt ihre
Zweideutigkeit. _Spittelers_ Intuition erfasste jenes Seelenbild,
das sich eine harmlosere Natur höchstens hätte träumen lassen.

So lesen wir p. 25: “Und während er sich so gebärdete in seines Eifers
Ungestüm, da spielt ein seltsam Zucken ihr um Mund und Angesicht und
immerwährend blinkten ihre Lider, schlugen hastig auf und zu, und
hinter ihren weichen feinbehaarten Wimpern lauert es und drohete und
schlich umher, dem _Feuer gleich_, das tückisch im Verborgenen
durchzieht ein Haus, und _gleich dem Tiger_, der sich windet unter
dem Gebüsch und aus den dunklen Blättern leuchtet ab und zu sein gelber
buntgeflekter Körper.“

Die Lebenslinie, die sich Prometheus wählt, ist also unverkennbar eine
introvertierende. Er opfert die Gegenwart und seine Beziehung zu ihr,
um eine ferne Zukunft vorausdenkend zu schaffen.

Ganz anders _Epimetheus_: Er erkennt, dass sein Streben zur Welt
geht und nach dem, was der Welt gilt. Daher spricht er zum Engel: „Doch
nun so ist nach Wahrheit mein Begehr, und siehe, meine Seele liegt in
deiner Hand, und so es dir gefällt, so gib mir ein Gewissen, das mich
lehre „Heit“ und „Keit“ und jegliches gerechte Wesen.“ Epimetheus kann
der Versuchung nicht widerstehen, seine eigene Bestimmung zu erfüllen
und sich dem „seelenlosen“ Standpunkt zu unterwerfen. Dieser Anschluss
an die Welt belohnt sich auch sofort:

„Und es geschah, da Epimetheus sich erhob, da spürt er grösser seinen
Wuchs und fester seinen Mut und all sein Wesen war geeint und all sein
Fühlen war gesund von kräftigem Wohlbehagen. Und also kehrt er sichern
Schrittes durch das Tal, geraden Wegs, wie wer da niemand scheut, und
offenen Blicks, wie wen beseelt des eigenen Reichtums Angedenken.“

Er hat, wie Prometheus sagt, „um Heit und Keit verhandelt seine
freie Seele“. Die Seele ist ihm (zu Gunsten seines Bruders) abhanden
gekommen. Er ist seiner Extraversion nachgegangen, und weil diese
sich nach dem äussern Objekt orientiert, so ist er in die Wünsche
und Erwartungen der Welt aufgegangen, äusserlich zunächst zu seinem
grössten Vorteil. Er ist ein Extravertierter geworden, nachdem er zuvor
Jahre lang in Nachahmung seines Bruders in der Einsamkeit gelebt
hat, als ein durch Nachahmung des Introvertierten _verfälschter
Extravertierter_. Solche unwillkürliche „simulation dans le
caractère“ (_Paulhan_) kommt nicht selten vor. Seine Entwicklung
zum wirklichen Extravertierten ist darum ein Fortschritt zur „Wahrheit“
und verdient die ihm zu Teil werdende Belohnung.

Während Prometheus durch den tyrannischen Anspruch seiner Seele an
jeder Beziehung zum äussern Objekt verhindert ist, und im Seelendienste
die grausamsten Opfer bringen muss, empfängt Epimetheus einen zunächst
wirksamen Schutz gegen die dem Extravertierten drohende Gefahr des
völligen Verlorengehens an das äussere Objekt. Dieser Schutz besteht
in dem auf die traditionellen „richtigen Begriffe“ sich stützenden
Gewissen, also auf jenen nicht zu verachtenden Schatz an überlieferter
Lebensklugheit, von dem die öffentliche Meinung denselben Gebrauch
macht, wie der Richter vom Strafgesetzbuch. Damit ist dem Epimetheus
jene Beschränkung gegeben, welche ihn hindert, sich dem Objekt in
dem Masse hinzugeben, wie Prometheus seiner Seele. Das verbietet
ihm das Gewissen, das an Stelle seiner Seele steht. Da Prometheus
der Menschenwelt und ihrem kodifizierten Gewissen den Rücken kehrt,
verfällt er der grausamen Herrin Seele und ihrer anscheinenden Willkür,
und die Vernachlässigung der Welt büsst er mit grenzenlosem Leid.
Die weise Beschränkung durch ein untadeliges Gewissen verbindet dem
Epimetheus aber dermassen die Augen, dass er seinen Mythus blind leben
muss, immer im Gefühl des Rechttuns, da er stets in Übereinstimmung
mit der allgemeinen Erwartung bleibt, und stets mit Erfolg, da er
Aller Wünsche erfüllt. So will man den König sehen, und so stellt ihn
Epimetheus dar bis zum unrühmlichen Ende, bis dorthin nie verlassen
von dem rückenstärkenden allgemeinen Beifall. Seine Selbstsicherheit
und Selbstgerechtigkeit, sein unerschütterliches Vertrauen in seine
allgemeine Gültigkeit, sein unzweifelhaftes „Rechttun“ und sein gutes
Gewissen, lassen unschwer jenen Charakter erkennen, den _Jordan_
geschildert hat. Man vergleiche pag. 102 ff. den Besuch des Epimetheus
beim kranken Prometheus, wo der König Epimetheus seinen leidenden
Bruder heilen will: „Und als sie alles dieses wohl vollbracht, da trat
der König vor, und links und rechts auf einen Freund sich stützend, hub
er an und grüssete und sprach die _wohlgemeinten_ Worte:

„Von Herzen reuet mich’s um Dich, Prometheus, mein geliebter Bruder!
Doch nun so fasse Mut, denn sieh, hier hab ich eine Salbe, wohl bewährt
für alles Leid und heilet wunderbar in Hitze wie in Frost und also wohl
zum Trost als wie zur Strafe kannst Du sie gebrauchen.

Und also sprechend nahm er seinen Stock und band die Salbe fest und
reicht es alles ihm behutsam dar mit _wichtigem Gebahren_.
Prometheus aber, da er kaum vernahm der Salbe Duft und Angesicht, so
wandte er sein Haupt mit Ekel. Und über dem, da änderte der König
seiner Stimme Ton, begann und schrie und prophezeiete mit heissem Eifer:

„In Wahrheit grössre Strafe scheint Dir not, denn nicht genügt Dir
Deines Schicksals gegenwärtige Belehrung.“

Und also sprechend zog er einen Spiegel aus dem Rock und macht ihm
alles klar von Anbeginn, und wurde sehr beredt und wusste alle seine
Fehler.“

Diese Szene ist eine treffende Illustration zu den Worten
_Jordans_: „Society must be pleased if possible; if it will not
be pleased, it must be astonished, if it will neither be pleased
nor astonished, it must be pestered and shocked.“ Wir begegnen in
dieser Szene etwa der gleichen Climax. Im Orient bekundet ein reicher
Mann seine Würde dadurch, dass er sich in der Öffentlichkeit nicht
anders zeigt, als auf zwei Sklaven gestützt. Epimetheus benützt
diese Pose, um Eindruck zu machen. Mit dem Wohltun muss auch gleich
die Ermahnung und die moralische Belehrung verknüpft sein. Und als
das nicht verfängt, so muss der andere doch wenigstens mit dem Bild
seiner eigenen Gemeinheit erschreckt werden. Denn alles geht auf das
Eindruckmachen. Es gibt eine amerikanische Redensart, welche sagt: In
Amerika haben zwei Arten von Menschen Erfolg: der, der etwas kann und
der, der es geschickt blufft. D. h. der Schein ist bisweilen ebenso
erfolgreich wie die wirkliche Leistung. Der Extravertierte dieser Art
arbeitet vorzüglich mit dem _Schein_. Der Introvertierte will es
_erzwingen_ und _missbraucht_ dazu seine Arbeit. Bringen wir
Prometheus und Epimetheus in einer Persönlichkeit zusammen, so ergibt
sich daraus ein Mensch, der aussen Epimetheus und innen Prometheus ist,
wobei beide Tendenzen einander beständig ärgern, und jede von ihnen
versucht, das Ich endgültig auf ihre Seite zu bringen.

2. _Vergleichung von Spittelers mit Goethes Prometheus._ Es ist
von nicht geringem Interesse, mit dieser Prometheusauffassung die
_Goethe_sche Prometheusdarstellung zu vergleichen. Ich glaube,
genügenden Grund zu haben zu der Vermutung, dass Goethe eher dem
extravertierten Typus zugehört, als dem introvertierten, während ich
Spittelers Art dem letztem Typus zurechne. Einen völligen Nachweis
für die Richtigkeit dieser Vermutung zu erbringen, könnte nur einer
ausgedehnten und sorgfältigen Untersuchung und Analyse der Goetheschen
Biographie gelingen. Meine Vermutung gründet sich auf vielerlei
Eindrücke, die ich nicht erwähnen will, um nicht allzu Unzulängliches
vorzubringen.

Die introvertierte Einstellung braucht nicht notwendigerweise mit
der Prometheusfigur zusammenzufallen, womit ich meine, dass die
überlieferte Prometheusfigur auch anders gedeutet werden könne. Diese
andere Version findet sich z. B. im Platonischen _Protagoras_, wo
der Verteiler der lebendigen Kräfte an die von den Göttern aus Erde
und Feuer eben gebildeten Wesen nicht Prometheus, sondern Epimetheus
ist. An dieser Stelle sowohl, wie im Mythus überhaupt, ist Prometheus
(eben dem antiken Geschmack entsprechend) hauptsächlich der Listen-
und Erfindungsreiche. Bei Goethe nun liegen zwei Fassungen vor. Im
Prometheusfragment von 1773 ist Prometheus, der Trotzige, auf sich
selbst sich stellende, gottähnliche, die Götter verachtende Schöpfer
und Bildner. Seine Seele ist Minerva, die Zeustochter. Prometheus
Beziehung zu Minerva hat viel Ähnlichkeit mit derjenigen von Spittelers
Prometheus zur Seele. So sagt Prometheus zu Minerva:

    „Sind von Anbeginn mir Deine Worte Himmelslicht gewesen!
    _Immer als wenn meine Seele zu sich selbst spräche,_
    Sie sich eröffnete
    Und mitgeborne Harmonieen
    In ihr erklängen aus sich selbst,
    Und eine Gottheit sprach
    Wenn ich zu reden wähnte,
    Und wähnt ich, eine Gottheit spreche,
    Sprach ich selbst.
    Und so mit dir und mir
    So ein, so innig
    Ewig meine Liebe dir!“

Und weiter:

    „Wie der süsse Dämmerschein
    der weggeschiednen Sonne
    Dort herauf schwimmt
    Vom finstern Kaukasus
    Und meine Seele umgibt mit Wonneruh’,
    Abwesend auch mir immer gegenwärtig,
    So haben meine Kräfte sich entwickelt
    Mit jedem Atemzug aus deiner Himmelsluft.“

Auch Goethes Prometheus ist abhängig von seiner Seele. Die Ähnlichkeit
mit der Beziehung des Spittelerschen Prometheus zur Seele ist gross.
So sagt Spittelers Prometheus zu seiner Seele: „Und ob sie alles mir
geraubt, so bleib’ ich über alle Massen reich, so lange einzig Du
mir bleibst und nennest mich „mein Freund“ aus deinem süssen Mund
und blickest auf mich nieder aus dem stolzen gnadenreichen Antlitz.“
Trotz der Ähnlichkeit der beiden Figuren und ihrer Beziehung zur Seele
besteht aber doch ein wesentlicher Unterschied: Goethes Prometheus
ist ein Schöpfer und Bildner, und Minerva belebt seine Tongestalten.
Spittelers Prometheus ist nicht schaffend, sondern erleidend, nur seine
Seele ist schaffend, aber ihr Schaffen ist verborgen und geheimnisvoll.
Sie sagt beim Abschied zu ihm[109]: „Und nun, so scheide ich von Dir,
denn siehe, meiner harrt ein grosses Werk, ein Werk gewaltger Arbeit
voll, und viele Eile tuet not, damit ich es vollende.“ Es scheint,
dass bei Spitteler der Seele die prometheiische Schöpferarbeit
zufällt, während Prometheus selber bloss die Qual einer schöpferischen
Seele erleidet. Goethes Prometheus aber ist selbsttätig, und zwar
schöpferisch-tätig in erster Linie und ausschliesslich, und auf Grund
seiner eigenen Schöpferkraft den Göttern trotzend:

    „Wer half mir
    Wider der Titanen Übermut?
    Wer rettete vom Tode mich,
    Von Sklaverey?
    Hast du nicht alles selbst vollendet,
    Heilig glühend Herz?“

Epimetheus ist in diesem Stück spärlich charakterisiert, durchaus
dem Prometheus inferior, ein Anwalt des collektiven Gefühls, das
Seelendienst nur als „Eigensinn“ verstehen kann. So sagt Epimetheus zu
Prometheus:

    „Du stehst allein!
    Dein Eigensinn verkennt die Wonne
    Wenn die Götter, du,
    Die Deinigen und Welt und Himmel all’
    Sich ein innig Ganzes fühlten.“

Die im Prometheusfragment vorhandenen Andeutungen sind zu spärlich,
als dass wir daraus das Wesen des Epimetheus erkennen könnten. Die
Charakteristik von Goethes Prometheus aber lässt einen typischen
Unterschied erkennen zu der von Spittelers Prometheus. Goethes
Prometheus bildet und wirkt nach aussen in die Welt, er setzt von
ihm geformte und von seiner Seele belebte Gestalten in den Raum, er
füllt die Erde mit den Geburten seines Schaffens, zugleich ist er
Lehrer und Erzieher der Menschen. Bei Spittelers Prometheus aber
geht alles nach innen, verschwindet im Dunklen des Seeleninnern,
wie er selber aus der Welt verschwindet, sogar aus seiner engern
Heimat auswandert, gewissermassen um noch unsichtbarer zu werden.
Nach dem compensatorischen Prinzip unserer analytischen Psychologie
muss in einem solchen Falle die Seele, d. h. die Personifikation des
Unbewussten, besonders tätig sein und ein Werk vorbereiten, das aber
noch unsichtbar ist. Ausser der bereits zitierten Stelle gibt es
bei Spitteler noch eine völlige Beschreibung dieses zu erwartenden
Äquivalenzvorganges. Wir finden sie im _Pandorazwischenspiel_:

Pandora, diese rätselvolle Figur im Prometheusmythus, ist bei Spitteler
die Gottestochter, der, ausser einer allertiefsten Beziehung, sonst
jede Beziehung zu Prometheus mangelt. Diese Fassung lehnt sich an
die Geschichte des Mythus an, wo das Weib, das in Beziehung zu
Prometheus tritt, entweder _Pandora_ oder _Athene_ ist. Der
mythologische Prometheus hat seine Seelenbeziehung zu Pandora oder
Athene wie bei Goethe. Bei Spitteler aber ist eine bemerkenswerte
Spaltung eingetreten, die allerdings auch schon beim historischen
Mythus angedeutet ist, wo nämlich Prometheus-Pandora sich mit der
Analogie Hephaestus-Athene kontaminieren. Bei Goethe ist die Version
Prometheus-Athene bevorzugt. Bei Spitteler hingegen ist Prometheus der
göttlichen Sphäre entrückt, und eine eigene Seele ist ihm gegeben.
Seine Göttlichkeit und seine mythische Urbeziehung zu Pandora aber sind
als ein kosmisches Widerspiel im Himmelsjenseits aufbewahrt und für
sich agierend. Die Dinge, die im Jenseits geschehen, sind Dinge, die im
Jenseits unseres Bewusstseins geschehen, d. h. im Unbewussten. So ist
das Pandorazwischenspiel eine Darstellung dessen, was im Unbewussten
während der Leiden des Prometheus geschieht. Während Prometheus aus der
Welt verschwindet und auch die letzte Brücke zur Menschheit abbricht,
versinkt er in die Tiefe seines Selbst und seine einzige Umgebung, sein
einziges Objekt ist er selbst. Und damit ist er „gottähnlich“, denn
Gott ist seiner Definition gemäss das Wesen, das überall in sich selbst
ruht und immer und überall vermöge seiner Omnipräsenz sich selber zum
Gegenstand hat. Selbstverständlich fühlt sich Prometheus ganz und gar
nicht gottähnlich, sondern elend in höchstem Masse. Nachdem Epimetheus
noch gekommen war, um sein Elend zu bespucken, hebt das Zwischenspiel
im Jenseits an, natürlicherweise in dem Moment, wo alle Beziehung zur
Welt in Prometheus bis zur Aufhebung zurückgedrängt war. Das sind
erfahrungsgemäss die Momente, wo die Inhalte des Unbewussten die beste
Möglichkeit haben, Selbständigkeit und Lebendigkeit zu gewinnen,
sodass sie das Bewusstsein sogar zu überwältigen vermögen.[110] Im
Unbewussten nun spiegelt sich des Prometheus Zustand folgenderweise:
„Und an desselben Tages dunklem Morgen wandelte auf einsam stiller
Wiese über allen Welten Gott, der Schöpfer alles Lebens, übend
den verfluchten Zirkelgang, gemäss dem sonderbaren Wesen seiner
rätselhaften, schlimmen Krankheit.

Denn wegen dieser Krankheit konnt’ er niemals enden seines Umgangs
Arbeit, durfte nimmer Ruhe finden auf dem Pfade seiner Füsse, sondern
ewig gleichen Schrittes macht er Tag für Tag und Jahr um Jahr die Runde
um die stille Wiese, schweren Ganges, gesenkten Haupts, die Stirn
durchfurcht, das Angesicht verzerrt und immerwährend nach des Kreises
Mittelpunkt gerichtet die umwölkten Blicke.

Und während er so heute tat wie alle Tage unvermeidlichen Geschehens
und tiefer senkte sich vor Gram sein Haupt und schleppender geriet vor
Müdigkeit sein Schritt, und von der schlimm durchwachten Nacht erschien
verbraucht der Urquell seines Lebens:

Kam durch Nacht und Dämmerung daher Pandora, seine jüngste Tochter,
nahte ungewissen Schrittes sittsam der geweihten Stätte, stellt in
Demut sich zur Seite, grüssend mit bescheidnem Blick, und fragend mit
des Mundes ehrfurchtsvollem Schweigen.“

Es ist ohne weiteres einleuchtend, dass Gott die Krankheit des
Prometheus hat. Denn wie Prometheus alle seine Leidenschaft, seine
ganze Libido seiner Seele, dem Innersten zufliessen lässt und einzig
und allein dem Dienste seiner Seele sich geweiht hat, so geht auch sein
Gott den „Zirkelgang“ um den Weltmittelpunkt herum und erschöpft sich
daran, genau wie Prometheus, der nahe daran ist, auszulöschen. Das
heisst: seine Libido ist ganz ins Unbewusste hinübergegangen, wo sich
ein Äquivalent vorbereiten muss, denn die Libido ist Energie, die nicht
spurlos verschwinden kann, sondern immer ein Äquivalent erzeugen muss.
Das Äquivalent ist Pandora, und was sie dem Vater bringt: sie bringt
ihm nämlich ein köstliches Kleinod, das sie den Menschen zur Linderung
ihrer Leiden geben möchte.

Wenn wir diesen Vorgang in die menschliche Sphäre des Prometheus
übersetzen, so heisst es: während Prometheus im Zustande der
„Gottähnlichkeit“ leidet, bereitet seine Seele ein Werk vor, bestimmt
die Leiden der Menschheit zu lindern. Seine Seele möchte damit zu den
Menschen. Jedoch ist das Werk, das seine Seele in Wirklichkeit plant
und schafft, nicht identisch mit dem Werk der Pandora. Das Kleinod der
Pandora ist ein unbewusstes Spiegelbild, das _symbolisch_ das
wirkliche Werk der Seele des Prometheus darstellt. Es geht aus dem Text
unzweifelhaft hervor, was das Kleinod ist: es ist ein Gott-Erlöser,
eine Erneuerung der Sonne.[111] Diese Sehnsucht drückt sich in der
Krankheit Gottes aus, er sehnt sich nach Wiedergeburt und deshalb
fliesst seine ganze Lebenskraft in das Zentrum des Selbst zurück,
d. h. in die Tiefe des Unbewussten, aus der das Leben sich wieder
neu gebiert. Darum ist auch das Erscheinen des Kleinodes in der Welt
geschildert, wie wenn die Bilder der Buddhageburt aus dem Lalitavistara
dabei angeklungen hätten[112]: Pandora legt das Kleinod unter einem
Nussbaum nieder, wie Maya ihr Kind unter dem Feigenbaum gebiert.

„Im mitternächt’gen Schatten unter dem Baume glüht und sprüht und
flammt es immerdar, und gleich dem Morgenstern am dunklen Himmel
strahlten in die Ferne die demantnen Blitze.“

„Und auch die Bienen und die Schmetterlinge, die da tanzten
überm Blumengarten, eileten herbei, umspieleten, umgaukelten das
_Wunderkind_....“ „.... und aus den Lüften liessen schweren
Falles sich die Lerchen nieder, gierig, dass sie huldigten dem
_neuen, schönern Sonnenangesicht_, und als sie nun aus nächster
Nähe schauten den weissen Strahlenglanz, da schwindelte ihr Herz....“
„Und über allem diesem tronte väterlich und mild der _auserwählte
Baum_ mit seiner Riesenkrone, seinem schweren grünen Mantel, hielt
die königlichen Hände schützend über seiner Kinder Antlitz.

Und all die vielen Zweige beugten liebend sich herab und neigten sich
zur Erde, dass sie gleich als wie mit einem Zaune wehreten den fremden
Blicken, neidisch, dass sie einzig und allein genössen des Geschenkes
unverdiente Huld; und all die abertausend zartbeseelten Blätter bebeten
und zitterten vor Wonne, flüsterten vor freudiger Erregung einen
weichen, reingestimmten Chor in säuselnden Akkorden: „Wer wüsste, was
verborgen unter dem bescheidnen Dach, wer ahnte, welches Kleinod ruht
in unserer Mitte!“

Als für Maya die Stunde der Geburt gekommen, da gebar sie ihr Kind
unter dem Plaksa-Feigenbaum, der seine Krone schützend bis zur Erde
neigt. Vom fleischgewordenen Bodhisattva verbreitet sich unermesslicher
Lichtglanz durch die Welt, Götter und Natur nehmen an der Geburt teil.
Wie der Bodhisattva auf die Erde tritt, wächst unter seinen Füssen
ein grosser Lotus, und im Lotus stehend schaut er die Welt. Daher die
tibetanische Gebetsformel: om mani padme hum = oh über das Kleinod im
Lotus! Der Augenblick der Wiedergeburt findet den Bodhisattva unter
dem auserwählten Bodhibaume, wo er zu _Buddha_ (dem Erleuchteten)
wird. Diese Wiedergeburt oder Erneuerung ist begleitet von demselben
Lichtglanz und denselben Naturwundern und Göttererscheinungen wie die
Geburt.

Im Reiche des Epimetheus aber, wo nur das Gewissen herrscht und nicht
die Seele, geht das unermessliche Kleinod verloren. Der Engel, wütend
über des Epimetheus Stumpfheit, fährt ihn an: „Und war dir keine
Seele, dass du also roh und unvernünftig gleich den Tieren[113], dich
verstecktest vor der _wunderbaren Gottheit_?“

Man sieht, das Kleinod der Pandora ist eine Erneuerung Gottes, ein
neuer Gott; dies geschieht aber in der göttlichen Sphäre, d. h.
im Unbewussten. Die Ahnungen des Vorganges, die ins Bewusstsein
hinüberfliessen, werden vom epimetheischen Elemente, welches die
Beziehung zur Welt beherrscht, nicht erfasst. Dies ist ausführlich
von Spitteler in den folgenden Abschnitten[114] dargestellt, wo wir
sehen, wie die Welt, d. h. das Bewusstsein und seine rationale, an den
äussern Objekten orientierte Einstellung, unfähig ist, den Wert und die
Bedeutung des Kleinodes richtig einzuschätzen. Darüber geht das Kleinod
unwiederbringlich verloren.

Der erneuerte Gott bedeutet eine erneuerte Einstellung, d. h. die
erneuerte Möglichkeit intensiven Lebens, eine Wiedererlangung des
Lebens, weil psychologisch Gott immer den grössten Wert, also die
grösste Libidosumme, die grösste Lebensintensität, das Optimum der
psychologischen Lebenstätigkeit bedeutet. Bei Spitteler erweist sich
demnach die prometheische Einstellung sowohl wie die epimetheische als
unzulänglich. Die beiden Tendenzen dissoziieren sich, die epimetheische
Einstellung harmoniert mit dem gegebenen Zustand der Welt, die
prometheische dagegen nicht, weshalb letztere auf eine Erneuerung
des Lebens hinarbeiten muss. Sie erzeugt auch eine neue Einstellung
zur Welt (das der Welt geschenkte Kleinod), allerdings ohne damit
bei Epimetheus Anklang zu finden. Trotzdem erkennen wir unschwer
im Pandorageschenk bei Spitteler einen symbolischen Lösungsversuch
des Problems, das wir schon bei der Besprechung der Schillerschen
Briefe hervorgehoben haben, nämlich das Problem der Vereinigung der
differenzierten und der undifferenzierten Funktion.

Bevor wir uns aber noch weiter mit diesem Problem beschäftigen, müssen
wir zurückkehren zu Goethes Prometheus. Wie wir bereits sahen, bestehen
unverkennbare Unterschiede zwischen dem schöpferischen Prometheus
Goethes und der erleidenden Figur Spittelers. Ein weiterer wichtiger
Unterschied ist die Beziehung zu Pandora. Bei Spitteler ist Pandora
ein jenseitiges, der göttlichen Sphäre angehöriges Duplikat der Seele
des Prometheus; bei Goethe dagegen ist sie ganz Geschöpf und Tochter
des Titanen, also in einem absoluten Abhängigkeitsverhältnis zu ihm.
Schon die Beziehung des Goetheschen Prometheus zu Minerva rückt ihn an
Stelle des Vulkan, und die Tatsache; dass Pandora ganz sein Geschöpf
ist, und nicht als von den Göttern geschaffen erscheint, macht ihn zum
Schöpfergott und entrückt ihn damit der menschlichen Sphäre. Daher sagt
Prometheus:

    „Und eine Gottheit sprach,
    Wenn ich zu reden wähnte,
    Und wähnt’ ich, eine Gottheit spreche,
    Sprach ich selbst.“

Bei Spitteler dagegen ist alle Gottheit von Prometheus abgestreift,
selbst seine Seele ist nur ein inoffizieller Dämon; die Gottheit
ist für sich gesetzt, abgetrennt vom Menschlichen. Insofern ist
die Goethesche Fassung antik, als sie die Göttlichkeit des Titanen
unterstreicht. Dementsprechend muss auch Epimetheus stark daneben
abfallen, während er bei Spitteler viel positiver hervortritt. In der
„Pandora“ Goethes besitzen wir nun glücklicherweise ein Stück, das
uns eine vollständigere Charakterisierung des Epimetheus übermittelt
als das bis jetzt besprochene Fragment. Epimetheus führt sich dort
folgendermassen ein:

    „Nicht sondert mir entschieden Tag und Nacht sich ab,
    Und meines Namens altes Unheil trag ich fort;
    Denn Epimetheus nannten mich die Zeugenden.
    Vergangnem nachzusinnen, Raschgeschehenes
    Zurückzuführen, mühsamen Gedankenspiels,
    Zum trüben Reich gestaltenmischender Möglichkeit.
    So bittre Mühe war dem Jüngling auferlegt,
    Dass ungeduldig in das Leben hingewandt
    Ich unbedachtsam Gegenwärtiges ergriff,
    Und neuer Sorge neubelastende Qual erwarb.“

Mit diesen Worten kennzeichnet Epimetheus sein Wesen: er grübelt dem
Vergangenen nach und kann sich von Pandora, die er (der klassischen
Sage gemäss) zum Weibe nahm, nicht mehr befreien, d. h. er kann sich
ihres Erinnerungsbildes nicht mehr entledigen; sie selber jedoch ist
ihm längst entlaufen, indem sie ihm ihre Tochter, Epimeleia, die
Sorge, hinterliess, während sie Elpore, die Hoffnung, mit sich nahm.
Hier ist nun Epimetheus in so deutlicher Weise geschildert, dass wir
zu erkennen vermögen, welche psychologische Funktion er darstellt.
Während Prometheus auch in der „Pandora“ derselbe Schöpfer und Bildner
ist, und mit demselben unversieglichen Drang zu schaffen und auf die
Welt zu wirken sich täglich früh vom Lager erhebt, ist Epimetheus ganz
den Phantasien, Träumen und Erinnerungen hingegeben, voll ängstlicher
Besorgnis und sorgenvoller Überlegung. Pandora tritt auf als Geschöpf
des Hephaestus, zurückgewiesen von Prometheus, aber von Epimetheus zur
Gattin erwählt. Von ihr sagt er:

„Die Schmerzen selbst um _solch ein Kleinod_ sind Genuss.“ Pandora
ist ihm ein köstliches Kleinod, das höchste Gut sogar --

    „Und sie gehört auf ewig mir, die Herrliche!
    Der Seligkeit Fülle, die hab ich empfunden!
    Die Schönheit besass ich, sie hat mich gebunden,
    Im Frühlingsgefolge trat herrlich sie an.
    Sie erkannt’ ich, sie ergriff ich, da war es getan!
    Wie Nebel zerstiebte trübsinniger Wahn,
    Sie zog mich zur Erd’ ab, zum Himmel hinan.
    Du suchest nach Worten, sie würdig zu loben,
    Du willst sie erhöhen, sie wandelt schon oben.
    Vergleich’ ihr das Beste; du hältst es für schlecht.
    Sie spricht, du besinnst dich; doch hat sie schon recht.
    Du stemmst dich entgegen; sie gewinnt das Gefecht.
    Du schwankst ihr zu dienen, und bist schon ihr Knecht.

      Das Gute, das Liebe, das mag sie erwidern.
    Was hilft hohes Ansehen, sie wird es erniedern,
    Sie stellt sich ans Ziel hin, beflügelt den Lauf.
    Vertritt sie den Weg dir, gleich hält sie dich auf.
    Du willst ein Gebot tun, sie treibt dich hinauf,
    Gibst Reichtum und Weisheit und alles in den Kauf.
    Sie steiget hernieder in tausend Gebilden,
    Sie schwebet auf Wassern, sie schreitet auf Gefilden,
    Nach heiligen Massen erglänzt sie und schallt,
    Und einzig veredelt die Form den Gehalt,
    Verleiht ihm, verleiht sich die höchste Gewalt,
    Mir erschien sie in Jugend-, in Frauengestalt.“

Wie diese Verse deutlich zeigen, hat Pandora für Epimetheus die
Bedeutung eines Seelenbildes, sie stellt ihm die Seele dar: daher ihre
göttliche Gewalt, ihre nicht zu erschütternde Überlegenheit. Wo immer
solche Attribute gewissen Persönlichkeiten erteilt werden, kann man mit
Sicherheit schliessen, dass diese Persönlichkeiten _Symbolträger_
resp. Imagines sind für projizierte Inhalte des Unbewussten. Denn die
Inhalte des Unbewussten sind es, die mit jener oben geschilderten
Übergewalt wirken und besonders in jener Weise, wie sie Goethe
unübertrefflich kennzeichnet in der Strophe:

    „Du willst ein Gebot tun, sie treibt dich hinauf.“

Mit diesen Worten ist die eigentümliche affektive Verstärkung
gewisser Bewusstseinsinhalte durch Association analoger Inhalte des
Unbewussten vorzüglich geschildert. Diese Verstärkung hat etwas
Dämonisch-Zwingendes an sich, also eine „göttliche“ oder „teuflische“
Wirkung.

Wir haben oben die Goethesche Prometheusfigur als extravertiert
bezeichnet. Sie ist in der „Pandora“ dieselbe geblieben, jedoch
fehlt hier die Beziehung des Prometheus zur Seele, zum unbewussten
Weiblichen. Dafür aber tritt Epimetheus hervor als der nach innen
Gerichtete, als der Introvertierte. Er grübelt nach, er ruft die
Erinnerungen aus dem Grabe der Vergangenheit herauf, er „denkt“. Von
Spittelers Epimetheus ist er ganz und gar verschieden. Wir dürfen
daher sagen, dass hier (in Goethes „Pandora“) der früher angedeutete
Fall tatsächlich eingetreten ist, wo Prometheus die extravertierte,
handelnde, Epimetheus aber die introvertierte, grüblerische Einstellung
ist.

Dieser Prometheus ist also etwa dasselbe in extravertierter Form, was
der Spittelersche in introvertierter Form ist. In der „Pandora“ dagegen
ist Prometheus rein schaffend für collektive Zwecke, er hat einen
förmlichen Fabrikbetrieb in seinem Berg eingerichtet, wo Bedarfsartikel
für alle Welt hergestellt werden. Er ist daher abgetrennt von seiner
Innenwelt, welche Beziehung dieses Mal dem Epimetheus zufällt,
nämlich jenem sekundären und rein reaktiven Denken und Fühlen des
Extravertierten, dem alle Merkmale der minderdifferenzierten Funktion
zukommen. Daher ist auch Epimetheus der Pandora gänzlich auf Gnade
und Ungnade verfallen, weil sie ihm in jeder Hinsicht überlegen ist.
Psychologisch heisst das, dass die bewusste epimetheische Funktion
des Extravertierten, nämlich eben jenes phantastische, grüblerische
und ruminierende Vorstellen durch das Dazutreten der Seele verstärkt
wird. Wenn die Seele in Verbindung steht mit der minderdifferenzierten
Funktion, so muss man den Schluss ziehen, dass die hochwertige,
resp. differenzierte Funktion zu collektiv sei, d. h. im Dienste des
Collektivgewissens[115] stehe, und nicht im Dienste der Freiheit.
Wo immer dieser Fall vorkommt -- und er kommt sehr häufig vor --, da
ist die minderdifferenzierte Funktion, d. h. die „andere Seite“ durch
eine pathologische Egozentrizität verstärkt, d. h. der Extravertierte
füllt dann seine freie Zeit durch melancholische oder hypochondrische
Grübeleien aus, wenn nicht durch hysterische Phantasien und
sonstige Symptome[116]; der Introvertierte dagegen schlägt sich mit
Minderwertigkeitsgefühlen herum, die ihn zwangsmässig befallen und ihn
nicht weniger trübselig stimmen.[117]

Der Prometheus der „Pandora“ entspricht nicht mehr dem Spittelers.
Er ist blosses collektives Tätigkeitsstreben, welches in seiner
Einseitigkeit eine Verdrängung der Erotik bedeutet. Sein Sohn
_Phileros_[118] ist reine erotische Leidenschaft; denn als ein
Sohn seines Vaters muss er, wie dies bei den Kindern öfter der Fall
ist, das von den Eltern zu wenig Gelebte unter unbewusstem Zwange
nachholen. Des Unbedachten, immer erst nachher Bedenkenden, des
Epimetheus Tochter, ist bezeichnenderweise Epimeleia = die Sorge.
Phileros liebt Epimeleia, die Tochter der Pandora, und so wird
des Prometheus Schuld, der Pandora zurückgewiesen hat, gesühnt.
Zugleich werden Prometheus und Epimetheus geeint, dadurch, dass
die Geschäftigkeit des Prometheus als nicht anerkannte Erotik sich
herausstellt und des Epimetheus beständiges Zurückschauen als
vernünftige Besorgnis, welche das ebenso beständige Produzieren
des Prometheus hemmen und aufs richtige Mass beschränken möchte.
Dieser Goethesche Lösungsversuch, der aus einer extravertierten
Psychologie heraus erwachsen zu sein scheint, führt uns zurück zu dem
Spittelerschen Lösungsversuch, den wir oben verlassen hatten, um uns
mit der Goetheschen Prometheusfigur zu beschäftigen.

Spittelers Prometheus wendet sich, wie sein Gott, von der Welt,
der Peripherie, weg und blickt nach innen, nach dem Mittelpunkt,
jenem „engen Durchgang“ der Wiedergeburt. Diese Konzentration oder
Introversion leitet die Libido allmählich ins Unbewusste. Dadurch
wird die Tätigkeit der unbewussten Inhalte verstärkt; die Seele
beginnt zu „arbeiten“ und schafft ein Werk, das aus dem Unbewussten
ins Bewusstsein auftauchen möchte. Das Bewusstsein hat aber zwei
Einstellungen: die prometheische, welche die Libido von der Welt
abzieht und introvertiert, ohne zu geben, und die epimetheische,
welche beständig ausgibt, seelenlos, geführt von den Ansprüchen des
äussern Objektes. Wenn Pandora ihr Geschenk der Welt gibt, so heisst
das im Psychologischen, dass ein unbewusstes Produkt von hohem Werte
das extravertierte Bewusstsein, d. h. die Beziehung zur realen Welt
zu erreichen im Begriff steht. Obschon die prometheische Seite, d. h.
der Künstler den hohen Wert des Werkes intuitiv erfasst, so ist doch
seine persönliche Beziehung zur Welt dermassen unter der Herrschaft
der Tradition in jeder Hinsicht, dass das Werk eben bloss als
Kunstwerk aufgefasst wird, und nicht auch als das, was es eigentlich
ist, nämlich ein Symbol, das eine Erneuerung des Lebens bedeutet.
Damit es aber aus der bloss ästhetischen Bedeutung heraus und zur
Wirklichkeit komme, sollte es auch ins Leben hineingelangen, dadurch,
dass es darin aufgenommen und gelebt wird. Wenn aber die Einstellung
hauptsächlich introvertierend ist und nur auf Abstraktion geht, dann
ist die Extraversionsfunktion minderwertig, d. h. im Banne collektiver
Beschränktheit. Diese Beschränktheit verhindert, dass das von der
Seele geschaffene Symbol lebendig wird. Dadurch geht das Kleinod
verloren; man kann aber nicht wirklich leben, wenn „Gott“, d. h. der
höchste Lebenswert, der sich im Symbol ausdrückt, nicht lebendig werden
kann. Darum bedeutet der Verlust des Kleinods zugleich den Beginn von
Epimetheus Untergang.

Und nun beginnt die Enantiodromie: Anstatt dass, wie jeder Rationalist
und Optimist geneigt ist anzunehmen, auf den guten Zustand ein
besserer folge, weil ja alles in „aufsteigender Entwicklung“ sich
bewege, schliesst nun der Mann des trefflichen Gewissens, und der
allgemein als gültig anerkannten sittlichen Grundsätze einen Pakt
mit Behemoth und seiner Übeln Schar und verhandelt sogar die ihm
anvertrauten Gotteskinder an den Teufel. Psychologisch heisst das, dass
die collektive, undifferenzierte Einstellung zur Welt die höchsten
Werte der Menschen ersticke und dadurch zu einer destruktiven Macht
werde, deren Wirkung solange zunimmt, bis die prometheische Seite,
nämlich die ideelle und abstrakte Einstellung sich in den Dienst des
Seelenkleinodes stellt und als ein ächter Prometheus der Welt ein neues
Feuer entzündet. Spittelers Prometheus muss aus seiner Einsamkeit
heraus und mit Gefahr seines Lebens den Menschen sagen, dass sie irren,
und wo sie irren. Er muss die Unerbittlichkeit der Wahrheit anerkennen,
so wie Goethes Prometheus die Unerbittlichkeit der Liebe in Phileros
erfahren muss.

Dass das destruktive Element in der epimetheiischen Einstellung
tatsächlich die traditionelle und collektive Beschränktheit ist,
beweist sich klar in der rasenden Wut des Epimetheus gegen das
„Lämmchen“, das eine durchsichtige Karikatur der traditionellen
Christlichkeit ist. In diesem Affekt bricht etwas durch, das uns aus
dem ungefähr gleichzeitigen Eselsfest des Zarathustra wohlbekannt ist.
Darin drückt sich eine zeitgenössische Strömung aus.

Der Mensch vergisst nämlich immer wieder, dass etwas, das einstmals
gut war, nicht für immer und ewig gut bleibt. Er geht aber die alten
Wege, die einstmals gut waren, noch lange, wenn sie schon schlecht
geworden sind, und er kann sich nur mit den grössten Opfern und unter
unerhörten Mühen vom Wahne befreien, dass das einstmals Gute heute
vielleicht alt geworden und nicht mehr gut ist. Es geht ihm so im
Kleinen wie im Grossen. Die Wege und Weisen seiner Kindheit, die
einstmals gut waren, kann er kaum ablegen, auch wenn ihre Schädlichkeit
längst erwiesen ist. Dasselbe, nur in gigantischer Vergrösserung, ist
der Fall mit der historischen Einstellungsveränderung. Eine allgemeine
Einstellung entspricht einer Religion, und Religionswechsel gehören
zu den peinlichsten Momenten der Weltgeschichte. Unsere Zeit ist
allerdings in dieser Hinsicht von einer Verblendung, die ihresgleichen
sucht. Man meint, man müsse nur eine Bekenntnisformel als unrichtig und
ungültig erklären, um von allen traditionellen Wirkungen christlicher
oder jüdischer Religion psychologisch befreit zu sein. Man glaubt an
Aufklärung, wie wenn eine intellektuelle Schwenkung irgendwie einen
tiefern Einfluss auf die Gemütsvorgänge oder gar auf das Unbewusste
hätte! Man vergisst völlig, dass die Religion der vergangenen 2000
Jahre eine psychologische Einstellung ist, eine bestimmte Art und Weise
der Anpassung nach innen und aussen, die eine bestimmte Kulturform
erzeugt und damit eine Atmosphäre geschaffen hat, welche von einer
intellektuellen Leugnung ganz unbeeinflusst bleibt. Die intellektuelle
Schwenkung ist zwar symptomatisch wichtig als ein Hinweis auf kommende
Möglichkeiten, aber die tiefern Schichten der Psyche arbeiten noch
lange in der frühern Einstellung weiter, gemäss der psychischen
Inertie. Daher kommt es, dass das Unbewusste das Heidentum lebendig
bewahrt hat. Die Leichtigkeit, mit der der antike Geist sich wieder
erhebt, kann man an der Renaissance beobachten. Die Leichtigkeit, mit
der sich der noch viel ältere primitive Geist wieder erhebt, kann man
in unserer Zeit vielleicht noch besser beobachten als in irgend einer
andern historisch bekannten Epoche. Je tiefer eine Einstellung wurzelt,
desto gewaltsamer müssen die Versuche ausfallen, die davon befreien
sollen. Der Ruf der Aufklärungsepoche: „Ecrasez l’infâme“, leitete
die religiöse Umsturzbewegung innerhalb der französischen Revolution
ein, welche psychologisch auch nichts anderes als eine wesentliche
Einstellungskorrektur bedeutete, der aber die Universalität mangelte.
Das Problem einer allgemeinen Einstellungsänderung schlief seit jener
Zeit nicht mehr ein; es tauchte vielmehr in vielen hervorragenden
Köpfen des XIX. Jahrhunderts wieder auf. Wir sahen bereits, wie
_Schiller_ das Problem zu bewältigen versuchte. In Goethes
Ansätzen zum Prometheus-Epimetheusproblem erkennen wir wiederum den
Versuch, die höher differenzierte Funktion, welche dem christlichen
Ideal der Bevorzugung des Guten entspricht, irgendwie mit der
minderdifferenzierten Funktion, deren Verdrängung und Nichtanerkennung
wiederum dem christlichen Ideal der Verwerfung des Bösen entspricht, zu
vereinigen.[119] Mit dem Symbol des Prometheus und des Epimetheus wird
die Schwierigkeit, die Schiller philosophisch-ästhetisch zu bewältigen
versuchte, in das Gewand des antiken Mythus gehüllt. Damit geschieht
etwas, das ich schon früher als typisch und gesetzmässig hervorgehoben
habe: wenn der Mensch nämlich vor einer schwierigen Aufgabe steht,
die er mit den ihm zu Gebote stehenden Mitteln nicht bewältigen kann,
dann entsteht automatisch eine rückläufige Libidobewegung, d. h.
eine Regression. Die Libido zieht sich vom gegenwärtigen Problem
zurück, introvertiert sich und belebt im Unbewussten ein mehr oder
weniger primitives Analogon der bewussten Situation samt einem frühern
Anpassungsweg. Dieses Gesetz bedingt Goethes Symbolwahl: Prometheus
war der Heiland, welcher der im Dunkeln schmachtenden Menschheit
Licht und Feuer brachte. Goethes Wissen hätte allerdings auch
einen andern Heiland auffinden können, weshalb die eben angegebene
Determinante zur Erklärung nicht hinreichend ist. Es muss vielmehr
auch am antiken Geiste liegen, den gerade jene Zeit um die Wende
des XVIII. Jahrhunderts als unbedingt compensatorisch empfand und
schätzte, und dies in jeglicher Hinsicht, ästhetisch, philosophisch,
moralisch, ja sogar politisch (Philhellenismus) auch ausdrückte. Der
Paganismus der Antike, der als „Freiheit“, „Naivetät“, „Schönheit“
etc. gepriesen wurde, war es, der dem Sehnen jener Zeit entgegenkam.
Jenes Sehnen entsprang, wie dies Schiller so deutlich zeigt, der
Empfindung der Halbheit, der seelischen Barbarei, der moralischen
Unfreiheit, der Unschönheit. Diese Empfindungen rühren samt und
sonders von der einseitigen Schätzung und von der damit verbundenen
Tatsache her, dass die psychologische Dissociation zwischen der höher-
und minderdifferenzierten Funktion fühlbar wurde. Die christliche
Zerreissung des Menschen in ein wertvolles und ein verworfenes Stück
wurde jenem im Vergleich zu frühern höher sensibilisierten Zeitalter
unerträglich. Die Sündhaftigkeit stiess sich an der Empfindung der
ewigen, natürlichen Schönheit, deren Anschauung jener Zeit allbereits
möglich war; daher griff sie auf ein Zeitalter zurück, wo die Idee der
Sündhaftigkeit die Ganzheit des Menschen noch nicht zerspalten hatte,
wo das Höhere und das Tiefere menschlicher Natur in völliger Naivetät
ohne Kränkung des moralischen oder ästhetischen Empfindens noch
zusammen wohnen konnten.

Der Versuch einer regressiven Renaissance blieb aber in den Anfängen
stecken, wie das Prometheusfragment und die „Pandora“. Die klassische
Lösung ging nicht mehr, denn die zwischenliegenden christlichen
Jahrhunderte mit ihrem Tiefstes aufwühlenden Erleben liessen sich
nicht leugnen. Daher die antikisierende Richtung sich allmählich
eine Abmilderung ins Mittelalterliche gefallen lassen musste. Dieser
Prozess setzt am deutlichsten in Goethes Faust ein, wo das Problem
bei den Hörnern genommen wird. Die Gotteswette zwischen Böse und
Gut wird aufgenommen. Faust, der mittelalterliche Prometheus, tritt
Mephistopheles, dem mittelalterlichen Epimetheus gegenüber und
schliesst den Pakt mit ihm. Und hier ist das Problem nun schon so
erhöht, dass man sehen kann, wie Faust und Mephisto ein und derselbe
Mensch sind. Das epimetheische Element, das alles zurückdenkt und in
das anfängliche Chaos „gestalten-mischender Möglichkeit“ zurückführt,
verschärft sich im Teufel zu der bösen Gewalt, die allem Lebenden „die
kalte Teufelsfaust“ entgegenhält und das Licht in die Mutter Nacht,
aus der es geboren, zurückzwingen möchte. Der Teufel hat überall ein
richtig epimetheisches Denken, das Denken des „Nichts-als“, welches
alles Lebendige auf das anfängliche Nichts herunterschraubt. Die naive
Leidenschaft des Epimetheus für die Pandora des Prometheus, wird zur
Teufelsabsicht des Mephistopheles auf die Seele des Faust. Und die
kluge Vorsicht des Prometheus, die göttliche Pandora auszuschlagen,
wird gesühnt durch die Tragik der Gretchenepisode und die spät erfüllte
Sehnsucht nach Helena und durch den endlosen Aufstieg zu den obern
Müttern. („Das ewig Weibliche zieht uns hinan“.)

In der Figur des mittelalterlichen Zauberers steckt der prometheische
Trotz gegen die geltenden Götter. Der Zauberer hat ein Stück uralten
Heidentums gerettet[120], er selbst besitzt ein Wesen in sich, das
von der christlichen Zerspaltung nicht erreicht wurde, d. h. er hat
Zugang zum Unbewussten, das noch heidnisch ist, und wo noch die
Gegensätze in ursprünglicher Naivetät zusammenliegen, jenseits von
aller Sündhaftigkeit, aber, wenn aufgenommen in das bewusste Leben,
geeignet, Böses mit derselben ursprünglichen und darum dämonisch
wirkenden Kraft zu erzeugen, wie Gutes. („Ein Teil von jener Kraft,
die stets das Böse will, und stets das Gute schafft.“) Er ist darum
ein Verderber, sowohl wie ein Erlöser (Faust: Spaziergang). Diese
Figur ist darum vor allen geeignet, der Symbolträger für einen
Vereinigungsversuch zu werden. Zudem hat der mittelalterliche Zauberer
die antike Naivetät, die unmöglich geworden ist, abgestreift und die
ganze christliche Atmosphäre durch stärkstes Erleben aufgesogen. Jenes
Stück Heidentum muss ihn zuerst ganz in christliche Selbstverleugnung
und Selbstzerfleischung hineinstossen, denn seine Erlösungssehnsucht
ist so stark, dass jedes Mittel ergriffen wird. Schliesslich versagt
auch der christliche Lösungsversuch, und dann zeigt es sich, dass in
der Erlösungssehnsucht und in der Eigensinnigkeit der Selbstbehauptung
des heidnischen Stückes eben gerade die Erlösungsmöglichkeit liegt,
indem das antichristliche Symbol eine Möglichkeit für das Aufnehmen
des Bösen zeigt. Goethes Intuition hat daher das Problem mit aller
nur wünschenswerten Schärfe erfasst. Es ist gewiss charakteristisch,
dass die andern seichtern Lösungsversuche, wie das Prometheusfragment,
die „Pandora“ und der rosenkreuzerische Kompromiss eines Synkretismus
von dionysischer Freude mit dem christlichen Selbstopfer in den
„Geheimnissen“ unvollendet geblieben sind. Die Erlösung des Faust
beginnt mit seinem Tode. Sein Leben behielt den prometheischen
Göttlichkeitscharakter, der erst mit dem Tode, d. h. mit seiner
Wiedergeburt von ihm abfiel. Psychologisch will das heissen, dass die
Fausteinstellung aufzuhören hat, damit die Einheit des Individuums
zustande komme. Was zuerst als Gretchen erschien und dann zu Helena auf
höherer Stufe wurde, erhöht sich am Ende zur Mater gloriosa. Dieses
vieldeutige Symbol zu erschöpfen, kann hier meine Aufgabe nicht sein.
Ich will nur darauf hinweisen, dass es sich um jenes urtümliche Bild
handelt, das bereits die Gnosis in hohem Masse beschäftigte, nämlich um
die Idee der göttlichen Hure Eva, Helena, Maria und Sophia-Achamoth.

3. _Die Bedeutung des vereinigenden Symbols._ Werfen wir von
dem nunmehr gewonnenen Standpunkt einen Blick auf die unbewusste
Problembearbeitung bei Spitteler, so fällt uns sofort auf, dass der
Pakt mit dem Bösen nicht der Absicht des Prometheus entspringt, sondern
der Gedankenlosigkeit des Epimetheus, der nur ein Collektivgewissen,
aber keinerlei Unterscheidungsvermögen für die Dinge der Innenwelt
besitzt. Er lässt sich ausschliesslich durch Collektivwerte bestimmen
und übersieht dadurch das Neue und Einzigartige, wie es dem am Objekt
orientierten Collektivstandpunkt bekanntlich immer geht. Mit objektivem
Masstab können wohl kurrente Collektivwerte gemessen werden, nicht aber
Neugeschaffnes, dem nur freie Schätzung -- eine Sache des lebendigen
Gefühls -- die richtige Bewertung geben kann. Dazu gehört aber ein
Mensch, der eine „Seele“ hat und nicht bloss Beziehungen zu äussern
Objekten. Der Niedergang des Epimetheus beginnt mit dem Verlust des
neugebornen Gottesbildes. Sein moralisch unanfechtbares Denken, Fühlen
und Handeln schliesst keineswegs aus, dass mehr und mehr das Böse, das
Destruktive und Leere sich einschleichen. Diese Invasion des Bösen
bedeutet eine Verwandlung des vorher Guten in eine Schädlichkeit.
Damit drückt Spitteler aus, dass das bisherige moralische Prinzip zwar
zuerst durchaus trefflich ist, mit der Zeit aber den Zusammenhang mit
dem Leben verliert, indem es die Fülle der Lebenserscheinung nicht in
sich fassen kann. Das rational Richtige ist ein zu enger Begriff, als
dass es das Leben im ganzen und auf die Dauer genügend erfassen und
ausdrücken könnte. Das irrationale Geschehnis der Gottesgeburt aber
steht ausserhalb der rationalen Geschehnisschranken. Die Gottesgeburt
will psychologisch sagen, dass ein neues Symbol, ein neuer Ausdruck
der höchsten Lebensintensität geschaffen sei. Alles Epimetheische
im Menschen und alle epimetheischen Menschen erweisen sich als
unfähig, dieses Ereignis zu fassen. Doch von diesem Moment an ist
die höchste Lebensintensität nur auf der neuen Linie zu finden. Jede
andere Richtung stirbt allmählich aus, d. h. sie fällt der Zerstörung
und Auflösung anheim. Das neue lebenspendende Symbol entstammt der
Liebe des Prometheus zu seiner Seele, welche reichlich als dämonisch
gekennzeichnet ist. Man kann darum sicher sein, dass im neuen Symbol
und seiner lebendigen Schönheit das Element des Bösen miteingeflossen
ist, denn sonst würde ihm das leuchtende Leben mangeln, wie auch die
Schönheit, denn Leben und Schönheit sind natürlicherweise moralisch
indifferent. Darum findet die epimetheische Collektivität auch nichts
Schätzenswertes daran. Die Einseitigkeit ihres moralischen Standpunktes
verblendet sie völlig. Dieser Standpunkt ist identisch mit dem
„Lämmchen“, d. h. traditionell christlich. Die Wut des Epimetheus gegen
das „Lämmchen“ ist also nichts anderes, als das „Ecrasez l’infâme“ in
erneuter Form, eine Auflehnung gegen die hergebrachte Christlichkeit,
die unfähig war, das neue Symbol zu begreifen und damit das Leben in
eine neue Bahn zu lenken.

Diese Konstatierung könnte einen durchaus kalt lassen, wenn Dichter
nicht solche wären, welche das collektive Unbewusste zu lesen imstande
sind. Sie erraten, als die Ersten ihrer Zeit, die geheimnisvollen
Strömungen, die sich unter Tag begeben und drücken sie nach
individueller Fähigkeit in mehr oder weniger sprechenden Symbolen aus.
Sie verkündigen so, als wahre Propheten, was im Unbewussten vorgeht,
„was der Wille Gottes sei“ in der Sprache des Alten Testamentes, und
was dementsprechend in der Folgezeit unvermeidlich zu Tage treten
wird als allgemeine Erscheinung. Die erlösende Bedeutung der Tat
des Prometheus bei Spitteler, der Untergang des Epimetheus, seine
Wiedervereinigung mit dem der Seele lebenden Bruder und die Rache des
Epimetheus am Lämmchen, die in ihrer Grausigkeit an die Szene zwischen
Ugolino und dem Erzbischof Ruggieri (Dante: Inferno, XXXII) erinnert,
bereiten auf eine Lösung des Konfliktes vor, die mit einer blutigen
Empörung gegen die hergebrachte collektive Moral verbunden ist.

Bei einem Dichter von kleinen Proportionen darf man annehmen, dass
der Gipfel seines Werkes die Höhe seiner persönlichen Freuden, Leiden
und Wünsche nicht überrage. Bei Spitteler hingegen überragt das
Werk persönliches Schicksal. Darum steht seine Problemlösung nicht
allein. Von hier zu Zarathustra, dem Zerbrecher der Tafeln, ist es
bloss ein Schritt. Auch _Stirner_ gesellt sich dazu, nachdem
_Schopenhauer_ als erster die Verneinungslehre aufgestellt hatte.
Er sprach von Verneinung der Welt. Psychologisch heisst „Welt“, wie
ich die Welt sehe, meine Einstellung zur Welt, denn die Welt kann
betrachtet werden als „mein Wille“ und „meine Vorstellung“. Die Welt
ist an sich indifferent. Mein Ja und Nein erzeugt die Differenzen.
Die Verneinung betrifft also die Einstellung zur Welt, und zwar in
erster Linie Schopenhauers Einstellung zur Welt, die einerseits
rein intellektualistisch-rational ist und andererseits die Welt
vermöge mystischer Identität im eigensten Gefühl erlebt. Diese
Einstellung ist introvertiert, sie leidet also am typologischen
Gegensatz. Schopenhauers Werk aber überragt seine Persönlichkeit um
ein Vielfaches. Es spricht aus, was viele Tausende unklar dachten und
fühlten. Ähnlich _Nietzsche_: sein Zarathustra vor allem hebt
die Inhalte des collektiven Unbewussten unserer Zeit überhaupt ans
Licht, daher wir auch bei ihm die entscheidenden Grundzüge finden:
die ikonoklastische Empörung gegen die herkömmliche Moralatmosphäre
und das Aufnehmen des „hässlichsten“ Menschen, das bei Nietzsche zu
jener in Zarathustra sich darstellenden erschütternden unbewussten
Tragödie führt. Was aber schöpferische Geister aus dem collektiven
Unbewussten heraufholen, das ist wirklich auch darin und tritt
darum auch als massenpsychologische Erscheinung früher oder später
zu Tage. Der Anarchismus, der Fürstenmord, die in neuester Zeit
sich immer deutlicher vollziehende Abspaltung eines anarchistischen
Elementes von der äussersten sozialistischen Linken, mit seinem
absolut kulturwidrigen Programm -- das sind die massenpsychologischen
Erscheinungen, welche von Dichtern und schöpferischen Denkern
längst schon ausgesprochen wurden. Darum können uns die Dichter
nicht kalt lassen, denn in ihren Hauptwerken und in ihren tiefsten
Inspirationen schöpfen sie aus den Tiefen des collektiven Unbewussten
und sprechen laut aus, was andere nur träumen. Obschon es aber die
Dichter laut aussprechen, so sprechen sie doch nur das Symbol, an
dem sie ästhetische Freude empfinden, ohne Bewusstsein seiner wahren
Bedeutung. Ich möchte nicht bestreiten, dass Dichter und Denker
einen erzieherischen Einfluss auf ihre Mit- und Nachwelt haben; mir
scheint aber, dass ihr Einfluss im wesentlichen darauf beruht, dass
sie etwas, was alle wissen, lauter und deutlicher sagen, und nur
insofern sie dieses allgemeine unbewusste „Wissen“ ausdrücken, wirken
sie erzieherisch oder verführerisch. Die grösste und unmittelbarste
suggestive Wirkung erzielt der Dichter, der die oberflächlichste
Schicht des Unbewussten in passender Form auszudrücken weiss. Je tiefer
das Schauen des schöpferischen Geistes dringt, desto fremder ist er der
Masse und desto grösser ist der Widerstand aller derjenigen, die sich
einigermassen vor der Masse auszeichnen. Die Masse versteht ihn nicht,
lebt aber unbewusst, was er ausspricht; nicht weil er es ausspricht,
sondern weil sie aus dem collektiven Unbewussten lebt, in das er
schaute. Die Bessern der Nation verstehen zwar etwas von dem, was er
sagt, aber weil das Ausgesprochene einerseits mit den in der Masse sich
begebenden Ereignissen übereinstimmt, andererseits aber ihre eigenen
Bestrebungen antizipiert, so hassen sie den Schöpfer solcher Gedanken,
nicht aus Bosheit, sondern aus Instinkt der Selbsterhaltung. Wenn das
Erkennen des collektiven Unbewussten eine solche Tiefe erreicht, dass
der bewusste Ausdruck den Inhalt nicht mehr fassen kann, dann kann im
Augenblick nicht mehr entschieden werden, ob es sich um ein krankhaftes
oder um ein wegen seiner besondern Tiefe unverständliches Produkt
handelt. Meist ist ein mangelhaft gefasster, aber tief bedeutsamer
Inhalt auch etwas Krankhaftes. Und krankhafte Produkte sind in der
Regel bedeutsam. Aber in beiden Fällen ist der Zugang schwierig.
Der Ruhm dieser Schöpfer, falls er sich überhaupt je einstellt, ist
posthum, und verspätet sich gelegentlich um mehrere Jahrhunderte. Die
Behauptung _Ostwalds_, dass heute ein genialer Geist höchstens
noch auf die Dauer von ungefähr einem Jahrzehnt verkannt werde,
beschränkt sich hoffentlich auf das Gebiet der technischen Erfindungen,
sonst wäre eine solche Behauptung lächerlich in höchstem Masse.

Noch ist auf einen Punkt hinzuweisen, der mir von besonderm
Belang erscheint. Die Problemlösung im „Faust“, im „Parzival“ von
_Wagner_, bei Schopenhauer, selbst bei Nietzsches Zarathustra
ist _religiös_. Es ist daher nicht erstaunlich, dass auch
Spitteler zu einer religiösen Fassung gedrängt ist. Wenn ein Problem
religiös gefasst wird, so heisst es psychologisch: sehr bedeutsam,
von besonderm Werte, das Ganze des Menschen betreffend, daher auch
das Unbewusste (Götterreich, Jenseits, usw.). Bei Spitteler ist sogar
die religiöse Form von geradezu überwuchernder Fruchtbarkeit, wobei
das speziell Religiöse allerdings an Tiefe verliert, dafür aber an
mythologischem Reichtum, an Archaïsmus und darum auch an prospektiver
Symbolik gewinnt. Das wuchernde mythologische Gespinnst erhöht die
Unklarheit der Problemerfassung und -lösung, und macht darum das Werk
schwer zugänglich. Das Abstruse, Groteske und Geschmacklose, das der
mythologischen Wucherung immer anhaftet, verhindert die Einfühlung,
isoliert dadurch den Sinn des Werkes und gibt dem Ganzen einen etwas
unangenehmen Beigeschmack von jener Originalität, die sich nur
dank einer ängstlich-sorgfältigen Anpassung an anderer Stelle von
psychischer Abnormalität mit Erfolg unterscheiden kann.

Die mythologische Wucherung, so ermüdend und unschmackhaft sie auch
sein mag, hat aber den einen Vorteil, dass nämlich das Symbol sich in
ihr entfalten kann, aber allerdings in einer dermassen unbewussten
Weise, dass der bewusste Witz des Dichters dem Ausdruck des Sinnes
nirgends nachzuhelfen weiss, sondern einzig und allein im Dienste
der mythologischen Wucherung und ihrer plastischen Ausgestaltung
sich abmüht. Darin unterscheidet sich Spittelers Dichtung vom
„Faust“ sowohl wie vom „Zarathustra“, dass der bewusste Anteil des
Dichters am Sinne des Symbols in letztern Fällen ein grösserer war,
und infolgedessen die mythologische Wucherung im „Faust“ und die
Gedankenwucherung im „Zarathustra“ zu Gunsten der erstrebten Lösung
zurückgedrängt wurde. Daher ist „Faust“ sowohl wie „Zarathustra“ weit
_schöner_ als Spittelers Prometheus. Letzterer aber _wahrer_
als relativ treues Abbild der wirklichen Vorgänge im collektiven
Unbewussten. „Faust“ sowohl wie „Zarathustra“ erweisen sich als
hilfreich in hohem Masse bei der individuellen Bewältigung des in Frage
stehenden Problems; Spittelers „Prometheus und Epimetheus“ hingegen
ermöglicht eine allgemeinere Erkenntnis des Problems und seiner
collektiven Erscheinungsweise dank der mit allen Mitteln unterstützten
mythologischen Wucherungen. Was die Spittelersche Demonstration
unbewusster religiöser Inhalte in erster Linie erkennen lässt, ist das
_Symbol der Gotteserneuerung_, das dann im „Olympischen Frühling“
ausgedehnt behandelt wird. Dieses Symbol erscheint innigst verbunden
mit dem Typen- und Funktionsgegensatz und hat offenkundig die Bedeutung
eines Lösungsversuches in Form einer Erneuerung der allgemeinen
Einstellung, was in der Sprache des Unbewussten als Erneuerung des
Gottes ausgedrückt wird. Die Gotteserneuerung ist ein geläufiges
urtümliches Bild, das man sozusagen überall findet; ich erwähne nur
den ganzen Komplex des sterbenden und wiedererstehenden Gottes und
alle seine Vorstufen bis zur Erneuerung der Ladung der Fetische
und Churingas mit magischer Kraft. Das Bild drückt aus, dass die
Einstellung sich verändert hat, und dadurch eine neue Energiespannung
eingetreten ist, eine neue Möglichkeit der Manifestation des Lebens,
eine neue Fruchtbarkeit. Letztere Analogie erklärt den reichlich
erwiesenen Zusammenhang der Gotteserneuerung mit den Phänomenen der
Jahreszeiten und des Wachstums. Man ist natürlich geneigt, aus diesen
Analogien auf Jahreszeiten-, Vegetations-, Astral- oder Lunarmythus
zu schliessen. Man vergisst dabei ganz, dass ein Mythus wie alles
Psychische nicht bloss durch das äussere Ereignis bedingt sein kann.
Das Psychische bringt auch seine eigenen innern Bedingungen mit,
sodass man mit ebenso viel Recht auch behaupten kann, der Mythus
sei rein psychologisch und benütze die Daten der meteorologischen
oder astronomischen Vorgänge bloss als Ausdrucksmaterial. Die
Willkürlichkeit und Absurdität vieler primitiver mythischer
Behauptungen lässt diese Erklärungsversion öfter als treffend
erscheinen als jede andere.

Die psychologische Ausgangssituation für die Gotteserneuerung ist eine
zunehmende Spaltung in der Anwendungsweise der psychischen Energie,
der Libido. Die eine Hälfte begibt sich in eine prometheische, die
andere Hälfte in eine epimetheische Anwendungsweise. Natürlich
hindern sich solche Gegensätze nicht nur in der Societät, sondern
auch im Individuum. Daher das Lebensoptimum sich mehr und mehr von
den gegensätzlichen Extremen zurückzieht und eine Mittelstellung
aufsucht, die notwendigerweise irrational und unbewusst sein muss,
weil nur die Gegensätze rational und bewusst sind. Da nun die
mittlere Position einen irrationalen Charakter hat als Vereinigung
von Gegensätzen und noch unbewusst ist, so erscheint sie projiziert
als vermittelnder Gott, als Messias oder Mediator. Für unsere, in
punkto Erkenntnis, primitivern westlichen Religionsformen erscheint
die neue Lebensmöglichkeit als Gott oder Heiland, der aus Liebe oder
aus väterlicher Fürsorge, aber aus seinem eigenen innern Entschluss
heraus die Zerspaltung aufhebt, wann und wie es ihm aus uns verborgenen
Gründen passt. Die Kindlichkeit dieser Anschauung ist in die Augen
springend. Der Osten hat seit Jahrtausenden diesen Vorgang erkannt und
deshalb auch eine psychologische Heilslehre aufgestellt, welche den
Erlösungsweg in den Bereich menschlicher Absicht rückt. So hat die
indische Religion sowohl wie die chinesische und der beide Sphären
verbindende Buddhismus die Vorstellung eines _mittlern Pfades_,
der von magischer Wirksamkeit, erlösend, und durch bewusste Einstellung
erreichbar ist. Die vêdische Anschauung sucht bewusst die Befreiung
aus den Gegensatzpaaren, um auf den Pfad der Erlösung zu gelangen.

a) _Die brahmanistische Auffassung des Gegensatzproblems._
Der Sanskritausdruck für Gegensatzpaar im psychologischen Sinn ist
_Dvandva_. Er bedeutet sonst noch Paar (bes. Mann und Weib),
Streit, Zank, Zweikampf, Zweifel, etc. Die Gegensatzpaare wurden schon
vom Weltschöpfer geschaffen:

„Moreover, in order to distinguish actions, he separated merit from
demerit, and he caused the creatures to be affected by the _pairs
of opposites_, such as pain and pleasure.“[121] Der Kommentator
_Kulluka_ nennt als weitere Gegensatzpaare: Wunsch und Zorn,
Liebe und Hass, Hunger und Durst, Sorge und Wahn, Ehre und Schande.
„Immerfort hat diese Welt unter den Gegensatzpaaren zu leiden.“[122]
Es ist nun eine wesentliche ethische Aufgabe, sich von den Gegensätzen
nicht beeinflussen zu lassen (nirdvandva = frei, unberührt von den
Gegensätzen), sondern sich darüber zu erheben, weil die Befreiung von
den Gegensätzen zur Erlösung führt. Ich gebe im folgenden eine Reihe
von Belegen:

1. Aus dem Buch des Manu[123]: „Wenn er durch die Einstellung seines
Gefühls gleichgültig wird gegenüber allen Objekten, so erlangt er ewige
Glückseligkeit, sowohl in dieser Welt, wie nach dem Tode. Wer in dieser
Weise alle Bindungen allmählich aufgegeben hat und sich befreit hat von
allen Gegensatzpaaren, ruht in _Brahman_.“

2. Die bekannte Ermahnung Krishnas[124]: „Die Vedas beziehen sich auf
die drei Gunas[125]; Du aber, o Arjuna, sei gleichgültig gegen die
drei Gunas, gleichgültig gegen die Gegensätze (nirdvandva) immerdar
standhaft im Mut.“

3. Im Yogasutra des Patanjali heisst es[126]: „Dann (in der tiefsten
Versenkung, samadhi) erfolgt Unbetroffensein von den Gegensätzen.“[127]

4. Vom Wissenden[128]: „Daselbst schüttelt er ab gute und böse Werke,
dann übernehmen seine Bekannten, die ihm freund sind, sein gutes Werk
und die ihm nicht freund sind, sein böses Werk; gleichwie einer,
auf einem Wagen schnell fahrend, auf die Wagenräder hinabblickt, so
blickt er herab auf Tag und Nacht, so auf gute und böse Werke und
auf alle Gegensätze; er aber, frei von guten und bösen Werken, als
Brahmanwisser, geht zu dem Brahman ein.“

5. (Zur Versenkung ist berufen) „wer Gier und Zorn überwindet, das
Hängen an der Welt und die Sinnenlust; wer sich von den Gegensätzen
frei macht, wer das Ichgefühl (bezw. die Selbstsucht) aufgibt, der
Hoffnung ledig ist.“[129]

6. Pandu, der ein Eremit werden will, sagt: „Mit Staub ganz bedeckt,
im Freien hausend, will ich an der Wurzel eines Baumes meine Wohnung
nehmen, alles, Liebes und Unliebes aufgeben, weder Kummer noch Freude
empfinden, Tadel und Lob gleich aufnehmen, weder Hoffnung hegen, noch
Verehrung bezeugen, frei von den Gegensätzen (nirdvandva), ohne Hab und
Gut.“[130]

7. „Wer im Leben und im Sterben, im Glück wie im Unglück, bei Gewinnen
und Verlieren, in Liebe und Hass sich gleich bleibt, der wird erlöst.
Wer nichts erstrebt und nichts gering achtet, wer frei von den
Gegensätzen (nirdvandva) ist, wessen Seele die Leidenschaft nicht
kennt, der ist gänzlich erlöst.

Wer weder Recht noch Unrecht tut, und den in früherm Dasein
aufgehäuften Schatz von (guten und bösen) Werken fahren lässt; wessen
Seele sich beruhigt, wenn die körperlichen Elemente dahinschwinden, wer
von den Gegensätzen sich frei hält, der wird erlöst.“[131]

8. „Volle tausend Jahre habe ich die Sinnendinge genossen, und doch
regt sich immer von neuem die Begier nach ihnen. Deshalb will ich sie
aufgeben, und meinen Geist auf Brahma richten; gleichgültig gegen die
Gegensätze (nirdvandva) und frei von Ichgefühl will ich mit dem Wild
umherstreifen.“[132]

9. „Durch Schonung aller Wesen, durch den Wandel eines Asketen, durch
Selbstbezwingung und Wunschlosigkeit, durch Gelübde und untadliges
Leben, durch Gleichmut und das Ertragen der Gegensätze wird dem
Menschen in dem qualitätlosen Brahma die Wonne zuteil.“[133]

10. „Wer frei ist von Überhebung und Verblendung, und den Fehler an
etwas zu hängen, überwunden hat, wer dem höchsten Atman treu bleibt,
wessen Wünsche erloschen sind, wer unberührt bleibt von den Gegensätzen
von Lust und Schmerz, diese von Verblendung Freien gelangen nach jener
unvergänglichen Stätte.“[134]

Wie aus diesen Zitaten[135] hervorgeht, sind es zunächst die äussern
Gegensätze, wie Hitze und Kälte, denen die psychische Anteilnahme
versagt werden soll, sodann aber auch extreme affektive Schwankungen,
wie Liebe und Hass usw. Die affektiven Schwankungen sind natürlich
die steten Begleiter aller psychischen Gegensätze, so natürlich
auch aller gegensätzlichen Auffassungen in moralischer und anderer
Hinsicht. Solche Affekte sind erfahrungsgemäss umso grösser, je mehr
das erregende Moment die Gesamtheit des Individuums berührt. Der Sinn
der indischen Absicht ist daher klar: sie will von den Gegensätzen der
menschlichen Natur überhaupt befreien, und zwar zu einem neuen Leben
in Brahman, dem Erlösungszustand und Gott zugleich. Brahman muss also
die irrationale Vereinigung der Gegensätze und somit ihre endgültige
Überwindung bedeuten. Obschon Brahman als Weltgrund und Weltschöpfer
die Gegensätze geschaffen hat, so müssen doch in ihm die Gegensätze
auch wieder aufgehoben sein, wenn anders er den Erlösungszustand
bedeuten soll. Ich gebe im folgenden eine Reihe von Belegen:

1. „Brahman ist sat und asat, das Seiende und Nichtseiende, satyam und
asatyam, die Realität und die Irrealität.“[136]

2. „Fürwahr, es gibt zwei Formen des Brahman, nämlich: das Gestaltete
und das Ungestaltete, das Sterbliche und das Unsterbliche, das Stehende
und das Gehende, das Seiende und das Jenseitige.“[137]

3. „Der Gott, der Schöpfer aller Dinge, das grosse Selbst, das immerdar
wohnt im Herzen des Menschen, wird wahrgenommen vom Herzen, der Seele,
dem Geiste, wer das weiss, erreicht Unsterblichkeit. Wenn das Licht
aufgegangen ist, dann gibt es nicht Tag noch Nacht, weder Sein noch
Nichtsein.“[138]

4. „Zwei sind im ewig, endlos höchsten Brahman latent enthalten,
_Wissen und Nichtwissen_. Vergänglich ist Nichtwissen, ewig
Wissen, doch der als Herr verhängt sie, ist der Andre.“[139]

5. „Das Selbst, kleiner als klein, grösser als gross, ist verborgen im
Herzen dieser Kreatur. Ein Mensch, befreit vom Begehren und befreit
von Bekümmernis, sieht die Majestät des Selbst durch die Gnade des
Schöpfers. Obschon er stille sitzt, so wandelt er ferne, obschon er
stille liegt, so geht er überall. Wer, ausser mir, ist fähig diesen
Gott zu erkennen, der erfreut und nicht erfreut?“[140]

    6. „Eins -- ohne Regung und doch schnell wie Denken, --
       Hinfahrend, nicht von Göttern einzuholen --
       Stillstehend, überholt es alle Läufer --
       Ihm wob schon die Urwasser ein der Windgott.
       Rastend ist es und doch rastlos,
       Ferne ist es und doch so nah.
       In allem ist es inwendig,
       Und doch ausserhalb allem da.“[141]

7. „Aber gleichwie dort im Luftraume ein Falke oder ein Adler, nachdem
er umhergeflogen ist, ermüdet seine Fittiche zusammenfaltet, und sich
zur Niederkauerung begibt, also eilt auch der Geist zu jenem Zustande,
wo er, eingeschlafen, keine Begierde mehr empfindet und kein Traumbild
schaut.

Das ist seine wahre Form frei von Verlangen, frei von Übel, frei von
Furcht. Denn so, wie einer von einem geliebten Weibe umschlungen,
kein Bewusstsein hat von dem, was aussen oder innen ist, so auch
hat der Geist, von dem erkenntnisartigen Selbst (dem Brahman)
umschlungen, kein Bewusstsein von dem, was aussen oder innen ist.“
(Subjekt-Objektgegensatz aufgehoben.)

„Ein Ozean ist diese eine Sekunde, frei von Zweiheit; dies ist die
Brahmanwelt, o König. So lehrte ihn Yajnavalkya. Dies ist sein höchstes
Ziel, dies sein höchster Erfolg, dies seine höchste Welt, dies seine
höchste Wonne.“[142]

    8. „Was regsam ist, was fliegt und dennoch still steht,
        Was atmet und nicht atmet, was die Augen schliesst,
        Das trägt die ganze Erde allgestaltig,
        Und das zusammengehend wird zur Einheit.“[143]

Diese Anführungen zeigen, dass Brahman die Vereinigung und Aufhebung
der Gegensätze ist und daher zugleich auch als irrationale[144]
Grösse darüber steht. Es ist ein Gottwesen, zugleich das Selbst
(allerdings in geringerm Masse als der verwandte Atmanbegriff) und ein
bestimmter psychologischer Zustand, der durch Isolierung gegenüber
Affektschwankungen ausgezeichnet ist. Da das Leiden ein Affekt ist, so
bedeutet die Befreiung von Affekten die Erlösung. Die Befreiung aus
den Schwankungen der Affekte, das heisst aus der Gegensatzspannung ist
gleichbedeutend mit dem Erlösungsweg, der allmählich zum Brahmanzustand
führt. Brahman ist daher auch in gewissem Sinne nicht nur ein Zustand,
sondern auch ein Prozess, eine „schöpferische Dauer“. Es ist daher
nicht erstaunlich, dass sein Begriff in den Upanishaden mit all den
Symbolen ausgedrückt wird, die ich früher als Libidosymbole[145]
bezeichnet habe. Ich gebe im folgenden die hiehergehörigen Belege:

b) _Über die brahmanistische Auffassung des vereinigenden Symbols._

1. „Wenn es heisst: Brahman im Osten zuerst ward geboren, so wird als
jene Sonne das Brahman Tag für Tag im Osten geboren.“[146]

2. „Jener Mann in der Sonne ist Parameshtin, Brahman, Atman.“[147]

3. „Jener Mann, den sie in der Sonne zeigen, das ist Indra, ist
Prajapati, ist Brahman.“[148]

4. „Das Brahman ist ein sonnengleiches Licht.“[149]

5. „Was dieses Brahman ist, das ist eben das, was als jene
Sonnenscheibe glüht.“[150]

    6. „Brahman _zuerst im Osten ward geboren_;
        Vom Horizont deckt auf den Glanz der Holde;
        Die Formen dieser Welt, die tiefsten, höchsten,
        Zeigt er, die Wiege des, was ist und nicht ist.
        Vater der glänzenden, der Schätze Zeuger,
        Ging ein er in den Luftraum allgestaltig;
        Ihn preisen sie durch Lobgesang, _das Junge,_
        _Das Brahman ist, durch Brahman_ (Gebet) _wachsen machend_.
        Das Brahman hat die Gottheiten, Brahman die Welt
            hervorgebracht.“[151]

Ich habe gewisse, besonders charakteristische Stellen durch Sperrdruck
hervorgehoben, aus denen hervorgeht, dass Brahman nicht nur das
Hervorbringende ist, sondern auch das Hervorgebrachte, immer wieder
Werdende. Der Beiname „der Holde“ (vena), der hier der Sonne gilt,
wird an andern Stellen dem _Seher_, der mit dem göttlichen Licht
begnadet ist, gegeben, denn gleich wie die Brahman-Sonne, umwandelt
auch des Sehers Geist „Erd’ und Himmel, Brahman schauend“.[152] Diese
intime Beziehung, ja Identität des göttlichen Wesens mit dem Selbst
(Atman) des Menschen, dürfte allgemein bekannt sein. Ich erwähne
folgendes Beispiel aus dem Atharvaveda:

    „Der Brahmanschüler belebend beide Welten geht.
    In ihm sind einmütig die Götter alle.
    Er hält und trägt die Erde und den Himmel,
    Er sättigt durch sein Tapas[153] selbst den Lehrer.
    Dem Brahmanschüler nah’n, ihn zu besuchen,
    Väter und Götter, einzeln und in Scharen;
    Und alle Götter sättigt er durch Tapas.“

Der Brahmanschüler ist selbst eine Inkarnation Brahmans, woraus die
Identität der Brahmanwesenheit mit einem bestimmten psychologischen
Zustand unzweifelhaft hervorgeht.

    7. „Von Göttern angetrieben, glänzt unüberragt die _Sonne_ dort;
        _Aus ihr ward Brahmankraft_, das höchste Brahman,
        Die Götter all, und was sie macht unsterblich.
        _Der Brahmanschüler trägt das Brahman_ glanzvoll,
        _Ihm sind die Götter alle eingewoben_.“[154]

8. Brahman ist auch Prana = Lebensodem und kosmisches Lebensprinzip,
ebenso ist Brahman Vayu = Wind, der im Brihadaranyaka-Upanishad (3,7)
als das kosmische und psychische Lebensprinzip angegeben wird.[155]

9. „Er, der dieser (Brahman) ist im Menschen, und er, der jener
(Brahman) ist in der Sonne, beide sind eins.“[156]

10. (Gebet eines Sterbenden): „Das Antlitz des Wahren (des Brahman) ist
von einer goldenen Scheibe bedeckt. Öffne diese, o Pushan (Savitri,
Sonne), dass wir sehen mögen das Wesen des Wahren. O Pushan, einziger
Seher, Yama, Surya (Sonne), Sohn des Prajapati, breite deine Strahlen
aus und sammle sie. Das Licht, das deine schönste Gestalt ist, ich sehe
es. Ich bin, was er ist (d. h. der Mann in der Sonne).“[157]

11. „Und dieses Licht, das über diesem Himmel leuchtet, höher als
Alles, höher als Jegliches, in der höchsten Welt, über welche hinaus
es keine andern Welten mehr gibt, das ist dasselbe Licht, das im
Innern des Menschen ist. Und dafür haben wir diesen sichtbaren Beweis:
nämlich, wenn wir so durch Berührung die Wärme hier und Körper
wahrnehmen.“[158]

12. „Wie ein Reiskorn, oder Gerstenkorn, oder Hirsekorn, oder eines
Hirsekorns Kern, so ist dieser Geist im innern Selbst, golden, wie eine
Flamme ohne Rauch; und er ist grösser als der Himmel, grösser als der
Raum, grösser als diese Erde, grösser als alle Wesen. Er ist des Lebens
Seele, er ist meine Seele; zu ihm, von hier, zu dieser Seele werde ich
hinscheidend eingehen.“[159]

13. Brahman wird Atharvaveda 10,2 als vitalistisches Prinzip, als
Lebenskraft, welche alle Organe und ihre zugehörigen Triebe schafft,
aufgefasst.

„Wer, dass er des Geschlechtes Faden fortspinne, pflanzt ihm Samen ein,
wer häufte auf ihn Geisteskräfte, gab Stimme ihm und Mienenspiel?“

Auch die _Macht_ des Menschen stammt aus Brahman. Aus diesen
Belegen, deren Zahl sich um ein Vielfaches vermehren liesse, geht
unzweideutig hervor, dass der Brahmanbegriff übereinstimmt, vermöge
aller seiner Attribute und Symbole mit jener Idee einer dynamischen
oder schöpferischen Grösse, die ich als „Libido“ bezeichnet habe. Das
Wort „Brahman“ bedeutet: 1. Gebet, 2. Zauberspruch, 3. heilige Rede,
4. heiliges Wissen (veda), 5. heiliger Wandel, 6. das Absolutum, 7.
der heilige Stand (der Brahmanen). _Deussen_ hebt als besonders
charakteristisch die Gebetsbedeutung hervor.[160] Brahman leitet
sich von barh, farcire, „die Anschwellung“[161], d. h. das „Gebet“,
aufgefasst als „der zum Heiligen, Göttlichen emporstrebende Wille des
Menschen.“

Diese Ableitung weist auf einen gewissen psychologischen Zustand
hin, nämlich auf eine spezifische Konzentration der Libido, welche
durch überfliessende Innervationen einen allgemeinen Spannungszustand
hervorruft, der mit dem Gefühl der Anschwellung verknüpft ist.
Daher man auch in der Umgangssprache von einem solchen Zustand
gerne Bilder von Überfliessen, nicht mehr halten können, zerplatzen
usw. gebraucht. („Wess’ das Herz voll ist, dess gehet der Mund
über.“) Die indische Praxis sucht diesen Zustand der Stauung oder
Anhäufung der Libido planmässig durch Abziehung der Aufmerksamkeit
(der Libido) von den Objekten und von den psychischen Zuständen, den
„Gegensätzen“, herbeizuführen. Die Abspaltung der Sinneswahrnehmung
und die Auslöschung des Bewusstseinsinhaltes führt gewaltsam zu einer
Heruntersetzung des Bewusstseins überhaupt (genau wie in der Hypnose)
und belebt dadurch die Inhalte des Unbewussten, d. h. die urtümlichen
Bilder, die wegen ihrer Universalität und ihres unbeschränkten Alters
kosmischen und übermenschlichen Charakter haben. Auf diese Weise
kommen dann alle jene Gleichnisse von Sonne, Feuer, Flamme, Wind,
Atem, usw. herein, welche von jeher als Symbole für die zeugende,
schöpferische, weltbewegende Kraft galten. Da ich mich mit diesen
Libidogleichnissen in einer speziellen Untersuchung[162] ausführlich
beschäftigt habe, so kann ich mir hier Wiederholungen ersparen. Die
Idee eines schöpferischen Weltprinzipes ist eine Projektion der
Wahrnehmung des lebenden Wesens im Menschen selbst. Man tut wohl am
besten, dieses Wesen abstrakt als _Energie_ aufzufassen, um alle
vitalistischen Missverständnisse von vornherein auszuschliessen.
Allerdings muss man aber auch auf der andern Seite jene Hypostasierung
des Energiebegriffes, welche sich die modernen Energetiker leisten,
strikte zurückweisen. Mit dem Begriffe der Energie ist auch der
Begriff der Gegensätzlichkeit gegeben, indem ein energetischer Ablauf
notwendig die Existenz eines Gegensatzes, d. h. zweier verschiedener
Zustände voraussetzt, ohne welche überhaupt kein Ablauf stattfinden
kann. Jedes energetische Phänomen (es gibt überhaupt kein Phänomen,
das nicht energetisch wäre) manifestiert Anfang und Ende, oben und
unten, heiss und kalt, früher und später, Ursprung und Ziel, usw.,
d. h. die Gegensatzpaare. Die Untrennbarkeit des Energiebegriffes vom
Gegensatzbegriff haftet auch dem Libidobegriff an. Die Libidosymbole
mythologischer oder philosophisch-spekulativer Natur sind daher
entweder durch Gegensätze direkt dargestellt, oder lösen sich zu
allernächst in Gegensätze auf. Ich habe auf diese innere Spaltung der
Libido schon früher hingewiesen und bin damit auf Widerstand gestossen,
zu Unrecht, wie mir scheint, denn die unmittelbare Association
eines Libidosymbols mit dem Gegensatzbegriff gibt mir recht. Wir
finden diese Association auch beim Brahmanbegriff oder -Symbol. In
höchst merkwürdiger Weise findet sich die Form Brahmans als Gebet
und zugleich als vorweltliche Schöpferkraft, letztere dabei in die
Geschlechtsgegensätze aufgelöst, in einem Hymnus des Rigveda[163]:

    „Und dies Gebet des Sängers, aus sich breitend,
    Ward eine Kuh, die vor der Welt schon da war;
    In dieses Gottes Schoss zusammenwohnend,
    Pfleglinge gleicher Hegung sind die Götter.
    Was ist das Holz, was ist der Baum gewesen,
    Aus dem sie Erd und Himmel ausgehauen,
    Die beiden, alternd nicht und ewig hilfreich,
    Wenn Tage schwänden und Vor-Morgenröten? --
    So gross ist ausser ihm nichts mehr vorhanden,
    Er ist der Stier, der Erde trägt und Himmel,
    Das Wolkensieb umgürtet wie ein Fell er,
    Der Herr, wenn er, wie Surya, fährt mit Falben.
    Als Sonnenpfeil bestrahlt er weit die Erde,
    Durchbraust die Wesen, wie der Wind die Nebel,
    Wo er als _Mitra_, _Varuna_ sich umtreibt,
    Zerteilt er _Glutschein_ wie im Walde _Agni_.
    Als zugetrieben ihm, die Kuh gebar,
    Schuf sie, _bewegt, frei weidend, Unbewegtes.
    Gebar den Sohn, der älter als die Eltern_ --“

In einer andern Form ist die mit dem Weltschöpfer unmittelbar
verbundene Gegensätzlichkeit dargestellt im Çatapatha-brahmanam 2, 2,
4: „Prajapati[164] war diese Welt zu Anfang nur allein, der erwog: Wie
kann ich mich fortpflanzen?, er mühte sich ab, er übte Tapas[165]; da
erzeugte er aus seinem Munde Agni (das Feuer), weil er ihn aus seinem
Munde erzeugte[166]; darum ist Agni Speiseverzehrer. -- Prajapati
erwog: als Speiseverzehrer habe ich diesen Agni aus mir erzeugt; aber
es ist hier _nichts andres ausser mir vorhanden_, was er essen
könnte, denn die Erde war damals ganz kahl beschaffen; es gab keine
Kräuter und keine Bäume; das war ihm in Gedanken. _Da kehrte sich
Agni mit aufgerissnem Rachen gegen ihn._ -- Da sprach zu ihm die
ihm eigne Grösse: _Opfere!_ Und Prajapati erkannte: die mir
eigene Grösse hat zu mir gesprochen und er opferte --. Darauf stieg
Er empor, der dort glüht (die Sonne); darauf erhob sich Er, der hier
läutert (der Wind). So hat also Prajapati dadurch, dass er opferte,
sich fortgepflanzt und zugleich vor dem Tode, der als Agni ihn fressen
wollte, sich selbst gerettet --.“

Das Opfer ist immer das Aufgeben eines wertvollen Stückes, dadurch
kommt der Opferer dem Gefressenwerden zuvor, d. h. es entsteht
nicht eine Verwandlung in den Gegensatz, sondern eine Vereinigung
und Ausgleichung, woraus sofort eine neue Libido- resp. Lebensform
entsteht, Sonne und Wind erheben sich. An einer andern Stelle im
Çatapatha-brahmanam wird angegeben, dass die eine Hälfte des Prajapati
sterblich, die andere unsterblich sei.[167]

In ähnlicher Weise, wie Prajapati sich schöpferisch in Stier und Kuh
teilt, so teilt er sich auch in die beiden Prinzipien _Manas_
(Verstand) und _Vac_ (Rede). „Prajapati war diese Welt allein, die
Vac war sein Selbst, die Vac sein Zweites (sein alter ego); er erwog:
ich will diese Vac hervorgehen lassen, und sie soll hingehen, dieses
All zu durchdringen. Da liess er die Vac hervorgehen, und sie ging
hin, indem sie dieses All erfüllte.“[168] Diese Stelle ist insofern
von besonderm Interesse, als die Rede hier als eine schöpferische,
extravertierende Libidobewegung aufgefasst wird, im Goetheschen Sinne
als eine Diastole. Eine weitere Parallele ist die folgende Stelle:
„Prajapati fürwahr war diese Welt, ihm war die Vac sein Zweites: mit
ihr pflog er Begattung; sie wurde schwanger; da ging sie von ihm aus,
da schuf sie diese Geschöpfe, und dann ging sie wieder in Prajapati
zurück.“[169] Çatapatha-Br. 8,1,2,9 wird der Vac sogar eine überragende
Bedeutung zu teil: „die Vac fürwahr ist der weise Viçvakarman, denn
durch die Vac ist diese ganze Welt gemacht.“ Çatap. Br. 1,4,5,8 wird
die Frage des Primates zwischen Manas und Vac aber anders entschieden:
„Es geschah einmal, dass der Verstand und die Rede sich um den Vorrang
stritten. Der Verstand sprach: Ich bin besser als du, denn du sprichst
nichts, was ich nicht vorher erkannt hätte --. Da sprach die Rede:
Ich bin besser als du, denn was du erkannt hast, das tue ich kund,
das mache ich bekannt. Sie gingen den Prajapati um Frageentscheidung
an. Prajapati stimmte dem Verstande bei und sprach: Allerdings ist
der Verstand besser als du, denn was der Verstand tut, das machst du
nach und läufst in seinem Geleise; es pflegt aber der Schlechtere
nachzumachen, was der Bessere tut.“ (Deussen.)

Diese Stellen zeigen, dass sich der Weltschöpfer auch in Manas und
Vac, die zu einander in Gegensatz treten, spalten kann. Die beiden
Prinzipien bleiben, wie _Deussen_ hervorhebt, zunächst innerhalb
des Prajapati, des Weltschöpfers, wie aus folgender Stelle hervorgeht:
„Prajapati begehrte: ich will vieles sein, will mich fortpflanzen. Da
meditierte er schweigend in seinem _Manas_; was in seinem Manas
war, das bildete sich zum Brihat[170]; da bedachte er: dies liegt als
eine Leibesfrucht in mir, die will ich durch die _Vac_ gebären. Da
schuf er die Vac“ -- etc.[171]

Diese Stelle zeigt die beiden Prinzipien in ihrer Natur als
psychologische Funktionen; nämlich Manas als Introversion der Libido
mit Erzeugung eines innern Produktes, Vac dagegen als die Funktion der
Entäusserung, der Extraversion. Mit dieser Vorbereitung können wir
nun auch eine weitere auf Brahman bezügliche Stelle[172] verstehen:
Brahman schuf zwei Welten. „Nachdem es in die jenseitige (Welt-) Hälfte
eingegangen, erwog es: Wie kann ich nun in diese Welten hineinreichen?
_Und es reichte in diese Welten hinein durch zwei_, durch die
_Gestalt_ und durch den _Namen_. -- _Diese beiden sind die
beiden grossen Ungetüme des Brahman; wer diese beiden grossen Ungetüme
des Brahman weiss, der wird zum grossen Ungetüm; diese beiden sind die
beiden grossen Erscheinungen des Brahman._“

Wenig weiter wird „Gestalt“ als manas erklärt („Manas ist die Gestalt,
denn durch das manas weiss man, dass es diese Gestalt ist“) und
„Namen“ als vac („denn durch die vac greift man den Namen“). Die
beiden „Ungetüme“ des Brahman erscheinen also als manas und vac,
und damit als zwei psychische Funktionen, mit denen Brahman in zwei
Welten „hineinreichen“ kann, womit offenbar „Beziehung“ gemeint ist.
Mit manas wird introvertierend die Gestalt der Dinge „aufgefasst“
oder „aufgenommen“; mit vac wird extravertierend des Dinges Namen
genannt. Beides sind Beziehungen und Anpassungen oder Assimilationen
der Dinge. Die beiden Ungetüme sind offenbar auch personifiziert
gedacht, worauf auch der andere Name „Erscheinung“ = _yaksha_
hindeutet, indem yaksha soviel wie Dämon oder übermenschliches
Wesen heisst. Die Personifikation bedeutet psychologisch immer eine
relative Selbständigkeit (Autonomie) des personifizierten Inhaltes,
d. h. eine relative Abspaltung von der psychischen Hierarchie. Ein
derartiger Inhalt gehorcht nicht der willkürlichen Reproduktion,
sondern reproduziert sich selbst spontan oder entzieht sich auch
dem Bewusstsein auf dieselbe Weise.[173] Eine solche Abspaltung
entwickelt sich z. B., wenn eine Inkompatibilität besteht zwischen
dem Ich und einem gewissen Komplex. Wie bekannt, beobachtet man diese
Abspaltung sehr häufig zwischen dem Ich und dem Sexualkomplex. Aber
auch andere Komplexe können abgespalten sein, z. B. der Machtkomplex,
d. h. die Summe aller Strebungen und Vorstellungen, die sich auf
Erlangung persönlicher Macht richten. Es gibt nun aber noch eine
andere Art von Abspaltung, nämlich die _Abspaltung des bewussten
Ich mit einer ausgewählten Funktion von den übrigen Komponenten
der Persönlichkeit_. Man kann diese Abspaltung bezeichnen als
eine _Identifikation des Ich mit einer gewissen Funktion_ oder
Funktionsgruppe. Diese Abspaltung ist sehr häufig bei Menschen, die
sich besonders tief in eine ihrer psychischen Funktionen versenken
und sie zur alleinigen bewussten Anpassungsfunktion differenzieren.
Ein gutes literarisches Beispiel eines solchen Menschen ist der Faust
am Beginn der Tragödie. Die übrigen Bestandteile der Persönlichkeit
nähern sich in Gestalt des Pudels, und dann des Mephistopheles.
Trotzdem Mephistopheles, wie unzweifelhaft durch viele Associationen
nachzuweisen ist, auch den Sexualkomplex repräsentiert, so wäre
es doch meines Erachtens ungerechtfertigt, Mephistopheles als
einen abgespaltenen Komplex zu erklären, also z. B. als verdrängte
Sexualität. Diese Erklärung ist zu eng, denn Mephistopheles ist noch
mehr als bloss Sexualität, er ist auch Macht, er ist überhaupt das
ganze Leben Fausts, insofern es nicht Denken und Forschen ist. Dies
zeigt der Erfolg des Paktes mit dem Teufel auf’s Deutlichste. Welche
ungeahnten Möglichkeiten entwickeln sich nicht aus dem verjüngten
Faust! Die richtige Auffassung scheint mir daher die zu sein, wonach
Faust mit der einen Funktion sich identifiziert und mit ihr sich vom
Ganzen seiner Persönlichkeit abgespalten hat. Später spaltet sich dann
der Denker in Form Wagners von Faust ab.

Die bewusste Fähigkeit zur Einseitigkeit ist ein Zeichen höchster
Kultur. Die unwillkürliche Einseitigkeit aber, d. h. das
Nichtanderskönnen als Einseitigsein ist ein Zeichen von Barbarei. Daher
wir auch die einseitigsten Differenzierungen bei barbarischen Völkern
finden, z. B. die den guten Geschmack beleidigenden Erscheinungen
der christlichen Askese, parallele Erscheinungen bei den Yogin und
im Tibetanischen Buddhismus. Für den Barbaren besteht sogar immer
die grosse Gefahr, dass er irgend einer Einseitigkeit zum Opfer
fällt und dadurch das Ganze seiner Persönlichkeit aus den Augen
verliert. Mit diesem Konflikt hebt z. B. auch das Gilgamesh-Epos an.
Die Einseitigkeit der Bewegung tritt beim Barbaren mit dämonischem
Zwange auf; es ist etwas von Berserkerwut und Amoklaufen darin.
Die barbarische Einseitigkeit setzt immer einen gewissen Grad von
Instinktverkrüppelung voraus, welche beim Primitiven fehlt, weshalb der
Primitive im allgemeinen von der barbarischen Einseitigkeit noch frei
ist.

Die Identifikation mit einer bestimmten Funktion führt sofort in eine
Gegensatzspannung hinein. Je zwangsmässiger die Einseitigkeit ist,
d. h. je ungezähmter die Libido ist, welche zur einen Seite drängt,
desto dämonischer ist die Einseitigkeit. Denn der Mensch spricht
dann von dämonischer Besessenheit oder von magischem Bewirktsein,
wenn er von seiner eigenen ungezähmten, nicht domestizierten Libido
hingerissen wird. Manas und Vac sind auf diese Weise wirklich grosse
Dämonen, indem sie von gewaltiger Wirkung auf den Menschen sein
können. Alle Dinge, die grosse Wirkungen ausüben, wurden als Götter
oder Dämonen aufgefasst. So wurde manas in der Gnostik als der
schlangenhafte Nous personifiziert, vac als Logos. Vac verhält sich
zu Prajapati wie der Logos zu Gott. Wir erleben es sozusagen täglich,
was für Dämonen Introversion und Extraversion sind. Wir sehen es bei
unsern Patienten und fühlen es an uns selbst, mit welcher Kraft und
Unwiderstehlichkeit die Libido nach innen oder nach aussen strömt,
oder mit welcher Unerschütterlichkeit sich eine introvertierte oder
extravertierte Einstellung festsetzen kann. Wenn daher manas und
vac als die Ungetüme Brahmans bezeichnet werden, so entspricht das
vollständig dem psychologischen Tatbestand, dass die Libido sich
sofort bei ihrem Erscheinen in zwei Strömungen spaltet, die sich
in der Regel zeitlich ablösen, zuweilen aber auch simultan in Form
eines Konfliktes auftreten, nämlich in eine Auswärtsströmung und in
eine Einwärtsströmung. Das Dämonische der beiden Bewegungen liegt an
ihrer Unbeherrschbarkeit und Übermacht. Diese Qualität macht sich
allerdings nur dann bemerkbar, wenn der Instinkt des Primitiven
schon in höherm Masse beschränkt ist, wodurch eine natürliche und
zweckmässige Gegenbewegung gegen die Einseitigkeit verhindert wird, und
die Kultur noch nicht soweit fortgeschritten ist, dass der Mensch seine
Libido schon soweit gezähmt hätte, dass er die introvertierende und
extravertierende Libidobewegung freiwillig und absichtlich mitmachen
könnte.

c) _Das vereinigende Symbol als dynamische Gesetzmässigkeit._ Wir
haben die Entwicklung des erlösenden Prinzipes aus den Gegensatzpaaren
und die Entstehung der Gegensatzpaare aus demselben schöpferischen
Prinzip an Zitaten aus den indischen Quellen verfolgt, und haben dabei
einen Einblick in ein offenbar gesetzmässiges psychologisches Geschehen
gewonnen, das wir auch mit den Begriffen unserer modernen Psychologie
unschwer vereinen können. Diesen Eindruck des gesetzmässigen
Geschehens übermitteln uns auch die indischen Quellen, indem sie
Brahman mit rita identifizieren. Was ist nun rita? Rita bedeutet:
feste Ordnung, Bestimmung, Richtung, Entscheidung, heiliger Brauch,
Satzung, göttliches Gesetz, das Rechte, Wahre. Seine Grundbedeutung
nach Ausweis der Etymologie ist: Fügung, (richtiger) Gang, Richtung,
Direktive. Das Geschehene, das von rita bedingt ist, erfüllt die ganze
Welt, besonders aber zeigt sich das rita in den Naturvorgängen, die
sich gleich bleiben, und zuerst die Vorstellung einer regelmässigen
Wiederkehr erwecken: „Nach dem rita hat die himmelgeborne Morgenröte
aufgeleuchtet.“ Die weltordnenden Väter haben „nach dem rita die
_Sonne_ am Himmel emporgeführt“, die selbst „das helle sichtbare
Antlitz des rita ist.“ Um den Himmel läuft das zwölfspeichige Rad des
rita, das nie alt wird, das Jahr. Agni wird Spross des rita genannt.
Im Tun des Menschen wirkt rita als das sittliche Gesetz, das Wahrheit
und das Gehen auf geradem Wege gebietet. „_Wer dem rita folgt, des
Pfad ist schön zu gehen und dornlos._“ Das rita tritt auch im Kultus
hervor, sofern dieser als zauberische Wiederholung bezw. Hervorbringung
des kosmischen Geschehens gilt. Wie dem rita gehorchend die Ströme
fliessen, und die Morgenröte sich entflammt, so wird „unter des rita
Anschirrung“[174] das Opfer entzündet; auf dem Pfade des rita bringt
Agni das Opfer zu den Göttern. „Die Götter rufe ich, rein von Zauber;
mit dem rita tue ich mein Werk, schaffe ich mein Denken“, sagt der
Opferer. Rita erscheint im Veda nicht personifiziert, dagegen haftet
ihm nach _Bergaigne_ der Anflug von _concretem Wesen_ an.
Da rita eine Richtung des Geschehens ausdrückt, so gibt es „Pfade des
rita“, es gibt „Wagenlenker“[175] und Schiffe des rita, die Götter
werden ihm gelegentlich parallel gesetzt. So wird z. B. dasselbe
von rita gesagt, was von Varuna gesagt wird. Auch Mitra, der alte
Sonnengott, wird mit rita in Verbindung gebracht (wie oben!). Von Agni
heisst es: „Du wirst Varuna, wenn du dem rita zustrebst.“[176] Die
Götter sind Hüter des rita.[177] Ich erwähne noch einige wesentliche
Zusammenhänge:

1. „Rita ist Mitra, da Mitra das Brahman ist, und rita das Brahman
ist.“[178]

2. „Den Brahmanen die Kuh gebend, erwirbt man alle Welten sich, denn in
ihr ist ritam, Brahman beschlossen, und das Tapas auch.“[179]

3. „Prajapati wird der Erstgeborne des rita genannt.“[180]

4. „Die Götter folgten den Gesetzen des rita.“[181]

5. „Er, der ihn, den Verborgnen (Agni) sah, er, der sich dem Strome des
rita näherte.“[182]

6. „O Wissender des rita, wisse das rita! Erbohre viele Ströme des
rita.“[183]

Das Bohren bezieht sich auf den Dienst des Agni, dem dieser Hymnus
geweiht ist. (Agni wird hier auch der „rote Stier des rita“ genannt.)
Im Agnidienst wird Feuer gebohrt als ein magisches Symbol der
Wiedererzeugung des Lebens. Hier werden die Ströme des rita erbohrt,
offenbar mit derselben Bedeutung, nämlich Lebensströme wieder
heraufgebracht, aus Bindungen befreite Libido.[184] Die durch die
rituelle Feuerbohrung oder durch den Vortrag der Hymnen herbeigeführte
Wirkung ist natürlich vom Gläubigen als magische Wirkung des Objektes
gedacht, in Wirklichkeit aber eine „Bezauberung“ des Subjektes, nämlich
eine Erhöhung des Lebensgefühls, eine Befreiung und Vermehrung der
Lebenskraft, eine Wiederherstellung des psychischen Potentials.

7. So heisst es: „Obschon er (Agni) sich wegschleicht, so geht das
Gebet doch geradeswegs zu ihm. Sie (die Gebete) haben hervorgeführt die
fliessenden Ströme des rita.“[185]

Das Wiederauftreten des Lebensgefühls, des Gefühls der strömenden
Energie wird überhaupt gerne einer erschlossenen Quelle, oder dem
Schmelzen des bannenden Wintereises im Frühling oder dem Regen nach
langer Dürre verglichen.[186]

Damit stimmt folgende Stelle trefflich überein: „Die brüllenden
Milchkühe des rita waren überfliessend mit ihren vollen Eutern. Die
Flüsse, welche von ferne die Gunst (der Götter) erflehten, sind mitten
durch den Felsen gebrochen mit ihren Fluten.“[187]

Dieses Bild weist deutlich auf eine Energiespannung, auf eine
Libidostauung hin, die gelöst wird. Rita erscheint hier als Besitzer
des Segens, der „brüllenden Milchkühe“, als eigentliche Quelle der
befreiten Energie.

8. In Übereinstimmung mit dem erwähnten Bilde des Regens für die
Befreiung der Libido befindet sich folgende Stelle: „Die Nebel fliegen,
die Wolken donnern. Wenn sie ihn, der anschwillt von der Milch des
rita, auf den geradesten Pfaden des rita geführt haben, dann füllen
Aryaman, Mitra und Varuna, er, der die Erde umwandelt, den Ledersack
(die Wolke) in der Gebärmutter der untern (Atmosphäre).“[188]

Agni ist der, der anschwillt von der Milch des rita, hier verglichen
mit der Blitzkraft, die aus angesammelten und regengefüllten Wolken
hervorbricht. Rita erscheint hier wieder als eigentliche Energiequelle,
in der Agni auch geboren ist, wie Vedic hymns l. c. p. 161, 7.
ausdrücklich erwähnt ist. Rita ist auch Pfad, d. h. gesetzmässiger
Ablauf.

9. „Sie haben mit Zuruf begrüsst die Ströme des rita, welche verborgen
waren an der Geburtsstelle des Gottes, an seinem Sitze. Als er zerteilt
wohnte im Schosse der Wasser, da trank er, etc.“[189]

Diese Stelle ergänzt das eben Gesagte über rita als Libidoquelle, in
der der Gott wohnt und aus der er in der heiligen Prozedur hervorgeholt
wird. Agni ist die positive Erscheinung der vorher latenten Libido, er
ist der Vollbringer oder Erfüller des rita, sein „Wagenlenker“ (vergl.
oben!), er schirrt die zwei langmähnigen, roten Stuten des rita an.[190]
Ja, er hält das rita wie ein Pferd am Zügel. (Ved. Hymn. l. c. p. 382.)
Er führt die Götter den Menschen zu, d. h. also ihre Kraft und ihren
Segen, welche nichts anderes als bestimmte psychologische Zustände
sind, wo das Lebensgefühl und die Lebensenergie freier und glücklicher
strömen, wo das Eis gebrochen ist. _Nietzsche_ erfasste diesen Zustand
in jenem wundervollen Vers:

    „Der du mit dem Flammenspeere
    Meiner Seele Eis zerteilt,
    Dass sie brausend nun zum Meere
    Ihrer höchsten Hoffnung eilt.“

10. Damit stimmen überein die folgenden Anrufungen: „Mögen die
göttlichen Tore sich öffnen, die Vermehrer des rita -- die
vielerwünschten Tore, dass die Götter hervorkommen mögen. Mögen
Nacht und Morgenröte, -- die jungen Mütter des rita zusammen auf dem
Opfergrase sich niedersetzen, etc.“[191]

Die Analogie mit dem Sonnenaufgang ist unverkennbar. Rita erscheint als
die Sonne, denn aus Nacht und Dämmerung wird die junge Sonne geboren.

11. „O göttliche, leicht durchschreitbare Tore, öffnet euch zu unserm
Schutze. Füllt das Opfer mit Seligkeit mehr und mehr: Wir nahen uns
(mit Gebeten) der Nacht und dem Morgen -- _den Vermehrern der
Lebenskraft, den zwei jungen Müttern des rita_.“

Ich glaube, ich darf mir weitere Belege dafür ersparen, dass der
Begriff des rita ein Libidosymbol ist, wie die Sonne, der Wind,
etc. Nur ist der ritabegriff weniger concretistisch und enthält das
abstrakte Element der bestimmten Richtung und der Gesetzmässigkeit,
d. h. des bestimmten, ordnungsgemässen Pfades oder Ablaufes. Es ist
also ein bereits philosophisches Libidosymbol, das direkt dem stoischen
Begriff der εἱμαρμένη verglichen werden kann. Bei den Stoikern hat die
εἱμαρμένη bekanntlich die Bedeutung einer schöpferischen Urwärme und
zugleich eines bestimmten gesetzmässigen Ablaufes (daher auch ihre
Bedeutung als „Zwang der Gestirne“). Der Libido als psychologischem
Energiebegriff kommen diese Attribute als selbstverständlich zu:
der Energiebegriff schliesst die Idee eines bestimmt gerichteten
Ablaufes eo ipso ein, denn der Ablauf erfolgt immer von der höhern zur
niedereren Spannung. So auch der Libidobegriff, der nichts anderes
bedeuten will, als die Energie des Lebensablaufes. Seine Gesetze sind
die Gesetze der Lebensenergie. Die Libido als Energiebegriff ist eine
quantitative Formel für die Lebenserscheinungen, die bekanntlich von
verschiedener Intensität sind. Die Libido durchläuft, wie die physische
Energie alle möglichen Verwandlungen, von denen uns die Phantasien
des Unbewussten und die Mythen Kunde geben. Diese Phantasien sind
wohl zunächst Selbstabbildungen der energetischen Wandlungsprozesse,
welche natürlich ihre bestimmten Gesetze, einen bestimmten „Weg“
des Ablaufens haben. Dieser Weg bedeutet die Linie oder Kurve des
Optimums der energetischen Auslösung sowohl wie der entsprechenden
Arbeitsleistung. Dieser Weg ist daher der Ausdruck für die strömende
und sich manifestierende Energie schlechthin. Der Weg ist rita, der
„_rechte Weg_“, der Strom der Lebensenergie, der Libido, die
bestimmte _Bahn_, in der ein immer wieder sich erneuernder Ablauf
möglich ist. Dieser Weg ist auch das Schicksal, insofern das Schicksal
von unserer Psychologie abhängt. Es ist der Weg unserer Bestimmung
und unseres Gesetzes. Es wäre grundfalsch zu behaupten, dass eine
solche Richtung nichts als _Naturalismus_ sei, womit man die
Meinung ausdrückt, dass sich der Mensch seinen Trieben überlässt.
Dabei wird vorausgesetzt, dass die Triebe immer nach „Unten“ gehen,
und dass der Naturalismus ein unethisches Hinuntergleiten auf einer
schiefen Ebene sei. Ich habe nichts dagegen, wenn man den Naturalismus
so versteht, muss aber bemerken, dass der Mensch, der sich selber
überlassen ist, also alle Gelegenheit zum Hinuntergleiten hätte, wie
z. B. der Primitive, Moral und Gesetzgebung hat, die an Strenge der
Forderung gelegentlich unsere Kulturmoral beträchtlich überragen. Es
tut dabei nichts zur Sache, wenn dem Primitiven etwas anderes als gut
oder böse gilt als uns. Die Hauptsache ist, dass sein „Naturalismus“
zur Gesetzgebung führt. Die Moralität ist kein Missverständnis, das
ein ehrgeiziger Moses auf dem Sinai erfand, sondern gehört mit zu den
Lebensgesetzen und wird im normalen Ablauf des Lebens erzeugt wie ein
Haus oder ein Schiff oder ein anderes Kulturinstrument. Die natürliche
Strömung der Libido, eben dieser mittlere Pfad, bedeutet einen völligen
Gehorsam gegen die Grundgesetze menschlicher Natur, und es lässt
sich schlechterdings kein höheres Moralprinzip aufstellen, als jene
Übereinstimmung mit den natürlichen Gesetzen, deren Einklang der Libido
die Richtung gibt, in der das Lebensoptimum liegt. Das Lebensoptimum
ist nicht auf der Seite des rohen Egoismus, denn der Mensch erreicht
niemals sein Lebensoptimum auf der Linie des Egoismus, denn im Grunde
genommen ist er so beschaffen, dass ihm die Freude des Nächsten,
deren Verursacher er ist, etwas Unerlässliches bedeutet. Ebenso wenig
ist das Lebensoptimum zu erreichen auf dem Wege eines ungezügelten
individualistischen Überordnungsdranges, denn das collektive Element
im Menschen ist so stark, dass seine Sehnsucht nach Gemeinschaft ihm
die Freude am nackten Egoismus verdürbe. Das Lebensoptimum lässt sich
nur erreichen durch den Gehorsam gegen die Strömungsgesetze der Libido,
welche Systole und Diastole einander folgen lassen, die die Freude
geben und die notwendige Beschränkung, welche auch die Lebensaufgaben
individueller Natur stellen, ohne deren Erfüllung das Lebensoptimum nie
erreicht werden kann.

Wenn nun die Erreichung dieses Weges bloss in einem Sichtreibenlassen
bestünde, wie der meint, der über „Naturalismus“ jammert, so hätte
die tiefste philosophische Spekulation, welche die Geistesgeschichte
überhaupt kennt, keine raison d’être. Beim Anblick der
Upanishadphilosophie gewinnt man den Eindruck, als ob die Erreichung
des Pfades nicht gerade zu den einfachsten Aufgaben gehöre. Unser
occidentales Vornehmtun gegenüber den indischen Einsichten gehört
zu unserm barbarischen Wesen, das noch weit davon entfernt ist, die
ganz ausserordentliche Tiefe jener Gedanken und ihre erstaunliche
psychologische Richtigkeit überhaupt zu ahnen. Wir sind eben immer
noch so unerzogen, dass wir Gesetze von aussen brauchen und einen
Zuchtmeister, resp. Vater drüber, damit wir wissen, was gut ist,
und das Rechte tun können. Und weil wir noch so barbarisch sind,
so kommt uns das Vertrauen in die Gesetze der menschlichen Natur
und des menschlichen Pfades als ein gefährlicher und unethischer
Naturalismus vor. Warum? Weil bei dem Barbaren unter der dünnen
Kulturhaut gleich die Bestie kommt, und davor hat er mit Recht Angst.
Aber das Tier wird nicht überwunden dadurch, dass es in einen Käfig
gesperrt wird. _Es gibt keine Sittlichkeit ohne Freiheit._ Wenn ein
Barbar seine Bestie loslässt, so ist das keine Freiheit, sondern
eine Unfreiheit. Um frei sein zu können, muss zuvor die Barbarei
überwunden werden. Dies geschieht im Prinzip dadurch, dass Grund und
Motivkraft der Sittlichkeit vom Individuum als Bestandteile seiner
eigenen Natur empfunden und wahrgenommen werden, und nicht als äussere
Beschränkungen. Wie aber kann der Mensch anders zu dieser Empfindung
und Einsicht gelangen als durch den Konflikt der Gegensätze?

d) _Das vereinigende Symbol in der chinesischen Philosophie._
Den Begriff eines mittlern, zwischen den Gegensätzen liegenden Pfades
finden wir auch in China in der Form des _Tao_. Der Begriff des
Tao tritt uns meistens entgegen in Verbindung mit dem Namen eines
Philosophen, _Lao-tsze_, geb. 604 a. Chr. n. Dieser Begriff ist
aber älter als die Philosophie des Lao-tsze. Er hängt zusammen mit
gewissen Vorstellungen der alten Volksreligion vom Tao, dem „Wege“ des
Himmels. Dieser Begriff entspricht dem vedischen rita. Folgende sind
die Bedeutungen von Tao: 1. Weg, 2. Methode, 3. Prinzip, 4. Naturkraft
oder Lebenskraft, 5. gesetzmässige Naturvorgänge, 6. Idee der Welt,
7. Ursache aller Erscheinungen, 8. das Rechte, 9. das Gute, 10. die
sittliche Weltordnung. Einige Übersetzer übersetzten Tao sogar mit
Gott, nicht ohne eine gewisse Berechtigung, denn Tao hat denselben
Anflug concreter Substanzialität wie rita.

Ich will zunächst einige Belege aus dem Tao-te-king, dem klassischen
Buche des Lao-tsze geben:

1. „Ich weiss nicht, wessen Sohn es (Tao) ist; man kann es als vor der
Gottheit existierend ansehen.“[192]

2. „Es hat ein Unbestimmbares, Vollkommenes gegeben, das wirkte vor
Himmel und Erde. Wie still war es und wie formlos, für sich allein,
unveränderlich, alles umfassend und unerschöpflich! Es kann als die
_Mutter aller Dinge_ betrachtet werden. Ich kenne seinen Namen
nicht, aber ich bezeichne es als Tao.“[193]

3. Lao-tsze vergleicht das Tao dem Wasser, um sein Wesen zu
kennzeichnen: „Der Segen des Wassers zeigt sich darin, dass es allen
gut tut und dabei doch ohne Widerstreben immer den niedrigsten Ort
aufsucht, den alle Menschen meiden. So hat es etwas vom Tao an sich.“
-- Der Gedanke des „Gefälles“ könnte wohl nicht besser ausgedrückt sein.

    4. „Wer stets begierdelos, der schaut seine Wesenheit,
        Wer stets begierdehaft, der schaut seine Aussenheit.“[194]

Die Verwandtschaft mit dem brahmanischen Grundgedanken ist
unverkennbar, ohne dass eine direkte Berührung braucht stattgefunden zu
haben. Lao-tsze ist ein durchaus origineller Denker, und das urtümliche
Bild, das dem rita-Brahman-Atman und Taobegriff zu Grunde liegt, ist
allgemein menschlich und findet sich als primitiver Energiebegriff, als
„Seelenkraft“ oder wie es sonst bezeichnet werden mag, überall wieder.

5. „Wer das Ewige kennt, ist umfassend; umfassend, daher gerecht;
gerecht, daher König; König, daher des Himmels; des Himmels,
daher Taos; Taos, daher fortdauernd: er büsst den Körper ein ohne
Gefährde.“[195]

Die Kenntnis des Tao hat also dieselbe erlösende und erhöhende Wirkung,
wie das Wissen des Brahman: man wird eins mit Tao, mit der unendlichen
„schöpferischen Dauer“, um diesen neuesten philosophischen Begriff
seinen ältern Verwandten passend anzureihen, denn Tao ist auch der Gang
der Zeit.

5. Tao ist eine irrationale, daher durchaus unfassbare Grösse: „Tao ist
Wesen, aber unfasslich, aber unbegreiflich.“[196]

6. Tao ist auch nicht seiend: „Alle Dinge unter dem Himmel sind
entsprungen aus ihm als dem Seienden, aber das Sein dieses Seienden
ist wiederum aus ihm als dem Nichtseienden entsprungen.“[197] „Tao
ist verborgen, namenlos.“[198] Tao ist offenbar eine irrationale
Vereinigung von Gegensätzen, daher ein _Symbol_, das ist und nicht
ist.

7. „Der Talgeist ist unsterblich, er heisst das tiefe Weibliche. Des
tiefen Weiblichen Pforte heisst Himmels und der Erden Wurzel.“

Tao ist das schöpferische Wesen, als Vater zeugend und als Mutter
gebärend. Es ist Anfang und Ende aller Wesen.

8. „Wess’ Tun mit Tao übereinstimmt, wird eins mit Tao.“ Daher der
Vollendete sich aus den Gegensätzen befreit, deren innigen Zusammenhang
und alternierendes Auftreten er durchschaut. So heisst es Kapitel 9:
„Sich selbst zurückziehen ist des Himmels Weg.“

9. „Darum ist er (der Vollendete) unzugänglich für Anfreundung,
unzugänglich für Entfremdung, unzugänglich für Vorteil, unzugänglich
für Schaden, unzugänglich für Ehre, unzugänglich für Schmach.“[199]

10. Das Einssein mit dem Tao hat Ähnlichkeit mit dem geistigen Zustand
eines _Kindes_ (Kap. 10, 28, 55).

Bekanntlich gehört diese psychologische Einstellung auch zu den
Bedingungen der Erwerbung des christlichen Gottesreiches, das im
Grunde genommen -- trotz allen rationalen Deutungen -- das zentrale,
irrationale Wesen, Bild und Symbol ist, von dem die erlösende Wirkung
ausgeht. Das christliche Symbol hat bloss einen mehr sozialen (Staats-)
Charakter als die verwandten östlichen Begriffe. Diese letztern
schliessen sich unmittelbarer an die jedenfalls seit Urzeit vorhandenen
_dynamistischen_ Vorstellungen, nämlich an das Bild der magischen
Kraft, die von Dingen und Menschen ausgeht, auf höherer Stufe von
Göttern oder von einem Prinzip.

11. Nach den Vorstellungen der taoistischen Religion zerfällt das
Tao in ein _prinzipielles Gegensatzpaar_, in _Yang_ und
_Yin_. Yang ist Wärme, Licht, Männlichkeit. Yin ist Kälte,
Dunkel, Weiblichkeit. Yang ist auch Himmel, Yin Erde. Aus der
Yangkraft stammt _Schen_, der Himmelsanteil der Menschenseele,
und aus der Yinkraft stammt _Kwei_, der irdische Seelenteil.
Der Mensch ist dermassen als ein Mikrokosmos auch ein Vereiniger der
Gegensatzpaare. Himmel, Mensch und Erde bilden die 3 Hauptelemente der
Welt, die _San-tsai_. Dieses Bild ist eine ganz ursprüngliche
Vorstellung, die wir ähnlich auch an andern Orten finden, z. B. in
dem westafrikanischen Mythus von Obatala und Odudua, dem Urelternpaar
(Himmel und Erde), die in einer Calebasse beisammenliegen, bis ein
Sohn, der Mensch, zwischen ihnen entsteht. Der Mensch als ein die
Weltgegensätze in sich vereinigender Mikrokosmos entspricht also dem
irrationalen _Symbol_, das psychologische Gegensätze vereinigt.
Dieses Urbild des Menschen klang offenbar auch bei _Schiller_ an,
als er das Symbol „lebende Gestalt“ nannte.

Die Zweiteilung der menschlichen Seele in eine Schen- oder Hwunseele
und eine Kwei- oder Pohseele, ist eine grosse psychologische Wahrheit.
Diese chinesische Vorstellung klingt wiederum an in der bekannten
Fauststelle:

    Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust,
    Die eine will sich von der andern trennen;
    Die eine hält, in derber Liebeslust,
    Sich an die Welt, mit klammernden Organen;
    Die andere hebt gewaltsam sich vom Dust
    Zu den Gefilden hoher Ahnen.

Die Existenz der zwei auseinanderstrebenden, gegensätzlichen Tendenzen,
die beide den Menschen in extreme Einstellungen hineinzureissen und ihn
in die Welt -- sei es in deren geistige, sei es in deren materielle
Seite -- zu verwickeln und dadurch mit sich selber zu veruneinigen
vermögen, fordert die Existenz eines Gegengewichtes, welches eben
die irrationale Grösse des Tao ist. Daher bemüht sich der Gläubige
ängstlich, in Übereinstimmung mit dem Tao zu leben, damit er nicht der
Gegensatzspannung verfalle. Da Tao eine irrationale Grösse ist, so kann
sie nicht absichtlich gemacht werden, was Lao-tsze immer wieder betont.
Diesem Umstand verdankt ein anderer spezifisch chinesischer Begriff,
das _Wuwei_, seine besondere Bedeutung. Es bedeutet „Nichtstun“,
aber wie _Ular_ trefflich deutet: „Nicht tun, nicht Nichttun.“ Das
rationale „Es schaffen wollen“, das die Grösse und das Übel unserer
eigenen Epoche ist, führt nicht zum Tao.

Das Bestreben der taoistischen Ethik geht also darauf aus, jene aus
dem Weltgrund hervorgegangene Gegensatzspannung durch Rückkehr zum
Tao zu erlösen. In diesem Zusammenhang müssen wir auch des „Weisen
aus Omi“, _Nakae Toju_[200], jenes bedeutenden japanischen
Philosophen des XVII. Jahrhunderts gedenken. In Anlehnung an die Lehre
der aus China eingewanderten Chu-Hi-Schule stellte er zwei Prinzipien
auf, Ri und Ki. Ri ist die Weltseele, Ki der Weltstoff. Ri und Ki
sind aber Eines und Dasselbe, indem sie die Attribute Gottes sind
und daher nur in ihm und durch ihn sind. Gott ist ihre Vereinigung.
Ebenso umfasst die _Seele_ Ri und Ki. Von Gott sagt Toju: „Gott
als das Wesen der Welt umfasst die Welt, aber befindet sich zugleich
ganz in der Nähe von uns, und zwar in unserm eigenen Leib.“ Gott ist
für ihn ein _allgemeines Ich_, während das _individuelle
Ich_ „Himmel“ in uns ist, etwas Übersinnliches, Göttliches, als
_Ryochi_ bezeichnet. Ryochi ist „Gott in uns“ und wohnt in jedem
Individuum. Es ist das _wahre_ Ich. Toju unterscheidet nämlich
ein wahres und ein falsches Ich. Das falsche Ich ist eine erworbene,
aus verkehrten Meinungen entstandene Persönlichkeit. Man könnte dieses
falsche Ich zwanglos als „persona“ bezeichnen, nämlich als jene
Gesamtvorstellung unseres Wesens, die wir aus der Erfahrung unserer
Wirkungen auf die Umwelt und ihrer Wirkungen auf uns herausgebildet
haben. Die Persona bezeichnet das, als was Einer sich selber und der
Umwelt _erscheint_, nicht aber das, was Einer _ist_, um mit
den Worten _Schopenhauers_ zu reden. Was Einer ist, ist sein
individuelles, nach Toju „wahres“ Ich, das Ryochi. Ryochi wird auch
das „Alleinsein“, das „Alleinkennen“ genannt, offenbar weil es ein
auf das Wesen des Selbst bezogener Zustand ist, jenseits von allen
durch äussere Erfahrung bedingten persönlichen Urteilsbildungen.
Toju fasst Ryochi als das „summum bonum“, als „Wonne“ auf (Brahman
ist ananda = Wonne). Ryochi ist das Licht, das die Welt durchdringt,
was _Inouye_ ebenfalls mit Brahman parallelisiert. Ryochi ist
Menschenliebe, unsterblich, allwissend, gut. Das Böse kommt vom
Wollen (Schopenhauer!). Es ist die selbstregulierende Funktion, der
Vermittler und Vereiniger der Gegensatzpaare, Ri und Ki: Es ist, ganz
nach indischer Vorstellung, der „alte Weise, der dir im Herzen wohnet“,
oder wie _Wang Yang-ming_, der chinesische Vater der japanischen
Philosophie sagt: „In jedem Herzen wohnt ein Sejin (Weiser). Nur glaubt
man es nicht fest genug, deshalb ist das Ganze eingegraben geblieben.“

Es ist von hier aus nicht mehr schwierig zu verstehen, welches
urtümliche Bild zur Problemlösung in _Wagners_ Parzival beigetragen
hat: Das Leiden besteht in der Gegensatzspannung zwischen dem Gral
und Klingsors Macht, die im Besitz des heiligen Speeres besteht. In
Klingsors Bann befindet sich Kundry, die instinktive noch naturhafte
Lebenskraft, die dem Amfortas mangelt. Parzival erlöst die Libido
aus dem Zustande des rastlosen Getriebenseins, indem er einerseits
ihrer Macht nicht verfällt, andererseits aber auch vom Gral getrennt
ist. Amfortas ist beim Gral und leidet daran, nämlich weil er das
Andere nicht hat. Parzival hat keines von beiden, er ist „nirdvandva“,
frei von den Gegensätzen, und darum ist er auch der Erlöser, der
Spender der Heilung und der erneuten Lebenskraft, der Vereiniger der
Gegensätze, nämlich des Hellen, Himmlischen, Weiblichen, des Grales,
und des Dunkeln, Irdischen, Männlichen, des Speeres. Der Tod der
Kundry erklärt sich zwanglos als die Befreiung der Libido aus der
naturhaften, undomestizierten Form (aus der „Form des Stieres“, vergl.
oben!), die von ihr abfällt als tote Form, während die Kraft als neues
strömendes Leben im Aufleuchten des Grales hervorbricht. Durch die
zum Teil unwillkürliche Enthaltung von den Gegensätzen hat Parzival
die Stauung erzeugt, die ein neues „Gefälle“ und damit eine erneute
Energiemanifestation ermöglichte. Die unverkennbare sexualistische
Sprache könnte leicht dazu verführen, die Vereinigung von Speer und
Gralsgefäss einseitig als eine Befreiung der Sexualität aufzufassen.
Das Schicksal des Amfortas zeigt aber, dass es nicht an der Sexualität
liegt, sondern im Gegenteil, dass es gerade sein Hinuntergleiten in
eine naturhafte, tierische Einstellung war, das die Ursache seines
Leidens und des Verlustes seiner Macht wurde. Die Verführung durch
Kundry hat den Wert eines symbolischen Aktes, der weniger bedeuten
will, dass es die Sexualität sei, welche solche Wunden schlägt,
als vielmehr die Einstellung des naturhaften Getriebenseins, des
willenlosen Unterliegens unter die biologische Lust. Diese Einstellung
ist gleichbedeutend mit dem Überwiegen des tierischen Anteils unserer
Psyche. Wer vom Tier übermannt wird, dem wird die Opferwunde, die dem
Tier bestimmt ist (um der weitern Entwicklung des Menschen willen)
zugefügt. Wie ich schon früher in meinem Buche über „Wandlungen und
Symbole der Libido“ hervorhob, handelt es sich im Grunde genommen
nicht um das Sexualproblem, sondern um die Domestikation der Libido,
und um die Sexualität nur insofern, als sie eine der wichtigsten und
gefährlichsten Ausdrucksformen der Libido ist. Wenn man im Falle
des Amfortas und in der Vereinigung von Speer und Gral nur das
Sexualproblem sähe, so käme man in einen unlösbaren Widerspruch hinein,
denn das Schädigende wäre dann auch zugleich das Heilende. Ein solches
Paradoxon ist aber nur dann erlaubt und wahr, wenn man zugleich die
Vereinigung der Gegensätze auf einer höhern Ebene sieht, nämlich wenn
man versteht, dass es sich um Sexualität weder in dieser noch in jener
Form handelt, sondern einzig und allein um die Einstellung, welcher
alles Handeln, daher auch das sexuelle, unterworfen ist. Ich muss
immer wieder betonen, dass das praktische Problem der analytischen
Psychologie tiefer liegt, als Sexualität und ihre Verdrängung.
Dieser Gesichtspunkt ist zweifellos wertvoll für die Erklärung jenes
infantilen und darum krankhaften _Stückes_ der Seele, aber er ist
ungenügend als Erklärungsprinzip für das Ganze der menschlichen Seele.
Das, was jenseits der Sexualität oder des Machttriebes steht, ist die
_Einstellung zur Sexualität_ oder zur Macht. Insofern die Einstellung
nicht bloss ein intuitives, d. h. unbewusstes spontanes Phänomen
ist, sondern auch eine bewusste Funktion, ist sie hauptsächlich
_Auffassung_. Unsere Auffassung in allen problematischen Dingen wird
von gewissen collektiven Ideen, welche unsere geistige Atmosphäre
bilden, seltener bewusst, meist aber unbewusst in höchstem Masse
beeinflusst. Diese collektiven Ideen stehen in engster Beziehung zu
der Lebensauffassung oder Weltanschauung der vergangenen Jahrhunderte
oder Jahrtausende. Ob diese Abhängigkeit uns nun bewusst oder unbewusst
ist, tut nichts zur Sache, denn wir sind von diesen Ideen beeinflusst
schon durch die Atmosphäre, die wir atmen. Diese collektiven Ideen
haben immer religiösen Charakter, und eine philosophische Idee erreicht
nur dann collektiven Charakter, wenn sie ein urtümliches Bild, d. h.
ein collektives Urbild ausdrückt. Der religiöse Charakter dieser Ideen
rührt davon her, dass sie Tatbestände des collektiven Unbewussten
ausdrücken und dadurch auch latente Energien des Unbewussten auszulösen
vermögen. Die grossen Lebensprobleme zu denen u. a. auch die Sexualität
gehört, stehen immer in Beziehung zu den urtümlichen Bildern des
collektiven Unbewussten. Diese Bilder sind sogar die je nachdem
balancierenden oder compensierenden Faktoren gegenüber den Problemen,
die das Leben an der Wirklichkeit aufwirft. Das ist insofern nicht
erstaunlich, als die Bilder die Niederschläge der viel tausendjährigen
Erfahrungen des Anpassungs- und Daseinskampfes sind. Alle grossen
Erlebnisse des Lebens, alle höchsten Spannungen rühren deshalb an den
Schatz dieser Bilder und bringen sie zur innern Erscheinung, die als
solche bewusst wird, wenn soviel Selbstbesinnung und Fassungskraft
vorhanden ist, dass das Individuum auch denkt, was es erlebt, und es
nicht bloss tut, d. h. ohne es zu wissen, den Mythus und das Symbol
concret lebt.


4. Die Relativität des Symboles.

a) _Frauendienst und Seelendienst._

Das Prinzip der christlichen Gegensatzvereinigung ist _Gottesdienst_,
im Buddhismus _Dienst am Selbst_ (Selbstentwicklung), bei Goethe
und bei Spitteler finden wir im _Symbole des Frauendienstes_ den
_Seelendienst_ als Lösungsprinzip angegeben. Darin liegt einerseits
das moderne individualistische, andererseits aber auch ein primitives
polydämonistisches Prinzip, das nicht nur jedem Stamm, sondern auch
jeder Sippe, jeder Familie, ja jedem Individuum sein eigenes religiöses
Prinzip zuweist.

Die mittelalterliche Vorlage zum Faust hat auch darum ihre ganz
besondere Bedeutung, weil es tatsächlich ein mittelalterliches Element
ist, das an der Wiege des modernen Individualismus steht. Begonnen
hat es, wie es mir scheint, mit dem Frauendienst, wodurch die Seele
des Mannes als psychologischer Faktor bedeutend verstärkt wurde;
denn der Frauendienst meinte Seelendienst. Dies ist nirgends schöner
und völliger ausgedrückt, als in _Dantes_ „Göttlicher Komödie“.
Dante ist der geistige Ritter seiner Dame; für sie besteht er die
Abenteuer der untern und obern Welt. Und in dieser Heldenarbeit erhöht
sich ihm ihr Bild bis zu jener jenseitigen, mystischen Figur der
Gottesmutter, einer Figur, die sich vom Objekt gelöst hat und daher zur
Personifikation eines rein psychologischen Tatbestandes wird, nämlich
derjenigen unbewussten Inhalte, deren Personifikation ich als Seele
bezeichne. Der XXXIII. Gesang des Paradieses enthält diese Krönung der
seelischen Entwicklung Dantes in Bernhards Gebet:

    „O Jungfrau Mutter, Tochter deines Sohnes,
    Demüt’ger, höher, als was je gewesen,
    Ziel, ausersehen vom Herrn des ew’gen Throns,
    _Geadelt hast du so des Menschen Wesen_,
    Dass, der’s geschaffen hat, das höchste Gut,
    In dir Geschöpf zu sein, dich auserlesen.“

Auf Dantes Entwicklung beziehen sich V. 22 ff.

    „Er, der vom tiefsten Schlund sich eingefunden
    Des Weltalls hat, der Geister Art und Sein
    Von Reich zu Reich zu sehn und zu erkunden,
    Er fleht zu dir, ihm Kräfte zu verleih’n,
    Dass er die Augen höher heben könne,
    Und seinen Blick für’s höchste Heil zu weihn.“

V. 31 ff.

    „Jedwede Wolke seiner Sterblichkeit
    Sei weggebannt durch dein Gebet! Entfalten
    Soll sich ihm höchste Wonn’ und Herrlichkeit!“

V. 37 ff.

    „Lass ihn der ird’schen Regung widerstehn,
    Sieh Beatricen, sieh so viel Verklärte
    Mit mir zugleich, die Hände faltend, flehn!“

Der Umstand, dass hier Dante durch den Mund des heiligen Bernhard
spricht, weist auf jene Umgestaltung und Erhöhung seines eigenen Wesens
hin. Dieselbe Verwandlung erfolgt ja auch bei Faust, der von Margarethe
zu Helena, und von ihr zur Gottesmutter aufsteigt, und, indem er sein
Wesen durch figürlichen Tod mehrfach ändert, als Doktor Marianus das
höchste Ziel erreicht. Als solcher spricht Faust sein Gebet an die
Jungfrau Mutter:

    „Höchste Herrscherin der Welt!
    Lasse mich im blauen
    Ausgespannten Himmelszelt
    Dein Geheimnis schauen.
    Billige, was des Mannes Brust
    Ernst und zart beweget
    Und mit heiliger Liebeslust
    Dir entgegenträget.
    Unbezwinglich unser Mut,
    Wenn du hehr gebietest;
    Plötzlich mildert sich die Glut,
    Wie du uns befriedest.
    Jungfrau, rein im schönsten Sinn,
    Mutter, Ehren würdig,
    Uns erwählte Königin,
    Göttern ebenbürtig.“

und

    „Blicket auf zum Retterblick,
    Alle reuig Zarten,
    Euch zu seligem Geschick
    Dankend umzuarten.
    Werde jeder bess’re Sinn
    Dir zum Dienst erbötig;
    Jungfrau, Mutter, Königin,
    Göttin, bleibe gnädig!“

In diesem Zusammenhang müssen auch die bedeutsamen Symbolattribute der
Jungfrau in der Lauretanischen Litanei erwähnt werden:

    „Mater amabilis           Du liebliche Mutter
    Mater admirabilis         Du wunderbare Mutter
    Mater boni consilii.      Du Mutter des guten Rates.
    Speculum justitiae        Du Spiegel der Gerechtigkeit
    Sedes sapientiae          Du Sitz der Weisheit,
    Causa nostrae laetitiae   Du Ursache unserer Freude,
    Vas spirituale            Du geistliches Gefäss,
    Vas honorabile            Du ehrwürdiges Gefäss,
    Vas insigne devotionis    Du vortreffliches Gefäss der Andacht,
    Rosa mystica.             Du geistliche Rose,
    Turris Davidica,          Du Turm Davids,
    Turris eburnea,           Du elfenbeinerner Turm,
    Domus aurea,              Du goldenes Haus,
    Foederis arca             Du Arche des Bundes,
    Janua coeli               Du Pforte des Himmels,
    Stella matutina.          Du Morgenstern.“

            (Missale Romanum.)

Diese Attribute zeigen die funktionelle Bedeutung des
Jungfraumutterbildes; sie zeigen, wie das Seelenbild auf die bewusste
Einstellung wirkt, nämlich als Gefäss der Andacht, als feste Form, als
Quelle der Weisheit und der Erneuerung.

In gedrängtester und übersichtlichster Form finden wir diesen
charakteristischen Übergang vom Frauendienste zum Seelendienste
in einer frühchristlichen Bekenntnisschrift, im „Hirten“ des
_Hermas_, der um 140 p. Chr. n. schrieb. Das griechisch
geschriebene Buch besteht aus einer Reihe von Visionen und
Offenbarungen, welche im wesentlichen die Befestigung des neuen
Glaubens darstellen. Das Buch galt eine Zeitlang als kanonisch, wurde
aber vom Muratorischen Kanon verworfen. Es beginnt folgendermassen:

„Der, der mich aufzog, verkaufte mich an eine gewisse Rhoda in Rom.
Nach vielen Jahren machte ich wiederum ihre Bekanntschaft und begann
sie wie eine Schwester zu lieben. Nach einiger Zeit sah ich sie
einmal im Tiberflusse baden, und ich gab ihr meine Hand und half
ihr aus dem Flusse. Als ich ihre Schönheit erblickte, dachte ich
in meinem Herzen die Worte: „Ich wäre glücklich, wenn ich ein Weib
von solcher Schönheit und solcher Art hätte.“ Das war mein einziger
Wunsch, und nichts anderes mehr (ἕτερον δὲ οὐδὲ ἕν).“ Dieses Erlebnis
war der Ausgangspunkt für die visionäre Episode, die nachher folgte.
Anscheinend hat Hermas als Sklave der Rhoda gedient, wurde dann,
wie das oft vorkam, freigelassen und begegnete ihr später wieder,
wobei sich in ihm vermutlich ebensowohl aus Dankbarkeit wie aus
Wohlgefallen ein Liebesgefühl regte, das aber für sein Bewusstsein
bloss den Charakter der brüderlichen Liebe hatte. Hermas war ein
Christ, dazu, wie aus dem weitern Text hervorgeht, zu jener Zeit schon
ein Familienvater, welche Umstände die Verdrängung des erotischen
Elementes leicht erklärlich machen. Umso eher war nun die eigentümliche
Situation, welche viele Fragen offen lässt, geeignet, ihm den
erotischen Wunsch zum Bewusstsein zu bringen. Er ist eigentlich im
Gedanken, dass er Rhoda zum Weibe haben möchte, deutlich ausgedrückt,
beschränkt sich aber, wie Hermas ausdrücklich hervorhebt, auf diese
einfache Konstatierung, wohl weil Weitergehendes und Unmittelbareres
sofort der moralischen Verdrängung verfiel. Dieser, wie aus dem
Nachfolgenden unzweifelhaft hervorgeht, verdrängte Libidobetrag hat in
seinem Unbewussten eine gewaltige Veränderung hervorgerufen, indem er
das Seelenbild belebte und zur spontanen Wirksamkeit brachte. Folgen
wir nun dem Texte weiter:

„Nach einer gewissen Zeit, als ich nach Cumae ging und die Schöpfung
Gottes um ihrer Grösse, Schönheit und Macht pries, da wurde ich im
Dahinschreiten schläfrig. Und ein Geist ergriff mich und führte mich
weg durch eine pfadlose Gegend, durch die ein Mensch nicht gehen
konnte. Dieser Ort war nämlich voll Schrunden und aufgerissen durch
Wasserläufe. Ich überschritt diesen Fluss und kam auf ebenen Grund, wo
ich mich auf die Knie warf, zu Gott betete und meine Sünden bekannte.
Indem ich so betete, öffnete sich der Himmel und ich schaute jene
Frau, nach der ich mich sehnte, und sie grüsste mich vom Himmel
und sprach: „Heil dir, Hermas!“ Indem ich sie anschaute, sprach
ich zu ihr: „Herrin, was tust du hier?“ Und sie antwortete: „Ich
ward hinaufgenommen, um dich um deiner Sünden willen vor dem Herrn
anzuklagen.“ Ich sagte zu ihr: „Klagst du mich jetzt an?“ „Nein, sagte
sie, aber höre jetzt die Worte, die ich zu dir sprechen werde. Der
Gott, der im Himmel wohnt, und der das Seiende aus dem Nichtseienden
geschaffen hat, und der es vergrössert und vermehrt hat um seiner
heiligen Kirche willen, zürnt dir, weil du gegen mich gesündigt hast.“
Ich antwortete und sprach zu ihr: „Habe ich gegen dich gesündigt? Wo
und wann sprach ich ein übles Wort zu Dir? Habe ich dich nicht immer
und überall wie eine Göttin angesehen? Habe ich dich nicht immer wie
eine Schwester behandelt? Warum, o Frau, klagst du mich fälschlich
an mit so übeln und unreinen Dingen?“ Sie lachte und sprach zu mir:
„Die Begierde der Sünde erhob sich in deinem Herzen. Oder scheint es
dir nicht eine sündhafte Tat zu sein für einen gerechten Mann, wenn
eine sündige Begierde sich in seinem Herzen erhebt? Ja, es ist eine
Sünde,“ sagte sie, „und eine grosse. Denn der Gerechte strebt nach dem
Gerechten.“

Einsame Spaziergänge sind, wie man weiss, dem Phantasieren förderlich.
So hat wohl Hermas auf seinem Gang nach Cumae, seiner Herrin
nachgedacht, wobei die verdrängte erotische Phantasie seine Libido
allmählich ins Unbewusste hinunterzog. Infolgedessen wurde er, nämlich
wegen der Heruntersetzung der Bewusstseinsintensität, schläfrig und
geriet in einen somnambulen, resp. ekstatischen Zustand, der nichts
anderes ist, als eine besonders intensive Phantasie, welche das
Bewusstsein völlig gefangen nimmt. Es ist nun bezeichnenderweise keine
erotische Phantasie, welche ihn befällt, sondern er wird gewissermassen
in ein anderes Land versetzt, was die Phantasie als ein Übersetzen über
einen Fluss und als ein Durchschreiten weglosen Geländes darstellt.
Auf diese Weise erscheint ihm das Unbewusste als eine Gegen- oder
Überwelt, in welcher sich Ereignisse begeben und Menschen sich
bewegen, ähnlich wie in der Wirklichkeitswelt. Seine Herrin-Frau
tritt ihm nicht in einer erotischen Phantasie entgegen, sondern in
„göttlicher“ Form, wie eine Göttin am Himmel ihm erscheinend. Dieser
Umstand weist darauf hin, dass der ins Unbewusste verdrängte erotische
Eindruck das bereitliegende Urbild der Göttin belebt hat, also das
uranfängliche Seelenbild. Der erotische Eindruck hat sich also offenbar
im collektiven Unbewussten mit jenen archaïschen Residuen vereinigt,
welche die Spuren mächtiger Eindrücke vom Wesen des Weibes seit
Urzeiten aufbewahren, Eindrücke vom Weibe als Mutter und vom Weibe als
begehrenswerte Jungfrau. Diese Eindrücke waren darum mächtig, weil sie
Gewalten sowohl im Kinde, wie im reifen Manne auslösten, welche das
Attribut der Göttlichkeit, nämlich des Unwiderstehlichen, des unbedingt
Zwingenden ohne weiteres verdienen. Die Erkenntnis dieser Gewalten als
dämonischer Mächte verdankt ihren Ursprung wohl kaum einer moralischen
Verdrängung, sondern eher einer Selbstregulierung des psychischen
Organismus, der sich durch diese Wendung vor Gleichgewichtsverlust zu
schützen sucht. Denn, wenn es der Psyche gelingt, gegen die gänzlich
hinreissende Gewalt der Leidenschaft, welche den Menschen auf Gnade
und Ungnade in die Bahn eines Andern wirft, eine Gegenposition
aufzurichten, indem sie auf der Höhe der Leidenschaft dem grenzenlos
begehrten Objekt das Idol entreisst und den Menschen vor dem
Götterbilde auf die Kniee zwingt, so hat sie ihn damit von der
Verfluchung an’s Objekt erlöst. Er ist sich selber wiedergegeben und
findet sich, auf sich selbst gezwungen, wieder zwischen Göttern und
Menschen, in seiner eigenen Bahn, seinem eigenen Gesetze unterworfen.
Die ungeheure Scheu, die dem Primitiven innewohnt, jene Scheu vor
allem Eindrucksvollen, das er sofort als Zauber, als mit magischer
Kraft geladen, empfindet, bewahrt ihn zweckmässiger Weise vor dem
sozusagen von allen primitiven Völkern gefürchteten Seelenverlust, dem
Krankheit und Tod folgen. Der Seelenverlust entspricht dem Losreissen
eines Teiles des eigenen Wesens, dem Verschwinden und der Emanzipation
eines Komplexes, der dadurch zum tyrannischen Usurpator des
Bewusstseins wird, das Ganze des Menschen unterdrückt, ihn aus seiner
Bahn wirft und zu Handlungen zwingt, deren blinde Einseitigkeit die
Selbstzerstörung zur unvermeidlichen Gefolgschaft hat. Bekanntlich sind
die Primitiven dergleichen Phänomenen unterworfen, wie dem Amoklaufen,
der Berserkerwut, der Besessenheit u. dgl. mehr. Das Erkennen des
dämonischen Charakters der Gewalt ist ein wirksamer Schutz, indem
diese Vorstellung dem Objekte sofort den stärksten Zauber entzieht und
seine Quelle in die Dämonenwelt, d. h. ins Unbewusste verlegt, woher
auch die Gewalt der Leidenschaft in Wirklichkeit entsprungen ist.
Dieser Zurückverlegung der Libido ins Unbewusste dienen nun auch die
beschwörenden Riten, welche die Seele zurückführen und die Bezauberung
lösen sollen.

Dieser Mechanismus wirkt offenbar auch im Falle des Hermas. Die
Verwandlung der Rhoda in die göttliche Herrin entzog dem wirklichen
Objekt die leidenschaftserregende und verderbliche Kraft und
unterwarf Hermas dem Gesetz der eigenen Seele und ihrer collektiven
Bestimmungen. Zweifellos hatte er vermöge seiner Fähigkeiten einen
tiefern Anteil an den geistigen Strömungen seiner Zeit. Sein Bruder
Pius hatte eben zu jener Zeit den bischöflichen Thron von Rom inne.
Hermas war daher wohl in höherm Masse zur Mitarbeit an der grossen
Aufgabe seiner Zeit berufen, als er als ein ehemaliger Sklave bewusst
realisieren mochte. Kein fähiger Kopf jener Zeit konnte sich auf
die Dauer der zeitgeschichtlichen Aufgabe der Christianisierung
widersetzen, es sei denn, dass die Schranken und Bestimmungen der Rasse
ihm natürlicherweise eine andere Funktion in dem grossen geistigen
Umwandlungsprozess anwiesen. Gleichwie die äussern Lebensbedingungen
den Menschen zu sozialen Funktionen zwingen, so enthält auch die Seele
collektive Bestimmungen, welche zur Sozialisierung der Meinungen und
Überzeugungen zwingen. Durch die Verwandlung eines möglichen sozialen
Übergriffes und einer möglichen Selbstschädigung durch Leidenschaft
in Seelendienst wird Hermas an die Erfüllung einer sozialen Aufgabe
geistiger Natur herangeführt, welche für die damalige Zeit gewiss von
keiner geringen Bedeutung war.

Um ihn zu dieser Aufgabe geschickt zu machen, ist es offenbar
notwendig, dass die Seele ihm auch die letzte Möglichkeit einer
erotischen Bindung ans Objekt zerstört. Diese letzte Möglichkeit ist
die Unehrlichkeit gegen sich selbst. Damit, dass Hermas sich den
erotischen Wunsch bewusst ableugnet, beweist er nur, dass es ihm
angenehmer wäre, wenn der erotische Wunsch in ihm nicht existierte,
beweist aber keineswegs, dass er nicht wirklich erotische Absichten
und Phantasien hat. Darum deckt ihm die Herrin-Frau, die Seele,
schonungslos die Existenz seiner Sünde auf und befreit ihn damit auch
von der heimlichen Bindung ans Objekt. Damit übernimmt sie als „ein
Gefäss der Andacht“ jene Leidenschaft, die vorher im Begriffe war, sich
nutzlos ans Objekt zu verschwenden. Davon musste auch der letzte Rest
ausgetilgt werden, um nämlich damit die zeitgeschichtliche Aufgabe zu
erfüllen, welche in einer Abschneidung des Menschen von der sinnlichen
Gebundenheit, der primitiven „participation mystique“ bestand. Für den
damaligen Menschen war diese Gebundenheit unerträglich geworden. Es
musste deshalb eine Differenzierung des Geistigen eintreten, um das
psychische Gleichgewicht wieder herzustellen. Alle die philosophischen
Versuche zur Herstellung des psychischen Gleichgewichtes, der
aequanimitas, die sich hauptsächlich in der stoischen Lehre
verdichteten, scheiterten an ihrem Rationalismus. Die Vernunft kann
nur dem das Gleichgewicht verleihen, dem die Vernunft schon ein
Gleichgewichtsorgan ist. Aber für wie viele Menschen und in welchen
Zeiten der Geschichte war sie das? Der Mensch muss in der Regel zu
seinem einen Zustand auch den Gegensatz haben, um sich gezwungenerweise
in der Mitte zu finden. Aus blosser Vernunft kann er doch wohl nie das
Lebensvolle und Sinnenfällige des unmittelbaren Zustandes aufgeben.
So muss ihm gegen die Macht und Lust des Zeitlichen die Freude des
Ewigen stehen und gegen die Leidenschaft des Sinnlichen die Entzückung
des Übersinnlichen. So unleugbar wirklich ihm dieses ist, so zwingend
wirksam muss ihm jenes sein.

Durch die Einsicht in das wirkliche Bestehen seines erotischen
Wunsches wird es Hermas möglich, zur Anerkennung der metaphysischen
Realität zu gelangen, d. h. dadurch gewinnt das Seelenbild auch jene
sinnliche Libido, welche bislang am concreten Objekt haftend, nunmehr
dem Bilde, dem Idol jene Realität verleiht, die das Sinnesobjekt von
jeher ausschliesslich für sich beanspruchte. So kann die Seele mit
Wirkung sprechen und ihre Ansprüche mit Erfolg zur Geltung bringen.
Nach dem oben berichteten Gespräch mit Rhoda, verschwand ihr Bild,
und der Himmel schloss sich wieder. Dafür erschien nun eine „alte
Frau in leuchtendem Gewand“, welche den Hermas belehrt, dass sein
erotischer Wunsch ein sündhaftes und unsinniges Unternehmen gegen
einen verehrungswürdigen Geist sei, dass aber Gott nicht deshalb ihm
zürne, sondern vielmehr, weil er, Hermas, die Sünden seiner Familie
dulde. Auf diese geschickte Weise wird die Libido dem erotischen
Wunsch vollends entzogen und in der nächsten Wendung in die soziale
Aufgabe übergeführt. Eine besondere Feinheit liegt in dem Umstande,
dass die Seele auch das Bild der Rhoda abgeworfen und das Ansehen einer
alten Frau angenommen hat, um das erotische Element möglichst in den
Hintergrund treten zu lassen. Später erfährt Hermas durch Offenbarung,
dass diese alte Frau die _Kirche_ selber ist, womit sich das
Concret-Persönliche in die Abstraktion auflöst, und die Idee eine
Tatsächlichkeit und Wirklichkeit gewinnt, die sie vordem nicht besass.
Darauf liest ihm die Alte ein geheimnisvolles Buch vor, das gegen die
Heiden und Apostaten gerichtet ist, dessen Sinn er aber nicht erfassen
kann. Wiederum später hören wir, dass das Buch eine Mission enthält. So
überreicht ihm die Herrin-Frau seine Aufgabe, die er als ihr Ritter zu
erfüllen hat. Auch die Tugendprobe fehlt nicht. Denn bald darauf hatte
Hermas ein Gesicht, wo ihm die Alte erschien und ihm versprach, um die
fünfte Stunde wieder zu kommen, um ihm die Offenbarung zu erklären.
Hermas begab sich hinaus aufs Land, an die verabredete Stelle. Wie
er dort anlangte, fand er ein Lager von Elfenbein, bedeckt mit einem
Polster und einem feinen Linnen. „Als ich diese Dinge dort liegen
sah,“ schreibt Hermas, „war ich höchst verwundert, und sozusagen ein
Zittern befiel mich und mein Haar sträubte sich und wie ein panischer
Schreck befiel es mich, da ich dort allein war. Als ich darauf wieder
zu mir selber kam, mich des Ruhmes Gottes erinnerte und neuen Mut
schöpfte, kniete ich nieder und bekannte wieder meine Sünden dem Herrn,
wie ich früher getan hatte. Und sie kam mit sechs jungen Männern,
die ich früher auch schon gesehen hatte, und sie stand neben mir und
hörte, wie ich betete und meine Sünden dem Herrn bekannte. Und sie
berührte mich und sprach: „Hermas, höre auf mit all deinen Bitten
deiner Sünden wegen. Bitte auch um die Gerechtigkeit, damit du einen
Teil davon zu deinem Hause mitnehmest.“ Und sie richtete mich bei der
Hand auf und führte mich zum Lager und sagte zu den jungen Männern:
„Geht und bauet!“ Und als die jungen Männer weggegangen waren und wir
allein waren, sprach sie zu mir: „Setze dich hieher!“ Ich sagte zu
ihr: „Herrin, lass die Alten zuerst sitzen.“ Sie sagte: „Tue, was ich
dir sage, und setze dich.“ Aber als ich nach meinem Wunsche mich zur
Rechten niedersetzen wollte, bedeutete sie mir mit einer Handbewegung,
mich an ihre linke Seite zu setzen. Als ich deshalb nachdenklich und
bekümmert wurde, weil sie mich nicht zur rechten Seite sitzen liess,
sagte sie zu mir: „Bist du traurig, Hermas? Der Sitz zur Rechten ist
für andere, die bereits Gott wohlgefällig sind und die für den Namen
gelitten haben. Aber dir fehlt noch Vieles, um mit ihnen sitzen zu
können. Aber bleibe wie bisher in deiner Einfachheit, und du wirst mit
ihnen sitzen, und so soll es allen geschehen, wann sie erfüllt haben,
was Jener Arbeit war und getragen, was Jene getragen haben.“

Die erotische Verkennung der Situation lag Hermas wohl sehr nahe.
Die Zusammenkunft mutet zunächst an wie ein Stelldichein an „einem
schönen und abgeschlossenen Ort“ (wie er sagt). Das dort aufgeschlagene
kostbare Lager erinnert in fataler Weise an den Eros, sodass die den
Hermas bei diesem Anblick befallende Angst sehr begreiflich erscheint.
Er muss offenbar die erotische Association mächtig bekämpfen, um
nicht einer unheiligen Stimmung zu verfallen. Er erkennt zwar,
wie es scheint, die Versuchung nicht, wenn diese Erkenntnis nicht
vielleicht eben in der Schilderung seiner Angst als selbstverständlich
vorausgesetzt ist, welche Ehrlichkeit bei einem Menschen der damaligen
Zeit vielleicht eher möglich war, als beim modernen Menschen. Denn
der damalige Mensch stand doch im allgemeinen seiner Natur noch
näher als wir, und war daher eher in der Lage, seine natürlichen
Reaktionen unmittelbar wahrzunehmen und richtig zu erkennen. In
diesem Falle dürfte sein Sündenbekenntnis eben gerade die Wahrnehmung
eines unheiligen Gefühls betroffen haben. Jedenfalls deutet die
darauffolgende Frage, ob er rechts oder links sitzen solle, auf eine
moralische Zurechtweisung hin, die er von der Herrin empfängt. Obschon
nämlich in den römischen Augurien die von links kommenden Zeichen als
günstig galten, so war doch bei Griechen wie bei Römern die linke
Seite ganz allgemein die ungünstige, worauf die Doppelbedeutung von
„sinister“ hinweist. Wie eine unmittelbar folgende Textstelle aber
beweist, hat die hier aufgeworfene Frage von rechts und links zunächst
mit dem Volksaberglauben nichts zu tun, sondern ist biblischer
Provenienz, offenbar bezüglich auf Matth. 25, 33: „Er wird die Schafe
zu seiner Rechten stellen und die Böcke zur Linken.“ Die Schafe sind
um ihrer harmlosen und frommen Natur willen eine Allegorie der Guten,
die Böcke aber um ihrer Unbändigkeit und Geilheit willen ein Bild
der Bösen. Dadurch, dass ihm die Herrin den Sitz zur Linken anweist,
gibt sie ihm durch die Blume ihr Verständnis für seine Psychologie
zu erkennen. Als Hermas seinen Sitz zur Linken eingenommen hat, mit
etwelcher Betrübnis, wie er hervorhebt, weist ihn die Herrin nunmehr
auf ein visionäres Bild hin, das sich vor seinen Augen entrollt: Er
sieht, wie die Jünglinge, unterstützt von Zehntausenden anderer Männer
einen gewaltigen Turm aufbauen, dessen Steine sich fugenlos einer an
den andern passt. Dieser fugenlose, also wohl besonders feste, weil
unzerbrechbare Turm, bedeutet die Kirche, wie Hermas erfährt. _Die
Herrin ist die Kirche, und der Turm auch._ Wir sahen bereits in den
Attributen der Lauretanischen Litanei, dass Maria als Turris Davidica
und Turris eburnea, als Elfenbeinturm bezeichnet wird. Es scheint sich
hier um eine gleiche oder ähnliche Beziehung zu handeln. Zweifellos
hat der Turm die Bedeutung des Festen und der Sicherheit, etwa wie
Psalm 61,4: „Du bist meine Zuversicht, ein starker Turm vor meinen
Feinden.“ Eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Turmbau von Babel wird
hier wohl durch besonders intensive innere Gegengründe ausgeschlossen
worden sein, nichtsdestoweniger aber angeklungen haben, denn Hermas
wird ebensosehr unter dem niederdrückenden Anblick der unaufhörlichen
Schismen und häretischen Streitereien der ersten Kirche gelitten haben,
wie alle andern denkenden Köpfe jener Sphäre. Dieser Eindruck wird
auch der wesentlichste Grund zur Verfassung dieser Bekenntnisschrift
gewesen sein, wie wir aus jener Andeutung entnehmen dürfen, dass das
geoffenbarte Buch wider die Heiden und Apostaten gerichtet sei. Die
Heteroglossie, die Sprachverwirrung, welche den Turmbau von Babel
verunmöglichte, beherrschte gerade in den ersten Jahrhunderten die
christliche Kirche fast völlig und forderte verzweifelte Anstrengungen
von den Gläubigen, um der Konfusion Herr zu werden. Da die damalige
Christenheit weit davon entfernt war, eine Herde unter einem Hirten
zu bilden, so war es nur natürlich, dass Hermas danach verlangte,
den mächtigen „Hirten“, den Poimen, sowohl wie diejenige feste und
gesicherte Form zu finden, welche unverbrüchlich die von den vier
Winden, von den Bergen und aus dem Meere geholten Elemente zu einem
Ganzen vereinigte.

Das chthonische Begehren, die Sinnlichkeit in allen ihren
mannigfaltigen Formen, mit ihrer Anklebung an die Reize der Umwelt und
ihrem Zwange zur Zerstreuung der psychischen Energie in das grenzenlos
Vielfältige der Welt ist ein Haupthindernis für die Vollendung
einer einheitlich gerichteten Einstellung. Die Beseitigung dieses
Hindernisses musste also eine der wichtigsten Aufgaben jener Zeit sein.
Es ist darum nur verständlich, dass uns im Poimen (Hirt) des Hermas
eben gerade die Bewältigung dieser Aufgabe vor Augen geführt wird.
Wir sahen bereits, wie die ursprünglich erotische Erregung und die
dadurch ausgelöste Energie übergeführt wurde in die Personifikation des
unbewussten Komplexes, die Figur der Ekklesia, der alten Frau, welche
durch ihr visionäres Auftreten die Spontaneität des ihr zu Grunde
liegenden Komplexes bekundet. Hier erfahren wir nun weiter, dass die
alte Frau, die Kirche, nunmehr sozusagen zum Turme wird, denn der Turm
ist ebenfalls die Kirche. Dieser Übergang erscheint überraschend, denn
der Zusammenhang des Turmes mit der alten Frau ist nicht ohne weiteres
ersichtlich. Die Attribute der Maria in der lauretanischen Litanei
werden uns aber auf die richtige Spur helfen, denn wir finden dort, wie
erwähnt, die Jungfrau-Mutter als „Turm“ bezeichnet.

Dieses Attribut stammt aus dem Hohen Lied IV, 4: Sicut turris David
collum tuum, quae aedificata est cum propugnaculis. (Dein Hals ist wie
der Turm Davids, mit Brustwehr gebauet.)

VII, 4: Collum tuum sicut turris eburnea. (Dein Hals ist wie ein
elfenbeinerner Turm.) (Ähnlich VIII, 10: Ego murus, et ubera mea sicut
turris.)

Das Hohe Lied ist, wie bekannt, eigentlich ein profanes Liebesgedicht,
vielleicht ein Hochzeitslied, dem sogar jüdische Gelehrte noch
sehr spät die kanonische Anerkennung versagt haben. Die mystische
Deutung liebte es aber, die Braut als Israel und den Bräutigam
als Jahve aufzufassen und zwar aus einem richtigen Instinkte,
nämlich um auch das erotische Gefühl in das Gottesverhältnis des
ganzen Volkes überzuführen. Aus demselben Grunde hat sich auch
das Christentum des Hohen Liedes bemächtigt, um den Bräutigam als
Christus und die Braut als Kirche aufzufassen. Der Psychologie des
Mittelalters lag diese Analogie ausserordentlich und ermutigte die ganz
unverblümte Christuserotik der damaligen Mystik, wovon _Mechtild
von Magdeburg_ eines der glänzendsten Beispiele ist. Aus diesem
Geiste ist die lauretanische Litanei hervorgegangen. Sie lehnt sich
in gewissen Attributen der Jungfrau an das Hohe Lied an. Wir haben
dies bereits für das Turmsymbol gezeigt. Die Rose wird schon von den
griechischen Vätern als Attribut der Maria gebraucht, mit der Lilie,
ebenfalls in Anlehnung an Hohes Lied 2, 1 f.: Ego flos campi et lilium
convallium. Sicut lilium inter spinas, sic amica mea inter filias.
(„Ich bin eine Blume zu Saron und eine Rose im Tal. Wie eine Rose unter
den Dornen, so ist meine Freundin unter den Töchtern.“ _Luther_.)
Ein in den mittelalterlichen Marienhymnen vielgebrauchtes Bild ist der
„verschlossene Garten“ aus dem Hohen Lied 4, 12 (Hortus conclusus,
soror mea sponsa) und der „versiegelte Bronnen“. (H. L. 4, 12: fons
signatus.) Die im Hohen Lied unverkennbar erotische Natur dieser
Gleichnisse wird von den Vätern ausdrücklich als solche angenommen. So
deutet z. B. _Ambrosius_ den hortus conclusus als virginitas (de
instit. virg. c. 10). Ebenso vergleicht _Ambrosius_ (com. in apoc.
c. 6) Maria mit dem Schilfkörbchen des Moses: „per fiscellam scirpeam,
beata virgo designata est. Mater ergo fiscellam scirpeam in qua Moses
ponebatur, praeparavit, quia sapientia dei, quae est filius dei, beatam
Mariam virginem elegit, in cuius utero hominem, cui per unitatem
personae conjungeretur, formavit.“ _Augustin_ gebraucht das später
häufige Gleichnis des thalamus (Brautgemach) für Maria, wiederum mit
ausdrücklichem Hinweis auf den anatomischen Sinn: „elegit sibi thalamum
castum, ubi conjungeretur sponsus sponsae“ (serm. 192) und „pocessit de
thalamo suo, id est, de utero virginali“ (serm. 124).

Die Deutung von vas als uterus dürfte demnach für gesichert gelten,
wenn _Ambrosius_ parallel zu der eben zitierten Augustinstelle sagt:
„non de terra, sed de coelo _vas_ sibi hoc, per quod descenderet,
elegit, et sacravit _templum pudoris_“ (de instit. virg. c. 5). Auch
bei den griechischen Vätern ist die Bezeichnung als σκεῦος (Gefäss)
nicht selten. Auch hier ist die Anlehnung an die erotische Allegorik
des Hohen Liedes nicht unwahrscheinlich, obschon die Bezeichnung Vas
im Vulgatatext nicht vorkommt, wohl aber das Bild des Bechers und des
Trinkens: 7, 2: Umbilicus tuus crater tornatilis, nunquam indigens
poculis. Venter tuus sicut acervus tritici, vallatus liliis. („Dein
Schooss ist wie ein runder Becher, dem nimmer Getränke mangelt. Dein
Leib ist wie ein Weizenhaufen, umsteckt mit Rosen.“ _Luther_.) Parallel
dem Sinne des ersten Satzes geht der Vergleich der Maria mit dem
Ölkrüglein der Witwe von Sarepta in den Meisterliedern der Kolmarer
Handschrift. (K. Bartsch. Stuttgart, 1862.) „Sarepta in Sydonien lant
dar Helyas wart gesant zuo einer witwen diu in solle neren, der glîcht
mîn lîp wol wirdeclich, dô den propheten sant in mich got und uns wolt
diu tiurunge verkêren.“ Parallel dem zweiten Satz sagt _Ambrosius_:
„in quo virginis utero simul acervus tritici et lilii flores gratia
germinabat: quoniam et granum tritici generabat et lilium, etc.“ In
katholischen Quellen (Salzer: Sinnbilder und Beinamen Mariens) werden
für die Gefässymbolik sehr fern liegende Stellen herangezogen, wie
z. B. Hohes Lied 1,1: Osculetur me osculo oris sui: quia meliora sunt
ubera tua vino. „Er küsse mich mit dem Kuss seines Mundes, denn deine
Liebe (eigentlich „Brüste“) ist lieblicher denn Wein.“ _Luther_.); ja,
sogar 2. Mose 16, 33: „Und Mose sprach zu Aaron: Nimm ein _Krüglein_,
tu ein Gomervoll Man drein, und lass es vor dem Herrn, dass es behalten
werde auf eure Nachkommen.“ Diese gekünstelten Beziehungen sprechen
eher gegen die biblische Abstammung der Gefässymbolik als dafür. Für
die Möglichkeit einer ausserbiblischen Herkunft überhaupt spricht die
Tatsache, dass der mittelalterliche Marienhymnus ungescheut seine
Gleichnisse von überall hernimmt und sozusagen alles, was irgendwie
kostbar ist, mit der Jungfrau in Beziehung setzt. Dass das Gefässymbol
schon sehr alt ist -- es entstammt dem III. bis IV. Jahrhundert,
spricht nicht gegen seine weltliche Herkunft, denn schon die Väter
waren geneigt zu ausserbiblischen „heidnischen“ Gleichnissen, wie
z. B. _Tertullian_[201], _Augustin_[202] u. a. die Jungfrau mit der
noch unentweihten Erde, dem noch ungepflügten Acker verglichen,
gewiss nicht ohne merklichen Seitenblick auf die Kore der Mysterien.
Solche Vergleiche formten sich über heidnischen Modellen in derselben
Weise wie dies _Cumont_ für die frühmittelalterliche kirchliche
Buchillustration am Beispiel der Himmelfahrt des Elias, die sich gerne
an ein antikes mithrisches Vorbild hielt, gezeigt hat. In vielerlei
Gebräuchen, nicht zum mindesten in der Verlegung der Geburt Christi
auf den natalis solis invicti, folgte die Kirche der heidnischen
Vorlage. _Hieronymus_ vergleicht die Jungfrau mit der _Sonne_ als
der Mutter des Lichtes. Diese Bezeichnungen ausserbiblischer Natur
können ihren Ursprung nur in den damals noch geläufigen heidnischen
Anschauungsformen haben. Es ist darum nur gerechtfertigt, wenn man bei
dem Gefässymbole auch der damals wohlbekannten und weitverbreiteten
gnostischen Gefässymbolik gedenkt. Es sind aus jener Zeit eine grosse
Anzahl von Gemmen erhalten mit dem Symbole des Gefässes, eines Kruges
mit merkwürdigen Flügelbändern, der ohne weiteres an einen Uterus
mit den Ligamenta lata erinnert. Dieses Gefäss wird nach _Matter_
als „Vase of Sin“ bezeichnet, etwa im Gegensatz zu den Marienhymnen,
welche die Jungfrau als vas virtutum preisen. _King_ (The Gnostics
and their remains p. 111) bestreitet diese Auffassung als willkürlich
und schliesst sich _Köhlers_ Auffassung an, dass das (hauptsächlich
ägyptische) Gemmenbild auf die Krüge des Schöpfrades, welches das
Nilwasser auf die Felder pumpt, sich beziehe, worauf auch die
eigentümlichen Bänder hindeuteten, welche offenbar zur Befestigung des
Kruges am Rad dienten. Die befruchtende Tätigkeit des Kruges lasse
sich in antiker Phraseologie als „Befruchtung der Isis durch den Samen
des Osiris“ ausdrücken, wie _King_ bemerkt. Öfters befindet sich auf
dem Gefäss eine Getreideschwinge, wahrscheinlich mit Beziehung auf
die „mystica vannus Jacchi“, das λῖκνον, die figürliche Geburtsstätte
des Weizenkorns, des Symbols des Fruchtbarkeitsgottes. (Vergl. dazu
_Jung_: Wandl. und Symb. der Libido. p. 319). Es war eine griechische
Hochzeitszeremonie, dass man der Braut eine Getreideschwinge,
gefüllt mit Früchten, auf den Kopf legte, ein offenkundiger
Fruchtbarkeitszauber. Dieser Auffassung kommt die alte ägyptische
Vorstellung entgegen, dass alles aus dem Urwasser abstamme, aus Nu
oder Nut, welche auch mit dem Nil oder dem Ozean identifiziert wurde.
Nu wird mit _drei Töpfen_, drei _Wasserzeichen_ und dem Himmelszeichen
geschrieben. In einem Hymnus an Ptah-Tenen heisst es: „Erschaffer
des Korns, das hervorkommt aus ihm in seinem Namen Nu der Alte, der
befruchtet die Wassermasse des Himmels und der macht, dass die Wasser
hervorkommen auf den Bergen, um Leben zu geben Mann und Weib.“ (_W.
Budge_: The Gods of the Egyptians. 1904. I, 511.) Sir _Wallis Budge_
machte mich darauf aufmerksam, dass die Uterussymbolik auch heute noch
im südlichen Hinterland Ägyptens als Regen- und Fruchtbarkeitszauber
existiert. Es kommt noch gelegentlich vor, dass die Eingeborenen im
Busch eine Frau ermorden, und ihr den Uterus herausnehmen, um dieses
Organ zu magischen Riten zu benützen. (Vergl. P. Amaury Talbot: In the
shadow of the bush. pag. 67, 74 ff.) Wenn man sich vergegenwärtigt, wie
stark die Kirchenväter durch gnostische Vorstellungen trotz stärksten
Widerstandes gegen diese Häresieen beeinflusst waren, so ist es nicht
undenkbar, dass gerade in der Gefässymbolik sich ein Stück christlich
anwendbares Heidentum durchdrückte und zwar umso leichter, als die
Marienverehrung an sich schon ein heidnisches Überkommnis ist, welches
der christlichen Kirche die Hinterlassenschaft der Magna Mater, der
Isis u. a., sicherte. Auch das Bild des _Vas sapientiae_ erinnert an
ein gnostisches Vorbild, nämlich an _Sophia_, diesem für die Gnosis so
bedeutsamen Symbol.

Ich verweilte etwas länger bei der Gefässymbolik, als meine Leser wohl
erwarteten. Ich tat dies aber aus einem bestimmten Grunde, nämlich,
weil mir daran liegt, jene für das frühe Mittelalter so eigentümlich
kennzeichnende Gralslegende in ihrer Beziehung zum Frauendienst
psychologisch zu beleuchten. Die religiöse Zentralvorstellung dieses
vielfach variierten Legendenstoffes ist das heilige Gefäss, ein, wie
jedermann einleuchtet, durchaus unchristliches Bild, dessen Ursprung
anderwärts zu suchen ist, als in den kanonischen Quellen. Mir scheint
nach dem Obigen, dass es ein echtes Stück Gnosis ist, das entweder
durch geheime Tradition die Ausrottung der Häresien überstand oder
seine Wiedererstehung einer unbewussten Reaktion gegen das herrschende
offizielle Christentum verdankt. Das Weiterleben oder das unbewusste
Wiedererstehen des Gefässymbols beweist eine Verstärkung des weiblichen
Prinzips in der damaligen männlichen Psychologie. Die Symbolisierung
in einem rätselhaften Bilde bedeutet eine Vergeistigung der durch
den Frauendienst belebten Erotik. Die Vergeistigung aber bedeutet
immer die Zurückbehaltung eines Libidobetrages, der sonst direkt in
der Sexualität sich ausleben würde. Wird ein solcher Libidobetrag
zurückgehalten, so fliesst zwar erfahrungsgemäss ein Teil davon in den
vergeistigten Ausdruck, der andere Teil aber verfällt dem Unbewussten
und bewirkt dort eine gewisse Belebung entsprechender Bilder, welche
sich eben im Symbol des Gefässes ausdrücken. Das Symbol lebt durch
Zurückhaltung gewisser Libidoformen und bewirkt seinerseits wieder
Zurückhaltung dieser Libidoformen. Die Auflösung des Symbols ist
gleichbedeutend mit einem Abströmen der Libido auf direktem Wege
oder mindestens mit einem fast unüberwindlichen Zwange zur direkten
Anwendung. Das lebendige Symbol aber beschwört diese Gefahr. Ein Symbol
verliert seine sozusagen magische oder, wenn man will, erlösende Kraft,
sobald seine Auflösbarkeit erkannt ist. Daher muss ein wirkendes Symbol
eine unangreifbare Beschaffenheit haben. Es muss der bestmögliche
Ausdruck der jeweiligen Weltanschauung sein, der schlechterdings
dem Sinne nach nicht überboten werden kann, sodann muss es dem
Begreifen so ferne stehen, dass dem kritischen Intellekt alle Mittel
fehlen, um es gültig auflösen zu können und schliesslich muss seine
ästhetische Form dem Gefühl überzeugend entgegenkommen, sodass auch
keine gefühlsmässigen Argumente sich dagegen erheben. Das Gralssymbol
hat offenbar für eine gewisse Zeit diese Forderungen erfüllt und
verdankte diesem Umstand seine lebendige Wirkung, die, wie das Beispiel
_Wagners_ zeigt, auch heute noch nicht ganz erloschen ist, obschon
unsere Zeit und unsere Psychologie unaufhaltsam zu seiner Auflösung
drängen.

Das allgemeine offizielle Christentum hat nun wiederum die in der
Psychologie des Frauendienstes sich kundgebenden gnostischen Elemente
aufgesogen und in einer gesteigerten Marienverehrung untergebracht.
Ich habe die lauretanische Litanei als ein bekanntes Beispiel dieses
Assimilationsprozesses aus einer sehr grossen Anzahl von andern ebenso
interessanten Materialien ausgewählt. Mit dieser Assimilation an das
allgemeine christliche Symbol ging zunächst die im Frauendienst sich
entwickelnde Knospe einer seelischen Kultur des Mannes verloren. Seine
Seele, die sich im Bilde der selbstgewählten Herrin ausdrückte, verlor
den individuellen Ausdruck durch ihren Übergang in das allgemeine
Symbol. Dadurch verlor sie auch die Möglichkeit einer individuellen
Differenzierung, sie wurde verdrängt durch einen Collektivausdruck.
Derartige Verluste pflegen immer schlimme Folgen zu haben, die
sich auch in diesem Falle bald geltend machten. Indem nämlich die
seelische Beziehung zur Frau sich durch die collektive Marienverehrung
ausdrückte, ging dem Bilde der Frau ein Wert verloren, auf den aber
das menschliche Wesen einen gewissen natürlichen Anspruch hat. Dieser
Wert, der nur in der individuellen Wahl seinen natürlichen Ausdruck
findet, verfällt, wenn der individuelle durch einen collektiven
Ausdruck ersetzt wird, dem Unbewussten. Im Unbewussten erhält nun das
Bild der Frau eine Besetzung, welche infantil-archaïsche Dominanten
belebt. (Vergl. zu diesem Begriff: _Jung_: Die Psychologie der
unbewussten Prozesse. Zürich, 1917.) Die relative Entwertung der
realen Frau compensiert sich damit durch dämonische Züge, indem alle
unbewussten Inhalte, insofern sie durch abgespaltene Libidobeträge
aktiviert sind, projiziert am Objekt auftreten. Die relative Entwertung
der Frau bedeutet: Der Mann liebt sie in einem gewissen Sinne weniger,
dafür aber tritt die Frau als Verfolgerin auf, d. h. als Hexe.
Auf diese Weise entwickelte sich mit und infolge der gesteigerten
Marienverehrung der Hexenwahn, dieser unauslöschliche Schandfleck des
spätern Mittelalters. Dies war aber nicht die einzige Folge. Durch
die Abspaltung und Verdrängung einer wichtigen progressiven Tendenz
entstand überhaupt eine gewisse Aktivierung des Unbewussten. Und
diese Aktivierung konnte im allgemeinen christlichen Symbol keinen
genügenden Ausdruck finden, denn der adäquate Ausdruck bestünde
zunächst in individuellen Ausdruckformen. Dieser Umstand aber bereitete
den Boden für Häresien und Schismen vor. Dagegen musste sich das
christlich orientierte Bewusstsein mit Fanatismus wehren. Der Wahn
der Inquisitionsgreuel war übercompensierter Zweifel, der sich vom
Unbewussten her aufdrängte und der schliesslich eines der grössten
Schismen der Kirche hervorrief, nämlich die Reformation.

Aus dieser längern Auseinandersetzung gewinnen wir folgende Einsicht:
Wir sind ausgegangen von jener Vision des Hermas, in der er sah,
wie ein _Turm_ gebaut wurde. Die alte Frau, welche sich zuvor
als die Kirche erklärt hatte, erklärt nunmehr den Turm als Symbol
der Kirche. Ihre Bedeutung geht dadurch auf den Turm über, mit dem
sich nun auch der ganze weitere Text des Poimen befasst. Es handelt
sich für Hermas jetzt um den Turm und nicht mehr um die alte Frau,
geschweige denn um die reale Rhoda. Damit ist die Ablösung der Libido
vom realen Objekt und ihre Übersetzung auf das Symbol, ihre Überführung
in eine Symbolfunktion vollendet. Die Idee einer allgemeinen und
einheitlichen Kirche, ausgedrückt durch das Symbol eines fugenlosen
und unerschütterlichen Turms, wird damit im Geiste Hermas’ zur nicht
mehr rückgängig zu machenden Wirklichkeit. Die Ablösung der Libido
vom Objekt versetzt sie ins Innere des Subjektes, wodurch die Bilder
des Unbewussten aktiviert werden. Diese Bilder sind archaïsche
Ausdrucksformen, welche zu Symbolen werden, die ihrerseits wieder als
Äquivalente für relativ entwertete Objekte auftreten. Dieser Vorgang
ist jedenfalls so alt wie die Menschheit, denn Symbole finden sich
schon unter den Relikten des prähistorischen Menschen sowohl wie beim
niedrigsten heute noch lebenden Menschentypus. Es muss sich bei der
Symbolbildung also offenbar um eine auch biologisch höchst wichtige
Funktion handeln. Da das Symbol nur dank einer relativen Entwertung
des Objektes leben kann, so dient es offenbar auch dem Zwecke der
Objektentwertung. Hätte das Objekt einen unbedingten Wert, so wäre
es auch unbedingt bestimmend für das Subjekt, wodurch die Freiheit
des Handelns des Subjektes absolut aufgehoben wäre, indem auch eine
relative Freiheit neben der unbedingten Determinierung durch das Objekt
nicht mehr bestehen könnte. Der Zustand einer absoluten Bezogenheit
auf das Objekt ist gleichbedeutend mit einer völligen Exteriorisierung
des Bewusstseinsprozesses, d. h. mit einer Identität von Subjekt und
Objekt, wodurch jede Erkenntnismöglichkeit aufgehoben ist. Dieser
Zustand findet sich in gemilderter Form noch heute beim Primitiven.
Die bei der praktischen Analyse uns häufig begegnenden sogenannten
_Projektionen_ sind ebenfalls nichts anderes als Residuen einer
ursprünglichen Identität des Subjektes mit dem Objekt. Die durch
einen solchen Zustand bedingte Ausschliessung der Erkenntnis und die
Unmöglichkeit einer bewussten Erfahrung bedeuten eine beträchtliche
Einbusse an Anpassungsfähigkeit, die für den von Natur aus Waffen-
und schutzlosen Menschen mit seiner mehrere Jahre lang gegenüber den
Tieren minderwertigen Nachkommenschaft erheblich ins Gewicht fällt.
Der erkenntnislose Zustand bedeutet aber auch vom Standpunkt der
Affektivität aus eine gefährliche Inferiorität, indem nämlich eine
Identität des Gefühls mit dem gefühlten Objekt bewirkt, dass erstens
einmal irgend ein Objekt eine beliebig starke Wirkung auf das Subjekt
haben kann, und zweitens irgend ein Affekt des Subjektes ohne weiteres
auch das Objekt in sich begreift und vergewaltigt. Was ich meine,
illustriert eine Episode aus dem Leben des Buschmanns: Ein Buschmann
hatte einen kleinen Sohn, den er mit der charakteristischen zärtlichen
Affenliebe des Primitiven liebte. Diese Liebe ist selbstredend
psychologisch völlig autoerotisch, d. h. das Subjekt liebt sich selber
im Objekt. Das Objekt dient dabei gewissermassen als erotischer
Spiegel. Eines Tages kommt der Buschmann vom Fischfang ärgerlich nach
Hause, denn er hatte nichts gefangen. Wie immer kommt ihm der Kleine
freudig entgegengesprungen. Der Vater aber packt ihn und dreht ihm auf
der Stelle den Hals um. Natürlich beklagte er nachher das tote Kind mit
derselben Fassungslosigkeit, mit der er es zuvor umgebracht hatte.

Dieser Fall zeigt klar die Identität des Objektes mit dem jeweiligen
Affekt. Es ist klar, dass eine derartige Mentalität jede in höherm
Masse schutzgewährende Organisation der Horde verhindert. Sie ist
daher ein in Hinsicht der Fortpflanzung und Vermehrung der Spezies
ungünstiger Faktor und muss daher bei einer Spezies mit starker
Vitalität verdrängt und umgeformt werden. Diesem Zwecke entstammt und
dient das Symbol, indem es dem Objekte einen gewissen Libidobetrag
entzieht, es dadurch relativ entwertet und damit dem Subjekt einen
Überwert verleiht. Dieser Überwert betrifft aber das Unbewusste des
Subjektes. Dadurch wird das Subjekt zwischen eine äussere und eine
innere Determinante gestellt, und daraus entsteht die Möglichkeit der
Wahl und die relative Freiheit des Subjektes.

Das Symbol stammt immer aus archaïschen Residuen, aus
stammesgeschichtlichen Engrammen, über deren Alter und Herkunft
man vieles spekulieren, aber nichts Bestimmtes ausmachen kann. Es
wäre auch ganz unrichtig, die Symbole aus persönlichen Quellen
ableiten zu wollen, z. B. aus individuell verdrängter Sexualität.
Eine solche Verdrängung kann höchstens den Libidobetrag liefern, der
das archaïsche Engramm aktiviert. Das Engramm aber entspricht einer
vererbten Funktionsweise, welche ihr Dasein nicht etwa einer sekularen
Sexualverdrängung, sondern der Tatsache der Triebdifferenzierung
überhaupt verdankt. Die Triebdifferenzierung aber war und ist eine
biologisch notwendige Massnahme, die nicht etwa bloss der Spezies
Mensch eigentümlich ist, sondern sich ebensowohl auch in der
Geschlechtsverkümmerung der Arbeitsbiene manifestiert. Ich habe diese
Abstammung des Symbols, im vorliegenden Falle des Gefässymbols, aus
archaïschen Vorstellungen gezeigt. Wie diesem Symbole die Urvorstellung
des Uterus zu Grunde liegt, so dürfen wir auch im Turmsymbol eine
ähnliche Abstammung vermuten. Das Turmsymbol dürfte wohl in die
Reihe jener im Grunde genommen phallischen Symbole gehören, an
denen die Symbolgeschichte reich ist. Dass gerade in jenem Momente,
wo Hermas beim Anblick des verlockenden Ruhelagers die erotische
Phantasie verdrängen muss, sich ein phallisches Symbol aufdrängt, das
vermutlich der Erektion entspricht, ist nicht erstaunlich. Wir sahen,
dass auch andere Symbolattribute der Jungfrau-Kirche unzweifelhaft
erotischer Herkunft sind, als solche schon durch ihre Abstammung vom
Hohen Liede beglaubigt und zudem noch von den Vätern ausdrücklich
als solche gedeutet. Das Turmsymbol der lauretanischen Litanei
stammt aus der gleichen Quelle und dürfte deshalb auch eine ähnliche
Bedeutungsgrundlage haben. Das Attribut des Turms „elfenbeinern“,
ist zweifellos erotischer Natur, indem es sich auf die Hautfarbe- und
-glätte bezieht (H. L. 5, 14: „Sein Leib ist wie rein Elfenbein.“) Aber
auch der Turm selber begegnet uns in unmissverständlich erotischer
Beziehung im H. L. 8, 10: „Ich bin eine Mauer und meine Brüste sind
wie Türme.“ Damit ist wohl das Hervorragen der Brüste, also ihre volle
und pralle Konsistenz gemeint, etwa ähnlich wie H. L. 5, 15: „Seine
Beine sind wie Marmelsäulen.“ Dem entspricht auch Hohes Lied 7, 5:
„Dein Hals ist wie ein elfenbeinerner Turm“, und: „Deine Nase ist
wie der Turm auf dem Libanon“, womit wohl das Schlanke und Ragende
gemeint ist. Diese Attribute entspringen Tast- und Organempfindungen,
die ins Objekt verlegt werden. Wie eine düstere Laune grau sieht und
eine frohe hell und farbig, so empfindet das Tastvermögen auch unter
dem Einfluss subjektiver sexueller Empfindungen, in diesem Falle der
Erektionsempfindung, deren Qualitäten dem Objekt übertragen werden.
Die erotische Psychologie des Hohen Liedes verwendet die im Subjekt
erweckten Bilder auf das Objekt zur Erhöhung seines Wertes. Die
kirchliche Psychologie verwendet aber dieselben Bilder, um die Libido
auf das figürliche Objekt zu lenken, die Psychologie des Hermas aber
erhebt das unbewusst erweckte Bild zunächst zum Selbstzweck, um darin
denjenigen Gedanken zu verkörpern, der für die damalige Mentalität
von ganz besonderer Wichtigkeit war, nämlich die Stabilisierung und
Organisierung der neugewonnenen christlichen Weltanschauung und
Einstellung.

b) _Die Relativität des Gottesbegriffes bei Meister Eckehart._
Der Prozess, den Hermas durchlief, stellt im Kleinen dar, was
in der frühmittelalterlichen Psychologie im Grossen geschah:
eine Neuentdeckung der Frau und die Herausbildung des weiblichen
Gralssymboles. Hermas sah Rhoda in einem neuen Lichte, aber der dadurch
ausgelöste Libidobetrag verwandelte sich ihm unter den Händen in die
Erfüllung seiner zeitgenössischen Aufgabe.

Es ist nun meines Erachtens für unsere Psychologie bezeichnend, dass
an der Schwelle der neuesten Zeit zwei Geister stehen, denen ein
gewaltiger Einfluss auf die Herzen und die Köpfe der jungen Generation
vorbehalten war: _Wagner_ und _Nietzsche_, ersterer ein
Anwalt der Liebe, der in seiner Musik die ganze Skala der Gefühlstöne
von Tristan hinunter bis zur blutschänderischen Leidenschaft und
von Tristan hinauf bis zur höchsten Geistigkeit des Grals erklingen
lässt; letzterer ein Anwalt der Macht und des siegreichen Willens
der Individualität. Wagner knüpft in seinem höchsten und letzten
Ausdruck an die Gralslegende an, wie _Goethe_ an _Dante_,
_Nietzsche_ aber an das Bild einer Herrenkaste und einer
Herrenmoral, wie das Mittelalter es mehr als einmal verwirklichte
in vielen heroischen und ritterlichen Gestalten mit blondem Haar.
Wagner zersprengt die Bande, welche die Liebe einschnürten, Nietzsche
zertrümmert die „Tafeln der Werte“, welche die Individualität beengen.
Beide streben nach ähnlichem Ziele, aber sie erzeugen den unheilbaren
Zwiespalt, denn wo Liebe ist, da herrscht nicht die Macht des
Einzelnen, und wo die Macht des Einzelnen ist, da herrscht keine Liebe.

Dass drei der grössten deutschen Geister in ihren grössten Werken
an die frühmittelalterliche Psychologie anknüpfen, scheint mir zu
beweisen, dass eben jene Zeit eine Frage übrig gelassen hat, die
seither nicht beantwortet worden ist.

Wir müssen es versuchen, dieser Frage hier etwas näher zu treten. Ich
habe nämlich den Eindruck, als ob jenes fremdartige Etwas, das in
gewissen Ritterorden damaliger Zeit (z. B. Templern) sein Wesen trieb,
und das in der Gralslegende seinen Ausdruck gefunden zu haben scheint,
ein Keim oder eine Knospe einer neuen Orientierungsmöglichkeit,
m. a. W. eines neuen Symbols, gewesen sei. Die Unchristlichkeit,
resp. die gnostische Art des Gralssymboles weist zurück auf jene
frühchristlichen Häresieen, auf jene zum Teil gewaltigen Ansätze,
die eine Fülle kühner und glänzender Ideen in sich bergen. Nun aber
zeigt die Gnosis unbewusste Psychologie in reichster Entfaltung, ja in
perverser Wucherung, also gerade jenes Element, das der regula fidei
am meisten widerstrebt, jenes Prometheische und Schöpferische, das
sich nur der eigenen Seele, aber keiner collektiven Richtschnur beugt.
In der Gnosis finden wir, in roher Form allerdings, jenen Glauben an
die Macht der eigenen Offenbarung und der eigenen Erkenntnis, welcher
den spätern Jahrhunderten fehlte. Dieser Glaube hat seinen Ursprung in
dem stolzen Gefühl der eigenen Gottesverwandtschaft, die sich keiner
Menschensatzung unterwirft, die gegebenenfalls selbst die Götter
zwingt durch die Macht der Erkenntnis. In der Gnosis liegt der Anfang
jenes Weges, der zu den psychologisch so bedeutsamen Erkenntnissen
der deutschen Mystik führt, welche eben um jene Zeit blühte, von
der wir sprechen. Es gehört zur Kennzeichnung der Frage, die uns
vorliegt, dass wir auch des grössten Denkers jener Zeit uns erinnern,
_Meister Eckeharts_. So wie im Rittertum sich Anzeichen einer
neuen Orientierung bemerkbar machten, so treten uns neue Gedanken
in Eckehart entgegen, Gedanken von derselben _seelischen_
Orientierung, welche _Dante_ bewog, dem Bildnis Beatricens in
die Unterwelt des Unbewussten zu folgen, und die Sänger inspirierte,
welche die Kunde vom Gral sangen. Wir wissen leider nichts aus dem
persönlichen Leben Eckeharts, das uns den Weg erklärt, auf dem er
zur Seele gelangt ist, aber seine überlegene Art, mit der er in
seiner Rede von der Reue sagt: „ouch noch erfrâget man selten, daz
die liute koment ze grôzen dingen, sie sîen zu dem êrsten etwaz
vertreten“ -- lässt auf persönliche Erfahrung schliessen. Fremdartig
gegenüber dem christlichen Gefühl der Sündhaftigkeit mutet uns
Eckeharts Gefühl der innern Gottesverwandtschaft an. Man fühlt sich
in die Atmosphäre der Upanishaden entrückt. Es muss bei Eckehart eine
ganz ausserordentliche Erhöhung des Seelenwertes, d. h. des Wertes
des eigenen Innern stattgefunden haben, dass er sich erheben konnte
zu einer sozusagen rein psychologischen, also relativen Auffassung
Gottes und seines Verhältnisses zum Menschen. Die Entdeckung und
ausführliche Formulierung der Relativität Gottes zum Menschen und
seiner Seele scheint mir einer der wichtigsten Schritte auf dem Wege
zu einer psychologischen Erfassung des religiösen Phänomens zu sein,
und damit zur Möglichkeit einer Befreiung der religiösen Funktion
aus den erdrückenden Schranken der ebenfalls daseinsberechtigten
intellektuellen Kritik.

Wir gelangen damit zur eigentlichen Aufgabe dieses Kapitels, nämlich
zur Erörterung der Relativität des Symboles. Unter _Relativität
Gottes_ verstehe ich eine Ansicht, nach der Gott nicht „absolut“,
d. h. losgelöst vom menschlichen Subjekt und jenseits aller
menschlichen Bedingungen existiert, sondern nach der er vom
menschlichen Subjekt in gewissem Sinne abhängig, und eine
wechselseitige und unerlässliche Beziehung zwischen Mensch und Gott
vorhanden ist, sodass man einerseits den Menschen als eine Funktion
Gottes und andererseits Gott als eine psychologische Funktion des
Menschen verstehen kann. Für unsere analytische Psychologie als für
eine Wissenschaft, die man als empirisch vom menschlichen Standpunkt
aus auffassen muss, ist das Gottesbild der symbolische Ausdruck eines
gewissen psychologischen Zustandes oder einer Funktion, die dadurch
charakterisiert ist, dass sie dem bewussten Willen des Subjektes
unbedingt überlegen ist und deshalb Taten und Leistungen erzwingen
oder ermöglichen kann, deren Ausführung der bewussten Anstrengung
unerreichbar wäre. Dieser übermächtige Impuls -- sofern sich die
Gottesfunktion im Handeln manifestiert -- oder diese den bewussten
Verstand überragende Inspiration rührt von einer Energieaufstauung im
Unbewussten her. Durch diese Libidoanhäufung werden Bilder belebt,
die das collektive Unbewusste als latente Möglichkeiten besitzt,
darunter befindet sich die Gottesimago, jene Prägung, die seit
Uralters der collektive Ausdruck für die stärksten und unbedingtesten
Einflüsse unbewusster Libidokonzentrationen auf das Bewusstsein ist.
Für unsere Psychologie, die als Wissenschaft sich auf das Empirische
innerhalb der unserer Erkenntnis gezogenen Grenzen beschränken muss,
ist daher Gott nicht einmal relativ, sondern er ist eine Funktion
des Unbewussten, nämlich die Manifestation eines abgespaltenen
Libidobetrages, der die Gottesimago aktiviert hat. Für die orthodoxe
Auffassung ist Gott natürlich absolut, d. h. für sich existierend.
Damit ist auch eine völlige Abspaltung vom Unbewussten ausgedrückt,
was psychologisch bedeutet, dass man sich der Tatsache, dass die
göttliche Wirkung dem eigenen Innern entspringt, nicht bewusst ist.
Der Standpunkt der Relativität Gottes aber bedeutet, dass ein nicht
unbeträchtlicher Teil der unbewussten Vorgänge als psychologische
Inhalte wenigstens andeutungsweise erkannt werden. Diese Einsicht kann
natürlich nur da eintreten, wo der Seele eine mehr als gewöhnliche
Aufmerksamkeit geschenkt wurde, wodurch die Inhalte des Unbewussten
aus ihren Projektionen in die Objekte zurückgezogen wurden und ihnen
(den Inhalten) so eine gewisse Bewusstheit gegeben wurde, die sie als
dem Subjekt zugehörig und daher auch als subjektiv bedingt erscheinen
lässt. Dieser Fall trat nun bei den Mystikern ein. Nicht, dass dieser
Fall etwa ein erstmaliges Auftreten der Idee der Relativität Gottes
überhaupt bedeutete: Bei den Primitiven ist natürlicherweise und im
Prinzip eine Relativität Gottes vorhanden, indem fast überall auf
tieferer Stufe die Gottesanschauung rein dynamischer Natur ist, d. h.
Gott ist eine _göttliche Kraft_, eine Gesundheits-, Seelen-, Medizin-,
Reichtums-, Häuptlings-, etc.-Kraft, die mit gewissen Prozeduren
eingefangen und verwendet werden kann zur Erzeugung der für das Leben
und die Gesundheit der Menschen notwendigen Dinge, gelegentlich auch
zur Erzeugung magischer und feindseliger Wirkungen. Diese Kraft
fühlt der Primitive ebensosehr aussen wie innen, d. h. ebensosehr
als seine eigene Lebenskraft, wie als „Medizin“ in seinem Amulett
oder als Einfluss von seinem Häuptling ausgehend. Dies ist die erste
nachweisbare Vorstellung einer alles durchdringenden und erfüllenden
geistigen Kraft. Psychologisch ist die Kraft des Fetisch oder das
Prestige des Medizinmannes eine unbewusste subjektive Bewertung dieser
Objekte. Es handelt sich also im Grunde genommen um Libido, die sich
im Unbewussten des Subjektes befindet und die am Objekt wahrgenommen
wird, weil alles aktivierte Unbewusste projiziert erscheint. Die
in der mittelalterlichen Mystik auftretende Relativität Gottes ist
demnach ein Rückgriff auf den primitiven Tatbestand. Die verwandten
östlichen Vorstellungen vom individuellen und überindividuellen Atman
dagegen sind keine Regressionen auf Primitives, sondern eine dem
Wesen des Ostens entsprechende konstante Weiterentwicklung aus dem
Primitiven heraus unter Beibehaltung der schon im Primitiven deutlich
hervortretenden Prinzipien. Der Rückgriff auf Primitives ist insofern
nicht erstaunlich, als jede wirklich lebendige Religionsform die eine
oder andere primitive Tendenz kultisch oder ethisch organisiert, woraus
ihr eben die geheimnisvollen Triebkräfte zufliessen, welche jene
Vollendung des menschlichen Wesens im religiösen Prozess erzeugen.[203]
Dieser Rückgriff auf, oder wie im Indischen, der ununterbrochene
Zusammenhang mit dem Primitiven ist eine Berührung der mütterlichen
Erde, des Ursprungs aller Kraft. Im Sinne jeder zu rationaler oder
ethischer Höhe differenzierten Anschauung sind diese Triebkräfte
„unreiner“ Natur. Das Leben selber aber fliesst zugleich aus klaren
und aus trüben Quellen. Daher es auch jeder zu grossen „Reinlichkeit“
an Leben mangelt. Jede Erneuerung des Lebens geht durch das Trübe
und schreitet fort zur Klarheit. Je grösser aber die Klärung und
Differenzierung, desto geringer wird die Lebensintensität, eben wegen
des Ausschlusses der trübenden Substanzen. Der Entwicklungsprozess
bedarf sowohl der Klärung als der Trübung. Das hat der grosse
Relativist, der _Meister Eckehart_ war, wohl eingesehen als er sagte:
„Dar umbe lîdet got gerne den schaden der sünden unde hât dicke
gelitten und aller dickest verhenget über die menschen, die er hat
versehen, daz er sie ze grôzen dingen ziehen welle. Nim war! Wer was
unserm herren ie lieber unde heimlicher denne die aposteln wâren? Der
beleip nie keiner, er viele in tôtsünden, alle wâren sie tôtsünder
gewesen. Daz hât er in der alten unde niuwen ê dicke bewîset von den,
die ime verre die liebsten darnâch mâles wurden, und ouch noch erfraget
man selten, daz die liute koment ze grôzen dingen, sie sîen ze dem
êrsten _etwaz vertreten_.“[204]

Einerseits um seines psychologischen Scharfblickes willen, andererseits
wegen der Höhe seines religiösen Fühlens und Denkens ist Meister
Eckehart der glänzendste Vertreter jener kritischen Strömung in der
Kirche des ausgehenden XIII. Jahrhunderts. Ich möchte daher von ihm
eine Reihe von Aussprüchen zitieren, welche seine relativistische
Gottesauffassung beleuchten:

1. „Denn der Mensch ist wahrlich Gott und Gott wahrlich Mensch.“[205]

2. „Wem dagegen Gott nicht solch innerer Besitz ist, _sondern sich
allen Gott von draussen holen muss_ in diesem oder dem, wo er ihn
dann auf unzulängliche Weise sucht, mittels bestimmter Werke, Leute
oder Örter: so hat man ihn eben nicht, und da kommt dann leicht etwas,
was einen stört. Und zwar stört einen dann nicht bloss schlechte
Gesellschaft, sondern auch die gute, nicht bloss die Strasse, sondern
auch die Kirche, nicht bloss böse Worte und Werke, sondern gute genau
so. Denn das Hindernis liegt in ihm: Gott ist in ihm noch nicht zur
Welt geworden. Wär’ er ihm das, so fühlte er sich allerorten und bei
allen Leuten gar wohl und geborgen: immer hätt’ er Gott,“ etc.[206]

Diese Stelle ist von besonderm psychologischem Interesse; sie
zeigt nämlich ein Stück der primitiven Gottesauffassung, wie wir
sie oben skizziert haben. „Sich allen Gott von draussen holen“,
ist gleichbedeutend mit der primitiven Ansicht, dass man sich den
„tondi“[207] von aussen verschaffen könne. Es mag allerdings bei
Eckehart sich schon eher um eine Redefigur handeln, um eine Figur, die
den Ursinn deutlich durchschimmern lässt. Jedenfalls ist es deutlich,
dass Eckehart hier Gott als einen psychologischen Wert versteht. Das
sieht man aus dem folgenden Satz: Wer Gott von aussen sich holt, der
wird gestört durch die Objekte. Wer nämlich den Gott aussen hat, der
hat ihn notwendigerweise projiziert im Objekt, wodurch das Objekt
einen Überwert erhält. Wo dies aber der Fall ist, da hat das Objekt
auch einen übermässigen Einfluss auf das Subjekt und hält es in einer
gewissen sklavischen Abhängigkeit. Eckehart meint offenbar diese
wohlbekannte Gebundenheit ans Objekt, welche die Welt in der Rolle
Gottes, d. h. als absolut bedingende Grösse erscheinen lässt. Daher
sagt er darauf, dass einem solchen „Gott noch nicht zur Welt geworden
sei“, weil ihm die Welt die Stelle Gottes vertrat. Ein solcher hat also
den Überwert nicht vom Objekt abgelöst und introvertiert, sodass er
diesen Wert in sich selber besässe. Besässe er ihn aber in sich selber,
so hätte er Gott (eben diesen Wert) stets als Objekt, als Welt, und
so wäre ihm Gott zur Welt geworden. Im gleichen Stück sagt Eckehart:
„Wem recht zu Mut ist, dem passt es allerorten und bei allen Leuten;
wem aber unrecht, dem ist’s allerorten und bei allen Leuten nicht
recht. Ein Rechtgemuter nämlich, der hat Gott bei sich.“ Einer, der
diesen Wert bei sich hat, der ist guten Mutes überall, er ist nicht
abhängig von den Objekten, d. h. er ist nicht bedürftig und hofft das
vom Objekt, was ihm fehlt. Aus diesen Überlegungen dürfte zur Genüge
hervorgehen, dass Gott bei _Eckehart_ ein psychologischer, genauer
gesagt, _psychodynamischer Zustand_ ist.

3. „Zum andern Male verstehen sie unter dem Gottesreich die _Seele_.
Denn die _Seele ist gleich beschaffen mit der Gottheit_. Alles somit,
was hier gesagt ist vom Gottesreich, wiefern Gott selber dieses Reich
ist, dasselbe lässt sich in Wahrheit auch sagen von der Seele. _Alles
ist durch ihn geworden_, fährt Sankt Johannes fort. _Von der Seele ist
das zu verstehen, denn die Seele ist das All._ Sie ist es, indem sie
ein Bild Gottes ist. Als solches ist sie aber auch das Reich Gottes. --
Dermassen, sagt ein Meister, ist Gott in der Seele, dass sein ganzes
Gottsein auf ihr beruht. Es ist ein höherer Stand, dass Gott in der
Seele ist, denn dass die Seele in Gott ist: dass sie in Gott ist,
davon ist sie noch nicht selig, wohl aber davon, dass Gott in ihr ist.
Verlasst euch darauf: _Gott ist selber selig in der Seele!_“

Die Seele, dieser vieldeutige und vielgedeutete Begriff, entspricht
historisch genommen einem psychologischen Inhalt, dem eine gewisse
Selbständigkeit innerhalb der Bewusstseinsgrenzen zukommen muss.
Denn, wenn dies nicht der Fall wäre, so wäre man nie auf den Gedanken
gekommen, der Seele ein selbständiges Wesen zuzuschreiben, wie
wenn sie ein objektiv wahrnehmbares Ding wäre. Sie muss ein Inhalt
sein, dem Spontaneität zukommt und damit notwendigerweise auch
partielle Unbewusstheit, wie jedem autonomen Komplex. Der Primitive
hat bekanntlich in der Regel mehrere Seelen, d. h. mehrere autonome
Komplexe von hoher Selbständigkeit, sodass sie als gesonderte Wesen
imponieren (ähnlich bei gewissen Geisteskranken!). Auf höherer Stufe
vermindert sich die Seelenzahl, bis auf der höchsten bisher erreichten
Kulturstufe die Seele ganz in die Bewusstheit aller psychischen
Vorgänge sich auflöst und damit nur noch als Terminus für die
Gesamtheit der psychischen Vorgänge ihr Dasein weiterfristet. Diese
Aufzehrung der Seele ist nicht nur ein Zeichen westlicher, sondern
auch östlicher Kultur. Im Buddhismus löst sich alles in Bewusstheit
auf, sogar die Samskaras, die unbewussten Bildekräfte, müssen durch
die religiöse Selbstentwicklung erreicht und umgewandelt werden. Mit
dieser ganz allgemeinen historischen Entwicklung des Seelenbegriffes
steht die Auffassung der analytischen Psychologie im Widerspruch,
indem sie einen Seelenbegriff hat, der sich mit der Gesamtheit der
psychischen Funktionen nicht deckt. Wir definieren nämlich die Seele
einerseits als Beziehung zum Unbewussten, andererseits aber auch als
eine Personifikation der unbewussten Inhalte. Vom Kulturstandpunkt
aus ist es sozusagen beklagenswert, dass es noch Personifikationen
unbewusster Inhalte gibt, wie es vom Standpunkt einer gebildeten
und differenzierten Bewusstheit bedauerlich ist, dass es noch
unbewusste Inhalte gibt. Aber da sich die analytische Psychologie
mit dem wirklichen Menschen beschäftigt und nicht mit dem Menschen,
wie er nach gewissen Ansichten sein sollte, so ergibt es sich eben,
dass diejenigen Phänomene, welche schon die Primitiven veranlassen
von „Seelen“ zu reden, immer noch vorkommen, so gut als bei einem
europäischen Kulturvolk es noch Unzählige gibt, die an Gespenster
glauben. Wenn wir nun schon die Lehre von der „Einheit des Ich“
aufstellen, wonach es keine selbständigen Komplexe geben kann, so
kümmert sich eben die Natur um dergleichen intelligente Theorien nicht
im Geringsten. Wie die „Seele“ eine Personifikation unbewusster Inhalte
ist, so ist, wie wir schon definiert haben, auch Gott ein unbewusster
Inhalt, eine Personifikation, insofern er als persönlich gedacht
ist, ein Bild oder Ausdruck, insofern er bloss oder hauptsächlich
dynamisch gedacht ist, also im wesentlichen dasselbe wie die Seele,
insofern sie als Personifikation eines unbewussten Inhaltes gedacht
wird. Meister Eckeharts Auffassung ist daher rein psychologisch.
Solange die Seele, wie er sagt, nur in Gott ist, ist sie nicht selig.
Wenn man unter „Seligkeit“ einen besonders gesunden und erhöhten
Lebenszustand versteht, so kann also dieser Zustand nach Eckehart
nicht vorhanden sein, solange die als Gott bezeichnete Dynamis, die
Libido, in den Objekten verborgen ist. Denn solange der Hauptwert
oder Gott, nach Eckehart, nicht in der Seele ist, so ist die Kraft
aussen, also in den Objekten. Gott, d. h. der Hauptwert, muss aus den
Objekten zurückgezogen werden, dadurch kommt Gott in die Seele, was ein
„höherer Stand“ ist und für Gott „Seligkeit“ bedeutet. Psychologisch
heisst das: Wenn die Gottes-Libido, d. h. der projizierte Überwert
als Projektion erkannt[208] wird, sodass durch die Erkenntnis die
Objekte an Bedeutung verlieren, dann wird dieser als zum Individuum
gehörig gerechnet, und damit entsteht ein erhöhtes Lebensgefühl, d. h.
ein neues Gefälle. Der Gott, d. h. die höchste Lebensintensität,
befindet sich dann in der Seele, im Unbewussten. Dies ist aber nicht so
zu verstehen, als ob dann Gott gänzlich unbewusst wäre, in dem Sinne,
dass auch seine Idee dem Bewusstsein entschwände. Es ist vielmehr so,
dass der Hauptwert anders gelagert wird und sich dann innen und nicht
aussen befindet. Nicht die Objekte sind dann die autonomen Faktoren,
sondern Gott ist zu einem autonomen psychologischen Komplex geworden.
Ein autonomer Komplex aber ist immer nur zum Teil _bewusst_, da er nur
bedingt sich dem Ich associiert, d. h. niemals so, dass das Ich ihn
ganz umfassen könnte, denn dann wäre er nicht mehr autonom.

Darum ist von diesem Augenblick an nicht mehr das überwertige Objekt
determinierend, sondern das Unbewusste. Aus dem Unbewussten kommen dann
die bedingenden Einflüsse, d. h. man fühlt und weiss sie dann als aus
dem Unbewussten kommend, wodurch „eine Einheit des Wesens“ (Eckehart)
entsteht, eine Beziehung zwischen Bewusstem und Unbewusstem, bei der
allerdings das Unbewusste an Bedeutung überwiegt. Wir müssen uns nun
fragen, woher diese Seligkeit oder Liebeswonne (ânanda, wie die Inder
den Brahmanzustand nennen) rühre.[209] Der höhere Wert liegt in diesem
Zustand beim Unbewussten. Es ist also ein Gefälle zum Bewusstsein
vorhanden, was sagen will, dass das Unbewusste als determinierende
Grösse auftritt, woneben das Ich des Wirklichkeitsbewusstseins fast
verschwindet. Dieser Zustand hat einerseits grösste Ähnlichkeit mit
dem des _Kindes_, andererseits mit dem des _Primitiven_, der
ebenfalls in hohem Masse vom Unbewussten beeinflusst ist. Man könnte
überzeugend sagen, dass die Herstellung des frühern paradiesischen
Zustandes die Ursache dieser Seligkeit sei. Es bleibt aber noch zu
verstehen, warum denn dieser Anfangszustand so besonders wonnevoll
ist. Dieses selige Gefühl begleitet alle jene Momente, die durch das
Gefühl strömenden Lebens gekennzeichnet sind, also Augenblicke oder
Zustände, wo Aufgestautes widerstandslos abfliessen konnte, wo es nicht
nötig war, mit bewusster Anstrengung dieses oder jenes zu tun, um
einen Weg zu finden oder um eine Wirkung zu Stande zu bringen. Es sind
Situationen oder Stimmungen, „wo es von selbst geht“, wo es nicht nötig
ist, irgendwelche Bedingungen mühsam herzustellen, welche Freude oder
Lust zu erregen versprechen. Für diese Freude, die unbekümmert um das
Aussen, allerwärmend aus dem Innern strömt, ist die Zeit der Kindheit
das unvergessliche Zeichen. Die „Kindschaft“ ist daher ein Symbol für
die eigentümliche innere Bedingung, unter der die „Seligkeit“ eintritt.
Gleichsam wie ein Kind sein heisst: einen Vorrat aufgestauter Libido
besitzen, der sich noch verströmen kann. Dem Kinde strömt die Libido
in die Dinge, so erwirbt es sich die Welt, und allmählich verliert es
sich auch so an die Welt, wie die religiöse Sprache sagt, indem die
Dinge allmählich überwertig werden. Dann kommt die Abhängigkeit von
den Dingen. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit des Opfers, d. h. der
Zurückziehung der Libido, der Abschneidung der Bindungen. Auf diese
Weise versucht es die intuitive Doctrin des religiösen Systems, die
Energie wieder zu sammeln, sie selber stellt diesen Sammlungsprozess
dar in ihren Symbolen. Der Überwert des Objektes ergibt gegenüber dem
Minderwert des Subjektes ein rückläufiges Gefälle, weshalb die Libido
ganz naturgemäss zurück zum Subjekt strömen würde, wenn nicht die
hindernden Mächte des Bewusstseins wären. Beim Primitiven sehen wir
überall naturgemäss Religionsübung, weil er ohne Schwierigkeit dem
Trieb bald in dieser, bald in jener Richtung nachgehen kann. Durch
die Religionsübung schafft er sich wieder die nötige magische Kraft,
oder er holt sich die über Nacht verlorene Seele wieder zurück. Der
Richtpunkt der grossen Religionen ist „nicht von dieser Welt“; damit
ist die auf das Innere des Subjektes, d. h. auf sein Unbewusstes
gerichtete Bewegung der Libido gegeben. Die allgemeine Zurückziehung
und Introversion der Libido erzeugt dort eine Libidokonzentration,
welche als „Kostbarkeit“ symbolisiert wird, in den Gleichnisreden als
„köstliche Perle“, als „Schatz im Acker“. Letzteres Gleichnis benützt
auch Eckehart und deutet es folgendermassen: „Das Reich der Himmel
ist gleich einem Schatz, der in einem Acker verborgen ist, spricht
Christus. Dieser Acker ist die Seele -- in der verborgen liegt der
Schatz des Gottesreichs. Darum ist Gott und alle Kreatur selig in der
Seele.“[210] Diese Deutung kommt überein mit unserer psychologischen
Überlegung. Die Seele ist die Personifikation des Unbewussten. Im
Unbewussten liegt der Schatz, d. h. die in der Introversion versenkte
oder versunkene Libido. Dieser Libidobetrag wird als „Gottesreich“
bezeichnet. Das Gottesreich bedeutet eine beständige Einigkeit oder
Vereinigung mit Gott, ein Leben in seinem Reiche, d. h. also in dem
Zustande, wo ein überwiegender Libidobetrag im Unbewussten liegt und
von dort aus das bewusste Leben determiniert. Die im Unbewussten
konzentrierte Libido kommt vom Objekte, von der Welt, deren frühere
Übermacht sie bedingte. Damals war Gott „Aussen“ gewesen, jetzt
wirkt er von „Innen“ als verborgener Schatz, der als „Gottesreich“
aufgefasst wird. Offenbar ist damit ausgedrückt, dass die in der Seele
angesammelte Libido eine Beziehung zu Gott (Gottesreich) darstelle.
Wenn nun Meister Eckehart zum Schlusse kommt, die Seele sei das
Gottesreich selber, so ist sie als Beziehung zu Gott gedacht, und Gott
wäre die in ihr wirkende und von ihr wahrgenommene Kraft. Eckehart
nennt die Seele auch das _Bild Gottes_. Die ethnologischen und
historischen Auffassungen der Seele lassen deutlich erkennen, dass sie
einerseits ein Inhalt ist, der zum Subjekt gehört, andererseits aber
auch zur Geisterwelt, d. h. zum Unbewussten. Darum hat auch die Seele
immer etwas Irdisches und etwas Geisterhaftes an sich. Dasselbe ist
auch mit der magischen Kraft, der Gotteskraft, beim Primitiven der
Fall, während die Auffassung höherer Kulturstufen den Gott vom Menschen
klar trennt und ihn schliesslich zu den Höhen reinster Idealität
erhebt. Die Seele aber verliert nie ihre Mittelstellung. Sie muss
daher als eine Funktion angesprochen werden zwischen dem bewussten
Subjekt und den dem Subjekt unzugänglichen Tiefen des Unbewussten.
Die aus diesen Tiefen wirkende determinierende Kraft (Gott) wird
durch die Seele abgebildet, d. h. sie schafft Symbole, Bilder, und
ist selbst nur Bild. In diesen Bildern überträgt sie die Kräfte des
Unbewussten ans Bewusstsein. Sie ist auf diese Weise Gefäss und
Überleiterin, ein Wahrnehmungsorgan für unbewusste Inhalte. Was sie
wahrnimmt, sind Symbole. Symbole aber sind geformte Energien, Kräfte,
d. h. determinierende Ideen, die einen ebenso grossen geistigen, wie
affektiven Wert haben. Wenn, wie Eckehart sagt, die Seele in Gott ist,
so ist sie noch nicht selig, d. h. wenn diese Wahrnehmungsfunktion
ganz von der Dynamis überflutet ist, so ist dies kein glücklicher
Zustand. Wenn dagegen Gott in der Seele ist, d. h. wenn die Seele, die
Wahrnehmung, das Unbewusste auffasst und sich zum Bilde und Symbol
davon gestaltet, so ist dies ein glücklicher Zustand. Wir merken: der
glückliche Zustand ist ein _schöpferischer Zustand_.

4. So spricht der Meister Eckehart das schöne Wort: „Wenn man mich
fragt: „Warum beten wir, warum fasten wir, warum tun wir alle guten
Werke, warum sind wir getauft, warum ist Gott Mensch geworden?“ -- ich
antworte: Darum, damit Gott in der Seele geboren werde und die Seele
wiederum in Gott. Darum ist die ganze Schrift geschrieben. Darum hat
Gott die ganze Welt geschaffen: damit Gott in der Seele geboren werde
und die Seele wiederum in Gott. _Alles Kornes innerste Natur meinet
Weizen, und alles Metall Gold, und alle Geburt den Menschen!_“

Hier spricht es Eckehart deutlich aus, dass Gott in einer
unzweifelhaften Abhängigkeit von der Seele steht, und zugleich,
dass die Seele die Geburtstätte Gottes ist. Dieser letztere Satz
ist nach unsern obigen Überlegungen leicht verständlich. Die
Wahrnehmungsfunktion (Seele) erfasst die Inhalte des Unbewussten
und als schöpferische Funktion gebiert sie die Dynamis in
symbolischer Form.[211] Was die Seele gebiert, sind, psychologisch
genommen, Bilder, von denen die allgemeine rationale Voraussetzung
annimmt, dass sie wertlos seien. Solche Bilder sind auch in dem
Sinne wertlos, als sie sich nicht unmittelbar mit Erfolg in der
objektiven Welt verwerten lassen. Die nächste Verwendungsmöglichkeit
ist die _künstlerische,_ insofern einer über künstlerische
Ausdrucksfähigkeit verfügt[212], eine zweite Verwendungsmöglichkeit
ist die _philosophische Spekulation_[213], eine dritte die quasi
_religiöse_, welche zur Häresie und Sektengründung führt; eine
vierte Möglichkeit ist die Verwendung der in den Bildern liegenden
Kräfte zur Ausschweifung in jeglicher Form. (Die beiden letztern
Verwendungen haben sich besonders deutlich verkörpert in der
enkratitischen (enthaltsamen, asketischen) und der antitaktischen
(anarchistischen) Richtung der Gnostik. Die Bewusstmachung der Bilder
hat aber indirekt insofern auch einen Wert für die Anpassung an
die Wirklichkeit, als dadurch die Beziehung zur realen Umwelt von
phantastischer Beimischung befreit wird. Ihren Hauptwert aber haben
die Bilder für das subjektive Glück und Wohlbefinden, abgesehen von
Gunst und Ungunst äusserer Bedingungen. Angepasst sein ist gewiss
ein Ideal. Aber nicht immer ist Anpassung möglich, indem es Lagen
gibt, in denen die einzige Anpassung geduldiges Erleiden ist. Diese
Form der passiven Anpassung wird ermöglicht und erleichtert durch die
Entwicklung der Phantasiebilder. Ich sage: „Entwicklung“, weil die
Phantasien zunächst blosser Rohstoff von zweifelhaftem Werte sind.
Sie müssen daher einer Behandlung unterworfen werden, um diejenige
Gestalt zu gewinnen, welche geeignet ist, das Maximum an Förderung
zu gewähren. Diese Behandlung ist eine Frage der Technik, die ich in
diesem Zusammenhang nicht erörtern kann. Ich kann nur soviel erwähnen,
der Klarheit halber, dass es zwei Behandlungsmöglichkeiten gibt: 1.
die reduktive und 2. die synthetische Methode. Erstere Methode führt
alles auf die primitiven Triebe zurück, letztere entwickelt aus dem
gegebenen Material einen Differenzierungsprozess der Persönlichkeit.
Die reduktive und die synthetische Methode ergänzen einander, denn
die Reduktion auf den Trieb führt zur Realität, zur Überbewertung der
Realität und damit zur Notwendigkeit des Opfers. Die synthetische
Methode entwickelt die symbolischen Phantasien, die sich aus der durch
das Opfer introvertierten Libido ergeben. Aus dieser Entwicklung
entsteht eine neue Einstellung der Welt gegenüber, die um ihrer
Differenz willen ein neues Gefälle gewährleistet. Diesen Übergang in
die neue Einstellung habe ich als _transscendente Funktion_
bezeichnet.[214] In der erneuerten Einstellung tritt die vorher ins
Unbewusste versunkene Libido als positive Leistung wieder zu Tage. Sie
entspricht einem wiedergewonnenen sichtbaren Leben. Das heisst das
Symbol der Gottesgeburt. Umgekehrt, wenn die Libido sich vom äussern
Objekt zurückzieht und ins Unbewusste versinkt, dann wird die „Seele in
Gott geboren“. Dieser Zustand ist aber nicht glücklich (wie Eckehart
richtig bemerkt), weil es sich um einen in Hinsicht des Taglebens
negativen Akt, um einen Abstieg zum deus absconditus handelt, welch
letzterer Eigenschaften besitzt, die von denen des am Tage leuchtenden
Gottes sehr verschieden sind.[215]

Eckehart spricht von der Gottesgeburt als von einem öfters sich
wiederholenden Vorgang. Tatsächlich ist nun der Vorgang, von dem
wir hier handeln, ein psychologischer Prozess, der sich unbewusst
fast beständig wiederholt, der uns aber nur in seinen ganz grossen
Schwankungen relativ bewusst wird. Goethes Begriff der Systole und
Diastole hat intuitiv wohl das Richtige getroffen. Es dürfte sich um
einen Rhythmus der Lebenserscheinung, um Schwingungen der Lebenskräfte
handeln, die in der Regel unbewusst ablaufen. Dies dürfte auch der
Grund sein, dass die dafür bereits existierende Terminologie eine
vorwiegend religiöse oder mythologische ist, denn solche Ausdrücke
oder Formeln beziehen sich immer in erster Linie auf unbewusste
psychologische Tatbestände und nicht auf die Mondphasen oder andere
planetare Vorgänge, wie die wissenschaftliche Mythenerklärung öfters
meint. Da es sich um vorwiegend unbewusste Vorgänge handelt, so haben
wir wissenschaftlich auch die grösste Mühe aus der Bildersprache
wenigstens soweit herauszukommen, dass wir das Niveau der Bildersprache
anderer Wissenschaften erreichen. Die Ehrfurcht vor den grossen
natürlichen Geheimnissen, welche die religiöse Sprache in durch Alter,
Bedeutungsschwere und Schönheit geheiligten Symbolen auszudrücken sich
bemüht, wird nicht gekränkt durch die Ausdehnung der Psychologie auf
diese Gebiete, zu denen bisherige Wissenschaft keinen Zugang fand.
Wir schieben die Symbole nur etwas weiter zurück und ziehen ein Stück
ihrer Domäne ans Tageslicht, ohne aber dem Irrtum zu verfallen, wir
hätten damit mehr geschaffen als bloss ein neues Symbol für dasselbe
Rätsel, das allen Zeiten vor uns Rätsel war. Unsere Wissenschaft ist
auch Bildersprache, sie passt aber in praktischer Hinsicht besser als
die alte mythologische Hypothese, die sich mit concreten Vorstellungen
ausdrückte, statt wie wir, mit Begriffen.

5. Die Seele hat „erst mit ihrem Geschöpfsein Gott gemacht, so dass es
den nicht eher gab, als bis die Seele zu etwas Erschaffenem wurde. Ich
habe vor einiger Zeit geäussert: „Dass Gott Gott ist, dessen bin ich
eine Ursache!“ Gott hat sich von der Seele: dass er Gottheit ist, hat
er von sich selber.“[216]

6. „Aber auch Gott wird und vergeht.“[217]

7. „Da alle Kreaturen ihn aussprechen, da wird Gott. Als ich noch
im Grunde und Boden der Gottheit weilte, in ihrem Strome und Quell,
da fragte mich niemand, wohin ich wollte oder was ich täte: da war
niemand, der mich hätte fragen können. Erst indem ich ausströmte,
kündeten alle Kreaturen Gott. -- Und warum reden sie nicht von der
Gottheit? -- Alles, was in der Gottheit ist, ist _Eines,_ und von
dem kann man nichts reden. _Nur Gott tut etwas_; die Gottheit
tut nichts, sie hat nichts zu tun, und umgeschaut darnach hat sie sich
auch nie. Gott und Gottheit sind unterschieden als Tun und Nichtstun.“
-- Wenn ich wieder heim komme in Gott, erbilde ich da nichts mehr in
mir, so ist dieser mein Durchbruch viel herrlicher als mein erster
Hervorgang. Denn ich -- der Eine -- bringe ja alle Kreaturen, _aus
ihrem eigenen in mein Empfinden erhoben_, auf dass in mir auch sie
das Eine werden! Wenn ich dann zurückkomme in den Grund und Boden der
Gottheit, in ihren Strom und Quell, so fragt mich niemand, woher ich
komme, oder wo ich gewesen sei: es hat mich niemand vermisst. -- Das
heisst es: „_Gott vergeht_.“[218]

Wie aus diesen Zitaten hervorgeht, unterscheidet Eckehart zwischen
Gott und Gottheit, wobei Gottheit das sich selbst nicht wissende
und nicht habende All ist, während _Gott als eine Funktion der
Seele_ erscheint, wie letztere als eine Funktion der Gottheit. Die
Gottheit ist offenbar die allverbreitete Schöpfermacht, psychologisch:
der zeugende, schaffende Trieb, der sich selbst nicht weiss und
nicht hat, vergleichbar der _Schopenhauer_schen Konzeption des
_Willens_. Gott aber erscheint als das aus Gottheit und Seele
Gewordene. Die Seele als Kreatur „spricht“ ihn aus. Er ist, insofern
die Seele vom Unbewussten unterschieden ist und insofern sie die Kräfte
und Inhalte des Unbewussten wahrnimmt, und er vergeht, sobald die Seele
in dem „Strom und Quell“ der unbewussten Kraft untertaucht. So sagt
Eckehart an anderer Stelle: „Als ich aus Gott heraustrat, da sprachen
alle Dinge: „Es gibt einen Gott!“ Nun kann mich das nicht selig machen,
denn hierbei fasse ich mich als Kreatur. Aber in dem Durchbruche, da
ich ledig stehen will im Willen Gottes, und ledig auch von diesem
Gotteswillen, und aller seiner Werke, _und Gottes selber_ -- da
bin ich mehr als alle Kreaturen, da bin ich weder Gott noch Kreatur:
ich bin, was ich war und was ich bleiben werde, jetzt und immerdar! Da
erhalte ich einen Ruck, dass er mich emporbringt über alle Engel. In
dem Ruck werd’ ich so reich, dass Gott mir nicht genug sein kann, nach
allem, was er als Gott ist, nach allen seinen göttlichen Werken: denn
ich empfahe in diesem Durchbruche, was ich und Gott gemeinsam sind. Da
bin ich, was ich war, da nehme ich weder ab noch zu, denn ich bin da
ein Unbewegliches, welches alle Dinge bewegt. Hier findet Gott keine
Stätte mehr im Menschen, denn hier hat der Mensch durch seine Armut
wieder errungen, was er ewiglich gewesen ist und immer bleiben wird.
Hier ist Gott in den Geist hineingenommen.“

Das „Hervorgehen“ bedeutet eine Bewusstmachung des unbewussten Inhaltes
und der unbewussten Kraft in der Form einer aus der Seele geborenen
_Idee_. Dieser Akt ist eine bewusste Unterscheidung von der
unbewussten Dynamis, eine Trennung von Ich als Subjekt von Gott (d. h.
der unbewussten Dynamis) als Objekt. Dadurch „wird“ Gott. Wenn diese
Trennung durch den „Durchbruch“, d. h. durch eine „Abscheidung“ des Ich
von der Welt und durch eine Identifikation des Ich mit der treibenden
Dynamis des Unbewussten wieder aufgehoben wird, dann verschwindet
Gott als Objekt und wird zu dem vom Ich nicht mehr unterschiedenen
Subjekt, d. h. das Ich als relativ spätes Differenzierungsprodukt
wird wieder vereinigt mit der mystischen, dynamischen Allbezogenheit
(„participation mystique“ der Primitiven). Dies ist das Eintauchen in
den „Strom und Quell“. Die zahlreichen Analogien mit den Vorstellungen
des Ostens sind ohne weiteres einleuchtend. Berufenere als ich haben
sie in ausführlicher Bearbeitung hervorgehoben. Dieser Parallelismus
ohne direkte Beeinflussung aber beweist, dass Eckehart aus einer Tiefe
des collektiven Geistes denkt, die dem Osten und dem Westen gemeinsam
ist. Dieser gemeinsame Grund, für den keine gemeinsame Geschichte
verantwortlich gemacht werden kann, ist der Urgrund der primitiven
Geistesveranlagung mit seinem primitiven energetischen Gottesbegriff,
wo die treibende Dynamis noch nicht im Kristall der abstrakten
Gottesidee erstarrt ist. Dieser Rückgriff auf ursprüngliche Natur,
diese religiös organisierte Regression zu psychischen Bedingungen der
Vorzeit, ist allen im tiefsten Sinne lebendigen Religionen gemeinsam,
angefangen mit den Rückidentifikationen bei den Totemzeremonien der
Australneger[219] bis zu den Ekstasen christlicher Mystiker unserer
Zeit und unserer Kultur. Durch diesen Rückgriff wird wieder ein
Anfangszustand hergestellt, die Unwahrscheinlichkeit der Identität
mit Gott und vermöge dieser Unwahrscheinlichkeit, die doch zum
eindrucksvollsten Erlebnis geworden ist, ergibt sich ein neues Gefälle;
die Welt wird wieder geschaffen, indem die Einstellung des Menschen zum
Objekt sich erneuert hat.

Es ist eine Pflicht des historischen Gewissens, an dieser Stelle, wo
wir von der Relativität des Gottessymboles sprechen, auch jenes in
seiner Zeit einsamen Mannes zu gedenken, der, wie es ein tragisches
Geschick wollte, zu seiner eigenen Vision kein Verhältnis zu finden
vermochte:

_Angelus Silesius._ Was Meister Eckehart mit grosser Anstrengung
des Denkens und vielfach in schwer verständlicher Sprache sich
auszudrücken bemühte, das spricht _Silesius_ in kurzen, rührend
innigen Versen aus, die aber, gedanklich, dieselbe Relativität Gottes
schildern, die schon Meister Eckehart erfasst hat. Ich setze eine Reihe
dieser Verse her. Sie mögen für sich selbst sprechen:

    1. Ich weiss, dass ohne mich
    Gott nicht ein Nu kann leben,
    Werd’ ich zunicht, er muss
    Von Not den Geist aufgeben.

    2. Gott mag nicht ohne mich
    Ein einzigs Würmlein machen
    Erhalt ich’s nicht mit ihm,
    So muss es stracks zukrachen.

    3. Ich bin so gross als Gott:
    Er ist als ich so klein;
    Er kann nicht über mich
    Ich unter ihm nicht sein!

    4. Gott ist in mir das Feuer,
    Und ich in ihm der Schein:
    Sind wir einander nicht
    Ganz inniglich gemein?

    5. Gott liebt mich über sich:
    Lieb ich ihn über mich,
    So geb ich ihm soviel,
    Als er mir gibt aus sich!

    6. Gott ist mir Gott und Mensch:
    Ich bin ihm Mensch und Gott:
    Ich lösche seinen Durst,
    Und er hilft mir aus Not.

    7. Gott, der bequemt sich uns,
    Er ist uns, was wir wollen:
    Weh uns, wenn wir ihm auch
    Nicht werden, was wir sollen.

    8. Gott ist das, was er ist:
    Ich bin das, was ich bin:
    Doch kennst du Einen wohl,
    So kennst du mich und ihn.

    9. Ich bin nicht ausser Gott,
    Und Gott nicht ausser mir,
    Ich bin sein Glanz und Licht,
    Und er ist meine Zier.

    10. Ich bin die Reb im Sohn,
    Der Vater pflanzt und speist,
    Die Frucht, die aus mir wächst,
    Ist Gott, der heil’ge Geist.

    11. Ich bin Gott’s Kind und Sohn,
    Er wieder ist mein Kind:
    Wie gehet es doch zu,
    Das beide beides sind.

    12. Ich selbst muss Sonne sein,
    Ich muss mit meinen Strahlen
    Das farbenlose Meer
    Der ganzen Gottheit malen.

Es wäre lächerlich, anzunehmen, dass derart kühne Gedanken, wie die des
Meister Eckehart nichts als leere Erfindungen bewusster Spekulation
wären. Solche Gedanken sind immer historisch bedeutsame Phänomene,
welche getragen sind von unbewussten Strömungen in der Collektivpsyche:
Tausende von Andern, Namenlosen, stehen dahinter mit ähnlichen Gedanken
und Gefühlen unter der Schwelle des Bewusstseins, bereit die Tore einer
neuen Zeit zu öffnen. In der Kühnheit dieser Gedanken spricht sich
die Unbekümmertheit und unerschütterliche Sicherheit des unbewussten
Geistes aus, der mit der Konsequenz eines Naturgesetzes eine geistige
Wandlung und Erneuerung herbeiführen wird. Mit der Reformation
erreichte die Strömung allgemein die Oberfläche des Taglebens. Die
Reformation beseitigte in hohem Masse die Kirche als Vermittlerin
des Heiles und stellte wieder die persönliche Beziehung zu Gott
her. Damit war der Gipfel der grössten Objektivation der Gottesidee
überschritten und von da an subjektiviert sich der Gottesbegriff
wieder mehr und mehr. Die Aufsplitterung in Sekten ist logische
Konsequenz dieses Subjektivierungsprozesses. Die äusserste Folge davon
ist der Individualismus, der eine neue Form der „Abgeschiedenheit“
darstellt und dessen unmittelbare Gefahr das Untertauchen in die
unbewusste Dynamis ist. Der Kult der „blonden Bestie“ stammt aus
dieser Entwicklung und noch vieles andere, was unsere Zeit vor andern
Zeiten auszeichnet. Sobald aber dieses Untertauchen in den Trieb
stattfindet, so erhebt sich auf der andern Seite auch immer wieder
der Widerstand gegen das rein Gestaltlose, Chaotische der blossen
Dynamis, das Bedürfnis nach Form und Gesetz. Indem die Seele in den
Strom taucht, muss sie auch das Symbol schaffen, das die Kraft in sich
fasst, festhält und ausdrückt. Diesen Prozess in der Collektivpsyche
fühlen oder ahnen diejenigen Dichter und Künstler, welche hauptsächlich
aus den Wahrnehmungen des Unbewussten, also aus unbewussten Inhalten
schaffen, und deren geistiger Horizont weit genug ist, um die
Hauptprobleme der Zeit, in ihrer äussern Erscheinung wenigstens, zu
fassen.

_Spittelers_ Prometheus setzt an einem psychologischen Wendepunkt
ein: er schildert das Auseinanderfallen der Gegensatzpaare, die früher
noch beisammen waren. Prometheus, der Bildner, der Diener der Seele,
verschwindet aus dem Kreis der Menschen; die menschliche Gesellschaft
selber, seelenloser Moralroutine gehorchend, verfällt dem Behemoth,
den gegensätzlichen, destruktiven Folgen eines überlebten Ideals. Zu
rechter Zeit schafft Pandora (die Seele) im Unbewussten das rettende
Kleinod, das die Menschheit nicht erreicht, weil letztere es nicht
versteht. Die Wendung zum Bessern erfolgt erst durch das Eingreifen der
prometheischen Tendenz, die vermöge der Einsicht und des Verstehens,
erst wenige, dann viele Menschen zur Besinnung bringt. Es kann
natürlich nicht anders sein, als dass dieses Werk seine Wurzeln im
intimen Erleben des Schöpfers hat. Wenn es aber nur in einer poetischen
Elaboration dieser rein persönlichen Erlebnisse bestünde, so würde ihm
die Allgemeingültigkeit und Dauerhaftigkeit in hohem Masse mangeln.
Weil es aber nicht nur Persönliches, sondern in der Hauptsache
collektive Probleme unserer Zeit auch als persönliche erlebt, darstellt
und behandelt, so kommt ihm Allgemeingültigkeit zu. Zugleich musste
es aber auch bei seinem ersten Erscheinen auf die Teilnahmlosigkeit
der Zeitgenossen stossen, denn die Zeitgenossen sind jeweils in der
grossen Mehrzahl dazu berufen, die unmittelbare Gegenwart aufrecht
zu erhalten und zu preisen und auf diese Weise jenen fatalen Ausgang
herbeizuführen, dessen Verwicklung der vorausahnende schöpferische
Geist schon zu lösen versucht hat.


5. Die Natur des vereinigenden Symbols bei Spitteler.

Wir müssen uns nun noch Rechenschaft geben über die wichtige Frage, von
welcher Beschaffenheit das Kleinod und Symbol des erneuerten Lebens
ist, das der Dichter als freude- und erlösungbringend empfindet.
Wir haben bereits eine Reihe von Belegen zusammengestellt, welche
die „göttliche“ Natur, die „Gottheit“ des Kleinodes dartun. Damit
ist deutlich gesagt, dass in diesem Symbole Möglichkeiten zu neuen
energetischen Auslösungen liegen, nämlich zu Befreiungen der unbewusst
gebundenen Libido. Das Symbol sagt immer: gleichsam in dieser Form
ist eine neue Manifestation des Lebens, eine Erlösung aus der
Gebundenheit und dem Lebensüberdruss möglich. Die durch das Symbol aus
dem Unbewussten befreite Libido ist symbolisiert als ein verjüngter,
oder überhaupt als ein neuer Gott, so wie z. B. im Christentum Jahve
eine Wandlung zum liebenden Vater und überhaupt zu einer höhern und
geistigern Moralität vollzog. Das Motiv der Gotteserneuerung[220] ist
allgemein verbreitet und kann deshalb als bekannt vorausgesetzt werden.
Bezüglich der erlösenden Kraft des Kleinods sagt Pandora:

„Sondern sieh, von einem Menschenvolke, hab’ ich einst vernommen, reich
an Schmerzen, wert, dass man sich dess erbarme, darum hab’ ich ein
Geschenk mir ausgedichtet, dass vielleicht, wofern du mir’s gewährst,
damit ich lindere oder tröste, ihre vielen Leiden.“[221] Die Blätter
des geburtbeschützenden Baumes singen: „Denn hier ist Gegenwart, und
hier ist Seligkeit und hier ist Gnade.“[222]

Die Botschaft des „Wunderkindes“, des neuen Symboles, ist Liebe und
Freude, also ein Zustand paradiesischer Art. Diese Botschaft ist
eine Parallele zur Christusgeburt, während die Begrüssung durch
die Sonnengöttin[223] und das Geburtswunder, dass Menschen in der
Entfernung in diesem Augenblick „gut“ und begnadet werden[224],
Attribute der Buddhageburt sind. Aus dem „Gottessegen“ möchte ich
nur die eine bedeutsame Stelle hervorheben: „dass jedem Manne diese
Bilder widerführen, die dereinst als Kind er schaute in der Zukunft
buntem träumerischen Scheine.“[225] Damit ist offenbar gesagt, dass
die Kindheitsphantasien in Erfüllung gehen mögen, d. h. dass jene
Bilder nicht verloren gehen, sondern sich dem reifen Manne wieder nahen
und sich erfüllen sollen. Der alte Kule in _Barlach_: Der tote
Tag[226], sagt: „Wenn ich nachts liege, und die Finsterniskissen mich
drücken, dann drängt sich zuweilen um mich klingendes Licht, sichtbar
meinen Augen und meinen Ohren hörbar. Und da stehen dann die schönen
Gestalten der bessern Zukunft um mein Lager. Noch starr, aber von
herrlicher Schönheit, noch schlafend -- -- _aber wer sie erweckte,
der schüfe der Welt ein besseres Gesicht. Das wäre ein Held, der das
könnte._“ -- „Was für Herzen würden dadurch erst schlagen können!
Ganz andere Herzen, die ganz anders schlagen, als sie jetzt können.“
-- (Von den Bildern.) „Sie stehen in keiner Sonne und werden nirgends
von der Sonne beschienen. _Aber sie wollen und müssen einmal aus der
Nacht._ Das wäre die Kunst, sie an die Sonne zu schaffen, da würden
sie leben.“ Auch Epimetheus sehnt sich nach dem Bilde, dem Kleinod;
er sagt im Gespräch über die Statue des Herakles (des Heroën!): „Dies
ist des Bildes Sinn und mit Verständnis setzt es darein einzig unsern
Ruhm, dass wir Gelegenheit erleben und sie fassen, _dass ein Kleinod
reife über unserm Haupt und dass wir es gewinnen_.“[227] Auch als
das Kleinod, von Epimetheus abgelehnt, den Priestern gebracht wird,
singen diese gerade so, wie Epimetheus vorher das Kleinod ersehnte:
„O komm, o Gott, mit deiner Gnade“, um unmittelbar darauf das ihnen
gebotene Himmelskleinod abzulehnen und zu lästern. Der Beginn des
von den Priestern gesungenen Hymnus ist unschwer zu erkennen als das
protestantische Kirchenlied:

    „Komm, o komm, du _Geist des Lebens_,
    _Wahrer Gott von Ewigkeit!_
    Deine _Kraft_ sei nicht vergebens,
    Sie erfüll uns jederzeit:
    So wird _Geist und Licht und Schein_
    In dem dunklen Herzen sein.

    O du _Geist der Kraft und Stärke_,
    Du gewisser _neuer Geist_,
    Fördre in uns deine Werke“, etc.

Dieser Hymnus geht durchaus parallel mit unsern vorangegangenen
Ausführungen. Dass dieselben Priester, die dieses Lied singen, den
neuen Lebensgeist, das neue Symbol verwerfen, entspricht ganz dem
rationalistischen Wesen epimetheischer Kreaturen. Die Vernunft
sucht die Lösung immer auf dem vernünftigen, konsequenten, logischen
Wege, womit sie in allen mittlern Lagen und Problemen Recht hat,
aber in den grössten und entscheidenden Fragen reicht sie nicht aus.
Sie ist unfähig, das Bild, das Symbol zu erschaffen; das Symbol ist
irrational. Wenn der rationale Weg zur Sackgasse geworden ist, --
was er nach einiger Zeit immer zu werden pflegt -- dann kommt die
Lösung von der Seite, von der man sie nicht erwartet. („Was kann von
Nazareth Gutes kommen?“) Dieses psychologische Gesetz ist z. B. die
Grundlage der messianischen Prophezeiungen. Die Prophezeiungen selbst
sind Projektionen des das künftige Geschehen vorahnenden Unbewussten.
Weil die Lösung irrational ist, so wird das Erscheinen des Erlösers
an eine unmögliche, d. h. irrationale Bedingung geknüpft, also an
die Schwangerschaft der Jungfrau.[228] Diese Prophezeiung ist, wie
viele andere, die etwa lauten, wie: „Macbeth wird keiner Feindesmacht
erliegen, kommt feindlich nicht der Birnams Wald gestiegen, zum
Dunsinan.“

Die Geburt des Erlösers, d. h. die Entstehung des Symbols, findet dort
statt, wo man sie nicht erwartet, und zwar gerade dort, von woher eine
Lösung am allerunwahrscheinlichsten ist. So sagt _Jesaia_ (53,
1): „Aber wer glaubt unserer Predigt? Und wem wird der Arm des Herrn
offenbaret?

Denn er schoss auf vor ihm wie ein Reis und wie eine Wurzel aus dürrem
Erdreich. Er hatte keine Gestalt noch Schöne; wir sahen ihn, aber da
war keine Gestalt, die uns gefallen hätte.

Er war der Allerverachtetste und Unwerteste, voller Schmerzen und
Krankheit. Er war so verachtet, dass man das Angesicht vor ihm verbarg;
darum haben wir ihn nichts geachtet.“

Das Erlösende entsteht nicht nur dort, von woher man nichts erwartet,
sondern es tritt, wie diese Stelle zeigt, auch in einer Gestalt
hervor, an der nichts Schätzenswertes ist für das epimetheische Urteil.
Spitteler hat sich bei der Schilderung der Verwerfung des Symbols wohl
kaum an das biblische Vorbild bewusst angelehnt, sonst würde man es
seinen Worten anmerken. Vielmehr hat er aus derselben Tiefe geschöpft,
aus der Propheten und Schöpfer die lösenden Symbole schaffen.

Die Erscheinung des Erlösers bedeutet eine Vereinigung der Gegensätze:
„Die Wölfe werden bei den Lämmern wohnen, und die Pardel bei den Böcken
liegen. Ein kleiner Knabe wird Kälber und junge Löwen und Mastvieh
miteinander treiben.

Kühe und Bären werden an der Weide gehen, dass ihre Jungen beieinander
liegen, und Löwen werden Stroh essen wie die Ochsen.

Und ein Säugling wird seine Lust haben am Loch der Otter, und ein
Entwöhneter wird seine Hand stecken in die Höhle des Basilisken.“[229]

Die Natur des erlösenden Symboles ist die eines Kindes[230], d. h. die
Kindlichkeit oder Voraussetzungslosigkeit der Einstellung gehört
zum Symbol und dessen Funktion. Diese „kindliche“ Einstellung
bringt es eo ipso mit sich, dass an Stelle der Eigenwilligkeit und
rationalen Absichtlichkeit ein anderes Führungsprinzip tritt, dessen
„Göttlichkeit“ gleichbedeutend ist mit „Übermacht“. Das Führungsprinzip
ist irrationaler Natur, weshalb es in der Hülle des Wunderbaren
erscheint. Diesen Zusammenhang gibt Jesaia sehr schön 9, 5: „Denn uns
ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns gegeben, und die Herrschaft
ist auf seiner Schulter; und er heisst Wunderbar, Rat, Kraft, Held,
Ewig-Vater, Friedefürst.“

Diese Bestimmungen geben die wesentlichen Eigenschaften des lösenden
Symboles, die wir oben bereits festgestellt haben. Das Kriterium der
„göttlichen“ Wirkung ist die unwiderstehliche Kraft des unbewussten
Impulses. Der Held ist immer die mit magischer Kraft ausgerüstete
Figur, die das Unmögliche möglich macht. Das Symbol ist der mittlere
Weg, auf dem sich die Gegensätze einen zu neuer Bewegung, ein
Wasserlauf, der nach langer Dürre Fruchtbarkeit ergiesst: Die Spannung
vor der Lösung wird einer Schwangerschaft verglichen:

„Gleichwie eine Schwangere, wenn sie schier gebären soll, so ist ihr
Angst, schreiet in ihren Schmerzen: so gehet’s uns auch, Herr, vor
deinem Angesicht.

Da sind wir auch schwanger, und ist uns bange, dass wir kaum Odem
holen; doch können wir dem Lande nicht helfen --.

Aber deine Toten werden leben, meine Leichname werden auferstehen.“

Im Akte der Erlösung belebt sich das, was unbelebt, tot war, d. h.
psychologisch: diejenigen Funktionen, die brach lagen und steril,
unbeschäftigt, verdrängt, verachtet, unterschätzt, etc., waren, brechen
plötzlich hervor und fangen an zu leben. Es ist eben gerade die
minderwertige Funktion, welche das Leben, das in der differenzierten
Funktion zu erlöschen drohte, fortsetzt.[231] Dieses Motiv kehrt
im neutestamentlichen Gedanken der ἀποκατάρτασις πάντων, der
Wiederbringung[232], wieder, welche eine hohe Entwicklungsform jenes
allgemein verbreiteten Gedankens des Heldenmythus ist, nach dem der
Held, wenn er aus dem Walfischbauch herauskommt, auch seine Eltern und
all die, die vom Ungeheuer früher verschluckt worden sind, herausführt,
was _Frobenius_ das „Allausschlüpfen“ nennt.[233] Den Zusammenhang
mit dem Heldenmythus wahrt auch Jesaia zwei Verse weiter (27, 1):
„Zu der Zeit wird der Herr heimsuchen mit seinem harten, grossen und
starken Schwert beide, den Leviathan, der eine flüchtige Schlange, und
den Leviathan, der eine gewundene Schlange ist, und _wird den Drachen
im Meer erwürgen_.“

Mit der Geburt des Symbols hört die Regression der Libido ins
Unbewusste auf. Die Regression verwandelt sich in Progression, die
Stauung gerät in Fluss. Dadurch wird die anziehende Macht des Urgrundes
gebrochen. Darum heisst es auch in _Barlachs_ Drama: Der tote Tag:
Kule: „Und da stehen dann die schönen Gestalten der bessern Zukunft um
mein Lager. Noch starr, aber von herrlicher Schönheit, noch schlafend
-- aber wer sie erweckte, der schüfe der Welt ein besseres Gesicht. Das
wäre ein Held, der das könnte.

Mutter: Ein Heldentum in Jammer und Nöten!

Kule: Aber es könnte vielleicht doch einer!

Mutter: _Der sollte vorher seine Mutter begraben._“ --

Das Motiv des „Mutterdrachens“ habe ich früher ausgiebig belegt, sodass
ich mir hier die Wiederholung ersparen kann.[234] Die Entstehung neuen
Lebens und neuer Fruchtbarkeit, da, wo man nichts erwarten konnte,
schildert auch Jesaia 35, 5 ff.: „Alsdann werden der Blinden Augen
aufgetan werden, und der Tauben Ohren werden geöffnet werden.

Alsdann werden die Lahmen löcken wie ein Hirsch, und der Stummen Zunge
wird lobsagen. Denn es werden Wasser in der Wüste hin und wieder
fliessen und Ströme im dürren Lande.

Und wo es zuvor trocken ist gewesen, sollen Teiche stehen; und wo es
dürre gewesen ist, sollen Brunnquellen sein. Da zuvor die Schakale
gelegen haben, soll Gras und Rohr und Schilf stehen.

_Und es wird daselbst eine Bahn sein und ein Weg, welcher der heilige
Weg heissen wird_, dass kein Unreiner darauf gehen darf; und
derselbige wird für sie sein, dass man drauf gehe, dass auch die Thoren
nicht irren mögen.“

Das lösende Symbol ist eine Bahn, ein Weg, auf der sich das Leben
vorwärts bewegen kann, ohne Qual und Zwang.

_Hölderlin_ sagt in „Patmos“:

    „Nah ist
    Und schwer zu fassen der Gott.
    Wo aber Gefahr ist, wächst
    Das Rettende auch.“

Es klingt, wie wenn die Nähe Gottes eine Gefahr wäre, d. h. wie wenn
die Konzentration der Libido im Unbewussten eine Gefahr wäre für das
bewusste Leben. Dem ist nun tatsächlich so: je mehr die Libido im
Unbewussten investiert wird oder, besser gesagt, sich investiert, desto
höher steigt der Einfluss, die Wirkungsmöglichkeit des Unbewussten,
d. h. alle verworfenen, abgelegten, überlebten, ja seit Generationen
gänzlich verlorenen Funktionsmöglichkeiten beleben sich und beginnen
einen wachsenden Einfluss auf das Bewusstsein auszuüben, trotz oft
verzweifelter Gegenwehr der bewussten Einsicht. Das Rettende ist
das Symbol, welches Bewusstes und Unbewusstes in sich fassen und
vereinigen kann. Während die dem Bewusstsein disponible Libido in der
differenzierten Funktion sich allmählich erschöpft und sich immer
langsamer und schwieriger ergänzen lässt, und während die Symptome
des Uneinssein mit sich selber sich häufen, wächst die Gefahr einer
Überschwemmung und Zerstörung durch unbewusste Inhalte, zugleich aber
wächst auch das Symbol, das berufen ist, den Konflikt zu lösen. Das
Symbol aber ist auf’s allerinnigste verbunden mit dem Gefährlichen und
Bedrohenden, sodass es mit ihm entweder verwechselt werden kann, oder
dass es bei seinem Erscheinen eben gerade das Böse und Zerstörende
hervorruft. Jedenfalls ist die Erscheinung des Erlösenden aufs innigste
mit Zerstörung und Verwüstung verknüpft. Wenn das Alte nicht reif
wäre zum Tode, so würde nichts Neues erscheinen, und das Alte könnte
und brauchte nicht ausgerottet zu werden, wenn es dem Neuen nicht
schädlicherweise den Platz versperrte. Dieser natürliche psychologische
Zusammenhang der Gegensätze findet sich bei Jesaia 7, 16 ff. 7, 14
heisst es, dass eine Jungfrau einen Sohn gebären wird, den sie Immanuel
heissen wird. Immanuel heisst bezeichnenderweise „Gott mit uns“, d. h.
Vereinigung mit der latenten Dynamis des Unbewussten, die im lösenden
Symbol gewährleistet ist. Was aber diese Vereinigung zunächst bedeuten
will, zeigen die unmittelbar folgenden Verse:

„Denn ehe der Knabe lernet Böses verwerfen und Gutes erwählen, wird das
Land verödet sein, vor dessen zween Königen dir grauet.“

8, 1: „Und der Herr sprach zu mir: Nimm vor dich eine grosse Tafel und
schreib darauf mit Menschengriffel: _Raubebald, Eilebeute_.“

8, 3: „Und ich ging zu der Prophetin, die ward schwanger und gebar
einen Sohn. Und der Herr sprach zu mir: nenne ihn _Raubebald,
Eilebeute_.

Denn ehe der Knabe rufen kann: Lieber Vater, liebe Mutter! soll die
Macht von Damaskus und die Ausbeute Samarias weggenommen werden durch
den König zu Assyrien.“

8, 6: „Weil dies Volk verachtet das Wasser zu Siloah, das stille gehet
--

Siehe, so wird der Herr über sie kommen lassen starke und viele Wasser
des Stromes, nämlich den König zu Assyrien und alle seine Herrlichkeit,
dass sie über alle ihre Bette fahren und über alle ihre Ufer gehen;

Und werden einreissen in Juda, und schwemmen und überherlaufen, bis
dass sie an den Hals reichen; und werden ihre Flügel ausbreiten, dass
sie dein Land, o Immanuel, füllen, so weit es ist.“

Ich habe schon in meinem Buch über „Wandlungen und Symbole der
Libido“ darauf hingewiesen, dass die Gottesgeburt vom Drachen, von
der Überschwemmungsgefahr, dem Kindsmord bedroht ist. Psychologisch
heisst das: dass die latente Dynamis ausbrechen und das Bewusstsein
überschwemmen kann. Diese Gefahr ist für Jesaia der fremde König,
der ein feindliches, mächtiges Reich regiert. Für Jesaia ist das
Problem natürlich nicht psychologisch, sondern wegen seiner völligen
Projektion concret. Bei Spitteler dagegen ist das Problem schon sehr
psychologisch, deshalb vom concreten Objekt abgelöst, und doch drückt
es sich in ganz ähnlichen Formen aus wie bei Jesaia, obschon wir kaum
eine bewusste Anlehnung vermuten dürfen. Die Geburt des Erlösers ist
gleichbedeutend mit einer grossen Katastrophe, indem nämlich ein neues,
mächtiges Leben da hervorbricht, wo man gar kein Leben und keine Kraft
und keine Entwicklungsmöglichkeit vermutete. Es strömt hervor aus dem
Unbewussten, d. h. aus demjenigen Teil der Psyche, der gewollt und
ungewollt nicht gewusst und deshalb von allen Rationalisten als Nichts
behandelt wird. Aus diesem Nichtgeglaubten und Verworfenen kommt der
neue Kraftzuschuss, die Erneuerung des Lebens. Was heisst aber das
Nichtgeglaubte und Verworfene? Es sind alle diejenigen psychischen
Inhalte, die wegen ihrer Unverträglichkeit mit den bewussten Werten
verdrängt wurden, also das Hässliche, Unmoralische, Unrichtige,
Unzweckmässige, Untaugliche usw. D. h. alles, was dem betreffenden
Individuum einmal so erschienen ist. Die Gefahr besteht nun darin, dass
der Mensch, wegen der Gewalt, mit der diese Dinge wiedererscheinen,
wegen ihres neuen und wunderbaren Glanzes dermassen davon weggerissen
wird, dass er alle frühern Werte darüber verwirft oder vergisst. Was
man früher verachtete, wird jetzt oberstes Prinzip, und was früher
Wahrheit war, heisst jetzt Irrtum. Diese Umkehrung der Werte kommt
einer Zerstörung der bisherigen Lebenswerte gleich, ist also gleich wie
eine Verwüstung des Landes durch Überschwemmung.

So bringt bei Spitteler das Himmelsgeschenk der Pandora dem Lande und
den Menschen Unheil. Wie der Büchse der Pandora in der klassischen
Sage die Krankheiten entströmen, das Land überschwemmen und verheeren,
so entsteht ein ähnliches Unheil durch das Kleinod. Um dies zu
begreifen, müssen wir uns Rechenschaft geben über die Beschaffenheit
dieses Symboles. Die ersten, die das Kleinod finden, sind die Bauern,
wie die Hirten die ersten sind, die den Erlöser begrüssen. Sie
drehen es hin und her in ihren Händen, „bis sie schliesslich ganz
und gar verdummeten, gemäss der fremden, sittenlosen, ungesetzlichen
Erscheinung.“ Als sie es vor den König brachten und dieser es zur
Prüfung dem Gewissen zeigte, damit es ja oder nein dazu sage, da
sprang es erschrocken vom Schrank auf den Boden, und versteckte sich
unter das Bett „unmöglichen Vermutens“. Wie eine flüchtende Krabbe
„giftig glotzend, feindlich sträubend die gewundnen Scheeren“ -- „so
schaute das Gewissen unterm Bett hervor und es geschah, je näher
Epimetheus rückte das Gebild, je weiter zog das andere sich zurück mit
widerwärtigen Gebärden. Und also schweigend hockt es da und auch kein
einz’ges Wort und keine Silbe gab es laut, wie sehr der König immer bat
und flehete und reizte mit verschiedenen Reden.“

Dem Gewissen war das neue Symbol offenbar höchst unsympathisch, weshalb
der König den Bauern riet, das Kleinod zu den Priestern zu tragen.
„Als kaum der Hiphil-Hophal (der Oberpriester) schauete des Bildes
Angesicht, da fing er an sich zu entsetzen und zu ekeln, schrie und
rief, indem er seine Arme schützend kreuzte über seiner Stirne:

„Hinweg mit diesem Hohn, denn etwas _Widergöttliches_ beruht in
ihm und fleischlich ist sein Herz und Frechheit blickt aus seinen
Augen.“

Darauf brachten die Bauern das Kleinod zur Akademie: Die Lehrer der
hohen Schule aber fanden, dass dem Bilde „Gefühl und Seele“ fehle,
„überdies der Ernst, und auch zu allermeist der leitende Gedanke.“

Der Goldschmied schliesslich fand das Kleinod unecht und von gemeinem
Stoff. Auf dem Markt, wo die Bauern das Bild los werden wollten, kam
die Markt-Polizei dazu. Die Hüter des Rechtes riefen beim Anblick des
Bildes: „Wohnt auch ein Herz in eurem Leib und ruhet auch in eurer
Seele ein Gewissen, dass ihr solches wagt und leget also öffentlich vor
Aller Augen diese blosse, unverschämte, geile Nacktheit? --

Und nun so hebt euch eilig weg! und wehe über euch, wofern durch einen
Zufall ihr beschmutzt mit diesem Anblick unsere reinen Kinder samt den
weissen Weibern. --“

Das Symbol ist vom Dichter gekennzeichnet als fremd, sittenlos,
ungesetzlich, der moralischen Empfindung zuwider, dem Gefühl und
unserer Vorstellung des Seelischen widerstreitend, ebenso unserm
Begriffe des Göttlichen, es spricht zur Sinnlichkeit, ist schamlos und
geeignet, die öffentliche Sittlichkeit in hohem Masse durch Erregung
sexueller Phantasien zu gefährden. Diese Attribute bestimmen also
eine Wesenheit, welche besonders mit unsern moralischen Werten sich
im Widerspruch befindet, in zweiter Linie auch mit dem ästhetischen
Werturteil, indem die höhern Gefühlswerte daran mangeln, und die
Abwesenheit des „leitenden Gedankens“ auch auf eine Irrationalität
seines gedanklichen Inhaltes deutet. Das Verdikt „widergöttlich“
liesse sich wohl auch mit „antichristlich“ wiedergeben, indem diese
Geschichte weder im fernen Altertum noch in China lokalisiert ist.
Dieses Symbol ist also gemäss allen Attributen ein Vertreter der
minderwertigen Funktion, also der nicht anerkannten psychischen
Inhalte. Das Bild stellt offenbar -- obschon dies nirgends gesagt ist
-- eine nackte menschliche Gestalt dar -- „lebende Gestalt“.

Diese Gestalt drückt die völlige Freiheit aus, so zu sein, wie man
ist, zugleich auch die Pflicht, so zu sein, wie man ist; sie bedeutet
demnach die höchste Möglichkeit ästhetischer wie sittlicher Schönheit,
aber von Natur wegen und nicht in künstlich hergerichteter Idealform,
den Menschen, wie er sein könnte. Ein solches Bild, dem Menschen, wie
er gegenwärtig ist, vor Augen gestellt, kann gar nichts anderes als
das in ihm auslösen, was schlummernd gebunden lag, und nicht mitlebte.
Sollte der Zufall es wollen, dass er erst zur Hälfte zivilisiert, zur
andern Hälfte aber noch ein Barbar ist, so wird durch solchen Anblick
alle Barbarei in ihm aufgeweckt. Der Hass des Menschen konzentriert
sich immer auf das Etwas, das ihm seine schlechten Eigenschaften zum
Bewusstsein bringt. Daher das Schicksal des Kleinods mit dem Augenblick
seines Erscheinens in der Welt auch besiegelt war. Der stumme
Hirtenknabe, der es zuerst fand, wird von den wütenden Bauern halbtot
geprügelt, dann „schmettern“ die Bauern das Kleinod auf die Strasse.
Damit hat das Erlösersymbol seine kurze aber typische Laufbahn geendet.
Die Anlehnung an den christlichen Passionsgedanken ist unverkennbar.
Die Erlösernatur des Kleinodes erhellt auch daraus, dass es bloss alle
Tausend Jahre einmal erscheint; es ist ein seltenes Ereignis, dieses
„Blühen des Schatzes“ und Erscheinen eines Heilandes, eines Saoshyant,
eines Buddha.

Das Ende der Laufbahn des Kleinodes ist geheimnisvoll: es fällt in
die Hand eines wandernden Juden. „Nicht wars ein Jude dieser Welt
und über alle Massen fremd erschien uns seine Kleidung.“[235] Dieser
besondere Jude kann nur _Ahasver_ sein, der den wirklichen
Erlöser nicht annahm und sich hier ein Erlöserbild sozusagen stiehlt.
Die Ahasversage ist eine späte christliche Sage, die als solche
nicht früher als Anfangs des XVII. Jahrhunderts zurückzudatieren
ist.[236] Sie geht psychologisch hervor aus einem Libidobetrag oder
Persönlichkeitsteil, der in der christlichen Einstellung zu Leben und
Welt keine Verwendung findet und deshalb verdrängt wird. Für diesen
Teil waren die Juden von jeher Symbol, daher der mittelalterliche
Verfolgungswahnsinn gegenüber den Juden. Die Idee des Ritualmordes
enthält den Gedanken der Verwerfung des Erlösers in verschärfter Form,
denn man sieht den Splitter im eigenen Auge als Balken im Auge des
Bruders. Der Ritualmordgedanke spielt auch bei Spitteler an, indem
der Jude das vom Himmel geschenkte Wunderkind stiehlt. Dieser Gedanke
ist eine mythologische Projektion der unbewussten Wahrnehmung, dass
die Erlösungswirkung immer wieder vereitelt wird durch die Gegenwart
eines unerlösten Stückes im Unbewussten. Dieses unerlöste, nicht
domestizierte, unerzogene oder barbarische Stück, das man nur an der
Kette halten und noch nicht frei laufen lassen kann, wird projiziert
auf die, die das Christentum nicht angenommen haben, während es in
Wirklichkeit ein Stück in uns ist, das bis jetzt den christlichen
Domestikationsprozess nicht durchlaufen hat. Es besteht eine unbewusste
Wahrnehmung dieses widerstrebenden Stückes, dessen Existenz man
verleugnen möchte -- daher die Projektion. Die Ruhelosigkeit ist ein
concreter Ausdruck der Unerlöstheit. Das unerlöste Stück reisst das
neue Licht, die Energie des neuen Symboles sofort an sich. Damit ist
in anderer Weise dasselbe ausgedrückt, was wir schon oben andeuteten,
als wir von der Wirkung des Symbols auf die allgemeine Psyche sprachen:
das Symbol reizt alle verdrängten und nicht anerkannten Inhalte, wie
z. B. bei den „Hütern des Marktes“; ebenso beim Hiphil-Hophal, der
gemäss seinem unbewussten Widerstand gegen seine eigene Religion
die Widergöttlichkeit und Fleischlichkeit des neuen Symbols sofort
hervorhebt und verstärkt. Der Affekt der Ablehnung entspricht dem
Betrage der verdrängten Libido. Mit der moralischen Umwandlung des
reinen Himmelsgeschenkes in die schwülen Phantasiegespinnste dieser
Köpfe ist der Ritualmord vollzogen. Das Erscheinen des Symbols aber
hat trotzdem gewirkt. Zwar wurde es in seiner reinen Gestalt nicht
angenommen, sondern es wurde von den archaïschen und undifferenzierten
Mächten verschlungen, wobei die bewusste Moralität und Ästhetik noch
kräftig mithalfen. Damit beginnt die Enantiodromie, die Wandlung von
bisherigem Wert in Unwert, von bisher Gutem in Böses.

Das Reich der Guten, dessen König Epimetheus ist, lag seit Alters
in Feindschaft mit dem Reich Behemoths. Der _Behemoth_ und der
_Leviathan_[237] sind die zwei aus dem Buche Hiob bekannten
_Ungetüme Gottes_, die symbolischen Ausdrücke seiner Macht
und Kraft. Als rohe tierische Symbole bezeichnen sie psychologisch
verwandte Kräfte der menschlichen Natur.[238] Darum sagt Jahve: „Siehe
da den Behemoth, den ich neben dir gemacht habe. --

Siehe, seine Kraft ist in seinen Lenden, und sein Vermögen in den
Sehnen seines Bauches. Sein Schwanz strecket sich wie eine Zeder, und
die Sehnen seiner Schenkel sind dicht geflochten[239]: Er ist der
Anfang der Wege Gottes.“

Man muss diese Worte aufmerksam lesen: mit dieser Kraft „beginnen
die Wege Gottes“, nämlich Jahves, des jüdischen Gottes, der im Neuen
Testament diese Form von sich abtut. Er ist dort nicht mehr Naturgott.
Psychologisch will das heissen, dass diese rohe Triebseite der im
Unbewussten aufgestauten Libido in der christlichen Einstellung dauernd
unten gehalten wird; damit wird die eine Gotteshälfte verdrängt, resp.
auf das Schuldkonto des Menschen geschrieben, und in letzter Linie
der Domäne des Teufels zugewiesen. Daher, wenn die unbewusste Kraft
anfängt, emporzuströmen, wenn „die Wege Gottes anfangen“, dann kommt
der Gott in der Gestalt von Behemoth.[240] Man könnte ebenso gut
sagen, dass der Gott sich dann in Teufelsgestalt präsentiere. Diese
moralischen Bewertungen aber sind optische Täuschungen: die Kraft des
Lebens ist jenseits des moralischen Urteils. Meister Eckehart sagt:
„Sage ich also, Gott ist gut: es ist nicht wahr, ich bin gut, Gott ist
nicht gut! Ich gehe noch weiter: ich bin besser als Gott! Denn nur was
gut ist, kann besser, und nur was besser werden kann, kann das Beste
werden. Gott ist nicht gut, darum kann er auch nicht besser, und weil
nicht besser, auch nicht das Beste werden. Fernab von Gott liegen diese
drei Bestimmungen „gut“, „besser“, „das Beste“. Er steht über allem
dem.“[241]

Als nächste Wirkung des erlösenden Symbols ergibt sich die Vereinigung
der Gegensatzpaare: so vereinigt sich das ideale Reich des Epimetheus
mit dem Reiche Behemoths; d. h. das moralische Bewusstsein geht
einen gefährlichen Bund ein mit den unbewussten Inhalten und der
dazugehörigen, mit diesen Inhalten identischen Libido. Nun sind aber
dem Epimetheus die Gotteskinder anvertraut, nämlich jene höchsten
Güter der Menschlichkeit, ohne die ein Mensch nichts anderes ist als
ein Tier. Durch die Vereinigung mit dem eigenen unbewussten Gegensatz
tritt die Gefahr der Verödung, Verwüstung oder Überschwemmung ein,
d. h. die Werte des Bewussten könnten an die energetischen Werte des
Unbewussten verloren gehen. Wäre jenes Bild der natürlichen Schönheit
und Sittlichkeit angenommen und bewahrt worden, und hätte es nicht
bloss vermöge seiner schuldlosen Natürlichkeit als Anreiz für die
schwüle Schmutzigkeit des Hintergrundes unserer „sittlichen“ Kultur
gedient, dann wären die Gotteskinder trotz dem Bund mit Behemoth nicht
gefährdet gewesen, denn Epimetheus hätte dann jederzeit unterscheiden
können zwischen Wert und Unwert. Aber weil das Symbol unserer
Einseitigkeit, unserer rationalistischen Differenziertheit und zugleich
Verkrüppelung als unannehmbar erscheint, so fehlt jeder Masstab für
Wert und Unwert. Wenn die Vereinigung der Gegensatzpaare dann als
höheres Ereignis doch kommt, tritt notwendigerweise die Gefahr der
Überschwemmung und Zerstörung ein, und zwar charakteristischer Weise
dadurch, dass die gefährlichen Gegentendenzen unter dem Deckmantel
der „richtigen Begriffe“ eingeschmuggelt werden. Man kann auch das
Böse und Verderbliche rationalisieren und ästhetisieren. So werden die
Gotteskinder dem Behemoth eines nach dem andern ausgeliefert, d. h.
die bewussten Werte werden gegen reine Triebmässigkeit und Verblödung
eingetauscht. Die vorher unbewussten rohen und barbarischen Tendenzen
verschlingen die bewussten Werte, daher Behemoth und Leviathan einen
_unsichtbaren Walfisch_ (unbewusst) als Symbol ihres Prinzipes
aufstellen, während das entsprechende Symbol des epimetheischen
Reiches der _Vogel_ ist. Der Walfisch, als Bewohner des Meeres,
ist allgemein das Symbol des verschlingenden Unbewussten.[242] Der
Vogel, als Bewohner des hellen Luftreiches, ist ein Symbol des
bewussten Gedankens, oder sogar des Ideals (Flügel!) und des heiligen
Geistes.

Der endgültige Untergang des Guten wird verhindert durch Prometheus’
Dazwischentreten. Er befreit das letzte Gotteskind, den Messias, aus
der Gewalt seiner Feinde. Messias wird der Erbe des Gottesreiches,
während Prometheus und Epimetheus, die Personifikationen der getrennten
Gegensätze, vereint sich in ihr „heimatliches Tal“ zurückziehen.
Beide sind der Herrschaft ledig, Epimetheus, weil er verzichten
musste, Prometheus, weil er gar nicht darnach strebte. Psychologisch
ausgedrückt heisst es: die Introversion und Extraversion hören auf,
als einseitige Richtlinien zu dominieren, dadurch hört auch die
Dissociation der Psyche auf. An ihre Stelle tritt eine neue Funktion,
symbolisch dargestellt durch ein Kind, genannt Messias, das lange
schlafend lag. Der Messias ist der Mittler, das Symbol einer neuen,
die Gegensätze vereinigenden Einstellung. Er ist ein Kind, ein Knabe,
nach dem alten Vorbild des „puer aeternus“, durch seine Jugend die
Wiedergeburt und die Wiederbringung des Verlorenen (Apokatastasis)
andeutend. Was Pandora als Bild zur Erde brachte, was von den
Menschen verworfen wurde und ihnen zum Unheil gereichte, erfüllt
sich im Messias. Dieser Symbolzusammenhang entspricht einer häufigen
Erfahrung in der Praxis der analytischen Psychologie: Wenn in den
Träumen ein Symbol auftritt, so wird es aus all den oben weitläufig
angegebenen Gründen verworfen, und es bewirkt sogar eine Gegenreaktion,
welche der Invasion Behemoths entspricht. Aus diesem Konflikt ergibt
sich eine Vereinfachung der Persönlichkeit auf die seit Anfang des
Lebens vorhandenen individuellen Grundzüge, welche den Zusammenhang
der gereiften Persönlichkeit mit den Energiequellen der Kindheit
gewährleisten. Wie Spitteler zeigt, besteht die grosse Gefahr bei
diesem Übergang darin, dass statt des Symboles die dadurch erregten
archaïschen Triebe rationalistisch aufgenommen und in den hergebrachten
Anschauungsformen untergebracht werden.

Der englische Mystiker, _W. Blake_[243] sagt: „Es gibt
zwei Klassen von Menschen: die _Fruchtbaren_[244] und die
_Verschlingenden_.[245] Religion ist ein Bestreben, die beiden
zu vereinigen.“[246] Mit diesem Wort Blakes, das in so einfacher
Weise Spittelers grundliegende Ideen und meine Ausführungen dazu
zusammenfasst, möchte ich dieses Kapitel beschliessen. Wenn ich ihm
eine ungewöhnliche Ausdehnung gegeben habe, so geschah es, wie bei der
Erörterung der Schillerschen Briefe, um dem Reichtum an Gedanken und
Anregungen, den uns Spittelers „Prometheus und Epimetheus“ bietet,
gerecht zu werden. Ich habe mich soviel wie möglich auf das Wesentliche
beschränkt, indem ich vorsätzlich eine ganze Reihe von Problemen,
die eine vollständige Bearbeitung dieses Stückes behandeln müsste,
übergangen habe.



VI

Das Typenproblem in der Psychiatrie.



VI.

Das Typenproblem in der Psychiatrie.


Wir gelangen nunmehr zu dem Versuch eines Psychiaters, zwei Typen
herauszuheben aus der verwirrenden Mannigfaltigkeit der sog.
_psychopathischen Minderwertigkeiten_. Diese ungemein umfangreiche
Gruppe vereinigt alle psychopathischen Grenzzustände, die nicht
mehr dem Gebiete der eigentlichen Psychosen zuzurechnen sind, also
alle Neurosen und alle Degenerationszustände, wie intellektuelle,
moralische, affektive, und sonstige psychische Minderwertigkeiten.
Dieser Versuch stammt von _Otto Gross_, der unter dem Titel:
„Die zerebrale Sekundärfunktion“, 1902 eine theoretische Studie
veröffentlichte, deren Grundhypothese ihn zur Aufstellung von
zwei psychologischen Typen veranlasst hat.[247] Obschon das ihn
beschäftigende empirische Material dem Gebiete der psychischen
Minderwertigkeit entnommen ist, so hindert doch nichts, die dort
gewonnenen Gesichtspunkte auch auf das weitere Gebiet der normalen
Psychologie zu übertragen, indem nämlich der unbalancierte seelische
Zustand dem Forscher nur eine besonders günstige Gelegenheit gewährt,
gewisse psychische Phänomene in fast übertriebener Deutlichkeit zu
sehen, Phänomene, die innerhalb der normalen Grenzen oft nur undeutlich
wahrzunehmen sind. Der abnorme Zustand wirkt gelegentlich wie ein
Vergrösserungsglas. Gross selber dehnt in seinem Schlusskapitel seine
Folgerungen auch auf weitere Gebiete aus, wie wir unten sehen werden.

Gross versteht unter der „Sekundärfunktion“ einen zerebralen
Zellvorgang, der nach stattgehabter „Primärfunktion“ einsetzt. Die
Primärfunktion entspräche der eigentlichen Leistung der Zelle, nämlich
der Erzeugung eines positiven psychischen Vorganges, sagen wir, einer
Vorstellung. Die Leistung entspricht einem energetischen Vorgange,
nämlich vermutlich der Auslösung einer chemischen Spannung, d. h.
einem chemischen Zerfall. Nach dieser akuten Entladung, welche Gross
als Primärfunktion bezeichnet, setzt die Sekundärfunktion ein, d. h.
eine Restitution, ein Wiederaufbau durch Ernährung. Diese Funktion
wird je nach der Intensität des vorausgegangenen Aufwandes an Energie
kürzere oder längere Zeit in Anspruch nehmen. Die Zelle ist während
dieser Zeit in einem gegenüber vorher veränderten Zustand, in einer Art
Reizzustand, der den weitern psychischen Ablauf nicht unbeeinflusst
lassen kann. Namentlich _hochbetonte, affektvolle_ Vorgänge
dürften einen besondern Energieaufwand, und daher eine besonders
verlängerte Restitutionsperiode oder Sekundärfunktion bedeuten. Die
Wirkung der Sekundärfunktion auf den psychischen Ablauf denkt sich
Gross als eine nachweisbare spezifische Beeinflussung des nachfolgenden
Associationsverlaufes, und zwar im Sinne einer Einschränkung der
Associationsauswahl auf das in der Primärfunktion dargestellte
„Thema“, der sog. „Hauptvorstellung“. Tatsächlich habe ich etwas
später in meinen eigenen experimentellen Arbeiten -- und ebenso
mehrere meiner Schüler in entsprechenden Untersuchungen -- auf die
_Perseverationsphänomene_[248] nach hochbetonten Vorstellungen
hinweisen können, Phänomene, die zahlenmässig nachzuweisen sind. Mein
Schüler _Eberschweiler_ hat in einer sprachlichen Untersuchung
dieses selbe Phänomen in den Assonanzen und Agglutinationen
nachgewiesen.[249] Aus der pathologischen Erfahrung weiss man überdies,
wie häufig gerade bei schweren Gehirnläsionen wie Apoplexien, Tumoren,
atrophischen und sonstigen Entartungszuständen die Perseverationen
sind. Sie sind wohl eben dieser erschwerten Restitution zuzuschreiben.
Die Gross’sche Hypothese hat daher viel Wahrscheinlichkeit für
sich. Es ist nun ganz natürlich, die Frage aufzuwerfen, ob es nicht
Individuen oder sogar Typen gibt, bei denen die Restitutionsperiode,
die Sekundärfunktion, länger dauert als bei andern, und ob nicht daraus
eventuell gewisse eigenartige Psychologien abzuleiten wären. Eine kurze
Sekundärfunktion beeinflusst in einer gegebenen Zeitspanne weit weniger
konsekutive Associationen, als eine lange. Die Primärfunktion kann
daher im erstern Fall viel häufiger stattfinden. Das psychologische
Bild dieses Falles zeigt daher die Eigentümlichkeit einer rasch immer
wieder erneuten Bereitschaft der Aktion und der Reaktion, also eine
Art von _Ablenkbarkeit_, eine Neigung zur Oberflächlichkeit der
Verbindungen, ein Mangel an tiefern, geschlossenem Zusammenhängen, eine
gewisse Inkohärenz, soweit Bedeutsamkeit des Zusammenhanges erwartet
wird. Dagegen drängen sich in der Zeiteinheit viele neue Themata
auf, ohne sich aber irgendwie zu vertiefen, sodass auch Heterogenes
und Verschiedenwertiges à niveau auftritt, wodurch der Eindruck der
sog. „Nivellierung der Vorstellungen“ (_Wernicke_) hervorgerufen
wird. Dieses rasche Aufeinanderfolgen der Primärfunktionen schliesst
eo ipso ein Erleben der Affektwerte der Vorstellungen aus, daher die
Affektivität nicht anders als oberflächlich sein kann. Zugleich sind
dadurch aber auch rasche Anpassungen und Einstellungsänderungen
ermöglicht. Der eigentliche Denkvorgang, oder besser gesagt, die
Abstraktion, leidet natürlich unter der Kürze der Sekundärfunktion,
indem der Vorgang der Abstraktion ein länger andauerndes Verweilen
von mehreren Ausgangsvorstellungen und deren Nachwirkungen verlangt,
also eine längere Sekundärfunktion. Ohne sie kann keine Vertiefung und
Abstraktion einer Vorstellung -- oder Vorstellungsgruppe -- erfolgen.
Die schnellere Wiederherstellung der Primärfunktion bedingt eine
höhere _Reagibilität,_ allerdings nicht in intensivem, sondern
in extensivem Sinne, daher eine prompte Auffassung der unmittelbaren
Gegenwart, aber nur ihrer Oberfläche und nicht ihrer tiefern Bedeutung
nach. Dieser Umstand erweckt den Eindruck der Kritiklosigkeit oder
je nachdem auch den der Vorurteilslosigkeit, des Entgegenkommens und
Verstehens oder gegebenenfalls auch den Eindruck der unverständlichen
Rücksichtslosigkeit, der Taktlosigkeit oder gar der Gewalttätigkeit.
Das zu rasche Hinweggleiten über tiefere Bedeutungen veranlasst den
Eindruck einer gewissen Blindheit für alle nicht an der äussersten
Oberfläche liegenden Dinge. Die rasche Reagibilität erscheint auch
als sog. Geistesgegenwart, Verwegenheit bis Tollkühnheit, die ihre
Voraussetzung in der Kritiklosigkeit, im Nichtrealisieren der Gefahr
hat. Die Raschheit der Aktion täuscht Entschlossenheit vor, ist
aber mehr blinder Impuls. Der Eingriff in fremdes Gebiet erscheint
als selbstverständlich und ist erleichtert durch die Unkenntnis des
Affektwertes der Vorstellung, der Handlung und ihrer Wirkung auf
den Mitmenschen. Durch die rasch wieder erneute Bereitschaft wird
die Verarbeitung der Wahrnehmungen und Erfahrungen gestört, sodass
das _Gedächtnis_ in der Regel erheblich leidet, denn meistens
können nur diejenigen Associationen leicht reproduziert werden,
die massenhafte Verbindungen eingegangen sind. Relativ isolierte
Inhalte versinken rasch, daher es unendlich viel schwerer ist eine
Reihe von sinnlosen (inkohärenten) Worten sich zu merken, als ein
Gedicht. Rasche Entflammbarkeit, Enthusiasmus, der bald erlöscht,
sind weitere Charakteristika, ebenso gewisse Geschmacklosigkeiten,
die durch die allzu rasche Aufeinanderfolge heterogener Inhalte und
durch Nichtrealisierung ihrer zu differenten Affektwerte entstehen.
Das Denken hat repräsentativen Charakter, also mehr die Art des
Vorstellens und des Aneinanderreihens von Inhalten, als den der
Abstraktion und Synthese. Ich bin bei dieser Schilderung des Typus mit
kurzer Sekundärfunktion im wesentlichen Gross gefolgt unter Beifügung
einiger Transskriptionen ins Normale. Gross nennt nämlich diesen Typus:
_Minderwertigkeit mit verflachtem Bewusstsein_. Wenn wir aber die
allzu krassen Züge bis zum Normalen abmildern, so erhalten wir ein
Gesamtbild, in welchem der Leser unschwer den „less emotional type“
_Jordans_ wieder erkennt, also den _Extravertierten_. Gross
gebührt daher das nicht unbeträchtliche Verdienst, der Erste zu sein,
der eine einheitliche und einfache Hypothese für das Zustandekommen
dieses Typus aufgestellt hat.

Den entgegengesetzten Typus bezeichnet Gross als _Minderwertigkeit
mit verengtem Bewusstsein_. Die Sekundärfunktion dieses Typus ist
besonders intensiv und verlängert. Durch ihre Verlängerung wird die
konsekutive Association in höherm Masse beeinflusst als beim oben
erwähnten Typus. Es liegt nahe, in diesem Falle auch eine verstärkte
Primärfunktion anzunehmen, also eine umfangreichere und völligere
Leistung der Zelle als beim Extravertierten. Die verlängerte und
verstärkte Sekundärfunktion wäre die natürliche Folge davon. Die
verlängerte Sekundärfunktion bewirkt ein längeres Haftenbleiben der
von der Ausgangsvorstellung angeregten Wirkung. Dadurch entsteht ein
Effekt, den Gross als „Kontraktivwirkung“ bezeichnet, nämlich eine
besonders (im Sinne der Ausgangsvorstellung) gerichtete Auswahl der
konsekutiven Associationen. Dadurch wird eine umfangreiche Realisierung
oder Vertiefung des „Themas“ erzielt. Die Vorstellung wirkt nachhaltig,
der Eindruck geht tief. Eine ungünstige Folge ist die Einschränkung
auf ein engeres Gebiet, worunter die Mannigfaltigkeit und der Reichtum
des Denkens leiden. Jedoch wird die Synthese wesentlich unterstützt,
da die zusammenzusetzenden Elemente lange genug konstelliert
bleiben, um ihre Abstraktion zu ermöglichen. Des weitern bewirkt
die Einengung auf ein Thema zwar eine Anreicherung an zugehörigen
Associationen und eine feste innere Verknüpfung und Geschlossenheit
eines Vorstellungskomplexes, aber zugleich auch wird dieser Komplex
gegen alles Nichtzugehörige abgeschlossen und gerät dadurch in eine
associative Isolierung, welches Phänomen Gross (in Anlehnung an
_Wernickes_ Begriff) als „Sejunktion“ bezeichnet. Eine Folge der
Sejunktion der Komplexe ist die Anhäufung von Vorstellungsgruppen
(oder Komplexen), die unter sich in keinem oder einem nur lockern
Zusammenhang stehen. Nach aussen zeigt sich dieser Zustand als eine
disharmonische, oder, wie Gross sie nennt, eine _sejunktive_
Persönlichkeit. Die isolierten Komplexe bestehen zunächst ohne
gegenseitige Einwirkung nebeneinander, infolgedessen sie sich auch
nicht gegenseitig ausgleichend und korrigierend durchdringen. Sie sind
zwar in sich selbst streng und logisch geschlossen, aber entbehren des
korrigierenden Einflusses andersgerichteter Komplexe. Es kann daher
leicht vorkommen, dass ein besonders starker und daher auch besonders
abgeschlossener und unbeeinflussbarer Komplex sich zur „überwertigen
Idee“ erhebt, d. h. zu einer Dominante wird, welche jeder Kritik trotzt
und völliger Autonomie geniesst, sodass sie sich zur allbeherrschenden
Grösse, zum „spleen“ aufschwingt.[250] In krankhaften Fällen wird
sie zur Zwangsidee oder zur paranoischen Idee, d. h. zu einer absolut
unerschütterlichen Grösse, welche das ganze Leben des Individuums
in ihren Dienst zwingt. Dadurch wird die ganze Mentalität anders
orientiert, der Standpunkt wird „verrückt“. Aus dieser Auffassung
der Entstehung einer paranoischen Idee könnte auch die Tatsache
erklärt werden, dass in gewissen Anfangszuständen durch geeignete
psychotherapeutische Prozeduren die paranoische Idee auch korrigiert
werden kann, nämlich dann, wenn es gelingt, sie mit andern erweiternden
und daher korrigierenden Vorstellungskomplexen zu verbinden.[251] Es
besteht auch eine unzweifelhafte Behutsamkeit, ja sogar Ängstlichkeit
hinsichtlich der Associierung getrennter Komplexe. Die Dinge müssen
reinlich gesondert bleiben, die Brücken zwischen den Komplexen werden
sozusagen möglichst abgebrochen durch rigorose und rigide Formulierung
des Komplexinhaltes. Gross nennt diese Tendenz „Associationsangst“.
(Psychopath. Minderw. p. 40.) Die strenge innere Geschlossenheit eines
solchen Komplexes erschwert jeden Beeinflussungsversuch von aussen.
Ein solcher Versuch hat nur dann Aussicht auf Erfolg, wenn es ihm
gelingt, entweder die Prämisse oder den Schluss des Komplexes ebenso
streng und logisch, wie sie unter sich verbunden sind, an einen andern
Komplex anzuschliessen. Die Anhäufung von ungenügend verbundenen
Komplexen bewirkt natürlich eine starke Abschliessung nach aussen
und, wie wir sagen würden, eine starke Aufstauung der Libido innen.
Daher findet man regelmässig eine ausserordentliche Konzentration auf
innere Vorgänge, je nach der Art des Menschen entweder auf physische
Sensationen bei einem mehr empfindungsmässig Orientierten oder auf
geistige Vorgänge bei einem mehr Intellektuellen. Die Persönlichkeit
erscheint gehemmt, absorbiert oder zerstreut, „in Gedanken versunken“
oder intellektuell einseitig oder hypochondrisch. Auf jeden Fall findet
sich eine geringe Anteilnahme am äussern Leben und eine deutliche
Neigung zu Menschenscheu und Einsamkeit, die sich oft durch eine
besondere Liebe zu Tieren oder Pflanzen compensiert. Dafür sind die
innern Vorgänge umso reger, weil von Zeit zu Zeit bisher wenig oder
gar nicht verbundene Komplexe plötzlich „zusammenstossen“ und dadurch
wieder Anlass geben zu einer intensiven Primärfunktion, die eine lange,
zwei Komplexe amalgamierende Sekundärfunktion auslöst. Man könnte
meinen, dass auf diese Weise einmal alle Komplexe zusammenstossen
und dadurch eine allgemeine Einheitlichkeit und Geschlossenheit der
psychischen Inhalte erzeugen könnten. Diese heilsame Folge würde
natürlich nur dann eintreten, wenn man unterdessen den Wechsel des
äussern Lebens stillstellen könnte. Weil dies aber nicht möglich ist,
so treffen doch immer wieder neue Reize ein, die Sekundärfunktionen
erzeugen, welche die innern Linien durchkreuzen und verwirren.
Dementsprechend hat dieser Typus die ausgesprochene Tendenz, äussere
Reize fernzuhalten, dem Wechsel aus dem Wege zu gehen, das Leben in
seinem konstanten Flusse womöglich anzuhalten, bis er alle innern
Amalgamierungen vollzogen hat. Wenn es sich um einen Kranken handelt,
so wird er diese Tendenz auch deutlich zeigen, er wird sich möglichst
von allem zurückziehen und ein Einsiedlerleben zu führen suchen.
Er wird aber nur in leichten Fällen auf diese Weise seine Heilung
finden. In allen schwereren Fällen bleibt nichts anderes übrig, als die
Intensität der Primärfunktion herabzusetzen, welche Frage allerdings
ein Kapitel für sich ist, das wir aber doch schon in der Besprechung
der Schillerschen Briefe gestreift haben. Es ist ohne weiteres
klar, dass dieser Typus durch ganz besondere _Affektphänomene_
ausgezeichnet ist. Wie wir sahen, realisiert dieser Typus die der
Ausgangsvorstellung zugehörigen Associationen. Er associiert das dem
Thema zugehörige Material in vollem Masse, d. h. insofern es sich
nicht um bereits an andere Komplexe gebundene Materialien handelt.
Trifft ein Reiz auf solches Material, d. h. auf einen Komplex, so
entsteht entweder eine gewaltige Reaktion, eine affektvolle Explosion
oder gar nichts, wenn die Abgeschlossenheit des Komplexes nichts
hereinlässt. Wenn die Realisierung aber stattfindet, so werden alle
Affektwerte ausgelöst; es findet eine starke affektive Reaktion
statt, welche eine lange Nachwirkung hinterlässt, die sehr häufig
aussen unbemerkt bleibt, sich aber dafür innen umso tiefer einbohrt.
Die Nachschwingungen des Affektes erfüllen das Individuum und machen
es unfähig, neue Reize aufzunehmen, bis der Affekt verklungen ist.
Eine Häufung von Reizen wird unerträglich, weshalb dann heftige
Abwehrreaktionen eintreten. Bei starker Komplexanhäufung entsteht
überhaupt eine chronische Abwehreinstellung, die sich zu Misstrauen,
ja sogar bis zu Verfolgungswahn in pathologischen Fällen steigern
kann. Die plötzlichen Explosionen, abwechselnd mit Schweigsamkeit
und Abwehr, können der Persönlichkeit einen bizarren Anstrich geben,
sodass solche Menschen ihrer Umwelt zum Rätsel werden. Die wegen
innerer Inanspruchnahme verminderte Bereitschaft bewirkt Mangel an
Geistesgegenwart und Schlagfertigkeit. Dadurch entstehen öfters
verlegene Situationen, in denen man sich nicht zu helfen weiss --
wiederum ein Grund mehr, sich von der Gesellschaft zurückzuziehen.
Durch gelegentliche Explosionen wird zudem Verwirrung gestiftet in
den Beziehungen zu andern, und wegen der Verlegenheit und Ratlosigkeit
fühlt man sich ausser Stande, die Beziehungen wieder ins richtige
Geleise zu bringen. Diese Schwerfälligkeit der Anpassung führt zu
einer Reihe schlechter Erfahrungen, die unfehlbar ein Gefühl der
Minderwertigkeit oder Bitterkeit erzeugen, wenn nicht gar Erbitterung,
die sich dann gerne gegen diejenigen richtet, die die wirklichen oder
vermeintlichen Urheber des Unglückes waren. Das affektive Innenleben
ist sehr intensiv, und wegen der vielen nachklingenden Affekte ergibt
sich auch eine äusserst feine Abstufung der Töne und ihrer Wahrnehmung,
also eine besondere emotionale Sensitivität, die sich auch nach aussen
verrät durch eine besondere Scheu und Ängstlichkeit vor emotionalen
Reizen oder allen Situationen, wo solche Eindrücke möglich wären. Die
Empfindlichkeit richtet sich namentlich gegen emotionale Zustände
der Umgebung. Brüske Meinungsäusserungen, affektvolle Behauptungen,
Gefühlsbeeinflussungen und dergl. werden daher von vornherein abgewehrt
-- und zwar aus Angst vor der eigenen Emotion, die wieder einen
nachhallenden Eindruck auslösen könnte, dessen man nicht Herr zu werden
fürchtet. Aus dieser Sensitivität entsteht mit der Zeit leicht eine
gewisse Schwermut, die auf dem Gefühl beruht, vom Leben ausgeschlossen
zu sein. An anderer Stelle[252] hält Gross dafür, dass „Tiefsinn“ ein
besonderes Charakteristikum dieses Typus sei. An derselben Stelle wird
auch hervorgehoben, dass die Realisierung des Affektwertes leicht zur
affektiven Überschätzung führe, zum „Zuwichtig-nehmen“. Das starke
Hervortreten der Innenvorgänge und des Emotionalen in diesem Bilde
lässt leicht den Introvertierten erkennen. Die Beschreibung, die
Gross gibt, ist weit vollständiger als die _Jordan_sche des
„impassioned type“, der aber in seinen Hauptzügen mit dem von Gross
geschilderten Typus identisch sein dürfte.

Im V. Kapitel seiner Schrift bemerkt Gross, dass innerhalb der normalen
Breite die beiden von ihm beschriebenen Minderwertigkeitstypen
_physiologische Individualitätsverschiedenheiten_ darstellen. Das
verflacht-verbreiterte und das verengt-vertiefte Bewusstsein ist also
eine Verschiedenheit des Charakters.[253] Der Typus des verbreiterten
Bewusstseins ist nach Gross vorzugsweise praktisch, wegen der raschen
Anpassung an die Umgebung. Das Innenleben überwiegt nicht, weil es
nicht zur Ausbildung grosser Vorstellungskomplexe kommt. „Sie wirken
energisch propagierend für die eigene Persönlichkeit -- stehen sie
höher, auch für fertig überkommene grosse Ideen.“[254] Gross hält das
Gefühlsleben dieses Typus für primitiv, bei Höherstehenden organisiere
es sich „durch die Übernahme fertiger Ideale von aussen her“. Dadurch
kann die Tätigkeit, resp. das Gefühlsleben (wie Gross sagt) heroisch
werden. „Aber immer ist es banal.“ „Heroisch“ und „banal“ scheinen
nicht zueinander zu passen. Gross zeigt uns aber sofort, was er damit
meint: bei diesem Typus besteht keine genügend reich entwickelte
Verbindung des erotischen Vorstellungskomplexes mit dem übrigen
Bewusstseinsinhalt, d. h. mit den übrigen Komplexen ästhetischer,
ethischer, philosophischer und religiöser Natur. _Freud_ würde
hier von der Verdrängung des erotischen Elementes sprechen. Für Gross
ist das ausgeprägte Vorhandensein dieser Verbindung das „eigentliche
Zeichen der vornehmen Natur“ (p. 61). Für die Ausbildung dieser
Verbindung ist eine verlängerte Sekundärfunktion unerlässlich, denn
nur durch Vertiefung und verlängertes Bewussthalten der Elemente kann
diese Synthese zu Stande kommen. Durch übernommene Ideale kann die
Sexualität zwar in die Bahnen des sozial Nützlichen gedrängt werden,
aber sie „erhebt sich nie über die Grenzen der Trivialität“. Dieses
etwas harte Urteil betrifft einen durch das Wesen des extravertierten
Charakters leicht erklärlichen Tatbestand: der Extravertierte
orientiert sich ausschliesslich an äussern Daten, sodass das
Hauptgewicht seiner psychischen Tätigkeit immer in der Beschäftigung
mit solchen liegt. Es bleibt daher wenig oder nichts übrig für die
Ordnung der innern Angelegenheiten. Sie haben sich von vornherein den
von aussen aufgenommenen Bestimmungen unterzuordnen. Unter diesen
Umständen kann daher auch die Verbindung der höher entwickelten mit den
minder entwickelten Funktionen nicht stattfinden, denn sie verlangt
ein grosses Mass von Zeit und Mühe, eine langwierige und schwierige
Selbsterziehungsarbeit, die ohne Introversion überhaupt nicht geleistet
werden kann. Dafür fehlt dem Extravertierten Zeit und Lust, und zudem
hindert ihn daran dasselbe unverhohlene Misstrauen, mit dem er seine
Innenwelt, und der Introvertierte die Aussenwelt betrachtet. Man darf
nun aber nicht glauben, dass der Introvertierte dank seiner grössern
synthetischen Fähigkeit und seines bessern Vermögens, Affektwerte
zu realisieren, sozusagen ohne weiteres in der Lage wäre, auch
die Synthese seiner Individualität durchzuführen, d. h. zunächst
einmal eine harmonische Verbindung der höhern und niedern Funktionen
herzustellen. Ich ziehe diese Formulierung der Gross’schen Auffassung,
dass es sich bloss um die Sexualität handle, vor, denn m. E. handelt
es sich nicht bloss um die Sexualität, sondern auch um andere Triebe.
Die Sexualität ist allerdings eine sehr häufige Ausdrucksform für
ungebändigte, rohe Triebe, aber ebenso ist auch das Machtstreben in
allen seinen vielfachen Aspekten ein solcher Trieb. Gross hat für den
Introvertierten den Ausdruck „sejunktive Persönlichkeit“ erfunden,
womit er die eigentümliche Schwierigkeit dieses Typus, Komplexe zu
verbinden, hervorhob. Die synthetische Fähigkeit des Introvertierten
dient zunächst bloss dazu, von einander möglichst getrennte Komplexe
zu bilden. Solche Komplexe verhindern aber geradezu die Entwicklung
einer höhern Einheit. So bleibt auch beim Introvertierten der Komplex
der Sexualität oder des egoistischen Machtstrebens oder der Genussucht
isoliert und möglichst scharf geschieden von andern Komplexen. Ich
erinnere mich z. B. eines introvertierten, sehr intellektuellen
Neurotikers, der sich abwechselnd in den hohen Sphären des
transscendentalen Idealismus und in übelberüchtigten Vorstadtbordellen
aufhielt, ohne dass sein Bewusstsein die Existenz eines moralischen
oder ästhetischen Konfliktes zugelassen hätte. Die beiden Dinge wurden,
als gänzlich verschieden, reinlich auseinander gehalten. Das Resultat
war natürlich eine schwere Zwangsneurose.

Wir müssen diese Kritik im Auge behalten, wenn wir den Gross’schen
Ausführungen über den Typus mit vertieftem Bewusstsein folgen.
Das vertiefte Bewusstsein ist, wie Gross sagt, „die Grundlage
der verinnerlichten Individualitäten“. Infolge des starken
Kontraktiveffektes werden äussere Reize immer vom Standpunkt einer
Idee aus gesehen. An Stelle des Triebes zum praktischen Leben in
der sog. Wirklichkeit tritt „der Drang zur Verinnerlichung“. „Die
Dinge werden nicht als Einzelerscheinung aufgefasst, sondern als
Teilbegriffe der grossen Vorstellungskomplexe.“ Diese Auffassung von
Gross stimmt genau überein mit unsern frühern Überlegungen anlässlich
der Erörterung des nominalistischen und realistischen Standpunktes und
seiner Vorstadien in der platonischen, megarensischen und zynischen
Schule. Es ist aus den Gross’schen Auffassungen leicht zu ersehen,
worin der Unterschied zwischen den Standpunkten besteht: der Mensch
mit kurzer Sekundärfunktion hat in der Zeiteinheit viele und nur
locker verbundene Primärfunktionen; er ist also besonders an die
einzelne Erscheinung, an den Individualfall gebunden. Für ihn sind
daher die Universalia nur nomina und entbehren der Wirklichkeit. Für
die Menschen mit verlängerter Sekundärfunktion dagegen stehen immer
die innern Tatbestände, die Abstrakta, Ideen oder Universalia im
Vordergrund, sie sind ihm das eigentlich Wirkliche, worauf er alle
Einzelerscheinungen beziehen _muss_. Er ist daher natürlicherweise
Realist (im Sinne der Scholastik). Da dem Introvertierten immer die
Betrachtungsweise über der Wahrnehmung des Äussern steht, so ist er
geneigt, Realitivist zu sein.[255] Er empfindet als besonders lustvoll
die Harmonie der Umgebung[256]; sie entspricht seinem innern Drange
nach Harmonisierung seiner isolierten Komplexe. Er vermeidet jedes
„ungehemmte Auftreten“, weil es zu störenden Reizen führen könnte. (Die
Fälle von Affektexplosionen müssen ausgenommen werden!) Die soziale
Rücksichtnahme ist gering infolge der Absorption durch innere Vorgänge.
Das starke Vorherrschen der eigenen Ideen verhindert das Übernehmen
fremder Ideen und Ideale. Durch die starke innere Durcharbeitung der
Vorstellungskomplexe erhalten sie ausgesprochenen Individualcharakter.
„Das Gefühlsleben ist häufig sozial unbrauchbar, immer aber
individuell.“[257]

Diese Behauptung des Autors müssen wir einer eingehenden Kritik
unterziehen, denn sie enthält ein Problem, das nach meiner Erfahrung
immer zu den grössten Missverständnissen zwischen den Typen Anlass
gibt. Der introvertierte Intellektuelle, den Gross hier offenbar im
Auge hat, zeigt nach aussen möglichst kein Gefühl, sondern logisch
korrekte Ansichten, und korrektes Handeln, nicht zum mindesten
deshalb, weil er erstens eine natürliche Abneigung gegen zur Schau
getragene Gefühle hat, und weil er zweitens sich scheut, durch
Inkorrektheit störende Reize, d. h. Affekte der Mitmenschen zu wecken.
Er fürchtet unangenehme Affekte bei den andern, weil er dem andern
seine eigene Sensitivität zutraut und immer auch schon durch die
Raschheit und Sprunghaftigkeit des Extravertierten gestört worden ist.
Er verdrängt sein Gefühl, daher es innerlich gelegentlich bis zur
Leidenschaft anschwillt, daher nur zu deutlich von ihm wahrgenommen
wird. Die Emotionen, die ihn quälen, sind ihm wohlbekannt. Er
vergleicht sie mit den Gefühlen, die andere, natürlich in erster Linie
extravertierte Fühltypen ihm zeigen und findet, seine „Gefühle“ seien
ganz anders als die anderer Menschen. Er kommt daher auf die Idee,
seine „Gefühle“ (genauer gesagt: seine Emotionen) seien einzigartig,
d. h. individuell. Es ist natürlich, dass sie verschieden sind von
den Gefühlen des extravertierten Fühltypus, denn diese sind ein
differenziertes Anpassungsinstrument und ermangeln deshalb der „echten
Leidenschaftlichkeit“, welche die innern Gefühle des introvertierten
Denktypus kennzeichnet. Die Leidenschaft als etwas Triebmässiges hat
aber wenig Individuelles an sich, sondern sie ist gegebenenfalls allen
Menschen gemeinsam. Nur das Differenzierte kann individuell sein. Daher
in grossen Affekten sich der Typenunterschied auch sofort verwischt
zu Gunsten des allgemeinen „Allzumenschlichen“. In Wirklichkeit hat
m. E. der extravertierte Fühltypus in erster Linie einen Anspruch auf
Individualität des Gefühls, denn seine Gefühle sind differenziert; er
verfällt aber derselben Täuschung bezüglich seines Denkens. Er hat
Gedanken, die ihn quälen. Er vergleicht sie mit den Gedanken, die
die Umgebung, d. h. in erster Linie die introvertierten Denktypen
aussprechen. Er findet, dass seine Gedanken wenig damit übereinstimmen,
er hält sie daher für individuell und sich selbst vielleicht für einen
originellen Denker oder er verdrängt die Gedanken deshalb überhaupt,
weil ja doch niemand sonst so etwas denke. In Wirklichkeit sind es aber
die Gedanken, die alle Welt hat, die aber selten laut gesagt werden.
Nach meiner Ansicht entspringt also die obige Behauptung von Gross
einer subjektiven Täuschung, die aber zugleich eine allgemeine Regel
ist.

„Die erhöhte Kontraktivkraft ermöglicht das Sichvertiefen in Dinge,
denen kein unmittelbares Vitalinteresse mehr anhaftet.“[258] Damit
trifft Gross einen wesentlichen Zug der introvertierten Mentalität: der
Introvertierte hat eine Neigung, den Gedanken an sich zu entwickeln
ganz abgesehen von aller äussern Wirklichkeit. Hierin liegt ein
Vorzug und eine Gefahr. Es ist ein grosser Vorteil, einen Gedanken
jenseits der Sinnlichkeit abstrakt entwickeln zu können. Die Gefahr
ist aber, dass dadurch der Gedankengang sich von jeder praktischen
Anwendbarkeit entfernt, wodurch sein Lebenswert proportional sinkt.
Der Introvertierte ist daher immer etwas bedroht, zuviel aus dem Leben
hinauszugeraten und die Dinge zuviel unter ihrem symbolischen Aspekt
zu betrachten. Auch diesen Zug hebt Gross hervor. Der Extravertierte
ist aber nicht besser gestellt, nur liegt für ihn die Sache anders. Er
hat die Fähigkeit, seine Sekundärfunktion derart zu verkürzen, dass er
fast lauter positive Primärfunktionen erlebt, d. h. dass er überhaupt
nicht mehr haftet, sondern in einer Art Rausch über die Wirklichkeit
hinausfliegt, die Dinge nicht mehr sieht und realisiert, sondern nur
noch als Stimulantien benützt. Diese Fähigkeit ist ein grosser Vorteil,
denn damit kann man sich über manche schwierige Situation hinaushelfen
(„Verloren bist Du, glaubst Du an Gefahr.“ _Nietzsche_), ein
grosser Nachteil aber, weil sie schliesslich mit einer Katastrophe
endigt, indem sie öfters in ein fast unentwirrbares Chaos hineinführt.

Gross lässt aus dem extravertierten Typus die sog.
_zivilisatorischen_ und aus dem introvertierten Typus die sog.
_kulturellen_ Genies hervorgehen. Erstere Form entspricht dem
„praktischen Durchsetzen“, letztere dem „abstrahierenden Erdenken“.
Gross gibt zum Schlusse seiner Überzeugung Ausdruck, „dass unsere Zeit
besonders des verengt-vertieften Bewusstseins bedürfe im Gegensatz
zu frühern Zeiten, die ein breiteres und flacheres Bewusstsein
hatten.“[259] „Wir freuen uns am Ideellen, am Tiefen, am Symbolischen.
Durch Einfachheit zur Harmonie -- das ist die Kunst der Hochkultur.“

Es war freilich das Jahr 1902, als Gross diese Worte schrieb. Und
jetzt? Wenn man dazu überhaupt eine Meinung äussern darf, so müssten
wir sagen: wir bedürfen offenbar beides, Zivilisation _und_
Kultur, Verkürzung der Sekundärfunktion bei den einen und Verlängerung
bei den andern. Denn wir schaffen nicht das Eine ohne das Andere,
und -- leider müssen wir es uns gestehen -- es fehlt der heutigen
Menschheit an beiden. Was beim einen zuviel ist, ist beim andern
zu wenig, so wollen wir uns vorsichtigerweise ausdrücken. Denn das
beständige Gerede vom Fortschritt ist unglaubwürdig und verdächtig
geworden.

Zusammenfassend möchte ich bemerken, dass die Gross’schen Ansichten
sich weitgehend mit den meinigen decken. Sogar meine Terminologie
-- Extraversion und Introversion -- rechtfertigt sich angesichts
der Gross’schen Auffassung. Es bleibt uns nur noch eine kritische
Beleuchtung der Gross’schen Fundamentalhypothese, des Begriffes der
Sekundärfunktion, vorbehalten.

Es ist immer eine missliche Sache um physiologische oder „organische“
Hypothesen in Bezug auf psychologische Vorgänge. Es herrschte, wie
bekannt, in den Zeiten der grossen Erfolge der Hirnerforschung eine
Art Manie, physiologische Hypothesen für psychologische Vorgänge zu
fabrizieren, worunter die Hypothese, dass im Schlafe die Zellfortsätze
sich zurückzögen, nicht einmal die absurdeste ist, welche ernsthafte
Würdigung und „wissenschaftliche“ Diskussion erfuhren. Man hat mit
Recht von einer förmlichen „Hirnmythologie“ gesprochen. Ich möchte
die Hypothese von Gross aber keineswegs als „Gehirnmythus“ behandeln,
dazu hat sie einen zu grossen Arbeitswert. Sie ist eine vorzügliche
Arbeitshypothese, was auch von anderer Seite schon mehrfach gebührend
anerkannt worden ist. Die Idee der Sekundärfunktion ist ebenso einfach
wie genial. Es lässt sich mit diesem einfachen Begriff eine sehr grosse
Zahl von komplexen Seelenphänomenen auf eine befriedigende Formel
bringen, und zwar Phänomene, deren differente Natur einer einfachen
Reduktion und Klassifikation durch eine andere Hypothese erfolgreich
widerstanden hätten. Bei einer so glücklichen Hypothese ist man immer
in Versuchung, ihre Ausdehnung und Anwendbarkeit zu überschätzen.
Dies dürfte auch hier der Fall sein. Und doch hat diese Hypothese
leider auch nur eine beschränkte Reichweite. Wir wollen ganz absehen
von der Tatsache, dass die Hypothese an sich nur ein Postulat ist,
denn niemand hat die Sekundärfunktion der Gehirnzelle je gesehen
und niemand könnte beweisen, dass und warum die Sekundärfunktion im
Prinzip den qualitativ gleichen Kontraktiveffekt auf die nächsten
Associationen haben sollte wie die Primärfunktion, die doch ihrer
Definition nach von der Sekundärfunktion ganz wesentlich verschieden
ist. Es gibt einen andern Umstand, der m. E. weit schwerer ins
Gewicht fällt: der Habitus der psychologischen Einstellung kann
sich bei einem und demselben Individuum innerhalb kürzester Frist
ändern. Wenn die Dauer der Sekundärfunktion ein physiologischer oder
organischer Charakter ist, dann muss er als mehr oder weniger dauerhaft
angesehen werden. Es ist dann nicht zu erwarten, dass die Dauer der
Sekundärfunktion plötzlich sich ändert, denn solches sehen wir bei
einem physiologischen oder organischen Charakter niemals, pathologische
Veränderungen ausgenommen. Wie ich schon mehrfach hervorhob, sind
Introversion und Extraversion gar keine _Charaktere_, sondern
_Mechanismen_, die sozusagen beliebig ein- oder ausgeschaltet
werden können. Nur aus ihrem habituellen Vorherrschen entwickeln sich
dann die entsprechenden Charaktere. Gewiss beruht die Prädilektion
auf einer gewissen angebornen Disposition, die aber wohl nicht immer
absolut entscheidend ist. Ich habe oft gesehen, dass Milieueinflüsse
fast ebenso wichtig sind. Ich erlebte es sogar einmal, dass jemand,
der in der nächsten Umgebung eines Introvertierten lebte und ein
deutlich extravertiertes Benehmen aufwies, seine Einstellung änderte
und introvertiert wurde, als er später in eine nahe Beziehung zu einer
ausgesprochen extravertierten Persönlichkeit trat. Viele Male habe
ich gesehen, dass gewisse persönliche Einflüsse in kürzester Frist
auch bei einem ausgesprochenen Typus die Dauer der Sekundärfunktion
wesentlich veränderten, und dass ebenso der frühere Zustand sich
wiederherstellt, wenn der fremde Einfluss wegfiel. Mir scheint, man
müsse, solchen Erfahrungen entsprechend, das Interesse mehr der
Beschaffenheit der Primärfunktion zuwenden. Gross selber hebt die
besonders verlängerte Sekundärfunktion nach affektvollen Vorstellungen
hervor[260] und bringt damit die Sekundärfunktion in Abhängigkeit
von der Primärfunktion. Es ist in der Tat gar kein plausibler Grund
vorhanden, warum die Typenlehre auf die Dauer der Sekundärfunktion
gegründet werden sollte, man könnte sie vielleicht ebensowohl auf
die _Intensität der Primärfunktion_ gründen, denn die Dauer
der Sekundärfunktion ist doch offenbar abhängig von der Intensität
der Energieaufwendung, der Leistung der Zelle. Man könnte natürlich
dagegen einwenden, dass die Dauer der Sekundärfunktion abhänge von der
Schnelligkeit der Restitution, und dass es Individuen gäbe mit einer
besonders prompten Hirnernährung gegenüber andern Minderbegünstigten.
In diesem Falle müsste das Gehirn des Extravertierten eine grössere
Restitutionsfähigkeit besitzen, als das des Introvertierten. Zu einer
solchen, sehr unwahrscheinlichen Annahme fehlt jeder Beweisgrund.
Was uns von den wirklichen Gründen der verlängerten Sekundärfunktion
bekannt ist, beschränkt sich auf die Tatsache, dass, abgesehen von
pathologischen Zuständen, die besondere Intensität der Primärfunktion
eine Verlängerung der Sekundärfunktion logischerweise bewirkt. Dieser
Tatsache entsprechend liegt also das eigentliche Problem bei der
Primärfunktion und verdichtet sich zu der Frage, woher es komme, dass
beim Einen die Primärfunktion in der Regel intensiv, beim Andern
aber schwach ist. Wenn wir somit das Problem auf die Primärfunktion
abstellen, dann ergibt sich die Notwendigkeit, zu erklären, woher
die verschiedene Intensität und der tatsächlich vorkommende rasche
Wechsel der Intensität der Primärfunktion stamme. Ich halte
dies für ein energetisches Phänomen, das von einer allgemeinen
_Einstellung_ abhängt. Die Intensität der Primärfunktion
scheint in erster Linie davon abzuhängen, wie gross die Spannung der
Bereitschaft ist. Ist ein grosser Betrag an psychischer Spannung
vorhanden, so wird auch die Primärfunktion besonders intensiv sein
mit entsprechenden Folgen. Wenn mit zunehmender Ermüdung die Spannung
abnimmt, dann tritt Ablenkbarkeit, Oberflächlichkeit der Association,
schliesslich Ideenflucht ein, also der Zustand, der durch schwache
Primärfunktion und kurze Sekundärfunktion gekennzeichnet ist. Die
allgemeine psychische Spannung hängt ihrerseits (abgesehen von
physiologischen Gründen, wie Ausgeruhtsein etc.) von höchst komplexen
Faktoren ab, wie Stimmung, Aufmerksamkeit, Erwartung, etc., d. h.
also von Werturteilen, die ihrerseits wieder Resultanten aus allen
vorangegangenen psychischen Prozessen sind. Ich verstehe darunter
natürlich nicht nur logische Urteile, sondern auch Gefühlsurteile. In
unserer technischen Sprache bezeichnen wir die allgemeine Spannung
_energetisch_ als _Libido_, _bewusstseinspsychologisch_
als _Wert_. Der intensive Vorgang ist „libidobesetzt“ oder eine
Manifestation der Libido, m. a. W. ein hochgespannter energetischer
Ablauf. Der intensive Vorgang ist ein psychologischer _Wert_,
daher die aus ihm hervorgehenden associativen Verknüpfungen als
_wertvolle_ bezeichnet werden, im Gegensatz zu jenen, die bei
geringem Kontraktiveffekt zustande kommen, als welche wir wertlos
oder oberflächlich bezeichnen. Die _gespannte_ Einstellung
ist nun für den Introvertierten durchaus bezeichnend, während die
_entspannte_, leichte Einstellung den Extravertierten verrät[261],
von Ausnahmezuständen abgesehen. Die Ausnahmen aber sind häufig und
zwar bei einem und demselben Individuum. Man gebe dem Introvertierten
das durchaus zusagende harmonische Milieu, so entspannt er sich bis
zur totalen Extraversion, und man glaubt einen Extravertierten vor
sich zu haben. Man versetze aber den Extravertierten in eine stille
Dunkelkammer, wo ihn alle verdrängten Komplexe annagen können, und
er wird in eine Spannung versetzt werden, in der er den leisesten
Reiz bis zum äussersten realisieren wird. So können die wechselnden
Situationen des Lebens ebenfalls wirken und den Typus momentan
umgestalten, wodurch aber die Vorzugseinstellung in der Regel nicht
dauernd verändert wird, d. h. trotz gelegentlicher Extraversion bleibt
der Introvertierte, was er vorher war, und ebenso der Extravertierte.

Ich fasse zusammen: Die Primärfunktion scheint mir wichtiger zu
sein, als die Sekundärfunktion. Die Intensität der Primärfunktion
ist das ausschlaggebende Moment. Sie hängt ab von der allgemeinen
psychischen Spannung, d. h. von dem Betrag angehäufter, disponibler
Libido. Das Moment, das diese Anhäufung bedingt, ist ein komplexer
Tatbestand, der die Resultante aller vorausgegangenen psychischen
Zustände ist. Er lässt sich als Stimmung, Aufmerksamkeit, Affektlage,
Erwartung etc. charakterisieren. Die Introversion ist charakterisiert
durch allgemeine Spannung, intensive Primärfunktion und entsprechend
lange Sekundärfunktion. Die Extraversion ist charakterisiert durch
allgemeine Entspannung, schwache Primärfunktion und entsprechend kurze
Sekundärfunktion.



VII

Das Problem der typischen Einstellungen in der Ästhetik.



VII.

Das Problem der typischen Einstellungen in der Ästhetik.


Es ist gewissermassen selbstverständlich, dass alle Gebiete des
menschlichen Geistes, die sich direkt oder indirekt mit Psychologie
befassen, ihre Beiträge zu der uns hier beschäftigenden Frage
liefern. Nachdem wir die Stimme des Philosophen, des Dichters,
des Arztes und des Menschenkenners vernommen, meldet sich der
Ästhetiker zum Worte. Die Ästhetik ist ihrem ganzen Wesen nach
angewandte Psychologie und beschäftigt sich nicht nur mit dem
ästhetischen Wesen der Dinge, sondern auch -- in vielleicht noch
höherm Masse -- mit der psychologischen Frage der ästhetischen
Einstellung. Ein so fundamentales Phänomen wie der Gegensatz von
Introversion und Extraversion konnte auch dem Ästhetiker auf die
Dauer nicht entgehen, denn die Art und Weise, wie Kunst oder Schönes
empfunden oder angeschaut wird, ist bei verschiedenen Menschen
dermassen verschieden, dass einem dieser Gegensatz auffallen
musste. Abgesehen von vielen, mehr oder weniger einmaligen oder
einzigartigen individuellen Eigentümlichkeiten der Einstellung gibt
es zwei gegensätzliche Grundformen, welche _Worringer_ als
_Einfühlung_ und _Abstraktion_ bezeichnet hat.[262] Seine
Definition der Einfühlung lehnt sich hauptsächlich an _Lipps_ an.
Bei Lipps ist Einfühlung die „Objektivierung meiner in einem von mir
unterschiedenen Gegenstande, gleichgültig ob das Objektivierte den
Namen eines Gefühles verdient oder nicht.“ „Indem ich einen Gegenstand
appercipiere, erlebe ich, als von ihm herkommend, oder in ihm, als
apperzipiertem, liegend, einen Antrieb zu einer bestimmten Weise
des innern Verhaltens. Diese erscheint als durch ihn gegeben, mir
von ihm mitgeteilt.“[263] _Jodl_[264] erklärt folgendermassen:
„Der sinnliche Schein, welchen der Künstler gibt, ist nicht nur
Veranlassung, dass wir uns nach Associationsgesetzen an verwandte
Erlebnisse erinnern, sondern indem er dem allgemeinen Gesetze der
Externalisation[265] unterliegt, und als ein Ausseruns erscheint,
projizieren wir in ihn zugleich die innern Vorgänge hinein, welche er
in uns reproduziert, und geben ihm dadurch _ästhetische Beseelung_
-- ein Ausdruck, welcher dem Ausdruck „Einfühlung“ vorzuziehen sein
dürfte, weil es sich bei dieser Introjektion der eigenen Innenzustände
in das Bild nicht nur um Gefühle, sondern um innere Vorgänge jeder
Art handelt.“ Von _Wundt_ wird die Einfühlung zu den elementaren
_Assimilationsprozessen_ gerechnet.[266] Die Einfühlung ist
also eine Art Wahrnehmungsprozess, der dadurch gekennzeichnet ist,
dass gefühlsmässig ein wesentlicher psychischer Inhalt ins Objekt
verlegt, und das Objekt dadurch introjiziert wird, ein Inhalt, welcher
vermöge seiner Zugehörigkeit zum Subjekt, das Objekt dem Subjekt
assimiliert und dermassen mit dem Subjekt verknüpft, dass sich das
Subjekt sozusagen im Objekt empfindet. Jedoch empfindet sich dabei das
Subjekt nicht als in das Objekt projiziert, sondern das eingefühlte
Objekt erscheint ihm als beseelt und aus sich selbst aussagend. Diese
Eigentümlichkeit rührt daher, dass die Projektion unbewusste Inhalte
in das Objekt überträgt, weshalb die Einfühlung in der analytischen
Psychologie auch als _Übertragung_ (Freud) bezeichnet wird.
_Die Einfühlung ist daher eine Extraversion._ _Worringer_
definiert das ästhetische Erleben in der Einfühlung folgendermassen:
„_Ästhetischer Genuss ist objektivierter Selbstgenuss_.“[267]
Dementsprechend ist nur diejenige Form _schön_, in die man
sich einfühlen kann. _Lipps_[268] sagt: „Nur soweit diese
Einfühlung besteht, sind Formen schön. Ihre Schönheit ist dies mein
ideelles freies Sichausleben in ihnen.“ Die Form, in die man sich
nicht einzufühlen vermag, ist demgemäss _hässlich_. Damit ist
auch die Beschränkung der Einfühlungstheorie gegeben, denn es gibt
Kunstformen, wie _Worringer_ hervorhebt, welche dem Kunstschaffen
der einfühlenden Einstellung nicht entsprechen. Es sind dies namentlich
die orientalischen und exotischen Kunstformen. Aus langer Tradition
hat sich bei uns Okzidentalen das „Naturschöne und das Naturwahre“
als Kriterium des Kunstschönen festgesetzt, denn es ist auch das zum
Wesen des griechisch-römischen und der okzidentalischen Kunst überhaupt
gehörige Kriterium. (Gewisse Stylformen des Mittelalters machen hievon
allerdings eine Ausnahme!) Unsere allgemeine Einstellung zur Kunst
ist eben einfühlend seit Alters und als schön können wir darum nur
bezeichnen, worein wir uns einfühlen können. Ist nun die Kunstform des
Objektes eine lebenswidrige, sozusagen anorganische oder abstrakte,
so können wir nicht unser Leben darein einfühlen, was wir aber immer
tun, wenn wir einfühlen. („Was ich einfühle, ist ganz allgemein
Leben.“ _Lipps_.) Wir können uns nur in organische, naturwahre,
lebenwollende Form einfühlen. Und doch gibt es eine prinzipiell andere
Kunstform, einen lebenswidrigen Styl, der das Lebenwollen verneint,
sich vom Leben unterscheidet und doch einen Anspruch auf Schönheit
erhebt. Wo das Kunstschaffen lebenswidrige, anorganische, abstrakte
Formen erzeugt, kann es sich nicht mehr um ein Kunstwollen aus
Einfühlungsbedürfnis handeln, sondern vielmehr um ein Bedürfnis, das
der Einfühlung direkt entgegengesetzt ist, also um eine Tendenz, das
Leben zu unterdrücken. „Als dieser Gegenpol des Einfühlungsbedürfnisses
erscheint uns der _Abstraktionsdrang_.“[269] Zur Psychologie
des Abstraktionsdranges sagt Worringer: „Welches sind nun die
psychischen Voraussetzungen des Abstraktionsdranges? Wir haben sie im
Weltgefühl jener Völker, in ihrem psychischen Verhalten dem Kosmos
gegenüber zu suchen. Während der Einfühlungsdrang ein glückliches
pantheistisches Vertrauensverhältnis zwischen den Menschen und den
Aussenwelterscheinungen zur Bedingung hat, ist der Abstraktionsdrang
die Folge einer grossen innern Beunruhigung des Menschen durch die
Erscheinungen der Aussenwelt und korrespondiert in religiöser Beziehung
mit einer stark transscendentalen Färbung aller Vorstellungen. Diesen
Zustand möchten wir eine ungeheure geistige Raumscheu nennen. Wenn
Tibull sagt: „primum in mundo fecit deus timorem“, so lässt sich
dieses selbe Angstgefühl auch als Wurzel des künstlerischen Schaffens
annehmen.“

Es ist tatsächlich so, dass die Einfühlung eine Bereitwilligkeit,
ein Vertrauen des Subjektes gegenüber dem Objekt voraussetzt. Die
Einfühlung ist eine bereitwillig entgegenkommende Bewegung, welche den
subjektiven Inhalt in das Objekt überträgt und dadurch eine subjektive
Assimilation herstellt, welche ein gutes Einvernehmen zwischen Subjekt
und Objekt hervorbringt oder auch gegebenenfalls vortäuscht. Ein
passives Objekt lässt sich zwar subjektiv assimilieren, ändert aber
dadurch seine wirklichen Qualitäten keineswegs. Sie werden durch die
Übertragung nur verschleiert und vielleicht sogar vergewaltigt. Durch
die Einfühlung können Ähnlichkeiten und anscheinende Gemeinsamkeiten
erzeugt werden, die an sich eigentlich nicht bestehen. Es ist
darum leicht verständlich, dass auch die Möglichkeit einer andern
Art ästhetischer Beziehung zum Objekt bestehen muss, nämlich eine
Einstellung, die dem Objekte nicht entgegenkommt, sondern vielmehr
von ihm wegstrebt und sich gegen den Einfluss des Objektes zu sichern
sucht, indem sie im Subjekt eine psychische Tätigkeit erzeugt, welche
den Objekteinfluss zu paralysieren bestimmt ist. Die Einfühlung setzt
das Objekt gewissermassen als leer voraus und kann es deshalb mit
eigenem Leben erfüllen. Die Abstraktion dagegen setzt das Objekt
gewissermassen als lebend und wirkend voraus und sucht sich deshalb
seinem Einfluss zu entziehen. Die abstrahierende Einstellung ist also
zentripetal, d. h. introvertierend. Der Worringersche Begriff der
Abstraktion entspricht somit der introvertierten Einstellung. Es ist
bedeutsam, dass Worringer den Objekteinfluss als Furcht oder Scheu
bezeichnet. Der Abstrahierende würde sich also dem Objekt gegenüber
einstellen, wie wenn das Objekt eine furchterregende Qualität, d. h.
also eine schädigende oder gefährliche Wirkung hätte, gegen die er
sich schützen muss. Diese anscheinend aprioristische Qualität des
Objektes ist zweifellos auch eine Projektion resp. Übertragung, aber
eine Übertragung negativer Art. Wir müssten also annehmen, dass
dem Akte der Abstraktion ein unbewusster Projektionsakt vorangeht,
in welchem negativ betonte Inhalte dem Objekt übertragen werden.
Da die Einfühlung gleich wie die Abstraktion ein Bewusstseinsakt
ist, und dem letztern eine unbewusste Projektion vorangeht, so
dürfen wir die Frage aufwerfen, ob wohl der Einfühlung auch ein
unbewusster Akt vorangehe. Da das Wesen der Einfühlung Projektion
subjektiver Inhalte ist, so muss der vorausgehende unbewusste Akt das
Gegenteil sein, nämlich ein Unwirksammachen des Objektes. Dadurch
wird nämlich das Objekt gewissermassen entleert, der Selbsttätigkeit
beraubt, und damit geeignet gemacht, die subjektiven Inhalte des
Einfühlenden aufzunehmen. Der Einfühlende sucht sein Leben dem
Objekt einzufühlen und im Objekte zu erfahren; es ist daher nötig,
dass die Selbständigkeit und die Differenz des Objektes vom Subjekt
nicht zu gross sind. Durch den unbewussten Akt, der der Einfühlung
vorangeht, wird daher die Eigenmacht des Objektes depotenziert oder
übercompensiert, indem nämlich das Subjekt sich unbewusst sofort dem
Objekt überordnet. Die Überordnung kann aber nur unbewusst geschehen
durch eine Verstärkung der Bedeutung des Subjektes. Dies kann geschehen
durch eine unbewusste Phantasie, welche entweder das Objekt sofort
entwertet und entkräftet, oder welche das Subjekt erhöht und dem
Objekt überordnet. Dadurch erst entsteht jenes Gefälle, dessen die
Einfühlung bedarf, um subjektive Inhalte in das Objekt überführen zu
können. Der Abstrahierende findet sich in einer schreckhaft belebten
Welt, die ihn übermächtig zu erdrücken sucht, darum zieht er sich
in sich selbst zurück, um bei sich die rettende Formel zu ersinnen,
welche geeignet ist, seinen subjektiven Wert soweit zu erhöhen, dass
er dem Objekteinfluss wenigstens gewachsen ist. Der Einfühlende
dagegen findet sich in einer Welt, die seines subjektiven Gefühles
bedarf, um Leben und Seele zu haben. Er leiht ihr vertrauensvoll
Beseelung, während der Abstrahierende sich misstrauisch vor den Dämonen
der Objekte zurückzieht und mit abstrakten Schöpfungen sich eine
schutzbietende Gegenwelt aufbaut. Wenn wir uns an die Ausführungen
der vorangegangenen Kapitel erinnern, so werden wir in der Einfühlung
unschwer den Mechanismus der Extraversion, und in der Abstraktion
den der Introversion erkennen. „Die grosse innere Beunruhigung des
Menschen durch die Erscheinungen der Aussenwelt“ ist nichts anderes
als die Reizscheu des Introvertierten, der wegen seiner tiefern
Empfindung und Realisierung eine eigentliche Furcht vor zu raschem
oder zu starkem Wechsel der Reize hat. Seine Abstraktionen dienen auch
ausgesprochenermassen dem Zwecke, durch einen allgemeinen Begriff das
Unregelmässige und Wechselnde in die Schranken der Gesetzmässigkeit
einzufangen. Es ist selbstverständlich, dass diese im Grunde genommen
magische Prozedur sich in vollster Entfaltung beim Primitiven findet,
dessen geometrische Zeichen weniger Schönheits- als vielmehr magischen
Wert haben.

_Worringer_[270] sagt mit Recht: „Von dem verworrenen Zusammenhang
und dem Wechselspiel der Aussenwelterscheinungen gequält, beherrschte
solche Völker ein ungeheures Ruhebedürfnis. Die Beglückungsmöglichkeit,
die sie in der Kunst suchten, bestand nicht darin, sich in die Dinge
der Aussenwelt zu versenken, sich in ihnen zu geniessen, sondern
darin, das einzelne Ding der Aussenwelt aus seiner Willkürlichkeit
und scheinbaren Zufälligkeit herauszunehmen, es durch Annäherung an
abstrakte Formen zu verewigen und auf diese Weise einen Ruhepunkt in
der Erscheinungen Flucht zu finden.“

„Diese abstrakten gesetzmässigen Formen sind also die einzigen und die
höchsten, in denen der Mensch angesichts der ungeheuren Verworrenheit
des Weltbildes ausruhen kann.“[271]

Wie Worringer sagt, sind es gerade orientalische Kunstformen und
Religionen, welche die abstrahierende Einstellung zur Welt zeigen.
Dem Orientalen muss also im allgemeinen die Welt anders erscheinen,
als dem Okzidentalen, der mit Einfühlung sein Objekt beseelt. Dem
Orientalen ist das Objekt a priori belebt, es hat die Übermacht über
ihn, weshalb er sich davor zurückzieht und seine Eindrücke abstrahiert.
Einen trefflichen Einblick in die orientalische Einstellung gewährt
_Buddha_ in der „Feuerpredigt“, wo er sagt: „Alles steht in
Flammen. Das Auge und alle Sinne stehen in Flammen, durch das Feuer
der Liebe, durch das Feuer des Hasses, durch das Feuer der Betörung
entzündet; durch Geburt, Alter und Tod, Schmerz und Klagen, Kummer,
Leid und Verzweiflung ist es entzündet. -- Die ganze Welt steht in
Flammen; die ganze Welt ist in Rauch gehüllt, die ganze Welt wird
vom Feuer verzehrt; die ganze Welt erbebt.“ Dieser schreckhafte und
leidvolle Anblick der Welt ist es, der den Buddhisten zu seiner
abstrahierenden Einstellung veranlasst, wie ja auch Buddha der Legende
nach durch einen ähnlichen Eindruck zu seiner Laufbahn gekommen ist.
Die dynamische Belebung des Objektes als Grund zur Abstraktion ist
in der symbolischen Sprache Buddhas treffend zum Ausdruck gebracht.
Diese Belebung beruht nicht auf Einfühlung, sondern entspricht
einer aprioristischen unbewussten Projektion, einer Projektion,
die eigentlich von vornherein existiert. Der Ausdruck „Projektion“
erscheint sogar als ungeeignet, das Phänomen richtig zu bezeichnen.
Projektion ist eigentlich ein Akt, der geschieht, und nicht ein von
vornherein vorhandener Zustand, um den es sich aber hier offenbar
handelt. M. E. ist für diesen Zustand _Lévy-Bruhls_ Begriff der
„participation mystique“ eher kennzeichnend, indem dieser Begriff die
ursprüngliche Bezogenheit des Primitiven auf sein Objekt formuliert.
Seine Objekte sind nämlich dynamisch belebt, mit Seelenstoff oder
-kraft geladen (durchaus nicht immer beseelt, wie die animistische
Hypothese annimmt!), und haben darum eine unmittelbare psychische
Wirkung auf den Menschen, welche daher kommt, dass der Mensch gleichsam
dynamisch identisch ist mit seinem Objekt. In gewissen primitiven
Sprachen haben daher die Gebrauchsgegenstände belebtes Geschlecht (das
Suffix des Belebtseins). In ähnlicher Weise ist für die abstrahierende
Einstellung das Objekt a priori belebt und selbsttätig und bedarf der
Einfühlung nicht, im Gegenteil, es wirkt so stark beeinflussend, dass
es zur Introversion zwingt. Die starke unbewusste Libidobesetzung
des Objektes rührt her von seiner „participation mystique“ mit dem
Unbewussten des introvertiert Eingestellten. Das geht aus den Worten
Buddhas klar hervor: das Weltfeuer ist identisch mit dem Feuer der
Libido des Subjektes, mit seiner brennenden Leidenschaft, die ihm aber
als Objekt erscheint, weil er sie nicht zur subjektiv disponibeln
Funktion differenziert hat. Die Abstraktion erscheint daher als eine
Funktion, welche die ursprüngliche „participation mystique“ bekämpft.
Sie trennt vom Objekte, um die Verkettung mit ihm aufzuheben. Sie
führt einerseits zur Schaffung von Kunstformen, andererseits zu der
Erkenntnis des Objektes. Gleichermassen ist auch die Funktion der
Einfühlung ein Organ des Kunstschaffens sowohl als auch der Erkenntnis.
Aber sie findet auf einer ganz andern Basis statt als die Abstraktion.
Wie diese gegründet ist auf die magische Bedeutung und Gewalt des
Objektes, so ist die Einfühlung gegründet auf die magische Bedeutung
des Subjektes, das sich mittelst _mystischer Identifikation_
des Objektes bemächtigt. Wie der Primitive einerseits magisch
beeinflusst ist durch die Kraft des Fetisch, so ist er andererseits
auch der Zauberer und der Akkumulator der magischen Kraft, der
dem Fetisch „Ladung“ erteilt. (Vergl. dazu den Churingaritus der
Australier.[272]) Die unbewusste Depotenzierung des Objektes, die dem
Einfühlungsakt vorausgeht, ist ebenfalls ein dauernder Zustand einer
geringern Betonung des Objektes. Dafür sind aber beim Einfühlenden die
unbewussten Inhalte mit dem Objekt identisch und lassen es unbelebt
und unbeseelt erscheinen[273], weshalb die Einfühlung zur Erkenntnis
des Wesens des Objektes nötig wird. Man könnte also in diesem Fall
von einer beständig vorhandenen unbewussten Abstraktion reden, welche
das Objekt als unbeseelt darstellt. Denn die Abstraktion hat immer
diese Wirkung: sie tötet die Eigentätigkeit des Objektes, soweit diese
magisch auf die Seele des Subjektes bezogen ist. Daher wendet sie der
Abstrahierende bewusst an, um sich vor der magischen Beeinflussung
durch das Objekt zu schützen. Aus dem aprioristischen Unbelebtsein der
Objekte geht auch das Vertrauensverhältnis des Einfühlenden zur Welt
hervor: es ist nichts da, was ihn feindlich zu beeinflussen und zu
unterdrücken vermöchte, denn er allein erteilt dem Objekt Leben und
Seele, obschon seinem Bewusstsein die Sache gerade umgekehrt zu liegen
scheint. Im Gegensatz dazu ist dem Abstrahierenden die Welt erfüllt mit
mächtig wirkenden und deshalb gefährlichen Objekten, weshalb er Furcht
empfindet und sich, seiner Ohnmacht bewusst, von der zu nahen Berührung
mit der Welt zurückzieht, um jene Gedanken und Formeln zu erzeugen, mit
denen er die Oberhand zu erlangen hofft. Seine Psychologie ist darum
die des Unterdrückten, während der Einfühlende mit aprioristischer
Sicherheit dem Objekt gegenüber tritt, denn das Objekt ist wegen seiner
Unbelebtheit ungefährlich. Natürlich ist diese Charakterisierung
schematisch und will durchaus nicht das ganze Wesen der extravertierten
oder introvertierten Einstellung charakterisieren, sondern bloss
gewisse Nuancen hervorheben, die aber immerhin eine nicht unerhebliche
Bedeutung haben.

Wie der Einfühlende im Objekt sich selbst geniesst, ohne dessen
bewusst zu sein, so schaut der Abstrahierende, indem er über den ihm
vom Objekt zukommenden Eindruck nachdenkt, sich selbst, ohne es zu
wissen. Denn was der Einfühlende ins Objekt überträgt, ist er selbst,
d. h. sein eigener unbewusster Inhalt, und was der Abstrahierende über
seinen Eindruck vom Objekt denkt, das denkt er über seine eigenen
Gefühle, die ihm am Objekt erschienen sind. Es ist daher klar, dass
zu einer wirklichen Erfassung des Objektes beide Funktionen gehören,
wohl auch zu einem wirklichen Kunstschaffen. Beide Funktionen
sind auch immer im Individuum vorhanden, nur sind sie meistens
ungleichmässig differenziert. Worringer sieht als gemeinsame Wurzel
dieser beiden Grundformen des ästhetischen Erlebens den Drang nach
_Selbstentäusserung_.[274] Bei der Abstraktion strebt der Mensch
darnach „in der Betrachtung eines Notwendigen und Unverrückbaren
erlöst zu werden vom Zufälligen des Menschseins überhaupt, von der
scheinbaren Willkür der allgemeinen organischen Existenz.“ Gegenüber
der verwirrenden und eindrucksvollen Fülle der belebten Objekte schafft
sich der Mensch eine Abstraktion, d. h. ein abstraktes allgemeines
Bild, welches die Eindrücke in gesetzmässige Form bannt. Dieses Bild
hat die magische Bedeutung eines Schutzes gegen den chaotischen Wechsel
des Erlebens. Der Mensch versenkt sich in dieses Bild und verliert
sich so daran, dass er seine abstrakte Wahrheit schliesslich über die
Realität des Lebens stellt und damit das Leben, das den Genuss der
abstrakten Schönheit stören könnte, überhaupt unterdrückt. Er erhebt
sich damit selber zu einer Abstraktion, er identifiziert sich mit
der ewigen Gültigkeit seines Bildes und erstarrt darin, indem es
ihm gewissermassen zu einer erlösenden Formel wird. Auf diese Weise
entäussert er sich seiner selbst und überträgt sein Leben seiner
Abstraktion, in der es gewissermassen kristallisiert. Indem der
Einfühlende aber seine Tätigkeit, sein Leben in das Objekt einfühlt,
so begibt er sich damit ebenfalls ins Objekt, insofern der eingefühlte
Inhalt einen wesentlichen Teil des Subjektes darstellt. Er wird zum
Objekt, er identifiziert sich damit und kommt auf diese Weise von
sich selbst los. Indem er sich objektiviert, entsubjektiviert er
sich. Worringer[275] sagt: „Indem wir aber diesen Tätigkeitswillen
in ein anderes Objekt einfühlen, _sind_ wir in dem andern
Objekt. Wir sind von unserm individuellen Sein erlöst, solange wir
mit unserm Erlebensdrang in ein äusseres Objekt, in einer äussern
Form aufgehen. Wir fühlen gleichsam unsere Individualität in feste
Grenzen einfliessen gegenüber der grenzenlosen Differenziertheit
des individuellen Bewusstseins. In dieser Selbstobjektivierung
liegt eine Selbstentäusserung. Diese Bejahung unseres individuellen
Tätigkeitsbedürfnisses stellt gleichzeitig eine Beschränkung seiner
unbegrenzbaren Möglichkeiten, eine Verneinung seiner unvereinbaren
Differenziertheiten dar. Wir ruhen mit unserm innern Tätigkeitsdrange
in den Grenzen dieser Objektivierung aus.“ Wie für den Abstrahierenden
das abstrakte Bild eine Fassung, eine Schutzmauer gegenüber den
auflösenden Wirkungen der unbewusst belebten Objekte[276] darstellt,
so ist für den Einfühlenden die Übertragung auf das Objekt ein
Schutz gegenüber der Auflösung durch innere subjektive Faktoren,
welche in grenzenlosen Phantasiemöglichkeiten und entsprechenden
Tätigkeitsantrieben bestehen. Wie nach _Adler_ der introvertierte
Neurotische sich an eine „fiktive Leitlinie“ klammert, so klammert
sich der extravertierte Neurotische an sein Übertragungsobjekt. Der
Introvertierte hat seine „Leitlinie“ abstrahiert aus seinen guten und
schlechten Erfahrungen am Objekt, und vertraut sich der Formel an als
einem Schutzmittel gegenüber den grenzenlosen Möglichkeiten des Lebens.

Einfühlung und Abstraktion, Extraversion und Introversion sind
Anpassungs- und Schutzmechanismen. Insofern sie Anpassung
ermöglichen, schützen sie den Menschen vor äussern Gefahren.
Insofern es _gerichtete Funktionen_[277] sind, befreien sie
den Menschen vom zufällig Triebhaften, ja, sie schützen ihn sogar
davor, indem sie ihm eine _Selbstentäusserung_ ermöglichen.
Wie die alltägliche psychologische Erfahrung zeigt, gibt es sehr
viele Menschen, die sich ganz mit ihrer gerichteten Funktion (der
„wertvollen“ Funktion) identifizieren, das sind eben u. a. die hier
besprochenen Typen. Die Identifikation mit der gerichteten Funktion
hat den (unbestreitbaren Vorteil, dass man sich damit den collektiven
Erwartungen und Forderungen am besten anpasst und dabei erst noch
seinen minderwertigen, nicht differenzierten und nicht gerichteten
Funktionen aus dem Wege gehen kann durch Selbstentäusserung. Die
„Selbstlosigkeit“ ist zudem vom Standpunkt der sozialen Moralität
eine besondere Tugend. Auf der andern Seite jedoch liegt der grosse
Nachteil der Identifikation mit der gerichteten Funktion, nämlich die
_Degeneration des Individuums_. Der Mensch ist zweifellos einer
weitgehenden Mechanisierung fähig, aber doch nicht in dem Masse, dass
er sich selbst gänzlich, ohne Schaden zu leiden, aufgeben könnte.
Je mehr er sich nämlich mit der einen Funktion identifiziert, desto
mehr besetzt er sie mit Libido und desto mehr entzieht er die Libido
den andern Funktionen. Sie ertragen zwar während längerer Zeit auch
einen weitgehenden Libidoentzug; einmal aber reagieren sie doch.
Indem ihnen nämlich die Libido entzogen wird, geraten sie allmählich
unter die Bewusstseinsschwelle, ihr associativer Zusammenhang mit dem
Bewusstsein lockert sich und dadurch versinken sie allmählich ins
Unbewusste. Dies ist gleichbedeutend mit einer Regressiventwicklung,
nämlich einem Zurückgehen der relativ entwickelten Funktion auf
infantile und zuletzt auf archaïsche Stufe. Da der Mensch aber nur
relativ wenige Jahrtausende in kultiviertem Zustand zugebracht hat,
dagegen viele Hunderttausende von Jahren in unkultiviertem Zustand,
so sind demgemäss in ihm die archaïschen Funktionsweisen noch
ausserordentlich lebensfähig und leicht wiederzubeleben. Wenn nun
gewisse Funktionen durch Libidoentzug desintegriert werden, so treten
ihre archaïschen Grundlagen im Unbewussten in Funktion. Dieser Zustand
bedeutet eine Dissociation der Persönlichkeit, indem die archaïschen
Funktionen keine direkten Beziehungen zum Bewusstsein haben, also
keine gangbaren Brücken existieren zwischen Bewusst und Unbewusst.
Je weiter daher die Selbstentäusserung geht, desto weiter schreitet
auch die Archaïsierung der unterbetonten Funktionen. Damit wächst
auch die Bedeutung des Unbewussten. Dann fängt das Unbewusste an, die
gerichtete Funktion symptomatisch zu stören, und damit beginnt jener
charakteristische Circulus vitiosus, dem wir bei so manchen Neurosen
begegnen: der Mensch versucht die unbewusst störenden Einflüsse
durch besondere Leistungen der gerichteten Funktion zu compensieren,
welcher Wettlauf gegebenenfalls bis zum nervösen Zusammenbruch
fortgesetzt wird. Die Möglichkeit der Selbstentäusserung durch
Identifikation mit der gerichteten Funktion beruht nicht etwa nur
auf der einseitigen Beschränkung auf die eine Funktion, sondern auch
darauf, dass das Wesen der gerichteten Funktion ein Prinzip ist, das
die Selbstentäusserung verlangt. So verlangt jede gerichtete Funktion
die strenge Ausschliessung alles dessen, was nicht dazu passt, das
Denken schliesst alles störende Gefühl aus, ebenso schliesst das
Gefühl alle störenden Gedanken aus. Ohne Verdrängung alles andern kann
die gerichtete Funktion gar nicht zu Stande kommen. Dem gegenüber
verlangt aber die Selbstregulierung des lebendigen Organismus
natürlicherweise die Harmonisierung menschlichen Wesens; daher drängt
sich die Berücksichtigung minderbegünstigter Funktionen als eine
Lebensnotwendigkeit und als eine unumgängliche Aufgabe der Erziehung
des Menschengeschlechtes auf.



VIII

Das Typenproblem in der modernen Philosophie.



VIII.

Das Typenproblem in der modernen Philosophie.


1. Die James’schen Typen.

Auch in der neuern pragmatischen Philosophie ist die Existenz zweier
Typen entdeckt worden, und zwar von _William James_.[278] Er sagt:
„Die Geschichte der Philosophie ist in hohem Masse ein Zusammenstoss
von gewissen menschlichen _Temperamenten_ (charakterologischen
Dispositionen)“.[279] „Von was für einem Temperament ein berufsmässiger
Philosoph auch immer sein mag, er versucht jedenfalls, wenn er
philosophiert, die Tatsache seines Temperamentes zu denken. Jedoch
bildet sein Temperament ein stärkeres Vorurteil, als irgend eine seiner
mehr objektiven Prämissen. Es gibt seiner Beweisführung in dieser oder
jener Richtung Gewicht, indem es je nachdem zu einer sentimentalern
oder kühlern Weltanschauung führt, ebenso gut wie eine Tatsache oder
ein Prinzip. Er vertraut seinem Temperament. Er wünscht sich eine Welt,
die zu seinem Temperament passt, und er glaubt an jede Darstellung der
Welt, die zu ihm passt. Menschen eines andern Temperamentes empfindet
er als nicht richtig abgestimmt auf den wirklichen Charakter der
Welt, und im Grunde genommen betrachtet er sie als inkompetent und
als keine eigentlichen Philosophen, wenn sie ihn an dialektischer
Geschicklichkeit auch weit übertreffen mögen. Aber in der öffentlichen
Diskussion kann er, bloss aus Gründen seines Temperamentes, keinen
Anspruch erheben auf besondere Auszeichnung oder Autorität. Daher
stammt ein gewisser Mangel an Ernsthaftigkeit in der philosophischen
Diskussion: die bedeutendste aller unserer Prämissen wird nie
erwähnt.“[280]

James geht darauf über zur Charakterisierung der zwei Temperamente:
So wie es im Gebiete der Sitten und Lebensgewohnheiten konventionelle
und ungezwungen sich gebende Menschen, in politischer Hinsicht
Autoritätgläubige und Anarchisten, in der schönen Literatur
Akademiker und Realisten, in der Kunst Klassiker und Romantiker
sich unterscheiden lassen, so fänden sich auch, wie James meint,
in der Philosophie zwei Typen, nämlich der „Rationalist“ und der
„Empiriker“. Der Rationalist ist der „Anbeter abstrakter und ewiger
Prinzipien“. Der Empiriker ist der „Liebhaber der Tatsachen in ihrer
ganzen ungehobelten Mannigfaltigkeit“.[281] Obschon niemand weder
der Tatsachen noch der Prinzipien entraten kann, so kommen doch
ganz verschiedene Gesichtspunkte heraus, je nach dem das Gewicht
auf die eine oder andere Seite verschoben wird. „Rationalismus“
stellt James als Synonym zu „Intellektualismus“ und „Empirismus“ zu
„Sensualismus“. Obwohl diese Angleichung m. E. nicht stichhaltig ist,
so wollen wir doch zunächst, eine Kritik vorbehaltend, dem James’schen
Gedankengang weiter folgen. Nach seiner Ansicht verbindet sich mit
dem Intellektualismus eine idealistische und optimistische Tendenz,
während der Empirismus zum Materialismus und zu einem bloss bedingten
und unsichern Optimismus neigt. Der Rationalismus (Intellektualismus)
ist immer _monistisch_. Er beginnt mit dem Ganzen und Universellen
und vereinigt die Dinge. Der Empirismus dagegen beginnt mit dem Teil
und macht das Ganze zu einer _Sammlung_. Er liesse sich als
_pluralistisch_ bezeichnen. Der Rationalist ist ein Gefühlsmensch,
der Empiriker ein hartköpfiges Wesen. Ersterer neigt natürlicherweise
zur Überzeugung der Willensfreiheit, letzterer zum Fatalismus. Der
Rationalist ist leicht dogmatisch in seinen Konstatierungen, der
Empiriker dagegen skeptischer.[282] James bezeichnet den Rationalisten
als _tender-minded_ (mit zartem oder delikatem Geiste) und den
Empiriker als tough-minded (mit zähem Geiste). Damit versucht er
offenbar die eigentümliche Beschaffenheit der beiden Mentalitäten zu
bezeichnen. Wir werden im weitern Verlauf Gelegenheit nehmen, diese
Charakterisierung noch näher zu untersuchen. Interessant ist, was
James sagt über die Vorurteile, welche die beiden Typen gegeneinander
hegen. „Sie haben eine geringe Meinung von einander.[283] Ihr typischer
Gegensatz hat zu allen Zeiten in der Philosophie eine Rolle gespielt,
so auch heute. Der Tough-minded beurteilt den Tender-minded als
sentimental, der Tender-minded dagegen nennt den andern unfein, stumpf
oder brutal. Der eine hält den andern für inferior.“

James stellt die Qualitäten der beiden Typen in folgende zwei Kolonnen
nebeneinander:

    _Tender-minded:_         _Tough-minded:_
    Rationalistisch (folgt   Empiristisch (folgt Tatsachen)
      Prinzipien)
    intellektualistisch      sensualistisch
    idealistisch             materialistisch
    optimistisch             pessimistisch
    religiös                 irreligiös
    indeterministisch        deterministisch, fatalistisch
    monistisch               pluralistisch
    dogmatisch               skeptisch.

Diese Zusammenstellung berührt verschiedene Probleme, denen wir
schon im Kapitel über Nominalismus und Realismus begegnet sind. Der
Tender-minded hat gewisse Züge mit dem Realisten, und der Tough-minded
mit dem Nominalisten gemeinsam. Wie ich oben erörtert habe, entspricht
der Realismus dem Introversionsprinzip und der Nominalismus dem
Extraversionsprinzip. Unzweifelhaft gehört auch der Universalienstreit
an erster Stelle unter jene historischen Temperamentgegensätze in der
Philosophie, auf welche James anspielt. Diese Beziehungen legen es
nahe, beim Tender-minded an den Introvertierten und beim Tough-minded
an den Extravertierten zu denken. Es bleibt aber noch näher zu
untersuchen, ob diese Beziehung zu Recht besteht oder nicht.

Es ist meiner -- allerdings beschränkten -- Kenntnis der James’sehen
Schriften nicht gelungen, nähere Definitionen oder Beschreibungen
der beiden Typen aufzufinden, obschon er mehrfach von diesen beiden
Arten des Denkens spricht, und sie etwa auch als „thin“ und „thick“
bezeichnet. _Flournoy_[284] erläutert „thin“ als „mince, ténu,
maigre, chétif“ und „thick“ als „épais, solide, massif, cossu“. James
gebraucht für den Tender-minded auch einmal den Ausdruck „soft-headed“,
also wörtlich „mit weichem Kopfe“. „Soft“ ist wie „tender“ weich,
zart, mild, sanft, leise, also etwas schwach, gedämpft, von geringer
Kraft im Gegensatz zu „thick“ und „tough“, welche widerstandsfähige,
solide, schwer zu verändernde Qualitäten sind, die an die Natur des
Stoffes erinnern. Flournoy erläutert dementsprechend die beiden
Arten des Denkens folgendermassen: „C’est l’opposition entre la
façon de penser abstractionniste -- c’est-à-dire purement logique et
dialectique, si chère aux philosophes, mais qui n’inspire à James
aucune confiance. et qui lui paraît fragile, creuse, „chétive“,
parceque trop sevrée du contact des choses particulières -- et
la façon de penser _concrète_, laquelle se nourrit de faits
d’expérience et ne quitte jamais la région terre à terre, mais solide,
des écailles de tortues ou autres données positives“.[285] Man darf
aus diesem Kommentar allerdings nicht den Schluss ziehen, dass
James nun einseitig dem concreten Denken beifalle. Er würdigt beide
Standpunkte: „Facts are good, of course -- give us lots of facts.
Principles are good -- give us plenty of principles.“ Eine Tatsache
ist bekanntlich nie nur so, wie sie an sich ist, sondern auch so, wie
wir sie anschauen. Wenn nun James das concrete Denken als „thick“
oder „tough“ bezeichnet, so beweist er damit, dass diese Art Denken
für ihn etwas Substantielles, Widerstandsfähiges hat, während das
abstrakte Denken ihm als etwas Schwaches, Dünnes und Blasses vorkommt,
vielleicht sogar, wenn wir mit Flournoy interpretieren, als etwas
Kränkliches und Hinfälliges. Eine solche Auffassung ist natürlich
nur möglich, wenn man die Substantialität a priori mit der concreten
Tatsache verknüpft hat, was eben, wie gesagt, eine Angelegenheit des
Temperamentes ist. Wenn der „empirische“ Denker seinem concreten
Denken eine widerstandsfähige Substantialität zuschreibt, so ist das
vom abstrakten Standpunkt aus gesehen, eine Selbsttäuschung, denn die
Substantialität, die „Härte“ kommt der äussern Tatsache zu, nicht aber
dem „empirischen“ Denken. Letzteres erweist sich sogar als besonders
schwach und hinfällig, indem es sich gegenüber der äussern Tatsache
so wenig zu behaupten weiss, dass es immer von den sinnlich gegebenen
Tatsachen abhängt, ihnen nachläuft und sich infolgedessen kaum über
eine bloss klassifizierende oder darstellende Tätigkeit erheben kann.
Vom Standpunkt des Denkens aus ist also das concrete Denken etwas
sehr Schwächliches und Unselbständiges, weil es nicht in sich selber
seine Festigkeit hat, sondern in den äussern Tatsachen, welche dem
Denken an bedingendem Werte übergeordnet sind. Dieses Denken ist also
charakterisiert durch eine Abfolge sinnlich gebundener Vorstellungen,
die weniger durch eine innere Denktätigkeit, als vielmehr durch den
Wechsel der Sinneswahrnehmungen in Bewegung gesetzt werden. Eine durch
sinnliche Wahrnehmungen bedingte Abfolge concreter Vorstellungen
ist also nicht gerade das, was der Abstrakte als Denken bezeichnen
würde, sondern bestenfalls eine passive Apperception. Das Temperament,
welches das concrete Denken vorzieht und ihm Substantialität zubilligt,
ist daher gekennzeichnet durch ein Vorwiegen der sinnlich bedingten
Vorstellung gegenüber der aktiven Apperceptionstätigkeit, die einer
subjektiven Willenshandlung entspringt und sinnlich vermittelte
Vorstellungen gemäss den Absichten einer _Idee_ anordnen will,
d. h. kürzer gesagt: diesem Temperament liegt es mehr am Objekt;
das Objekt wird eingefühlt, es benimmt sich quasi selbständig in
der Vorstellungswelt des Subjektes und zieht die Auffassung nach
sich. Dieses Temperament ist also extravertierend. Das Denken des
Extravertierten ist concretistisch. Seine Festigkeit liegt nicht in
ihm, sondern gewissermassen ausser ihm in den eingefühlten Tatsachen,
von woher auch die James’sche Qualifizierung als „tough“ stammt. Wer
immer sich auf die Seite des concreten Denkens stellt, d. h. auf die
Seite von Tatsachenvorstellungen, dem kommt die Abstraktion als etwas
Schwaches und Hinfälliges vor, denn er misst sie an der Festigkeit der
concreten, sinnlich gegebenen Tatsache. Wer aber auf der Seite der
Abstraktion steht, dem ist nicht die sinnlich gebundene Vorstellung das
Ausschlaggebende, sondern die _abstrakte Idee_. Die Idee ist, nach
der landläufigen Auffassung nichts anderes als eine Abstraktion einer
Summe von Erfahrungen. Man stellt sich dabei gerne den menschlichen
Geist als eine anfängliche tabula rasa vor, die sich erst deckt durch
die Wahrnehmung und Erfahrung von Welt und Leben. Von diesem Standpunkt
aus, der der Standpunkt unserer empirischen Wissenschaftlichkeit im
weitesten Sinne ist, kann die Idee auch gar nichts anderes sein, als
eine epiphänomenale, aposteriorische Abstraktion aus Erfahrungen, daher
schwächer und blässer als diese. Wir wissen aber, dass der Geist nicht
tabula rasa sein kann, denn die Kritik unserer Denkprinzipien zeigt
uns, dass gewisse Kategorien unseres Denkens a priori, d. h. vor aller
Erfahrung gegeben sind und zugleich mit dem ersten Denkakt auftreten,
ja sogar dessen präformierte Bedingungen sind. Was aber _Kant_
für das logische Denken nachgewiesen hat, gilt für die Psyche in
noch viel weiterm Umfang. Die Psyche ist so wenig wie der Geist (das
Gebiet des Denkens) tabula rasa zu Beginn. Gewiss fehlen die concreten
Inhalte, aber die Inhaltsmöglichkeiten sind durch die vererbte und
präformierte funktionelle Disposition a priori gegeben. Sie ist
nichts anderes als das Ergebnis der Funktionsweisen der Gehirne der
Ahnenreihe, ein Niederschlag der Anpassungsversuche und Erfahrungen der
phylogenetischen Reihe. Das neu entstandene Gehirn oder Funktionssystem
ist also ein altes, für ganz bestimmte Zwecke hergerichtetes
Instrument, das nicht nur passiv appercipiert, sondern auch aus sich
heraus aktiv die Erfahrungen ordnet und zu gewissen Schlüssen oder
Urteilen zwingt. Diese Anordnungen geschehen nun nicht etwa zufällig
oder willkürlich, sondern sie folgen streng präformierten Bedingungen,
die nicht als Anschauungsinhalte durch Erfahrung vermittelt werden,
sondern Bedingungen der Anschauung a priori sind. Es sind Ideen ante
rem, Formbedingungen, a priori gezogene Grundlinien, die dem Stoffe
der Erfahrung eine bestimmte Gestaltung anweisen, sodass man sie, wie
sie auch _Platon_ aufgefasst hat, als _Bilder_ denken kann,
gewissermassen als Schemata oder anererbte Funktionsmöglichkeiten,
welche aber andere Möglichkeiten ausschliessen oder zum mindesten in
hohem Masse beschränken. Daher kommt es, dass selbst die freieste
Geistesbetätigung, die Phantasie, nie ins Grenzenlose schweifen kann
(obschon es der Dichter so empfinden mag), sondern gebunden bleibt
an präformierte Möglichkeiten, an _Urbilder_ oder _urtümliche
Bilder_. Die Märchenerzählungen der entlegensten Völker zeigen in
der Ähnlichkeit ihrer Motive diese Gebundenheit an gewisse Urbilder.
Selbst die Bilder, die wissenschaftlichen Theorien zu Grunde liegen,
zeigen diese Beschränkung, z. B. der Äther, die Energie, ihre
Verwandlungen und ihre Konstanz, die Atomtheorie, die Affinität, usw.

Wie nun im Geiste des concret Denkenden die sinnlich gegebene
Vorstellung vorwiegt und Richtung gibt, so überwiegt im Geiste des
abstrakt Denkenden das inhaltlose und daher nicht vorstellbare Urbild.
Es bleibt relativ untätig, solange das Objekt eingefühlt und dadurch
zum bedingenden Faktor des Denkens erhoben wird. Wird aber das
Objekt nicht eingefühlt und damit seiner Präponderanz im geistigen
Prozess beraubt, so wendet sich die ihm versagte Energie ins Subjekt
zurück. Das Subjekt wird unbewusst eingefühlt und dadurch werden die
in ihm schlummernden präformierten Bilder geweckt, infolgedessen
treten sie als wirkende Faktoren im Geistesprozesse auf, allerdings
in unvorstellbarer Form, gewissermassen als unsichtbare Regisseure,
hinter den Kulissen. Da sie bloss aktivierte Funktionsmöglichkeiten
sind, sind sie ohne Inhalt, darum unvorstellbar, und deshalb streben
sie nach Erfüllung. Sie ziehen den Erfahrungsstoff in ihre Form und
stellen nicht die Tatsachen dar, sondern sich selber in den Tatsachen.
Sie bekleiden sich gewissermassen mit Tatsachen. Sie sind daher nicht
ein bekannter Ausgangspunkt, wie die empirische Tatsache im concreten
Denken, sondern sie werden erst erfahrbar durch die unbewusste
Gestaltung des Erfahrungsstoffes. Auch der Empiriker kann seinen
Erfahrungsstoff gliedern und formen, jedoch formt er ihn möglichst nach
einem concreten Begriffe, den er auf Grund vorhergegangener Erfahrungen
gebildet hat.

Der Abstrahierende dagegen formt nach einer unbewussten Vorlage und
erfährt erst a posteriori aus der von ihm gestalteten Erscheinung die
_Idee_, nach der er geformt hat. Der Empiriker, gemäss seiner
Psychologie, ist immer geneigt, anzunehmen, der Abstrahierende gestalte
den Erfahrungsstoff willkürlich nach gewissen blassen, schwachen
und unzulänglichen Voraussetzungen, denn er bemisst den geistigen
Prozess des Abstrahierenden nach seinem eigenen modus procedendi.
Die eigentliche Prämisse, die Idee oder das Urbild, ist aber dem
Abstrahierenden genau so unbekannt, wie dem Empiriker die Theorie, die
er dann nachträglich nach so und so viel Experimenten aus der Erfahrung
heraus bilden wird. Wie ich in einem frühern Kapitel erläutert habe,
sieht der eine das individuelle Objekt und interessiert sich für sein
individuelles Verhalten, der andere aber sieht in erster Linie die
Ähnlichkeitsbeziehungen der Objekte unter sich und setzt sich über
die Individualität der Tatsache hinweg, weil ihm das Verbindende, das
Einheitliche in der Zersplitterung der Mannigfaltigkeit angenehmer und
beruhigender ist. Für den Erstern aber ist die Ähnlichkeitsbeziehung
geradezu etwas Lästiges und Störendes, das ihn unter Umständen sogar
hindert, sich der Erkenntnis der Eigenartigkeit des Objektes zu
bemächtigen. Je weiter er sich in das einzelne Objekt einfühlt, desto
mehr erkennt er seine Eigenart und desto mehr verschwindet ihm die
Wirklichkeit einer Ähnlichkeitsbeziehung mit einem andern Objekt.
Wenn er sich aber auch in das andere Objekt einzufühlen weiss, so
ist er im Stande, die Ähnlichkeit der beiden Objekte in viel höherm
Masse zu empfinden und zu erfassen, als der, der sie bloss von aussen
zu allererst ersah. Der concret Denkende kann wegen der Tatsache,
dass er zuerst das eine Objekt, dann ein anderes einfühlt, nur sehr
langsam zur Erkenntnis der verbindenden Ähnlichkeiten kommen, weshalb
sein Denken als zähflüssig erscheint. Leichtflüssig ist aber seine
Einfühlung. Der Abstrahierende aber erfasst rasch die Ähnlichkeit,
ersetzt die individuellen Objekte durch generelle Merkmale und formt
diesen Erfahrungsstoff durch seine eigene innere Denktätigkeit, die
aber genau so stark beeinflusst ist durch das „schattenhafte“ Urbild,
wie das concrete Denken durch das Objekt. Je grösser der Einfluss
des Objektes auf das Denken ist, desto mehr prägt es seine Züge dem
Denkbild auf. Je weniger aber das Objekt im Geiste wirkt, desto
stärker drückt die apriorische Idee der Erfahrung ihr Siegel auf.
Durch die übermässige Bedeutung des empirischen Objektes entsteht
dann in der Wissenschaft eine gewisse Art von Spezialistentheorie,
welche z. B. in der Psychiatrie als jene bekannte „Hirnmythologie“
auftritt, wo ein grösseres Erfahrungsgebiet aus Prinzipien zu erklären
versucht wird, die trefflich sind für die Erklärung von gewissen
engbegrenzten Tatsachenkomplexen, aber gänzlich unzulänglich für jede
andere Verwendung. Umgekehrt aber erzeugt das abstrakte Denken, das
sich der Einzeltatsache nur wegen ihrer Ähnlichkeit mit einer andern
annimmt, eine universale Hypothese, die zwar die Idee mehr oder
weniger rein zur Darstellung bringt, aber mit dem Wesen der concreten
Tatsachen ebenso wenig oder ebensoviel zu tun hat, wie ein Mythus. In
ihrer extremen Form erzeugen also beide Denkformen Mythologie, die
eine drückt sich concret aus mit Zellen, Atomen, Schwingungen und
dergleichen mehr, die andere aber mit „ewigen“ Ideen. Der extreme
Empirismus hat wenigstens den Vorteil, Tatsachen möglichst rein zur
Darstellung zu bringen. Der extreme Ideologismus aber hat den Vorteil,
die apriorischen Formen, die Ideen oder Urbilder in möglichster
Reinheit widerzuspiegeln. Die theoretischen Resultate des Erstern
erschöpfen sich mit ihrem Erfahrungsstoff, die praktischen Resultate
des Letztern beschränken sich auf die Darstellung der psychologischen
Idee. Da unser gegenwärtiger wissenschaftlicher Geist einseitig
concret-empirisch eingestellt ist, so weiss er die Tat dessen, der die
Idee darstellt, nicht zu schätzen, denn Tatsachen stehen ihm höher
als die Kenntnis der Urformen, in denen der menschliche Verstand sie
begreift. Die Schwenkung nach der Seite des Concretismus ist, wie
bekannt, eine relativ junge Erwerbung, die aus der Aufklärungsepoche
stammt. Die Erfolge dieser Entwicklung sind staunenswert, aber
sie haben zu einer Häufung des empirischen Stoffes geführt, deren
Unabsehbarkeit allmählich mehr Verwirrung als Klarheit stiftet. Sie
führt notgedrungen zu einem wissenschaftlichen Separatismus und damit
zur Spezialistenmythologie, welche den Tod der Universalität bedeutet.
Das Überwiegen des Empirismus aber ist nicht nur eine Erdrückung des
aktiven Denkens, sondern auch eine Gefahr für die Theoriebildung
innerhalb einer Disziplin. Die Abwesenheit allgemeiner Gesichtspunkte
aber begünstigt die mythische Theoriebildung, ebenso sehr wie es die
Abwesenheit empirischer Gesichtspunkte tut.

Ich bin darum der Ansicht, dass die James’sche Terminologie von
Tender-minded und Tough-minded nur einseitig anschaulich ist und, im
Grunde genommen, ein gewisses Präjudicium enthält. Es dürfte aber aus
dieser Erörterung klar geworden sein, dass die James’sche Typisierung
dieselben Typen behandelt, die ich als Introvertiert und Extravertiert
bezeichnet habe.


2. Die charakteristischen Gegensatzpaare der James’schen Typen.

a) Das erste Gegensatzpaar, welches James als unterscheidendes Merkmal
der Typen anführt, ist der _Rationalismus versus Empirismus_.

Ich habe, wie der Leser bemerkt haben wird, mich bereits im Vorigen zu
diesem Gegensatz ausgesprochen und dabei den Gegensatz als Ideologismus
versus Empirismus gefasst. Ich habe den Ausdruck „Rationalismus“
vermieden, weil das concrete, empirische Denken ebenso „rational“ ist,
wie das aktive, ideologische Denken. Die ratio regiert beide Formen.
Und zudem gibt es nicht nur einen logischen Rationalismus, sondern
auch einen Gefühlsrationalismus, indem nämlich der Rationalismus
überhaupt eine allgemeine psychologische Einstellung auf Vernünftigkeit
des Denkens und Fühlens ist. Ich befinde mich mit dieser Auffassung
des Begriffes „Rationalismus“ in einem bewussten Gegensatz zu der
historisch-philosophischen Auffassung, welche „rationalistisch“ im
Sinne von „ideologisch“ gebraucht, resp. Rationalismus als Primat der
Idee auffasst. Bei den neuern Philosophen hat die ratio allerdings den
rein ideellen Charakter abgestreift und wird gerne als ein Vermögen,
Trieb, Wollen sogar als ein Gefühl, oder als eine Methode bezeichnet.
Jedenfalls ist sie -- psychologisch betrachtet -- eine gewisse
Einstellung, die, wie _Lipps_ sagt, vom „Objektivitätsgefühl“
geleitet ist. Bei _Baldwin_[286] ist sie das „constitutive,
regulative Prinzip des Geistes“. _Herbart_ erklärt die Vernunft
als „Vermögen der Überlegung“.[287] _Schopenhauer_ sagt von der
Vernunft, dass sie nur _eine_ Funktion habe, nämlich „die Bildung
des Begriffes; und aus dieser einzigen erklären sich sehr leicht und
ganz und gar von selbst alle jene oben angeführten Erscheinungen,
die das Leben des Menschen von dem des Tieres unterscheiden, und auf
die Anwendung oder Nichtanwendung jener Funktion deutet schlechthin
alles, was man überall und jederzeit vernünftig oder unvernünftig
genannt hat“.[288] Die „oben angeführten Erscheinungen“ beziehen sich
auf gewisse Äusserungen der Vernunft, die Schopenhauer beispielsweise
zusammengestellt hat, nämlich „die Beherrschung der Affekte und
Leidenschaften, die Fähigkeit, Schlüsse zu machen und allgemeine
Prinzipien“, „das übereinstimmende Handeln mehrerer Individuen“, „die
Zivilisation, der Staat; ferner die Wissenschaft, das Aufbewahren
früherer Erfahrung“, etc. Wenn für Schopenhauer die Vernunft die
Funktion der Begriffsbildung hat, so hat sie demnach den Charakter
derjenigen Einstellung des psychischen Apparates, welche geeignet ist,
durch Denktätigkeit Begriffe zu bilden. Ganz in diesem Sinne einer
Einstellung fasst auch _Jerusalem_[289] die Vernunft auf, nämlich
als eine _Willensdisposition_, die uns befähigt, bei unsern
Entscheidungen vom Verstande Gebrauch zu machen und die Leidenschaften
zu beherrschen.

Vernunft ist also die Fähigkeit, vernünftig zu sein, eine bestimmte
Einstellung, welche ein Denken, Fühlen und Handeln gemäss objektiven
Werten ermöglicht. Diese „objektiven“ Werte ergeben sich vom
Standpunkt des Empirismus aus durch die Erfahrung, von dem des
Ideologismus aus aber durch einen aktiven Bewertungsakt der Vernunft,
welche dann in _Kant’_schem Sinne ein „Vermögen“ wäre, „nach
Grundsätzen zu urteilen und zu handeln“. Denn die Vernunft ist bei
Kant die Quelle der Idee, welche ein „Vernunftbegriff“ ist, „dessen
Gegenstand gar nicht in der Erfahrung kann angetroffen werden“,
und welche das „_Urbild des Gebrauchs des Verstandes_ -- als
regulatives Prinzip zum Behuf des durchgängigen Zusammenhanges unseres
empirischen Verstandesgebrauches“ enthält.[290] Diese Anschauung
ist echt introvertiert. Ihr gegenüber steht die empiristische
Anschauung _Wundts_, wonach die Vernunft zu den komplexen
intellektuellen Funktionen gehört, welche mit ihren „Vorstufen, die
ihnen die _unerlässlichen sinnlichen Substrate_ liefern, in einen
allgemeinen Ausdruck“ zusammengefasst werden. „Dass nun dieser Begriff
des „Intellektuellen“ ein Überlebnis der Vermögenspsychologie ist,
das womöglich noch mehr als die alten Begriffe Gedächtnis, Verstand,
Phantasie usw. unter der _Vermengung mit logischen Gesichtspunkten
leidet, die ausserhalb der Psychologie liegen_, und dass er umso
unbestimmter und zugleich willkürlicher wird, je mannigfaltigere
psychische Inhalte er umfasst, ist einleuchtend.“ „Gibt es für den
Standpunkt der wissenschaftlichen Psychologie kein Gedächtnis, keinen
Verstand und keine Phantasie, _sondern eben nur gewisse elementare
psychische Vorgänge und ihre Zusammenhänge_, die man in ziemlich
willkürlicher Unterscheidung unter jenen Namen zusammenfasst, so gibt
es natürlich noch weniger eine „Intelligenz“ oder „intellektuelle
Funktionen“ als einen einheitlichen, irgend einem fest abzugrenzenden
Tatbestand entsprechenden Begriff. Dennoch bleiben gewisse Fälle, wo
es nützlich ist, sich, wenn auch in einem durch die psychologische
Betrachtungsweise veränderten Sinne, jener Begriffe aus dem alten
Inventar der Vermögenspsychologie zu bedienen. Diese Fälle ergeben
sich da, wo uns komplexe, aus sehr verschiedenen Bestandteilen
gemischte Phänomene entgegentreten, die wegen der Regelmässigkeit
ihrer Verbindung vor allem auch aus praktischen Gründen eine
Berücksichtigung erheischen, oder wo uns das individuelle Bewusstsein
bestimmte Richtungen der Anlage und Bildung darbietet, und wo nun die
Regelmässigkeit der Verbindung wiederum zur Analyse solcher komplexer
geistiger Anlagen herausfordert. _In allen diesen Fällen ist es
aber natürlich die Aufgabe der psychologischen Untersuchung, nicht
bei den so gebildeten Generalbegriffen stehen zu bleiben, sondern
sie womöglich auf ihre einfachen Faktoren zurückzuführen._“[291]
Diese Anschauung ist echt extravertiert. Ich habe die besonders
charakteristischen Stellen durch Sperrdruck hervorgehoben. Während für
den introvertierten Standpunkt die „Generalbegriffe“ wie Vernunft,
Intellekt, etc. „Vermögen“, d. h. einfache Grundfunktionen sind,
welche die Mannigfaltigkeit der von ihnen geleiteten psychischen
Prozesse in einheitlichem Sinne zusammenfassen, so sind sie für den
extravertierten, empiristischen Standpunkt nichts als sekundäre,
abgeleitete Begriffe, Komplikationen der Elementarvorgänge, auf welch
letztere von dieser Ansicht der Wertakzent verlegt wird. Wohl lassen
sich, nach diesem Standpunkt, solche Begriffe nicht umgehen, aber man
sollte sie im Prinzip immer auf „ihre einfachen Faktoren zurückführen.“
Es ist selbstverständlich, dass der empiristische Standpunkt gar nicht
anders denken kann als reduktiv in Bezug auf allgemeine Begriffe, denn
für ihn sind Begriffe immer nur aus Erfahrung Abgeleitetes. Er kennt
überhaupt keine „Vernunftbegriffe“, Ideen a priori, weil sein Denken
passiv apperceptiv auf die sinnlich bedingte Erfahrung eingestellt
ist. Infolge dieser Einstellung ist immer das Objekt betont, es ist
gewissermassen handelnd, und nötigt zu Erkenntnissen und komplizierten
Vernunftschlüssen, und diese erfordern die Existenz allgemeiner
Begriffe, die aber nur dazu dienen, gewisse Gruppen von Phänomenen
unter einem Collektivum zu begreifen. So ist der Allgemeinbegriff
natürlicherweise nichts als eine sekundäre Grösse, die eigentlich,
ausser in der Sprache, nicht existiert. Die Wissenschaft kann daher der
Vernunft, der Phantasie etc. kein Recht auf Sonderexistenz einräumen,
insoferne sie der Ansicht ist, dass nur das wirklich existiere, was als
sinnlich gegebene Tatsache, als „elementarer Faktor“ vorhanden ist.
Wenn aber das Denken, wie es beim Introvertierten der Fall ist, aktiv
apperceptiv eingestellt ist, so hat die Vernunft, der Intellekt, die
Phantasie etc. den Wert einer Grundfunktion, eines Vermögens, d. h.
eines Könnens oder Tuns von innen heraus, weil für diesen Standpunkt
der Wertakzent auf dem Begriffe ruht und nicht auf den vom Begriffe
gedeckten und zusammengefassten Elementarvorgängen. Dieses Denken ist
von Hause aus synthetisch. Es ordnet nach dem Schema des Begriffes
an und benützt den Erfahrungsstoff, um seine Ideen zu erfüllen. Der
Begriff tritt als Aktivum auf und zwar aus eigener innerer Kraft,
welche den Erfahrungsstoff gestaltend ergreift. Der Extravertierte
vermutet als Quelle dieser Kraft einerseits blosse Willkür,
andererseits vorschnelle Generalisierung beschränkter Erfahrungen. Der
Introvertierte, der seiner eigenen Denkpsychologie unbewusst ist und
vielleicht sogar den modegemässen Empirismus selber als Richtschnur
adoptiert hat, verteidigt sich erfolglos gegen diesen Vorwurf. Der
Vorwurf ist aber nichts anderes als eine Projektion der extravertierten
Psychologie. Der aktive Denktypus bezieht nämlich die Energie seiner
Denktätigkeit weder aus der Willkür noch aus der Erfahrung, sondern aus
der Idee, d. h. aus der angebornen funktionellen Form, welche durch
seine introvertierte Einstellung aktiviert ist. Diese Quelle ist ihm
unbewusst, weil er die Idee wegen ihrer apriorischen Inhaltlosigkeit
erst in der Gestaltung a posteriori erkennen kann, nämlich in der
Form, welche der durch das Denken bearbeitete Erfahrungsstoff annimmt.
Dem Extravertierten aber ist das Objekt und der Elementarvorgang
darum wichtig und unerlässlich, weil er unbewusst die Idee in das
Objekt projiziert hat und er nur durch die empirische Sammlung und
Vergleichung zum Begriffe und damit zur Idee aufsteigen kann. Die
beiden Denkrichtungen sind einander merkwürdig entgegengesetzt: Der
Eine gestaltet aus seiner unbewussten Idee heraus den Stoff und
gelangt so zur Erfahrung; der Andere lässt sich vom Stoffe, der seine
unbewusste Ideenprojektion enthält, leiten und gelangt so zur Idee.
Dieser Einstellungsgegensatz hat etwas Irritierendes an sich, und
deshalb ist er es auch, der im Grunde genommen die hitzigsten und
erfolglosesten wissenschaftlichen Diskussionen verursacht.

Ich hoffe, dass diese Auseinandersetzung meine Ansicht genügend
belegt, dass die ratio und ihre einseitige Erhebung zum Prinzip,
eben der Rationalismus, dem Empirismus ebenso sehr eignen, wie dem
Ideologismus. Statt von Ideologismus zu sprechen, könnte ich auch
das Wort „Idealismus“ anwenden. Dieser Verwendung steht aber sein
Gegensatz zu „Materialismus“ entgegen, und ich könnte als Gegensatz
zu „materialistisch“ nicht „ideologisch“ sagen, da der Materialist,
wie die Geschichte der Philosophie zeigt, oft ebenso gut ein Ideolog
sein kann, nämlich dann, wenn er kein Empiriker ist, sondern von der
allgemeinen Idee der Materie aus aktiv denkt.

b) Das zweite Gegensatzpaar, das _James_ aufstellt, ist
_Intellektualismus versus Sensualismus_ (Sensationalism).

Sensualismus ist der Ausdruck, der das Wesen des extremen Empirismus
kennzeichnet. Er behauptet die Sinneserfahrung als einzige und
ausschließliche Quelle der Erkenntnis. Die sensualistische Einstellung
ist ganz nach dem durch die Sinne gegebenen Objekt orientiert, also
nach aussen. Offenbar meint James einen intellektuellen und nicht einen
ästhetischen Sensualismus, aber eben darum scheint „Intellektualismus“
nicht gerade der dazu passende Gegensatz zu sein. Psychologisch ist der
Intellektualismus eine Einstellung, welche sich dadurch kennzeichnet,
dass sie dem Intellekt den bedingenden Hauptwert gibt, also dem
Erkennen auf der begrifflichen Stufe. Ich kann mit dieser Einstellung
auch ein Sensualist sein, nämlich dann, wenn ich mein Denken mit
concreten Begriffen beschäftige, die allesamt aus der sinnlichen
Erfahrung stammen. Daher kann auch der Empiriker intellektuell sein.
Philosophisch wird Intellektualismus etwa promiscuë mit Rationalismus
gebraucht, daher man wiederum Ideologismus als den Gegensatz zu
Sensualismus nennen müsste, insofern ja auch Sensualismus in seinem
Wesen nur ein extremer Empirismus ist.

c) Das dritte James’sche Gegensatzpaar ist _Idealismus versus
Materialismus_.

Man hätte schon beim Sensualismus die Vermutung hegen können, dass
James damit nicht bloss einen gesteigerten Empirismus, d. h.
also einen intellektuellen Sensualismus meint, sondern mit dem
Ausdruck „sensationalistic“ vielleicht auch das eigentlich
Empfindungsmässige abgesehen von allem Intellekt hervorheben wollte.
Mit Empfindungsmässigem meine ich die eigentliche _Sinnlichkeit_,
allerdings nicht in vulgärem Sinne als voluptas, sondern als eine
psychologische Einstellung, bei welcher weniger das eingefühlte Objekt,
als vielmehr die blosse Tatsache der Sinneserregung und -empfindung
die orientierende und determinierende Grösse ist. Diese Einstellung
kann auch als eine reflektorische bezeichnet werden, indem die ganze
Mentalität von der Sinnesempfindung abhängt und auch in ihr gipfelt.
Das Objekt wird weder abstrakt erkannt noch eingefühlt, sondern wirkt
durch seine natürliche Existenzform, und das Subjekt orientiert
sich ausschließlich an den durch den Kontakt mit dem Objekt erregten
Sinnesempfindungen. Diese Einstellung entspräche einer primitiven
Mentalität. Ihr zugehöriger Gegensatz ist die _intuitive Einstellung_,
welche charakterisiert ist durch ein empfindungsmässiges Erfassen,
welches weder intellektuell noch gefühlsmässig ist, sondern beides
zugleich in ungesonderter Mischung. Wie das sinnliche Objekt in der
Wahrnehmung _erscheint_, so _erscheint_ auch der psychische Inhalt in
der Intuition, also quasi illusionär oder halluzinatorisch.

Dass James den Tough-minded sowohl als „sensationalistic“ wie auch als
„materialistic“ bezeichnet (und weiter unten noch als „irreligious“)
lässt den Zweifel aufkommen, ob er wohl mit seiner Typisierung
denselben Typengegensatz im Auge habe, wie ich. Materialismus wird
vulgär ja stets verstanden als eine Einstellung, die sich nach
„materiellen“ Werten orientiert, also als eine Art von moralischem
Sensualismus. Die James’sche Charakterisierung ergäbe also ein sehr
ungünstiges Gemälde, wenn wir diesen Ausdrücken ihre vulgäre Bedeutung
unterschieben wollten. Dies läge gewiss nicht im Sinne von James,
dessen oben zitierte Worte über die Typen ein Missverständnis nach
dieser Richtung verhindern wollen. Man dürfte also nicht fehlgehen,
wenn man annimmt, dass James hauptsächlich die philosophische
Bedeutung der in Frage stehenden Ausdrücke im Auge hatte. Dann
heisst Materialismus eine Einstellung, welche sich allerdings nach
materiellen Werten orientiert, aber nicht nach „sinnlichen“, sondern
nach Tatsachenwerten; wobei mit „Tatsache“ etwas Äusseres und sozusagen
Stoffliches gemeint ist. Der Gegensatz dazu ist „Idealismus“, im
philosophischen Sinne einer Hauptbewertung der _Idee_. Ein
moralischer Idealismus kann damit nicht gemeint sein, sonst müssten wir
auch, entgegen der Absicht von James, annehmen, dass mit Materialismus
ein moralischer Sensualismus gemeint sei. Wenn wir also annehmen, dass
er mit Materialismus eine Einstellung meint, die den orientierenden
Hauptwert auf die reale Tatsächlichkeit legt, so gelangen wir wieder
dazu, auch in diesem Attribut eine extravertierte Eigentümlichkeit
aufzufinden, womit unsere anfänglichen Zweifel sich zerstreuen.
Dass der philosophische Idealismus dem introvertierten Ideologismus
entspricht, haben wir bereits gesehen. Ein moralischer Idealismus wäre
aber keineswegs charakteristisch für den Introvertierten, denn auch der
Materialist kann moralisch idealistisch sein.

d) Das vierte Gegensatzpaar ist _Optimismus versus Pessimismus_.

Ich hege grosse Zweifel, ob dieser bekannte Gegensatz, nach dem
sich menschliche Temperamente unterscheiden lassen, ohne weiteres
auf die James’schen Typen verwendet werden darf. Ist z. B. der
Empirismus _Darwins_ auch pessimistisch? Gewiss ist er es für
einen, der eine ideologistische Weltanschauung hat und den andern
Typus Mensch durch die Brille einer unbewussten Gefühlsprojektion
sieht. Der Empiriker selber braucht aber deshalb keineswegs seine
Ansicht als pessimistisch aufzufassen. Oder ist z. B. der Denker
_Schopenhauer_, dessen Weltanschauung rein ideologistisch ist
(genau wie der reine Ideologismus der Upanishads), der James’schen
Typisierung entsprechend, etwa optimistisch? _Kant_ selber, ein
sehr reiner introvertierter Typus, steht jenseits von Optimismus und
Pessimismus, so gut wie die grossen Empiriker. Es scheint mir daher,
dass dieser Gegensatz auch mit den James’schen Typen nichts zu tun
hat. So gut wie es optimistische Introvertierte gibt, gibt es auch
optimistische Extravertierte und vice-versa. Es wäre aber sehr leicht
möglich, dass James dieser Irrtum unterlaufen ist auf Grund der
vorhin angedeuteten subjektiven Projektion. Eine materialistische
oder rein empiristische oder positivistische Weltanschauung
erscheint dem Standpunkt des Ideologismus als schlechthin trostlos.
Er muss sie also als pessimistisch empfinden. Wer aber an den Gott
„Materie“ glaubt, dem erscheint die materialistische Anschauung als
optimistisch. Durch die materialistische Auffassung wird nämlich dem
Ideologismus der Lebensnerv durchschnitten, denn seine Hauptkraft,
das aktive Appercipieren und das Verwirklichen der Urbilder, wird
dadurch lahmgelegt. Darum muss ihm eine solche Ansicht als durchaus
pessimistisch erscheinen, denn sie beraubt ihn jeglicher Hoffnung, die
ewige Idee je wieder in der Erscheinung verwirklicht zu erblicken.
Eine Welt realer Tatsachen bedeutet für ihn Exil und dauernde
Heimatlosigkeit. Wenn also James die materialistische Ansicht parallel
setzt mit Pessimismus, so dürfte dieser Umstand darauf hinweisen,
dass er persönlich zur ideologistischen Seite gehört -- eine Annahme,
die unschwer durch viele andere Züge aus dem Leben dieses Philosophen
erhärtet werden könnte. Dieser Umstand dürfte auch erklären, warum der
Tough-minded die drei etwas verdächtigen Epitheta: sensualistisch,
materialistisch, irreligiös abbekommen hat. Auf denselben Umstand
weist auch jene Stelle in „Pragmatism“ hin, wo James die gegenseitige
Abneigung der Typen einem Zusammentreffen von Bostoner Touristen mit
der Bevölkerung von Cripple Creek[292] vergleicht. Dieser Vergleich
ist für den andern Typus wenig schmeichelhaft und lässt auf eine
gefühlsmässige Abneigung schliessen, gegen die auch ein starker
Wille zur Gerechtigkeit nicht ganz aufkommt. Dieses kleine „document
humain“ scheint mir aber gerade ein kostbarer Beweis zu sein für
die Tatsache der irritierenden Verschiedenheit der beiden Typen.
Es mag vielleicht kleinlich erscheinen, wenn ich gerade auf solche
Gefühlsinkompatibilitäten einen gewissen Nachdruck lege. Aber ich
habe mich durch vielfache Erfahrungen davon überzeugt, dass gerade
solche im Bewusstseinshintergrund gehaltene Gefühle gelegentlich auch
das schönste Raisonnement in ungünstiger Weise beeinflussen und die
Verständigung hintertreiben. Man kann sich ja leicht denken, dass auch
die Bevölkerung von Cripple Creek den Bostoner Touristen mit besondern
Augen ansieht.

e) Das fünfte Gegensatzpaar ist _Religiosität_ versus
_Irreligiosität_.

Die Gültigkeit dieses Gegensatzes für die James’sche Typenpsychologie
hängt natürlich wesentlich ab von der Definition, die er der
Religiosität gibt. Wenn er das Wesen der Religiosität ganz vom
ideologistischen Standpunkt auffasst als eine Einstellung, bei welcher
die religiöse Idee eine dominierende Rolle spielt (im Gegensatz zum
Gefühl), dann hat er gewiss recht, den Tough-minded auch als irreligiös
zu bezeichnen. Aber _James_ denkt zu weit und zu menschlich, als
dass er nicht sähe, dass die religiöse Einstellung auch durch das
religiöse _Gefühl_ determiniert sein kann. Sagt er doch selber:
„Unsere Ehrerbietung vor Tatsachen hat nicht alle Religiosität in
uns neutralisiert. _Aber diese Ehrerbietung ist in sich selber
sozusagen religiös._ Unsere wissenschaftliche Einstellung ist fromm
(our scientific temper is devout)“.[293] Den Mangel an Ehrfurcht vor
„ewigen“ Ideen ersetzt der Empiriker durch einen sozusagen religiösen
Glauben an die reale Tatsache. Wenn jemand seine Einstellung orientiert
an der Idee Gottes, so ist es psychologisch dasselbe, wie wenn er es
an der Idee des Stoffes täte oder wie wenn er die realen Tatsachen
zum determinierenden Faktor seiner Einstellung erhöbe. Insofern
diese Orientierung nur _unbedingt_ geschieht, verdient sie das
Epitheton „religiös“. Von einem hohen Standpunkt aus ist aber die
reale Tatsache ebenso sehr wert, ein unbedingter Faktor zu sein, wie
die Idee, das Urbild, das der Zusammenprall des Menschen und seiner
innern Bedingungen mit den harten Tatsachen der äussern Wirklichkeit
seit Myriaden Jahren geschaffen hat. Die unbedingte Hingebung an die
realen Tatsachen kann jedenfalls vom psychologischen Standpunkt aus
nie als irreligiös bezeichnet werden. Der tough-minded hat eben seine
empiristische Religion, wie der tender-minded seine ideologistische
Religion hat. Es ist nun allerdings auch eine Tatsache unserer
gegenwärtigen Kulturepoche, dass die Wissenschaft vom Objekt und
die Religion vom Subjekt, d. h. vom Ideologismus beherrscht wird,
denn irgend wohin musste sich die aus sich selber wirkende Idee doch
flüchten, nachdem sie in der Wissenschaft ihren Platz dem Objekt hatte
räumen müssen. Wenn die Religion in dieser Weise als gegenwärtige
Kulturerscheinung verstanden wird, dann hat James recht, den Empiriker
als irreligiös zu bezeichnen, aber auch nur so weit. Da die Philosophen
nicht unbedingt eine ganz abgesonderte Menschenklasse sind, so werden
sich ihre Typen auch weit über den Bezirk des philosophierenden
Menschen in die allgemeine Menschheit hinaus erstrecken, vielleicht
soweit als die kultivierte Menschheit überhaupt reicht. Aus diesem
allgemeinen Grunde schon verböte es sich, die eine Hälfte der
Kulturmenschheit als irreligiös zu bezeichnen. Wir wissen ja aus der
Psychologie des Primitiven, dass die religiöse Funktion schlechthin
zum Bestande der Psyche gehört und stets und überall vorhanden ist, so
undifferenziert sie auch sein mag.

Wenn wir die vorhin angedeutete Beschränktheit des Begriffes
„Religion“ bei James nicht annehmen, dann muss es sich wieder um eine
gefühlsmässige Entgleisung handeln, die, wie wir sahen, sich nur allzu
leicht ereignet.

f) Das sechste Gegensatzpaar ist _Indeterminismus_ versus
_Determinismus_.

Dieser Gegensatz ist psychologisch interessant. Es ist
selbstverständlich, dass der Empirismus _causal_ denkt, womit
der notwendige Zusammenhang von Ursache und Wirkung axiomatisch
angenommen ist. Die empiristische Einstellung wird orientiert durch
das eingefühlte Objekt, sie wird gewissermassen von der äussern
Tatsache „bewirkt“ mit dem Gefühl der Notwendigkeit einer aus einer
Ursache erfolgenden Wirkung. Es ist ganz natürlich, dass sich dieser
Einstellung der Eindruck der Unabänderlichkeit der Kausalzusammenhänge
psychologisch aufdrängt. Die Identifikation der innern psychischen
Vorgänge mit dem Ablauf äusserer Tatsachen ist schon aus dem Grunde
gegeben, dass unbewusst im Einfühlungsakt eine beträchtliche Summe
der eigenen Aktivität, des eigenen Lebens dem Objekt verliehen
wird. Dadurch wird das Subjekt dem Objekt assimiliert, obschon der
Einfühlende das Objekt zu assimilieren glaubt. Wenn aber auf dem
Objekt ein starker Wertakzent liegt, so besitzt damit das Objekt
eine Bedeutung, welche auch ihrerseits das Subjekt beeinflusst und
es zu einer Dissimilation von sich selber zwingt. Die menschliche
Psychologie ist bekanntlich chamäleonartig, das erfährt der praktische
Psycholog alltäglich. Wo immer das Objekt überwiegt, finden im Subjekt
Angleichungen an die Natur des Objektes statt. So spielt z. B. die
Identifikation mit dem geliebten Objekt in der analytischen Therapie
keine geringe Rolle. Die Psychologie der Primitiven vollends gibt uns
eine Menge von Beispielen der Dissimilation zu Gunsten des Objektes, z
B. die häufige Angleichung an das Totemtier oder an die Ahnengeister.
Die Stigmatisierung der mittelalterlichen bis neuzeitlichen
Heiligen gehört ebenfalls hieher. In der „imitatio Christi“ ist die
Dissimilation sogar zum Prinzip erhoben. Bei dieser unzweifelhaften
Anlage der menschlichen Psyche zur Dissimilation ist das Herübernehmen
der objektiven Kausalzusammenhänge ins Subjekt psychologisch leicht
verständlich. Die Psyche kommt dadurch, wie gesagt, unter den
Eindruck der alleinigen Gültigkeit des Kausalprinzips, und es bedarf
schon des ganzen erkenntnistheoretischen Rüstzeuges, um sich der
Übermacht dieses Eindruckes zu erwehren. Erschwerend kommt dabei in
Betracht, dass die empiristische Einstellung mit ihrem ganzen Wesen
uns hindert, an die innere Freiheit zu glauben. Denn jeder Beweis, ja
jede Beweismöglichkeit fehlt uns. Was will jenes blasse, undeutliche
Gefühl der Freiheit besagen gegenüber der erdrückenden Masse objektiver
Beweise des Gegenteils? Der Determinismus des Empirikers ist daher
sozusagen unvermeidlich, vorausgesetzt, dass der Empiriker soweit
denkt und es nicht vorzieht -- wie das nicht selten geschieht -- zwei
Schubfächer zu besitzen, das eine für die Wissenschaft und das andere
für die von den Eltern und der Societät überkommene Religion. Wie
wir sahen, besteht das Wesen des Ideologismus auf einer unbewussten
Aktivierung der Idee. Diese Aktivierung kann auf einer nachträglichen,
im Leben erworbenen Abneigung gegen die Einfühlung beruhen, kann aber
auch von Geburt an existieren als eine a priori von Natur geschaffene
und begünstigte Einstellung. (Ich habe in meiner praktischen Erfahrung
mehrfach solche Fälle gesehen.) In diesem letztern Falle ist die Idee
a priori aktiv, ohne aber, ihrer Leere und Unvorstellbarkeit wegen,
dem Bewusstsein gegeben zu sein. Sie ist als überwiegende innere,
aber unvorstellbare Tatsache den „objektiven“ äussern Tatsachen
übergeordnet, und gibt wenigstens das Gefühl ihrer Unabhängigkeit und
Freiheit an das Subjekt ab, das sich infolge seiner innern Angleichung
an die Idee dem Objekt gegenüber als unabhängig und frei empfindet.
Wenn die Idee der orientierende Hauptfaktor ist, so assimiliert sie
sich das Subjekt ebensowohl, wie das Subjekt versucht, durch die
Gestaltung des Erfahrungsstoffes sich die Idee zu assimilieren. Es
findet also genau wie bei der obenbesprochenen Objekteinstellung eine
Dissimilation des Subjektes von sich selber statt, aber in umgekehrtem
Sinne, d. h. in diesem Fall zu Gunsten der Idee. Das anererbte
Urbild ist eine alle Zeiten überdauernde, allen Erscheinungswechseln
übergeordnete Grösse, die vor aller und über aller individueller
Erfahrung steht. Der Idee kommt daher eine besondere Macht zu. Wenn
sie aktiviert ist, so überträgt sie ein ausgesprochenes Machtgefühl
ins Subjekt, indem sie sich mittelst der innern unbewussten Einfühlung
das Subjekt assimiliert. Daraus entspringt im Subjekt das Gefühl der
Macht, der Unabhängigkeit, der Freiheit und der Ewigkeit. (Vergl.
dazu _Kants_ Postulate von Gott, Freiheit und Unsterblichkeit.)
Wenn das Subjekt die freie Tätigkeit seiner über die reale Tatsache
erhabenen Idee empfindet, so drängt sich ihm natürlicherweise der
Gedanke der Freiheit auf. Wenn sein Ideologismus rein ist, so muss es
sogar zu einer indeterministischen Überzeugung gelangen.

Der hier besprochene Gegensatz ist in hohem Masse charakteristisch für
unsere Typen. Der Extravertierte ist gekennzeichnet durch sein Streben
nach dem Objekt, durch die Einfühlung in und die Identifikation mit
dem Objekt, und seine gewollte Abhängigkeit vom Objekt. Er ist durch
das Objekt ebenso sehr beeinflusst, wie er es zu assimilieren strebt.
Der Introvertierte dagegen ist gekennzeichnet durch seine anscheinende
Selbstbehauptung gegenüber dem Objekt. Er sträubt sich gegen jede
Abhängigkeit vom Objekt, er weist die Beeinflussung durch das Objekt
ab, ja er empfindet gelegentlich sogar Furcht davor. Umsomehr aber
hängt er ab von der Idee, welche ihn vor äusserer Abhängigkeit
beschützt und ihm das Gefühl der innern Freiheit gibt, dafür aber auch
eine ausgesprochene Machtpsychologie.

g) Der siebente Gegensatz ist _Monismus_ versus _Pluralismus_.

Es ist nach dem Obengesagten ohne weiteres verständlich, dass die
Einstellung, die durch die Idee orientiert ist, nach dem Monismus
tendiert. Die Idee hat immer hierarchischen Charakter, sei sie nun
gewonnen durch Abstraktion aus Vorstellungen und concreten Begriffen,
oder sei sie a priori als unbewusste Form existierend. Im erstem Fall
ist sie der höchste Punkt des Gebäudes, der gewissermassen alles,
was unter ihm liegt, abschliesst und damit umfasst, im letztern
Fall ist sie der unbewusste Gesetzgeber, der die Möglichkeiten und
Notwendigkeiten des Denkens reguliert. Beide Male hat die Idee
beherrschende Eigenschaft. Obschon eine Mehrzahl von Ideen vorhanden
ist, so hat doch jeweils eine Idee für kürzere oder längere Zeit die
Oberhand und konstelliert monarchisch die Grosszahl der psychischen
Elemente. Umgekehrt ist es ebenso klar, dass die Einstellung, die sich
nach dem Objekte orientiert, immer zu einer Mehrzahl von Prinzipien
(Pluralismus) neigt, denn die Mannigfaltigkeit der Objekteigenschaften
zwingt auch zu einer Mehrzahl von Begriffen und Prinzipien, ohne welche
eine Erklärung sich dem Wesen des Objektes nicht anpassen kann.

Die monistische Tendenz gehört zur Introversionseinstellung, die
pluralistische Tendenz zur Extraversionseinstellung.

h) Der achte Gegensatz ist _Dogmatismus_ versus
_Skeptizismus_.

Es ist auch in diesem Falle leicht einzusehen, dass der Dogmatismus in
erster Linie der Einstellung, die der Idee folgt, anhaftet, obschon
die unbewusste Verwirklichung der Idee nicht eo ipso Dogmatismus ist.
Gleichwohl macht die Art und Weise, wie sich eine unbewusste Idee
sozusagen gewaltsam verwirklicht, auf Aussenstehende den Eindruck, als
ob der nach Ideen Denkende von einem Dogma ausginge, in dessen starre
Schranken der Erfahrungsstoff gepresst wird. Die Einstellung, die sich
nach dem Objekt richtet, erscheint selbstverständlich in Bezug auf alle
Ideen a priori als skeptisch, denn sie will in erster Linie das Objekt
und die Erfahrung zum Worte kommen lassen, unbekümmert um allgemeine
Ideen. Der Skeptizismus ist in diesem Sinne sogar eine unerlässliche
Vorbedingung aller Empirie.

Auch dieses Gegensatzpaar bestätigt die wesentliche Ähnlichkeit der
James’schen Typen mit den meinigen.


=3. Zur Kritik der James’schen Auffassung.=

Wenn ich die James’sche Auffassung kritisiere, so muss ich vor
allem hervorheben, dass sie sich fast ausschliesslich mit den
Denkqualitäten der Typen beschäftigt. In einem philosophischen
Werke ist dies wohl kaum anders zu erwarten. Diese durch den Rahmen
bedingte Einseitigkeit gibt aber leicht Anlass zu Verwirrung.
Es ist nämlich nicht schwer, diese oder jene Eigenschaften oder
sogar einige davon am entgegengesetzten Typus nachzuweisen. Z.
B. gibt es Empiriker, die dogmatisch, religiös, idealistisch,
intellektualistisch und rationalistisch sind, und umgekehrt gibt es
Ideologen, die materialistisch, pessimistisch, deterministisch, und
irreligiös sind. Wenn man schon darauf hinweisen kann, dass diese
Ausdrücke sehr komplexe Tatbestände bezeichnen, wobei noch sehr
verschiedene Nuancen in Frage kommen, so ist damit der Möglichkeit
der Verwirrung doch nicht abgeholfen. Die James’schen Ausdrücke sind
einzeln genommen zu _weit_ und geben nur in ihrer Gesamtheit ein
ungefähres Bild des typischen Gegensatzes, ohne ihn damit aber auf
eine einfache Formel zu bringen. Im ganzen sind die James’schen Typen
eine wertvolle Ergänzung des Typen-Bildes, das wir aus den übrigen
Quellen gewonnen haben. James gebührt das grosse Verdienst, zum ersten
Male mit einer gewissen Ausführlichkeit auf die ausserordentliche
Bedeutung der Temperamente für die Gestaltung des philosophischen
Denkens hingewiesen zu haben. Seine pragmatische Auffassung will die
Gegensätze der durch Temperamentunterschied bedingten philosophischen
Anschauungen vereinigen. Bekanntlich ist der Pragmatismus eine aus
der englischen Philosophie (F. C. S. _Schiller_) stammende, weit
verbreitete philosophische Strömung, welche der „Wahrheit“ einen
auf ihre praktische Wirksamkeit und Nützlichkeit beschränkten Wert
zuerkennt, unter Umständen unbekümmert um ihre Anfechtbarkeit von
diesem oder jenem Standpunkt aus. Es ist nun bezeichnend, dass
James seine Darstellung dieser philosophischen Ansicht gerade mit
dem Typengegensatz einleitet und damit die Notwendigkeit einer
pragmatischen Anschauung sozusagen begründet. Damit wiederholt sich
jenes Schauspiel, das uns das frühe Mittelalter schon dargeboten hat.
Der damalige Gegensatz lautete: Nominalismus versus Realismus, und
es war _Abälard_, welcher im Sermonismus oder Conceptualismus eine
Vereinigung suchte. Da aber der damaligen Auffassung der psychologische
Gesichtspunkt völlig abging, so fiel auch sein Lösungsversuch
dementsprechend einseitig logisch-intellektualistisch aus. James
greift tiefer, er fasst den Gegensatz psychologisch auf und versucht
dementsprechend eine pragmatische Lösung. Man darf sich hinsichtlich
des Wertes dieser Lösung allerdings keinen Illusionen hingeben:
der Pragmatismus ist nur ein Notbehelf, der solange Anspruch auf
Gültigkeit erheben darf, als ausser den durch Temperament gefärbten
Erkenntnismöglichkeiten des Intellektes keine andern Quellen
aufgeschlossen sind, welche der philosophischen Anschauungsbildung
neue Elemente hinzufügen könnten. _Bergson_ hat uns allerdings auf
die Intuition und auf die Möglichkeit einer „intuitiven Methode“
hingewiesen. Aber es ist, wie bekannt, beim blossen _Hinweis_
geblieben. Ein _Nachweis_ der Methode fehlt und wird auch so leicht
nicht zu erbringen sein, obschon Bergson auf seine Begriffe des „élan
vital“ und der „durée créatrice“ als Resultate der Intuition hinweisen
darf. Abgesehen von dieser intuitiv erfassten Grundanschauung, die
ihre psychologische Berechtigung von der Tatsache herleitet, dass
sie schon dem Altertum, speziell dem Neuplatonismus, eine durchaus
geläufige Anschauungskombination war, ist die Bergsonsche Methode
intellektualistisch und nicht intuitiv. In unvergleichlich höherm
Masse hat _Nietzsche_ die intuitive Quelle genützt und sich damit
vom blossen Intellekt in seiner philosophischen Anschauungsbildung
befreit, allerdings in einer Art und Weise und in einem solchen
Grade, dass sein Intuitionismus die Grenzen einer _philosophischen_
Weltanschauung bei weitem überschritt, und zu einer künstlerischen Tat
führte, die eine der philosophischen Kritik gutenteils unzugängliche
Grösse darstellt. Ich meine damit natürlich den „Zarathustra“ und
nicht die philosophischen Aphorismensammlungen, welche einer in erster
Linie psychologischen Kritik zugänglich sind, und zwar um ihrer
vorwiegend intellektualistischen Methode willen. Wenn man also von
einer „intuitiven Methode“ überhaupt sprechen darf, so hat meines
Erachtens _Nietzsches_ „Zarathustra“ dafür das beste Exempel gegeben
und zugleich die Möglichkeit nichtintellektualistischer und doch
philosophischer Problemerfassung schlagend dargetan. Als Vorläufer
des _Nietzsche_schen Intuitionismus erscheinen mir _Schopenhauer_
und _Hegel_, ersterer wegen der seine Anschauung ausschlaggebend
beeinflussenden _Gefühlsintuition_, letzterer wegen der seinem System
zu Grunde liegenden _ideellen_ Intuition. Bei diesen beiden Vorläufern
stand -- wenn dieser Ausdruck mir gestattet ist -- die Intuition
unterhalb des Intellektes, bei _Nietzsche_ jedoch oberhalb.

Der Gegensatz der beiden „Wahrheiten“ erfordert zunächst eine
pragmatische Einstellung, wenn man überhaupt dem andern Standpunkt
gerecht werden will. So unerlässlich die pragmatische Methode
ist, so setzt sie doch zuviel Resignation voraus und so verbindet
sie sich fast unausweichlich mit einem Mangel an schöpferischer
Gestaltung. Die Lösung des Konfliktes der Gegensätze aber erfolgt
weder durch logisch-intellektualistische Kompromissbildung wie im
Conceptualismus, noch durch pragmatische Bemessung des praktischen
Wertes logisch unvereinbarer Anschauungen, sondern einzig und allein
in der positiven Schöpfung oder Tat, welche die Gegensätze als nötige
Elemente der Koordination in sich aufnimmt, so wie eine koordinierte
Muskelbewegung immer auch die Innervation der Antagonisten in sich
begreift. Der Pragmatismus kann darum nichts anderes sein, als eine
Übergangseinstellung, welche der schöpferischen Tat den Weg bereiten
soll durch die Beseitigung von Vorurteilen. Den neuen Weg, den der
Pragmatismus vorbereitet, und auf den Bergson hinweist, hat, wie
es mir scheint, die deutsche -- allerdings nicht akademische --
Philosophie bereits beschritten: es ist _Nietzsche_, der mit der
ihm eigenen Gewaltsamkeit diese verschlossene Türe aufgebrochen hat.
Seine Tat führt über das Unbefriedigende der pragmatischen Lösung
hinaus und zwar ebenso gründlich, wie die pragmatische Anerkennung des
Lebenswertes einer Wahrheit die trockene Einseitigkeit des unbewussten
Conceptualismus der nachabälardschen Philosophie überwunden -- und noch
zu überwinden hat.



IX

Das Typenproblem in der Biographik.



IX.

Das Typenproblem in der Biographik.


Wie man fast erwarten darf, liefert auch das Gebiet der
_Biographik_ seinen Beitrag zum Problem der psychologischen
Typen. Es ist der naturwissenschaftlichen Methodik eines _Wilhelm
Ostwald_[294] zu verdanken, dass durch die Vergleichung einer
Anzahl von Biographien hervorragender Naturforscher sich eine typische
psychologische Gegensätzlichkeit herausgestellt hat, welche Ostwald
als den _klassischen und den romantischen Typus_ bezeichnet.[295]
„Während der erste“, sagt Ostwald, „durch die allseitige Vollendung
jeder einzelnen Leistung, aber gleichzeitig durch ein zurückgezogenes
Wesen und eine geringe persönliche Wirksamkeit auf seine Umgebung
gekennzeichnet ist, fällt der Romantiker durch die entgegengesetzten
Eigenschaften auf. Nicht sowohl Vollendung der einzelnen Arbeit,
als Mannigfaltigkeit und auffallende Originalität zahlreicher,
schnell aufeinanderfolgender Leistungen ist ihm eigen, und auf seine
Zeitgenossen pflegt er unmittelbar und stark einzuwirken.“ „Und
es soll betont werden, dass die mentale Reaktionsgeschwindigkeit
massgebend dafür ist, ob der Entdecker dem einen Typus oder dem
andern zugehört. Forscher mit sehr grosser Reaktionsgeschwindigkeit
sind Romantiker, solche mit geringer sind Klassiker.“[296] Der
Klassiker hat eine langsame Produktionsweise und bringt zuweilen
erst relativ spät die reifsten Früchte seines Geistes hervor.[297]
Ein nach Ostwald nie fehlendes Kennzeichen des klassischen Typus ist
das „unbedingte Bedürfnis, der Öffentlichkeit gegenüber frei von
Irrtum dazustehen“.[298] Dem klassischen Typus ist als Ersatz für
die „mangelnde persönliche Wirkung eine umso ausgiebigere durch die
Schrift gewährt“.[299] Allerdings scheinen dieser Wirkung auch Grenzen
gesteckt zu sein, wie der folgende, von Ostwald erwähnte Fall aus
der Biographie von _Helmholtz_ erkennen lässt: Anlässlich der
mathematischen Untersuchungen von Helmholtz über die Wirkungen von
Induktionsschlägen schreibt _Du Bois-Reymond_ an den Forscher:
„Du musst -- nimm es mir nicht übel -- durchaus mehr Sorgfalt darauf
wenden, von Deinem eigenen Standpunkt des Wissens zu abstrahieren, und
Dich auf den Standpunkt derer zu stellen, die noch nicht wissen, um was
es sich handelt, und was Du ihnen auseinandersetzen willst.“ Helmholtz
antwortete dagegen: „Was die Darstellung in dem Aufsatze anlangt, so
hat sie mir gerade diesmal viel Mühe gemacht, und ich glaubte zuletzt,
mit ihr zufrieden sein zu dürfen.“ Ostwald bemerkt dazu: „Auf die Frage
nach dem Leser geht er gar nicht ein, da er nach Art des Klassikers
_für sich selbst schreibt_, d. h. so, dass die Darstellung ihm
einwandfrei erscheint, und nicht für andere.“ Es ist charakteristisch,
was Du Bois in demselben Brief an Helmholtz schreibt: „Ich habe Deine
Abhandlung und den Auszug ein paar Mal durchgelesen, ohne zu begreifen,
was Du eigentlich gemacht hattest, und wie Du es gemacht hattest.
Endlich erfand ich selbst Deine Methode, und nun verstand ich erst
allmählich Deine Darstellung.“

Dieser Fall ist im Leben des klassischen Typus, dem es selten oder
nie glückt, „gleichgeartete Seelen an der seinen zu entzünden“[300],
ein durchaus typisches Vorkommnis und zeigt, dass die ihm zuerkannte
Wirkung durch die Schrift wohl hauptsächlich davon herrührt, dass er
in der Regel erst posthum wirkt, d. h. wenn er aus seinen Schriften
nachentdeckt wird, wie es etwa _Robert Mayer_ gegangen ist.
Auch seinen Schriften scheint sehr oft die überzeugende, zündende,
unmittelbar persönliche Wirkung abzugehen, denn die Schrift ist
schliesslich ein ebenso persönlicher Ausdruck, wie die Konversation
oder der Vortrag. Die durch die Schrift vermittelte Wirkung des
Klassikers beruht also weniger auf den äussern anregenden Qualitäten
seiner Schrift, als vielmehr auf den Umstand, dass die Schrift
schliesslich das einzige ist, was von ihm übrig bleibt und woraus sich
nachträglich rekonstruieren lässt, was die Leistung des Mannes war.
Denn es scheint eine auch aus der Beschreibung Ostwalds hervorgehende
Tatsache zu sein, dass der Klassiker selten mitteilt, was er tut, und
wie er es tut, sondern was er erreicht hat, ohne Rücksicht darauf,
dass sein Publikum keine Ahnung von seinem Wege besitzt. Es scheint,
dass für den Klassiker der Weg, die Art und Weise seines Schaffens von
geringerer Bedeutung sind, weil sie mit seiner Persönlichkeit, die er
im Hintergrund hält, auf’s innigste verknüpft sind.

Ostwald vergleicht seine beiden Typen den 4 alten Temperamenten[301]
und zwar hinsichtlich der ihm fundamental erscheinenden
Eigentümlichkeit der langsamen und der geschwinden Reaktion. Die
langsame Reaktion entspricht dem phlegmatischen und melancholischen
Temperament, die geschwinde Reaktion dem sanguinischen und
cholerischen. Er betrachtet den sanguinischen und den phlegmatischen
Typus als die normalen Mitteltypen, während ihm der cholerische
und der melancholische Typus als krankhafte Übertreibung der
Grundcharaktere erscheinen. Es ist, wenn man die Biographien von
_Humphry Davy_ und _Liebig_ einerseits und von _Robert Mayer_
und _Faraday_ andererseits überblickt, tatsächlich leicht, zu
erkennen, dass erstere zugleich ausgesprochene „Romantiker“ _und_
sanguinisch-cholerisch, letztere dagegen ebenso deutliche „Klassiker“
_und_ phlegmatisch-melancholisch sind. Diese Überlegung Ostwalds
erscheint mir als durchaus überzeugend, denn die 4 alten Temperamente
sind sehr wahrscheinlich nach dem gleichen Erfahrungsprinzip
konstruiert worden, nachdem Ostwald auch den klassischen und
romantischen Typus aufgestellt hat. Die 4 Temperamente sind offenbare
Unterscheidungen nach dem Gesichtspunkt der Affektivität, d. h. der
in Erscheinung tretenden affektiven Reaktionen. Diese Klassifikation
ist aber, vom psychologischen Standpunkt aus, _oberflächlich_; sie
urteilt ausschliesslich nach der äussern Erscheinung. Nach dieser alten
Einteilung gehört ein Mensch, der sich äusserlich ruhig und unauffällig
benimmt, zum phlegmatischen Temperament. Er gilt als „phlegmatisch“ und
wird damit eingereiht bei den Phlegmatikern. In Wirklichkeit aber kann
es so sein, dass er alles ist, nur kein Phlegmatiker, sondern sogar
eine empfindsame, ja leidenschaftliche Natur, bei der die Emotion ganz
nach innen verläuft, und die stärkste innere Erregung sich durch die
grösste äussere Ruhe ausdrückt. Dieser Tatsache trägt die _Jordan_sche
Typenauffassung Rechnung. Sie urteilt nicht nach dem oberflächlichen
Eindruck, sondern nach einer tiefern Erfassung der menschlichen Natur.
Ostwalds fundamentales Unterscheidungsmerkmal beruht, wie die alte
Temperamenteinteilung, auf dem äussern Eindruck. Sein „romantischer“
Typus ist charakterisiert durch die Tatsache _rascher Reaktion nach
aussen_. Der „klassische“ Typus reagiert vielleicht ebenso rasch,
aber eben _nach innen_. Wenn man die Ostwaldschen Biographien,
durchgeht, so sieht man ohne weiteres, dass der „romantische“ Typus
dem extravertierten, und der „klassische“ Typus dem introvertierten
entspricht. _Humphry Davy_ und _Liebig_ sind Schulbeispiele für
den extravertierten Typus, wie _Rob. Mayer_ und _Faraday_ für
den introvertierten Typus. Das Reagieren nach aussen ist für den
Extravertierten charakteristisch, wie das Reagieren nach innen für den
Introvertierten. Der Extravertierte hat keine besondern Schwierigkeiten
in seiner persönlichen Äusserung, er bringt seine Gegenwart fast
unwillkürlich zur Geltung, weil er seiner ganzen Natur nach dahin
strebt, sich dem Objekt zu übertragen. Er gibt sich leicht an die
Umwelt aus und zwar notwendigerweise in einer der Umgebung fasslichen
und darum akzeptabeln Form. Die Form ist in der Regel gefällig,
jedenfalls aber verständlich, auch wenn sie unangenehm ist. Denn es
gehört zum raschen Reagieren und Entäussern, dass nicht nur Wertvolles,
sondern auch Wertloses dem Objekt übertragen wird, neben Gewinnendem
auch abstossende Gedanken und Affekte. Wegen der raschen Entäusserung
und Übertragung sind die Inhalte wenig überarbeitet und darum leicht
verständlich und schon aus der bloss zeitlichen Aneinanderreihung der
unmittelbaren Äusserungen entsteht eine Stufenfolge von Bildern, welche
dem Publikum deutlich den begangenen Weg und die Art und Weise, wie
der Forscher zu seinem Resultat gelangt, dartun. Der Introvertierte
dagegen, der zunächst bloss nach innen reagiert, entäussert sich in
der Regel seiner Reaktionen nicht (Affektexplosionen ausgenommen!). Er
verschweigt seine Reaktionen, die aber ebenso rasch sein können wie die
des Extravertierten. Sie treten darum nicht in die Erscheinung, und
daher macht der Introvertierte leicht den Eindruck der Langsamkeit.
Weil unmittelbare Reaktionen immer stark persönlich sind, so kann der
Extravertierte gar nicht anders als seine Persönlichkeit erscheinen
zu lassen. Der Introvertierte dagegen versteckt seine Persönlichkeit,
indem er seine unmittelbaren Reaktionen verschweigt. Er strebt nicht
nach Einfühlung, nach Übertragung seiner Inhalte auf das Objekt,
sondern nach Abstraktion vom Objekt. Er zieht es darum vor, statt
seine Reaktionen unmittelbar zu entäussern, sie innerlich lange zu
bearbeiten, um dann mit einem fertigen Resultat herauszutreten. Er
strebt darnach sein Resultat vom Persönlichen möglichst zu befreien und
als von jeder persönlichen Beziehung klar unterschieden darzustellen.
Seine Inhalte treten daher an die Aussenwelt in möglichst abstrahierter
und depersonalisierter Form als Resultate langer innerer Arbeit. Damit
sind sie aber auch schwerverständlich geworden, weil dem Publikum
jegliche Kenntnis der Vorstufen und der Art und Weise, wie der
Forscher zu seinem Resultat gelangte, fehlt. Dem Publikum fehlt auch
die persönliche Beziehung, weil der Introvertierte sich verschweigt
und dadurch seine Persönlichkeit ihm verhüllt. Es sind aber gerade
die persönlichen Beziehungen, welche sehr oft da ein Verständnis
ermöglichen, wo das intellektuelle Begreifen versagt. Dieser Umstand
muss immer sorgfältig berücksichtigt werden, wo es sich um die
Beurteilung der Entwicklung eines Introvertierten handelt. Man ist
über den Introvertierten in der Regel schlecht informiert, denn man
kann ihn nicht sehen. Weil er nicht unmittelbar nach aussen reagieren
kann, so tritt auch seine Persönlichkeit nicht hervor. Sein Leben lässt
daher dem Publikum immer Spielraum zu phantastischen Deutungen und
Projektionen, wenn er -- z. B. vermöge seiner Leistungen -- überhaupt
je zum Gegenstand des allgemeinen Interesses wird.

Wenn daher _Ostwald_ sagt, dass die _geistige Frühreife_ für den
Romantiker charakteristisch sei, so müssen wir hinzufügen, dass der
Romantiker seine Frühreife eben zeigt, während der Klassiker vielleicht
ebenso frühreif sein kann, seine Produkte aber in sich verschliesst,
nicht aus Absicht, sondern aus Unvermögen, sich ihrer unmittelbar
zu entäussern. Wegen der mangelhaften Gefühlsdifferenzierung haftet
dem Introvertierten noch sehr lange eine gewisse Linkischkeit an,
ein eigentlicher Infantilismus der persönlichen Beziehung, d. h.
desjenigen Elementes, das der Engländer als „personality“ bezeichnet.
Seine persönliche Äusserung ist dermassen unsicher und unbestimmt, und
er selber in dieser Hinsicht dermassen empfindlich, dass er es nur
mit einem ihm vollendet erscheinenden Produkt wagen kann, sich der
Umgebung zu zeigen. Auch zieht er es vor, sein Produkt für ihn sprechen
zu lassen, anstatt dass er persönlich für sein Produkt eintritt. Aus
dieser Einstellung ergibt sich natürlich eine so grosse Verzögerung
seines Erscheinens auf der Szene der Welt, dass man ihn leicht als
_spätreif_ bezeichnen kann. Ein solch oberflächliches Urteil aber
übersieht völlig den Umstand, dass der Infantilismus des scheinbar
Frühreifen und nach aussen Differenzierten einfach innen ist, in seiner
Beziehung zu seinem Innern. Diese Tatsache offenbart sich erst später
im Leben des Frühreifen, z. B. in Form einer moralischen Unreife, oder,
was sehr häufig der Fall ist, in einem auffälligen Infantilismus des
Denkens.

Der Romantiker hat in der Regel günstigere Möglichkeiten für seine
Entwicklung und Entfaltung als der Klassiker, wie Ostwald richtig
bemerkt. Er tritt eben sichtbar und überzeugend vor das Publikum,
und lässt seine persönliche Bedeutung durch äussere Reaktionen
unmittelbar erkennen. Es stellen sich dadurch für ihn rasch viele
wertvolle Beziehungen her, welche seine Arbeit befruchten und deren
Entwicklung nach der _Breite_[302] hin begünstigen. Umgekehrt
bleibt der Klassiker verborgen; der Mangel an persönlichen Beziehungen
beschränkt die Ausdehnung seines Arbeitsgebietes, dadurch aber
gewinnt seine Tätigkeit an _Tiefe_ und die Frucht seiner Arbeit
an Dauerhaftigkeit. Die _Begeisterung_ besitzen beide Typen,
jedoch fliesst dem Extravertierten der Mund über, wessen ihm das
Herz voll ist, während die Begeisterung dem Introvertierten den Mund
schliesst. So entzündet er auch keine Begeisterung in seiner Umgebung,
und daher fehlt ihm der Kreis ähnlich gearteter Mitarbeiter. Wenn
er auch die Lust und den Drang zur Mitteilung hätte, so schreckt
ihn doch der Lakonismus seines Ausdruckes und der dadurch bedingten
verständnislosen Verwunderung seines Publikums von weitern Mitteilungen
ab, denn sehr oft traut ihm auch niemand zu, dass er etwas irgendwie
Außerordentliches mitzuteilen hätte. Sein Ausdruck, seine „personality“
erscheinen dem oberflächlichen Urteil als gewöhnlich, während der
Romantiker nicht selten schon von Hause aus „interessant“ aussieht und
die Kunst versteht, diesen Eindruck mit erlaubten oder auch unerlaubten
Mitteln noch zu unterstreichen. Diese differenzierte Ausdrucksfähigkeit
ist ein passender Hintergrund zu bedeutenden Gedanken und hilft dem
mangelhaften Verständnis des Publikums entgegenkommend über die
Lücken seines Denkens hinweg. Es ist darum durchaus für den Typus
zutreffend, wenn Ostwald die erfolgreiche und glänzende Lehrtätigkeit
des Romantikers hervorhebt. _Der Romantiker fühlt sich in den Schüler
ein_ und weiss darum im richtigen Augenblick das richtige Wort. Der
Klassiker dagegen ist bei seinen Gedanken und Problemen und übersieht
darum völlig die Schwierigkeiten des Verstehens bei seinem Schüler.
Vom Klassiker _Helmholtz_ bemerkt Ostwald[303]: Er ist „trotz
seines riesigen Wissens, seiner umfassenden Erfahrung und seines
schöpferischen Geistes nie ein guter Lehrer gewesen: er reagierte
nicht augenblicklich, sondern erst nach einiger Zeit. Wenn ihm im
Laboratorium ein Schüler eine Frage vorgelegt hatte, so versprach er,
darüber nachzudenken und brachte auch nach einigen Tagen die Antwort.
Diese befand sich aber um eine so weite Strecke von der Stellung
des Schülers entfernt, dass dieser nur in den seltensten Fällen den
Zusammenhang zwischen der Schwierigkeit, welche er empfunden hatte,
und der abgerundeten Theorie eines allgemeinen Problems, die ihm der
Lehrer vortrug, herauszubringen vermochte. So fehlte nicht nur die
augenblickliche Hilfe, auf die es dem Anfänger am meisten ankommt,
sondern auch die unmittelbar auf die Persönlichkeit des Schülers
bemessene Führung, durch welche dieser von der anfänglichen natürlichen
Unselbständigkeit in kleinen Stufen zu der vollkommenen Beherrschung
des gewählten wissenschaftlichen Gebietes entwickelt wird. Alle diese
Mängel rühren ganz unmittelbar daher, dass der Lehrer nicht sofort auf
das eben aufgetretene Lernbedürfnis zu reagieren vermag, sondern für
die erwartete und erwünschte Einwirkung solange Zeit braucht, dass die
Wirkung selbst darüber verloren geht.“

Ostwald’s Erklärung durch die Langsamkeit der Reaktion des
Introvertierten erscheint mir ungenügend. Es ist nicht nachzuweisen,
dass Helmholtz eine geringe Reaktionsgeschwindigkeit besass. Er
reagiert bloss nicht nach aussen, sondern nach innen. Er ist in den
Schüler nicht eingefühlt, darum versteht er nicht, was der Schüler
wünscht. Weil er ganz auf seine Gedanken eingestellt ist, so reagiert
er nicht auf den persönlichen Wunsch des Schülers, sondern auf die
Gedanken, welche die Frage des Schülers in ihm angeregt hat, und zwar
so rasch und gründlich, dass er sofort einen weitern Zusammenhang ahnt,
den er im Moment zu überblicken und in abstrakter und ausgearbeiteter
Form wiederzugeben unfähig ist, aber nicht, weil er zu langsam
denkt, sondern weil es objektiv unmöglich ist, die ganze Ausdehnung
des geahnten Problems in einem Augenblick in eine fertige Formel
zu fassen. Er merkt natürlich nicht, dass der Schüler keine Ahnung
von diesem Problem hat, sondern ist der Meinung, dass es sich um
ein Problem handle und nicht um einen für ihn höchst einfachen und
billigen Rat, den er ohne weiteres zu erteilen im Stande wäre, wenn
er sich nur klar machen könnte, was der Schüler in diesem Moment
braucht, um weiter zu kommen. Als Introvertierter ist er aber nicht
in die Psychologie des Andern eingefühlt, sondern er ist nach innen,
in seine eigenen theoretischen Probleme eingefühlt und spinnt den vom
Schüler aufgenommenen Faden dem theoretischen Problem entlang weiter,
wohl dem Problem angepasst, nicht aber dem augenblicklichen Bedürfnis
des Schülers. Diese eigentümliche Einstellung des introvertierten
Lehrers ist in Hinsicht der Lehrtätigkeit natürlich sehr unzweckmässig
und auch ungünstig hinsichtlich des persönlichen Eindruckes, den
der Introvertierte macht. Er erweckt den Eindruck der Langsamkeit,
Sonderbarkeit, ja sogar der Beschränktheit, daher er nicht nur von
einem weitern Publikum, sondern auch von seinen engern Fachgenossen
sehr oft unterschätzt wird, solange bis seine Gedankenarbeit von
spätern Forschern nachgedacht, überarbeitet und übersetzt ist. Der
Mathematiker _Gauss_ hatte eine solche Lehrunlust, dass er jedem
einzelnen Studenten, der sich bei ihm meldete, die Mitteilung machte,
sein Kolleg würde wahrscheinlich nicht zu Stande kommen, um auf diese
Weise, der Notwendigkeit, lesen zu müssen, sich zu entledigen. Das
Peinliche an der Lehrtätigkeit lag für ihn, wie Ostwald treffend
bemerkt, in der „Notwendigkeit, in der Vorlesung wissenschaftliche
Resultate aussprechen zu müssen, ohne vorher auf das Eingehendste den
Wortlaut festgestellt und ausgefeilt zu haben. Ohne diese Bearbeitung
seine Ergebnisse andern mitzuteilen, mag ihm ein Gefühl erregt haben,
als sollte er sich Fremden im Nachtgewande zeigen.“[304] Mit dieser
Bemerkung berührt Ostwald einen sehr wesentlichen Punkt, nämlich die
oben schon erwähnte Abneigung des Introvertierten, andere als ganz
unpersönliche Mitteilungen an die Umgebung gelangen zu lassen.

Ostwald hebt hervor, dass der Romantiker in der Regel seine Laufbahn
schon relativ frühe abschliessen muss wegen überhandnehmender
Erschöpfung. Ostwald ist geneigt, diese Tatsache ebenfalls durch die
grössere Reaktionsgeschwindigkeit zu erklären. Da ich der Ansicht bin,
dass der Begriff der mentalen Reaktionsgeschwindigkeit wissenschaftlich
bei weitem noch nicht geklärt ist, und es bis jetzt keineswegs
nachgewiesen ist, auch kaum nachzuweisen sein wird, dass die Reaktion
nach aussen rascher erfolgt, als die nach innen, so scheint mir die
frühere Erschöpfung des extravertierten Entdeckers wesentlich auf der
ihm eigentümlichen Reaktion nach aussen zu beruhen. Er fängt schon
sehr frühe an zu publizieren, wird rasch bekannt, entfaltet bald eine
intensive publizistische und akademische Tätigkeit, pflegt persönliche
Beziehungen zu einem ausgedehnten Freundes- und Bekanntenkreis und
nimmt überdies ungewöhnlichen Anteil an der Entwicklung seiner Schüler.
Der introvertierte Forscher fängt später an zu publizieren, seine
Arbeiten folgen einander in grössern Zwischenräumen, sind meistens
spärlicher im Ausdruck, Wiederholungen eines Themas sind vermieden,
insofern nicht etwas grundlegend Neues dazu vorgebracht werden kann;
infolge des prägnanten Lakonismus der wissenschaftlichen Mitteilung,
die häufig alle Angaben über den zurückgelegten Weg oder über die
bearbeiteten Materialien vermissen lässt, werden seine Arbeiten nicht
verstanden und nicht beachtet und so bleibt der Forscher unbekannt.
Seine Lehrunlust sucht keine Schüler, seine mangelnde Bekanntheit
schliesst Beziehungen zu einem grössern Bekanntenkreis aus, und
daher lebt er in der Regel nicht nur aus Not, sondern auch aus Wahl
zurückgezogen, der Gefahr entrückt, sich zu viel auszugeben. Seine
Reaktion nach innen führt ihn immer wieder zu den engbegrenzten Wegen
seiner Forschertätigkeit, die an sich zwar sehr anstrengend und auf
die Dauer ebenfalls erschöpfend wirkt, aber keine Nebenausgaben
auf Bekannte und Schüler zulässt. Allerdings fällt erschwerend in
Betracht, dass der offenkundige Erfolg des Romantikers auch eine
lebenfördernde Erfrischung ist, die dem Klassiker sehr oft versagt
bleibt, sodass er seine einzige Befriedigung in der Vollendung seiner
Forscherarbeit zu suchen gezwungen ist. Es scheint mir daher, dass
die relativ frühzeitige Erschöpfung des romantischen Genies auf
der _Reaktion nach aussen_ beruht, und nicht auf der grössern
Reaktionsgeschwindigkeit.

Ostwald denkt sich seine Typeneinteilung nicht als absolut in dem
Sinne, dass nun jeder Forscher ohne weiteres als dem einen oder andern
Typus zugehörig dargestellt werden könnte. Er ist aber der Ansicht,
„dass gerade die ganz Grossen“ sich sehr oft auf das bestimmteste
in die eine oder andere Endgruppe einreihen lassen, während die
„mittlern Leute“ viel häufiger auch die Mittelglieder bezüglich der
Reaktionsgeschwindigkeit darstellen.[305]

Zusammenfassend möchte ich bemerken, dass die Ostwaldschen Biographien
ein für die Psychologie der Typen zum Teil sehr wertvolles
Material enthalten und die Übereinstimmung des romantischen mit
dem extravertierten einerseits, und die des klassischen mit dem
introvertierten Typus schlagend dartun.



X

Allgemeine Beschreibung der Typen.



X.

Allgemeine Beschreibung der Typen.


=A. Einleitung.=

Im folgenden will ich versuchen, eine allgemeine Beschreibung der
Psychologie der Typen zu geben. Zunächst soll dies geschehen für
die beiden allgemeinen Typen, die ich als introvertiert und als
extravertiert bezeichnet habe. Im Anschluss werde ich dann noch
versuchen eine gewisse Charakteristik jener speziellern Typen zu
geben, deren Eigenart dadurch zustande kommt, dass das Individuum
sich hauptsächlich mittelst der bei ihm am meisten differenzierten
Funktion anpasst oder orientiert. Ich möchte erstere als _allgemeine
Einstellungstypen_, die sich durch die Richtung ihres Interesses,
ihrer Libidobewegung, unterscheiden, letztere dagegen als
_Funktionstypen_ bezeichnen.

Die allgemeinen Einstellungstypen unterscheiden sich, wie in
den frühern Kapiteln vielfach hervorgehoben wurde, durch ihre
eigentümliche Einstellung zum Objekt. Der Introvertierte verhält sich
dazu abstrahierend; er ist im Grunde genommen immer darauf bedacht,
dem Objekt die Libido zu entziehen, wie wenn er einer Übermacht des
Objektes vorzubeugen hätte. Der Extravertierte dagegen verhält sich
positiv zum Objekt. Er bejaht dessen Bedeutung in dem Masse, dass er
seine subjektive Einstellung beständig nach dem Objekt orientiert und
darauf bezieht. Im Grunde genommen hat das Objekt für ihn nie genügend
Wert und darum muss dessen Bedeutung erhöht werden. Die beiden Typen
sind dermassen verschieden und ihr Gegensatz ist so auffällig, dass
ihre Existenz auch dem Laien in psychologischen Dingen ohne weiteres
einleuchtend ist, wenn man ihn einmal darauf aufmerksam gemacht hat.
Jedermann kennt jene verschlossenen, schwer zu durchschauenden,
oft scheuen Naturen, die den denkbar stärksten Gegensatz bilden zu
jenen andern offenen, umgänglichen, öfters heitern oder wenigstens
freundlichen und zugänglichen Charakteren, die mit aller Welt auskommen
oder auch sich streiten, aber doch in Beziehung dazu stehen, auf
sie wirken und auf sich wirken lassen. Man ist natürlich geneigt,
solche Unterschiede zunächst nur als individuelle Fälle eigenartiger
Charakterbildung aufzufassen. Wer aber Gelegenheit hat, viele
Menschen gründlich kennen zu lernen, wird unschwer die Entdeckung
machen, dass es sich bei diesem Gegensatz keineswegs um isolierte
Individualfälle handelt, sondern vielmehr um typische Einstellungen,
die weit allgemeiner sind, als eine beschränkte psychologische
Erfahrung zunächst annehmen musste. In der Tat handelt es sich,
wie die vorausgegangenen Kapitel gezeigt haben dürften, um einen
fundamentalen Gegensatz, der bald deutlich, bald undeutlicher ist,
immer aber sichtbar wird, wo es sich um Individuen von einigermassen
ausgesprochener Persönlichkeit handelt. Solche Menschen treffen wir
nicht nur etwa unter den Gebildeten, sondern überhaupt in allen
Bevölkerungsschichten an, weshalb sich unsere Typen ebensowohl beim
gewöhnlichen Arbeiter und Bauern, wie bei den Höchstdifferenzierten
einer Nation nachweisen lassen. Auch der Unterschied des Geschlechtes
ändert an dieser Tatsache nichts. Man findet die gleichen Gegensätze
auch bei den Frauen aller Bevölkerungsschichten. Eine derart allgemeine
Verbreitung könnte wohl kaum vorkommen, wenn es sich um eine
Angelegenheit des Bewusstseins, d. h. um eine bewusst und absichtlich
gewählte Einstellung handelte. In diesem Falle wäre gewiss eine
bestimmte, durch gleichartige Erziehung und Bildung zusammenhängende
und dementsprechend lokal begrenzte Bevölkerungsschicht der
hauptsächlichste Träger einer solchen Einstellung. Dem ist nun
keineswegs so, sondern in geradem Gegenteil dazu verteilen sich die
Typen anscheinend wahllos. In derselben Familie ist das eine Kind
introvertiert, das andere extravertiert. Da der Einstellungstypus,
diesen Tatsachen entsprechend, als allgemeines und anscheinend
zufällig verteiltes Phänomen, keine Angelegenheit bewussten Urteils
oder bewusster Absicht sein kann, so muss er wohl einem unbewussten,
instinktiven Grunde sein Dasein verdanken. Der Typengegensatz muss
daher, als ein allgemeines psychologisches Phänomen irgendwie seine
biologischen Vorläufer haben.

Die Beziehung zwischen Subjekt und Objekt ist, biologisch betrachtet,
immer ein _Anpassungsverhältnis_, indem jede Beziehung zwischen
Subjekt und Objekt modifizierende Wirkungen des einen auf das andere
voraussetzt. Diese Modifikationen machen die Anpassung aus. Die
typischen Einstellungen zum Objekt sind daher Anpassungsprozesse.
Die Natur kennt zwei fundamental verschiedene Wege der Anpassung
und der dadurch ermöglichten Fortexistenz der lebenden Organismen:
der eine Weg ist die gesteigerte Fruchtbarkeit bei relativ geringer
Verteidigungsstärke und Lebensdauer des einzelnen Individuums; der
andere Weg ist: Ausrüstung des Individuums mit vielerlei Mitteln der
Selbsterhaltung bei relativ geringer Fruchtbarkeit. Dieser biologische
Gegensatz scheint mir nicht bloss das Analogon, sondern auch die
allgemeine Grundlage unserer beiden psychologischen Anpassungsmodi zu
sein. Hier möchte ich mich auf einen allgemeinen Hinweis beschränken,
auf die Eigenart des Extravertierten einerseits, sich beständig
auszugeben und sich in alles hineinzuverbreiten, und auf die Tendenz
des Introvertierten andererseits, sich gegen äussere Ansprüche zu
verteidigen, sich möglichst aller Energieausgaben, die sich direkt
auf das Objekt beziehen, zu enthalten, dafür aber sich selbst eine
möglichst gesicherte und mächtige Position zu schaffen. _Blakes_
Intuition hat die beiden darum nicht übel als den „prolific“ und
den „devouring type“ bezeichnet. Wie die allgemeine Biologie zeigt,
sind beide Wege gangbar und in ihrer Weise erfolgreich, so auch die
typischen Einstellungen. Was der eine durch massenhafte Beziehungen
zuwege bringt, erreicht der andere durch ein Monopol.

Die Tatsache, dass gelegentlich schon Kinder in den ersten Lebensjahren
die typische Einstellung mit Sicherheit erkennen lassen, nötigt zu
der Annahme, dass es keineswegs der Kampf ums Dasein, so wie man ihn
allgemein versteht, sein kann, der zu einer bestimmten Einstellung
zwingt. Man könnte allerdings, und zwar mit triftigen Gründen,
einwenden, dass auch das unmündige Kind, ja sogar der Säugling schon
eine psychologische Anpassungsleistung unbewusster Natur zu machen
habe, indem besonders die Eigenart der mütterlichen Einflüsse zu
spezifischen Reaktionen beim Kinde führe. Dieses Argument kann sich
auf unzweifelhafte Tatsachen berufen, wird aber hinfällig durch die
Erwähnung der ebenso zweifellosen Tatsache, dass zwei Kinder derselben
Mutter schon frühe den entgegengesetzten Typus aufweisen können,
ohne dass auch nur im geringsten eine Änderung der Einstellung der
Mutter nachzuweisen wäre. Obschon ich unter keinen Umständen die
fast unabsehbare Wichtigkeit der elterlichen Einflüsse unterschätzen
möchte, so nötigt diese Erfahrung trotzdem zum Schlusse, dass der
ausschlaggebende Faktor in der Disposition des Kindes zu suchen ist. Es
ist wohl in letzter Linie der individuellen Disposition zuzuschreiben,
dass bei möglichster Gleichartigkeit der äussern Bedingungen, das eine
Kind diesen, und das andere jenen Typus annimmt. Ich habe hiebei
natürlich nur jene Fälle im Auge, welche unter normalen Bedingungen
stehen. Unter abnormen Bedingungen, d. h. wo es sich um extreme und
daher abnorme Einstellungen bei Müttern handelt, kann den Kindern
auch eine relativ gleichartige Einstellung aufgenötigt werden unter
Vergewaltigung ihrer individuellen Disposition, die vielleicht einen
andern Typus gewählt hätte, wenn keine abnormen äussern Einflüsse
störend eingegriffen hätten. Wo eine solche, durch äussern Einfluss
bedingte Verfälschung des Typus stattfindet, wird das Individuum
später meistens neurotisch, und seine Heilung ist nur möglich durch
Herausbildung der dem Individuum natürlicherweise entsprechenden
Einstellung.

Was nun die eigenartige Disposition betrifft, so weiss ich darüber
nichts zu sagen, als dass es offenbar Individuen gibt, die entweder
eine grössere Leichtigkeit oder Fähigkeit haben, oder denen es
zuträglicher ist, auf die eine und nicht auf die andere Weise sich
anzupassen. Dafür dürften unserer Kenntnis unzugängliche, in letzter
Linie physiologische Gründe in Frage kommen. Dass es solche sein
könnten, wurde mir wahrscheinlich infolge der Erfahrung, dass eine
Umkehrung des Typus das physiologische Wohlbefinden des Organismus
unter Umständen schwer beeinträchtigen kann, indem sie meistens eine
starke Erschöpfung verursacht.


=B. Der extravertierte Typus.=

Aus Gründen der Übersichtlichkeit und Klarheit der Darstellung
ist es nötig, bei der Beschreibung dieses und der folgenden
Typen die Psychologie des Bewussten und des Unbewussten
auseinanderzuhalten. Wir wenden uns daher zuerst der Beschreibung der
_Bewusstseinsphänomene_ zu.


=I. Die allgemeine Einstellung des Bewusstseins.=

Wie bekannt, orientiert sich jedermann an den Daten, die ihm die
Aussenwelt vermittelt; jedoch sehen wir, dass dies in einer mehr oder
weniger ausschlaggebenden Weise der Fall sein kann. Der eine lässt sich
durch die Tatsache, dass es draussen kalt ist, sofort veranlassen,
seinen Überzieher anzuziehen, der andere aber findet dies aus Gründen
seiner Abhärtungsabsicht überflüssig; der eine bewundert den neuen
Tenor, weil alle Welt ihn bewundert, der andere bewundert ihn nicht,
nicht etwa darum, weil er ihm missfiele, sondern weil er der Ansicht
ist, was alle bewunderten, brauche noch lange nicht bewundernswert
zu sein; der eine ordnet sich den gegebenen Verhältnissen unter,
weil, wie die Erfahrung zeige, etwas anderes doch nicht möglich sei,
der andere aber ist der Überzeugung, dass, wenn es schon tausendmal
so gegangen sei, das tausend und erstemal ein neuer Fall vorliege,
usw. Der erstere orientiert sich an den gegebenen äussern Tatsachen,
der letztere reserviert sich eine Ansicht, welche sich zwischen ihn
und das objektiv Gegebene hineinschiebt. Wenn nun die Orientierung
am Objekt und am objektiv Gegebenen vorwiegt in der Weise, dass die
häufigsten und hauptsächlichsten Entschlüsse und Handlungen nicht durch
subjektive Ansichten, sondern durch objektive Verhältnisse bedingt
sind, so spricht man von einer extravertierten Einstellung. Ist diese
habituell, so spricht man von einem extravertierten Typus. Wenn einer
so denkt, fühlt und handelt, mit einem Wort, so lebt, wie es den
objektiven Verhältnissen und ihren Anforderungen _unmittelbar_
entspricht, im guten wie im schlechten Sinne, so ist er extravertiert.
Er lebt so, dass ersichtlicherweise das Objekt als determinierende
Grösse in seinem Bewusstsein eine grössere Rolle spielt als seine
subjektive Ansicht. Gewiss hat er subjektive Ansichten, aber ihre
determinierende Kraft ist geringer, als die der äussern objektiven
Bedingungen. Er erwartet daher auch nie, in seinem eigenen Innern auf
irgend welche unbedingten Faktoren zu stossen, indem er solche nur
aussen kennt. In epimetheischer Weise erliegt sein Inneres dem äussern
Erfordernis, gewiss nicht ohne Kampf; aber das Ende fällt immer zu
Gunsten der objektiven Bedingung aus. Sein ganzes Bewusstsein blickt
nach aussen, weil ihm die wichtige und ausschlaggebende Determination
immer von aussen zukommt. Sie kommt ihm aber so zu, weil er sie von
dort erwartet. Aus dieser Grundeinstellung ergeben sich sozusagen alle
Eigentümlichkeiten seiner Psychologie, insofern diese nicht entweder
auf dem Primat einer bestimmten psychologischen Funktion oder auf
individuellen Besonderheiten beruhen.

_Interesse_ und _Aufmerksamkeit_ folgen den objektiven
Vorkommnissen, in erster Linie denen der nächsten Umgebung. Es sind
nicht nur die Personen, sondern auch die Dinge, welche das Interesse
fesseln. Dementsprechend richtet sich auch das _Handeln_ nach
den Einflüssen von Personen und Dingen. Es ist direkt auf objektive
Daten und Determinationen bezogen und aus ihnen sozusagen erschöpfend
erklärbar. Das Handeln ist in erkennbarer Weise auf objektive
Verhältnisse bezogen. Insofern das Handeln nicht bloss reaktiv ist in
bezug auf Reize der Umgebung, so hat es doch stets einen auf reale
Verhältnisse anwendbaren Charakter und findet innerhalb der Schranken
des objektiv Gegebenen genügenden und angemessenen Spielraum. Es hat
keinerlei irgendwie ernsthafte Tendenzen, darüber hinauszugehen.
Dasselbe gilt vom Interesse: die objektiven Vorkommnisse sind von
fast unerschöpflichem Reiz, sodass das Interesse normalerweise nie
nach anderm verlangt. Die moralischen Gesetze des Handelns decken
sich mit den entsprechenden Anforderungen der Societät, resp. mit
der allgemein geltenden moralischen Auffassung. Wäre die allgemein
geltende Anschauung eine andere, so wären auch die subjektiven
moralischen Leitlinien andere, ohne dass damit am psychologischen
Gesamthabitus irgend etwas geändert wäre. Diese strenge Bedingtheit
durch objektive Faktoren bedeutet nun keineswegs, wie es etwa den
Anschein erwecken könnte, eine völlige oder gar ideale Anpassung an
die Lebensbedingungen überhaupt. Einer extravertierten Ansicht muss
allerdings eine solche _Einpassung_ in das objektiv Gegebene
als eine völlige Anpassung erscheinen, denn dieser Ansicht ist ein
anderes Kriterium überhaupt nicht gegeben. Es ist aber, von einem
höhern Standpunkt aus, gar nicht gesagt, dass das objektiv Gegebene
auch unter allen Umständen das Normale sei. Die objektiven Bedingungen
können zeitgeschichtlich oder lokal abnorme sein. Ein Individuum, das
in diese Verhältnisse eingepasst ist, macht zwar den abnormen Stil der
Umgebung mit, ist aber, zugleich mit seiner ganzen Umgebung in einer
abnormen Lage hinsichtlich der allgemein-gültigen Lebensgesetze. Der
Einzelne kann dabei allerdings florieren, aber nur solange, bis er
mit seiner ganzen Umgebung an der Versündigung gegen die allgemeinen
Lebensgesetze zugrunde geht. Diesen Untergang muss er mit derselben
Sicherheit mitmachen, mit der er vorher dem objektiv Gegebenen
eingepasst war. Er hat Einpassung, aber nicht Anpassung, denn die
Anpassung verlangt mehr als ein bloss reibungsloses Mitgehen mit den
jeweiligen Bedingungen der unmittelbaren Umgebung. (Ich verweise auf
_Spittelers_ Epimetheus.) Sie verlangt eine Beobachtung jener
Gesetze, welche allgemeiner sind als lokale und zeitgeschichtliche
Bedingungen. Die blosse Einpassung ist die Beschränktheit des normalen
extravertierten Typus. Seine Normalität verdankt der extravertierte
Typus einerseits dem Umstande, dass er den gegebenen Verhältnissen
relativ reibungslos eingepasst ist und natürlicherweise keine andern
Ansprüche hat, als die objektiv gegebenen Möglichkeiten auszufüllen,
also z. B. den Beruf zu ergreifen, der an dieser Stelle und zu dieser
Zeit aussichtsreiche Möglichkeiten bietet, oder gerade das zu tun oder
zu verfertigen, wessen die Umgebung momentan bedarf, und was sie von
ihm erwartet, oder sich aller Neuerungen zu enthalten, welche nicht
durchaus auf der Hand liegen, oder sonstwie über die Erwartung der
Umgebung hinausgehen. Andererseits aber beruht seine Normalität auch
auf dem wichtigen Umstand, dass der Extravertierte die Tatsächlichkeit
seiner subjektiven Bedürfnisse und Notwendigkeiten in Rechnung zieht.
Das ist nämlich sein schwacher Punkt, denn die Tendenz seines Typus
geht dermassen nach aussen, dass leicht auch die sinnenfälligste aller
subjektiven Tatsachen, nämlich das Befinden des Körpers, als zu wenig
objektiv, als zu wenig „aussen“ nicht genügend in Betracht fällt,
sodass die zum physischen Wohlbefinden unerlässliche Befriedigung
elementarer Bedürfnisse nicht mehr zustande kommt. Infolgedessen leidet
der Körper, geschweige die Seele. Doch von diesem letztern Umstand
merkt der Extravertierte in der Regel wenig, desto mehr aber seine
intime häusliche Umgebung. Fühlbar wird ihm der Gleichgewichtsverlust
erst dann, wenn sich abnorme Körperempfindungen melden.

Diese tastbare Tatsache kann er nicht übersehen. Es ist natürlich, dass
er sie als concret und „objektiv“ ansieht, denn für seine Mentalität
gibt es nun einmal nichts anderes -- bei ihm. Bei andern sieht er die
„Einbildung“ sofort. Eine zu extravertierte Einstellung kann auch
dermassen rücksichtslos gegen das Subjekt werden, dass letzteres den
sog. objektiven Anforderungen ganz aufgeopfert wird, z. B. durch
ein beständiges Vergrössern des Geschäftes, weil doch Bestellungen
vorliegen und weil doch die Möglichkeiten, die sich aufgetan haben,
ausgefüllt werden müssen.

Die Gefahr des Extravertierten ist, dass er in die Objekte
hineingezogen wird und sich selbst darin ganz verliert. Die daraus
entstehenden funktionellen (nervösen) oder wirklichen körperlichen
Störungen haben eine compensatorische Bedeutung, denn sie zwingen
das Subjekt zu einer unfreiwilligen Selbstbeschränkung. Sind die
Symptome funktionell, so können sie durch ihre eigentümliche Artung
symbolisch die psychologische Situation ausdrücken, z. B. bei einem
Sänger, dessen Ruhm rasch eine gefährliche Höhe erreicht, die ihn
zu unverhältnismässigen Energieausgaben verführt, versagen aus
nervöser Hemmung plötzlich die hohen Töne. Bei einem Manne, der sehr
rasch aus bescheidensten Anfängen zu einer sehr einflussreichen und
aussichtsvollen sozialen Stellung gelangt ist, stellen sich psychogen
alle Symptome der Bergkrankheit ein. Ein Mann, der im Begriffe
steht, eine von ihm vergötterte und masslos überschätzte Frau von
sehr zweifelhaftem Charakter zu heiraten, wird von einem nervösen
Schlundkrampf befallen, der ihn zwingt, sich auf zwei Tassen Milch pro
Tag zu beschränken, deren Aufnahme je drei Stunden erfordert. Damit
ist er wirksam verhindert, seine Braut zu besuchen und kann sich nur
noch mit der Ernährung seines Körpers beschäftigen. Ein Mann, der
der Arbeitslast seines durch eigenen Verdienst enorm ausgedehnten
Geschäftes nicht mehr gewachsen ist, wird von nervösen Durstanfällen
heimgesucht, infolge deren er rasch einem hysterischen Alkoholismus
verfällt. Wie mir scheint, ist die weitaus häufigste Neurose des
extravertierten Typus die Hysterie. Der hysterische Schulfall ist
immer durch einen übertriebenen Rapport mit den Personen der Umgebung
charakterisiert, ebenso ist die geradezu imitatorische Einpassung in
die Verhältnisse eine bezeichnende Eigentümlichkeit. Ein Grundzug
des hysterischen Wesens ist die beständige Tendenz sich interessant
zu machen und bei der Umgebung Eindrücke hervorzurufen. Ein Correlat
dazu ist die sprichwörtliche Suggestibilität, die Beeinflussbarkeit
durch andere Personen. Eine unverkennbare Extraversion zeigt sich auch
in der Mitteilsamkeit der Hysterischen, welche gelegentlich bis zur
Mitteilung rein phantastischer Inhalte geht, woher der Vorwurf der
hysterischen Lüge stammt. Der hysterische „Charakter“ ist zunächst
eine Übertreibung der normalen Einstellung, dann aber kompliziert
durch compensatorische Reaktionen von Seiten des Unbewussten, welche
der übertriebenen Extraversion entgegen die psychische Energie durch
körperliche Störungen zur Introversion zwingen. Durch die Reaktion
des Unbewussten entsteht eine andere Kategorie von Symptomen, die
mehr introvertierten Charakter haben. Hieher gehört vor allen Dingen
die krankhaft gesteigerte Phantasietätigkeit. Nach dieser allgemeinen
Charakterisierung der extravertierten Einstellung wenden wir uns
nun der Beschreibung der Veränderungen, welche die psychologischen
Grundfunktionen durch die extravertierte Einstellung erleiden, zu.


=II. Die Einstellung des Unbewussten.=

Es erscheint vielleicht befremdlich, wenn ich von einer „Einstellung
des Unbewussten“ spreche. Wie ich hinlänglich auseinandergesetzt
habe, denke ich mir die Beziehung des Unbewussten zum Bewusstsein als
compensatorisch. Nach dieser Ansicht käme dem Unbewussten ebensowohl
eine Einstellung zu wie dem Bewusstsein.

Ich habe im vorangehenden Abschnitt die Tendenz der extravertierten
Einstellung zu einer gewissen Einseitigkeit hervorgehoben, nämlich
die Vormachtstellung des objektiven Faktors im Ablauf des psychischen
Geschehens. Der extravertierte Typus ist stets versucht, sich
(anscheinend) zu Gunsten des Objektes wegzugeben und sein Subjekt dem
Objekt zu assimilieren. Ich habe ausführlich auf die Konsequenzen, die
sich aus der Übertreibung der extravertierten Einstellung ergeben
können, hingewiesen, nämlich auf die schädliche Unterdrückung des
subjektiven Faktors. Es steht demnach zu erwarten, dass eine psychische
Compensation der bewussten extravertierten Einstellung das subjektive
Moment besonders betonen wird, d. h. wir werden im Unbewussten eine
stark egozentrische Tendenz nachzuweisen haben. Dieser Nachweis
glückt der praktischen Erfahrung tatsächlich. Ich gehe hier auf das
Casuistische nicht ein, sondern verweise auf die folgenden Abschnitte,
wo ich bei jedem Funktionstypus die charakteristische Einstellung des
Unbewussten darzustellen versuche. Insofern es in diesem Abschnitt
bloss um die Compensation einer allgemeinen extravertierten Einstellung
sich handelt, beschränke ich mich auf eine ebenso allgemeine
Charakteristik der compensierenden Einstellung des Unbewussten. Die
Einstellung des Unbewussten hat zu einer wirksamen Ergänzung der
bewussten extravertierten Einstellung eine Art von introvertierendem
Charakter. Es konzentriert die Energie auf das subjektive Moment,
d. h. auf alle Bedürfnisse und Ansprüche, welche durch eine zu
extravertierte bewusste Einstellung unterdrückt oder verdrängt sind.
Es ist, wie schon aus dem vorangehenden Abschnitt einleuchten dürfte,
leicht verständlich, dass eine Orientierung nach dem Objekt und dem
objektiv Gegebenen eine Menge subjektiver Regungen, Meinungen, Wünsche
und Notwendigkeiten vergewaltigt und jener Energie beraubt, die ihnen
natürlicherweise zukommen sollte. Der Mensch ist ja keine Maschine,
die man gegebenenfalls für ganz andere Zwecke umbauen kann und die
dann in ganz anderer Weise ebenso regelmässig funktioniert wie vorher.
Der Mensch trägt immer seine ganze Geschichte und die Geschichte der
Menschheit mit sich. Der historische Faktor aber stellt ein vitales
Bedürfnis dar, dem eine weise Ökonomie entgegenkommen muss. Das
Bisherige muss im Neuen irgendwie zu Worte kommen und mitleben. Die
gänzliche Assimilation an das Objekt stösst daher auf den Protest der
unterdrückten Minorität des Bisherigen und des von Anfang an Gewesenen.
Aus dieser ganz allgemeinen Überlegung ist es leicht verständlich,
weshalb die unbewussten Ansprüche des extravertierten Typus einen
eigentlich primitiven und infantilen, selbstischen Charakter haben.
Wenn _Freud_ vom Unbewussten sagt, dass es „nur wünschen“ könne,
so gilt dies in hohem Masse für das Unbewusste des extravertierten
Typus. Die Einpassung in und die Assimilation an das objektiv Gegebene
verhindert die Bewusstmachung unzulänglicher subjektiver Regungen.
Diese Tendenzen (Gedanken, Wünsche, Affekte, Bedürfnisse, Gefühle,
usw.) nehmen entsprechend dem Grade ihrer Verdrängung regressiven
Charakter an, d. h. sie werden, je weniger sie anerkannt sind, desto
infantiler und archaïscher. Die bewusste Einstellung beraubt sie
ihrer relativ disponiblen Energiebesetzungen und belässt ihnen nur
das an Energie, was sie ihnen nicht nehmen kann. Dieser Rest, der
immerhin noch von nicht zu unterschätzender Stärke ist, ist das,
was man als ursprünglichen Instinkt bezeichnen muss. Der Instinkt
kann durch willkürliche Massnahmen eines einzelnen Individuums nicht
ausgerottet werden, dazu bedürfte es vielmehr der langsamen organischen
Umwandlung vieler Generationen, denn der Instinkt ist der energetische
Ausdruck einer bestimmten organischen Anlage. So bleibt schliesslich
bei jeder unterdrückten Tendenz ein erheblicher Energiebeitrag, der
der Instinktstärke entspricht, stehen und bewahrt seine Wirksamkeit,
obgleich er durch Energieberaubung unbewusst wurde. Je vollkommener
die bewusste extravertierte Einstellung ist, desto infantiler und
archaïscher ist die unbewusste Einstellung. Es ist bisweilen ein
das Kindische weit überschreitender und an das Ruchlose streifender
brutaler Egoismus, welcher die unbewusste Einstellung charakterisiert.
Hier finden wir jene Inzestwünsche, die Freud beschreibt, in vollster
Blüte. Es ist selbstverständlich, dass diese Dinge gänzlich unbewusst
sind und auch dem Auge des laienhaften Beobachters verborgen bleiben,
solange die extravertierte bewusste Einstellung keinen höhern
Grad erreicht. Kommt es aber zu einer Übertreibung des bewussten
Standpunktes, so tritt auch das Unbewusste symptomatisch zu Tage,
d. h. der unbewusste Egoismus, Infantilismus und Archaïsmus verliert
seinen ursprünglichen compensatorischen Charakter, indem er in
mehr oder weniger offene Opposition gegen die bewusste Einstellung
tritt. Dies geschieht zunächst in einer absurden Übertreibung des
bewussten Standpunktes, welche zu einer Unterdrückung des Unbewussten
dienen soll, die aber in der Regel mit einer reductio ad absurdum
der bewussten Einstellung endet, d. h. mit einem Zusammenbruch. Die
Katastrophe kann eine objektive sein, indem die objektiven Zwecke
allmählich in subjektive verfälscht werden. So hatte sich z. B. ein
Buchdrucker in zwei Jahrzehnte langer harter Arbeit vom blossen
Angestellten zum selbständigen Besitzer eines sehr ansehnlichen
Geschäftes emporgearbeitet. Das Geschäft dehnte sich mehr und mehr aus
und er geriet mehr und mehr hinein, indem er allmählich alle seine
Nebeninteressen darin aufgehen liess. Dadurch wurde er aufgeschluckt,
und dies gereichte ihm in folgender Weise zum Verderben: Unbewusst
wurden zur Compensation seiner ausschliesslichen Geschäftsinteressen
gewisse Erinnerungen aus seiner Kindheit lebendig. Damals hatte er
nämlich eine grosse Freude am Malen und Zeichnen. Anstatt dass er nun
diese Fähigkeit als balancierende Nebenbeschäftigung an und für sich
aufgenommen hätte, kanalisierte er sie in sein Geschäft und begann von
einer „künstlerischen“ Ausgestaltung seiner Produkte zu phantasieren.
Unglücklicherweise wurden die Phantasien Wirklichkeit: er begann
tatsächlich nach seinem eigenen primitiven und infantilen Geschmack
zu produzieren, mit dem Erfolg, dass nach wenigen Jahren sein Geschäft
zugrunde gerichtet war. Er hat nach einem unserer „Kulturideale“
gehandelt, wonach der tatkräftige Mann alles auf den einen Endzweck
konzentrieren muss. Er ging aber zu weit und verfiel der Macht
subjektiver, infantiler Ansprüche.

Die katastrophale Lösung kann aber auch subjektiver Art sein, nämlich
in Gestalt eines nervösen Zusammenbruches. Ein solcher kommt immer
dadurch zu Stande, dass die unbewusste Gegenwirkung die bewusste
Aktion schliesslich zu lähmen vermag. In diesem Fall drängen sich die
Ansprüche des Unbewussten kategorisch dem Bewusstsein auf und erregen
dadurch einen unheilvollen Zwiespalt, der sich meistens darin äussert,
dass die Leute entweder nicht mehr wissen, was sie eigentlich wollen,
zu nichts mehr Lust haben, oder zu viel auf einmal wollen und zu viel
Lust haben, aber zu unmöglichen Dingen. Die aus Kulturgründen öfters
notwendige Niederhaltung der infantilen und primitiven Ansprüche führt
leicht zur Neurose oder zum Missbrauch von narkotischen Stoffen, wie
Alkohol, Morphium, Cocain usw. In noch schwereren Fällen endet der
Zwiespalt mit Selbstmord. Es ist eine hervorstechende Eigentümlichkeit
der unbewussten Tendenzen, dass sie nämlich in dem Masse, als sie
durch _bewusste Nichtanerkennung_ ihrer Energien beraubt werden,
einen destruktiven Charakter annehmen, und das, sobald sie aufhören,
compensatorisch zu sein. Sie hören aber dann auf, compensatorisch zu
wirken, wenn sie jenen Tiefstand erreicht haben, der einem Kulturniveau
entspricht, welches mit dem unsrigen absolut unverträglich ist. Von
diesem Augenblick an bilden die unbewussten Tendenzen einen der
bewussten Einstellung in jeder Hinsicht entgegengesetzten Block,
dessen Existenz zum offenen Konflikt führt. Die Tatsache, dass die
Einstellung des Unbewussten die des Bewusstseins compensiert, kommt
im allgemeinen im psychischen Gleichgewicht zum Ausdruck. Eine normale
extravertierte Einstellung bedeutet natürlich niemals, dass das
Individuum nun immer und überall sich nach dem extravertierten Schema
benimmt. Unter allen Umständen werden bei demselben Individuum, viele
psychologische Geschehnisse, wo der Mechanismus der Introversion in
Frage kommt, zu beobachten sein. Extravertiert nennen wir einen Habitus
ja nur, wenn der Mechanismus der Extraversion vorwiegt. In diesem
Fall ist dann stets die am meisten differenzierte psychische Funktion
in extravertierter Anwendung, während die minderdifferenzierten
Funktionen sich in introvertierter Anwendung befinden, d. h. die
höherwertige Funktion ist am meisten bewusst und unterliegt der
Bewusstseinskontrolle und der bewussten Absicht am völligsten,
während die minderdifferenzierten Funktionen auch weniger bewusst,
resp. zum Teil unbewusst sind und in weit geringerm Masse bewusster
Willkür unterworfen sind. Die höherwertige Funktion ist immer der
Ausdruck der bewussten Persönlichkeit, ihre Absicht, ihr Wille und
ihre Leistung, während die minder differenzierten Funktionen zu den
Dingen gehören, die einem passieren. Es brauchen nicht gerade lapsus
linguae oder calami oder sonstige Versehen zu sein, sondern sie
können auch halben oder dreiviertels Absichten entspringen, indem
die minderdifferenzierten Funktionen auch geringere Bewusstheit
besitzen. Ein klassisches Beispiel hiefür ist der extravertierte
Gefühlstypus, der sich eines ausgezeichneten Gefühlsrapportes mit
seiner Umgebung erfreut, dem es aber passiert, gelegentlich Urteile von
unübertrefflicher Taktlosigkeit zu äussern. Diese Urteile entspringen
seinem minderdifferenzierten und minderbewussten Denken, das nur zum
Teil unter seiner Kontrolle steht und zudem ungenügend auf das Objekt
bezogen ist, daher es als in hohem Masse rücksichtslos wirken kann.

Die minderdifferenzierten Funktionen in der extravertierten Einstellung
verraten stets eine ausserordentlich subjektive Bedingtheit von
ausgesprochener Egozentrizität und persönlicher Voreingenommenheit,
womit sie ihren nahen Zusammenhang mit dem Unbewussten erweisen. In
ihnen tritt das Unbewusste beständig zu Tage. Man muss sich überhaupt
nicht vorstellen, dass das Unbewusste dauernd unter so und so vielen
Überlagerungen begraben liege und gewissermassen nur durch eine mühsame
Tiefbohrung entdeckt werden könne. Das Unbewusste fliesst im Gegenteil
beständig in das bewusste psychologische Geschehen ein, und zwar in
so hohem Masse, dass es dem Beobachter bisweilen schwer fällt, zu
entscheiden, welche Charaktereigenschaften der bewussten und welche
der unbewussten Persönlichkeit zuzurechnen sind. Diese Schwierigkeit
tritt hauptsächlich ein bei Personen, die sich in etwas reichlicherm
Masse als andere ausdrücken. Es hängt natürlich auch sehr ab von
der Einstellung des Beobachters, ob er mehr den bewussten oder den
unbewussten Charakter einer Persönlichkeit erfasst. Im allgemeinen wird
ein urteilend eingestellter Beobachter eher den bewussten Charakter
erfassen, während ein wahrnehmend eingestellter Beobachter mehr durch
den unbewussten Charakter beeinflusst sein wird, denn das Urteil
interessiert sich mehr für die bewusste Motivierung des psychischen
Geschehens, während die Wahrnehmung mehr das blosse Geschehen
registriert. Insofern wir aber Wahrnehmung und Urteil in gleichem Masse
verwenden, kann es uns leicht geschehen, dass uns eine Persönlichkeit
zugleich als introvertiert und extravertiert vorkommt, ohne dass wir
zunächst anzugeben wüssten, welcher Einstellung die höherwertige
Funktion zugehört. In solchen Fällen kann nur eine gründliche Analyse
der Funktionseigenschaften zu einer gültigen Auffassung verhelfen.
Dabei ist zu beachten, welche Funktion der Bewusstseinskontrolle und
-motivation gänzlich unterstellt ist, und welche Funktionen den
Charakter des Zufälligen und Spontanen haben. Die erstere Funktion ist
immer höher differenziert als die letztern, die zudem etwas infantile
und primitive Eigenschaften besitzen. Gelegentlich macht die erstere
Funktion den Eindruck der Normalität, während letztere etwas Abnormes
oder Pathologisches an sich haben.


=III. Die Besonderheiten der psychologischen Grundfunktionen in der
extravertierten Einstellung.=


1. Das Denken.

Infolge der extravertierten Gesamteinstellung orientiert sich das
Denken nach dem Objekt und den objektiven Daten. Diese Orientierung des
Denkens ergibt eine ausgesprochene Eigentümlichkeit.

Das Denken überhaupt wird einerseits aus subjektiven, in letzter
Linie unbewussten Quellen gespeist, andererseits aus den durch die
Sinnesperceptionen vermittelten objektiven Daten. Das extravertierte
Denken ist in höherm Masse von diesen letztern Faktoren bestimmt,
als von den erstern. Das Urteil setzt immer einen Masstab voraus;
für das extravertierte Urteil ist hauptsächlich der von objektiven
Verhältnissen entlehnte Masstab der gültige und bestimmende,
gleichgültig, ob er direkt durch eine objektive, sinnlich wahrnehmbare
Tatsache, oder durch eine objektive Idee dargestellt wird, denn eine
objektive Idee ist ebenfalls etwas äusserlich Gegebenes und von aussen
Entlehntes, auch wenn sie subjektiv gebilligt wird. Das extravertierte
Denken braucht daher keineswegs ein rein concretes Tatsachendenken
zu sein, sondern kann ebensowohl auch ein rein ideelles Denken sein,
insofern nur nachgewiesen ist, dass die Ideen, mit denen gedacht
wird, in höherm Masse von aussen entlehnt, d. h. durch Tradition,
Erziehung und Bildungsgang vermittelt sind. Das Kriterium der
Beurteilung, ob ein Denken extravertiert sei, besteht also zunächst in
der Frage, nach welchem Masstab sich das Urteilen richtet, ob er von
aussen vermittelt oder ob er subjektiven Ursprungs ist. Ein weiteres
Kriterium ist die Richtung des Schliessens, nämlich die Frage, ob
das Denken vorzüglich eine Richtung nach aussen habe oder nicht. Die
Beschäftigung des Denkens mit concreten Gegenständen ist kein Beweis
für seine extravertierte Natur, denn ich kann mich denkend mit einem
concreten Gegenstande beschäftigen, indem ich mein Denken von ihm
abstrahiere oder indem ich mein Denken durch ihn concretisiere. Wenn
auch mein Denken mit concreten Dingen beschäftigt ist und insofern als
extravertiert bezeichnet werden könnte, so bleibt es doch fraglich und
charakteristisch, welche Richtung das Denken einschlagen wird, nämlich,
ob es in seinem weitern Verlauf wiederum zu objektiven Gegebenheiten,
zu äussern Tatsachen oder allgemeinen, bereits gegebenen Begriffen
führe, oder nicht. Für das praktische Denken des Kaufmanns, des
Technikers, des naturwissenschaftlichen Forschers ist die Richtung
auf das Objekt ohne weiteres ersichtlich. Beim Denken des Philosophen
kann ein Zweifel bestehen, wenn die Richtung seines Denkens auf
Ideen abzielt. In diesem Falle muss einerseits untersucht werden, ob
diese Ideen lediglich Abstraktionen aus Erfahrungen am Objekte sind
und somit nichts anderes darstellen, als höhere Collektivbegriffe,
welche eine Summe objektiver Tatsachen in sich begreifen; andererseits
muss untersucht werden, ob diese Ideen (wenn sie nämlich nicht als
Abstraktionen aus unmittelbaren Erfahrungen ersichtlich sind), etwa
durch Tradition überkommen oder der geistigen Umwelt entlehnt sind.
Ist diese Frage zu bejahen, so gehören solche Ideen ebenfalls in die
Kategorie objektiver Gegebenheiten, und somit ist auch dieses Denken
als extravertiert zu bezeichnen.

Trotzdem ich mir vorgenommen habe, das Wesen des introvertierten
Denkens nicht hier, sondern in einem spätern Abschnitt darzustellen,
so erscheint es mir doch unerlässlich, schon hier einige Angaben
darüber zu machen. Denn, wenn man sich genau überlegt, was ich eben
über das extravertierte Denken sagte, so kann man unschwer zum Schluss
gelangen, dass ich damit wohl überhaupt alles meine, was man unter
Denken versteht. Ein Denken, das weder auf objektive Tatsachen, noch
auf allgemeine Ideen ziele, verdiene, könnte man sagen, nicht den
Namen „Denken“. Ich bin mir dessen bewusst, dass unsere Zeit und ihre
vorzüglichen Repräsentanten nur den extravertierten Typus des Denkens
kennen und anerkennen. Dieses rührt einesteils daher, dass in der
Regel alles Denken, das an der Oberfläche der Welt sichtbar wird in
Form von Wissenschaft und Philosophie oder auch von Kunst entweder
direkt vom Objekte stammt oder in die allgemeinen Ideen mündet. Aus
beiderlei Gründen erscheint es, wenn auch nicht immer als evident, so
doch im wesentlichen als verstehbar und mithin als relativ gültig. In
diesem Sinn lässt sich sagen, dass eigentlich nur der extravertierte
Intellekt, nämlich eben der, der sich am objektiv Gegebenen orientiert,
bekannt sei. Nun aber gibt es -- und damit komme ich auf den
introvertierten Intellekt zu sprechen -- auch eine ganz andere Art
des Denkens, dem man sogar schwerlich den Namen „Denken“ versagen
kann, nämlich eine Art, die sich weder an der unmittelbaren objektiven
Erfahrung noch an allgemeinen und objektiv vermittelten Ideen
orientiert. Ich gelange zu dieser andern Art des Denkens auf folgende
Weise: Wenn ich mich mit einem concreten Objekte oder mit einer
allgemeinen Idee gedanklich befasse, und zwar in der Weise, dass die
Richtung meines Denkens in letzter Linie wieder zu meinen Gegenständen
zurückführt, so ist dieser intellektuelle Vorgang nicht der einzige
psychische Prozess, der momentan in mir stattfindet. Ich sehe ab von
allen möglichen Empfindungen und Gefühlen, die sich neben meinem
Gedankengang mehr oder weniger störend bemerkbar machen, und hebe
hervor, dass mein vom objektiv Gegebenen ausgehender und zum Objektiven
hinstrebender Gedankengang auch beständig in Beziehung zum Subjekt
steht. Diese Beziehung ist eine conditio sine qua non, denn ohne sie
fände überhaupt kein Gedankengang statt. Wenn schon mein Gedankengang
so viel wie nur möglich sich nach dem objektiv Gegebenen richtet, so
ist es doch _mein_ subjektiver Gedankengang, der die Einmischung
des Subjektiven weder vermeiden noch ihrer entraten kann. Wenn ich
schon darnach trachte, meinem Gedankengang in jeder Hinsicht objektive
Richtung zu geben, so kann ich doch den subjektiven Parallelvorgang und
dessen durchgehende Anteilnahme nicht hindern, ohne meinem Gedankengang
das Lebenslicht auszublasen. Dieser subjektive Parallelvorgang hat die
natürliche und nur mehr oder weniger vermeidbare Tendenz, das objektiv
Gegebene zu subjektivieren, d. h. ans Subjekt zu assimilieren. Fällt
nun der Hauptakzent auf den subjektiven Vorgang, so entsteht jene
andere Art des Denkens, die dem extravertierten Typus gegenüber steht,
nämlich die am Subjekt und am subjektiv Gegebenen orientierte Richtung,
die ich als introvertiert bezeichne. Aus dieser andern Orientierung
entsteht ein Denken, das weder von objektiven Tatsachen determiniert,
noch auf objektiv Gegebenes gerichtet ist, ein Denken also, das von
subjektiv Gegebenem ausgeht und auf subjektive Ideen oder Tatsachen
subjektiver Natur sich richtet. Ich will hier nicht weiter auf dieses
Denken eingehen, sondern nur sein Vorhandensein feststellen, um damit
das den extravertierten Gedankengang notwendig ergänzende Stück zu
geben und damit sein Wesen zu klären. Das extravertierte Denken kommt
somit nur dadurch zustande, dass der objektiven Orientierung ein
gewisses Übergewicht zufällt. Dieser Umstand ändert nichts an der
Logik des Denkens, sondern er macht bloss jenen von _James_ als
Temperamentfrage aufgefassten Unterschied zwischen den Denkern aus.
Mit der Orientierung nach dem Objekt ist, wie gesagt, am Wesen der
Denkfunktion nichts geändert, wohl aber an seiner Erscheinung. Da es
sich am objektiv Gegebenen orientiert, so erscheint es als an das
Objekt gebannt, als ob es ohne die äussere Orientierung gar nicht
bestehen könnte. Es erscheint quasi im Gefolge äusserer Tatsachen, oder
es scheint seine Höhe erreicht zu haben, wenn es in eine allgemein
gültige Idee einmünden kann. Es scheint stets durch objektiv Gegebenes
bewirkt zu sein und seine Schlüsse nur mit dessen Zustimmung ziehen zu
können. Es erweckt daher den Eindruck der Unfreiheit und bisweilen der
Kurzsichtigkeit trotz aller Behendigkeit in dem von objektiven Grenzen
beschränkten Räume.

Was ich hier beschreibe, ist der blosse Eindruck der Erscheinung des
extravertierten Denkens auf den Beobachter, der bereits schon deshalb
auf einem andern Standpunkt stehen muss, weil er sonst die Erscheinung
des extravertierten Denkens gar nicht beobachten könnte. Infolge seines
andern Standpunktes sieht er auch bloss die Erscheinung und nicht deren
Wesen. Wer aber im Wesen dieses Denkens selber drin steht, vermag wohl
sein Wesen, nicht aber seine Erscheinung zu erfassen. Die Beurteilung
nach der blossen Erscheinung kann dem Wesen nicht gerecht werden,
daher sie meist entwertend ausfällt. Dem Wesen nach aber ist dieses
Denken nicht minder fruchtbar und schöpferisch als das introvertierte
Denken, nur dient sein Können andern Zielen als dieses. Dieser
Unterschied wird dann besonders fühlbar, wenn das extravertierte Denken
sich eines Stoffes, der ein spezifischer Gegenstand des subjektiv
orientierten Denkens ist, bemächtigt. Dieser Fall tritt ein, wenn
z. B. eine subjektive Überzeugung analytisch aus objektiven Tatsachen
oder als Folge und Ableitung aus objektiven Ideen erklärt wird. Noch
offenkundiger für unser naturwissenschaftlich orientiertes Bewusstsein
aber wird der Unterschied der beiden Denkarten, wenn das subjektiv
orientierte Denken den Versuch macht, objektiv Gegebenes in objektiv
nicht gegebene Zusammenhänge zu bringen, d. h. einer subjektiven
Idee zu unterstellen. Beides wird als Übergriff empfunden und dabei
tritt dann jene Schattenwirkung hervor, welche die beiden Denkarten
aufeinander haben. Das subjektiv orientierte Denken erscheint dann als
reine Willkür, das extravertierte Denken dagegen als platte und banale
Incommensurabilität. Deshalb befehden sich die beiden Standpunkte
unaufhörlich. Man könnte meinen, dieser Streit wäre dadurch leicht
zu beendigen, dass man die Gegenstände subjektiver von denjenigen
objektiver Natur reinlich schiede. Diese Scheidung ist leider ein Ding
der Unmöglichkeit, obschon nicht wenige sie durchzuführen versucht
haben. Und wenn diese Scheidung auch möglich wäre, so wäre sie ein
grosses Unheil, indem beide Orientierungen an sich einseitig und nur
von beschränkter Gültigkeit sind, und darum eben ihrer gegenseitigen
Beeinflussung bedürfen. Wenn das objektiv Gegebene das Denken in
irgendwie höherm Masse unter seinen Einfluss bringt, so sterilisiert
es das Denken, indem letzteres zu einem blossen Anhängsel des
objektiv Gegebenen erniedrigt wird, sodass es in keinerlei Hinsicht
mehr imstande ist, sich vom objektiv Gegebenen bis zur Herstellung
eines abgezogenen Begriffes zu befreien. Der Prozess des Denkens
beschränkt sich dann auf ein blosses „Nachdenken“, nicht etwa im
Sinne von „Überlegung“, sondern im Sinne von blosser Imitation, die
im wesentlichen durchaus nichts anderes besagt, als was im objektiv
Gegebenen allbereits ersichtlich und unmittelbar vorlag. Ein solcher
Denkprozess führt natürlich zum objektiv Gegebenen unmittelbar zurück,
aber niemals darüber hinaus, also nicht einmal zum Anschluss der
Erfahrung an eine objektive Idee; und umgekehrt, wenn dieses Denken
eine objektive Idee zum Gegenstand hat, so wird es nicht imstande sein,
die praktische Einzelerfahrung zu erreichen, sondern es wird in einem
mehr oder weniger tautologischen Zustand verharren. Hiefür liefert die
materialistische Mentalität einleuchtende Beispiele.

Wenn das extravertierte Denken infolge einer verstärkten Determination
durch das Objekt dem objektiv Gegebenen unterliegt, so verliert es
sich einerseits gänzlich in der Einzelerfahrung und erzeugt eine
Anhäufung unverdauter empirischer Materialien. Die bedrückende Masse
mehr oder weniger zusammenhangsloser Einzelerfahrungen schafft einen
Zustand gedanklicher Dissociation, der in der Regel auf der andern
Seite eine psychologische Compensation erfordert. Diese besteht in
einer ebenso einfachen wie allgemeinen Idee, welche dem aufgehäuften,
aber innerlich unverbundenen Ganzen einen Zusammenhang geben, oder
wenigstens die Ahnung eines solchen vermitteln soll. Passende Ideen
zu diesem Zweck sind etwa „Materie“ oder „Energie“. Hängt aber das
Denken nicht in erster Linie zu viel an äussern Tatsachen, sondern an
einer überkommenen Idee, so entsteht aus Compensation der Armut dieses
Gedankens eine umso eindrucksvollere Anhäufung von Tatsachen, die eben
einseitig nach einem relativ beschränkten und sterilen Gesichtspunkt
gruppiert sind, wobei regelmässig viel wertvollere und sinnreichere
Aspekte der Dinge gänzlich verloren gehen. Die schwindelerregende Fülle
der sogenannten wissenschaftlichen Literatur unserer Tage verdankt, zu
einem leider hohen Prozentsatz, ihre Existenz dieser Misorientierung.


_2. Der extravertierte Denktypus._

Wie die Erfahrung zeigt, haben die psychologischen Grundfunktionen in
einem und demselben Individuum selten oder so gut wie nie alle dieselbe
Stärke oder denselben Entwicklungsgrad. In der Regel überwiegt die
eine oder andere Funktion sowohl an Stärke wie an Entwicklung. Wenn
nun dem Denken das _Primat_ unter den psychologischen Funktionen
zufällt, d. h. wenn das Individuum seine Lebensleistung hauptsächlich
unter der Führung denkender Überlegung vollbringt, sodass alle
irgendwie wichtigen Handlungen aus intellektuell gedachten Motiven
hervorgehen oder doch wenigstens der Tendenz gemäss hervorgehen
sollten, so handelt es sich um einen _Denktypus_. Ein solcher
Typus kann introvertiert oder extravertiert sein: Wir beschäftigen
uns hier zunächst mit dem _extravertierten Denktypus_. Dieser
wird also, der Definition gemäss, ein Mensch sein, der das Bestreben
hat -- natürlich nur, insofern er ein reiner Typus ist -- seine
gesammte Lebensäusserung in die Abhängigkeit von intellektuellen
Schlüssen zu bringen, die sich in letzter Linie stets am objektiv
Gegebenen, entweder an objektiven Tatsachen oder allgemein gültigen
Ideen orientieren. Dieser Typus Mensch verleiht nicht nur sich
selber, sondern auch seiner Umgebung gegenüber der objektiven
Tatsächlichkeit, resp. ihrer objektiv orientierten intellektuellen
Formel die ausschlaggebende Macht. An dieser Formel wird Gut und
Böse gemessen, wird schön und hässlich bestimmt. Richtig ist alles,
was dieser Formel entspricht, unrichtig, was ihr widerspricht, und
zufällig, was indifferent neben ihr herläuft. Weil diese Formel dem
Weltsinn entsprechend erscheint, so wird sie auch zum Weltgesetz,
das immer und überall zur Verwirklichung gelangen muss im einzelnen
sowohl wie im allgemeinen. Wie der extravertierte Denktypus sich seiner
Formel unterordnet, so muss es auch seine Umgebung tun zu ihrem
eigenen Heile, denn wer es nicht tut, ist unrichtig, er widerstrebt
dem Weltgesetz, ist daher unvernünftig, unmoralisch und gewissenlos.
Seine Moral verbietet dem extravertierten Denktypus Ausnahmen zu
dulden, denn sein Ideal muss unter allen Umständen Wirklichkeit
werden, denn es ist, wie es ihm erscheint, reinste Formulierung
objektiver Tatsächlichkeit und muss daher auch allgemein gültige
Wahrheit sein, unerlässlich zum Heile der Menschheit. Dies nicht etwa
aus Nächstenliebe, sondern vom höhern Gesichtspunkt der Gerechtigkeit
und Wahrheit aus. Alles, was in seiner eigenen Natur dieser Formel
als widersprechend empfunden wird, ist bloss Unvollkommenheit, ein
zufälliges Versagen, das bei nächster Gelegenheit ausgemerzt sein wird,
oder wenn dies nicht gelingt, so ist es krankhaft. Wenn die Toleranz
mit dem Kranken, Leidenden und Abnormen einen Bestandteil der Formel
bilden sollte, so wird dafür eine spezielle Einrichtung getroffen,
z. B. Rettungsanstalten, Spitäler, Gefängnisse, Kolonien etc. resp.
Pläne und Entwürfe dazu. Zur wirklichen Ausführung reicht das Motiv
der Gerechtigkeit und Wahrheit in der Regel nicht aus, es bedarf dazu
noch der wirklichen Nächstenliebe, die mehr mit dem Gefühl zu tun hat,
als mit einer intellektuellen Formel. Das „man sollte eigentlich“
oder „man müsste“ spielt eine grosse Rolle. Ist die Formel aber weit
genug, so kann dieser Typus als Reformator, als öffentlicher Ankläger
und Gewissensreiniger oder als Propagator wichtiger Neuerungen eine
dem sozialen Leben äusserst nützliche Rolle spielen. Je enger aber die
Formel ist, desto mehr wird dieser Typus zum Nörgler, Vernünftler und
selbstgerechten Kritiker, der sich und andere in ein Schema pressen
möchte. Damit sind zwei Endpunkte angegeben, zwischen denen sich die
Mehrzahl dieser Typen bewegt.

Entsprechend dem Wesen der extravertierten Einstellung sind die
Wirkungen und Äusserungen dieser Persönlichkeiten umso günstiger
oder besser, je weiter aussen sie liegen. Ihr bester Aspekt findet
sich an der Peripherie ihrer Wirkungssphäre. Je tiefer man in ihren
Machtbereich eindringt, desto mehr machen sich ungünstige Folgen ihrer
Tyrannei bemerkbar. An der Peripherie pulsiert noch anderes Leben,
das die Wahrheit der Formel als schätzenswerte Zugabe zum übrigen
empfindet. Je tiefer man aber in den Machtbereich der Formel eintritt,
desto mehr stirbt alles Leben ab, das der Formel nicht entspricht.
Am meisten bekommen die eigenen Angehörigen die übeln Folgen einer
extravertierten Formel zu kosten, denn sie sind die ersten, die
unerbittlich damit beglückt werden. Am allermeisten aber leidet
darunter das Subjekt selber, und damit kommen wir nun zur andern Seite
der Psychologie dieses Typus.

Der Umstand, dass es keine intellektuelle Formel je gegeben hat, noch
je geben wird, welche die Fülle des Lebens und seiner Möglichkeiten in
sich fassen und passend ausdrücken könnte, bewirkt eine Hemmung, resp.
Ausschliessung anderer wichtiger Lebensformen und Lebensbetätigungen.
In erster Linie werden es bei diesem Typus Mensch alle vom Gefühl
abhängigen Lebensformen sein, welche der Unterdrückung verfallen,
also z. B. ästhetische Betätigungen, der Geschmack, der Kunstsinn,
die Pflege der Freundschaft usw. Irrationale Formen, wie religiöse
Erfahrungen, Leidenschaften und dergleichen sind oft bis zur völligen
Unbewusstheit ausgetilgt. Diese unter Umständen ausserordentlich
wichtigen Lebensformen fristen ein zum grössten Teil unbewusstes
Dasein. Obschon es Ausnahmemenschen gibt, die ihr ganzes Leben einer
bestimmten Formel zum Opfer bringen können, so sind doch die meisten
nicht imstande, eine solche Ausschliesslichkeit auf die Dauer zu
leben. Früher oder später -- je nach äussern Umständen und innerer
Veranlagung -- werden sich die durch die intellektuelle Einstellung
verdrängten Lebensformen indirekt bemerkbar machen, indem sie die
bewusste Lebensführung stören. Erreicht diese Störung einen erheblichen
Grad, so spricht man von einer Neurose. In den meisten Fällen
kommt es allerdings nicht so weit, indem das Individuum instinktiv
einige präventive Milderungen der Formel sich gestattet, allerdings
mittels einer passenden vernünftigen Einkleidung. Damit ist ein
Sicherheitsventil geschaffen.

Infolge der relativen oder gänzlichen Unbewusstheit der von der
bewussten Einstellung ausgeschlossenen Tendenzen und Funktionen
bleiben diese in einem relativ unentwickelten Zustand stecken. Sie
sind gegenüber der bewussten Funktion minderwertig. Insoweit sie
unbewusst sind, sind sie mit den übrigen Inhalten des Unbewussten
verschmolzen, wodurch sie einen bizarren Charakter annehmen. Insoweit
sie bewusst sind, spielen sie eine sekundäre Rolle, wenn schon sie
für das psychologische Gesamtbild von beträchtlicher Bedeutung sind.
Von der vom Bewusstsein ausgehenden Hemmung sind in erster Linie die
Gefühle betroffen, denn sie widersprechen am ehesten einer starren
intellektuellen Formel, daher sie auch am intensivsten verdrängt
werden. Ganz ausgeschaltet kann keine Funktion werden, sondern
bloss erheblich entstellt. Soweit sich die Gefühle willkürlich
formen und unterordnen lassen, müssen sie die intellektuelle
Bewusstseinseinstellung unterstützen und ihren Absichten sich anpassen.
Dies ist aber nur bis zu einem gewissen Grade möglich; ein Teil des
Gefühles bleibt unbotmässig und muss deshalb verdrängt werden. Gelingt
die Verdrängung, so entschwindet es dem Bewusstsein und entfaltet
dann unter der Schwelle des Bewusstseins eine den bewussten Absichten
zuwiderlaufende Tätigkeit, welche unter Umständen Effekte erzielt,
deren Zustandekommen dem Individuum ein völliges Rätsel ist. So
wird z. B. der bewusste oft außerordentliche Altruismus durchkreuzt
von einer heimlichen, dem Individuum selber verborgenen Selbstsucht,
welche im Grunde genommen uneigennützigen Handlungen den Stempel
der Eigennützigkeit aufdrückt. Reine ethische Absichten können das
Individuum in kritische Situationen führen, wo es bisweilen mehr
als bloss den Anschein hat, als ob ganz andere als ethische Motive
ausschlaggebend wären. Es sind freiwillige Retter oder Sittenwächter,
welche plötzlich selber als rettungsbedürftig oder als compromittiert
erscheinen. Ihre Rettungsabsicht führt sie gerne zum Gebrauche
von Mitteln, die geeignet sind, eben das herbeizuführen, was man
vermeiden wollte. Es gibt extravertierte Idealisten, welche ihrem
Ideal dermassen zur Verwirklichung zum Heile der Menschen verhelfen
wollen, dass sie selbst vor Lügen und sonstigen unredlichen Mitteln
nicht zurückschrecken. Es gibt in der Wissenschaft mehrere peinliche
Beispiele, wo hochverdiente Forscher aus tiefster Überzeugung von der
Wahrheit und Allgemeingültigkeit ihrer Formel Fälschungen von Belegen
zu Gunsten ihres Ideales begangen haben. Dies nach der Formel: Der
Zweck heiligt die Mittel. Nur eine minderwertige Gefühlsfunktion, die
unbewusst verführend am Werke ist, kann solche Verirrungen bei sonst
hochstehenden Menschen bewirken.

Die Minderwertigkeit des Gefühls bei diesem Typus äussert sich auch
noch in anderer Weise. Die bewusste Einstellung ist, wie es der
vorherrschenden sachlichen Formel entspricht, mehr oder weniger
unpersönlich, oft in dem Masse, dass die persönlichen Interessen
erheblich darunter leiden. Ist die bewusste Einstellung extrem, so
fallen alle persönlichen Rücksichten fort, auch solche gegen die
eigene Person. Die eigene Gesundheit wird vernachlässigt, die soziale
Position gerät in Verfall, die eigene Familie wird oft in ihren
vitalsten Interessen vergewaltigt, gesundheitlich, finanziell und
moralisch geschädigt, alles im Dienste des Ideals. Auf alle Fälle
leidet die persönliche Anteilnahme am andern, insofern dieser nicht
zufällig ein Förderer derselben Formel ist. Es kommt daher nicht
selten vor, dass die engere Familie, z. B. gerade die eigenen Kinder
einen solchen Vater nur als grausamen Tyrannen kennen, während die
weitere Umgebung vom Ruhme seiner Menschlichkeit widerhallt. Nicht etwa
trotz, sondern gerade wegen der hohen Unpersönlichkeit der bewussten
Einstellung sind die Gefühle unbewusst ausserordentlich persönlich
empfindlich und verursachen gewisse heimliche Vorurteile, namentlich
eine gewisse Bereitschaft, z. B. eine objektive Opposition gegen die
Formel als ein persönliches Übelwollen zu missverstehen, oder stets
eine negative Voraussetzung von den Qualitäten anderer zu machen,
um deren Argumente im voraus zu entkräften, natürlich zum Schutz
der eigenen Empfindlichkeit. Durch die unbewusste Empfindlichkeit
wird sehr oft der Ton der Sprache verschärft, zugespitzt, aggressiv.
Insinuationen kommen häufig vor. Die Gefühle haben den Charakter des
Nachträglichen und Nachhinkenden, wie es einer minderwertigen Funktion
entspricht. Daher besteht eine ausgesprochene Anlage zum Ressentiment.
So grosszügig die individuelle Aufopferung für das intellektuelle Ziel
auch sein mag, so kleinlich misstrauisch, launisch und konservativ
sind die Gefühle. Alles Neue, das nicht in der Formel schon enthalten
ist, wird durch einen Schleier von unbewusstem Hass angesehen und
dementsprechend beurteilt. Es ist um die Mitte des vorigen Jahrhunderts
vorgekommen, dass ein wegen seiner Menschenfreundlichkeit berühmter
Mediziner einen Assistenten fortzuschicken drohte, weil dieser ein
Thermometer gebrauchte; denn die Formel lautet: das Fieber erkennt
man am Pulse. Ähnliche Fälle gibt es bekanntlich eine Menge. Je
stärker die Gefühle verdrängt sind, desto schlimmer und heimlicher
beeinflussen sie das Denken, das sonst in tadelloser Verfassung sein
kann. Der intellektuelle Standpunkt, der vielleicht um seines ihm
tatsächlich zukommenden Wertes willen auf eine allgemeine Anerkennung
Anspruch erheben dürfte, erfährt durch den Einfluss der unbewussten
persönlichen Empfindlichkeit eine charakteristische Veränderung: er
wird dogmatisch-starr. Die Selbstbehauptung der Persönlichkeit wird auf
ihn übertragen. Die Wahrheit wird ihrer natürlichen Wirkung nicht mehr
überlassen, sondern durch die Identifikation des Subjektes mit ihr wird
sie behandelt wie ein empfindsames Püppchen, dem ein böser Kritiker
ein Leid angetan hat. Der Kritiker wird heruntergerissen, womöglich
noch mit persönlichen Invektiven, und kein Argument ist unter Umständen
schlecht genug, um nicht verwendet zu werden. Die Wahrheit muss
vorgeführt werden, bis es dem Publikum anfängt klar zu werden, dass
es sich offenbar weniger um die Wahrheit, als um ihren persönlichen
Erzeuger handelt.

Der Dogmatismus des intellektuellen Standpunktes erfährt aber bisweilen
durch die unbewusste Einmischung der unbewussten persönlichen Gefühle
noch weitere eigentümliche Veränderungen, welche weniger auf dem
Gefühl sensu strictiori beruhen, als vielmehr auf der Beimischung
von andern unbewussten Faktoren, die mit dem verdrängten Gefühl im
Unbewussten verschmolzen sind. Trotzdem die Vernunft selber beweist,
dass jede intellektuelle Formel nur eine beschränkt gültige Wahrheit
sein und deshalb niemals einen Anspruch auf Alleinherrschaft erheben
kann, so nimmt die Formel praktisch doch ein solches Übergewicht
an, dass alle andern Standpunkte und Möglichkeiten neben ihr in den
Hintergrund treten. Sie ersetzt jede allgemeinere, unbestimmtere und
daher bescheidenere und wahrere Weltanschauung. Sie tritt daher auch
an die Stelle jener allgemeinen Anschauung, die man als Religion
bezeichnet. Dadurch wird die Formel zur Religion, auch wenn sie es
dem Wesen nach nicht im Geringsten mit etwas Religiösem zu tun hat.
Damit gewinnt sie auch den der Religion wesentlichen Charakter der
Unbedingtheit. Sie wird sozusagen zum intellektuellen Aberglauben.
Alle jene psychologischen Tendenzen jedoch, die durch sie verdrängt
werden, sammeln sich als Gegenposition im Unbewussten an und bewirken
Anwandlungen von Zweifel. Zur Abwehr der Zweifel wird die bewusste
Einstellung fanatisch, denn Fanatismus ist nichts anderes als
übercompensierter Zweifel. Diese Entwicklung führt schliesslich zu
einer übertrieben verteidigten bewussten Position und zur Ausbildung
einer absolut gegensätzlichen unbewussten Position, welche z. B. im
Gegensatz zum bewussten Rationalismus äusserst irrational, im Gegensatz
zur modernen Wissenschaftlichkeit des bewussten Standpunktes äusserst
archaïsch und abergläubisch ist. Infolgedessen passieren dann jene aus
der Geschichte der Wissenschaften bekannten bornierten und lächerlichen
Ansichten, über die viele hochverdiente Forscher schliesslich
gestolpert sind. Manchmal verkörpert sich die unbewusste Seite bei
einem solchen Mann in einer Frau.

Dieser dem Leser gewiss wohlbekannte Typus findet sich nach meiner
Erfahrung hauptsächlich bei Männern, wie überhaupt das Denken eine
Funktion ist, die beim Manne weit eher zur Vorherrschaft geeignet ist,
als bei der Frau. Wenn bei Frauen das Denken zur Herrschaft gelangt, so
handelt es sich, soweit ich sehen kann, wohl meistens um ein Denken,
das im Gefolge einer überwiegend _intuitiven_ Geistestätigkeit
steht.

Das Denken des extravertierten Denktypus ist _positiv_, d. h. es
erschafft. Es führt entweder zu neuen Tatsachen oder zu allgemeinen
Auffassungen disparater Erfahrungsmaterialien. Sein Urteil ist im
allgemeinen _synthetisch_. Auch wenn es zerlegt, so baut es
auf, indem es immer über die Auflösung hinausgeht zu einer neuen
Zusammensetzung, zu einer andern Auffassung, die das Zerlegte in
anderer Weise wieder vereinigt, oder indem es dem gegebenen Stoff
etwas weiteres hinzufügt. Man könnte diese Art des Urteils daher
auch im allgemeinen als _prädikativ_ bezeichnen. Jedenfalls
ist es charakteristisch, dass es niemals absolut entwertend oder
destruktiv ist, sondern immer einen zerstörten Wert durch einen
andern ersetzt. Diese Eigenschaft kommt daher, dass das Denken
eines Denktypus sozusagen der Kanal ist, in dem seine Lebensenergie
hauptsächlich fliesst. Das stetig fortschreitende Leben manifestiert
sich in seinem Denken, wodurch sein Gedanke progressiven, zeugenden
Charakter erhält. Sein Denken ist nicht stagnierend oder gar regressiv.
Diese letztern Eigenschaften nimmt aber das Denken an, wenn ihm das
Primat im Bewusstsein nicht zukommt. Da es in diesem Fall relativ
bedeutungslos ist, so mangelt ihm auch der Charakter einer positiven
Lebenstätigkeit. Es folgt andern Funktionen nach; es wird epimetheisch,
indem es quasi zum Treppenwitz wird, der sich stets damit begnügt, das
Vorangegangene und bereits Geschehene ruminierend nachzudenken, es zu
zergliedern und zu verdauen. Da in diesem Fall das Schöpferische in
einer andern Funktion liegt, so ist das Denken nicht mehr progressiv,
sondern stagnierend. Sein Urteil nimmt einen ausgesprochenen
_Inhärenzcharakter_ an, d. h. es beschränkt sich ganz auf den
Umfang seines vorliegenden Stoffes, ihn nirgends überschreitend. Es
genügt sich mit mehr oder weniger abstrakter Konstatierung, ohne
dem Erfahrungsstoffe einen Wert zu erteilen, der nicht bereits von
vornherein in ihm läge. Das Inhärenzurteil des extravertierten Denkens
ist am Objekte orientiert, d. h. seine Konstatierung erfolgt immer im
Sinne einer objektiven Bedeutung der Erfahrung. Es bleibt daher nicht
nur unter dem orientierenden Einfluss des objektiv Gegebenen, sondern
es bleibt sogar im Banne der einzelnen Erfahrung und sagt über diese
nichts aus, was nicht schon bereits durch sie gegeben ist. Man kann
dieses Denken leicht beobachten bei Leuten, die es nicht unterlassen
können, hinter einen Eindruck oder eine Erfahrung eine vernünftige
und zweifellos sehr gültige Bemerkung zu setzen, die aber in nichts
über den gegebenen Umfang der Erfahrung hinausgeht. Eine solche
Bemerkung besagt im Grunde nur: „Ich habe es verstanden, ich kann es
nachdenken.“ Aber dabei hat es auch sein Bewenden. Ein solches Urteil
bedeutet höchstens die Einreihung einer Erfahrung in einen objektiven
Zusammenhang, wobei aber die Erfahrung schon ohne weiteres, als in
diesen Rahmen gehörig, ersichtlich ist.

Besitzt aber eine andere Funktion als das Denken das Bewusstseinsprimat
in einem irgendwie höhern Grade, so nimmt das Denken, soweit
es dann überhaupt bewusst ist, und soweit es sich nicht in
direkter Abhängigkeit von der vorherrschenden Funktion befindet,
_negativen_ Charakter an. So weit das Denken der vorherrschenden
Funktion untergeordnet ist, kann es allerdings als positiv erscheinen,
aber eine nähere Untersuchung kann unschwer nachweisen, dass es
einfach die vorherrschende Funktion nachspricht, sie mit Argumenten
stützt, oft in unverkennbarem Widerspruch mit den dem Denken eigenen
Gesetzen der Logik. Dieses Denken fällt also für unsere vorliegende
Betrachtung fort. Wir beschäftigen uns vielmehr mit der Beschaffenheit
jenes Denkens, das sich dem Primat einer andern Funktion nicht
unterordnen kann, sondern seinem eigenen Prinzip treu bleibt. Die
Beobachtung und Untersuchung dieses Denkens ist schwierig, weil es
im concreten Fall stets mehr oder weniger verdrängt ist durch die
Einstellung des Bewusstseins. Es muss daher meistens erst aus den
Hintergründen des Bewusstseins hervorgeholt werden, wenn es nicht
zufälligerweise in einem unbewachten Moment einmal an die Oberfläche
kommt. Meist muss man es mit der Frage hervorlocken: „Aber was denken
Sie denn eigentlich, im Grunde genommen und so ganz bei Ihnen von
der Sache?“ Oder man muss sogar zu einer List greifen und die Frage
etwa so formulieren: „Was denken Sie denn, dass ich von dieser Sache
denke?“ Diese letztere Form muss nämlich dann gewählt werden, wenn das
eigentliche Denken unbewusst und darum projiziert ist. Das Denken,
das auf diese Weise an die Oberfläche des Bewusstseins gelockt wird,
hat charakteristische Eigenschaften, um derentwillen ich es eben als
_negativ_ bezeichne. Sein Habitus ist am besten gekennzeichnet
durch die beiden Worte „nichts als“. _Goethe_ hat dieses Denken
in der Figur des Mephistopheles personifiziert. Vor allem zeigt es die
Tendenz, den Gegenstand seines Urteilens auf irgend eine Banalität
zurückzuführen und ihn einer eigenen selbständigen Bedeutung zu
entkleiden. Dies geschieht dadurch, dass er als in Abhängigkeit
von einer andern banalen Sache befindlich dargestellt wird. Ergibt
sich zwischen zwei Männern ein Konflikt von anscheinend sachlicher
Natur, so sagt das negative Denken: „Cherchez la femme.“ Verficht
oder propagiert jemand eine Sache, so fragt das negative Denken
nicht nach der Bedeutung der Sache, sondern: „Wieviel verdient er
dabei?“ Das _Moleschott_ zugeschriebene Wort: „Der Mensch ist,
was er isst“, gehört ebenfalls in dieses Kapitel, wie noch viele
andere Aussprüche und Anschauungen, die ich nicht wörtlich anzuführen
brauche. Das Destruktive dieses Denkens sowohl, wie eine gegebenenfalls
beschränkte Nützlichkeit bedarf wohl keiner weitern Erklärung. Es
gibt nun aber noch eine andere Form des negativen Denkens, die man
auf den ersten Blick wohl kaum als solche erkennen würde, und das
ist das _theosophische_ Denken, das sich heute rapide in allen
Weltteilen ausbreitet, vielleicht als eine Reaktionserscheinung
auf den Materialismus der unmittelbar vorausgegangenen Epoche. Das
theosophische Denken ist anscheinend keineswegs reduktiv, sondern
erhöht alles zu transscendenten und weltumfassenden Ideen. Ein Traum,
z. B., ist nicht mehr ein bescheidener Traum, sondern ein Erlebnis
auf einer „andern Ebene“. Die vorderhand noch unerklärbare Tatsache
der Telepathie erklärt sich sehr einfach durch „Vibrationen“, die von
einem zum andern gehen. Eine gewöhnliche nervöse Störung ist sehr
einfach dadurch erklärt, dass dem Astralkörper etwas zugestossen
ist. Gewisse anthropologische Eigentümlichkeiten der atlantischen
Küstenbewohner erklären sich leicht durch den Untergang der Atlantis,
usw. Man braucht nur ein theosophisches Buch zu öffnen, um von der
Erkenntnis erdrückt zu werden, dass alles schon erklärt ist, und dass
die „Geisteswissenschaft“ überhaupt keine Rätsel mehr übrig gelassen
hat. Diese Art des Denkens ist im Grunde genommen ebenso negativ
wie das materialistische Denken. Wenn letzteres die Psychologie als
chemische Veränderungen der Ganglienzellen oder als ein Ausstrecken
und Zurückziehen der Zellfortsätze oder als innere Sekretion auffasst,
so ist dies genau so abergläubisch wie die Theosophie. Der einzige
Unterschied liegt darin, dass der Materialismus auf die uns geläufige
Physiologie reduziert, während die Theosophie alles auf Begriffe der
indischen Metaphysik bringt. Wenn man den Traum auf einen überladenen
Magen zurückführt, so ist damit doch der Traum nicht erklärt, und
wenn man die Telepathie als „Vibration“ erklärt, so ist damit ebenso
wenig gesagt. Denn was ist „Vibration“? Beide Erklärungsmodi sind
nicht nur impotent, sondern sie sind auch destruktiv, indem sie eine
ernsthafte Erforschung des Problems dadurch verhindern, dass sie durch
eine Scheinerklärung das Interesse von der Sache abziehen und in
ersterm Fall dem Magen und in letzterm Fall den imaginären Vibrationen
zuwenden. Beide Denkarten sind steril und sterilisierend. Die negative
Qualität rührt davon her, dass dieses Denken so unbeschreiblich billig
ist, d. h. arm an zeugender und schöpferischer Energie. Es ist ein
Denken im Schlepptau anderer Funktionen.


_3. Das Fühlen._

Das Fühlen in der extravertierten Einstellung orientiert sich nach
dem objektiv Gegebenen, d. h. das Objekt ist die unerlässliche
Determinante der Art des Fühlens. Es befindet sich in Übereinstimmung
mit objektiven Werten. Wer immer das Gefühl nur als einen subjektiven
Tatbestand kennt, wird das Wesen des extravertierten Fühlens nicht
ohne weiteres verstehen, denn das extravertierte Fühlen hat sich vom
subjektiven Faktor möglichst befreit und sich dafür ganz dem Einfluss
des Objektes unterworfen. Auch wo es sich anscheinend von der Qualität
des concreten Objektes als unabhängig erweist, steht es dennoch im
Banne traditioneller oder sonstwie allgemeingültiger Werte. Ich kann
mich zum Prädikat „schön“ oder „gut“ gedrängt fühlen, nicht weil ich
aus subjektivem Gefühl das Objekt „schön“ oder „gut“ fände, sondern
weil es _passend_ ist, es „schön“ oder „gut“ zu nennen; und
zwar passend insofern, als ein gegenteiliges Urteil die allgemeine
Gefühlssituation irgendwie stören würde. Bei einem solchen passenden
Gefühlsurteil handelt es sich keineswegs um eine Simulation oder gar
um eine Lüge, sondern um einen Akt der Einpassung. So kann z. B.
ein Gemälde als „schön“ bezeichnet werden, weil ein in einem Salon
aufgehängtes, mit einem bekannten Namen signiertes Gemälde allgemein
als „schön“ vorausgesetzt wird, oder weil das Prädikat „hässlich“
die Familie des glücklichen Besitzers kränken könnte, oder weil auf
Seiten des Besuchers die Intention vorhanden ist, eine angenehme
Gefühlsatmosphäre zu erzeugen, wozu es notwendig ist, dass alles als
angenehm gefühlt wird. Solche Gefühle sind nach Massgabe objektiver
Determinanten gerichtet. Sie sind als solche genuin und stellen die
gesamte sichtbare Fühlfunktion dar. Genau wie das extravertierte Denken
sich subjektiver Einflüsse soviel wie möglich entledigt, so muss auch
das extravertierte Fühlen einen gewissen Differenzierungsprozess
durchlaufen, bis es von jeder subjektiven Zutat entkleidet ist. Die
durch den Gefühlsakt erfolgenden _Bewertungen_ entsprechen
entweder direkt den objektiven Werten oder wenigstens gewissen
traditionellen und allgemein verbreiteten Wertmasstäben. Dieser Art des
Fühlens ist es zum grossen Teil zuzuschreiben, warum so viele Leute ins
Theater oder ins Konzert oder in die Kirche gehen und zwar mit richtig
abgemessenen positiven Gefühlen. Ihm sind auch die Moden zu verdanken,
und was weit wertvoller ist, die positive und verbreitete Unterstützung
sozialer, philanthropischer und sonstiger Kulturunternehmungen. In
diesen Dingen erweist sich das extravertierte Fühlen als schöpferischer
Faktor. Ohne dieses Fühlen ist z. B. eine schöne und harmonische
Geselligkeit undenkbar. Insoweit ist das extravertierte Fühlen eine
ebenso wohltätige, vernünftig wirkende Macht, wie das extravertierte
Denken. Diese heilsame Wirkung geht aber verloren, sobald das Objekt
einen übertriebenen Einfluss gewinnt. In diesem Fall nämlich zieht das
zu extravertierte Fühlen die Persönlichkeit zu viel ins Objekt, d. h.
das Objekt assimiliert die Person, wodurch der persönliche Charakter
des Fühlens, der seinen Hauptreiz ausmacht, verloren geht. Dadurch wird
nämlich das Gefühl kalt, sachlich und unglaubwürdig. Es verrät geheime
Absicht, jedenfalls erweckt es solchen Verdacht beim unbefangenen
Beobachter. Es macht nicht mehr jenen angenehmen und erfrischenden
Eindruck, der ein genuines Fühlen stets begleitet, sondern man wittert
Pose oder Schauspielerei, wenn schon vielleicht die egozentrische
Absicht noch ganz unbewusst ist. Ein solch übertrieben extravertiertes
Fühlen erfüllt zwar ästhetische Erwartungen, aber es spricht nicht mehr
zum Herzen, sondern bloss noch zu den Sinnen, oder -- noch schlimmer
-- bloss noch zum Verstande. Es kann zwar eine Situation ästhetisch
ausfüllen, es beschränkt sich aber darauf und wirkt nicht darüber
hinaus. Es ist steril geworden. Schreitet dieser Prozess weiter, so
entwickelt sich eine merkwürdig widerspruchsvolle Dissociation des
Fühlens: es bemächtigt sich jeglichen Objektes mit gefühlsmässigen
Bewertungen, und es werden zahlreiche Beziehungen angeknüpft, die
einander innerlich widersprechen. Da dergleichen gar nicht möglich
wäre, wenn ein einigermassen betontes Subjekt vorhanden wäre, so
werden auch die letzten Reste eines wirklich persönlichen Standpunktes
unterdrückt. Das Subjekt wird dermassen aufgesogen in die einzelnen
Fühlprozesse, dass der Beobachter den Eindruck erhält, als ob nur
noch ein Prozess des Fühlens und kein Subjekt des Fühlens mehr
vorhanden sei. Das Fühlen in diesem Zustande hat seine ursprüngliche
menschliche Wärme ganz eingebüsst, es macht den Eindruck der Pose, des
Flatterhaften, des Unzuverlässigen und in schlimmem Fällen den Eindruck
des Hysterischen.


4. Der extravertierte Fühltypus.

Insofern das Gefühl unbestreitbar eine sichtbarere Eigentümlichkeit
der weiblichen Psychologie ist, als das Denken, so finden sich auch
die ausgesprochensten Fühltypen beim weiblichen Geschlecht. Wenn das
extravertierte Fühlen das Primat besitzt, so sprechen wir von einem
extravertierten Fühltypus. Die Beispiele, die mir bei diesem Typus
vorschweben, betreffen fast ohne Ausnahme Frauen. Diese Art Frau
lebt nach der Richtschnur ihres Gefühls. Ihr Gefühl hat sich infolge
der Erziehung zu einer eingepassten und der Bewusstseinskontrolle
unterworfenen Funktion entwickelt. In Fällen, die nicht extrem liegen,
hat das Gefühl persönlichen Charakter, obschon das Subjektive bereits
in höherm Masse unterdrückt wurde. Die Persönlichkeit erscheint
daher als in die objektiven Verhältnisse eingepasst. Die Gefühle
entsprechen den objektiven Situationen, und den allgemein gültigen
Werten. Dies zeigt sich nirgends deutlicher als in der sog. Liebeswahl:
Der „passende“ Mann wird geliebt, nicht irgend ein anderer; er ist
passend, nicht etwa, weil er dem subjektiven verborgenen Wesen der
Frau durchaus zusagte -- das weiss sie meistens gar nicht --, sondern
weil er in punkto Stand, Alter, Vermögen, Grösse und Respektabilität
seiner Familie allen vernünftigen Anforderungen entspricht. Man
könnte natürlich eine solche Formulierung leicht als ironisch und
entwertend ablehnen, wenn ich nicht der vollen Überzeugung wäre, dass
das Liebesgefühl dieser Frau ihrer Wahl auch vollkommen entspricht. Es
ist ächt und nicht etwa vernünftige Mache. Solcher „vernünftigen“ Ehen
gibt es unzählige, und es sind keineswegs die schlechtesten. Solche
Frauen sind gute Gefährtinnen ihrer Männer und gute Mütter, solange
ihre Männer oder Kinder die landesübliche psychische Konstitution
besitzen. „Richtig“ fühlen kann man nur dann, wenn nichts anderes das
Gefühl stört. Nichts stört aber das Fühlen so sehr wie das Denken. Es
ist daher ohne weiteres begreiflich, dass das Denken bei diesem Typus
möglichst unterdrückt wird. Damit soll nun keineswegs gesagt sein,
dass eine solche Frau überhaupt nicht denke; im Gegenteil, sie denkt
vielleicht sehr viel und sehr klug, aber ihr Denken ist niemals sui
generis, sondern ein epimetheisches Anhängsel ihres Fühlens. Was sie
nicht fühlen kann, kann sie auch bewusst nicht denken. „Ich kann doch
nicht denken, was ich nicht fühle“, sagte mir einmal ein solcher Fall
in entrüstetem Tone. Soweit es das Gefühl erlaubt, kann sie sehr gut
denken, aber jeder noch so logische Schluss, der zu einem das Gefühl
störenden Ergebnis führen könnte, wird a limine abgelehnt. Er wird
einfach nicht gedacht. Und so wird alles, was objektiver Bewertung
entsprechend gut ist, geschätzt oder geliebt; übriges scheint bloss
ausserhalb ihrer selbst zu existieren. Dieses Bild ändert sich aber,
wenn die Bedeutung des Objektes einen noch höhern Grad erreicht. Wie
ich bereits oben erläuterte, erfolgt dann eine solche Assimilation
des Subjektes an das Objekt, dass das Subjekt des Fühlens mehr oder
weniger untergeht. Das Fühlen verliert den persönlichen Charakter, es
wird Fühlen an sich, und man gewinnt den Eindruck, als ob sich die
Persönlichkeit gänzlich in das jeweilige Gefühl auflöse. Da nun im
Leben beständig Situationen miteinander abwechseln, welche verschiedene
oder sogar miteinander kontrastierende Gefühlstöne auslösen, so löst
sich die Persönlichkeit in ebenso viele verschiedene Gefühle auf.
Man ist das eine Mal dies, das andere Mal etwas ganz anderes --
anscheinend; denn in Wirklichkeit ist eine derartige Mannigfaltigkeit
der Persönlichkeit etwas Unmögliches. Die Basis des Ich bleibt doch
immerhin sich selber identisch und tritt deshalb in eine deutliche
Opposition zu den wechselnden Gefühlszuständen. Infolgedessen
fühlt der Beobachter das zur Schau getragene Gefühl nicht mehr als
einen persönlichen Ausdruck des Fühlenden, sondern vielmehr als
eine Alteration seines Ich, also eine Laune. Je nach dem Grade der
Dissociation zwischen dem Ich und dem jeweiligen Gefühlszustand treten
mehr oder weniger Zeichen des Uneinsseins mit sich selber auf, d. h.
die ursprünglich compensierende Einstellung des Unbewussten wird zur
manifesten Opposition. Dies zeigt sich zunächst in einer übertriebenen
Gefühlsäusserung, z. B. in lauten und aufdringlichen Gefühlsprädikaten,
die aber eine gewisse Glaubwürdigkeit vermissen lassen. Sie klingen
hohl und überzeugen nicht. Sie lassen im Gegenteil bereits die
Möglichkeit erkennen, dass damit ein Widerstand übercompensiert wird,
und dass darum ein solches Gefühlsurteil auch ganz anders lauten
könnte. Und wenig später lautet es auch anders. Die Situation braucht
sich nur um ein weniges zu ändern, um sofort eine ganz entgegengesetzte
Bewertung desselben Objektes auf den Plan zu rufen. Das Ergebnis
einer solchen Erfahrung ist, dass der Beobachter weder das eine noch
das andere Urteil ernst nehmen kann. Er fängt an, sich sein eigenes
Urteil zu reservieren. Da es nun aber diesem Typus vor allem darauf
ankommt, einen intensiven Gefühlsrapport mit der Umgebung herzustellen,
so werden verdoppelte Anstrengungen nötig sein, um die Reserve der
Umgebung zu überwinden. Dies verschlimmert die Situation auf dem Wege
des Circulus vitiosus. Je stärker die Gefühlsbeziehung zum Objekt
betont wird, desto mehr nähert sich die unbewusste Opposition der
Oberfläche.

Wir haben bereits gesehen, dass der extravertierte Fühltypus am meisten
sein Denken unterdrückt, weil eben das Denken am ehesten geeignet ist,
das Fühlen zu stören. Aus diesem Grunde schliesst ja auch das Denken,
wenn es zu irgendwie reinen Resultaten gelangen will, am allermeisten
das Fühlen aus, denn nichts ist so geeignet, das Denken zu stören und
zu verfälschen, wie die Gefühlswerte. Das Denken des extravertierten
Fühltypus ist daher, insofern es eine selbständige Funktion ist,
verdrängt. Wie ich bereits erwähnte, ist es nicht ganz verdrängt,
sondern nur insofern seine unerbittliche Logik zu Schlüssen zwingt, die
dem Gefühl nicht passen. Es ist aber zugelassen als Diener des Gefühls,
oder besser gesagt, als sein Sklave. Sein Rückgrat ist gebrochen, es
kann sich nicht selber, seinem eigenen Gesetze gemäss, durchführen. Da
es nun doch aber eine Logik und unerbittlich richtige Schlüsse gibt, so
geschehen sie auch irgendwo, aber ausserhalb des Bewusstseins, nämlich
im Unbewussten. Darum ist der unbewusste Inhalt dieses Typus in
allererster Linie ein eigenartiges Denken. Dieses Denken ist infantil,
archaïsch und negativ. Solange das bewusste Fühlen den persönlichen
Charakter bewahrt, oder mit andern Worten: solange die Persönlichkeit
nicht von den einzelnen Gefühlszuständen aufgeschluckt wird, verhält
sich das unbewusste Denken compensierend. Wenn aber die Persönlichkeit
sich dissociiert und sich in einzelne einander widersprechende
Gefühlszustände auflöst, so geht die Identität des Ich verloren, das
Subjekt wird unbewusst. Indem das Subjekt aber ins Unbewusste gerät,
associiert es sich mit dem unbewussten Denken und verhilft dadurch
dem unbewussten Denken zu gelegentlicher Bewusstheit. Je stärker
die bewusste Gefühlsbeziehung ist und je mehr sie darum das Gefühl
„ent-icht“, desto stärker wird auch die unbewusste Opposition. Dies
äussert sich darin, dass gerade um die am höchsten bewerteten Objekte
sich unbewusste Gedanken ansammeln, welche den Wert dieser Objekte
erbarmungslos herunterreissen. Das Denken im Stile des „Nichts als“ ist
hier durchaus am Platze, denn es zerstört die Übermacht des an Objekte
geketteten Gefühls. Das unbewusste Denken erreicht die Oberfläche
in Form von Einfällen, oft obsedierender Natur, deren allgemeiner
Charakter immer negativ und entwertend ist. Es gibt darum bei Frauen
von diesem Typus Momente, wo die schlimmsten Gedanken sich gerade
an diejenigen Objekte heften, welche das Gefühl am höchsten wertet.
Das negative Denken bedient sich aller infantilen Vorurteile oder
Vergleiche, die geeignet sind, den Gefühlswert in Zweifel zu setzen,
und es zieht alle primitiven Instinkte heran, um die Gefühle für
„nichts als“ erklären zu können. Es ist mehr eine Seitenbemerkung, wenn
ich hier erwähne, dass auf diese Weise auch das collektive Unbewusste,
die Gesamtheit der primordialen Bilder, herangezogen wird, aus deren
Bearbeitung sich dann wieder die Möglichkeit einer Regeneration der
Einstellung auf einer andern Basis ergibt.

Die hauptsächlichste Neurosenform dieses Typus ist die Hysterie
mit ihrer charakteristischen infantil-sexuellen unbewussten
Vorstellungswelt.


5. Zusammenfassung der rationalen Typen.

Ich bezeichne die beiden vorausgegangenen Typen als rationale oder
urteilende Typen, weil sie charakterisiert sind durch das Primat
vernünftig urteilender Funktionen. Es ist ein allgemeines Merkmal
beider Typen, dass ihr Leben in hohem Masse dem vernünftigen Urteil
unterstellt ist. Wir haben allerdings zu berücksichtigen, ob wir
dabei vom Standpunkte der subjektiven Psychologie des Individuums
sprechen oder vom Standpunkt des Beobachters, der von aussen wahrnimmt
und urteilt. Dieser Beobachter könnte nämlich leicht zu einem
entgegengesetzten Urteil gelangen, und zwar dann, wenn er intuitiv
bloss das Vorkommende erfasst und darnach urteilt. Das Leben dieses
Typus in seiner Gesamtheit ist ja niemals allein vom vernünftigen
Urteil abhängig, sondern auch in beinahe ebenso hohem Masse von
der unbewussten Unvernünftigkeit. Wer nun allein das Vorkommende
beobachtet, ohne sich um den innern Haushalt des Bewusstseins
des Individuums zu kümmern, kann leicht in höherm Masse von der
Unvernünftigkeit und Zufälligkeit gewisser unbewusster Äusserungen
des Individuums betroffen sein, als von der Vernunftmässigkeit seiner
bewussten Absichten und Motivationen. Ich gründe daher mein Urteil
darauf, was das Individuum als seine bewusste Psychologie empfindet.
Ich gebe aber zu, dass man ebenso gut eine solche Psychologie gerade
umgekehrt auffassen und darstellen könnte. Ich bin auch überzeugt,
dass ich, falls ich selber eine andere individuelle Psychologie
besässe, die rationalen Typen in umgekehrter Weise vom Unbewussten
her als irrational beschreiben würde. Dieser Umstand erschwert
die Darstellung und Verständlichkeit psychologischer Tatbestände
in nicht zu unterschätzender Weise und erhöht die Möglichkeit von
Missverständnissen ins Ungemessene. Die Diskussionen, die sich aus
diesen Missverständnissen ergeben, sind in der Regel hoffnungslos,
denn man spricht aneinander vorbei. Diese Erfahrung war für mich ein
Grund mehr, mich in meiner Darstellung auf die subjektiv bewusste
Psychologie des Individuums zu gründen, weil man dadurch wenigstens
einen bestimmten objektiven Anhalt hat, der gänzlich wegfällt, wenn man
eine psychologische Gesetzmässigkeit auf das Unbewusste gründen wollte.
In diesem Fall nämlich könnte das Objekt gar nicht mehr mitsprechen,
denn es weiss von allem andern mehr als vom eigenen Unbewussten. Das
Urteil wäre damit dem Beobachter einzig und allein anheimgegeben --
eine sichere Gewähr dafür, dass er sich auf seine eigene individuelle
Psychologie gründen und diese dem Beobachteten aufdrängen wird. Dieser
Fall liegt meines Erachtens sowohl in der _Freud_schen, wie in
der _Adler_schen Psychologie vor. Das Individuum ist damit ganz
dem Gutfinden des urteilenden Beobachters ausgeliefert. Dies kann aber
nicht der Fall sein, wenn die bewusste Psychologie des Beobachteten
zur Basis genommen wird. In diesem Fall ist er der Kompetente, weil er
allein seine bewussten Motive kennt.

Die Vernünftigkeit der bewussten Lebensführung dieser beiden
Typen bedeutet eine bewusste Ausschliessung des Zufälligen und
Nichtvernunftgemässen. Das vernünftige Urteil repräsentiert in dieser
Psychologie eine Macht, welche das Ungeordnete und Zufällige des realen
Geschehens in bestimmte Formen zwingt oder wenigstens zu zwingen
versucht. Damit wird einerseits unter den Lebensmöglichkeiten eine
bestimmte Auswahl geschaffen, indem bewusst nur das Vernunftgemässe
angenommen wird, und andererseits wird die Selbständigkeit und der
Einfluss derjenigen psychischen Funktionen, welche der Wahrnehmung
des Vorkommenden dienen, wesentlich beschränkt. Diese Beschränkung
der Empfindung und der Intuition ist natürlich keine absolute. Diese
Funktionen existieren wie überall, nur unterliegen ihre Produkte der
Wahl des vernünftigen Urteils. Die absolute Stärke der Empfindung
z. B. ist nicht ausschlaggebend für die Motivation des Handelns,
sondern das Urteil. Die wahrnehmenden Funktionen teilen also in
gewissem Sinne das Schicksal des Fühlens im Falle des ersten Typus
und das des Denkens im zweiten Falle. Sie sind relativ verdrängt
und daher im minderdifferenzierten Zustand. Dieser Umstand gibt
dem Unbewussten unserer beiden Typen ein eigenartiges Gepräge: was
diese Menschen bewusst und absichtlich tun, ist vernunftgemäss
(_ihrer_ Vernunft gemäss!), was ihnen aber passiert, entspricht
dem Wesen infantil-primitiver Empfindungen einerseits und andererseits
ebensolcher Intuitionen. Was unter diesen Begriffen zu verstehen ist,
versuche ich in den folgenden Abschnitten darzustellen. Jedenfalls
ist das, was diesen Typen passiert, irrational (natürlich von ihrem
Standpunkt aus gesehen!). Da es nun sehr viele Menschen gibt, die
mehr aus dem leben, was ihnen passiert, als aus dem, was sie aus
vernünftiger Absicht tun, so kann leicht der Fall eintreten, dass ein
solcher unsere beiden Typen nach sorgfältiger Analyse als irrational
bezeichnen würde. Man muss ihm zugeben, dass nicht allzu selten das
Unbewusste eines Menschen einen weit stärkeren Eindruck macht als sein
Bewusstes, und dass seine Taten oft bedeutend schwerer wiegen, als
seine vernünftigen Motivationen.

Die Vernünftigkeit der beiden Typen ist objektiv orientiert, vom
objektiv Gegebenen abhängig. Ihre Vernünftigkeit entspricht dem, was
collektiv als vernünftig gilt. Subjektiv gilt ihnen nichts anderes
vernünftig, als was allgemein als vernünftig angesehen wird. Aber
auch die Vernunft ist zum guten Teil subjektiv und individuell. In
unserm Fall ist dieser Teil verdrängt, und zwar umso mehr, je grösser
die Bedeutung des Objektes ist. Das Subjekt und die subjektive
Vernunft sind daher immer von der Verdrängung bedroht, und wenn sie
ihr verfallen, so geraten sie unter die Herrschaft des Unbewussten,
das in diesem Falle sehr unangenehme Eigentümlichkeiten besitzt. Von
seinem Denken sprachen wir bereits. Dazu kommen primitive Empfindungen,
die sich als Empfindungszwang äussern, z. B. in Form einer abnormen,
zwangsmässigen Genussucht, die alle möglichen Formen annehmen kann,
und primitive Intuitionen, welche den Betroffenen und ihrer Umgebung
direkt zur Qual werden können. Alles Unangenehme und Peinliche, alles
Widerwärtige, Hässliche oder Schlechte, wird herausgewittert oder
hineinvermutet, und meistens handelt es sich dabei um halbe Wahrheiten,
welche, wie nichts anderes, geeignet sind, Missverständnisse giftigster
Art zu erzeugen. Aus der starken Beeinflussung durch die opponierenden
unbewussten Inhalte ergibt sich notwendigerweise auch eine häufige
Durchbrechung der bewussten Vernunftregel, nämlich eine auffallende
Bindung an Zufälligkeiten, die entweder vermöge ihrer Empfindungsstärke
oder vermöge ihrer unbewussten Bedeutung einen zwingenden Einfluss
erlangen.


6. Das Empfinden.

In der extravertierten Einstellung ist das Empfinden vorwiegend
durch das Objekt bedingt. Als Sinnesperception ist das Empfinden
natürlicherweise vom Objekt abhängig. Es ist aber ebenso
natürlicherweise auch vom Subjekt abhängig, daher es auch ein
subjektives Empfinden gibt, welches seiner Art nach vom objektiven
Empfinden durchaus verschieden ist. In der extravertierten Einstellung
ist der subjektive Anteil des Empfindens, insoweit dessen bewusste
Verwendung in Frage kommt, gehemmt oder verdrängt. Ebenso ist das
Empfinden, als irrationale Funktion relativ verdrängt, wenn Denken
oder Fühlen das Primat besitzen, d. h. es funktioniert bewusst
bloss in dem Masse als die bewusste, urteilende Einstellung die
zufälligen Wahrnehmungen zu Bewusstseinsinhalten werden lässt, mit
andern Worten sie realisiert. Die Sinnesfunktion sensu strictiori
ist natürlich absolut, es wird z. B. alles gesehen und gehört,
soweit dies physiologisch möglich ist, aber nicht alles erreicht
jenen Schwellenwert, welchen eine Perception besitzen muss, um auch
appercipiert zu werden. Dies ändert sich, wenn keine andere Funktion
das Primat besitzt, als das Empfinden selber. In diesem Falle wird aus
der Objektempfindung nichts ausgeschlossen und nichts verdrängt (mit
Ausnahme des subjektiven Anteils, wie schon erwähnt). Das Empfinden
wird vorzugsweise durch das Objekt determiniert, und diejenigen
Objekte, welche die stärkste Empfindung auslösen, sind für die
Psychologie des Individuums ausschlaggebend. Dadurch entsteht eine
ausgesprochen _sinnliche Bindung_ an die Objekte. Das Empfinden
ist daher eine vitale Funktion, die mit dem stärksten Lebenstrieb
ausgerüstet wird. Insofern Objekte Empfindungen auslösen, gelten sie
und werden auch, insoweit dies durch Empfinden überhaupt möglich ist,
völlig in das Bewusstsein aufgenommen, ob sie nun dem vernünftigen
Urteil passen oder nicht. Ihr Wertkriterium ist einzig die durch ihre
objektiven Eigenschaften bedingte Empfindungsstärke. Infolgedessen
treten alle objektiven Vorgänge ins Bewusstsein, insofern sie
überhaupt Empfindungen auslösen. Es sind aber nur concrete, sinnlich
wahrnehmbare Objekte oder Vorgänge, welche in der extravertierten
Einstellung Empfindungen erregen, und zwar ausschliesslich solche,
die jedermann überall und zu allen Zeiten als concret empfinden würde.
Das Individuum wird daher nach rein sinnenfälliger Tatsächlichkeit
orientiert. Die urteilenden Funktionen stehen unterhalb der concreten
Tatsache der Empfindung und haben daher die Eigenschaften der
minderdifferenzierten Funktionen, d. h. also eine gewisse Negativität
mit infantil-archaïschen Zügen. Am stärksten von der Verdrängung
betroffen ist natürlich die der Empfindung entgegengesetzte Funktion,
nämlich die der unbewussten Wahrnehmung, der Intuition.


_7. Der extravertierte Empfindungstypus._

Es gibt keinen andern menschlichen Typus, der an Realismus dem
extravertierten Empfindungstypus gleichkäme. Sein objektiver
Tatsachensinn ist ausserordentlich entwickelt. Er häuft in seinem
Leben reale Erfahrungen am concreten Objekt, und je ausgesprochener
er ist, desto weniger macht er Gebrauch von seiner Erfahrung. Sein
Erlebnis wird in gewissen Fällen überhaupt nicht zu dem, was den Namen
„Erfahrung“ verdiente. Was er empfindet, dient ihm höchstens als
Wegleitung zu neuen Empfindungen und alles, was etwa Neues in den Kreis
seiner Interessen eintritt, ist auf dem Wege der Empfindung erworben
und soll zu diesem Zwecke dienen. Insofern man einen ausgesprochenen
Sinn für reine Tatsächlichkeit als sehr vernünftig aufzufassen geneigt
ist, wird man solche Menschen als vernünftig preisen. Sie sind es aber
in Wirklichkeit keineswegs, indem sie der Empfindung des irrationalen
Zufalls genau so unterworfen sind, wie der des rationalen Vorkommens.
Ein solcher Typus -- vielfach handelt es sich anscheinend um Männer --
meint natürlich nicht, der Empfindung „unterworfen“ zu sein. Er wird
diesen Ausdruck vielmehr als ganz unzutreffend belächeln, denn für ihn
ist Empfindung concrete Lebensäusserung; sie bedeutet ihm eine Fülle
wirklichen Lebens. Seine Absicht geht auf den concreten Genuss, ebenso
seine Moralität. Denn das wahre Geniessen hat seine besondere Moral,
seine besondere Mässigkeit und Gesetzmässigkeit, seine Selbstlosigkeit
und Opferwilligkeit. Er braucht keineswegs ein sinnlicher Rohling zu
sein, sondern kann sein Empfinden zu grösster ästhetischer Reinheit
differenzieren, ohne dass er auch in der abstraktesten Empfindung
jemals seinem Prinzip der objektiven Empfindung untreu würde.
_Wulfens_ Cicerone des rücksichtslosen Lebensgenusses ist das
ungeschminkte Selbstbekenntnis eines derartigen Typus. Das Buch
erscheint mir unter diesem Gesichtswinkel als lesenswert.

Auf niederer Stufe ist dieser Typus der Mensch der tastbaren
Wirklichkeit, ohne Neigung zu Reflexionen und ohne Herrscherabsichten.
Sein stetiges Motiv ist, das Objekt zu empfinden, Sensationen zu
haben und womöglich zu geniessen. Er ist kein unliebenswürdiger
Mensch, im Gegenteil, er ist häufig von erfreulicher und lebendiger
Genussfähigkeit, bisweilen ein lustiger Kumpan, bisweilen ein
geschmackvoller Ästhet. Im erstern Fall hängen die grossen Probleme
des Lebens ab von einem mehr oder weniger guten Mittagstisch, im
letztern gehören sie zum guten Geschmack. Wenn er empfindet, so ist
für ihn alles wesentliche gesagt und erfüllt. Nichts kann mehr als
concret und wirklich sein, Vermutungen daneben oder darüber hinaus sind
nur zugelassen, insofern sie die Empfindung verstärken. Sie brauchen
diese keineswegs im angenehmen Sinn zu verstärken, denn dieser Typus
ist nicht ein gewöhnlicher Lüstling, sondern er will nur die stärkste
Empfindung, die er seiner Natur nach immer von aussen empfangen muss.
Was von innen kommt, erscheint ihm als krankhaft und verwerflich.
Insofern er denkt und fühlt, reduziert er immer auf objektive
Grundlagen, d. h. auf Einflüsse, die vom Objekt kommen, unbekümmert
auch um die stärkste Beugung der Logik. Tastbare Wirklichkeit lässt
ihn unter allen Umständen aufatmen. In dieser Beziehung ist er von
unerwarteter Leichtgläubigkeit. Ein psychogenes Symptom wird er
unbedenklich auf den tiefen Barometerstand beziehen, die Existenz eines
psychischen Konfliktes dagegen erscheint ihm als abnorme Träumerei.
Seine Liebe gründet sich unzweifelhaft auf die sinnenfälligen Reize des
Objektes. Insofern er normal ist, ist er der gegebenen Wirklichkeit
auffallend eingepasst, auffallend darum, weil es immer sichtbar ist.
Sein Ideal ist die Tatsächlichkeit, er ist rücksichtsvoll in dieser
Beziehung. Er hat keine Ideen-Ideale, darum auch keinen Grund, sich
irgendwie gegen die tatsächliche Wirklichkeit fremd zu verhalten. Das
drückt sich in allen Äusserlichkeiten aus. Er kleidet sich gut, seinen
Umständen entsprechend, man isst und trinkt gut bei ihm, man sitzt
bequem oder man begreift wenigstens, dass sein verfeinerter Geschmack
einige Ansprüche an seine Umgebung stellen darf. Er überzeugt sogar,
dass gewisse Opfer dem Stil zuliebe sich entschieden lohnen.

Je mehr aber die Empfindung überwiegt, sodass das empfindende
Subjekt hinter der Sensation verschwindet, desto unerfreulicher wird
dieser Typus. Er entwickelt sich entweder zum rohen Genussmenschen
oder zum skrupellosen, raffinierten Ästheten. So unerlässlich ihm
dann das Objekt wird, so sehr wird es auch als etwas, das in und
durch sich selbst besteht, entwertet. Es wird ruchlos vergewaltigt
und ausgepresst, indem es überhaupt nur noch als Anlass zur
Empfindung gebraucht wird. Die Bindung an das Objekt wird aufs
Äusserste getrieben. Dadurch aber wird auch das Unbewusste aus der
compensatorischen Rolle in die offene Opposition gedrängt. Vor
allem machen sich die verdrängten Intuitionen geltend in Form von
Projektionen auf das Objekt. Die abenteuerlichsten Vermutungen
entstehen; handelt es sich um ein Sexualobjekt, so spielen
Eifersuchtsphantasien eine grosse Rolle, ebenso Angstzustände.
In schwereren Fällen entwickeln sich Phobien aller Art, und
besonders Zwangssymptome. Die pathologischen Inhalte sind von einem
bemerkenswerten Irrealitätscharakter, häufig moralisch und religiös
gefärbt. Es entwickelt sich oft eine spitzfindige Rabulistik, eine
lächerlich-skrupulöse Moralität und eine primitive, abergläubische
und „magische“ Religiosität, die auf abstruse Riten zurückgreift.
Alle diese Dinge stammen aus den verdrängten, minderdifferenzierten
Funktionen, welche in solchen Fällen dem Bewusstsein schroff
gegenüberstehen und umso auffallender in die Erscheinung treten, als
sie auf den absurdesten Voraussetzungen zu beruhen scheinen, ganz im
Gegensatz zum bewussten Tatsachensinn. Die ganze Kultur des Fühlens und
Denkens erscheint in dieser zweiten Persönlichkeit in eine krankhafte
Primitivität verdreht; Vernunft ist Vernünftelei und Haarspalterei,
Moral ist öde Moralisiererei und handgreiflicher Pharisäismus, Religion
ist absurder Aberglauben, das Ahnungsvermögen, diese vornehme Gabe des
Menschen, ist persönliche Tüftelei, Beschnupperung jeder Ecke, und
geht, statt ins Weite, ins Engste allzumenschlicher Kleinlichkeit.

Der spezielle Zwangscharakter der neurotischen Symptome stellt das
unbewusste Gegenstück dar zur bewussten moralischen Zwangslosigkeit
einer bloss empfindenden Einstellung, welche, vom Standpunkt des
rationalen Urteils aus, wahllos das Vorkommende aufnimmt. Wenn schon
die Voraussetzungslosigkeit des Empfindungstypus keineswegs absolute
Gesetz- und Schrankenlosigkeit bedeutet, so fällt bei ihm doch die
ganz wesentliche Beschränkung durch das Urteil weg. Das rationale
Urteil aber stellt einen bewussten Zwang dar, den sich der rationale
Typus anscheinend freiwillig auferlegt. Dieser Zwang befällt den
Empfindungstypus vom Unbewussten her. Zudem bedeutet die Objektbindung
des rationalen Typus eben wegen der Existenz eines Urteils niemals
soviel wie jene unbedingte Beziehung, die der Empfindungstypus zum
Objekt hat. Wenn seine Einstellung eine abnorme Einseitigkeit erreicht,
so ist er daher in Gefahr, ebenso sehr dem Griffe des Unbewussten zu
verfallen, wie er bewusst am Objekte hängt. Ist er einmal neurotisch
geworden, so ist er auch viel schwerer in vernünftiger Weise zu
behandeln, weil die Funktionen, an die der Arzt sich wendet, in
einem relativ undifferenzierten Zustand sich befinden und daher
wenig oder gar nicht verlässlich sind. Es bedarf öfters affektiver
Pressionsmittel, um ihm etwas bewusst zu machen.


_8. Die Intuition._

Die Intuition als die Funktion unbewusster Wahrnehmung richtet sich
in der extravertierten Einstellung ganz auf äussere Objekte. Da die
Intuition ein in der Hauptsache unbewusster Prozess ist, so ist auch
ihr Wesen bewusst sehr schwer zu erfassen. Im Bewusstsein ist die
intuitive Funktion vertreten durch eine gewisse Erwartungseinstellung,
ein Anschauen und Hineinschauen, wobei immer erst das nachträgliche
Resultat erweisen kann, wieviel hineingeschaut und wieviel wirklich
am Objekt lag. Wie auch die Empfindung, falls sie das Primat besitzt,
nicht bloss ein reaktiver, für das Objekt weiter nicht bedeutsamer
Vorgang ist, sondern vielmehr eine actio, welche das Objekt ergreift
und gestaltet, so ist auch die Intuition nicht bloss eine Wahrnehmung,
ein blosses Anschauen, sondern ein aktiver, schöpferischer Vorgang,
der ebensoviel in das Objekt hineinbildet, als er davon herausnimmt.
Wie er unbewusst die Anschauung herausnimmt, so schafft er auch
eine unbewusste Wirkung im Objekt. Die Intuition vermittelt
allerdings zunächst bloss Bilder oder Anschauungen von Beziehungen
und Verhältnissen, die mittelst anderer Funktionen entweder gar
nicht, oder nur auf grossen Umwegen erreicht werden können. Diese
Bilder haben den Wert bestimmter Erkenntnisse, welche das Handeln
ausschlaggebend beeinflussen, insofern der Intuition das Hauptgewicht
zufällt. In diesem Fall gründet sich die psychische Anpassung beinahe
ausschliesslich auf Intuitionen. Denken, Fühlen und Empfinden sind
relativ verdrängt, wobei die Empfindung am meisten betroffen ist,
weil sie als bewusste Sinnesfunktion der Intuition am meisten
hinderlich ist. Die Empfindung stört die reine, unvoreingenommene,
naive Anschauung durch aufdringliche Sinnesreizungen, welche den
Blick auf physische Oberflächen lenken, also gerade auf die Dinge,
hinter welche die Intuition zu gelangen sucht. Da sich die Intuition
in der extravertierten Einstellung vorwiegend auf das Objekt
richtet, so kommt sie eigentlich der Empfindung sehr nahe, denn
die Erwartungseinstellung auf äussere Objekte kann sich mit fast
ebenso grosser Wahrscheinlichkeit der Empfindung bedienen. Damit
aber die Intuition durchgeführt werden kann, muss die Empfindung in
hohem Masse unterdrückt werden. Unter Empfindung verstehe ich in
diesem Fall die einfache und direkte Sinnesempfindung als ein fest
umrissenes physiologisches und psychisches Datum. Das muss nämlich
zuvor ausdrücklich festgestellt werden, denn, wenn ich den Intuitiven
frage, wonach er sich orientiere, so wird er mir von Dingen sprechen,
die auf’s Haar den Sinnesempfindungen gleichen. Er wird sich auch
des Ausdruckes „Empfindung“ vielfach bedienen. Er hat tatsächlich
Empfindungen, aber er richtet sich nicht nach den Empfindungen selber,
sondern sie sind ihm blosse Anhaltspunkte für die Anschauung. Sie sind
ausgewählt durch unbewusste Voraussetzung. Nicht die physiologisch
stärkste Empfindung erlangt den Hauptwert, sondern irgend eine andere,
welche durch die unbewusste Einstellung des Intuitiven in ihrem Wert
beträchtlich erhöht wird. Dadurch erlangt sie eventuell den Hauptwert
und es erscheint dem Bewusstsein des Intuitiven, als ob sie eine
reine Empfindung wäre. Sie ist es aber tatsächlich nicht. Wie die
Empfindung in der extravertierten Einstellung stärkste Tatsächlichkeit
zu erreichen sucht, weil dadurch allein der Anschein eines vollen
Lebens erweckt wird, so erstrebt die Intuition die Erfassung grösster
_Möglichkeiten_, weil durch die Anschauung von Möglichkeiten die
_Ahnung_ am allermeisten befriedigt wird. Die Intuition strebt
nach der Entdeckung von Möglichkeiten im objektiv Gegebenen, darum ist
sie auch als blosse beigeordnete Funktion (nämlich wenn ihr das Primat
nicht zukommt) das Hilfsmittel, das automatisch wirkt, wenn keine
andere Funktion den Ausweg aus einer überall versperrten Situation zu
entdecken vermag. Hat die Intuition das Primat, so erscheinen alle
gewöhnlichen Lebenssituationen so, als ob sie verschlossene Räume
wären, welche die Intuition zu öffnen hat. Sie sucht beständig Auswege
und neue Möglichkeiten äussern Lebens. Der intuitiven Einstellung
wird jede Lebenssituation in kürzester Frist zum Gefängnis, zur
erdrückenden Fessel, welche zu Lösungen drängt. Die Objekte scheinen
zeitweise von beinahe übertriebenem Wert, nämlich dann, wenn sie gerade
einer Lösung, einer Befreiung, der Auffindung einer neuen Möglichkeit
zu dienen haben. Kaum haben sie ihren Dienst als Stufe oder Brücke
erfüllt, so haben sie anscheinend überhaupt keinen Wert mehr und werden
als lästiges Anhängsel abgestreift. Eine Tatsache gilt nur, insofern
sie neue Möglichkeiten erschliesst, die über sie hinausgehen, das
Individuum von ihr befreien. Auftauchende Möglichkeiten sind zwingende
Motive, denen sich die Intuition nicht entziehen kann und der sie alles
andere aufopfert.


_9. Der extravertierte intuitive Typus._

Wo die Intuition vorherrscht, ergibt sich eine eigenartige, nicht
zu verkennende Psychologie. Da sich die Intuition nach dem Objekt
orientiert, ist eine starke Abhängigkeit von äussern Situationen
erkennbar, jedoch ist die Art der Abhängigkeit von der des
Empfindungstypus durchaus verschieden. Der Intuitive findet sich nie
dort, wo allgemein anerkannte Wirklichkeitswerte zu finden sind,
sondern immer da, wo Möglichkeiten vorhanden sind. Er hat eine
feine Witterung für Keimendes und Zukunftversprechendes. Nie findet
er sich in stabilen, seit langem bestehenden und wohlgegründeten
Verhältnissen von allgemein anerkanntem, aber beschränktem Wert. Da
er immer auf der Suche nach neuen Möglichkeiten ist, so droht er in
stabilen Verhältnissen zu ersticken. Er erfasst zwar neue Objekte
und Wege mit grosser Intensität und mit bisweilen ausserordentlichem
Enthusiasmus, um sie ohne Pietät und anscheinend ohne Erinnerung
kaltblütig aufzugeben, sobald ihr Umfang festgestellt ist und sie
weiter keine beträchtliche Entwicklung mehr vorausahnen lassen.
Solange eine Möglichkeit besteht, ist der Intuitive daran gebunden
mit Schicksalsmacht. Es ist, als ob sein ganzes Leben in der neuen
Situation aufginge. Man hat den Eindruck, und er selber teilt ihn, als
ob er soeben die definitive Wendung in seinem Leben erreicht hätte,
und als ob er von nun an nichts anderes mehr denken und fühlen könnte.
Auch wenn es noch so vernünftig und zweckmässig wäre, auch wenn alle
erdenklichen Argumente zu Gunsten der Stabilität sprächen, nichts
wird ihn davon abhalten, eines Tages dieselbe Situation, die ihm
eine Befreiung und Erlösung schien, als ein Gefängnis zu betrachten
und auch demgemäss zu behandeln. Weder Vernunft noch Gefühl können
ihn zurückhalten oder von einer neuen Möglichkeit abschrecken,
auch wenn sie unter Umständen seinen bisherigen Überzeugungen
zuwiderläuft. Denken und Fühlen, die unerlässlichen Komponenten der
Überzeugung, sind bei ihm minderdifferenzierte Funktionen, die kein
ausschlaggebendes Gewicht besitzen und darum der Kraft der Intuition
keinen nachhaltigen Widerstand entgegen zu setzen vermögen. Und doch
sind diese Funktionen allein imstande, das Primat der Intuition wirksam
zu compensieren, indem sie dem Intuitiven das _Urteil_ geben, das
ihm als Typus gänzlich mangelt. Die Moralität des Intuitiven ist weder
intellektuell noch gefühlsmässig, sondern er hat seine eigene Moral,
nämlich die Treue zu seiner Anschauung und die willige Unterwerfung
an ihre Macht. Die Rücksicht auf das Wohlergehen der Umgebung ist
gering. Ihr physisches Wohlempfinden ist so wenig wie sein eigenes,
ein stichhaltiges Argument. Ebenso wenig ist ein Respekt für die
Überzeugungen und Lebensgewohnheiten seiner Umgebung vorhanden, sodass
er nicht selten als unmoralischer und rücksichtsloser Abenteurer gilt.
Da seine Intuition sich mit äussern Objekten befasst und äussere
Möglichkeiten herauswittert, so wendet er sich gerne Berufen zu, wo er
seine Fähigkeiten möglichst vielseitig entfalten kann. Viele Kaufleute,
Unternehmer, Spekulanten, Agenten, Politiker usw. gehören zu diesem
Typus.

Noch häufiger als bei Männern, scheint dieser Typus bei Frauen
vorzukommen. In diesem letztern Fall offenbart sich die intuitive
Tätigkeit weit weniger beruflich, als vielmehr gesellschaftlich.
Solche Frauen verstehen es, alle sozialen Möglichkeiten auszunützen,
gesellschaftliche Verbindungen anzuknüpfen, Männer mit Möglichkeiten
ausfindig zu machen, um für eine neue Möglichkeit wieder alles
aufzugeben.

Es ist ohne weiteres verständlich, dass ein solcher Typus
volkswirtschaftlich sowohl wie als Kulturförderer ungemein bedeutsam
ist. Wenn er gutgeartet, d. h. nicht zu selbstisch eingestellt ist,
so kann er sich als Initiator oder doch wenigstens als Förderer aller
Anfänge ungemeine Verdienste erwerben. Er ist ein natürlicher Anwalt
aller zukunftversprechenden Minoritäten. Da er, wenn er weniger auf
Sachen, als auf Menschen eingestellt ist, gewisse Fähigkeiten und
Nützlichkeiten in ihnen ahnungsweise erfasst, so kann er auch Leute
„machen“. Niemand wie er hat die Fähigkeit, seinen Mitmenschen Mut zu
machen oder Begeisterung einzuflössen für eine neue Sache, auch wenn er
sie schon übermorgen wieder verlässt. Je stärker seine Intuition, desto
mehr verschmilzt auch sein Subjekt mit der geschauten Möglichkeit. Er
belebt sie, er führt sie anschaulich und mit überzeugender Wärme vor,
er verkörpert sie sozusagen. Es ist keine Schauspielerei, sondern ein
Schicksal.

Diese Einstellung hat ihre grossen Gefahren, denn allzu leicht
verzettelt der Intuitive sein Leben, indem er Menschen und Dinge
belebt, und eine Fülle des Lebens um sich verbreitet, das aber nicht
er, sondern die andern leben. Könnte er bei der Sache bleiben, so kämen
ihm die Früchte seiner Arbeit zu, aber nur allzu bald muss er der neuen
Möglichkeit nachrennen und seine eben bepflanzten Felder verlassen,
die andere ernten werden. Am Ende geht er leer aus. Wenn der Intuitive
es aber soweit kommen lässt, so hat er auch sein Unbewusstes gegen
sich. Das Unbewusste des Intuitiven hat eine gewisse Ähnlichkeit mit
dem des Empfindungstypus. Denken und Fühlen sind relativ verdrängt
und bilden im Unbewussten infantil-archaïsche Gedanken und Gefühle,
die sich mit denen des Gegentypus vergleichen lassen. Sie treten
ebenfalls in Form von intensiven Projektionen zu Tage und sind ebenso
absurd wie die des Empfindungstypus, nur fehlt ihnen, wie es mir
scheint, der mystische Charakter, sie betreffen meistens concrete,
quasi reale Dinge, wie sexuelle, finanzielle und andere Vermutungen,
z. B. Krankheitswitterungen. Diese Verschiedenheit scheint von den
verdrängten Realempfindungen herzurühren. Diese letztern machen sich
in der Regel auch dadurch bemerkbar, dass der Intuitive plötzlich an
eine höchst unpassende Frau, oder im entgegengesetzten Fall, an einen
unpassenden Mann verhaftet wird, und zwar infolge des Umstandes, dass
diese Personen die archaïsche Empfindungssphäre berührt haben. Daraus
ergibt sich eine unbewusste Zwangsbindung an ein Objekt von meist
unzweifelhafter Aussichtslosigkeit. Ein solcher Fall ist bereits ein
Zwangssymptom, das auch für diesen Typus durchaus charakteristisch
ist. Er beansprucht eine ähnliche Freiheit und Ungebundenheit wie der
Empfindungstypus, indem er seine Entschliessungen keinen rationalen
Urteilen unterwirft, sondern einzig und allein der Wahrnehmung der
zufälligen Möglichkeiten. Er enthebt sich der Beschränkung durch die
Vernunft und verfällt darum in der Neurose dem unbewussten Zwang, der
Vernünftelei, Tüftelei und der Zwangsbindung an die Empfindung des
Objektes. Im Bewusstsein behandelt er die Empfindung und das empfundene
Objekt mit souveräner Überlegenheit und Rücksichtslosigkeit. Nicht
dass er etwa meint, rücksichtslos oder überlegen zu sein, er sieht
das Objekt, das jedermann sehen kann, einfach nicht und geht darüber
hinweg, ähnlich wie der Empfindungstypus; nur sieht letzterer die Seele
des Objektes nicht. Dafür rächt sich später das Objekt und zwar in Form
von hypochondrischen Zwangsideen, Phobien und allen möglichen absurden
Körperempfindungen.


_10. Zusammenfassung der irrationalen Typen._

Ich bezeichne die beiden vorangegangenen Typen als _irrational_
aus dem schon erörterten Grunde, dass sie ihr Tun und Lassen nicht
auf Vernunfturteile gründen, sondern auf die absolute Stärke der
Wahrnehmung. Ihre Wahrnehmung richtet sich auf das schlechthin
Vorkommende, das keiner Auswahl durch Urteil unterliegt. In dieser
Hinsicht haben die beiden letztern Typen eine bedeutende Überlegenheit
über die beiden erstern, urteilenden Typen. Das objektiv Vorkommende
ist gesetzmässig und zufällig. Insofern es gesetzmässig ist, ist
es der Vernunft zugänglich, insofern es zufällig ist, ist es der
Vernunft unzugänglich. Man könnte auch umgekehrt sagen, dass wir das
am Vorkommenden als gesetzmässig bezeichnen, was unserer Vernunft so
erscheint, und das als zufällig, worin wir keine Gesetzmässigkeit
entdecken können. Das Postulat einer universalen Gesetzmässigkeit
bleibt Postulat unserer Vernunft allein, ist aber keineswegs ein
Postulat unserer Wahrnehmungsfunktionen. Da sie sich in keinerlei Weise
auf das Prinzip der Vernunft und ihres Postulates gründen, so sind
sie irrational ihrem Wesen nach. Daher ich auch die Wahrnehmungstypen
als ihrem Wesen nach als irrational bezeichne. Es wäre aber ganz
unrichtig, darum nun etwa diese Typen als „unvernünftig“ aufzufassen,
weil sie das Urteil unter die Wahrnehmung stellen. Sie sind bloss
in hohem Masse _empirisch_; sie gründen sich ausschliesslich
auf Erfahrung, sogar dermassen ausschliesslich, dass ihr Urteil
mit ihrer Erfahrung meistens nicht Schritt halten kann. Aber die
Urteilsfunktionen sind trotzdem vorhanden, nur fristen sie ein zum
grossen Teil unbewusstes Dasein. Insofern das Unbewusste trotz seiner
Abtrennung vom bewussten Subjekt doch immer wieder in die Erscheinung
tritt, so machen sich auch im Leben der irrationalen Typen auffallende
Urteile und auffallende Wahlakte bemerkbar in Form von anscheinender
Vernünftelei, kaltherziger Urteilerei und anscheinend absichtsvoller
Auswahl von Personen und Situationen. Diese Züge tragen ein infantiles
oder auch primitives Gepräge; bisweilen sind sie auffallend naiv,
bisweilen auch rücksichtslos, schroff und gewalttätig. Dem rational
Eingestellten könnte es leicht erscheinen, als ob diese Leute ihrem
wirklichen Charakter nach rationalistisch und absichtsvoll im schlimmen
Sinne wären. Dieses Urteil würde aber bloss für ihr Unbewusstes
gelten und keineswegs für ihre bewusste Psychologie, die ganz auf
Wahrnehmung eingestellt ist und infolge ihres irrationalen Wesens dem
vernünftigen Urteil ganz unfassbar ist. Einem rational Eingestellten
kann es schliesslich vorkommen, als ob eine solche Zusammenhäufung von
Zufälligkeiten überhaupt den Namen „Psychologie“ nicht verdiene. Der
Irrationale macht dies abschätzige Urteil wett durch den Eindruck, den
ihm der Rationale macht: er sieht ihn als etwas nur Halblebendiges
an, dessen einziger Lebenszweck darin besteht, allem Lebendigen
Vernunftfesseln anzulegen und ihm mit Urteilen den Hals zuzuschnüren.
Das sind natürlich krasse Extreme, aber sie kommen vor. Vom Urteil des
Rationalen könnte der Irrationale leicht als ein Rationaler minderer
Güte dargestellt werden, wenn er nämlich aus dem erfasst wird, was ihm
passiert. Ihm passiert nämlich nicht das Zufällige -- darin ist er der
Meister --, sondern das vernünftige Urteil und die vernünftige Absicht
sind die Dinge, die ihm zustossen. Dies ist eine dem Rationalen kaum
fassbare Tatsache, deren Unausdenkbarkeit bloss noch dem Erstaunen
des Irrationalen gleichkommt, welcher jemanden entdeckt hat, der
Vernunftideen höher stellt als das lebendige und wirkliche Vorkommen.
Etwas dergleichen erscheint ihm kaum glaubhaft. In der Regel ist
es schon hoffnungslos, ihm überhaupt etwas Prinzipielles in dieser
Richtung vorsetzen zu wollen, denn eine rationale Verständigung ist
ihm genau so unbekannt und sogar widerwärtig, wie dem Rationalen es
unausdenkbar erschiene, einen Kontrakt ohne gegenseitige Aussprache und
Verpflichtung herzustellen.

Dieser Punkt führt mich auf das Problem der psychischen Beziehung unter
den Repräsentanten verschiedener Typen. Die psychische Beziehung wird
in der neuern Psychiatrie in Anlehnung an die Sprache der französischen
Hypnotistenschule als „Rapport“ bezeichnet. Der Rapport besteht in
erster Linie in einem _Gefühl von bestehender Übereinstimmung_,
trotz anerkannter Verschiedenheit. Sogar die Anerkennung von
bestehenden Verschiedenheiten, ist, insofern sie nur gemeinsam ist,
allbereits ein Rapport, ein Übereinstimmungsgefühl. Wenn wir dieses
Gefühl vorkommenden Falles in höherm Masse bewusst machen, so entdecken
wir, dass es nicht bloss schlechthin ein Gefühl von nicht weiter zu
analysierender Beschaffenheit ist, sondern zugleich eine Einsicht
oder ein Erkenntnisinhalt, welcher den Punkt der Übereinstimmung
in gedanklicher Form darstellt. Diese rationale Darstellung gilt
nun ausschliesslich für den Rationalen, keineswegs aber für den
Irrationalen, denn sein Rapport basiert nicht im Geringsten auf dem
Urteil, sondern auf der Parallelität des Geschehenden, des lebendigen
Vorkommens überhaupt. Sein Übereinstimmungsgefühl ist die gemeinsame
Wahrnehmung einer Empfindung oder Intuition. Der Rationale würde sagen,
der Rapport mit dem Irrationalen beruhe auf reiner Zufälligkeit.
Wenn die objektiven Situationen zufälligerweise gerade stimmen, dann
komme etwas wie eine menschliche Beziehung zustande, aber niemand
wisse, von welcher Gültigkeit oder welcher Dauer diese Beziehung
sei. Es ist dem Rationalen ein oft geradezu peinlicher Gedanke,
dass die Beziehung genau solange dauert, als die äussern Umstände
zufälligerweise eine Gemeinsamkeit aufweisen. Dies kommt ihm als nicht
besonders menschlich vor, während der Irrationale gerade darin eine
besonders schöne Menschlichkeit sieht. Das Resultat ist, dass der eine
den andern als beziehungslos ansieht, als einen Menschen, auf den
kein Verlass sei, und mit dem man nie richtig auskommen könne. Zu
einem solchen Resultat gelangt man allerdings nur dann, wenn man sich
bewusst Rechenschaft abzulegen versucht über die Art der Beziehung
zum Mitmenschen. Da eine solche psychologische Gewissenhaftigkeit
nicht allzu gewöhnlich ist, so ergibt es sich häufig, dass trotz einer
absoluten Standpunktverschiedenheit eine Art Rapport zustande kommt
und zwar in folgender Weise: Der eine setzt mit stillschweigender
Projektion voraus, dass der andere in wesentlichen Punkten dieselbe
Meinung habe, der andere aber ahnt oder empfindet eine objektive
Gemeinsamkeit, von welcher aber der erstere keine bewusste Ahnung
hat und deren Vorhandensein er auch sofort bestreiten würde, genau
so, wie letzterer nie auf den Gedanken verfallen würde, dass seine
Beziehung auf einer gemeinsamen Meinung beruhen sollte. Ein solcher
Rapport ist das Allerhäufigste; er beruht auf Projektion, welche später
zur Quelle von Missverständnissen wird. Die psychische Beziehung in
der extravertierten Einstellung reguliert sich immer nach objektiven
Faktoren, nach äussern Bedingungen. Das, was einer ist nach innen,
ist niemals von ausschlaggebender Bedeutung. Für unsere gegenwärtige
Kultur ist die extravertierte Einstellung zum Problem der menschlichen
Beziehung im Prinzip massgebend; das introvertierte Prinzip kommt
natürlich vor, gilt aber als Ausnahme und appelliert an die Toleranz
der Mitwelt.


C. Der introvertierte Typus.

I. Die allgemeine Einstellung des Bewusstseins.

Wie ich bereits unter Abschnitt A I. dieses Kapitels ausführte,
unterscheidet sich der introvertierte Typus vom extravertierten
dadurch, dass er sich nicht, wie letzterer, vorwiegend am Objekt und
am objektiv Gegebenen orientiert, sondern an subjektiven Faktoren.
Ich habe im erwähnten Abschnitt u. A. angegeben, dass sich dem
Introvertierten zwischen die Wahrnehmung des Objektes und sein eigenes
Handeln eine subjektive Ansicht einschiebt, welche verhindert, dass
das Handeln einen dem objektiv Gegebenen entsprechenden Charakter
annimmt. Dies ist natürlich ein spezieller Fall, der nur beispielsweise
angeführt wurde und nur einer einfachen Veranschaulichung dienen
sollte. Hier müssen wir selbstverständlich allgemeinere Formulierungen
aufsuchen.

Das introvertierte Bewusstsein sieht zwar die äussern Bedingungen,
erwählt aber die subjektive Determinante als die ausschlaggebende.
Dieser Typus richtet sich daher nach jenem Faktor des Wahrnehmens
und Erkennens, welcher die den Sinnesreiz aufnehmende subjektive
Disposition darstellt. Zwei Personen sehen z. B. dasselbe Objekt,
aber sie sehen es nie so, dass die beiden davon gewonnenen Bilder
absolut identisch wären. Ganz abgesehen von der verschiedenen
Schärfe der Sinnesorgane und der persönlichen Gleichung bestehen
oft tiefgreifende Unterschiede in Art und Mass der psychischen
Assimilation des Perceptionsbildes. Während nun der extravertierte
Typus sich stets vorwiegend auf das, was ihm vom Objekt zukommt,
beruft, stützt sich der Introvertierte vorwiegend auf das, was der
äussere Eindruck im Subjekt zur Konstellation bringt. Im einzelnen
Fall einer Apperception kann der Unterschied natürlich sehr delikat
sein, im ganzen des psychologischen Haushaltes aber macht er sich
in höchstem Masse bemerkbar, und zwar in Form eines _Reservates
des Ich_. Um es gleich vorweg zu nehmen: Ich betrachte diejenige
Ansicht, welche mit _Weininger_ diese Einstellung als philautisch
oder m. A. als autoerotisch oder egozentrisch oder subjektivistisch
oder egoistisch bezeichnen möchte, als prinzipiell irreführend
und entwertend. Sie entspricht dem Vorurteil der extravertierten
Einstellung gegenüber dem Wesen des Introvertierten. Man darf nie
vergessen -- die extravertierte Ansicht aber vergisst es allzuleicht
-- dass alles Wahrnehmen und Erkennen nicht nur objektiv, sondern
auch subjektiv bedingt ist. Die Welt ist nicht nur an und für sich,
sondern auch so, wie sie mir erscheint. Ja, wir haben sogar im
Grunde genommen gar kein Kriterium, das uns zur Beurteilung einer
Welt verhülfe, welche dem Subjekt unassimilierbar wäre. Es hiesse
den grossen Zweifel in eine absolute Erkenntnismöglichkeit leugnen,
wenn wir den subjektiven Faktor übersähen. Damit geriete man auf den
Weg jenes hohlen und schalen Positivismus, welcher die Wende unseres
Jahrhunderts verunziert hat, und damit auch in jene intellektuelle
Unbescheidenheit, welche der Vorläufer der Gefühlsroheit und einer
ebenso stumpfsinnigen als anmassenden Gewalttätigkeit ist. Durch
die Überschätzung des objektiven Erkenntnisvermögens verdrängen wir
die Bedeutung des subjektiven Faktors, die Bedeutung des Subjektes
schlechthin. Was aber ist das Subjekt? Das Subjekt ist der Mensch, wir
sind das Subjekt. Es ist krankhaft, zu vergessen, dass das Erkennen ein
Subjekt hat, und dass es überhaupt kein Erkennen und darum auch für
uns keine Welt gibt, wo nicht einer sagt: „Ich erkenne“, womit er aber
allbereits die subjektive Beschränkung alles Erkennens ausspricht. Das
Gleiche gilt für alle psychischen Funktionen: sie haben ein Subjekt,
das so unerlässlich ist, wie das Objekt. Es ist charakteristisch für
unsere derzeitige extravertierte Schätzung, dass das Wort „subjektiv“
gelegentlich fast wie ein Tadel klingt, auf alle Fälle aber als „bloss
subjektiv“ eine gefährliche Waffe bedeutet, bestimmt, denjenigen zu
treffen, der von der unbedingten Überlegenheit des Objektes nicht
restlos überzeugt ist. Wir müssen darum klar darüber sein, was mit
dem Ausdruck „subjektiv“ in dieser Untersuchung gemeint ist. Als
subjektiven Faktor bezeichne ich jene psychologische Aktion oder
Reaktion, welche sich mit der Einwirkung des Objektes zu einem neuen
psychischen Tatbestand verschmilzt. Insofern nun der subjektive Faktor
seit ältesten Zeiten und bei allen Völkern der Erde in einem sehr hohen
Masse sich selber identisch bleibt --, indem elementare Wahrnehmungen
und Erkenntnisse sozusagen überall und zu allen Zeiten dieselben sind
--, so ist er eine ebenso festgegründete Realität, wie das äussere
Objekt. Wenn dem nicht so wäre, so könnte von irgend einer dauerhaften
und im wesentlichen sich gleichbleibenden Wirklichkeit gar nicht
gesprochen werden, und eine Verständigung mit Überlieferungen wäre
ein Ding der Unmöglichkeit. Insofern ist daher der subjektive Faktor
etwas ebenso unerbittlich Gegebenes wie die Ausdehnung des Meeres
und der Radius der Erde. Insofern beansprucht auch der subjektive
Faktor die ganze Würde einer weltbestimmenden Grösse, die nie und
nirgends aus der Rechnung ausgeschlossen werden kann. Er ist das andere
Weltgesetz, und wer sich auf ihn gründet, gründet sich auf ebensoviel
Sicherheit, auf ebensoviel Dauer und Gültigkeit, als der, der sich
auf das Objekt beruft. Wie aber das Objekt und das objektiv Gegebene
keineswegs immer dasselbe bleibt, indem es der Hinfälligkeit sowohl wie
der Zufälligkeit unterworfen ist, so unterliegt auch der subjektive
Faktor der Veränderlichkeit und der individuellen Zufälligkeit. Und
damit ist auch sein Wert bloss relativ. Die übermässige Entwicklung
des introvertierten Standpunktes im Bewusstsein führt nämlich nicht
zu einer bessern und gültigern Verwendung des subjektiven Faktors,
sondern zu einer künstlichen Subjektivierung des Bewusstseins,
welcher man den Vorwurf des „bloss Subjektiven“ nicht ersparen kann.
Es entsteht dadurch ein Gegenstück zu der Entsubjektivierung des
Bewusstseins in einer übertriebenen, extravertierten Einstellung,
welche _Weiningers_ Bezeichnung „misautisch“ verdient. Weil sich
die introvertierte Einstellung auf eine allgemein vorhandene, höchst
reale und absolut unerlässliche Bedingung der psychologischen Anpassung
stützt, so sind Ausdrücke wie „philautisch“, „egozentrisch“ und
dergleichen mehr unangebracht und verwerflich, weil sie das Vorurteil
erwecken, dass es sich allemal bloss um das liebe Ich handle. Nichts
wäre verkehrter als eine solche Annahme. Man begegnet ihr aber häufig,
wenn man die Urteile des Extravertierten über den Introvertierten
untersucht. Ich möchte diesen Irrtum allerdings keineswegs dem
einzelnen Extravertierten zuschreiben, sondern eher auf Rechnung
der gegenwärtig allgemein geltenden extravertierten Ansicht setzen,
welche sich nicht auf den extravertierten Typus beschränkt, sondern
vom andern, sehr gegen ihn selbst, in gleichem Masse vertreten wird.
Letztern trifft sogar mit Recht der Vorwurf, dass er seiner eigenen
Art untreu ist, während dies dem erstern wenigstens nicht vorgeworfen
werden kann.

Die introvertierte Einstellung richtet sich im Normalfall nach der im
Prinzip durch Vererbung gegebenen psychologischen Struktur, welche
eine dem Subjekt innewohnende Grösse ist. Sie ist aber keineswegs
als schlechthin identisch mit dem Ich des Subjektes zu setzen, was
durch die oben erwähnten Bezeichnungen geschehen würde, sondern sie
ist die psychologische Struktur des Subjektes vor aller Entwicklung
eines Ich. Das eigentlich zugrunde liegende Subjekt, eben das Selbst,
ist bei weitem umfangreicher als das Ich, indem ersteres auch das
Unbewusste umfasst, während letzteres im wesentlichen der Mittelpunkt
des Bewusstseins ist. Wäre das Ich identisch mit dem Selbst, so wäre
es undenkbar, wieso wir in den Träumen gelegentlich in gänzlich andern
Formen und Bedeutungen auftreten können. Es ist nun allerdings eine
für den Introvertierten bezeichnende Eigentümlichkeit, dass er, ebenso
sehr eigener Neigung wie allgemeinem Vorurteil folgend, sein Ich mit
seinem Selbst verwechselt, und sein Ich zum Subjekt des psychologischen
Prozesses erhöht, womit er eben jene vorhin erwähnte, krankhafte
Subjektivierung seines Bewusstseins vollzieht, die ihn dem Objekt
entfremdet. Die psychologische Struktur ist dasselbe, was _Semon_
als Mneme und ich als das _collektive Unbewusste_ bezeichnet habe.
Das individuelle Selbst ist ein Teil oder Ausschnitt oder Repräsentant
einer überall, in allen lebendigen Wesen vorhandenen und entsprechend
abgestuften Art des psychologischen Ablaufes, die auch jedem Wesen
wieder aufs Neue angeboren ist. Seit Alters wird die angeborne Art des
_Handelns_ als _Instinkt_ bezeichnet, die Art der psychischen
Erfassung des Objektes habe ich als _Archetypus_ zu bezeichnen
vorgeschlagen. Was unter Instinkt zu verstehen ist, kann ich wohl
als bekannt voraussetzen. Ein anderes ist es mit den Archetypen. Ich
verstehe darunter dasselbe, was ich früher in Anlehnung an _Jakob
Burckhardt_ als „urtümliches Bild“ bezeichnet und in Kapitel XI
dieser Arbeit beschrieben habe. Ich muss den Leser auf jenes Kapitel
und im besondern auf den Artikel „Bild“ verweisen. Der Archetypus
ist eine symbolische Formel, welche überall da in Funktion tritt, wo
entweder noch keine bewussten Begriffe vorhanden, oder solche aus
innern oder äussern Gründen überhaupt nicht möglich sind. Die Inhalte
des collektiven Unbewussten sind im Bewusstsein als ausgesprochene
Neigungen und Auffassungen vertreten. Sie werden vom Individuum in
der Regel als vom Objekt bedingt aufgefasst -- fälschlicherweise,
im Grunde genommen --, denn sie entstammen der unbewussten Struktur
der Psyche und werden durch die Objekteinwirkung nur ausgelöst.
Diese subjektiven Neigungen und Auffassungen sind stärker als der
Objekteinfluss, ihr psychischer Wert ist höher, sodass sie sich allen
Eindrücken superponieren. So, wie es dem Introvertierten unbegreiflich
erscheint, dass immer das Objekt ausschlaggebend sein soll, so bleibt
es dem Extravertierten ein Rätsel, wieso ein subjektiver Standpunkt
der objektiven Situation überlegen sein soll. Er gelangt unvermeidlich
zu der Vermutung, dass der Introvertierte entweder ein eingebildeter
Egoist oder ein doktrinärer Schwärmer ist. Neuerdings würde er auf die
Hypothese kommen, der Introvertierte stehe unter dem Einfluss eines
unbewussten Machtkomplexes. Diesem Vorurteil kommt der Introvertierte
unzweifelhaft dadurch entgegen, dass seine bestimmte und stark
verallgemeinernde Ausdrucksweise, welche anscheinend jede andere
Meinung im Vornherein ausschliesst, dem extravertierten Vorurteil
Vorschub leistet. Überdies könnte allein schon die Entschiedenheit und
Starrheit des subjektiven Urteils, welches allem objektiv Gegebenen
a priori übergeordnet ist, genügen, den Eindruck einer starken
Egozentrizität zu erwecken. Diesem Vorurteil gegenüber fehlt dem
Introvertierten meistens das richtige Argument: er weiss nämlich nicht
um die unbewussten, aber durchaus allgemeingültigen Voraussetzungen
seines subjektiven Urteils oder seiner subjektiven Wahrnehmungen. Dem
Stile der Zeit entsprechend sucht er aussen und nicht hinter seinem
Bewusstsein. Ist er gar etwas neurotisch, so heisst das eine mehr oder
weniger völlige unbewusste Identität des Ich mit dem Selbst, wodurch
das Selbst in seiner Bedeutung auf Null heruntergesetzt, das Ich
dagegen masslos angeschwellt wird. Die unzweifelhafte, weltbestimmende
Macht des subjektiven Faktors wird dann in das Ich hineingepresst,
wodurch ein ungemessener Machtanspruch und eine geradezu läppische
Egozentrizität erzeugt wird. Jede Psychologie, welche das Wesen des
Menschen auf den unbewussten Machttrieb reduziert, ist aus dieser
Anlage geboren. Viele Geschmacklosigkeiten bei _Nietzsche_ z. B.
verdanken ihre Existenz der Subjektivierung des Bewusstseins.


II. Die unbewusste Einstellung.

Die überlegene Stellung des subjektiven Faktors im Bewusstsein bedeutet
eine Minderwertung des objektiven Faktors. Das Objekt hat nicht
jene Bedeutung, die ihm eigentlich zukommen sollte. Wie es in der
extravertierten Einstellung eine zu grosse Rolle spielt, so hat es in
der introvertierten Einstellung zu wenig zu sagen. In dem Masse, als
das Bewusstsein des Introvertierten sich subjektiviert und dem Ich
eine ungehörige Bedeutung zuerteilt, wird dem Objekt eine Position
gegenüber gestellt, die auf die Dauer ganz unhaltbar ist. Das Objekt
ist eine Grösse von unzweifelhafter Macht, während das Ich etwas
sehr Beschränktes und Hinfälliges ist. Ein anderes wäre es, wenn das
Selbst dem Objekt gegenüber träte. Selbst und Welt sind commensurable
Grössen, daher eine normale introvertierte Einstellung ebenso viel
Daseinsberechtigung und Gültigkeit hat, wie eine normale extravertierte
Einstellung. Hat aber das Ich den Anspruch des Subjektes auf sich
übernommen, so entsteht naturgemäss, zur Compensierung, eine unbewusste
Verstärkung des Objekteinflusses. Diese Veränderung macht sich dadurch
bemerkbar, dass trotz einer manchmal geradezu krampfhaften Anstrengung,
dem Ich die Überlegenheit zu sichern, das Objekt und das objektiv
Gegebene übermächtige Einflüsse entfalten, die umso unüberwindlicher
sind, als sie das Individuum unbewusst erfassen und sich dadurch dem
Bewusstsein unwiderstehlich aufdrängen. Infolge der mangelhaften
Beziehung des Ich zum Objekt -- Beherrschenwollen ist nämlich
keine Anpassung -- entsteht im Unbewussten eine compensatorische
Beziehung zum Objekt, die sich im Bewusstsein als eine unbedingte
und nicht zu unterdrückende Bindung an das Objekt geltend macht.
Je mehr sich das Ich alle möglichen Freiheiten, Unabhängigkeiten,
Verpflichtungslosigkeiten und Überlegenheiten zu sichern sucht, desto
mehr gerät es in die Sklaverei des objektiv Gegebenen. Die Freiheit
des Geistes wird an die Kette einer schmählichen, finanziellen
Abhängigkeit gelegt, die Unbekümmertheit des Handelns erleidet eins
ums andere Mal ein ängstliches Zusammenknicken vor der öffentlichen
Meinung, die moralische Überlegenheit gerät in den Sumpf minderwertiger
Beziehungen, die Herrscherlust endet mit einer kläglichen Sehnsucht
nach dem Geliebtwerden. Das Unbewusste besorgt in erster Linie die
Beziehung zum Objekt und zwar in einer Art und Weise, welche geeignet
ist, die Machtillusion und die Überlegenheitsphantasie des Bewusstseins
aufs Gründlichste zu zerstören. Das Objekt nimmt angsterregende
Dimensionen an, trotz bewusster Heruntersetzung. Infolgedessen wird
die Abtrennung und die Beherrschung des Objektes vom Ich noch heftiger
betrieben. Schliesslich umgibt sich das Ich mit einem förmlichen
System von Sicherungen (wie dies _Adler_ zutreffend geschildert
hat), welche wenigstens den Wahn der Überlegenheit zu wahren suchen.
Damit aber trennt sich der Introvertierte vom Objekte gänzlich ab und
reibt sich völlig auf in Verteidigungsmassnahmen einerseits und in
fruchtlosen Versuchen andererseits, dem Objekt zu imponieren und sich
durchzusetzen. Diese Bemühungen werden aber beständig durchkreuzt
durch die überwältigenden Eindrücke, die er vom Objekt erhält. Wider
seinen Willen imponiert ihm das Objekt anhaltend, es verursacht ihm
die unangenehmsten und nachhaltigsten Affekte und verfolgt ihn auf
Schritt und Tritt. Er bedarf beständig einer ungeheuren, innern Arbeit,
um „sich halten“ zu können. Daher ist seine typische Neurosenform die
_Psychasthenie_, eine Krankheit, die einerseits durch eine grosse
Sensitivität, andererseits durch grosse Erschöpfbarkeit und chronische
Ermüdung gekennzeichnet ist.

Eine Analyse des persönlichen Unbewussten ergibt eine Menge von
Machtphantasien gepaart mit Angst vor gewaltig belebten Objekten,
denen der Introvertierte in der Tat auch leicht zum Opfer fällt.
Es entwickelt sich nämlich aus der Objektangst eine eigentümliche
Feigheit, sich oder seine Meinung geltend zu machen, denn er fürchtet
einen verstärkten Objekteinfluss. Er fürchtet eindrucksvolle Affekte
der andern und kann sich kaum der Angst erwehren, unter einen fremden
Einfluss zu geraten. Die Objekte nämlich haben für ihn furchterregende,
machtvolle Qualitäten, die er ihnen zwar bewusst nicht ansehen kann,
die er aber durch sein Unbewusstes wahrzunehmen glaubt. Da seine
bewusste Beziehung zum Objekt relativ verdrängt ist, so geht sie durch
das Unbewusste, wo sie mit den Qualitäten des Unbewussten beladen
wird. Diese Qualitäten sind in erster Linie infantil-archaïsche.
Infolgedessen wird seine Objektbeziehung primitiv und nimmt alle
jene Eigentümlichkeiten an, welche die primitive Objektbeziehung
kennzeichnen. Es ist dann, wie wenn das Objekt magische Gewalt
besässe. Fremde, neue Objekte erregen Furcht und Misstrauen, wie wenn
sie unbekannte Gefahren bärgen, althergebrachte Objekte sind wie mit
unsichtbaren Fäden an seine Seele gehängt, jede Veränderung erscheint
störend, wenn nicht geradezu gefährlich, denn sie scheint eine magische
Belebtheit des Objektes zu bedeuten. Eine einsame Insel, wo sich nur
das bewegt, dem man sich zu bewegen erlaubt, wird zum Ideal. Der
Roman von _F. Th. Vischer_: „Auch Einer“, gibt einen trefflichen
Einblick in diese Seite des introvertierten Seelenzustandes, zugleich
auch in die dahinterliegende Symbolik des collektiven Unbewussten, die
ich in dieser Typenbeschreibung bei Seite lasse, weil sie nicht bloss
dem Typus angehört, sondern allgemein ist.


III. Die Besonderheiten der psychologischen Grundfunktionen in der
introvertierten Einstellung.

1. Das Denken.

Ich habe bei der Beschreibung des extravertierten Denkens bereits eine
kurze Charakteristik des introvertierten Denkens gegeben, auf die ich
hier nochmals verweisen möchte. Das introvertierte Denken orientiert
sich in erster Linie am subjektiven Faktor. Der subjektive Faktor
ist dargestellt mindestens durch ein subjektives Richtungsgefühl,
welches die Urteile letzten Endes bestimmt. Bisweilen ist es auch ein
mehr oder weniger fertiges Bild, welches gewissermassen als Massstab
dient. Das Denken kann sich mit concreten oder abstrakten Grössen
befassen, immer aber orientiert es sich an entscheidendem Orte am
subjektiv Gegebenen. Es führt also nicht aus der concreten Erfahrung
wieder in die objektiven Dinge zurück, sondern zum subjektiven
Inhalt. Die äussern Tatsachen sind nicht Ursache und Ziel dieses
Denkens, obschon der Introvertierte sehr oft seinem Denken diesen
Anschein geben möchte, sondern dieses Denken beginnt im Subjekt
und führt zum Subjekt zurück, auch wenn es die weitesten Ausflüge
in das Gebiet realer Tatsächlichkeit unternimmt. Es ist daher in
Ansehung der Aufstellung neuer Tatsachen hauptsächlich indirekt von
Wert, insofern es in erster Linie neue Ansichten vermittelt und
weit weniger Kenntnis neuer Tatsachen. Es erschafft Fragestellungen
und Theorien, es eröffnet Ausblicke und Einblicke, aber es zeigt
Tatsachen gegenüber ein reserviertes Verhalten. Sie sind ihm recht
als illustrierende Beispiele, sie dürfen aber nicht überwiegen.
Tatsachen werden nur gesammelt als Beweistümer, niemals aber um ihrer
selbst willen. Letzteres wird überhaupt, wenn es geschieht, nur als
Kompliment an den extravertierten Stil getan. Die Tatsachen sind
diesem Denken von sekundärer Bedeutung, von überwiegendem Wert aber
erscheint ihm die Entwicklung und Darstellung der subjektiven Idee,
des anfänglichen symbolischen Bildes, das mehr oder weniger dunkel vor
seinem innern Blicke steht. Es strebt daher nie nach einer gedanklichen
Rekonstruktion der concreten Tatsächlichkeit, sondern nach einer
Ausgestaltung des dunkeln Bildes zur lichtvollen Idee. Es will die
Tatsächlichkeit erreichen, es will die äussern Tatsachen sehen, wie sie
den Rahmen seiner Idee ausfüllen, und seine schöpferische Kraft bewährt
sich darin, dass dieses Denken auch jene Idee erzeugen kann, die nicht
in den äussern Tatsachen lag, und doch deren passendster, abstrakter
Ausdruck ist, und seine Aufgabe ist vollendet, wenn die von ihm
geschaffene Idee als aus den äussern Tatsachen hervorgehend erscheint
und auch durch sie als gültig erwiesen werden kann.

Ebenso wenig aber, wie es dem extravertierten Denken immer gelingt,
einen tüchtigen Erfahrungsbegriff den concreten Tatsachen zu entwinden,
oder neue Tatsachen zu erschaffen, ebenso wenig glückt es dem
introvertierten Denken, sein anfängliches Bild immer auch in eine den
Tatsachen angepasste Idee zu übersetzen. Wie in ersterm Falle die rein
empirische Tatsachenzusammenhäufung den Gedanken verkrüppelt und den
Sinn erstickt, so zeigt das introvertierte Denken eine gefährliche
Neigung, die Tatsachen in die Form seines Bildes hineinzuzwängen oder
sie gar zu ignorieren, um sein Phantasiebild entrollen zu können.
In diesem Fall wird die dargestellte Idee ihre Herkunft aus dem
dunkeln archaïschen Bilde nicht verleugnen können. Es wird ihr ein
mythologischer Zug anhaften, den man etwa als „Originalität“, und in
schlimmem Fällen als Schrullenhaftigkeit deutet, indem ihr archaïscher
Charakter den mit mythologischen Motiven unbekannten Fachgelehrten
nicht als solcher durchsichtig ist. Die subjektive Überzeugungskraft
einer solchen Idee pflegt eine grosse zu sein, wohl umso grösser,
je weniger sie mit äussern Tatsachen in Berührung kommt. Obschon es
dem, der die Idee vertritt, erscheinen mag, als ob sein spärliches
Tatsachenmaterial Grund und Ursache der Glaubwürdigkeit und Gültigkeit
seiner Idee wäre, so ist dem doch nicht so, denn die Idee bezieht ihre
Überzeugungskraft aus ihrem unbewussten Archetypus, der als solcher
allgemeingültig und wahr ist und ewig wahr sein wird. Aber diese
Wahrheit ist dergestalt allgemein und dermassen symbolisch, dass sie
immer zuerst in die momentan anerkannten und anerkennbaren Erkenntnisse
eingehen muss, um eine praktische Wahrheit von einigem Lebenswert zu
werden. Was wäre z. B. eine Kausalität, die nirgends in praktischen
Ursachen und praktischen Wirkungen erkennbar wäre?

Dieses Denken verliert sich leicht in die immense Wahrheit des
subjektiven Faktors. Es schafft Theorien um der Theorie willen,
anscheinend in Hinblick auf wirkliche oder wenigstens mögliche
Tatsachen, aber mit deutlicher Neigung vom Ideellen zum bloss
Bildhaften überzugehen. Dadurch kommen zwar Anschauungen von vielen
Möglichkeiten zustande, von denen aber keine zur Wirklichkeit wird,
und schliesslich werden Bilder geschaffen, die überhaupt nichts
äusserlich Wirkliches mehr ausdrücken, sondern „bloss“ noch Symbole
des schlechthin Unerkennbaren sind. Damit wird dieses Denken mystisch
und genau so unfruchtbar wie ein Denken, das sich bloss im Rahmen
objektiver Tatsachen abspielt. Wie letzteres auf das Niveau des
Tatsachenvorstellens hinuntersinkt, so verflüchtigt sich ersteres
zum Vorstellen des Unvorstellbaren, das sogar jenseits aller
Bildhaftigkeit ist. Das Tatsachenvorstellen ist von unbestreitbarer
Wahrheit, denn der subjektive Faktor ist ausgeschlossen, und die
Tatsachen beweisen sich aus sich selber. So ist auch das Vorstellen
des Unvorstellbaren von subjektiv unmittelbarer, überzeugender Kraft
und beweist sich aus seinem eigenen Vorhandensein. Ersteres sagt:
Est, ergo est; dagegen letzteres: Cogito, ergo cogito. Das auf die
Spitze getriebene introvertierte Denken gelangt zur Evidenz seines
eigenen subjektiven Seins, das extravertierte Denken dagegen zur
Evidenz seiner völligen Identität mit der objektiven Tatsache. Wie nun
dieses durch sein völliges Aufgehen im Objekt sich selber leugnet,
so entledigt sich jenes allen und jeglichen Inhaltes und begnügt
sich mit seinem blossen Vorhandensein. Damit wird in beiden Fällen
das Weiterschreiten des Lebens aus der Denkfunktion herausgedrängt
in das Gebiet anderer psychischen Funktionen, welche bis anhin in
relativer Unbewusstheit existierten. Die ausserordentliche Verarmung
des introvertierten Denkens an objektiven Tatsachen wird compensiert
durch eine Fülle unbewusster Tatsachen. Je mehr sich das Bewusstsein
mit der Denkfunktion auf einen kleinsten und möglichst leeren Kreis
einschränkt, der aber die ganze Fülle der Gottheit zu enthalten
scheint, desto mehr bereichert sich die unbewusste Phantasie mit
einer Vielheit von archaïsch geformten Tatsachen, einem Pandaemonium
magischer und irrationaler Grössen, welche je nach der Art der
Funktion, welche die Denkfunktion als Lebensträgerin zunächst ablöst,
ein besonderes Gesicht erhalten. Ist es die intuitive Funktion, so
wird die „andere Seite“ mit den Augen eines _Kubin_ oder eines
_Meyrink_ gesehen. Ist es die Fühlfunktion, so entstehen bisher
unerhörte, phantastische Gefühlsbeziehungen und Gefühlsurteile
widerspruchsvollen und unverständlichen Charakters. Ist es die
Empfindungsfunktion, so entdecken die Sinne Neues, Niezuvorerfahrenes
in und ausserhalb des eigenen Körpers. Eine nähere Untersuchung dieser
Veränderungen kann unschwer das Hervortreten primitiver Psychologie
mit allen ihren Kennzeichen nachweisen. Natürlich ist das Erfahrene
nicht bloss primitiv, sondern auch symbolisch und je älter und
ursprünglicher es aussieht, desto zukunftswahrer ist es. Denn alles
Alte unseres Unbewussten meint Kommendes. Unter gewöhnlichen Umständen
glückt nicht einmal der Übergang nach der „andern Seite“, geschweige
denn der erlösende Durchgang durch das Unbewusste. Der Übergang
wird meistens verhindert durch den bewussten Widerstand gegen die
Unterwerfung des Ich unter die unbewusste Tatsächlichkeit, unter
die bedingende Realität des unbewussten Objektes. Der Zustand ist
eine Dissociation, mit andern Worten eine Neurose mit dem Charakter
der innern Aufreibung und der zunehmenden Gehirnerschöpfung, der
Psychasthenie.


_2. Der introvertierte Denktypus._

Wie ein _Darwin_ etwa den normalen extravertierten Denktypus
darstellen könnte, so könnte man beispielsweise _Kant_ als den
gegenüberstehenden normalen introvertierten Denktypus bezeichnen.
Wie ersterer in Tatsachen spricht, so beruft sich letzterer auf den
subjektiven Faktor. Darwin drängt nach dem weiten Felde objektiver
Tatsächlichkeit, Kant dagegen reserviert sich eine Kritik des Erkennens
überhaupt. Nehmen wir einen _Cuvier_ und stellen ihn einem
_Nietzsche_ gegenüber, so spannen wir die Gegensätze noch schärfer.

Der introvertierte Denktypus ist charakterisiert durch das Primat
des oben beschriebenen Denkens. Er ist, wie sein extravertierter
Parallelfall, ausschlaggebend beeinflusst durch Ideen, die aber nicht
dem objektiv Gegebenen, sondern der subjektiven Grundlage entspringen.
Er wird, wie der Extravertierte, seinen Ideen folgen, aber in
umgekehrter Richtung, nicht nach aussen, sondern nach innen. Er strebt
nach Vertiefung und nicht nach Verbreiterung. Durch diese Grundlage
unterscheidet er sich von seinem extravertierten Parallelfall in
ganz erheblichem Masse und in unverkennbarer Weise. Was den andern
auszeichnet, nämlich seine intensive Bezogenheit auf das Objekt, fehlt
ihm gelegentlich fast völlig, wie übrigens jedem introvertierten Typus.
Ist das Objekt ein Mensch, so fühlt dieser Mensch deutlich, dass er
eigentlich nur negativ in Frage kommt, d. h. in mildern Fällen wird
er sich seiner Überflüssigkeit bewusst, in schlimmern fühlt er sich
als störend direkt abgelehnt. Diese negative Beziehung zum Objekt,
Indifferenz bis Ablehnung, charakterisiert jeden Introvertierten
und macht auch die Beschreibung des introvertierten Typus überhaupt
äusserst schwierig. Es tendiert in ihm alles zum Verschwinden und zur
Verborgenheit. Sein Urteil erscheint als kalt, unbeugsam, willkürlich
und rücksichtslos, weil es weniger auf das Objekt als auf das Subjekt
bezogen ist. Es ist nichts daran zu fühlen, was dem Objekt etwa
höhern Wert verliehe, sondern es geht immer etwas über das Objekt
hinweg und lässt eine Überlegenheit des Subjektes durchfühlen.
Höflichkeit, Liebenswürdigkeit und Freundlichkeit mögen vorhanden
sein, aber öfters mit dem sonderbaren Beigeschmack einer gewissen
Ängstlichkeit, welche eine Absicht dahinter verrät, nämlich die
Absicht der Entwaffnung des Gegners. Er soll beruhigt oder stillgelegt
werden, denn er könnte störend werden. Er ist zwar kein Gegner, aber,
wenn er empfindsam ist, so wird er eine gewisse Zurückdrängung,
vielleicht sogar Entwertung fühlen. Das Objekt unterliegt immer
einer gewissen Vernachlässigung oder wird, in schlimmern Fällen, mit
unnötigen Vorsichtsmassregeln umgeben. So verschwindet dieser Typus
gerne hinter einer Wolke von Missverständnis, die umso dichter wird,
je mehr er compensatorisch versucht, mit Hilfe seiner minderwertigen
Funktionen die Maske einer gewissen Urbanität anzunehmen, welche aber
mit seinem wirklichen Wesen oft in grellstem Kontrast steht. Wenn
er schon beim Ausbau seiner Ideenwelt vor keinem noch so kühnen
Wagnis zurückschreckt und keinen Gedanken darum nicht denkt, weil er
gefährlich, umstürzlerisch, ketzerisch und gefühlsverletzend sein
könnte, so wird er doch von der grössten Ängstlichkeit befallen,
wenn das Wagnis äussere Wirklichkeit werden sollte. Das geht ihm
gegen den Strich. Wenn er auch seine Gedanken in die Welt setzt, so
führt er sie nicht ein wie eine besorgte Mutter ihre Kinder, sondern
er setzt sie aus und ärgert sich höchstens, wenn sie ihr Fortkommen
nicht von selber finden. Sein meist enormer Mangel an praktischer
Fähigkeit oder seine Abneigung gegen Reklame in jeder Hinsicht kommen
ihm dabei helfend entgegen. Wenn ihm sein Produkt subjektiv richtig
und wahr erscheint, so muss es auch richtig sein, und andere haben
sich dieser Wahrheit einfach zu beugen. Er wird wohl kaum hingehen,
um jemand, hauptsächlich jemand von Einfluss, dafür zu gewinnen.
Und wenn er es tut, so tut er es meistens dermassen ungeschickt,
dass er das Gegenteil seines Vorhabens erreicht. Mit Konkurrenten
im eigenen Fach macht er meistens schlechte Erfahrungen, indem er
niemals ihre Gunst zu erringen versteht; er gibt ihnen in der Regel
sogar zu verstehen, wie überflüssig sie ihm sind. In der Verfolgung
seiner Ideen ist er meist hartnäckig, eigensinnig und unbeeinflussbar.
Seltsam kontrastiert damit seine Suggestibilität persönlichen
Einflüssen gegenüber. Ist die anscheinende Ungefährlichkeit eines
Objektes erkannt, so ist dieser Typus gerade minderwertigen Elementen
äusserst zugänglich. Sie fassen ihn vom Unbewussten her. Er lässt
sich brutalisieren und aufs schmählichste ausbeuten, wenn er nur in
der Verfolgung seiner Ideen nicht gestört wird. Er sieht es nicht,
wenn er hinterrücks ausgeplündert und praktisch geschädigt wird,
denn seine Beziehung zum Objekt ist ihm sekundär, und die objektive
Bewertung seines Produktes ist ihm unbewusst. Weil er seine Probleme
nach Möglichkeit ausdenkt, kompliziert er sie und ist daher stets
in allen möglichen Bedenklichkeiten befangen. So klar ihm die innere
Struktur seiner Gedanken ist, so unklar ist ihm, wo und wie sie in die
wirkliche Welt hineingehören. Er kann sich nur schwer darein finden,
anzunehmen, dass etwas, was ihm klar ist, nicht auch jedermann klar
erscheint. Sein Stil ist meistens erschwert durch allerhand Zutaten,
Einschränkungen, Vorsichten, Zweifel, die von seiner Bedenklichkeit
herstammen. Die Arbeit geht ihm schwer von der Hand. Entweder ist
er schweigsam, oder er verfällt auf Leute, die ihn nicht verstehen;
damit sammelt er sich Beweisstücke für die unergründliche Dummheit
der Menschen. Wird er zufällig einmal verstanden, so verfällt er
leichtgläubiger Überschätzung. Gerne wird er das Opfer ehrgeiziger
Frauen, die seine Kritiklosigkeit dem Objekt gegenüber auszunützen
verstehen, oder er entwickelt sich zum misanthropischen Junggesellen
mit einem kindlichen Herzen. Öfters ist auch sein äusseres Auftreten
ungeschickt, etwa peinlich sorgfältig, um Aufsehen zu vermeiden oder
auch bemerkenswert unbekümmert, von kindlicher Naivetät. In seinem
speziellen Arbeitsgebiet erregt er heftigsten Widerspruch, mit dem er
nichts anzufangen weiss, wenn er sich durch seinen primitiven Affekt
nicht etwa in eine ebenso bissige wie fruchtlose Polemik hineinreissen
lässt. Er gilt als rücksichtslos und autoritär im weitern Umkreis. Je
näher man ihn kennt, desto günstiger wird das Urteil über ihn, und
die Nächsten wissen seine Intimität aufs Höchste zu schätzen. Für den
Fernerstehenden scheint er borstig, unnahbar und hochmütig, öfters auch
verbittert infolge seiner der Gesellschaft ungünstigen Vorurteile. Er
hat als persönlicher Lehrer geringen Einfluss, da ihm die Mentalität
seiner Schüler unbekannt ist. Auch interessiert ihn das Lehren im
Grunde genommen gar nicht, wenn es ihm nicht gerade zufälligerweise ein
theoretisches Problem ist. Er ist ein schlechter Lehrer, da er während
des Lehrens über den Lehrstoff denkt und sich nicht mit dem Vorstellen
desselben begnügt.

Mit der Verstärkung seines Typus werden seine Überzeugungen starrer
und unbeugsamer. Fremde Einflüsse werden ausgeschaltet, auch
persönlich wird er für die Fernerstehenden unsympathischer, und dafür
von den Nächsten abhängiger. Seine Sprache wird persönlicher und
rücksichtsloser und seine Ideen werden tief, vermögen sich aber im noch
vorhandenen Stoff nicht mehr genügend auszudrücken. Der Mangel wird
durch Emotivität und Empfindlichkeit ersetzt. Die fremde Beeinflussung,
die er aussen schroff ablehnt, befällt ihn von innen, von Seiten des
Unbewussten, und er muss Beweise dagegen häufen, und zwar gegen Dinge,
die Aussenstehenden als gänzlich überflüssig erscheinen. Da durch den
Mangel an Beziehung zum Objekt sein Bewusstsein sich subjektiviert,
so erscheint ihm das als das Wichtigste, was im Geheimen seine
_Person_ am meisten angeht. Und er beginnt, seine subjektive
Wahrheit mit seiner Person zu verwechseln. Er wird zwar niemand
persönlich für seine Überzeugungen zu pressen versuchen, er wird
aber giftig und persönlich gegen jede auch noch so gerechte Kritik
losfahren. Damit isoliert er sich allmählich in jeder Hinsicht. Seine
anfänglich befruchtenden Ideen werden destruktiv, weil sie durch den
Niederschlag der Verbitterung vergiftet werden. Mit der Isolierung nach
aussen wächst der Kampf mit der unbewussten Beeinflussung, welche ihn
allmählich zu lähmen beginnt. Ein verstärkter Hang zur Einsamkeit soll
ihn vor den unbewussten Beeinflussungen schützen, sie führt ihn in der
Regel aber tiefer in den Konflikt, der ihn innerlich aufreibt.

Das Denken des introvertierten Typus ist positiv und synthetisch in
Hinsicht der Entwicklung von Ideen, die sich in steigendem Masse
der ewigen Gültigkeit der Urbilder annähern. Lockert sich aber ihr
Zusammenhang mit der objektiven Erfahrung, so werden sie mythologisch
und für die momentane Zeitlage unwahr. Daher ist dieses Denken nur
so lange auch für den Zeitgenossen wertvoll, als es in ersichtlichem
und verstehbarem Zusammenhang mit den derzeit bekannten Tatsachen
steht. Wird das Denken aber mythologisch, so wird es irrelevant
und verläuft in sich selbst. Die diesem Denken gegenüberstehenden
relativ unbewussten Funktionen des Fühlens, Intuierens und Empfindens
sind minderwertig und haben einen primitiv extravertierten
Charakter, welchem alle die lästigen Objekteinflüsse, denen der
introvertierte Denktypus unterworfen ist, zuzuschreiben sind. Die
Selbstschutzmassnahmen und die Hindernisfelder, die solche Leute um
sich herum anzulegen pflegen, sind genügsam bekannt, sodass ich mir
ihre Schilderung ersparen kann. Dies alles dient zur Abwehr „magischer“
Einwirkungen, dazu gehört auch die Angst vor dem weiblichen Geschlecht.


_3. Das Fühlen._

Das introvertierte Fühlen ist in der Hauptsache determiniert durch
den subjektiven Faktor. Dies bedeutet für das Gefühlsurteil einen
ebenso wesentlichen Unterschied vom extravertierten Fühlen, wie die
Introversion des Denkens von der Extraversion. Es gehört zweifellos
zu den schwierigern Dingen, den introvertierten Gefühlsprozess
intellektuell darzustellen oder auch nur annähernd zu beschreiben,
obschon das eigentümliche Wesen dieses Fühlens unbedingt auffällt, wenn
man seiner überhaupt gewahr wird. Da sich dieses Fühlen hauptsächlich
subjektiven Vorbedingungen unterwirft und sich nur sekundär mit
dem Objekt beschäftigt, so tritt es viel weniger und in der Regel
missverständlich in die Erscheinung. Es ist ein Fühlen, das anscheinend
die Objekte entwertet und sich darum meistens negativ bemerkbar macht.
Die Existenz eines positiven Gefühles ist sozusagen nur indirekt zu
erschliessen. Es sucht sich nicht dem Objektiven einzupassen, sondern
ihm überzuordnen, indem es unbewusst versucht, die ihm zu Grunde
liegenden Bilder zu verwirklichen. Es sucht daher stets nach einem in
der Wirklichkeit nicht anzutreffenden Bild, das es gewissermassen zuvor
gesehen hat. Es gleitet anscheinend über die Objekte, die seinem Ziele
niemals passen, achtlos hinweg. Es strebt nach einer innern Intensität,
zu der die Objekte höchstens einen Anreiz beitragen. Die Tiefe dieses
Gefühles lässt sich nur ahnen, aber nicht klar erfassen. Es macht die
Menschen still und schwer zugänglich, da es sich vor der Brutalität
des Objektes mimosenhaft zurückzieht, um den tiefen Hintergrund des
Subjektes zu erfühlen. Zum Schutze schiebt es negative Gefühlsurteile
vor oder eine auffallende Indifferenz.

Die urtümlichen Bilder sind bekanntlich ebenso sehr Idee wie
Gefühl. Daher sind auch grundlegende Ideen wie Gott, Freiheit und
Unsterblichkeit ebenso sehr Gefühlswerte, wie sie als Ideen bedeutend
sind. Es liesse sich demnach alles, was vom introvertierten Denken
gesagt wurde, auch auf das introvertierte Fühlen übertragen, nur
wird hier alles erfühlt, was dort erdacht wird. Die Tatsache aber,
dass Gedanken in der Regel verständlicher ausgedrückt werden können,
als Gefühle, bedingt, dass es bei diesem Fühlen schon einer nicht
gewöhnlichen sprachlichen oder künstlerischen Ausdrucksfähigkeit
bedarf, um seinen Reichtum auch nur annähernd äusserlich darzustellen
oder mitzuteilen. Wie das subjektive Denken wegen seiner Unbezogenheit
nur schwierig ein adäquates Verständnis zu erwecken vermag, so gilt
dies vielleicht in noch höherm Masse für das subjektive Fühlen. Um sich
andern mitzuteilen, muss es eine äussere Form finden, welche geeignet
ist, einerseits das subjektive Fühlen entsprechend aufzunehmen und
andererseits dem Mitmenschen es so zu übermitteln, dass in ihm ein
Parallelvorgang entsteht. Wegen der relativ grossen innern (wie
äussern) Gleichheit der Menschen kann diese Wirkung auch erreicht
werden, obschon es ausserordentlich schwierig ist, eine dem Gefühl
zusagende Form zu finden, solange nämlich das Fühlen sich wirklich
noch hauptsächlich am Schatze der urtümlichen Bilder orientiert. Wird
es aber durch Egozentrizität verfälscht, so wird es unsympathisch,
weil es sich dann überwiegend nur noch mit dem Ich beschäftigt. Es
erweckt dann unfehlbar den Eindruck sentimentaler Eigenliebe, des
Sichinteressantmachens und selbst einer krankhaften Selbstbespiegelung.
Wie das subjektivierte Bewusstsein des introvertierten Denkers
nach einer Abstraktion der Abstraktionen strebt und damit nur eine
höchste Intensität eines an sich leeren Denkprozesses erreicht, so
vertieft sich auch das egozentrische Fühlen zu einer inhaltlosen
Leidenschaftlichkeit, die bloss sich selber fühlt. Diese Stufe ist
mystisch-ekstatisch und bereitet den Übergang in die vom Fühlen
verdrängten, extravertierten Funktionen vor. Wie dem introvertierten
Denken ein primitives Fühlen, dem sich Objekte mit magischer Gewalt
anhängen, gegenübersteht, so tritt dem introvertierten Fühlen ein
primitives Denken gegenüber, das an Concretismus und Tatsachensklaverei
seinesgleichen sucht. Das Fühlen emanzipiert sich fortschreitend von
der Beziehung aufs Objekt und schafft sich eine nur subjektiv gebundene
Handlungs- und Gewissensfreiheit, die sich gegebenenfalls von allem
Hergebrachtem lossagt. Umso mehr aber verfällt das unbewusste Denken
der Macht des Objektiven.


_4. Der introvertierte Fühltypus._

Das Primat des introvertierten Fühlens habe ich hauptsächlich bei
Frauen angetroffen. Das Sprichwort „Stille Wasser gründen tief“,
gilt von diesen Frauen. Sie sind meist still, schwer zugänglich,
unverständlich, öfters hinter einer kindlichen oder banalen Maske
verborgen, öfters auch von melancholischem Temperament. Sie
scheinen nicht und treten nicht auf. Da sie sich überwiegend von
ihrem subjektiv orientierten Gefühl leiten lassen, so bleiben ihre
wahren Motive meistens verborgen. Nach aussen zeigen sie eine
harmonische Unauffälligkeit, eine angenehme Ruhe, einen sympathischen
Parallelismus, der den andern nicht veranlassen, beeindrucken oder
gar bearbeiten und verändern will. Ist diese Aussenseite etwas
ausgeprägter, so drängt sich ein leiser Verdacht von Indifferenz und
Kühle auf, der sich bis zu dem der Gleichgültigkeit für das Wohl und
Wehe der andern verstärken kann. Man fühlt dann deutlich die vom Objekt
sich abwendende Gefühlsbewegung. Beim normalen Typus tritt dieser
Fall allerdings nur dann ein, wenn das Objekt in irgend einer Weise
zu stark einwirkt. Die harmonische Gefühlsbegleitung findet darum
nur solange statt, als das Objekt in mittlerer Gefühlslage sich auf
seinem eigenen Wege bewegt und den Weg des andern nicht zu durchkreuzen
sucht. Eigentliche Emotionen des Objektes werden nicht begleitet,
sondern gedämpft und abgewehrt oder besser gesagt „abgekühlt“ mit
einem negativen Gefühlsurteil. Obschon stets eine Bereitschaft zu
einem ruhigen und harmonischen Nebeneinandergehen vorhanden ist, so
zeigt sich dem fremden Objekt gegenüber keine Liebenswürdigkeit, kein
warmes Entgegenkommen, sondern eine indifferent erscheinende, kühle
bis abweisende Art. Man bekommt gelegentlich die Überflüssigkeit der
eigenen Existenz zu fühlen. Gegen etwas Mitreissendes, Enthusiastisches
beobachtet dieser Typus zunächst eine wohlwollende Neutralität,
bisweilen mit einem leisen Zug von Überlegenheit und Kritik, der
einem empfindsamen Objekt leicht den Wind aus den Segeln nimmt.
Eine anstürmende Emotion aber kann mit mörderischer Kälte schroff
abgeschlagen werden, wenn sie nicht zufälligerweise das Individuum
vom Unbewussten her erfasst, d. h. mit andern Worten irgend ein
urtümliches Gefühlsbild belebt und damit das Fühlen dieses Typus
gefangen nimmt. Wenn dieser Fall eintritt, so empfindet eine solche
Frau einfach eine momentane Lähmung, gegen die sich später unfehlbar
ein umso heftigerer Widerstand erhebt, welcher das Objekt an der
verwundbarsten Stelle erreichen wird. Die Beziehung zum Objekt wird
möglichst in einer ruhigen und sichern Mittellage des Gefühls gehalten
unter hartnäckiger Verpönung der Leidenschaft und ihrer Ungemessenheit.
Der Gefühlsausdruck bleibt daher spärlich und das Objekt fühlt dauernd
seine Minderbewertung, wenn es deren bewusst wird. Dies ist allerdings
nicht immer der Fall, indem der Fehlbetrag sehr oft unbewusst bleibt,
dafür aber mit der Zeit infolge unbewussten Gefühlsanspruches Symptome
entwickelt, welche eine vermehrte Aufmerksamkeit erzwingen sollen.
Da dieser Typus meist kühl und reserviert erscheint, so spricht ihm
ein oberflächliches Urteil leicht jedes Gefühl ab. Das ist aber
grundfalsch, indem die Gefühle zwar nicht extensiv, sondern intensiv
sind. Sie entwickeln sich in die Tiefe. Während z. B. ein extensives
Mitleidsgefühl sich an passender Stelle mit Worten und Taten äussert
und sich bald von diesem Eindruck wieder befreien kann, verschliesst
sich ein intensives Mitleid vor jedem Ausdruck und gewinnt eine
leidenschaftliche Tiefe, welche das Elend einer Welt in sich begreift
und daran erstarrt. Es mag vielleicht im Übermass herausbrechen und
zu einer verblüffenden Tat sozusagen heroischen Charakters führen, zu
der aber weder das Objekt noch das Subjekt ein richtiges Verhältnis
finden können. Nach aussen und dem blinden Auge des Extravertierten
erscheint dieses Mitleid als Kälte, denn es tut nichts Sichtbares,
und an unsichtbare Kräfte vermag ein extravertiertes Bewusstsein
nicht zu glauben. Dieses Missverständnis ist ein charakteristisches
Vorkommnis im Leben dieses Typus und wird in der Regel registriert
als ein wichtigstes Argument gegen jede tiefere Gefühlsbeziehung zum
Objekte. Was aber der wirkliche Gegenstand dieses Fühlens ist, ist dem
Normaltypus selbst nur ahnungsweise gegeben. Er drückt sein Ziel und
seinen Inhalt vielleicht in einer verborgenen und vor profanen Augen
ängstlich gehüteten Religiosität, oder in ebenso vor Überraschung
gesicherten poetischen Formen vor sich selber aus, nicht ohne den
geheimen Ehrgeiz, damit eine Überlegenheit über das Objekt zustande zu
bringen. Frauen, die Kinder haben, legen vieles davon in diese, indem
sie ihnen heimlich ihre Leidenschaftlichkeit einflössen.

Obschon im Normaltypus die angedeutete Tendenz, das heimlich Gefühlte
dem Objekt einmal offen und sichtbar überzuordnen oder überwältigend
aufzuzwingen, keine störende Rolle spielt, und niemals zu einem
ernstlichen Versuch in dieser Richtung führt, so sickert davon doch
etwas in die persönliche Wirkung auf das Objekt durch, in Form eines
oft schwer zu definierenden, dominierenden Einflusses. Es wird etwa
als ein erdrückendes oder erstickendes Gefühl empfunden, das die
Umgebung in einen Bann schlägt. Dadurch gewinnt dieser Typus eine
gewisse geheimnisvolle Macht, welche namentlich den extravertierten
Mann in höchstem Masse faszinieren kann, weil sie sein Unbewusstes
berührt. Diese Macht stammt von den erfühlten, unbewussten Bildern,
wird aber vom Bewusstsein leicht auf das Ich bezogen, wodurch der
Einfluss verfälscht wird im Sinne der persönlichen Tyrannei. Wenn aber
das unbewusste Subjekt mit dem Ich identifiziert wird, so wandelt sich
auch die geheimnisvolle Macht des intensiven Gefühls in banale und
anmassende Herrschsucht, Eitelkeit und tyrannische Zwängerei. Daraus
entsteht ein Typus Frau, der wegen seines skrupellosen Ehrgeizes und
wegen seiner heimtückischen Grausamkeit unvorteilhaft bekannt ist.
Diese Wendung führt aber in die Neurose.

Solange das Ich sich unterhalb der Höhe des unbewussten Subjektes fühlt
und das Gefühl Höheres und Mächtigeres erschliesst als das Ich, ist der
Typus normal. Das unbewusste Denken ist zwar archaïsch, compensiert
aber hilfreich durch Reduktionen die gelegentlichen Anwandlungen, das
Ich zum Subjekt zu erheben. Tritt dieser Fall aber doch ein durch
völlige Unterdrückung der reduzierenden unbewussten Denkeinflüsse, dann
begibt sich das unbewusste Denken in die Opposition und projiziert sich
in die Objekte. Damit bekommt das egozentrisch gewordene Subjekt die
Macht und Bedeutung der entwerteten Objekte zu fühlen. Das Bewusstsein
beginnt zu fühlen, „was die Andern denken“. Natürlich denken die Andern
alle möglichen Gemeinheiten, planen Übles, hetzen und intriguieren
im Geheimen, usw. Dem muss das Subjekt zuvorkommen, indem es selber
anfängt, präventiv zu intriguieren und zu verdächtigen, auszuhorchen
und zu kombinieren. Es wird von Gerüchten befallen und krampfhafte
Anstrengungen müssen gemacht werden, um eine drohende Unterlegenheit
womöglich in eine Überlegenheit zu verwandeln. Es entstehen endlose
Rivalitäten geheimer Natur und in diesen erbitterten Kämpfen wird
nicht nur kein schlechtes oder gemeines Mittel gescheut, sondern auch
die Tugenden werden missbraucht, nur um einen Trumpf ausspielen zu
können. Eine solche Entwicklung führt zur Erschöpfung. Die Neurosenform
ist weniger hysterisch als neurasthenisch, bei Frauen oft mit
starker Mitbeteiligung des körperlichen Zustandes, z. B. Anämie mit
Folgezuständen.


_5. Zusammenfassung der rationalen Typen._

Die beiden vorausgegangenen Typen sind rationale, indem sie sich auf
vernünftig urteilende Funktionen gründen. Das vernünftige Urteil
gründet sich nicht bloss auf das objektiv Gegebene, sondern auch
auf das Subjektive. Das Überwiegen des einen oder andern Faktors,
bedingt durch eine oft von früher Jugend her existierende psychische
Disposition, beugt allerdings die Vernunft. Ein wirklich vernünftiges
Urteil sollte sich nämlich ebenso wohl auf den objektiven, wie auf
den subjektiven Faktor berufen und beiden gerecht werden können. Das
wäre aber ein Idealfall und würde eine gleichmässige Entwicklung der
Extraversion und Introversion voraussetzen. Die beiden Bewegungen
aber schliessen sich aus und können, solange ihr Dilemma besteht,
nebeneinander überhaupt gar nicht sein, sondern höchstens nacheinander.
Darum ist auch unter den gewöhnlichen Umständen eine ideale Vernunft
unmöglich. Ein rationaler Typus hat immer eine typisch variierte
Vernunft. So haben die introvertierten rationalen Typen zweifellos
ein vernünftiges Urteil, nur richtet sich dieses Urteil mehr nach dem
subjektiven Faktor. Die Logik braucht nirgends gebeugt zu sein, denn
die Einseitigkeit liegt in der Prämisse. Die Prämisse ist das vor
allen Schlüssen und Urteilen bestehende Überwiegen des subjektiven
Faktors. Er tritt von vornherein mit selbstverständlich höherm Wert
auf als der objektive. Es handelt sich dabei, wie gesagt, keineswegs
um einen erteilten Wert, sondern um eine vor aller Werterteilung
vorhandene natürliche Disposition. Daher erscheint dem Introvertierten
notwendigerweise das Vernunfturteil um einige Nuancen anders als dem
Extravertierten. So erscheint dem Introvertierten, um den allgemeinsten
Fall zu erwähnen, diejenige Schlusskette, die auf den subjektiven
Faktor führt, etwas vernünftiger, als die, die zum Objekte führt.
Diese, im einzelnen Fall zunächst geringfügige, fast unmerkliche
Differenz bewirkt im Grossen unüberbrückbare Gegensätze, die umso
irritierender sind, je weniger einem die im Einzelfall minimale
Standpunktverschiebung durch die psychologische Prämisse bewusst
ist. Ein Hauptirrtum, der dabei regelmässig passiert, ist, dass
man sich bemüht, einen Irrtum im Schluss nachzuweisen, anstatt die
Verschiedenheit der psychologischen Prämisse anzuerkennen. Eine solche
Anerkennung fällt jedem rationalen Typus schwer, denn sie untergräbt
die anscheinend absolute Gültigkeit seines Prinzips und liefert ihn
seinem Gegensatze aus, was einer Katastrophe gleichkommt.

Fast mehr noch als der extravertierte Typus, unterliegt der
introvertierte dem Missverständnis; nicht etwa, weil ihm der
Extravertierte ein schonungsloserer oder kritischerer Gegner ist, als
er selbst es sein könnte, sondern weil der Stil der Epoche, den er
selber mitmacht, gegen ihn ist. Nicht dem Extravertierten gegenüber,
sondern unserer allgemeinen okzidentalen Weltanschauung gegenüber,
befindet er sich in der Minorität, wohl nicht zahlenmässig, sondern
seinem Gefühl nach. Da er den allgemeinen Stil überzeugt mitmacht,
untergräbt er sich selbst, denn der gegenwärtige Stil mit seiner fast
ausschliesslichen Anerkennung des Sicht- und Tastbaren ist gegen sein
Prinzip. Er muss den subjektiven Faktor wegen seiner Unsichtbarkeit
entwerten und sich zwingen, die extravertierte Objektüberwertung
mitzumachen. Er selber schätzt den subjektiven Faktor zu niedrig
ein und wird dafür von Minderwertigkeitsgefühlen heimgesucht. Es
ist daher kein Wunder, dass gerade in unserer Zeit und besonders
in jenen Bewegungen, die der Gegenwart um einiges voraneilen, der
subjektive Faktor sich in übertriebener und darum in geschmackloser
und karikierter Weise äussert. Ich meine die heutige Kunst. Die
Unterschätzung des eigenen Prinzips macht den Introvertierten
egoistisch und nötigt ihm die Psychologie des Unterdrückten auf. Je
egoistischer er wird, desto mehr erscheint es ihm auch, als ob die
andern, die den gegenwärtigen Stil anscheinend restlos mitmachen
können, die Unterdrücker wären, gegen die er sich schützen und zur Wehr
setzen muss. Er sieht meistens nicht, dass er darin seinen Hauptfehler
begeht, dass er am subjektiven Faktor nicht mit jener Treue und
Ergebenheit hängt, mit welcher sich der Extravertierte nach dem Objekte
richtet. Durch die Unterschätzung des eigenen Prinzips wird sein
Hang zum Egoismus unvermeidlich und damit verdient er sich auch das
Vorurteil des Extravertierten. Bliebe er aber seinem Prinzipe treu, so
wäre er als Egoist grundfalsch beurteilt, und die Berechtigung seiner
Einstellung würde sich durch ihre allgemeinen Wirkungen bestätigen und
die Missverständnisse zerstreuen.


_6. Das Empfinden._

Auch das Empfinden, das seinem ganzen Wesen nach auf das Objekt und
den objektiven Reiz angewiesen ist, unterliegt in der introvertierten
Einstellung einer beträchtlichen Veränderung. Auch es hat einen
subjektiven Faktor, denn neben dem Objekt, das empfunden wird, steht
ein Subjekt, welches empfindet, und welches dem objektiven Reiz seine
subjektive Disposition beiträgt. Das Empfinden in der introvertierten
Einstellung gründet sich überwiegend auf den subjektiven Anteil der
Perception. Was damit gemeint ist, erhellt am ehesten aus Kunstwerken,
welche äussere Objekte reproduzieren. Wenn z. B. mehrere Maler eine
und dieselbe Landschaft malen mit der Bemühung, dieselbe getreu
wiederzugeben, so wird doch jedes Gemälde vom andern verschieden
sein, nicht etwa bloss vermöge eines mehr oder minderentwickelten
Könnens, sondern hauptsächlich infolge eines verschiedenen Sehens,
ja, es wird an einigen Gemälden sogar eine ausgesprochen psychische
Verschiedenheit in der Stimmungslage und Bewegung von Farbe und Figur
zu Tage treten. Diese Eigenschaften verraten ein mehr oder weniger
starkes Mitwirken des subjektiven Faktors. Der subjektive Faktor des
Empfindens ist im wesentlichen derselbe wie für die andern bereits
besprochenen Funktionen. Es ist eine unbewusste Disposition, welche
die Sinnesperception schon in ihrem Entstehen verändert und ihr
dadurch den Charakter einer reinen Objekteinwirkung wegnimmt. In
diesem Fall bezieht sich die Empfindung überwiegend auf das Subjekt
und erst in zweiter Linie auf das Objekt. Wie ausserordentlich stark
der subjektive Faktor sein kann, zeigt uns am deutlichsten die Kunst.
Das Überwiegen des subjektiven Faktors geht gelegentlich bis zur
völligen Unterdrückung der blossen Objektwirkung und doch bleibt
die Empfindung dabei Empfindung, allerdings ist sie dann zu einer
Wahrnehmung des subjektiven Faktors geworden, und die Objektwirkung
ist auf die Stufe eines blossen Anregers gesunken. Das introvertierte
Empfinden entwickelt sich nach dieser Richtung. Es besteht zwar eine
richtige Sinneswahrnehmung, aber es hat den Anschein, als ob die
Objekte gar nicht eigentlich ins Subjekt eindrängen, sondern als
ob das Subjekt die Dinge ganz anders oder ganz andere Dinge sähe,
als andere Menschen. Tatsächlich nimmt das Subjekt dieselben Dinge
wahr, wie jedermann, verweilt aber dann keineswegs bei der reinen
Objekteinwirkung, sondern beschäftigt sich mit der durch den objektiven
Reiz ausgelösten subjektiven Wahrnehmung. Die subjektive Wahrnehmung
ist merklich verschieden von der objektiven. Sie ist im Objekt entweder
gar nicht oder höchstens andeutungsweise anzutreffen, d. h. sie kann
zwar in andern Menschen ähnlich sein, aber sie ist im objektiven
Verhalten der Dinge nicht unmittelbar zu begründen. Sie macht nicht
den Eindruck eines Bewusstseinsproduktes, dazu ist sie zu genuin.
Sie macht aber einen psychischen Eindruck, da in ihr Elemente von
einer hohem psychischen Ordnung erkennbar sind. Jedoch stimmt diese
Ordnung nicht überein mit den Inhalten des Bewusstseins. Es handelt
sich um collektiv-unbewusste Voraussetzungen oder Dispositionen,
um mythologische Bilder, Urmöglichkeiten von Vorstellungen. Der
subjektiven Wahrnehmung haftet der Charakter des Bedeutenden an. Sie
sagt mehr, als das reine Bild des Objektes, natürlich nur zu dem, dem
der subjektive Faktor überhaupt etwas sagt. Einem andern erscheint ein
reproduzierter subjektiver Eindruck an der Eigenschaft zu leiden, dass
er keine genügende Ähnlichkeit mit dem Objekt besitzt und darum seinen
Zweck verfehlt habe. Das subjektive Empfinden erfasst daher mehr die
Hintergründe der physischen Welt als ihre Oberfläche. Es empfindet
nicht die Realität des Objektes als das Ausschlaggebende, sondern die
Realität des subjektiven Faktors, nämlich der urtümlichen Bilder,
welche in ihrer Gesamtheit eine psychische Spiegelwelt darstellen.
Dieser Spiegel hat aber die eigentümliche Fähigkeit, die gegenwärtigen
Inhalte des Bewusstseins nicht in ihrer uns bekannten und geläufigen
Form darzustellen, sondern in gewissem Sinne sub specie aeternitatis,
nämlich etwa so, wie ein eine Million Jahre altes Bewusstsein sie
sehen würde. Ein solches Bewusstsein würde das Werden und Vergehen
der Dinge zugleich mit ihrem gegenwärtigen und momentanen Sein sehen
und nicht nur das, sondern zugleich auch das Andere, das vor ihrem
Werden war und nach ihrem Vergehen sein wird. Der gegenwärtige Moment
ist diesem Bewusstsein unwahrscheinlich. Selbstverständlich ist dies
nur ein Gleichnis, dessen ich aber bedarf, um das eigentümliche Wesen
der introvertierten Empfindung einigermassen zu veranschaulichen.
Die introvertierte Empfindung vermittelt ein Bild, welches weniger
das Objekt reproduziert, als dass es das Objekt überkleidet mit
dem Niederschlag uralter und zukünftiger subjektiver Erfahrung.
Dadurch wird der blosse Sinneseindruck entwickelt nach der Tiefe des
Ahnungsreichen, während die extravertierte Empfindung das momentane und
offen zu Tage liegende Sein der Dinge erfasst.


_7. Der introvertierte Empfindungstypus._

Das Primat des introvertierten Empfindens schafft einen bestimmten
Typus, der sich durch gewisse Eigentümlichkeiten auszeichnet. Er ist
ein irrationaler Typus, insofern er unter dem Vorkommenden nicht
vorwiegend nach Vernunfturteilen auswählt, sondern sich nach dem
richtet, was eben vorkommt. Während der extravertierte Empfindungstypus
durch die Intensität der Objekteinwirkung determiniert ist, orientiert
sich der introvertierte nach der Intensität des durch den objektiven
Reiz ausgelösten subjektiven Empfindungsanteiles. Dabei besteht, wie
ersichtlich, gar kein proportionaler Zusammenhang zwischen Objekt
und Empfindung, sondern ein anscheinend durchaus unabgemessener und
willkürlicher. Es ist von aussen darum sozusagen nie vorauszusehen, was
Eindruck machen wird und was nicht. Wäre eine der Empfindungsstärke
proportionale Ausdrucksfähigkeit und -willigkeit vorhanden, so würde
die Irrationalität dieses Typus ausserordentlich auffallen. Dies ist
z. B. der Fall, wenn das Individuum ein produzierender Künstler ist. Da
dies aber ein Ausnahmefall ist, so verbirgt die für den Introvertierten
charakteristische Ausdruckserschwerung auch seine Irrationalität. Er
kann im Gegenteil durch seine Ruhe oder Passivität oder durch eine
vernünftige Selbstbeherrschung auffallen. Diese Eigentümlichkeit,
welche das oberflächliche Urteil irreleitet, verdankt ihre Existenz
der Nichtbezogenheit auf Objekte. Das Objekt wird im Normalfall
zwar keineswegs bewusst entwertet, aber sein Anreiz wird ihm dadurch
entzogen, dass er sofort durch eine subjektive Reaktion, die sich
auf die Wirklichkeit des Objektes weiter nicht mehr bezieht, ersetzt
wird. Das wirkt natürlich wie eine Objektentwertung. Ein solcher Typus
kann einem leicht die Frage beibringen, wozu man überhaupt existiere,
wozu überhaupt Objekte noch daseinsberechtigt seien, da ja doch alles
wesentliche ohne das Objekt passiere. Dieser Zweifel mag in extremen
Fällen berechtigt sein, im Normalfall aber nicht, denn der Empfindung
ist der objektive Reiz unerlässlich, nur bringt er anderes hervor,
als nach der äussern Sachlage vermutet werden könnte. Von aussen
betrachtet sieht es aus, als ob die Objekteinwirkung überhaupt nicht
zum Subjekt vordränge. Dieser Eindruck ist insofern richtig, als ein
subjektiver dem Unbewussten entstammender Inhalt sich dazwischen
drängt und die Objekteinwirkung abfängt. Dieses Dazwischentreten kann
mit solcher Schroffheit erfolgen, dass man den Eindruck gewinnt, als
schütze sich das Individuum direkt vor Objekteinwirkungen. In einem
irgendwie gesteigerten Fall ist auch tatsächlich eine solche schützende
Abwehr vorhanden. Wenn das Unbewusste nur um etwas verstärkt ist, so
wird der subjektive Empfindungsanteil dermassen lebendig, dass er die
Objekteinwirkung fast gänzlich überdeckt. Daraus entsteht einerseits
für das Objekt das Gefühl einer völligen Entwertung, andererseits
für das Subjekt eine illusionäre Auffassung der Wirklichkeit, die
allerdings nur in krankhaften Fällen soweit geht, dass das Individuum
nicht mehr imstande wäre, zwischen dem wirklichen Objekt und der
subjektiven Wahrnehmung zu unterscheiden. Obschon eine so wichtige
Unterscheidung erst in einem nahezu psychotischen Zustand gänzlich
verschwindet, so kann doch längst zuvor die subjektive Wahrnehmung das
Denken, Fühlen und Handeln in höchstem Masse beeinflussen, trotzdem
das Objekt in seiner ganzen Wirklichkeit klar gesehen wird. In Fällen,
wo die Objekteinwirkung infolge besonderer Umstände, z. B. infolge
besonderer Intensität oder völliger Analogie mit dem unbewussten
Bilde, bis zum Subjekt vordringt, ist auch der Normalfall dieses Typus
veranlasst, nach seiner unbewussten Vorlage zu _handeln_. Dieses
Handeln ist in bezug auf die objektive Wirklichkeit von illusionärem
Charakter und darum äusserst befremdlich. Es enthüllt mit einem
Schlage die wirklichkeitsfremde Subjektivität des Typus. Wo aber die
Objekteinwirkung nicht völlig durchdringt, da begegnet sie einer wenig
Anteilnahme verratenden wohlwollenden Neutralität, welche stets zu
beruhigen und auszugleichen bestrebt ist. Das allzu Niedere wird etwas
gehoben, das allzu Hohe etwas niedriger gemacht, das Enthusiastische
gedämpft, das Extravagante gezügelt und das Ungewöhnliche auf die
„richtige“ Formel gebracht, all dies, um die Objekteinwirkung in den
nötigen Schranken zu halten. Dadurch wirkt auch dieser Typus auf
die Umgebung drückend, sofern seine gänzliche Harmlosigkeit nicht
ausser allem Zweifel steht. Ist letzteres aber der Fall, so wird das
Individuum leicht das Opfer der Aggressivität und der Herrschsucht
anderer. Solche Menschen lassen sich in der Regel missbrauchen und
rächen sich dafür an ungeeigneter Stelle durch vermehrte Resistenz und
Störrigkeit. Ist keine künstlerische Ausdrucksfähigkeit vorhanden, so
gehen alle Eindrücke nach innen in die Tiefe und halten das Bewusstsein
im Banne, ohne dass es ihm möglich wäre, des faszinierenden Eindruckes
durch bewussten Ausdruck Herr zu werden. Für seine Eindrücke stehen
diesem Typus nur archaïsche Ausdrucksmöglichkeiten zu relativer
Verfügung, weil Denken und Fühlen relativ unbewusst sind, und insofern
sie bewusst sind, nur über die notwendigen, banalen und alltäglichen
Ausdrücke verfügen. Sie sind als bewusste Funktionen darum ganz
ungeeignet, die subjektiven Wahrnehmungen adäquat wiederzugeben.
Dieser Typus ist daher dem objektiven Verständnis äusserst schwer
erschliessbar, wie er auch sich selber meist verständnislos
gegenübersteht.

Seine Entwicklung entfernt ihn hauptsächlich von der Wirklichkeit
des Objektes und liefert ihn an seine subjektiven Wahrnehmungen
aus, die sein Bewusstsein im Sinne einer archaïschen Wirklichkeit
orientieren, obschon ihm dieses Faktum aus Mangel an vergleichendem
Urteil gänzlich unbewusst bleibt. Tatsächlich bewegt er sich aber in
einer mythologischen Welt, in der ihm Menschen, Tiere, Eisenbahnen,
Häuser, Flüsse und Berge zum Teil als huldvolle Götter und zum Teil
als übelwollende Dämonen erscheinen. Dass sie ihm so erscheinen,
ist ihm unbewusst. Aber sie wirken als solche auf sein Urteilen und
Handeln. Er urteilt und handelt so, als ob er es mit solchen Mächten
zu tun hätte. Dies fängt erst dann an, ihm aufzufallen, wenn er seine
Empfindungen als von der Wirklichkeit total verschieden entdeckt. Ist
er mehr zur objektiven Vernunft geneigt, so wird er diesen Unterschied
als krankhaft empfinden, ist er dagegen, getreu seiner Irrationalität,
bereit, seiner Empfindung Realitätswert zuzusprechen, so wird ihm die
objektive Welt zum Schein und zur Komödie. Es sind aber nur zum Extrem
geneigte Fälle, welche dieses Dilemma erreichen. In der Regel begnügt
sich das Individuum mit seiner Eingeschlossenheit und mit der Banalität
der Wirklichkeit, die es aber unbewusst archaïsch behandelt.

Sein Unbewusstes ist hauptsächlich gekennzeichnet durch die
Verdrängung der Intuition, welch letztere einen extravertierten und
archaïschen Charakter hat. Während die extravertierte Intuition jene
charakteristische Findigkeit, die „gute Nase“ für alle Möglichkeiten
der objektiven Wirklichkeit hat, hat die archaïsche extravertierte
Intuition ein Witterungsvermögen für alle zweideutigen, düstern,
schmutzigen und gefährlichen Hintergründe der Wirklichkeit.
Dieser Intuition gegenüber will die wirkliche und bewusste Absicht
des Objektes nichts bedeuten, sondern sie wittert dahinter alle
Möglichkeiten der archaïschen Vorstufen einer solchen Absicht. Sie
hat daher etwas geradezu gefährlich Untergrabendes, das oft in
grellstem Kontrast steht mit der wohlwollenden Harmlosigkeit des
Bewusstseins. Solange das Individuum sich nicht zu weit vom Objekt
entfernt, wirkt die unbewusste Intuition als heilsame Compensation
für die etwas phantastische und zur Leichtgläubigkeit neigende
Einstellung des Bewusstseins. Tritt das Unbewusste aber in Opposition
zum Bewusstsein, dann erreichen solche Intuitionen die Oberfläche und
entfalten ihre verderblichen Wirkungen, indem sie sich zwangsweise
dem Individuum aufnötigen und Zwangsvorstellungen widerwärtigster
Art über Objekte auslösen. Die daraus entstehende Neurose ist in
der Regel eine Zwangsneurose, in der die hysterischen Züge hinter
Erschöpfungssymptomen zurücktreten.


_8. Die Intuition._

Die Intuition in der introvertierten Einstellung richtet sich auf
die innern Objekte, wie man mit Recht die Elemente des Unbewussten
bezeichnen könnte. Die innern Objekte verhalten sich nämlich zum
Bewusstsein ganz analog wie äussere Objekte, obschon sie nicht von
einer physischen, sondern von einer psychologischen Realität sind. Die
innern Objekte erscheinen der intuitiven Wahrnehmung als subjektive
Bilder von Dingen, die in der äussern Erfahrung nicht anzutreffen sind,
sondern die Inhalte des Unbewussten, in letzter Linie des collektiven
Unbewussten, ausmachen. Diese Inhalte sind in ihrem An- und Fürsichsein
natürlich keiner Erfahrung zugänglich, eine Eigenschaft, die sie
mit dem äussern Objekt gemeinsam haben. Wie die äussern Objekte
nur ganz relativ so sind, wie wir sie perzipieren, so sind auch die
Erscheinungsformen der innern Objekte relativ, Produkte ihrer uns
unzugänglichen Essenz und der Eigenart der intuitiven Funktion. Wie
die Empfindung, so hat auch die Intuition ihren subjektiven Faktor,
welcher in der extravertierten Intuition möglichst unterdrückt, in
der introvertierten aber zur massgebenden Grösse wird. Wenn schon die
introvertierte Intuition ihren Anstoss von äussern Objekten empfangen
mag, so hält sie sich doch nicht bei den äussern Möglichkeiten auf,
sondern verweilt bei dem, was durch das Äussere innerlich ausgelöst
wurde. Während sich die introvertierte Empfindung in der Hauptsache
auf die Wahrnehmung der eigenartigen Innervationserscheinungen durch
das Unbewusste beschränkt und bei ihnen verweilt, unterdrückt die
Intuition diese Seite des subjektiven Faktors und nimmt das Bild wahr,
welches diese Innervation veranlasst hat. Z. B. wird jemand von einem
psychogenen Schwindelanfall betroffen. Die Empfindung verweilt bei
der eigenartigen Beschaffenheit dieser Innervationsstörung und nimmt
alle ihre Qualitäten, ihre Intensität, ihren zeitlichen Ablauf, die
Art ihres Entstehens und Vergehens mit allen Einzelheiten wahr, ohne
sich im geringsten darüber zu erheben und zu ihrem Inhalt, von dem die
Störung ausging, fortzuschreiten. Die Intuition dagegen empfängt aus
der Empfindung nur den Anstoss zu sofortiger Tätigkeit, sie versucht
dahinter zu sehen und nimmt auch bald das innere Bild wahr, welches die
Ausdruckserscheinung, eben den Schwindelanfall, veranlasst hat. Sie
sieht das Bild eines schwankenden Mannes, der von einem Pfeil ins Herz
getroffen wurde. Dieses Bild fasziniert die intuitive Tätigkeit, sie
verweilt bei ihm und sucht alle seine Einzelheiten auszukundschaften.
Sie hält das Bild fest und konstatiert mit lebhaftester Anteilnahme,
wie sich dieses Bild verändert und weiter entwickelt und schliesslich
verschwindet. Auf diese Weise nimmt die introvertierte Intuition alle
Hintergrundvorgänge des Bewusstseins etwa mit derselben Deutlichkeit
wahr, wie die extravertierte Empfindung die äussern Objekte. Für die
Intuition erlangen daher die unbewussten Bilder die Dignität von
Dingen oder Objekten. Weil aber die Intuition die Mitwirkung der
Empfindung ausschliesst, so erlangt sie entweder gar keine oder eine
nur ungenügende Kenntnis der Innervationsstörungen, der Beeinflussungen
des Körpers durch die unbewussten Bilder. Dadurch erscheinen die Bilder
als vom Subjekt losgelöst und als für sich selber ohne Beziehung zur
Person existierend. Infolgedessen würde im vorhin erwähnten Beispiel
der vom Schwindelanfall betroffene introvertierte Intuitive nicht auf
den Gedanken kommen, dass sich das wahrgenommene Bild auch irgendwie
auf ihn selber beziehen könnte. Das erscheint natürlich einem urteilend
Eingestellten als beinahe undenkbar, ist aber trotzdem eine Tatsache,
die ich bei diesem Typus oftmals erfahren habe.

Die merkwürdige Indifferenz des extravertierten Intuitiven inbezug
auf äussere Objekte, hat auch der introvertierte inbezug auf innere
Objekte. Wie der extravertierte Intuitive immerfort neue Möglichkeiten
wittert und diesen unbekümmert sowohl um das eigene wie um das Wohl
und Wehe der andern nachgeht, achtlos über menschliche Rücksichten
hinweg tritt und in ewiger Veränderungssucht kaum Erbautes wieder
niederreisst, so bewegt sich der introvertierte von Bild zu Bild, allen
Möglichkeiten des gebärenden Schosses des Unbewussten nachjagend, ohne
den Zusammenhang der Erscheinung mit sich herzustellen. Wie dem, der
die Welt bloss empfindet, sie nie zum moralischen Problem wird, so wird
auch dem Intuitiven die Welt der Bilder nie zum moralischen Problem.
Sie ist dem einen, wie dem andern _ein ästhetisches Problem_, eine
Frage der Wahrnehmung, eine „Sensation“. Auf diese Weise entschwindet
dem introvertierten Intuitiven das Bewusstsein seiner körperlichen
Existenz sowohl wie ihrer Wirkung auf andere. Der extravertierte
Standpunkt würde von ihm sagen: „die Wirklichkeit existiert nicht für
ihn, er hängt unfruchtbaren Träumereien nach“. Die Anschauung der
Bilder des Unbewussten, welche die schaffende Kraft in unerschöpflicher
Fülle erzeugt, ist allerdings in bezug auf unmittelbare Nützlichkeit
unfruchtbar. Insofern jedoch diese Bilder Möglichkeiten sind von
Auffassungen, welche der Energie gegebenenfalls ein neues Gefälle
zu verleihen vermögen, so ist auch diese Funktion, welche der
äusseren Welt die allerfremdeste ist, im psychischen Gesamthaushalt
unerlässlich, wie auch der entsprechende Typus dem psychischen Leben
eines Volkes keineswegs fehlen darf. Israel hätte seine Propheten
nicht gehabt, wenn dieser Typus nicht existierte. Die introvertierte
Intuition erfasst die Bilder, welche aus den a priori, d. h. infolge
Vererbung, vorhandenen Grundlagen des unbewussten Geistes stammen.
Diese Archetypen, deren innerstes Wesen der Erfahrung unzugänglich ist,
stellen den Niederschlag des psychischen Funktionierens der Ahnenreihe
dar, d. h. die durch millionenfache Wiederholung aufgehäuften und zu
Typen verdichteten Erfahrungen des organischen Daseins überhaupt. In
diesen Archetypen sind daher alle Erfahrungen vertreten, welche seit
Urzeit auf diesem Planeten vorgekommen sind. Sie sind im Archetypus
umso deutlicher, je häufiger und je intensiver sie waren. Die
Archetypus wäre, um mit _Kant_ zu reden, etwa das Noumenon des
Bildes, welches die Intuition wahrnimmt und im Wahrnehmen erzeugt. Da
das Unbewusste nun keineswegs etwas ist, das bloss daliegt wie ein
psychisches caput mortuum, sondern vielmehr etwas, das mitlebt und
innere Verwandlungen erfährt, Verwandlungen, die in innerer Beziehung
zum allgemeinen Geschehen überhaupt stehen, so gibt die introvertierte
Intuition durch die Wahrnehmung der innern Vorgänge gewisse Daten,
die von hervorragender Wichtigkeit für die Auffassung des allgemeinen
Geschehens sein können; sie kann sogar die neuen Möglichkeiten sowohl
wie das später tatsächlich Eintreffende in mehr oder weniger klarer
Weise voraussehen. Ihre prophetische Voraussicht ist erklärbar aus
ihrer Beziehung zu den Archetypen, welche den gesetzmässigen Ablauf
aller erfahrbaren Dinge darstellen.


_9. Der introvertierte intuitive Typus._

Die Eigenart der introvertierten Intuition schafft auch, wenn sie
das Primat erlangt, einen eigenartigen Typus Mensch, nämlich den
mystischen Träumer und Seher einerseits, den Phantasten und Künstler
andererseits. Der letztere Fall dürfte der Normalfall sein, denn
im allgemeinen besteht bei diesem Typus die Neigung, sich auf den
Wahrnehmungscharakter der Intuition zu beschränken. Der Intuitive
bleibt in der Regel beim Wahrnehmen, sein höchstes Problem ist das
Wahrnehmen, und -- insofern er ein produktiver Künstler ist -- die
Gestaltung der Wahrnehmung. Der Phantast aber begnügt sich mit der
Anschauung, durch die er sich gestalten, d. h. determinieren lässt. Die
Vertiefung der Intuition bewirkt natürlich eine oft ausserordentliche
Entfernung des Individuums von der handgreiflichen Wirklichkeit, sodass
er selbst seiner nähern Umgebung zum völligen Rätsel wird. Ist er ein
Künstler, so verkündet seine Kunst ausserordentliche, weltentrückte
Dinge, die in allen Farben schillern, bedeutend und banal, schön und
grotesk, erhaben und schrullenhaft zugleich sind. Ist er kein Künstler,
so ist er häufig ein verkanntes Genie, eine verbummelte Grösse, eine
Art weiser Halbnarr, eine Figur für „psychologische“ Romane.

Obschon es nicht ganz auf der Linie des introvertierten Intuitionstypus
liegt, die Wahrnehmung zu einem moralischen Problem zu machen, indem
dazu eine gewisse Verstärkung der urteilenden Funktionen nötig ist, so
genügt doch schon eine relativ geringe Differenzierung des Urteils, um
die Anschauung aus dem rein Ästhetischen ins Moralische überzuführen.
Dadurch entsteht eine Spielart dieses Typus, welche von seiner
ästhetischen Form wesentlich verschieden, für den introvertierten
Intuitiven aber trotzdem charakteristisch ist. Das moralische Problem
entsteht dann, wenn der Intuitive sich zu seiner Vision in Beziehung
setzt, wenn er sich nicht mehr mit der blossen Anschauung und ihrer
ästhetischen Bewertung und Gestaltung begnügt, sondern zu der Frage
gelangt: Was heisst das für mich oder für die Welt? Was geht daraus
hervor für mich oder für die Welt in Hinsicht einer Pflicht oder
Aufgabe? Der reine Intuitive, der das Urteil verdrängt oder ein solches
nur im Banne der Wahrnehmung besitzt, gelangt im Grunde genommen nie
zu dieser Frage, denn seine Frage ist nur das Wie der Wahrnehmung. Er
findet darum das moralische Problem unverständlich oder gar absurd
und verbannt darum das Denken über das Geschaute soviel wie möglich.
Anders der moralisch eingestellte Intuitive. Er beschäftigt sich mit
der Bedeutung seiner Vision, er kümmert sich weniger um ihre weitern
ästhetischen Möglichkeiten als vielmehr um ihre möglichen moralischen
Wirkungen, die aus ihrer inhaltlichen Bedeutung für ihn hervorgehen.
Sein Urteil lässt ihn, allerdings öfters nur dämmerhaft, erkennen, dass
er als Mensch, als Ganzes irgendwie in seine Vision einbezogen ist,
dass sie etwas ist, das nicht bloss angeschaut werden kann, sondern
auch zum Leben des Subjektes werden möchte. Durch diese Erkenntnis
fühlt er sich verpflichtet, seine Vision in sein eigenes Leben
umzugestalten. Da er sich aber in der überwiegenden Hauptsache auf
die Vision allein stützt, so gerät sein moralischer Versuch einseitig;
er macht sich und sein Leben symbolisch, angepasst zwar an den innern
und ewigen Sinn des Geschehens, unangepasst aber an die gegenwärtige
tatsächliche Wirklichkeit. Damit beraubt er sich auch der Wirksamkeit
auf diese, denn er bleibt unverständlich. Seine Sprache ist nicht die,
die allgemein gesprochen wird, sondern eine zu subjektive. Seinen
Argumenten fehlt die überzeugende Ratio. Er kann nur bekennen oder
verkündigen. Er ist die Stimme des Predigers in der Wüste.

Der introvertierte Intuitive verdrängt die Empfindung des Objekts
am allermeisten. Dadurch ist sein Unbewusstes gekennzeichnet.
Im Unbewussten besteht eine compensierende extravertierte
Empfindungsfunktion von archaïschem Charakter. Die unbewusste
Persönlichkeit liesse sich daher am ehesten beschreiben als einen
extravertierten Empfindungstypus niedriger, primitiver Gattung.
Triebhaftigkeit und Masslosigkeit sind die Eigenschaften dieser
Empfindung, samt einer ausserordentlichen Gebundenheit an den
sinnlichen Eindruck. Diese Qualität compensiert die dünne Höhenluft der
bewussten Einstellung und gibt ihr eine gewisse Schwere, sodass eine
völlige „Sublimierung“ verhindert wird. Tritt aber durch eine forcierte
Übertreibung der bewussten Einstellung eine völlige Unterordnung
unter die innere Wahrnehmung ein, so begibt sich das Unbewusste
in die Opposition, und es entstehen dann Zwangsempfindungen mit
übermässiger Gebundenheit ans Objekt, welche der bewussten Einstellung
widerstreben. Die Neurosenform ist eine Zwangsneurose, die als Symptome
teils hypochondrische Erscheinungen, teils Überempfindlichkeit der
Sinnesorgane, teils Zwangsbindungen an bestimmte Personen oder andere
Objekte aufweist.


_10. Zusammenfassung der irrationalen Typen._

Die beiden eben geschilderten Typen sind einer äusserlichen Beurteilung
fast unzugänglich. Da sie introvertiert sind und infolgedessen eine
geringere Fähigkeit oder Willigkeit zur Äusserung haben, so geben
sie nur wenig Handhaben zu einer treffenden Beurteilung. Da ihre
Haupttätigkeit sich nach innen richtet, so ist aussen nichts als
Zurückhaltung, Verstecktheit, Teilnahmlosigkeit oder Unsicherheit
und anscheinend unbegründete Verlegenheit sichtbar. Wenn sich etwas
äussert, so sind es meistenteils indirekte Manifestationen der
minderwertigen und relativ unbewussten Funktionen. Äusserungen solcher
Art bedingen natürlich ein Vorurteil der Umgebung gegen diese Typen.
Infolgedessen werden sie meistenteils unterschätzt oder zum mindesten
nicht begriffen. In dem Masse, als diese Typen sich selber nicht
begreifen, da ihnen eben das Urteil in hohem Masse fehlt, so können sie
auch nicht verstehen, warum sie beständig von der öffentlichen Meinung
unterschätzt werden. Sie sehen nämlich nicht ein, dass ihre nach aussen
gehende Leistung auch tatsächlich von minderwertiger Beschaffenheit
ist. Ihr Blick ist gebannt vom Reichtum der subjektiven Ereignisse. Was
immer geschieht, ist dermassen fesselnd und von solch unerschöpflichem
Reiz, dass sie gar nicht bemerken, dass das, was sie davon der Umgebung
mitteilen, in der Regel nur höchst wenig von dem enthält, was sie in
ihnen selbst als damit verbunden, erleben. Der fragmentarische und
meist bloss episodische Charakter ihrer Mitteilungen stellt zu hohe
Anforderungen an das Verständnis und an die Bereitwilligkeit der
Umgebung, zudem fehlt ihrer Mitteilung eine dem Objekt zufliessende
Wärme, welche einzig überzeugende Kraft haben könnte. Im Gegenteil
zeigen diese Typen sehr oft ein barsch abweisendes Verhalten gegen
aussen, obschon ihnen dies gar nicht bewusst ist, und sie es auch nicht
zu zeigen beabsichtigen. Man wird solche Menschen gerechter beurteilen
und mit mehr Nachsicht umgeben, wenn man weiss, wie schwer sich das,
was innerlich erschaut wird, in eine verständliche Sprache übertragen
lässt. Immerhin darf diese Nachsicht keineswegs so weit gehen, dass
man ihnen die Anforderung der Mitteilung überhaupt erliesse. Dies
würde solchen Typen zum grössten Schaden gereichen. Das Schicksal
selber bereitet ihnen, vielleicht noch öfters als andern Menschen,
überwältigende äussere Schwierigkeiten, die sie vom Rausche der innern
Anschauung zu ernüchtern vermögen. Es muss aber oft eine grosse Not
sein, die ihnen die menschliche Mitteilung endlich abpresst.

Von einem extravertierten und rationalistischen Standpunkt aus sind
diese Typen wohl die allerunnützlichsten aller Menschen. Von einem
hohem Standpunkt aus gesehen, sind solche Menschen lebendige Zeugen
für die Tatsache, dass die reiche und vielbewegte Welt und ihr
überquellendes und berauschendes Leben nicht nur aussen, sondern
auch innen ist. Gewiss sind diese Typen einseitige Demonstrationen
der Natur, aber sie sind lehrreich für den, der sich nicht von der
jeweiligen geistigen Mode verblenden lässt. Menschen von solcher
Einstellung sind Kulturförderer und Erzieher in ihrer Art. Ihr
Leben lehrt mehr, als was sie sagen. Wir verstehen aus ihrem Leben
und nicht zum mindesten gerade aus ihrem grössten Fehler, ihrem
Nichtmitteilenkönnen, einen der grossen Irrtümer unserer Kultur,
nämlich den Aberglauben an das Sagen und Darstellen, die masslose
Überschätzung des Belehrens durch Worte und durch Methoden. Ein Kind
lässt sich gewiss imponieren durch die grossen Worte der Eltern. Aber
man scheint sogar zu glauben, dass das Kind damit erzogen werde. In
Wirklichkeit erzieht das, was die Eltern leben, das Kind, und was die
Eltern noch an Wortgesten dazufügen, verwirrt das Kind höchstens. Das
Gleiche gilt vom Lehrer. Aber man glaubt so sehr an die Methoden, dass,
wenn nur die Methode gut ist, auch der Lehrer, der sie ausübt, dadurch
geheiligt erscheint. Ein minderwertiger Mensch ist niemals ein guter
Lehrer. Er verbirgt aber seine schädliche Minderwertigkeit, welche den
Schüler heimlich vergiftet, hinter einer ausgezeichneten Methodik und
einer ebenso glänzenden intellektuellen Ausdrucksfähigkeit. Natürlich
verlangt der Schüler von reiferem Alter nichts Besseres als die
Kenntnis der nützlichen Methoden, weil er der allgemeinen Einstellung,
welche an die siegreiche Methode glaubt, schon erlegen ist. Er hat
bereits erfahren, dass der leerste Kopf, der eine Methode gut nachbeten
kann, der beste Schüler ist. Seine ganze Umgebung redet und lebt es
ihm vor, dass aller Erfolg und alles Glück aussen ist, und dass man
nur der richtigen Methoden bedürfe, um das Gewünschte zu erreichen.
Oder demonstriert ihm etwa das Leben seines Religionslehrers jenes
Glück, das vom Reichtum, der innern Anschauung ausstrahlt? Gewiss
sind die irrationalen introvertierten Typen keine Lehrer vollendeter
Menschlichkeit. Ihnen fehlt die Vernunft und die Ethik der Vernunft;
aber ihr Leben lehrt die andere Möglichkeit, die unsere Kultur
schmerzlicherweise vermissen lässt.

11. Durch die vorangegangenen Beschreibungen möchte ich keineswegs
den Eindruck erwecken, als ob diese Typen in solcher Reinheit
irgendwie häufiger in praxi vorkämen. Es sind gewissermassen nur
_Galton_sche Familienphotographien, welche den gemeinsamen,
und deshalb typischen Zug kumulieren und dadurch unverhältnismässig
herausheben, während die individuellen Züge ebenso unverhältnismässig
verwischt werden. Die genaue Untersuchung des individuellen Falles
ergibt die offenbar gesetzmässige Tatsache, dass neben der am meisten
differenzierten Funktion stets eine zweite Funktion von sekundärer
Bedeutung und darum von minderer Differenzierung im Bewusstsein
vorhanden und relativ determinierend ist. Um es aus Gründen der
Klarheit nochmals zu wiederholen: bewusst können die Produkte aller
Funktionen sein; wir sprechen aber nur dann von Bewusstheit einer
Funktion, wenn nicht nur ihre Ausübung dem Willen zur Verfügung
steht, sondern auch ihr Prinzip für die Orientierung des Bewusstseins
massgebend ist. Letzteres aber ist dann der Fall, wenn z. B. das Denken
nicht nur ein nachhinkendes Überlegen und Ruminieren ist, sondern wenn
sein Schliessen eine absolute Gültigkeit besitzt, sodass der logische
Schluss gegebenenfalls ohne irgendwelche andere Evidenz als Motiv
sowohl wie als Garantie des praktischen Handelns gilt. Diese absolute
Vormachtstellung kommt empirisch immer nur einer Funktion zu und kann
nur einer Funktion zukommen, denn die ebenso selbständige Intervention
einer andern Funktion würde notwendigerweise eine andere Orientierung
ergeben, welche der erstern, teilweise wenigstens, widersprechen würde.
Da es aber eine vitale Bedingung für den bewussten Anpassungsprozess
ist, stets klare und eindeutige Ziele zu haben, so verbietet sich
naturgemäss eine Gleichordnung einer zweiten Funktion. Die zweite
Funktion kann daher nur von sekundärer Bedeutung sein, was sich auch
empirisch stets bestätigt. Ihre sekundäre Bedeutung besteht darin, dass
sie nicht wie die primäre Funktion gegebenenfalls einzig und allein als
absolut verlässlich sowohl, wie als ausschlaggebend gilt, sondern mehr
als Hilfs- oder Ergänzungsfunktion in Betracht kommt. Als sekundäre
Funktion kann natürlich nur eine solche auftreten, deren Wesen nicht im
Gegensatz zur Hauptfunktion steht. Z. B. kann neben dem Denken niemals
das Fühlen als zweite Funktion auftreten, denn sein Wesen steht zu sehr
im Gegensatz zu dem des Denkens. Das Denken muss das Fühlen sorgfältig
ausschliessen, wenn anders es ein wirkliches, seinem Prinzip
getreues Denken sein will. Dies schliesst natürlich nicht aus, dass
es Individuen gibt, denen das Denken auf gleicher Höhe wie das Fühlen
steht, wobei beide von gleicher bewusster Motivkraft sind. In einem
solchen Falle handelt es sich aber auch nicht um einen differenzierten
Typus, sondern um ein relativ unentwickeltes Denken und Fühlen. Die
gleichmässige Bewusstheit und Unbewusstheit der Funktionen ist daher
ein Kennzeichen des primitiven Geisteszustandes.

Die sekundäre Funktion ist erfahrungsgemäss immer eine solche, deren
Wesen anders, aber nicht gegensätzlich zur Hauptfunktion ist, also
z. B. kann sich ein Denken als Hauptfunktion leicht mit Intuition
als sekundärer Funktion paaren, oder auch ebenso gut mit Empfindung,
aber, wie gesagt, niemals mit Fühlen. Die Intuition sowohl, wie die
Empfindung sind nicht gegensätzlich zum Denken, d. h. sie müssen
nicht unbedingt ausgeschlossen werden, denn sie sind dem Denken
nicht wesensähnlich in umgekehrtem Sinne wie das Fühlen, welches als
Urteilsfunktion mit dem Denken erfolgreich konkurriert, sondern sie
sind Wahrnehmungsfunktionen, welche dem Denken willkommene Hilfe
gewähren. Sobald sie daher auf eine dem Denken gleiche Höhe der
Differenzierung gelangten, würden sie eine Veränderung der Einstellung
bedingen, die der Tendenz des Denkens widerspräche. Sie würden nämlich
aus der urteilenden Einstellung eine wahrnehmende machen. Dadurch würde
das dem Denken unerlässliche Prinzip der Rationalität unterdrückt zu
Gunsten der Irrationalität des blossen Wahrnehmens. Die Hilfsfunktion
ist daher nur insofern möglich und nützlich, als sie der Hauptfunktion
_dient_, ohne dabei einen Anspruch auf die Autonomie ihres
Prinzipes zu erheben.

Für alle praktisch vorkommenden Typen nun gilt der Grundsatz, dass
sie neben der bewussten Hauptfunktion noch eine relativ bewusste,
auxiliäre Funktion besitzen, welche in jeder Hinsicht vom Wesen
der Hauptfunktion verschieden ist. Aus diesen Mischungen entstehen
wohlbekannte Bilder, z. B. der praktische Intellekt, der mit Empfindung
gepaart ist, der spekulative Intellekt, der mit Intuition durchsetzt
ist, die künstlerische Intuition, welche mittelst des Gefühlsurteils
ihre Bilder auswählt und darstellt, die philosophische Intuition, die
vermöge eines kräftigen Intellektes ihre Vision in die Sphäre des
Verstehbaren übersetzt usw.

Entsprechend dem bewussten Funktionsverhältnis gestaltet sich auch die
unbewusste Funktionsgruppierung. So entspricht z. B. einem bewussten
praktischen Intellekt eine unbewusste intuitiv-fühlende Einstellung,
wobei die Funktion des Fühlens von einer relativ stärkern Hemmung
betroffen ist, als die Intuition. Diese Eigentümlichkeit hat allerdings
nur Interesse für den, der sich mit der praktischen psychologischen
Behandlung solcher Fälle beschäftigt. Für diesen aber ist es wichtig,
darum zu wissen. Ich habe es nämlich öfters gesehen, dass der Arzt sich
bemühte, z. B. bei einem exquisit Intellektuellen die Fühlfunktion
direkt aus dem Unbewussten zu entwickeln. Dieser Versuch dürfte wohl
immer scheitern, denn er bedeutet eine zu grosse Vergewaltigung des
bewussten Standpunktes. Gelingt die Vergewaltigung, so entsteht dadurch
eine förmliche Zwangsabhängigkeit des Patienten vom Arzt, eine nur
noch mit Brutalität abzuschneidende „Übertragung“, denn durch die
Vergewaltigung wird der Patient standpunktlos, d. h. sein Arzt wird
sein Standpunkt. Der Zugang zum Unbewussten und zu der am meisten
verdrängten Funktion aber erschliesst sich sozusagen von selbst und mit
genügender Wahrung des bewussten Standpunktes, wenn der Entwicklungsweg
über die sekundäre Funktion geht, also im Falle eines rationalen Typus
über die irrationale Funktion. Diese nämlich verleiht dem bewussten
Standpunkt eine solche Um- und Übersicht über das Mögliche und
Vorkommende, dass dadurch das Bewusstsein einen genügenden Schutz gegen
die destruktive Wirkung des Unbewussten bekommt. Umgekehrt verlangt
ein irrationaler Typus eine stärkere Entwicklung der im Bewussten
vertretenen rationalen Hilfsfunktion, um genügend vorbereitet zu sein,
den Stoss des Unbewussten aufzufangen.

Die unbewussten Funktionen befinden sich in einem
archaïsch-animalischen Zustand. Ihre in Träumen und Phantasien
auftretenden symbolischen Ausdrücke stellen meistens den Kampf oder das
Gegenübertreten zweier Tiere oder zweier Monstren dar.



XI

Definitionen.



XI.

Definitionen.


Es mag dem Leser vielleicht überflüssig erscheinen, wenn ich ein
besonderes Kapitel über Begriffsdefinitionen dem Texte meiner
Untersuchung anfüge. Ich habe aber reichlich die Erfahrung gemacht,
dass gerade in psychologischen Arbeiten man gar nicht sorgfältig
genug mit Begriffen und Ausdrücken verfahren kann, indem gerade
im Gebiete der Psychologie, wie sonst nirgends, die allergrössten
Variationen der Begriffe vorkommen, welche häufig zu den hartnäckigsten
Missverständnissen Anlass geben. Dieser Übelstand scheint nicht
allein daher zu rühren, dass die Psychologie eine junge Wissenschaft
ist, sondern auch daher, dass der Erfahrungsstoff, das Material der
wissenschaftlichen Betrachtung, sozusagen nicht concret unter die Augen
des Lesers gelegt werden kann. Der psychologische Forscher sieht sich
immer wieder gezwungen, die von ihm beobachtete Wirklichkeit durch
weitläufige und sozusagen indirekte Beschreibung darzustellen. Nur
soweit mit Zahl und Mass zugängliche Elementartatsachen mitgeteilt
werden, kann auch von einer direkten Darstellung die Rede sein. Aber
wieviel von der wirklichen Psychologie des Menschen wird als durch Mass
und Zahl erfassbare Tatsache erlebt und beobachtet? Es giebt solche
Tatbestände, und ich glaube gerade durch meine Associationsstudien[306]
nachgewiesen zu haben, dass noch recht komplizierte Tatbestände einer
messenden Methode zugänglich sind. Aber wer tiefer in das Wesen
der Psychologie eingedrungen ist und die höhere Anforderung an die
Psychologie als Wissenschaft stellt, nämlich, dass sie nicht bloss eine
durch die Grenzen der naturwissenschaftlichen Methodik beschränkte
kümmerliche Existenz fristen darf, der wird auch erkannt haben, dass es
nie und nimmer einer experimentellen Methodik gelingen wird, dem Wesen
der menschlichen Seele gerecht zu werden, ja auch nur ein annähernd
getreues Bild der komplizierten seelischen Erscheinungen zu entwerfen.

Wenn wir aber das Gebiet der durch Mass und Zahl erfassbaren
Tatbestände verlassen, so sind wir auf _Begriffe_ angewiesen,
welche uns Mass und Zahl ersetzen müssen. Die Bestimmtheit, die Mass
und Zahl der beobachteten Tatsache verleihen, kann nur ersetzt werden
durch die _Bestimmtheit des Begriffes_. Nun leiden aber, wie
es jedem Forscher und Arbeiter auf diesem Gebiet nur zu gut bekannt
ist, die derzeit geläufigen psychologischen Begriffe an so grosser
Unbestimmtheit und Vieldeutigkeit, dass man sich gegenseitig kaum
verständigen kann. Man nehme nur einmal den Begriff „Gefühl“ und suche
sich zu vergegenwärtigen, was alles unter diesem Begriff geht, um eine
Vorstellung von der Variabilität und Vieldeutigkeit psychologischer
Begriffe zu bekommen. Und doch ist irgend etwas Charakteristisches
damit ausgedrückt, das zwar für Mass und Zahl unzugänglich und doch
fassbar existierend ist. Man kann nicht einfach darauf verzichten, wie
es _Wundts_ physiologische Psychologie tut, diese Tatbestände als
wesentliche Grundphänomene zu leugnen und sie durch Elementarfacta zu
ersetzen oder sie in solche aufzulösen. Damit geht ein hauptsächliches
Stück Psychologie geradezu verloren.

Um diesem durch die Überschätzung der naturwissenschaftlichen Methodik
erzeugten Übelstand zu entgehen, ist man genötigt, zu festen Begriffen
seine Zuflucht zu nehmen. Um solche Begriffe zu erlangen, bedarf es
allerdings der Arbeit Vieler, gewissermassen des consensus gentium.
Da dies aber nicht ohne weiteres und namentlich nicht sofort möglich
ist, so muss der einzelne Forscher wenigstens sich bemühen, seinen
Begriffen einige Festigkeit und Bestimmtheit zu verleihen, was wohl am
besten dadurch geschieht, dass er die Bedeutung der von ihm jeweilig
verwendeten Begriffe erörtert, sodass jedermann in den Stand gesetzt
ist, zu sehen, was mit ihnen gemeint ist.

Diesem Bedürfnis entsprechend, möchte ich im folgenden meine
hauptsächlichsten psychologischen Begriffe in alphabetischer
Reihenfolge erörtern. Zugleich möchte ich den Leser bitten, im
Zweifelsfalle sich dieser Erklärungen erinnern zu wollen. Es ist
selbstverständlich, dass ich mit diesen Erklärungen und Definitionen
mich nur darüber ausweisen will, in welchem Sinne ich mich der Begriffe
bediene, womit ich aber keineswegs sagen möchte, dass dieser Gebrauch
unter allen Umständen der einzig mögliche, oder unbedingt richtige wäre.

1. =Abstraktion=. Abstraktion ist, wie das Wort schon andeutet,
ein Heraus- oder Wegziehen eines Inhaltes (einer Bedeutung, eines
allgemeinen Merkmals etc.) aus einem Zusammenhang, der noch andere
Elemente enthält, deren Kombination als Ganzes etwas Einmaliges oder
Individuelles und darum etwas Unvergleichbares ist. Die Einmaligkeit,
Einzigartigkeit und Unvergleichbarkeit hindern die Erkenntnis, weshalb
dem Erkennenwollen die mit dem als wesentlich empfundenen Inhalt
verbundenen übrigen Elemente als unzugehörig erscheinen müssen.

Die Abstraktion ist daher diejenige Geistestätigkeit, welche den als
wesentlich empfundenen Inhalt oder Tatbestand aus seiner Verknüpfung
mit den als unzugehörig empfundenen Elementen befreit, indem sie
ihn davon unterscheidet, mit andern Worten _differenziert (s. d.).
Abstrakt_ im weitern Sinne ist alles, was aus seiner Verknüpfung mit in
Hinsicht auf seine Bedeutung als unzugehörig Empfundenem herausgezogen
ist.

Die Abstraktion ist eine Tätigkeit, welche den psychologischen
Funktionen überhaupt eignet. Es gibt ein abstrahierendes _Denken_,
ein ebensolches _Fühlen_, _Empfinden_ und _Intuieren_ (s. diese
Begriffe). Das abstrahierende Denken hebt einen durch denkgemässe,
logische Eigenschaften gekennzeichneten Inhalt aus dem Nichtzugehörigen
heraus. Das abstrahierende Fühlen tut dasselbe mit einem gefühlsmässig
charakterisierten Inhalt, ebenso Empfindung und Intuition. Es gibt
daher ebensowohl abstrakte Gedanken, wie abstrakte Gefühle, welch
letztere von _Sully_ als intellektuelle, ästhetische und moralische
bezeichnet werden.[307] _Nahlowsky_ fügt das religiöse Gefühl noch
dazu. Die abstrakten Gefühle würden den „höhern“ oder „ideellen“
Gefühlen _Nahlowskys_[308] in meiner Auffassung entsprechen. Die
abstrakten Gefühle setze ich auf gleiche Linie mit den abstrakten
Gedanken. Die abstrakte Empfindung wäre als ästhetische Empfindung
zu bezeichnen, im Gegensatz zur sinnlichen Empfindung (s. Empf.).
Die abstrakte Intuition als symbolische Intuition im Gegensatz zur
phantastischen Intuition (s. Phantasie und Intuition).

In dieser Arbeit verknüpfe ich mit dem Begriff der Abstraktion auch
zugleich die Anschauung eines damit verbundenen psychoenergetischen
Vorganges: Wenn ich mich zum Objekt abstrahierend einstelle, so lasse
ich das Objekt nicht als Ganzes auf mich wirken, sondern ich hebe
einen Teil desselben aus seinen Verknüpfungen heraus, indem ich die
nichtzugehörigen Teile ausschliesse. Meine Absicht ist, mich des
Objektes als eines einmaligen und einzigartigen Ganzen zu entledigen
und nur einen Teil desselben herauszuziehen. Die Anschauung des Ganzen
ist mir zwar gegeben, aber ich vertiefe mich in diese Anschauung nicht,
mein Interesse fliesst nicht in das Ganze ein, sondern zieht sich
vom Objekt als Ganzem mit dem herausgehobenen Teil auf mich zurück,
d. h. in meine Begriffswelt, welche zum Behufe der Abstraktion eines
Teiles des Objektes bereit gestellt oder konstelliert ist. (Anders als
vermöge einer subjektiven Begriffskonstellation kann ich vom Objekt
nicht abstrahieren.) Das „Interesse“ fasse ich als Energie = Libido
(s. d.), welche ich dem Objekt als Wert erteile, oder welche das
Objekt auch eventuell gegen meinen Willen oder mir unbewusst auf sich
zieht. Ich veranschauliche mir daher den Abstraktionsvorgang als eine
Zurückziehung der Libido vom Objekt, als ein Rückströmen des Wertes vom
Objekt zum subjektiven abstrakten Inhalt. Die Abstraktion bedeutet mir
also eine energetische _Objektentwertung_. Die Abstraktion ist,
m. a. W. ausgedrückt, eine introvertierende Libidobewegung.

_Abstrahierend_ nenne ich eine _Einstellung_ (s. d.), wenn sie
einerseits introvertierend ist und andererseits zugleich einen als
wesentlich empfundenen Teil des Objektes den im Subjekt bereit
gestellten abstrakten Inhalten assimiliert. Je abstrakter ein Inhalt
ist, desto _unvorstellbarer_ ist er. Ich schliesse mich _Kants_
Auffassung an, nach welcher ein Begriff umso abstrakter ist, „je mehr
Unterschiede der Dinge aus ihm weggelassen sind“[309], in dem Sinne,
dass die Abstraktion in ihrem höchsten Grade sich vom Objekt absolut
entfernt und damit zur äussersten Unvorstellbarkeit gelangt, welches
Abstraktum ich als _Idee_ bezeichne (s. Idee). Umgekehrt ist ein
Abstraktum, das noch Vorstellbarkeit oder Anschaulichkeit besitzt, ein
concreter Begriff (s. Concretismus).

2. =Affektivität.= Affektivität ist ein Begriff, den _Bleuler_
geprägt hat. Affektivität bezeichnet und fasst zusammen „nicht nur
die Affekte im eigentlichen Sinne, sondern auch die leichten Gefühle
oder Gefühlstöne der Lust und Unlust“.[310] _Bleuler_ unterscheidet
von der Affektivität einerseits die Sinnesempfindungen und die
sonstigen Körperempfindungen, andererseits die „Gefühle“, insofern
sie innere Wahrnehmungsvorgänge (z. B. Gefühl der Gewissheit, der
Wahrscheinlichkeit) und insofern sie unklare Gedanken oder Erkenntnisse
sind.[311]

3. =Affekt.= Unter Affekt ist ein Gefühlszustand zu verstehen,
der einerseits durch merkbare Körperinnervation, andererseits durch
eine eigentümliche Störung des Vorstellungsablaufes gekennzeichnet
ist.[312] Mit Affekt als synonym gebrauche ich _Emotion_. Ich
unterscheide -- im Gegensatz zu _Bleuler_ (s. Affektivität)
-- das _Gefühl_ vom Affekt, obschon sein Übergang zum Affekt
fliessend ist, indem jedes Gefühl, wenn es eine gewisse Stärke
erlangt, Körperinnervationen auslöst und damit zum Affekt wird. Aus
praktischen Gründen aber wird man gut daran tun, Affekt von Gefühl zu
unterscheiden, indem das Gefühl eine willkürlich disponible Funktion
sein kann, während der Affekt dies in der Regel nicht zu sein pflegt.
Ebenso zeichnet sich der Affekt vor dem Gefühl deutlich durch die
merkbare Körperinnervation aus, während dem Gefühl diese Innervationen
grösstenteils fehlen oder von solch geringer Intensität sind, dass sie
bloss mit sehr feinen Instrumenten nachzuweisen sind, z. B. durch
das psychogalvanische Phänomen.[313] Der Affekt kumuliert sich durch
die Empfindung der von ihm ausgelösten Körperinnervationen. Diese
Wahrnehmung gab Anlass zur _James-Lange_schen Affekttheorie,
welche den Affekt überhaupt aus den Körperinnervationen ursächlich
ableitet. Dieser extremen Auffassung gegenüber fasse ich den Affekt
einerseits als einen psychischen Gefühlszustand, andererseits als einen
physiologischen Innervationszustand auf, welche beide wechselseitig
kumulierend aufeinanderwirken, d. h. dem verstärkten Gefühl gesellt
sich eine Empfindungskomponente, durch welche der Affekt mehr den
Empfindungen (s. d.) angenähert und vom Gefühlszustand wesentlich
unterschieden wird. Ich rechne ausgesprochene, d. h. durch heftige
Körperinnervationen begleitete Affekte nicht dem Gebiete der
Fühlfunktion, sondern dem Gebiete der Empfindungsfunktion zu (s.
Funktion).

4. =Apperception.= Apperception ist ein psychischer Vorgang, durch
den ein neuer Inhalt ähnlichen, schon vorhandenen Inhalten dermassen
angegliedert wird, dass man ihn als verstanden, aufgefasst oder als
klar bezeichnet.[314] Man unterscheidet eine _aktive_ und eine
_passive_ Apperception; erstere ist ein Vorgang, bei welchem das
Subjekt von sich aus, aus eigenen Motiven bewusst einen neuen Inhalt
mit Aufmerksamkeit erfasst und an andere Inhalte, die in Bereitschaft
stehen, assimiliert; letztere ist ein Vorgang, bei dem ein neuer Inhalt
von aussen (durch die Sinne) oder von innen (aus dem Unbewussten) sich
dem Bewusstsein aufdrängt und die Aufmerksamkeit und Auffassung sich
gewissermassen erzwingt. In ersterm Fall liegt der Akzent der Tätigkeit
beim Ich, in letzterm bei dem sich andrängenden neuen Inhalt.

5. =Archaïsmus.= Mit A. bezeichne ich den _altertümlichen_
Charakter psychischer Inhalte und Funktionen. Es handelt sich
dabei nicht um archaïstische, d. h. nachgeahmte Altertümlichkeit,
wie sie z. B. spätrömische Bildwerke oder die „Gothik“ des XIX.
Jahrhunderts aufweisen, sondern um Eigenschaften, die den Charakter des
_Reliktes_ haben. Als solche Eigenschaften sind alle diejenigen
psychologischen Züge zu bezeichnen, welche im wesentlichen mit den
Eigenschaften der primitiven Mentalität übereinstimmen. Es ist klar,
dass der A. in erster Linie den Phantasien des Unbewussten anhaftet,
d. h. den das Bewusstsein erreichenden Produkten der unbewussten
Phantasietätigkeit. Die Qualität des Bildes ist dann archaïsch, wenn
es unverkennbare mythologische Parallelen hat.[315] Archaïsch sind die
Analogieassociationen der unbewussten Phantasie, ebenso ihr Symbolismus
(s. Symbol.). A. ist die Identitätsbeziehung zum Objekt, (s. Identität)
die „participation mystique“ (s. d.). A. ist der Concretismus
des Denkens und des Fühlens. A. ist ferner der Zwang und die
Unfähigkeit zur Selbstbeherrschung (das Hingerissensein). A. ist das
Verschmolzensein der psychologischen Funktionen (s. Differenzierung)
miteinander, z. B. Denken und Fühlen, Fühlen und Empfinden, Fühlen
und Intuition, auch das Verschmolzensein der Teile einer Funktion
(Audition coloriée), Ambitendenz und Ambivalenz (_Bleuler_), d. h.
Verschmolzensein mit dem Gegenteil, z. B. Gefühl und Gegengefühl.

6. =Assimilation.= A. ist die Angleichung eines neuen
Bewusstseininhaltes an das in Bereitschaft stehende subjektive
Material[316], wobei besonders die Ähnlichkeit des neuen Inhaltes mit
dem bereitstehenden subjektiven Material hervorgehoben wird, event.
zu Ungunsten der selbständigen Qualität des neuen Inhaltes[317].
Die A. ist, im Grunde genommen, ein Apperceptionsvorgang (s.
Apperception), der sich aber von der reinen Apperception durch das
Element der Angleichung an das subjektive Material, unterscheidet. In
diesem Sinne sagt _Wundt_[318]: „Am augenfälligsten tritt diese
Bildungsweise (nämlich die A.) bei den Vorstellungen dann hervor, wenn
die assimilierenden Elemente durch Reproduktion, die assimilierten
durch einen unmittelbaren Sinneseindruck entstehen. Es werden dann
die Elemente von Erinnerungsbildern gewissermassen in das äussere
Objekt hineinverlegt, sodass, namentlich wenn das Objekt und die
reproduzierten Elemente erheblich voneinander abweichen, die vollzogene
Sinneswahrnehmung als eine Illusion erscheint, die uns über die
wirkliche Beschaffenheit der Dinge täuscht.“

Ich gebrauche A. in einem etwas erweiterten Sinne, nämlich als
Angleichung des Objektes an das Subjekt überhaupt und setze ihr
gegenüber die _Dissimilation_ als Angleichung des Subjektes an das
Objekt, und als Entfremdung des Subjektes von sich selber zu Gunsten
des Objektes, sei es ein äusseres Objekt oder ein „psychologisches“
Objekt, z. B. eine Idee.

7. =Bewusstsein.= Unter B. verstehe ich die Bezogenheit
psychischer Inhalte auf das Ich (s. Ich), soweit sie als solche vom
Ich empfunden wird[319]. Beziehungen zum Ich, soweit sie von diesem
nicht als solche empfunden werden, sind unbewusst (s. d.). Das
Bewusstsein ist die Funktion oder Tätigkeit[320], welche die Beziehung
psychischer Inhalte zum Ich unterhält. B. ist für mich nicht identisch
mit _Psyche_, indem Psyche mir die Gesamtheit aller psychischen
Inhalte darstellt, welche nicht notwendigerweise alle mit dem Ich
direkt verbunden, d. h. dermassen auf das Ich bezogen sind, dass
ihnen die Qualität der Bewusstheit zukäme. Es gibt eine Vielheit von
psychischen Komplexen, die nicht alle notwendigerweise mit dem Ich
verbunden sind.[321]

8. =Bild.= Wenn ich in dieser Arbeit von Bild spreche, so
meine ich damit nicht das psychische Abbild des äussern Objektes,
sondern vielmehr eine Anschauung, die dem poetischen Sprachgebrauch
entstammt, nämlich das _Phantasiebild_, welches sich nur indirekt
auf Wahrnehmung des äussern Objektes bezieht. Dieses Bild beruht
vielmehr auf unbewusster Phantasietätigkeit, als deren Produkt es
dem Bewusstsein mehr oder weniger abrupt erscheint, etwa in der
Art einer Vision oder Hallucination, ohne aber den pathologischen
Charakter einer solchen, d. h. die Zugehörigkeit zu einem klinischen
Krankheitsbilde zu besitzen. Das Bild hat den psychologischen Charakter
einer Phantasievorstellung und niemals den quasi Realcharakter der
Hallucination, d. h. es steht nie an Stelle der Wirklichkeit und wird
von sinnlicher Wirklichkeit als „inneres“ Bild stets unterschieden. In
der Regel ermangelt es auch jeder Projektion in den Raum, obschon in
Ausnahmefällen es auch gewissermassen von aussen erscheinen kann. Diese
Erscheinungsweise ist als _archaïsch_ (s. d.) zu bezeichnen, wenn
sie nicht in erster Linie pathologisch ist, was aber den archaischen
Charakter keineswegs aufhebt. Auf primitiver Stufe, d. h. in der
Mentalität des Primitiven verlegt sich das innere Bild leicht als
Vision oder Gehörshallucination in den Raum, ohne pathologisch zu sein.

Wenn schon in der Regel dem Bild kein Wirklichkeitswert zukommt, so
kann ihm doch unter Umständen eine umso grössere Bedeutung für das
seelische Erleben anhaften, d. h. ein grosser _psychologischer_
Wert, welcher eine innere „Wirklichkeit“ darstellt, die gegebenenfalls
die psychologische Bedeutung der „äussern“ Wirklichkeit überwiegt.
In diesem Fall ist das Individuum nicht nach Anpassung an die
Wirklichkeit, sondern nach Anpassung an die innere Forderung orientiert.

Das innere Bild ist eine komplexe Grösse, die sich aus den
verschiedensten Materialien von verschiedenster Herkunft zusammensetzt.
Es ist aber kein Konglomerat, sondern ein in sich einheitliches
Produkt, das seinen eigenen selbständigen Sinn hat. Das Bild ist
ein konzentrierter _Ausdruck der psychischen Gesamtsituation_,
nicht etwa bloss oder vorwiegend der unbewussten Inhalte schlechthin.
Es ist zwar ein Ausdruck unbewusster Inhalte, aber nicht aller
Inhalte überhaupt, sondern bloss der momentan konstellierten. Diese
Konstellation erfolgt einerseits durch die Eigentätigkeit des
Unbewussten, andererseits durch die momentane Bewusstseinslage, welche
immer zugleich auch die Aktivität zugehöriger subliminaler Materialien
anregt und die nicht zugehörigen hemmt. Dementsprechend ist das Bild
ein Ausdruck sowohl der unbewussten wie der bewussten momentanen
Situation. Die Deutung seines Sinnes kann also weder vom Bewusstsein
allein noch vom Unbewussten allein ausgehen, sondern nur von ihrer
wechselseitigen Beziehung.

Ich bezeichne das Bild als _urtümlich_[322], wenn es einen
archaischen Charakter hat. Von archaischem Charakter spreche ich
dann, wenn das Bild eine auffallende Übereinstimmung mit bekannten
mythologischen Motiven hat. In diesem Fall drückt es einerseits
überwiegend collektiv-unbewusste (s. d.) Materialien aus und
andererseits weist es darauf hin, dass die momentane Bewusstseinslage
weniger persönlich, als vielmehr collektiv beeinflusst ist.

Ein _persönliches_ B. hat weder archaïschen Charakter noch
collektive Bedeutung, sondern drückt persönlich-unbewusste Inhalte und
eine persönlich-bedingte Bewusstseinslage aus.

Das urtümliche B., das ich andernorts auch als „Archetypus“[323]
bezeichnet habe, ist immer collektiv, d. h. es ist mindestens
ganzen Völkern, oder Zeiten gemeinsam. Wahrscheinlich sind die
hauptsächlichsten mythologischen Motive allen Rassen und Zeiten
gemeinsam; so konnte ich eine Reihe von Motiven der griechischen
Mythologie in den Träumen und Phantasien von geisteskranken
reinrassigen Negern nachweisen.[324]

Das urtümliche Bild ist ein mnemischer Niederschlag, ein _Engramm_
(_Semon_), das durch Verdichtung unzähliger, einander ähnlicher
Vorgänge entstanden ist. Es ist in erster Linie und zunächst ein
Niederschlag und damit eine typische Grundform eines gewissen immer
wiederkehrenden seelischen Erlebens. Darum ist es als mythologisches
Motiv auch ein stets wirksamer und immer wieder auftretender
Ausdruck, welcher das gewisse seelische Erleben entweder wachruft
oder in passender Weise formuliert. Das urtümliche Bild ist wohl ein
psychischer Ausdruck einer physiologisch-anatomisch bestimmten Anlage.
Stellt man sich auf den Standpunkt, dass eine bestimmte anatomische
Struktur entstanden sei aus der Einwirkung der Umweltsbedingungen
auf den lebenden Stoff, so entspricht das urtümliche Bild in seinem
stetigen und allverbreiteten Vorkommen einer ebenso allgemeinen und
beständigen äussern Einwirkung, welche daher den Charakter eines
Naturgesetzes haben muss. Man könnte auf diese Weise den Mythus auf
die Natur beziehen (z. B. die Sonnenmythen auf das tägliche Auf-
und Untergehen der Sonne oder den ebenso sinnenfälligen Wechsel der
Jahreszeiten). Dabei bliebe aber die Frage übrig, warum dann nicht
einfach z. B. die Sonne und ihre scheinbaren Veränderungen direkt und
unverhüllt als Inhalt des Mythus aufträten. Die Tatsache, dass die
Sonne oder der Mond oder die meteorologischen Vorgänge zum mindesten
allegorisiert auftreten, weist uns aber auf eine selbständige Mitarbeit
der Psyche hin, welche also in diesem Falle keineswegs bloss ein
Produkt oder Abklatsch der Umweltsbedingungen sein kann. Denn woher
bezöge sie dann überhaupt die Fähigkeit zu einem Standpunkt ausserhalb
der Sinneswahrnehmung? Woher käme ihr dann überhaupt die Fähigkeit
zu, ein Mehreres oder Anderes zu leisten, als die Bestätigung des
Zeugnisses der Sinne? Wir müssen daher notgedrungen annehmen, dass
die gegebene Hirnstruktur ihr Sosein nicht bloss der Einwirkung der
Umweltsbedingungen verdankt, sondern ebensowohl auch der eigentümlichen
und selbständigen Beschaffenheit des lebenden Stoffes, d. h. also
einem mit dem Leben gegebenen Gesetze. Die gegebene Beschaffenheit des
Organismus ist daher ein Produkt einerseits der äussern Bedingungen
und andererseits der dem Lebendigen inhärenten Bestimmungen. Demgemäss
ist auch das urtümliche Bild einerseits unzweifelhaft auf gewisse
sinnenfällige und stets sich erneuernde und daher immer wirksame
Naturvorgänge zu beziehen, andererseits aber ebenso unzweifelhaft
auf gewisse innere Bestimmungen des geistigen Lebens und des Lebens
überhaupt. Dem Licht setzt der Organismus ein neues Gebilde, das
Auge, entgegen, und dem Naturvorgang setzt der Geist ein symbolisches
Bild entgegen, das den Naturvorgang ebenso erfasst, wie das Auge das
Licht. Und ebenso wie das Auge ein Zeugnis ist für die eigentümliche
und selbständige schöpferische Tätigkeit des lebenden Stoffes, so ist
auch das urtümliche Bild ein Ausdruck der eigenen und unbedingten,
erschaffenden Kraft des Geistes.

Das urtümliche Bild ist somit ein zusammenfassender Ausdruck des
lebendigen Prozesses. Es gibt den sinnlichen und innern geistigen
Wahrnehmungen, die zunächst ungeordnet und unzusammenhängend
erscheinen, einen ordnenden und verbindenden Sinn und befreit dadurch
die psychische Energie von der Bindung an die blosse und unverstandene
Wahrnehmung. Es bindet aber auch die durch Wahrnehmung der Reize
entfesselten Energien an einen bestimmten Sinn, der das Handeln in
die dem Sinn entsprechenden Bahnen leitet. Es löst unverwendbare,
aufgestaute Energie, indem es den Geist auf die Natur verweist, und
blossen Naturtrieb in geistige Formen überführt.

Das urtümliche Bild ist Vorstufe der _Idee_ (s. d.), es ist ihr
Mutterboden. Aus ihm entwickelt die Vernunft durch Ausscheidung des
dem urtümlichen Bild eigentümlichen und notwendigen Concretismus
(s. d.), einen Begriff -- eben die Idee -- der aber von allen andern
Begriffen sich dadurch unterscheidet, dass er der Erfahrung nicht
gegeben ist, und dass er sogar als aller Erfahrung zu Grunde liegend
erschlossen wird. Diese Eigenschaft hat die Idee vom urtümlichen Bild,
das als Ausdruck der spezifischen Hirnstruktur auch aller Erfahrung die
bestimmte Form erteilt.

Der Grad der psychologischen Wirksamkeit des urtümlichen Bildes wird
bestimmt durch die Einstellung des Individuums. Ist die Einstellung
überhaupt introvertiert, so ergibt sich natürlicherweise infolge
der Abziehung der Libido vom äussern Objekt eine erhöhte Betonung
des innern Objektes, des Gedankens. Daraus erfolgt eine besonders
intensive Entwicklung der Gedanken auf der durch das urtümliche Bild
unbewusst vorgezeichneten Linie. Auf diese Weise tritt das urtümliche
Bild zunächst indirekt in die Erscheinung. Die Weiterführung der
gedanklichen Entwicklung führt zur Idee, welche nichts anderes ist,
als das zur gedanklichen Formulierung gelangte urtümliche Bild. Über
die Idee hinaus führt nur die Entwicklung der Gegenfunktion, d. h. ist
die Idee intellektuell erfasst, so will sie auf das Leben wirken. Sie
zieht darum das Fühlen an, welches aber in diesem Falle weit weniger
differenziert und daher concretistischer ist als das Denken. Das Fühlen
ist daher unrein, und, weil undifferenziert, noch mit dem Unbewussten
verschmolzen. Das Individuum ist dann unfähig, dieses so beschaffene
Fühlen mit der Idee zu vereinigen. In diesem Falle tritt nun das
urtümliche Bild als _Symbol_ in das innere Blickfeld, erfasst
vermöge seiner concreten Natur einerseits das in undifferenziertem
concreten Zustand befindliche Fühlen, ergreift aber auch vermöge
seiner Bedeutung die Idee, deren Mutter es ja ist, und vereinigt so
die Idee mit dem Fühlen. Das urtümliche Bild tritt solchergestalt als
Mittler ein und beweist damit wiederum seine erlösende Wirksamkeit,
die es in den Religionen stets gehabt hat. Ich möchte daher das, was
_Schopenhauer_ von der Idee sagt, eher auf das urtümliche Bild
beziehen, indem, wie ich unter „Idee“ erläutert habe, die Idee nicht
ganz und durchaus als etwas Apriorisches, sondern eben auch als etwas
Abgeleitetes und Herausentwickeltes aufgefasst werden muss. Wenn ich
daher im, folgenden die Worte _Schopenhauers_ anführe, so bitte
ich den Leser, das Wort „Idee“ im Text jeweils durch „urtümliches
Bild“ ersetzen zu wollen, um zum Verständnis dessen zu gelangen, was
ich hier meine:

„Vom Individuo als solchem wird -- die Idee -- nie erkannt, sondern nur
von dem, der sich über alles Wollen und über alle Individualität zum
reinen Subjekt des Erkennens erhoben hat: also ist sie nur dem Genius
und sodann dem, welcher durch, meistens von den Werken des Genius
veranlasste, Erhöhung seiner reinen Erkenntniskraft, in einer genialen
Stimmung ist, erreichbar: daher ist sie nicht schlechthin, sondern nur
bedingt mitteilbar, indem die aufgefasste und (z. B.) im Kunstwerk
wiederholte Idee jedem nur nach Massgabe seines eigenen intellektualen
Wertes anspricht“, etc.

„Die Idee ist die, vermöge der Zeit- und Raumform unserer intuitiven
Apprehension in die Vielheit zerfallene Einheit.“

„Der Begriff gleicht einem toten Behältnis, in welchem, was man
hineingelegt hat, wirklich nebeneinander liegt, aus welchem sich aber
auch nicht mehr herausnehmen lässt, als man hineingelegt hat: die Idee
hingegen entwickelt in dem, welcher sie gefasst hat, Vorstellungen, die
in Hinsicht auf den ihr gleichnamigen Begriff neu sind: sie gleicht
einem lebendigen, sich entwickelnden, mit Zeugungskraft begabten
Organismus, welcher hervorbringt, was nicht in ihm eingeschachtelt
lag.“[325]

_Schopenhauer_ hat es klar erkannt, dass die „Idee“, d. h. das
urtümliche Bild nach meiner Definition, nicht erreicht werden kann auf
dem Wege, auf dem ein Begriff oder eine „Idee“ hergestellt wird („Idee“
nach _Kant_ ein „Begriff aus Notionen“[326]), sondern dass dazu
ein Element jenseits des formulierenden Verstandes gehört, etwa, wie
_Schopenhauer_ sagt, die „geniale Stimmung“, womit nichts anderes
als ein Gefühlszustand gemeint ist. Denn von der Idee gelangt man zum
urtümlichen Bild nur dadurch, dass der Weg, der zur Idee führte, über
den Höhepunkt der Idee hinaus in die Gegenfunktion fortgesetzt wird.

Das urtümliche Bild hat vor der Klarheit der Idee die Lebendigkeit
voraus. Es ist ein eigener lebender Organismus, „mit Zeugungskraft
begabt“, denn das urtümliche Bild ist eine vererbte Organisation der
psychischen Energie, ein festes System, welches nicht nur Ausdruck,
sondern auch Möglichkeit des Ablaufes des energetischen Prozesses
ist. Es charakterisiert einerseits die Art, wie der energetische
Prozess seit Urzeit immer wieder in derselben Weise abgelaufen ist
und ermöglicht zugleich auch immer wieder den gesetzmässigen Ablauf,
indem es eine Apprehension oder psychische Erfassung von Situationen
in solcher Art ermöglicht, dass dem Leben immer wieder eine weitere
Fortsetzung gegeben werden kann. Es ist somit das notwendige Gegenstück
zum _Instinkt_, der ein zweckmässiges Handeln ist, aber auch ein
ebenso sinnentsprechendes wie zweckmässiges Erfassen der jeweiligen
Situation voraussetzt. Diese Apprehension der gegebenen Situation
wird durch das a priori vorhandene Bild gewährleistet. Es stellt
die anwendbare Formel dar, ohne welche die Apprehension eines neuen
Tatbestandes unmöglich wäre.

9. =Collektiv.= Als collektiv bezeichne ich alle
diejenigen psychischen Inhalte, die nicht einem, sondern vielen
Individuen zugleich, d. h. also einer Gesellschaft, einem
Volke oder der Menschheit eigentümlich sind. Solche Inhalte
sind die von _Lévy-Bruhl_[327] beschriebenen „mystischen
Collektivvorstellungen“ (représentations collectives) der Primitiven,
ebenso die dem Kulturmenschen geläufigen _allgemeinen Begriffe_
von Recht, Staat, Religion, Wissenschaft usw. Aber es sind nicht nur
Begriffe und Anschauungen, die als collektiv zu bezeichnen sind,
sondern auch _Gefühle_. Lévy-Bruhl zeigt für die Primitiven,
wie ihre Collektivvorstellungen auch zugleich Collektivgefühle
darstellen. Um dieses collektiven Gefühlswertes willen bezeichnet er
die „représentations collectives“ auch als „mystiques“, weil diese
Vorstellungen nicht bloss intellektuell, sondern auch emotional
sind.[328] Beim Kulturmenschen verknüpfen sich mit gewissen collektiven
Begriffen auch collektive Gefühle, z. B. mit der collektiven Idee
Gottes oder des Rechtes oder des Vaterlandes etc. Der collektive
Charakter kommt nun nicht nur einzelnen psychischen Elementen oder
Inhalten zu, sondern auch ganzen Funktionen (s. d.). So kann z. B.
das Denken überhaupt als ganze Funktion collektiven Charakter haben,
insofern es nämlich ein allgemeingültiges, z. B. den Gesetzen der Logik
entsprechendes Denken ist. Ebenso kann das Fühlen als ganze Funktion
collektiv sein, insofern es z. B. mit dem allgemeinen Fühlen identisch
ist, m. a. W. den allgemeinen Erwartungen, z. B. dem allgemeinen
moralischen Bewusstsein usw. entspricht. Ebenso ist diejenige
Empfindung oder Empfindungsart und diejenige Intuition collektiv,
welche zugleich einer grössern Gruppe von Menschen eigentümlich ist.
Der Gegensatz zu collektiv ist _individuell_ (s. d.).

10. =Compensation= bedeutet _Ausgleichung oder
Ersetzung_. Der Begriff der Compensation wurde eigentlich von
_Adler_[329] in die Neurosenpsychologie eingeführt.[330] Er
versteht unter Compensation die funktionelle Ausgleichung des
Minderwertigkeitsgefühles durch ein compensierendes psychologisches
System, vergleichbar den compensierenden Organentwicklungen bei
Organminderwertigkeit[331]. So sagt _Adler_: „Mit der Loslösung
vom mütterlichen Organismus beginnt für diese minderwertigen Organe
und Organsysteme der Kampf mit der Aussenwelt, der notwendigerweise
entbrennen muss und mit grösserer Heftigkeit einsetzt als bei normal
entwickeltem Apparat. -- Doch verleiht der fötale Charakter zugleich
die erhöhte Möglichkeit der Compensation und Übercompensation,
steigert die Anpassungsfähigkeit an gewöhnliche und ungewöhnliche
Widerstände und sichert die Bildung von neuen und höhern Formen,
von neuen und höhern Leistungen.“ Das Minderwertigkeitsgefühl des
Neurotikers, das nach Adler ätiologisch einer Organminderwertigkeit
entspricht, gibt Anlass zu einer „Hilfskonstruktion“[332], eben einer
Compensation, welche in der Herstellung einer die Minderwertigkeit
ausgleichenden Fiktion besteht. Die Fiktion oder „fiktive Leitlinie“
ist ein psychologisches System, welches die Minderwertigkeit in eine
Mehrwertigkeit umzuwandeln sucht. Bedeutsam an dieser Auffassung ist
die erfahrungsgemäss nicht zu leugnende Existenz einer compensierenden
Funktion im Gebiete der psychologischen Vorgänge. Sie entspricht einer
ähnlichen Funktion auf physiologischem Gebiet, der Selbststeuerung
oder Selbstregulierung des Organismus. Während Adler seinen Begriff
der Compensation auf die Ausgleichung des Minderwertigkeitsgefühles
einschränkt, fasse ich den Begriff der Compensation allgemein als
funktionelle Ausgleichung, als Selbstregulierung des psychischen
Apparates[333]. In diesem Sinne fasse ich die Tätigkeit des
Unbewussten (s. d.) als Ausgleichung der durch die Bewusstseinsfunktion
erzeugten Einseitigkeit der allgemeinen Einstellung. Das Bewusstsein
wird von den Psychologen gerne dem Auge verglichen, man spricht von
einem Blickfeld und Blickpunkt des Bewusstseins. Mit diesem Vergleich
ist das Wesen der Bewusstseinsfunktion treffend charakterisiert: nur
wenige Inhalte können zugleich den höchsten Bewusstseinsgrad erreichen,
und nur eine beschränkte Anzahl von Inhalten kann sich zugleich im
Bewusstseinsfelde aufhalten. Die Tätigkeit des Bewusstseins ist
_auswählend_. Die Auswahl erfordert _Richtung_. Richtung
aber erfordert _Ausschliessung alles Nichtzugehörigen_. Daraus
muss jeweils eine gewisse Einseitigkeit der Bewusstseinsorientierung
entstehen. Die von der gewählten Richtung ausgeschlossenen und
gehemmten Inhalte verfallen zunächst dem Unbewussten, bilden aber wegen
ihrer effektiven Existenz doch ein Gegengewicht gegen die bewusste
Orientierung, das sich durch Vermehrung der bewussten Einseitigkeit
ebenfalls vermehrt und schliesslich zu einer merklichen Spannung führt.
Diese Spannung bedeutet eine gewisse Hemmung der bewussten Tätigkeit,
welche zwar zunächst durch vermehrte bewusste Anstrengung durchbrochen
werden kann. Aber auf die Dauer erhöht sich die Spannung derart, dass
die gehemmten unbewussten Inhalte sich dem Bewusstsein doch mitteilen
und zwar vermittelst der Träume und freisteigender Bilder. Je grösser
die Einseitigkeit der bewussten Einstellung ist, desto gegensätzlicher
sind die dem Unbewussten entstammenden Inhalte, sodass man von
einem eigentlichen Kontraste zwischen Bewusstsein und Unbewusstem
sprechen kann. In diesem Falle tritt die Compensation in Form einer
kontrastierenden Funktion auf. Dieser Fall ist extrem. In der Regel
ist die Compensation durch das Unbewusste kein Kontrast, sondern
eine Ausgleichung oder Ergänzung der bewussten Orientierung. Das
Unbewusste gibt z. B. im Traume alle diejenigen zur bewussten Situation
konstellierten, aber durch die bewusste Wahl gehemmten Inhalte, deren
Kenntnis dem Bewusstsein zu einer völligen Anpassung unerlässlich wäre.

Im Normalzustande ist die Compensation unbewusst, d. h. sie wirkt
unbewusst regulierend auf die bewusste Tätigkeit. In der Neurose
tritt das Unbewusste in so starken Kontrast zum Bewusstsein, dass die
Compensation gestört wird. Die analytische Therapie zielt daher auf
eine Bewusstmachung der unbewussten Inhalte, um auf diese Weise die
Compensation wieder herzustellen.

11. =Concretismus.= Unter dem Begriff des Concretismus
verstehe ich eine bestimmte Eigentümlichkeit des _Denkens_ und
_Fühlens_, welche den Gegensatz zur Abstraktion darstellt. Concret
heisst eigentlich „zusammengewachsen“. Ein concret gedachter Begriff
ist ein Begriff, der mit andern Begriffen verwachsen oder verschmolzen
vorgestellt wird. Ein solcher Begriff ist nicht abstrakt, nicht
abgesondert und an sich gedacht, sondern bezogen und vermischt. Er
ist kein differenzierter Begriff, sondern er steckt noch im sinnlich
vermittelten Anschauungsmaterial drin. Das concretistische Denken
bewegt sich in ausschliesslich concreten Begriffen und Anschauungen, es
ist stets auf die Sinnlichkeit bezogen. Ebenso ist das concretistische
Fühlen niemals von sinnlicher Bezogenheit abgesondert.

Das primitive Denken und Fühlen ist ausschliesslich concretistisch, es
ist immer auf die Sinnlichkeit bezogen. Der Gedanke des Primitiven hat
keine abgesonderte Selbständigkeit, sondern klebt an der materiellen
Erscheinung. Er erhebt sich höchstens zur Stufe der _Analogie_.
Ebenso ist das primitive Fühlen immer auf die materielle Erscheinung
bezogen. Denken und Fühlen beruhen auf der Empfindung und
unterscheiden sich nur wenig von ihr. Der Concretismus ist daher
ein Archaïsmus (s. d.). Der magische Einfluss des Fetisch wird nicht
als subjektiver Gefühlszustand erlebt, sondern als magische Wirkung
empfunden. Das ist Concretismus des Gefühls. Der Primitive erfährt
nicht den Gedanken der Gottheit als subjektiven Inhalt, sondern der
heilige Baum ist der Wohnsitz, ja der Gott selber. Das ist Concretismus
des Denkens. Beim Kulturmenschen besteht der Concretismus des Denkens
z. B. in der Unfähigkeit, etwas anderes zu denken, als sinnlich
vermittelte Tatsachen von unmittelbarer Anschaulichkeit, oder in der
Unfähigkeit, das subjektive Fühlen vom sinnlich gegebenen Objekt des
Fühlens zu unterscheiden.

Der Concretismus ist ein Begriff, der unter den allgemeinern Begriff
der „participation mystique“ (s. d.) fällt. Wie die „participation
mystique“ eine Vermischung des Individuums mit äussern Objekten
darstellt, so stellt der Concretismus eine Vermischung des Denkens
und Fühlens mit der Empfindung dar. Der Concretismus bedingt, dass
der Gegenstand des Denkens und Fühlens allemal zugleich auch ein
Gegenstand des Empfindens ist. Diese Vermischung verhindert eine
Differenzierung des Denkens und Fühlens und hält beide Funktionen in
der Sphäre der Empfindung, d. h. der sinnlichen Bezogenheit fest,
wodurch sie sich nie zu reinen Funktionen entwickeln können, sondern
stets im Gefolge der Empfindung bleiben. Dadurch entsteht ein Vorwiegen
des Empfindungsfaktors in der psychologischen Orientierung. (Über die
Bedeutung des Empfindungsfaktors siehe „Empfindung“ und „Typen“.)

Der Nachteil des Concretismus ist die Gebundenheit der Funktion an
die Empfindung. Da die Empfindung Wahrnehmung physiologischer Reize
ist, so hält der Concretismus die Funktion entweder in der sinnlichen
Sphäre fest oder führt sie immer wieder dahin zurück. Damit ist
eine sinnliche Gebundenheit der psychologischen Funktionen bewirkt,
welche die psychische Selbständigkeit des Individuums verhindert zu
Gunsten der sinnlich gegebenen Tatsachen. In Ansehung der Anerkennung
von Tatsachen ist diese Orientierung natürlich wertvoll, nicht aber
in Ansehung der _Deutung_ der Tatsachen und ihres Verhältnisses
zum Individuum. Der Concretismus schafft ein Überwiegen der
Tatsachenbedeutung und damit eine Unterdrückung der Individualität
und ihrer Freiheit zu Gunsten des objektiven Vorganges. Da das
Individuum aber nicht nur durch physiologische Reize bestimmt ist,
sondern auch durch Faktoren, welche gegebenenfalls der äussern Tatsache
entgegengesetzt sind, so bewirkt der Concretismus eine Projektion
dieser innern Faktoren in die äussere Tatsache und damit eine sozusagen
abergläubische Überbewertung der blossen Tatsachen, genau wie beim
Primitiven. Ein gutes Beispiel hiefür ist der Concretismus des Fühlens
bei _Nietzsche_ und die dadurch bewirkte Überbewertung der Diät,
ebenso der Materialismus _Moleschotts_ („Der Mensch ist, was er
isst“). Ein Beispiel für die abergläubische Überbewertung der Tatsachen
ist die Hypostasierung des Energiebegriffes im _Ostwald_schen
Monismus.

12. =Construktiv.= Dieser Begriff wird von mir in ähnlicher Weise
gebraucht, wie _synthetisch_, gewissermassen zur Erläuterung
des letztern Begriffes. Construktiv bedeutet „aufbauend“. Ich
gebrauche „construktiv“ und „synthetisch“ zur Bezeichnung einer
Methode, die der reduktiven Methode entgegengesetzt ist.[334] Die
construktive Methode betrifft die Bearbeitung unbewusster Produkte
(Träume, Phantasien). Sie geht vom unbewussten Produkt aus als von
einem _symbolischen_ (s. d.) Ausdruck, welcher vorausgreifend
ein Stück psychologischer Entwicklung darstellt.[335] _Maeder_
spricht in dieser Hinsicht von einer eigentlichen _prospektiven
Funktion_ des Unbewussten, welches quasi spielend die zukünftige
psychologische Entwicklung antecipiert.[336] Auch _Adler_
anerkennt eine vorausgreifende Funktion des Unbewussten.[337] Sicher
ist, dass das Produkt des Unbewussten nicht einseitig als Gewordenes,
gewissermassen als Endprodukt betrachtet werden darf, sonst müsste ihm
jeder zweckmässige Sinn abgesprochen werden. Selbst _Freud_ weist
dem Traum die teleologische Rolle wenigstens als „Hüter des Schlafes“
zu[338], während sich die prospektive Funktion für ihn wesentlich auf
„Wünsche“ beschränkt. Der Zweckmässigkeitscharakter der unbewussten
Tendenzen kann aber nach Analogie mit andern psychologischen oder
physiologischen Funktionen nicht a priori bestritten werden. Wir
fassen darum das Produkt des Unbewussten als einen nach einem Ziel
oder einem Zweck orientierten Ausdruck auf, der aber den Richtpunkt
in symbolischer Sprache charakterisiert.[339] Dieser Auffassung
entsprechend beschäftigt sich die c. Methode der Deutung nicht
mit den dem unbewussten Produkt zu Grunde liegenden Quellen oder
Ausgangsmaterialien, sondern sie sucht das symbolische Produkt auf
einen allgemeinen und verständlichen Ausdruck zu bringen.[340] Die
freien Einfälle zum unbewussten Produkt werden also in Hinsicht einer
Zielrichtung und nicht in Hinsicht der Herkunft betrachtet. Sie werden
unter dem Gesichtswinkel zukünftigen Tuns oder Lassens betrachtet; ihr
Verhältnis zur Bewusstseinslage wird dabei sorgfältig berücksichtigt,
denn nach der compensatorischen Auffassung des Unbewussten hat die
Tätigkeit des Unbewussten eine hauptsächlich ausgleichende oder
ergänzende Bedeutung für die Bewusstseinslage. Da es sich um eine
Vorausorientierung handelt, so kommt die wirkliche Beziehung zum Objekt
viel weniger in Frage als beim reduktiven Verfahren, welches sich mit
wirklich stattgehabten Beziehungen zum Objekt beschäftigt. Es handelt
sich vielmehr um die subjektive Einstellung, in der das Objekt zunächst
nur ein Zeichen für Tendenzen des Subjektes bedeutet. Die Absicht
der c. Methode ist daher die Herstellung eines auf die zukünftige
Einstellung des Subjektes bezüglichen Sinnes des unbewussten Produktes.
Da das Unbewusste in der Regel nur symbolische Ausdrücke zu schaffen
vermag, so dient die c. Methode dazu, den symbolisch ausgedrückten Sinn
dermassen zu verdeutlichen, dass ein die bewusste Orientierung richtig
stellender Hinweis dabei herauskommt, womit dem Subjekt das für sein
Handeln notwendige Einssein mit dem Unbewussten vermittelt wird.

So, wie sich keine psychologische Deutungsmethode auf das
Associationsmaterial des Analysanden allein gründet, so bedient
sich auch der c. Standpunkt gewisser Vergleichsmaterialien. So, wie
sich die reduktive Deutung gewisser biologischer, physiologischer,
folkloristischer, literarischer und anderer Vergleichsvorstellungen
bedient, so ist die c. Behandlung des Denkproblems auf
philosophische, und die des Intuitionsproblems auf mythologische und
religionsgeschichtliche Parallelen angewiesen.

Die c. Methode ist notgedrungenerweise _individualistisch_, denn
eine zukünftige Collektiveinstellung entwickelt sich nur über das
Individuum. Im Gegensatz dazu ist die reduktive Methode _collektiv_,
denn sie führt aus dem individuellen Fall zurück auf allgemeine
Grundeinstellungen oder -tatsachen. Die c. Methode kann auch vom
Subjekt direkt auf seine subjektiven Materialien angewendet werden. In
diesem letztern Fall ist sie eine _intuitive_ Methode, verwendet zur
Ausarbeitung des allgemeinen Sinnes eines Produktes des Unbewussten.
Diese Ausarbeitung erfolgt durch die _associative_ (also nicht aktiv
apperceptive, s. d.) Angliederung weitern Materials, welches den
symbolischen Ausdruck des Unbewussten (z. B. den Traum) dermassen
bereichert und vertieft, dass er jene Deutlichkeit erreicht, welche das
bewusste Begreifen ermöglicht. Durch die Bereicherung des symbolischen
Ausdruckes wird er in allgemeinere Zusammenhänge verwoben und dadurch
assimiliert.

13. =Denken=. Ich fasse das Denken als eine der vier psychologischen
Grundfunktionen auf (s. Funktion). Das Denken ist diejenige
psychologische Funktion, welche, ihren eigenen Gesetzen gemäss,
gegebene Vorstellungsinhalte in (begrifflichen) Zusammenhang bringt.
Es ist apperceptive Tätigkeit und als solche in _aktive_ und
_passive_ Denktätigkeit zu unterscheiden. Das aktive Denken ist eine
Willenshandlung, das passive Denken ein Geschehnis. Im erstem Fall
unterwerfe ich die Vorstellungsinhalte einem gewollten Urteilsakt, im
letztern Fall ordnen sich begriffliche Zusammenhänge an, es formen sich
Urteile, welche gegebenenfalls zu meiner Absicht in Widerspruch stehen,
meiner Zielrichtung nicht entsprechen und daher für mich des Gefühles
der Richtung entbehren, obschon ich nachträglich zur Anerkennung
ihres Gerichtetseins durch einen aktiven Apperceptionsakt gelangen
kann. Das aktive Denken würde demnach meinem Begriffe des gerichteten
Denkens[341] entsprechen. Das passive D. ist in meiner unten zitierten
Arbeit ungenügend als „Phantasieren“ gekennzeichnet worden.[342] Ich
würde es heute als _intuitives_ Denken bezeichnen.

Ein einfaches Aneinanderreihen von Vorstellungen, was von gewissen
Psychologen als _associatives_ D.[343] bezeichnet wird, ist für mich
kein Denken, sondern blosses _Vorstellen_. Von D. sollte man m. E. nur
da sprechen, wo es sich um die Verbindung von Vorstellungen durch einen
Begriff handelt, wo also m. a. W. ein Urteilsakt vorliegt, gleichviel
ob dieser Urteilsakt unserer Absicht entspringt oder nicht.

Das Vermögen des gerichteten D. bezeichne ich als _Intellekt_, das
Vermögen des passiven oder nicht gerichteten D. bezeichne ich als
_intellektuelle Intuition_. Ich bezeichne ferner das gerichtete
Denken, den Intellekt, als _rationale_ (s. d.) Funktion, indem es
nach der Voraussetzung der mir bewussten vernünftigen Norm die
Vorstellungsinhalte unter Begriffen anordnet. Dagegen ist mir
das nichtgerichtete Denken, die intellektuelle Intuition, eine
_irrationale_ (s. d.) Funktion, indem es nach mir unbewussten und darum
nicht als vernunftgemäss erkannten Normen die Vorstellungsinhalte
beurteilt und anordnet. Ich kann aber gegebenenfalls nachträglich
erkennen, dass auch der intuitive Urteilsakt der Vernunft entspricht,
obschon er auf einem mir irrational erscheinenden Wege zustande
gekommen ist.

Unter gefühlsmässigem D. verstehe ich nicht das intuitive D., sondern
ein Denken, das vom Fühlen abhängig ist, also ein Denken, das nicht
seinem eigenen, logischen Prinzip folgt, sondern dem Prinzip des
Fühlens untergeordnet ist. Im gefühlsmässigen D. sind die Gesetze
der Logik nur scheinbar vorhanden, in Wirklichkeit aber aufgehoben zu
Gunsten der Gefühlsabsicht.

14. =Differenzierung= bedeutet Entwicklung von Unterschieden,
Aussonderung von Teilen aus einem Ganzen. Ich gebrauche den Begriff
der D. in dieser Arbeit hauptsächlich in Hinsicht von psychologischen
Funktionen. Solange eine Funktion noch dermassen mit einer oder
mehreren andern Funktionen verschmolzen ist, z. B. Denken und Fühlen,
oder Fühlen und Empfindung etc., dass sie für sich allein gar nicht
auftreten kann, so ist sie in _archaïschem_ (s. d.) Zustand,
sie ist nicht differenziert, d. h. nicht als ein besonderer Teil
vom Ganzen ausgeschieden und als solcher für sich bestehend. Ein
nicht differenziertes Denken ist unfähig, von andern Funktionen
abgesondert zu denken, d. h. es mischen sich ihm beständig Empfindungen
oder Gefühle oder Intuitionen bei; ein nicht differenziertes
Fühlen vermischt sich z. B. mit Empfindungen und Phantasien, z. B.
Sexualisierung (_Freud_) des Fühlens und Denkens in der Neurose.
In der Regel ist die nicht differenzierte Funktion auch dadurch
charakterisiert, dass sie die Eigenschaft der _Ambivalenz_ und der
_Ambitendenz_[344] hat, d. h. jede Position führt ihre Negation
merklich mit sich, woraus kennzeichnende Hemmungen im Gebrauch der
nicht differenzierten Funktion entstehen. Die nicht differenzierte
Funktion ist auch in ihren einzelnen Teilen verschmolzen, so ist z. B.
ein nicht differenziertes Empfindungsvermögen dadurch beeinträchtigt,
dass sich die einzelnen Sinnessphären vermischen (Audition colorée),
ein nicht differenziertes Fühlen z. B. durch Vermengung von Hass und
Liebe. Insofern eine Funktion ganz oder grösstenteils unbewusst ist,
ist sie auch nicht differenziert, sondern in ihren Teilen und mit
andern Funktionen verschmolzen. Die D. besteht in der Absonderung
der Funktion von andern Funktionen und in der Absonderung ihrer
einzelnen Teile von einander. Ohne D. ist Richtung unmöglich, denn die
Richtung einer Funktion resp. ihr Gerichtetsein beruht auf Besonderung
und Ausschliessung des Nichtzugehörigen. Durch Verschmelzung mit
Nichtzugehörigem ist das Gerichtetsein unmöglich gemacht; nur eine
differenzierte Funktion erweist sich als _richtungsfähig_.

15. =Dissimilation=, s. =Assimilation=.

16. =Einfühlung=. E. ist eine =Introjektion= (s. d.) des
Objektes. Für die nähere Beschreibung des Begriffes der E. siehe Text
Kapitel VII. (Siehe auch =Projektion=.)

17. =Einstellung=. Dieser Begriff ist eine relativ neue Erwerbung
der Psychologie. Er stammt von _Müller_ und _Schumann_[345].
Während _Külpe_[346] die E. als eine Prädisposition sensorischer
oder motorischer Zentren für eine bestimmte Erregung oder einen
beständigen Impuls definiert, fasst sie _Ebbinghaus_[347] in
weiterm Sinne als eine Übungserscheinung, welche das Gewohnte in
die vom Gewohnten abweichende Einzelleistung hineinträgt. Von dem
_Ebbinghaus_’schen Begriffe der E. geht auch unser Gebrauch des
Begriffes aus. E. ist für uns eine Bereitschaft der Psyche in einer
gewissen Richtung zu agieren oder zu reagieren. Der Begriff ist gerade
für die Psychologie der komplexen seelischen Phänomene sehr wichtig,
indem er jene eigenartige psychologische Erscheinung, dass gewisse
Reize zu gewissen Zeiten stark, zu andern schwach oder gar nicht
wirken, auf einen Ausdruck bringt. Eingestellt sein heisst: für etwas
Bestimmtes bereit sein, auch wenn dieses Bestimmte unbewusst ist,
denn Eingestelltsein ist gleichbedeutend mit apriorischer Richtung
auf Bestimmtes, gleichviel ob dieses Bestimmte vorgestellt ist oder
nicht. Die Bereitschaft, als welche ich die E. auffasse, besteht immer
darin, dass eine gewisse subjektive Konstellation, eine bestimmte
Kombination von psychischen Faktoren oder Inhalten vorhanden ist,
welche entweder das Handeln in dieser oder jener bestimmten Richtung
determinieren oder einen äussern Reiz in dieser oder jener bestimmten
Weise auffassen wird. Ohne E. ist aktive Apperception (s. d.)
unmöglich. E. hat immer einen Richtpunkt, der bewusst oder unbewusst
sein kann, denn eine bereitgestellte Kombination von Inhalten wird
unfehlbar im Akte der Apperception eines neuen Inhaltes jene Qualitäten
oder Momente hervorheben, welche dem subjektiven Inhalt als zugehörig
erscheinen. Es findet daher eine Auswahl oder ein Urteil statt, welches
Nichtzugehöriges ausschliesst. Was zugehörig oder nichtzugehörig ist,
wird durch die bereitgestellte Inhaltskombination oder -konstellation
entschieden. Ob der Richtpunkt der E. bewusst oder unbewusst ist, hat
keine Bedeutung für die auswählende Wirkung der E., indem die Auswahl
durch die E. schon a priori gegeben ist und im Übrigen automatisch
erfolgt. Es ist aber praktisch zwischen bewusst und unbewusst zu
unterscheiden, da ungemein häufig auch zwei E. vorhanden sind, nämlich
eine bewusste und eine unbewusste E. Damit soll ausgedrückt sein, dass
das Bewusstsein eine Bereitstellung von andern Inhalten hat als das
Unbewusste. Besonders deutlich ist die Zweiheit der E. in der Neurose.

Der Begriff der E. hat mit dem _Wundt_schen Apperceptionsbegriff
eine gewisse Verwandtschaft, jedoch mit dem Unterschied, dass
der Begriff der Apperception den Vorgang der Beziehung des
bereitgestellten Inhaltes zum neuen, zu appercipierenden Inhalt
in sich fasst, während der Begriff der E. sich ausschliesslich auf
den subjektiv bereitgestellten Inhalt bezieht. Die Apperception
ist gewissermassen die Brücke, die den bereits vorhandenen und
bereitgestellten Inhalt mit dem neuen Inhalt verbindet, während die
E. gewissermassen das Widerlager der Brücke auf dem einen Ufer, der
neue Inhalt aber das Widerlager auf dem andern Ufer darstellt. E.
bedeutet eine _Erwartung_, und Erwartung wirkt immer auswählend
und Richtung gebend. Ein starkbetonter, im Blickfeld des Bewusstseins
befindlicher Inhalt bildet (event. mit andern Inhalten zusammen) eine
gewisse Konstellation, welche gleichbedeutend mit einer bestimmten E.
ist, denn ein solcher Bewusstseinsinhalt fördert die Wahrnehmung und
Apperception alles Gleichartigen und hemmt die alles Ungleichartigen.
Er erzeugt die ihm entsprechende E. Dieses automatische Phänomen ist
ein wesentlicher Grund zur Einseitigkeit der bewussten Orientierung.
Es würde zu einem völligen Gleichgewichtsverlust führen, wenn nicht
eine selbstregulierende, compensatorische (s. d.) Funktion in der
Psyche bestünde, welche die bewusste E. korrigiert. In diesem Sinn
ist die Zweiheit der E. also ein normales Phänomen, das nur dann
störend in Erscheinung tritt, wenn die bewusste Einseitigkeit
excessiv ist. Die E. kann, als gewöhnliche _Aufmerksamkeit_
eine relativ unbedeutende Teilerscheinung sein, oder auch ein die
ganze Psyche bestimmendes allgemeines Prinzip. Aus Gründen der
Disposition oder der Milieubeeinflussung oder der Erziehung oder der
allgemeinen Lebenserfahrung oder der Überzeugung kann habituell eine
Inhaltskonstellation vorhanden sein, welche beständig und oft bis ins
allerkleinste eine gewisse E. erzeugt. Jemand, der das Unlustvolle
des Lebens besonders tief empfindet, wird naturgemäss eine E. haben,
welche stets das Unlustvolle erwartet. Diese excessive bewusste E. ist
durch unbewusste Einstellung auf Lust compensiert. Der Unterdrückte hat
eine bewusste E. auf Unterdrückendes, er wählt in der Erfahrung dieses
Moment aus, er wittert es überall, seine unbewusste E. geht daher auf
Macht und Überlegenheit.

Je nach der Art der habituellen E. ist die gesamte Psychologie des
Individuums auch in den Grundzügen verschieden orientiert. Obschon die
allgemeinen psychologischen Gesetze in jedem Individuum Geltung haben,
so sind sie für das einzelne Individuum doch nicht charakteristisch,
denn die Art ihres Wirkens ist ganz verschieden je nach der Art
der allgemeinen E. Die allgemeine E. ist immer ein Resultat aller
Faktoren, welche die Psyche wesentlich zu beeinflussen vermögen,
also der angebornen Disposition, der Erziehung, der Milieueinflüsse,
der Lebenserfahrungen, der durch Differenzierung (s. d.) gewonnenen
Einsichten und Überzeugungen, der Collektivvorstellungen etc.
Ohne die durchaus fundamentale Bedeutung der E. wäre die Existenz
einer individuellen Psychologie ausgeschlossen. Die allgemeine
E. aber bewirkt dermassen grosse Kräfteverschiebungen und
Beziehungsveränderungen der einzelnen Funktionen unter sich, dass
daraus Gesamtwirkungen resultieren, welche die Gültigkeit allgemeiner
psychologischer Gesetze öfters in Frage stellen. Obschon z. B. ein
gewisses Mass an Betätigung der Sexualfunktion aus physiologischen
und psychologischen Gründen als unerlässlich gilt, so gibt es
dennoch Individuen, welche ohne Einbusse, d. h. ohne pathologische
Erscheinungen und ohne irgendwie nachweisbare Einschränkung der
Leistungsfähigkeit ihrer in hohem Masse entraten, während in
andern Fällen schon geringfügige Störungen auf diesem Gebiet ganz
beträchtliche allgemeine Folgen nach sich ziehen können. Wie gewaltig
die individuellen Verschiedenheiten sind, sieht man vielleicht am
besten in der Lust-Unlustfrage. Hier versagen sozusagen alle Regeln.
Was gibt es schliesslich, das dem Menschen nicht gelegentlich Lust, und
was, das ihm nicht gelegentlich Unlust verursachte? Jeder Trieb, jede
Funktion kann der andern sich unterordnen und ihr Gefolgschaft leisten.
Der Ich- oder Machttrieb kann sich die Sexualität dienstbar machen,
oder die Sexualität benützt das Ich. Das Denken überwuchert alles
andere, oder das Fühlen verschluckt das Denken und das Empfinden, alles
je nach der E.

Im Grunde genommen ist die E. ein individuelles Phänomen und entzieht
sich der wissenschaftlichen Betrachtungsweise. In der Erfahrung
jedoch lassen sich gewisse E.-typen unterscheiden, insofern sich auch
gewisse psychische Funktionen unterscheiden lassen. Wenn eine Funktion
habituell überwiegt, so entsteht dadurch eine typische E. Je nach der
Art der differenzierten Funktion ergeben sich Inhaltskonstellationen,
welche eine entsprechende E. erzeugen. So gibt es eine typische E. des
Denkenden, des Fühlenden, des Empfindenden und des Intuierenden. Ausser
diesen rein psychologischen E.-typen, deren Zahl sich vielleicht noch
vermehren lässt, gibt es auch soziale Typen, nämlich solche, denen eine
Collektivvorstellung den Stempel aufdrückt. Sie sind charakterisiert
durch die verschiedenen -ismen. Diese collektiv bedingten E. sind
jedenfalls sehr wichtig, in gewissen Fällen den rein individuellen E.
an Bedeutung sogar überlegen.

18. =Enantiodromie=. E. heisst „Entgegenlaufen“. Mit diesem
Begriff wird in der Philosophie des _Heraklit_[348] das
Gegensatzspiel des Geschehens bezeichnet, nämlich die Anschauung, nach
der Alles, was ist, in sein Gegenteil übergeht. „Aus dem Lebenden wird
Totes und aus dem Toten Lebendiges, aus dem Jungen Altes, und aus
dem Alten Junges, aus dem Wachen Schlafendes und aus dem Schlafenden
Waches, der Strom des Erzeugens und des Untergangs steht nie
stille.“[349] „Denn Aufbau und Zerstörung, Zerstörung und Aufbau, dies
ist die Norm, welche alle Kreise des Naturlebens, die kleinsten, wie
die grössten, einspannt. Soll doch auch der Kosmos selbst, gleichwie
er aus dem Urfeuer hervorgegangen ist, wieder in dasselbe zurückkehren
-- ein Doppelprozess, der sich in bemessenen Fristen, wenn dies gleich
ungeheure Zeiträume sind, abspielt und immer von neuem abspielen
wird.“[350] Dies ist die E. des _Heraklit_ nach den Worten
berufener Interpreten. Reichlich sind die Aussprüche aus dem Munde
_Heraklits_, welche dieser Ansicht Ausdruck verleihen. So sagt
er: „Auch die Natur strebt wohl nach dem Entgegengesetzten und bringt
hieraus und nicht aus dem Gleichen den Einklang hervor.“

„Wann sie geboren sind, schicken sie sich an zu leben und dadurch den
Tod zu erleiden.“

„Für die Seelen ist es Tod, zu Wasser zu werden, für das Wasser Tod,
zur Erde zu werden. Aus der Erde wird Wasser, aus Wasser Seele.“

„Umsatz findet wechselweise statt, des Alls gegen das Feuer, und des
Feuers gegen das All, wie des Goldes gegen Waren und der Waren gegen
Gold.“

In psychologischer Anwendung seines Prinzips sagt _Heraklit_:
„Möge es euch nie an Reichtum fehlen, Ephesier, damit eure Verlotterung
an den Tag kommen kann.“[351]

Mit E. bezeichne ich das Hervortreten des unbewussten Gegensatzes,
namentlich in der zeitlichen Folge. Dieses charakteristische Phänomen
findet beinahe überall da statt, wo eine extrem einseitige Richtung
das bewusste Leben, beherrscht, sodass sich in der Zeit eine ebenso
starke, unbewusste Gegenposition ausbildet, welche sich zunächst
durch Hemmung der bewussten Leistung, später durch Unterbrechung
der bewussten Richtung äussert. Ein gutes Beispiel für E. ist
die Psychologie des Paulus und seiner Bekehrung zum Christentum,
ebenso die Bekehrungsgeschichte des _Raimundus Lullus_, die
Christusidentifikation des erkrankten _Nietzsche_, seine
Verhimmelung Wagners und die spätere Gegnerschaft zu Wagner, die
Verwandlung _Swedenborgs_ aus dem Gelehrten in den Seher usw.

19. =Emotion=: s. Affekt.

20. =Empfindung.= E. ist nach meiner Auffassung eine der
psychologischen Grundfunktionen (s. Funktion). _Wundt_ rechnet die
E. ebenfalls zu den psychischen Elementarphänomenen.[352]

Die E. oder das Empfinden ist diejenige psychologische Funktion,
welche einen physischen Reiz der Wahrnehmung vermittelt. E. ist
daher identisch mit Perception. E. ist streng zu unterscheiden von
_Gefühl_, indem das Gefühl ein ganz anderer Vorgang ist, der sich
z. B. als „Gefühlston“ der E. hinzugesellen kann. Die E. bezieht sich
nicht nur auf den äussern physischen Reiz, sondern auch auf den innern,
d. h. auf die Veränderungen der innern Organe. Die E. ist daher in
erster Linie _Sinnesempfindung_, d. h. Perception vermittelst der
Sinnesorgane und des „Körpersinnes“ (kinästhetische, vasomotorische
etc. E.). Sie ist einerseits ein Element des Vorstellens, indem sie
dem Vorstellen das Perceptionsbild des äussern Objektes vermittelt,
andererseits ein Element des Gefühls, indem sie durch die Perception
der Körperveränderung dem Gefühl den Affektcharakter verleiht (s.
Affekt). Indem die E. dem Bewusstsein die Körperveränderungen
vermittelt, so repräsentiert sie auch die physiologischen Triebe. Sie
ist nicht damit identisch, indem sie eine bloss perceptive Funktion ist.

Es ist zu unterscheiden zwischen sinnlicher oder concreter und
abstrakter E. Erstere begreift die oben besprochenen Formen unter
sich. Letztere aber bezeichnet eine abgezogene, d. h. von andern
psychologischen Elementen gesonderte Art der E. Die concrete E.
tritt nämlich nie „rein“ auf, sondern ist immer mit Vorstellungen,
Gefühlen und Gedanken vermengt. Die abstrakte E. dagegen stellt
eine differenzierte Art der Perception dar, welche als „ästhetisch“
bezeichnet werden dürfte, insofern sie ihrem eigenen Prinzipe folgend
von allen Beimengungen der Unterschiede des percipierten Objektes
sowohl, wie von subjektiven Beimengungen von Gefühl und Gedanken sich
sondert und sich dadurch zu einem Reinheitsgrade erhebt, welcher
der concreten E. niemals zukommt. Die concrete E. einer Blume z. B.
vermittelt nicht nur die Wahrnehmung der Blume selbst, sondern auch
des Stengels, der Blätter, des Standortes, usw. Sie vermengt sich auch
sofort mit den durch den Anblick erregten Lust oder Unlustgefühlen oder
mit den gleichzeitig erregten Geruchsperceptionen oder mit Gedanken,
z. B. über ihre botanische Klassifikation. Die abstrakte E. dagegen
erhebt sofort das hervorstechende sinnliche Merkmal der Blume, z. B.
ihre leuchtend rote Farbe zum alleinigen oder hauptsächlichen Inhalt
des Bewusstseins, abgesondert von allen angedeuteten Beimengungen.
Die abstrakte E. eignet hauptsächlich dem Künstler. Sie ist, wie jede
Abstraktion, ein Produkt der Funktionsdifferenzierung, daher nichts
Ursprüngliches. Die ursprüngliche Funktionsform ist immer concret,
d. h. vermischt (s. Archaïsmus und Concretismus). Die concrete E.
ist als solche ein reaktives Phänomen. Die abstrakte E. dagegen
entbehrt, wie jede Abstraktion, niemals des Willens, d. h. des
Richtungselementes. Der auf Abstraktion der E. gerichtete Wille ist der
Ausdruck und die Betätigung der _ästhetischen Empfindungseinstellung_.

Die E. charakterisiert sehr stark das Wesen des Kindes und des
Primitiven, insofern sie jedenfalls gegenüber dem Denken und Fühlen
überwiegt, nicht aber notwendigerweise gegenüber der Intuition. Ich
fasse die E. nämlich als die bewusste Perception auf, die Intuition
aber als die unbewusste Perception. E. und Intuition stellen für mich
ein Gegensatzpaar dar oder zwei einander compensierende Funktionen,
wie Denken und Fühlen. Die Denk- und Fühlfunktion als selbständige
Funktionen entwickeln sich ontogenetisch wie phylogenetisch aus der E.
(Natürlich ebenso aus der Intuition, als dem notwendigen Gegenstück der
E.)

Die E. ist, insofern sie ein Elementarphänomen ist, etwas schlechthin
Gegebenes, das den Vernunftgesetzen nicht unterworfen ist, im Gegensatz
zu Denken und Fühlen. Ich bezeichne daher das E. als _irrationale_
(s. d.) Funktion, obschon es dem Verstande gelingt, eine grosse Zahl
von E. in rationale Zusammenhänge aufzunehmen.

Ein Mensch, der seine Gesamteinstellung nach dem Prinzip des E.
orientiert, gehört zum _Empfindungstypus_ (s. Typen).

Normale E. sind verhältnismässig, d. h. sie entsprechen schätzungsweise
der Intensität des physischen Reizes. Pathologische E. sind
unverhältnismässig, d. h. abnorm schwach oder abnorm stark; in ersterm
Fall sind sie gehemmt, in letzterm Fall übertrieben. Die Hemmung
entsteht durch das Vorwiegen einer andern Funktion, die Übertreibung
durch ein abnormes Verschmolzensein mit einer andern Funktion, z. B.
durch ein Verschmolzensein mit einer noch undifferenzierten Fühl-
oder Denkfunktion. Die Übertreibung der E. hört in diesem Fall
auf, sobald die mit der E. verschmolzene Funktion für sich heraus
differenziert ist. Besonders einleuchtende Beispiele liefert die
Neurosenpsychologie, wo sehr oft eine starke _Sexualisierung_
(Freud) anderer Funktionen vorliegt, d. h. also ein Verschmolzensein
der Sexualempfindung mit andern Funktionen.

21. =Extraversion.= E. heisst Auswärtswendung der Libido (s. d.).
Mit diesem Begriff bezeichne ich eine offenkundige Beziehung des
Subjektes auf das Objekt im Sinne einer positiven Bewegung des
subjektiven Interesses zum Objekt. Jemand, der sich in einem
extravertierten Zustande befindet, denkt, fühlt und handelt in
Bezug auf das Objekt und zwar in einer direkten und äusserlich
deutlich wahrnehmbaren Weise, sodass kein Zweifel über seine
positive Einstellung auf das Objekt bestehen kann. Die E. ist daher
gewissermassen eine Hinausverlegung des Interesses aus dem Subjekt auf
das Objekt. Ist die E. intellektuell, so denkt sich das Subjekt in das
Objekt ein; ist die E. gefühlsmässig, so fühlt sich das Subjekt in das
Objekt ein. Es ist im Zustande der E. eine starke, wenn auch nicht
ausschliessliche Bedingtheit durch das Objekt vorhanden. Es ist von
einer _aktiven_ E. zu sprechen, wenn die E. absichtlich gewollt ist,
und von einer _passiven_ E., wenn das Objekt die E. erzwingt, d. h. von
sich aus das Interesse des Subjektes anzieht, eventuell entgegen der
Absicht des Subjektes.

Ist der Zustand der E. habituell, so entsteht daraus der
_extravertierte Typus_ (s. Typus).

22. =Fühlen.= Ich rechne das F. zu den vier psychologischen
Grundfunktionen. Ich kann mich jener psychologischen Richtung, welche
das F. als eine sekundäre, von „Vorstellungen“ oder Empfindungen
abhängige Erscheinung auffassen, nicht anschliessen, sondern sehe das
F. mit _Höffding_, _Wundt_, _Lehmann_, _Külpe_, _Baldwin_ und andern
als eine selbständige Funktion sui generis an.[353] Das Gefühl ist
zunächst ein Vorgang, der zwischen dem Ich und einem gegebenen Inhalt
stattfindet, und zwar ein Vorgang, welcher dem Inhalt einen bestimmten
_Wert_ im Sinne des Annehmens oder Zurückweisens („Lust“ oder „Unlust“)
erteilt, sodann aber auch ein Vorgang, der, abgesehen vom momentanen
Bewusstseinsinhalt oder von momentanen Empfindungen sozusagen isoliert
als „Stimmung“ auftreten kann. Dieser letztere Vorgang kann sich auf
frühere Bewusstseinsinhalte causal beziehen, braucht es aber nicht
notwendigerweise, indem er ebenso gut auch aus unbewussten Inhalten
hervorgehen kann, wie die Psychopathologie reichlich beweist. Aber
auch die Stimmung, sei sie nun allgemein, oder bloss als partielles
F. gegeben, bedeutet eine Bewertung, aber nicht die eines bestimmten,
einzelnen Bewusstseinsinhaltes, sondern der ganzen momentanen
Bewusstseinslage und zwar wiederum im Sinne des Annehmens oder
Zurückweisens. Das F. ist daher zunächst ein gänzlich _subjektiver_
Vorgang, der in jeder Hinsicht vom äussern Reiz unabhängig sein
kann, obschon er sich jeder Empfindung hinzugesellt.[354] Sogar eine
„gleichgültige“ Empfindung hat einen „Gefühlston“, nämlich den der
Gleichgültigkeit, womit wiederum eine Bewertung ausgedrückt ist.
Das F. ist daher auch eine Art des _Urteilens_, das aber insofern
vom intellektuellen Urteil verschieden ist, als es nicht in Absicht
der Herstellung eines begrifflichen Zusammenhanges, sondern in
Absicht eines zunächst subjektiven Annehmens oder Zurückweisens
erfolgt. Die Bewertung durch das F. erstreckt sich auf _jeden_
Bewusstseinsinhalt, von was für einer Art er immer sein mag. Steigert
sich die Intensität des F., so entsteht ein _Affekt_ (s. Affekt),
welcher ein Gefühlszustand ist mit merklichen Körperinnervationen.
Das Gefühl unterscheidet sich dadurch vom Affekt, dass es keine
merklichen Körperinnervationen veranlasst, d. h. so wenig oder so
viel wie ein gewöhnlicher Denkvorgang. Das gewöhnliche, „einfache“ F.
ist _concret_ (s. d.), d. h. vermischt mit andern Funktionselementen,
z. B. sehr häufig mit Empfindungen. Man kann es in diesem besondern
Fall als _affektiv_ bezeichnen, oder (wie es z. B. in dieser Arbeit
geschieht) als _Gefühlsempfindung_, worunter eine zunächst untrennbare
Verschmelzung des F. mit Empfindungselementen verstanden ist. Diese
charakteristische Vermischung findet sich überall da, wo das F. sich
als nicht differenzierte Funktion erweist, am deutlichsten in der
Psyche eines Neurotikers mit differenziertem Denken. Obschon das
F. eine an sich selbständige Funktion ist, so kann sie doch in die
Abhängigkeit von einer andern Funktion geraten, z. B. vom Denken,
wodurch ein F. entsteht, das sich zum Denken begleitend verhält und
nur insofern nicht aus dem Bewusstsein verdrängt wird, als es in die
intellektuellen Zusammenhänge passt. Vom gewöhnlichen concreten F.
ist das _abstrakte_ F. zu unterscheiden. Wie der abstrakte Begriff
(s. Denken) die Unterschiede der von ihm begriffenen Dinge wegfallen
lässt, so erhebt sich das abstrakte F. über die Unterschiede der
einzelnen von ihm bewerteten Inhalte und stellt eine „Stimmung“ oder
Gefühlslage her, welche die verschiedenen Einzelbewertungen in sich
begreift und damit aufhebt. So wie das Denken die Bewusstseinsinhalte
unter Begriffen anordnet, so ordnet das F. die Bewusstseinsinhalte
nach ihrem Werte an. Je concreter das F. ist, desto subjektiver und
persönlicher ist der von ihm erteilte Wert, je abstrakter dagegen das
F., desto allgemeiner und objektiver ist der von ihm erteilte Wert.
So wie ein vollkommen abstrakter Begriff nicht mehr die Einzelheit
und Besonderheit der Dinge deckt, sondern nur ihre Allgemeinheit und
Ununterschiedenheit, so deckt sich auch das vollkommen abstrakte F. mit
dem Einzelmoment und seiner Gefühlsqualität nicht mehr, sondern nur
mit der Gesamtheit aller Momente und ihrer Ununterschiedenheit. Das F.
ist demnach wie das Denken eine _rationale_ Funktion, indem, wie die
Erfahrung zeigt, die Werte im allgemeinen nach Gesetzen der Vernunft
zuerteilt werden, so wie auch Begriffe im allgemeinen nach Gesetzen der
Vernunft gebildet werden.

Mit den obigen Definitionen ist natürlich das Wesen des F. gar nicht
charakterisiert, sondern das F. ist damit nur äusserlich umschrieben.
Das intellektuelle Begriffsvermögen erweist sich als unfähig, das Wesen
des F. in einer begrifflichen Sprache zu formulieren, da das Denken
einer dem F. inkommensurabeln Kategorie angehört, wie überhaupt keine
psychologische Grundfunktion sich durch eine andere völlig ausdrücken
lässt. Diesem Umstand ist es zuzuschreiben, dass keine intellektuelle
Definition jemals in der Lage sein wird, das Spezifische des Gefühls in
einem irgend genügenden Masse wiederzugeben. Damit, dass die Gefühle
klassifiziert werden, ist für die Erfassung ihres Wesens nichts
gewonnen, denn auch die genaueste Klassifikation wird immer nur jenen
intellektuell fassbaren Inhalt angeben können, an welchem oder mit
welchem verbunden, Gefühle auftreten, ohne aber das Spezifische des
Gefühls damit erfasst zu haben. So viele verschiedene und intellektuell
erfassbare Inhaltsklassen es gibt, so viele Gefühle lassen sich
unterscheiden, ohne dass damit aber die Gefühle selber erschöpfend
klassifiziert wären, denn es gibt über alle möglichen intellektuell
erfassbaren Klassen von Inhalten hinaus noch Gefühle, welche sich
einer intellektuellen Rubrizierung entziehen. Schon der Gedanke einer
Klassifizierung ist intellektuell und darum dem Wesen des Gefühls
incommensurabel. Wir müssen uns daher damit begnügen, die Grenzen des
Begriffes anzugeben.

Die Art der Bewertung durch das F. ist der intellektuellen Apperception
zu vergleichen, als eine _Apperception des Wertes_. Es lässt sich eine
_aktive_ und eine _passive_ Gefühlsapperception unterscheiden. Der
passive Fühlakt ist dadurch charakterisiert, dass ein Inhalt das Gefühl
erregt oder anzieht, er erzwingt die Gefühlsbeteiligung des Subjektes.
Der aktive Fühlakt dagegen erteilt vom Subjekt aus Werte, er bewertet
die Inhalte nach Intention, und zwar nach gefühlsmässiger und nicht
intellektueller Intention. Das aktive F. ist daher eine _gerichtete_
Funktion, eine Willenshandlung, z. B. Lieben im Gegensatz zu
Verliebtsein, welch letzterer Zustand ein _nichtgerichtetes_, passives
F. wäre, wie auch schon der Sprachgebrauch zeigt, indem er ersteres als
Tätigkeit, letzteres als Zustand bezeichnet. Das nichtgerichtete F.
ist _Gefühlsintuition_. In strengerem Sinne darf also nur das aktive,
gerichtete F. als _rational_ bezeichnet werden, dagegen ist das passive
F. _irrational_, insofern es Werte herstellt ohne Zutun, eventuell
sogar gegen die Absicht des Subjektes.

Orientiert sich die Gesamteinstellung des Individuums nach der Funktion
des F., so sprechen wir von einem _Fühltypus_ (s. Typen).

23. =Funktion.= Unter psychologischer F. verstehe ich eine gewisse,
unter verschiedenen Umständen sich prinzipiell gleichbleibende
psychische Tätigkeitsform. Energetisch betrachtet ist die F. eine
Erscheinungsform der Libido (s. d.), die unter verschiedenen
Umständen sich prinzipiell gleichbleibt, etwa in ähnlicher Weise,
wie die physikalische Kraft als die jeweilige Erscheinungsform der
physikalischen Energie betrachtet werden kann. Ich unterscheide im
ganzen vier Grundfunktionen, zwei rationale und zwei irrationale F.,
nämlich _Denken_ und _Fühlen_, _Empfinden_ und _Intuieren_. Warum ich
gerade die vier F. als Grundfunktionen anspreche, dafür kann ich keinen
Grund a priori angeben, sondern nur hervorheben, dass sich mir diese
Auffassung im Laufe jahrelanger Erfahrung herausgebildet hat. Ich
unterscheide diese F. von einander, weil sie sich nicht auf einander
beziehen, resp. reduzieren lassen. Das Prinzip des Denkens z. B. ist
vom Prinzip des Fühlens absolut verschieden usw. Ich unterscheide diese
F. prinzipiell vom Phantasieren, weil mir das Phantasieren als eine
eigentümliche Tätigkeitsform erscheint, die sich in allen vier Grund-F.
zeigen kann. Der Wille erscheint mir als eine durchaus sekundäre
psychische Erscheinung, ebenso die Aufmerksamkeit.

24. =Gedanke.= G. ist der durch die Analyse des Denkens bestimmte
Inhalt oder Stoff der Denkfunktion (s. d.).

25. =Gefühl.= G. ist der durch die Analyse des Fühlens bestimmte Inhalt
oder Stoff der Fühlfunktion (s. d.).

26. =Ich.= Unter „Ich“ verstehe ich einen Komplex von
Vorstellungen, der mir das Zentrum meines Bewusstseinsfeldes ausmacht
und mir von hoher Kontinuität und Identität mit sich selber zu sein
scheint. Ich spreche daher auch von Ich-_Komplex_[355]. Der
I.-Komplex ist ein Inhalt des Bewusstseins sowohl, wie eine Bedingung
des Bewusstseins (s. d.), denn bewusst ist mir ein psychisches Element,
insofern es auf den I.-Komplex bezogen ist. Insofern aber das I. nur
das Zentrum meines Bewusstseinsfeldes ist, ist es nicht identisch
mit dem Ganzen meiner Psyche, sondern bloss ein Komplex unter andern
Komplexen. Ich unterscheide daher zwischen Ich und Selbst, insofern das
I. nur das Subjekt meines Bewusstseins, das Selbst aber das Subjekt
meiner gesamten, also auch der unbewussten Psyche ist. In diesem Sinne
wäre das Selbst eine (ideelle) Grösse, die das I. in sich begreift. Das
Selbst erscheint in der unbewussten Phantasie gerne als übergeordnete
oder ideale Persönlichkeit, etwa wie Faust bei _Goethe_ und
Zarathustra bei _Nietzsche_. Um der Idealität willen wurden
die archaïschen Züge des Selbst auch etwa als vom „höhern“ Selbst
getrennt dargestellt, bei _Goethe_ in Gestalt des Mephisto,
bei _Spitteler_ in Gestalt des Epimetheus, in der christlichen
Psychologie als Christus und der Teufel oder Antichrist, bei
_Nietzsche_ entdeckt Zarathustra seinen Schatten im „hässlichsten
Menschen“.

27. =Idee.= Ich gebrauche in dieser Arbeit bisweilen den Begriff
der I., um damit ein gewisses psychologisches Element zu bezeichnen,
welches eine nahe Beziehung hat zu dem, was ich _Bild_ (s. d.)
nenne. Das Bild kann _persönlicher_ oder _unpersönlicher_
Provenienz sein. In letzterm Fall ist es collektiv und durch
mythologische Qualitäten ausgezeichnet. Ich bezeichne es dann als
_urtümliches Bild_. Hat es dagegen keinen mythologischen
Charakter, d. h. fehlen ihm die anschaulichen Qualitäten und ist es
bloss collektiv, dann spreche ich von einer I. Ich gebrauche demnach
I. als einen Ausdruck für den Sinn eines urtümlichen Bildes, welcher
von dem Concretismus des Bildes abgezogen, abstrahiert, wurde. Insofern
die I. eine Abstraktion ist, erscheint sie als etwas aus Elementarerem
Abgeleitetes oder Entwickeltes, als ein Produkt des Denkens. In
diesem Sinne eines Sekundären und Abgeleiteten wird die I. von
_Wundt_[356] und andern aufgefasst. Insofern aber die I. nichts
anderes ist, als der formulierte Sinn eines urtümlichen Bildes, in
welchem er schon _symbolisch_ dargestellt war, ist das Wesen der
I. nichts Abgeleitetes oder Hervorgebrachtes, sondern, psychologisch
betrachtet, a priori vorhanden, als eine gegebene Möglichkeit von
Gedankenverbindungen überhaupt. Daher ist die I. dem Wesen (nicht
der Formulierung) nach eine a priori existierende und bedingende
psychologische Grösse. In diesem Sinn ist die Idee bei _Platon_
ein Urbild der Dinge, bei _Kant_ das „Urbild des Gebrauchs des
Verstandes“, ein transscendenter Begriff, der als solcher die Grenze
der Erfahrbarkeit überschreitet[357], ein Vernunftbegriff, „dessen
Gegenstand gar nicht in der Erfahrung kann angetroffen werden“.[358]
_Kant_ sagt: „Ob wir nun gleich von den transscendentalen
Vernunftbegriffen sagen müssen: _sie sind nur Ideen_, so werden
wir sie doch keineswegs für überflüssig und nichtig anzusehen haben.
Denn wenn schon dadurch kein Objekt bestimmt werden kann, so können
sie doch im Grunde und unbemerkt dem Verstande zum Kanon seines
ausgebreiteten und einhelligen Gebrauchs dienen, dadurch er zwar keinen
Gegenstand _mehr_ erkennt, als er nach seinen Begriffen erkennen
würde, aber doch in dieser Erkenntnis besser und weiter geleitet wird.
Zu geschweigen: dass sie vielleicht von den Naturbegriffen zu den
praktischen einen Übergang möglich machen und den moralischen Ideen
selbst auf solche Art Haltung und Zusammenhang mit den spekulativen
Erkenntnissen der Vernunft verschaffen können.“[359]

_Schopenhauer_ sagt: „Ich verstehe also unter Idee jede bestimmte
und feste Stufe der Objektivation des Willens, sofern er Ding an sich
und daher der Vielheit fremd ist, welche Stufen sich zu den einzelnen
Dingen allerdings verhalten, wie ihre ewigen Formen oder ihre
Musterbilder.“[360] Bei _Schopenhauer_ ist die Idee allerdings
anschaulich, weil er sie ganz im Sinne dessen auffasst, was ich als
urtümliches Bild bezeichne, immerhin ist sie für das Individuum
unerkennbar, sie offenbart sich nur dem „reinen Subjekt des Erkennens“,
das sich über Wollen und Individualität erhoben hat.[361]

_Hegel_ hypostasiert die I. völlig und verleiht ihr das Attribut
des allein realen Seins. Sie ist „der Begriff, die Realität des
Begriffes und die Einheit beider“.[362] Sie ist „ewiges Erzeugen“.[363]

Bei _Lasswitz_ ist die I. ein „Gesetz, welches die Richtung
anweist, in der unsere Erfahrung sich entwickeln soll“. Sie ist die
„sicherste und höchste Realität“.[364]

Bei _Cohen_ ist die I. das „Selbstbewusstsein des Begriffes“, die
„Grundlegung“ des Seins.[365]

Ich will die Zeugnisse für die primäre Natur der I. nicht vermehren.
Die Anführungen mögen genügen, um darzutun, dass die I. auch als
eine grundlegende, a priori vorhandene Grösse aufgefasst wird. Diese
letztere Qualität hat sie von ihrer Vorstufe, dem urtümlichen,
symbolischen Bild (s. d.). Ihre sekundäre Natur des Abstrakten und
Abgeleiteten hat sie von der rationalen Bearbeitung, welcher das
urtümliche Bild unterworfen wird, um es für den rationalen Gebrauch
geschickt zu machen. Indem das urtümliche Bild eine stets und überall
autochthon wiedererstehende psychologische Grösse ist, so kann in
einem gewissen Sinne dasselbe auch von der I. gesagt werden, jedoch
unterliegt sie, ihrer rationalen Natur wegen, weit mehr der Veränderung
durch die durch Zeit und Umstände stark beeinflusste rationale
Bearbeitung, die ihr Formulierungen gibt, welche dem jeweiligen
Zeitgeist entsprechen. Wegen ihrer Abstammung vom urtümlichen Bild
sprechen ihr einige Philosophen transscendente Qualität zu, was
eigentlich der I. wie ich sie fasse, nicht zukommt, sondern vielmehr
dem urtümlichen Bilde, dem die Qualität der Zeitlosigkeit anhaftet,
indem es von jeher und überall als integrierender Bestandteil dem
menschlichen Geiste mitgegeben ist. Ihre Qualität der Selbständigkeit
bezieht sie ebenfalls vom urtümlichen Bild, das nie gemacht, sondern
stets vorhanden ist und aus sich in die Wahrnehmung tritt, sodass man
auch sagen könnte, dass es von sich aus nach seiner Verwirklichung
strebe, indem es vom Geiste als aktiv bestimmende Potenz empfunden
wird. Diese Anschauung ist allerdings nicht allgemein, sondern ist
vermutlich Angelegenheit der Einstellung. (S. Kap. VII.)

Die I. ist eine psychologische Grösse, die nicht nur das Denken,
sondern auch als praktische Idee das Fühlen bestimmt. Ich gebrauche den
Terminus I. allerdings meist nur dann, wenn ich von der Bestimmung des
Denkens beim Denkenden rede; ebenso würde ich von I. sprechen bei der
Bestimmung des Fühlens beim Fühlenden. Hingegen ist es terminologisch
am Platze, von der Bestimmung durch das urtümliche Bild zu reden, wenn
es sich um die a priorische Bestimmung einer nicht-differenzierten
Funktion handelt. Die Doppelnatur der I. als etwas Primärem und
zugleich Sekundärem bringt es mit sich, dass der Ausdruck gelegentlich
promiscuë mit „urtümlichem Bild“ gebraucht wird. Die I. ist für die
introvertierte Einstellung das primum movens, für die extravertierte
Einstellung ein Produkt.

28. =Identifikation.= Unter I. ist ein psychologischer Vorgang
verstanden, bei dem die Persönlichkeit teilweise oder total von
sich selbst _dissimiliert_ (s. Assimilation) wird. I. ist
eine Entfremdung des Subjektes von sich selber zu Gunsten eines
Objektes, in das sich das Subjekt gewissermassen verkleidet. I. mit
dem Vater z. B. bedeutet praktisch eine Adoption der Art und Weise
des Vaters, wie wenn der Sohn dem Vater gleich wäre und nicht eine
vom Vater verschiedene Individualität. I. unterscheidet sich von
_Imitation_ dadurch, dass die I. eine _unbewusste Imitation_ ist,
während Imitation ein bewusstes Nachahmen ist. Die Imitation ist ein
unerlässliches Hilfsmittel für die sich noch entwickelnde jugendliche
Persönlichkeit. Sie wirkt fördernd, solange sie nicht als Mittel
blosser Bequemlichkeit dient und damit die Entwicklung einer passenden
individuellen Methode verhindert. Ebenso kann die I. fördernd sein,
solange der individuelle Weg noch nicht gangbar ist. Eröffnet sich
aber eine bessere individuelle Möglichkeit, so beweist die I. ihren
pathologischen Charakter dadurch, dass sie nunmehr ebenso hinderlich
ist, wie sie vorher unbewusst tragend und fördernd war. Sie wirkt
dann dissociierend, indem das Subjekt durch sie in zwei einander
fremde Persönlichkeitsteile zerspalten wird. Die I. bezieht sich nicht
immer auf Personen, sondern auch auf Sachen (z. B. auf eine geistige
Bewegung, ein Geschäft etc.) und auf psychologische Funktionen.
Letzterer Fall ist sogar besonders wichtig. (Vergl. Kap. II.) In
diesem Fall führt die I. zur Ausbildung eines sekundären Charakters
und zwar dadurch, dass sich das Individuum mit seiner am besten
entwickelten Funktion dermassen identifiziert, dass es sich von seiner
ursprünglichen Charakteranlage zum grossen Teil oder gänzlich entfernt,
wodurch seine eigentliche Individualität dem Unbewussten verfällt.
Dieser Fall bildet fast die Regel bei allen Menschen mit einer
differenzierten Funktion. Er ist sogar ein notwendiger Durchgangspunkt
auf dem Wege der Individuation überhaupt. Die I. mit den Eltern oder
den nächsten Familienangehörigen ist zum Teil eine normale Erscheinung,
insofern sie zusammenfällt mit der a priori bestehenden _familiären
Identität_. In diesem Fall empfiehlt es sich, nicht von I. zu reden,
sondern, wie es der Sachlage entspricht, von Identität. Die I. mit
den Familienangehörigen unterscheidet sich nämlich dadurch von der
Identität, dass sie keine a priori gegebene Tatsache ist, sondern erst
sekundär entsteht durch folgenden Prozess: das aus der ursprünglichen
familiären Identität sich herausentwickelnde Individuum stösst in
seinem Anpassungs- und Entwicklungsprozess auf ein nicht ohne weiteres
zu bewältigendes Hindernis, infolgedessen entsteht eine Libidostauung,
welche allmählich einen regressiven Ausweg sucht. Durch die Regression
werden frühere Zustände wiederbelebt, u. a. die familiäre Identität.
Diese regressiv wiederbelebte, eigentlich schon fast überwundene
Identität ist die I. mit den Familienangehörigen. Alle I. mit Personen
erfolgen auf diesem Wege. Die I. verfolgt immer den Zweck, auf die Art
und Weise des andern einen Vorteil zu erreichen oder ein Hindernis zu
beseitigen oder eine Aufgabe zu lösen.

29. =Identität.= Von I. spreche ich im Falle eines psychologischen
Gleichseins. Die I. ist immer ein unbewusstes Phänomen, denn ein
bewusstes Gleichsein würde immer schon das Bewusstsein zweier Dinge,
die einander gleich sind, mithin also eine Trennung von Subjekt und
Objekt voraussetzen, wodurch das Phänomen der I. bereits aufgehoben
wäre. Die psychologische I. setzt ihr Unbewusstsein voraus. Sie ist
ein Charakteristicum der primitiven Mentalität und die eigentliche
Grundlage der „participation mystique“, welche nämlich nichts
anderes ist, als ein Überbleibsel der uranfänglichen psychologischen
Ununterschiedenheit von Subjekt und Objekt, also des primordialen
unbewussten Zustandes; sodann ist sie ein Charakteristikum des
früh-infantilen Geisteszustandes, und schliesslich ist sie auch ein
Charakteristikum des Unbewussten beim erwachsenen Kulturmenschen,
das, insofern es nicht zum Bewusstseinsinhalt geworden ist, dauernd
im Zustand der I. mit den Objekten verharrt. Auf der I. mit den
Eltern beruht die _Identifikation_ (s. d.) mit den Eltern;
ebenso beruht auf ihr die Möglichkeit der _Projektion_ und der
_Introjektion_ (s. d.). Die I. ist in erster Linie ein unbewusstes
Gleichsein mit den Objekten. Sie ist _keine Gleichsetzung_, keine
Identifikation, sondern ein a priorisches Gleichsein, das überhaupt nie
Gegenstand des Bewusstseins war. Auf der I. beruht das naive Vorurteil,
dass die Psychologie des einen gleich sei der des andern, dass überall
dieselben Motive gälten, dass, was mir angenehm ist, selbstverständlich
für den andern auch ein Vergnügen sei, dass, was für mich unmoralisch
ist, für den andern auch unmoralisch sein müsse, etc. Auf I. beruht
auch das allgemein verbreitete Streben, am andern das verbessern zu
wollen, was man bei sich selber ändern sollte. Auf I. beruht ferner
die Möglichkeit der Suggestion und der psychischen Ansteckung.
Besonders klar tritt die I. hervor in pathologischen Fällen, z. B. im
paranoischen Beziehungswahn, wo beim andern selbstverständlich der
eigene subjektive Inhalt vorausgesetzt wird. Die I. ist aber auch die
Möglichkeit eines bewussten Collektivismus, einer bewussten sozialen
Einstellung, die im Ideal der christlichen Nächstenliebe ihren höchsten
Ausdruck gefunden hat.

30. =Individualität.= Unter I. verstehe ich die Eigenart und
Besonderheit des Individuums in jeder psychologischen Hinsicht.
Individuell ist alles, was nicht collektiv ist, was also nur Einem
zukommt und nicht einer grössern Gruppe von Individuen. Von den
psychologischen Elementen wird sich kaum I. aussagen lassen, sondern
wohl nur von ihrer eigenartigen und einzigartigen Gruppierung und
Kombination. (S. Individuum.)

31. =Individuation.= Der Begriff der I. spielt in unserer
Psychologie keine geringe Rolle. Die I. ist allgemein der Vorgang der
Bildung und Besonderung von Einzelwesen, speziell die Entwicklung
des psychologischen Individuums als eines vom allgemeinen, von der
Collektivpsychologie unterschiedenen Wesens. Die I. ist daher ein
_Differenzierungsprozess_, der die Entwicklung der individuellen
Persönlichkeit zum Ziele hat. Die Notwendigkeit der I. ist insofern
eine natürliche, als eine Verhinderung der I. durch überwiegende
oder gar ausschliessliche Normierung an Collektivmasstäben eine
Beeinträchtigung der individuellen Lebenstätigkeit bedeutet. Die
Individualität ist aber schon physisch und physiologisch gegeben und
drückt sich dementsprechend auch psychologisch aus. Eine wesentliche
Behinderung der Individualität bedeutet daher eine künstliche
Verkrüppelung. Es ist ohne weiteres klar, dass eine soziale Gruppe, die
aus verkrüppelten Individuen besteht, keine gesunde und auf die Dauer
lebensfähige Institution sein kann, denn nur diejenige Societät, welche
ihren innern Zusammenhang und ihre Collektivwerte bei grösstmöglicher
Freiheit des Einzelnen bewahren kann, hat eine Anwartschaft auf
dauerhafte Lebendigkeit. Da das Individuum nicht nur Einzelwesen ist,
sondern auch collektive Beziehung zu seiner Existenz voraussetzt, so
führt auch der Prozess der I. nicht in die _Vereinzelung_, sondern
in einen intensivern und allgemeinern Collektivzusammenhang.

Der psychologische Vorgang der I. ist eng verknüpft mit der sogen.
_transscendenten Funktion_, indem durch diese Funktion die
individuellen Entwicklungslinien gegeben werden, welche auf dem durch
Collektivnormen vorgezeichneten Wege niemals erreicht werden können.
(s. Symbol.)

Die I. kann unter keinen Umständen das einzige Ziel der psychologischen
Erziehung sein. Bevor die I. zum Ziele genommen werden kann, muss
das Erziehungsziel der Anpassung an das zur Existenz notwendige
Minimum von Collektivnormen erreicht sein: eine Pflanze, die zur
grösstmöglichen Entfaltung ihrer Eigentümlichkeit gebracht werden soll,
muss zu allererst in dem Boden, in den sie gepflanzt ist, auch wachsen
können. Die I. befindet sich immer mehr oder weniger im Gegensatz
zur Collektivnorm, denn sie ist Abscheidung und Differenzierung vom
Allgemeinen und Herausbildung des Besondern, jedoch nicht einer
_gesuchten_ Besonderheit, sondern einer Besonderheit, die a priori
schon in der Anlage begründet ist. Der Gegensatz zur Collektivnorm
ist aber nur ein scheinbarer, indem bei genauerer Betrachtung der
individuelle Standpunkt _nicht gegensätzlich_ zur Collektivnorm,
sondern nur _anders_ orientiert ist. Der individuelle Weg kann
auch gar nicht eigentlich ein Gegensatz zur Collektivnorm sein, weil
der Gegensatz zu letzterer nur eine entgegengesetzte _Norm_
sein könnte. Der individuelle Weg ist aber eben niemals eine Norm.
Eine Norm entsteht aus der Gesamtheit individueller Wege und hat nur
dann eine Existenzberechtigung und eine lebenfördernde Wirkung, wenn
individuelle Wege, die sich von Zeit zu Zeit an einer Norm orientieren
wollen, überhaupt vorhanden sind. Eine Norm dient zu nichts, wenn sie
absolute Geltung hat. Ein wirklicher Konflikt mit der Collektivnorm
entsteht nur dann, wenn ein individueller Weg zur Norm erhoben
wird, was die eigentliche Absicht des extremen Individualismus ist.
Diese Absicht ist natürlich pathologisch und durchaus lebenswidrig.
Sie hat demgemäss nichts mit I. zu tun, welch letztere zwar den
individuellen Nebenweg einschlägt, eben deshalb auch die Norm braucht
zur Orientierung der Gesellschaft gegenüber und zur Herstellung des
lebensnotwendigen Zusammenhanges der Individuen in der Societät. Die
I. führt daher zu einer natürlichen Wertschätzung der Collektivnormen,
während einer ausschliesslich collektiven Lebensorientierung die
Norm in zunehmendem Masse überflüssig wird, wodurch die eigentliche
Moralität zu Grunde geht. _Je stärker die collektive Normierung
des Menschen, desto grösser ist seine individuelle Immoralität._
Die I. fällt zusammen mit der Entwicklung des Bewusstseins aus dem
ursprünglichen _Identitätszustand_ (s. Identität). Die I. bedeutet
daher eine Erweiterung der Sphäre des Bewusstseins und des bewussten
psychologischen Lebens.

32. =Individuum.= I. ist Einzelwesen; das psychologische
I. ist charakterisiert durch seine eigenartige und in gewisser
Hinsicht einmalige Psychologie. Die Eigenart der individuellen
Psyche erscheint weniger an ihren Elementen als vielmehr an ihren
komplexen Gebilden. Das (psychologische) I. oder die psychologische
Individualität existiert unbewusst a priori, bewusst aber nur in
soweit, als ein Bewusstsein der Eigenart vorhanden ist, d. h. insoweit
eine bewusste Verschiedenheit von andern I. vorhanden ist. Mit der
physischen ist auch die psychische Individualität als Korrelat
gegeben, jedoch, wie gesagt, zunächst unbewusst. Es bedarf eines
bewussten Differenzierungsprozesses, der Individuation (s. d.), um die
Individualität bewusst zu machen, d. h. sie aus der Identität mit dem
Objekt herauszuheben. Die Identität der Individualität mit dem Objekt
ist gleichbedeutend mit ihrem Unbewusstsein. Ist die Individualität
unbewusst, so ist kein psychologisches I. vorhanden, sondern bloss eine
Collektivpsychologie des Bewusstseins. In diesem Fall erscheint die
unbewusste Individualität als identisch mit dem Objekt, projiziert auf
das Objekt. Das Objekt hat infolgedessen einen zu grossen Wert und
wirkt zu stark determinierend.

33. =Intellekt.= I. nenne ich das _gerichtete Denken_ (s. d.).

34. =Introjektion.= I. wurde von _Avenarius_[366] als
ein der _Projektion_ entsprechender Terminus eingeführt. Die
damit gemeinte _Hineinverlegung_ eines subjektiven Inhaltes
in ein Objekt wird aber ebenso gut auch durch den Begriff der
Projektion ausgedrückt, weshalb für diesen Vorgang der Terminus
„Projektion“ beizubehalten wäre. _Ferenczi_ hat nun den Begriff
der I. als im Gegensatz zu „Projektion“ definiert, nämlich als eine
Einbeziehung des Objektes in den subjektiven Interessenkreis, während
„Projektion“ eine Hinausverlegung subjektiver Inhalte in das Objekt
bedeutet.[367] „Während der Paranoische die unlustvoll gewordenen
Regungen aus dem Ich hinaus verdrängt, hilft sich der Neurotiker
auf die Art, dass er einen möglichst grossen Teil der Aussenwelt in
das Ich aufnimmt und zum Gegenstand unbewusster Phantasien macht.“
Ersterer Mechanismus ist Projektion, letzterer I. Die I. ist eine
Art „Verdünnungsprozess“, eine „Ausweitung des Interessenkreises“.
Nach Ferenczi ist die I. auch ein normaler Vorgang. Psychologisch ist
die I. also ein Assimilationsvorgang (s. d.); während die Projektion
ein Dissimilationsvorgang ist. Die I. bedeutet eine Angleichung des
Objektes an das Subjekt, die Projektion dagegen eine Unterscheidung
des Objektes vom Subjekt vermittelst eines aufs Objekt verlegten
subjektiven Inhaltes. Die I. ist ein Extraversionsvorgang, indem zur
Angleichung des Objektes eine Einfühlung, überhaupt eine Besetzung des
Objektes nötig ist. Man kann eine _passive_ und eine _aktive_
I. unterscheiden; zu ersteren Formen gehören die Übertragungsvorgänge
bei der Behandlung von Neurosen, überhaupt alle Fälle, wo das Objekt
eine unbedingte Anziehung auf das Subjekt ausübt; zur letzteren Form
gehört die _Einfühlung_ als Anpassungsvorgang.

35. =Introversion.= I. heisst Einwärtswendung der Libido (s. d.).
Damit ist eine negative Beziehung des Subjektes zum Objekt ausgedrückt.
Das Interesse bewegt sich nicht zum Objekt, sondern zieht sich davor
zurück aufs Subjekt. Jemand, der introvertiert eingestellt ist, denkt,
fühlt und handelt in einer Art und Weise, die deutlich erkennen
lässt, dass das Subjekt in erster Linie motivierend ist, während dem
Objekt höchstens ein sekundärer Wert zukommt. Die I. kann einen mehr
intellektuellen oder mehr gefühlsmässigen Charakter haben, ebenso
kann sie durch Intuition oder durch Empfindung gekennzeichnet sein.
Die I. ist _aktiv_, wenn das Subjekt eine gewisse Abschliessung
gegenüber dem Objekt _will_, _passiv_, wenn das Subjekt nicht
imstande ist, die vom Objekt zurückströmende Libido wieder auf das
Objekt zurückzubringen. Ist die I. habituell, so spricht man von einem
_introvertierten Typus_ (s. Typen).

36. =Intuition= (von intueri-anschauen) ist nach meiner
Auffassung eine psychologische Grundfunktion (s. Funktion). Die I.
ist diejenige psychologische Funktion, welche Wahrnehmungen _auf
unbewusstem Wege_ vermittelt. Gegenstand dieser Wahrnehmung kann
Alles sein, äussere und innere Objekte oder deren Zusammenhänge. Das
Eigentümliche der I. ist, dass sie weder Sinnesempfindung, noch Gefühl,
noch intellektueller Schluss ist, obschon sie auch in diesen Formen
auftreten kann. Bei der I. präsentiert sich irgend ein Inhalt als
fertiges Ganzes, ohne dass wir zunächst fähig wären, anzugeben oder
herauszufinden, auf welche Weise dieser Inhalt zustande gekommen ist.
Die I. ist eine Art instinktiven Erfassens, gleichviel welcher Inhalte.
Sie ist, wie die Empfindung (s. d.), eine _irrationale_ (s. d.)
Wahrnehmungsfunktion. Ihre Inhalte haben, wie die der Empfindung,
den Charakter der Gegebenheit, im Gegensatz zu dem Charakter des
„Abgeleiteten“, „Hervorgebrachten“ der Gefühls- und Denkinhalte. Die
intuitive Erkenntnis hat daher ihren Charakter von Sicherheit und
Gewissheit, der _Spinoza_ vermochte, die „scientia intuitiva“
für die höchste Form der Erkenntnis zu halten.[368] Die I. hat diese
Eigenschaft mit der Empfindung gemein, deren physische Grundlage Grund
und Ursache ihrer Gewissheit ist. Ebenso beruht die Gewissheit der I.
auf einem bestimmten psychischen Tatbestand, dessen Zustandekommen und
Bereitsein aber unbewusst war. Die I. tritt auf in _subjektiver_
oder _objektiver_ Form, erstere ist eine Wahrnehmung unbewusster
psychischer Tatbestände, die wesentlich subjektiver Provenienz sind,
letztere eine Wahrnehmung von Tatbeständen, die auf subliminalen
Wahrnehmungen am Objekte und auf durch sie veranlassten subliminalen
Gefühlen und Gedanken beruhen. Es sind auch _concrete_ und
_abstrakte_ Formen der I. zu unterscheiden, je nach dem Grade
der Mitbeteiligung der Empfindung. Die concrete I. vermittelt
Wahrnehmungen, welche die Tatsächlichkeit der Dinge betreffen, die
abstrakte I. dagegen vermittelt die Wahrnehmung ideeller Zusammenhänge.
Die concrete I. ist ein reaktiver Vorgang, indem sie aus gegebenen
Tatbeständen ohne weiteres erfolgt. Die abstrakte I. dagegen benötigt,
wie die abstrakte Empfindung, eines gewissen Richtungselementes, eines
Willens oder einer Absicht.

Die I. ist neben der Empfindung ein Charakteristikum der infantilen und
primitiven Psychologie. Sie vermittelt dem Kinde und dem Primitiven
gegenüber dem stark hervortretenden Empfindungseindruck die Wahrnehmung
der mythologischen Bilder, der Vorstufen der _Ideen_ (s. d.).
Die I. verhält sich compensierend zur Empfindung, und ist, wie die
Empfindung, die Mutterstätte, von wo sich Denken und Fühlen als
rationale Funktionen entwickeln. Die I. ist eine irrationale Funktion,
obschon viele I. nachträglich in ihre Komponenten zerlegt werden
können, und somit auch ihr Zustandekommen mit den Vernunftgesetzen in
Einklang gebracht werden kann. Jemand, der seine allgemeine Einstellung
nach dem Prinzip der I. also nach Wahrnehmungen über das Unbewusste
orientiert, gehört zum _intuitiven Typus_[369] (s. Typen). Je nach
der Verwertung der I. nach innen, ins Erkennen oder innere Anschauen
oder nach aussen ins Handeln und Ausführen kann man introvertierte
und extravertierte Intuitive unterscheiden. In abnormen Fällen tritt
eine starke Verschmelzung mit und eine ebenso grosse Bedingtheit durch
Inhalte des collektiven Unbewussten zu Tage, wodurch der intuitive
Typus äusserst irrational und unbegreiflich erscheinen kann.

37. =Irrational.= Ich verwende diesen Begriff nicht im Sinne des
_Widervernünftigen_, sondern im Sinne des _Ausservernünftigen_, nämlich
dessen, was mit der Vernunft nicht zu begründen ist. Dazu gehören
die elementaren Tatsachen, z. B. dass die Erde einen Mond hat, dass
Chlor ein Element ist, dass Wasser bei 4° C. seine grösste Dichtigkeit
erreicht usw. I. ist ferner der _Zufall_, obschon _nachträglich_ seine
vernünftige Kausalität nachgewiesen werden kann. Das I. ist ein Faktor
des Seins, der zwar durch Komplikation der vernünftigen Erklärung immer
weiter hinausgeschoben werden kann, der aber dadurch die Erklärung
schliesslich dermassen kompliziert, dass sie die Fassungskraft des
vernünftigen Denkens übersteigt und somit dessen Grenzen erreicht, noch
bevor sie das Ganze der Welt mit dem Gesetze der Vernunft umspannt
hätte. Eine völlige rationale Erklärung eines wirklich seienden
Objektes (also nicht eines bloss gesetzten) ist eine Utopie oder ein
Ideal. Nur ein Objekt, das gesetzt wurde, kann rational auch völlig
erklärt werden, denn es ist von vornherein nicht mehr darin, als eben
durch die Vernunft des Denkens gesetzt wurde. Auch die empirische
Wissenschaft setzt rational beschränkte Objekte, indem sie durch
beabsichtigten Ausschluss des Zufälligen das wirkliche Objekt als
Ganzes nicht in Betracht kommen lässt, sondern immer nur einen für
die rationale Betrachtung desselben hervorgehobenen Teil. So ist das
Denken als _gerichtete Funktion_ rational, ebenso das Fühlen. Stellen
diese Funktionen aber nicht auf eine rational bestimmte Auswahl von
Objekten oder Eigenschaften und Beziehungen von Objekten ab, sondern
auf zufällig Wahrgenommenes, das am wirklichen Objekt niemals zu fehlen
pflegt, so entbehren sie der Richtung und verlieren dadurch etwas von
ihrem rationalen Charakter, weil sie Zufälliges aufnehmen. Sie werden
dadurch zum Teil i. Das Denken und Fühlen, das sich nach zufälligen
Wahrnehmungen richtet und deshalb eben i. ist, ist _intuitives_
oder _empfindendes_ Denken und Fühlen. _Intuition_ sowohl wie
_Empfindung_ sind psychologische Funktionen, die ihre Vollkommenheit
in der _absoluten Wahrnehmung_ des überhaupt Geschehenden erreichen.
Ihrem Wesen entsprechend müssen sie daher auf absolute Zufälligkeit
und auf jede Möglichkeit eingestellt sein; sie müssen daher der
rationalen Richtung gänzlich entbehren. Ich bezeichne sie darum als i.
Funktionen, im Gegensatz zu Denken und Fühlen, als welche Funktionen
sind, die ihre Vollkommenheit in einer völligen Übereinstimmung mit
den Vernunftgesetzen erreichen. Obschon das I. als solches niemals
der Gegenstand einer Wissenschaft sein kann, so ist es doch für eine
praktische Psychologie von grossem Belang, das Moment des I. richtig
eingeschätzt zu haben. Die praktische Psychologie wirft nämlich viele
Probleme auf, die rational überhaupt nicht gelöst werden können,
sondern eine i. Erledigung verlangen, d. h. auf einem Wege, welcher
den Vernunftgesetzen nicht entspricht. Durch eine zu ausschliessliche
Erwartung oder gar Überzeugung, dass für jeden Konflikt auch eine
vernünftige Möglichkeit der Beilegung existieren müsse, kann eine
wirkliche Lösung von i. Natur verhindert werden. (Siehe Rational.)

38. =Libido.= Unter L. verstehe ich die _psychische Energie_.[370]
Psychische Energie ist die Intensität des psychischen Vorganges,
sein _psychologischer Wert_. Darunter ist kein erteilter Wert
moralischer, ästhetischer oder intellektueller Art zu verstehen,
sondern der psychologische Wert wird einfach bestimmt nach seiner
_determinierenden_ Kraft, die sich in bestimmten psychischen Wirkungen
(„Leistungen“) äussert. Ich verstehe unter L. auch nicht eine
psychische _Kraft_, welches Missverständnis oftmals von Kritikern
gemacht wurde. Ich hypostasiere den Energiebegriff nicht, sondern
gebrauche ihn als einen Begriff für Intensitäten oder Werte. Die Frage,
ob es eine spezifische, psychische Kraft gibt oder nicht, hat mit dem
Begriff der L. nichts zu tun. Ich gebrauche den Ausdruck L. öfters
promiscuë mit „Energie“. Die Berechtigung, die psychische Energie
L. zu nennen, habe ich in den in der Fussnote angeführten Arbeiten
ausführlich dargetan.

39. =Machtkomplex.= Mit M. bezeichne ich gelegentlich den gesamten
Komplex aller jener Vorstellungen und Strebungen, welche die Tendenz
haben, das Ich über andere Einflüsse zu stellen und diese dem Ich
unterzuordnen, mögen diese Einflüsse von Menschen und Verhältnissen
stammen, oder mögen sie von eigenen, subjektiven Trieben, Gefühlen und
Gedanken herkommen.

40. =Minderwertige Funktion.= Unter M. F. verstehe ich jene
F., welche beim Differenzierungsprozess im Rückstand bleibt. Es ist
nämlich erfahrungsgemäss kaum möglich, -- aus Ungunst der allgemeinen
Bedingungen -- dass jemand zugleich alle seine psychologischen F.
zur Entwicklung bringe. Schon die sozialen Anforderungen bringen
es mit sich, dass der Mensch zu allernächst und allermeist jene
F. am stärksten differenziert, zu welcher er entweder von Natur
aus am besten befähigt ist, oder welche ihm zu seinem sozialen
Erfolge die wirksamsten Mittel leiht. Sehr häufig, fast in der
Regel, identifiziert man sich auch mehr oder weniger vollständig
mit der meist begünstigten und daher am weitesten entwickelten
F. Daraus entstehen die psychologischen _Typen_. Bei der
Einseitigkeit dieses Entwicklungsprozesses, bleiben eine oder mehrere
Funktionen notwendigerweise in der Entwicklung zurück. Man kann
sie daher passenderweise als „minderwertig“ bezeichnen und zwar in
psychologischem, aber nicht in psychopathologischem Sinne, denn diese
zurückgebliebenen F. sind keineswegs krankhaft, sondern nur rückständig
im Vergleich zur begünstigten F. Meist, d. h. in normalen Fällen,
bleibt die M. F. bewusst; in der Neurose dagegen verfällt die M. F.
teilweise oder grösstenteils dem Unbewussten. In dem Masse nämlich
als alle Libido der begünstigten F. zugeführt wird, entwickelt sich
die M. F. regressiv, d. h. sie kehrt in ihre archaïschen Vorstadien
zurück, wodurch sie inkompatibel mit der bewussten und begünstigten
F. wird. Wenn eine F., die normalerweise bewusst sein sollte, dem
Unbewussten verfällt, so verfällt auch die dieser F. spezifische
Energie dem Unbewussten. Eine natürliche F., wie z. B. das Fühlen,
besitzt eine ihr von Natur aus zukommende Energie, sie ist ein
festorganisiertes lebendiges System, das unter keinen Umständen seiner
Energie gänzlich zu berauben ist. Durch das Unbewusstwerden der M. F.
wird ihr Energierest ins Unbewusste überführt, wodurch das Unbewusste
in unnatürlicher Weise belebt wird. Daraus entstehen der archaïsch
gewordenen F. entsprechende Phantasien. Eine analytische Befreiung
der M. F. aus dem Unbewussten kann daher nur stattfinden durch die
Heraufbringung der unbewussten Phantasiegebilde, die eben durch die
unbewusst gewordene F. angeregt worden waren. Durch die Bewusstmachung
dieser Phantasien wird auch die M. F. wieder zum Bewusstsein gebracht
und damit der Entwicklungsmöglichkeit zugeführt.

41. =Objektstufe.= Unter Deutung auf der O. verstehe ich diejenige
Auffassung eines Traumes oder einer Phantasie, bei der die darin
auftretenden Personen oder Verhältnisse als auf Objektiv-reale Personen
oder Verhältnisse bezogen werden. Dies im Gegensatz zur Subjektstufe
(s. d.), bei der die im Traume vorkommenden Personen und Verhältnisse
ausschliesslich auf subjektive Grössen bezogen werden. Die _Freud_sche
Traumauffassung bewegt sich fast ausschliesslich auf der Objektstufe,
insofern die Traumwünsche als auf reale Objekte bezüglich gedeutet oder
auf Sexualvorgänge bezogen werden, die in die physiologische, also
ausserpsychologische Sphäre fallen.

42. =Orientierung.= Als O. bezeichne ich das allgemeine Prinzip einer
Einstellung (s. d.). Jede Einstellung orientiert sich nach einem
gewissen Gesichtspunkt, ob nun dieser Gesichtspunkt bewusst sei
oder nicht. Eine sogen. Machteinstellung orientiert sich nach dem
Gesichtspunkt der Macht des Ich über unterdrückende Einflüsse und
Bedingungen. Eine Denkeinstellung orientiert sich z. B. am logischen
Prinzip als ihrem höchsten Gesetz. Eine Empfindungseinstellung
orientiert sich an der sinnlichen Wahrnehmung gegebener Tatsachen.

43. =„Participation mystique“.= Dieser Terminus stammt von
_Lévy-Bruhl_.[371] Es wird darunter eine eigentümliche Art einer
psychologischen Verbundenheit mit dem Objekt verstanden. Sie besteht
darin, dass das Subjekt sich nicht klar vom Objekt unterscheiden kann,
sondern mit diesem durch eine unmittelbare Beziehung, die man als
partielle Identität bezeichnen kann, verbunden ist. Diese Identität
beruht auf einem a priorischen Einssein von Objekt und Subjekt. Die P.
m. ist daher ein Überbleibsel dieses Urzustandes. Sie betrifft nicht
das Ganze der Beziehung von Subjekt und Objekt, sondern nur gewisse
Fälle, in denen das Phänomen dieser eigenartigen Bezogenheit auftritt.
Die P. m. ist natürlich eine Erscheinung, die am besten bei den
Primitiven zu beobachten ist; sie ist jedoch auch beim Kulturmenschen
sehr häufig, wenn auch nicht in derselben Ausdehnung und Intensität
vorhanden. In der Regel findet sie beim Kulturmenschen statt zwischen
Personen, seltener zwischen einer Person und einer Sache. Im erstern
Fall ist sie ein sogen. Übertragungsverhältnis, bei welchem dem Objekt
(in der Regel) eine gewissermassen magische, d. h. unbedingte Wirkung
auf das Subjekt zukommt. In letzterm Fall handelt es sich entweder um
ähnliche Wirkungen einer Sache oder um eine Art von Identifikation mit
einer Sache oder der Idee derselben.

44. =Phantasie.= Unter P. verstehe ich zwei verschiedene
Dinge, nämlich 1. das _Phantasma_ und 2. die _imaginative
Tätigkeit_. Es geht aus dem Text meiner Arbeit hervor, was jeweils
mit dem Ausdruck P. gemeint ist. Unter P. _als Phantasma_
verstehe ich einen Vorstellungskomplex, welcher sich vor andern
Vorstellungskomplexen dadurch auszeichnet, dass ihm kein äusserlich
realer Sachverhalt entspricht. Obschon eine P. ursprünglich auf
Erinnerungsbildern wirklich stattgehabter Erlebnisse beruhen kann,
so entspricht doch ihr Inhalt keiner äussern Realität, sondern ist
wesentlich nur der Ausfluss der schöpferischen Geistestätigkeit,
eine Betätigung oder ein Produkt der Kombination energiebesetzter
psychischer Elemente. Insofern die psychische Energie einer
willkürlichen Richtung unterworfen werden kann, kann auch die P.
bewusst und willkürlich hervorgebracht werden, entweder als Ganzes oder
wenigstens als Teil. Im erstern Fall ist sie dann nichts anderes als
eine Kombination bewusster Elemente. Jedoch ist dieser Fall nur ein
künstliches und theoretisch bedeutsames Experiment. In der Wirklichkeit
der alltäglichen psychologischen Erfahrung ist die P. meistens
entweder durch eine erwartende, intuitive Einstellung ausgelöst
oder sie ist eine Irruption unbewusster Inhalte ins Bewusstsein.
Man kann _aktive_ und _passive_ P. unterscheiden; erstere
sind veranlasst durch Intuition, d. h. durch eine auf Wahrnehmung
unbewusster Inhalte gerichtete Einstellung, wobei die Libido alle
aus dem Unbewussten auftauchenden Elemente sofort besetzt und
durch Association paralleler Materialien zur Höhe der Klarheit und
Anschaulichkeit bringt; letztere treten ohne vorgehende und begleitende
intuitive Einstellung von vornherein in anschaulicher Form auf bei
völlig passiver Einstellung des erkennenden Subjektes. Diese P. gehören
zu den psychischen „Automatismes“ (_Janet_). Diese letzteren
P. können natürlich nur bei einer relativen Dissociation der Psyche
vorkommen, denn ihr Zustandekommen setzt voraus, dass ein wesentlicher
Energiebetrag sich der bewussten Kontrolle entzogen und unbewusste
Materialien besetzt hat. So setzt die Vision des Saulus voraus, dass
er unbewusst bereits ein Christ ist, was seiner bewussten Einsicht
entgangen war. Die passive P. entstammt wohl immer einem im Verhältnis
zum Bewusstsein gegensätzlichen Vorgang im Unbewussten, der annähernd
so viel Energie auf sich vereinigt, wie die bewusste Einstellung und
deshalb auch befähigt ist, den Widerstand letzterer zu durchbrechen.

Die aktive P. dagegen verdankt ihre Existenz nicht bloss einseitig
einem intensiven und gegensätzlichen unbewussten Vorgang, sondern
ebensowohl der Geneigtheit der bewussten Einstellung, die Andeutungen
oder Fragmente relativ schwach betonter, unbewusster Zusammenhänge
aufzunehmen und durch Associierung paralleler Elemente bis zur völligen
Anschaulichkeit auszugestalten. Bei der aktiven P. handelt es sich
also nicht notwendigerweise um einen dissociierten Seelenzustand,
sondern vielmehr um eine positive Anteilnahme des Bewusstseins. Wenn
die passive Form der P. nicht selten den Stempel des Krankhaften
oder wenigstens Abnormen trägt, so gehört die aktive Form oft zu
den höchsten menschlichen Geistestätigkeiten. Denn in ihr fliesst
die bewusste und die unbewusste Persönlichkeit des Subjektes in ein
gemeinsames und vereinigendes Produkt zusammen. Eine derart gestaltete
P. kann der höchste Ausdruck der Einheit einer Individualität sein
und diese letztere eben gerade durch den vollkommenen Ausdruck
ihrer Einheit auch erzeugen. (Vergl. dazu _Schillers_ Begriff der
„ästhetischen Stimmung“.) Die passive P. ist in der Regel wohl nie der
Ausdruck einer zur Einheit gelangten Individualität, denn sie setzt,
wie gesagt, eine starke Dissociation voraus, die ihrerseits nur auf
einem ebenso starken Gegensatz des Unbewussten zum Bewusstsein beruhen
kann. Die aus einem solchen Zustande durch Irruption ins Bewusstsein
hervorgegangene P. wird daher wohl nie der vollkommene Ausdruck einer
in sich geeinten Individualität sein können, sondern vorwiegend des
Standpunktes der unbewussten Persönlichkeit. Das Leben des Paulus ist
ein gutes Beispiel hiefür: seine Wendung zum christlichen Glauben
entsprach einem Annehmen des vorher unbewussten Standpunktes und
einer Verdrängung des bisherigen antichristlichen Standpunktes, welch
letzterer sich dann in seinen hysterischen Anfällen bemerkbar machte.
Die passive P. bedarf daher immer einer bewussten _Kritik_, wenn
sie nicht einseitig den Standpunkt des unbewussten Gegensatzes zur
Geltung bringen soll. Die aktive P. dagegen als das Produkt einerseits
einer zum Unbewussten _nicht_ gegensätzlichen bewussten Einstellung
und andererseits unbewusster Vorgänge, die sich nicht gegensätzlich,
sondern bloss compensatorisch zum Bewusstsein verhalten, bedarf dieser
Kritik nicht, sondern bloss des _Verständnisses_.

Wie beim Traume (der nichts anderes als eine passive P. ist), so
ist auch bei der P. ein _manifester_ und ein _latenter Sinn_ zu
unterscheiden. Ersterer ergibt sich aus der unmittelbaren Anschauung
des P.-bildes, der unmittelbaren Aussage des phantastischen
Vorstellungskomplexes. Der manifeste Sinn verdient allerdings oft kaum
diesen Namen, obschon er bei der P. immer sehr viel mehr entwickelt
ist, als beim Traum, was wahrscheinlich daher rühren dürfte, dass
die Traum-P. in der Regel keiner besondern Energie bedarf, um sich
dem schwachen Widerstand des schlafenden Bewusstseins wirksam
entgegensetzen zu können, weshalb auch wenig gegensätzliche und bloss
leicht compensatorische Tendenzen schon zur Wahrnehmung gelangen
können. Die Wach-P. dagegen muss schon über eine beträchtliche Energie
verfügen, um die von der bewussten Einstellung ausgehende Hemmung
überwinden zu können. Dazu muss der unbewusste Gegensatz also schon
sehr wichtig sein, um ins Bewusstsein hineingelangen zu können. Wenn
er nur in vagen und schwer fassbaren Andeutungen bestände, so wäre er
niemals imstande, die Aufmerksamkeit (die bewusste Libido) dermassen
auf sich zu lenken, dass er den Zusammenhang der Bewusstseinsinhalte
unterbrechen könnte. Der unbewusste Inhalt ist daher auf einen sehr
starken innern Zusammenhang, der sich eben in einem ausgesprochenen
manifesten Sinn äussert, angewiesen. Der manifeste Sinn hat immer den
Charakter eines anschaulichen und concreten Vorganges, der wegen seiner
objektiven Irrealität den Anspruch des Bewusstseins auf Verständnis
nicht befriedigen kann. Es wird daher nach einer andern Bedeutung
der P., nach einer _Deutung_ derselben, suchen, also nach einem
latenten Sinne. Obschon nun die Existenz eines latenten Sinnes der P.
zunächst keineswegs sicher ist, und einer eventuellen Bestreitung der
Möglichkeit eines latenten Sinnes nichts im Wege steht, so ist doch
der Anspruch auf ein befriedigendes Verständnis Motiv genug für eine
eingehende Nachforschung. Diese Erforschung des latenten Sinnes kann
zunächst rein _kausaler_ Natur sein, unter der Fragestellung nach den
psychologischen Ursachen des Zustandekommens der P. Diese Fragestellung
führt einerseits zu weiter rückwärts gelegenen Anlässen zur P. und
andererseits zur Feststellung der Triebkräfte, welche energetisch für
das Zustandekommen der P. verantwortlich zu machen sind. Wie bekannt,
hat _Freud_ diese Richtung besonders intensiv ausgebaut. Ich habe
diese Art der Deutung als _reduktive_ bezeichnet. Die Berechtigung
einer reduktiven Auffassung ist ohne weiteres ersichtlich und ebenso
ist es durchaus verständlich, wenn für ein gewisses Temperament diese
Art der Deutung psychologischer Tatbestände etwas Befriedigendes hat,
sodass kein Anspruch auf weiteres Verständnis mehr erhoben wird. Wenn
jemand einen Hilferuf ausstösst, so ist dieses Faktum hinreichend und
befriedigend erklärt, wenn nachgewiesen ist, dass der Betreffende
sich momentan in Lebensgefahr befindet. Wenn jemand von vollbesetzten
Tafeln träumt, und es ist nachgewiesen, dass er beim Zubettegehen an
Hunger litt, so ist diese Erklärung seines Traumes befriedigend. Wenn
jemand, der seine Sexualität unterdrückt, etwa ein mittelalterlicher
Heiliger, sexuelle P. hat, so ist diese Tatsache durch Reduktion auf
die unterdrückte Sexualität hinreichend erklärt.

Wenn wir hingegen die Vision des Petrus dadurch erklären wollten,
dass wir sie etwa auf die Tatsache, dass er an Hunger gelitten und
darum vom Unbewussten die Aufforderung zum Essen der unreinen Tiere
erhalten hätte, oder dass das Essen der unreinen Tiere überhaupt
bloss die Erfüllung eines verbotenen Wunsches bedeutet hätte, so hat
eine solche Erklärung wenig Befriedigendes an sich. Ebenso kann es
unsern Anspruch nicht befriedigen, wenn wir die Vision des Saulus
beispielsweise auf seinen verdrängten Neid auf die Rolle, die der
Christus bei seinen Volksgenossen spielte, vermöge dessen er sich mit
Christus identifizierte, zurückführen wollten. Beide Erklärungen mögen
etwas Wahres an sich haben, sie stehen jedoch in keinem Verhältnis
zu der zeitgeschichtlich bedingten Psychologie des Petrus sowohl wie
des Paulus. Diese Erklärung ist zu einfach und zu billig. Man kann
die Weltgeschichte nicht als ein Problem der Physiologie oder der
persönlichen chronique scandaleuse abhandeln. Dieser Standpunkt wäre
zu beschränkt. Wir sind daher genötigt, unsere Auffassung vom latenten
Sinn der P. bedeutend zu erweitern; zunächst in kausaler Hinsicht:
die Psychologie des einzelnen ist niemals erschöpfend aus ihm selber
zu erklären, sondern es muss auch klar erkannt sein, dass und wie
seine individuelle Psychologie durch die zeitgeschichtlichen Umstände
bedingt ist. Sie ist nicht bloss ein physiologisches, biologisches oder
persönliches, sondern auch ein zeitgeschichtliches Problem. Und sodann
lässt sich irgend ein psychologischer Tatbestand niemals erschöpfend
aus seiner Kausalität allein erklären, indem er als lebendiges Phänomen
immer in die Kontinuität des Lebensprozesses unauflöslich verknüpft
ist, sodass er zwar einerseits stets ein Gewordenes, andererseits aber
auch stets ein Werdendes, Schöpferisches ist. Der psychologische Moment
hat ein Janusgesicht: er blickt rückwärts und vorwärts. Indem er wird,
bereitet er auch das Zukünftige vor. Wenn dem nicht so wäre, so wären
die Absicht, der Zweck, das Setzen von Zielen, die Vorausberechnung
oder Vorausahnung psychologische Unmöglichkeiten. Wenn jemand eine
Meinung äussert, und wir beziehen diesen Tatbestand lediglich darauf,
dass zuvor ein anderer eine Meinung äusserte, so ist diese Erklärung
praktisch ganz unzulänglich, denn wir wollen nicht bloss die Ursache
dieses Tuns wissen, um es zu begreifen, sondern auch, was er damit
meint, was er bezweckt und beabsichtigt, was er damit erreichen
will. Wenn wir auch darum noch wissen, so geben wir uns in der Regel
zufrieden. Im alltäglichen Leben fügen wir ohne weiteres und ganz
instinktiv einen finalen Standpunkt der Erklärung ein; ja, wir halten
sehr oft gerade den finalen Gesichtspunkt für den ausschlaggebenden
unter gänzlicher Übergehung des stricte ursächlichen Momentes, offenbar
in der instinktiven Anerkennung des schöpferischen Momentes des
psychischen Wesens. Wenn wir in der alltäglichen Erfahrung dermassen
handeln, so muss auch eine wissenschaftliche Psychologie diesem Umstand
Rechnung tragen und zwar dadurch, dass sie sich nicht ausschliesslich
auf den stricte kausalen Standpunkt, den sie ursprünglich von der
Naturwissenschaft übernommen hat, begibt, sondern auch die finale Natur
des Psychischen berücksichtigt.

Wenn nun durch die alltägliche Erfahrung die finale Orientierung
der Bewusstseinsinhalte über allen Zweifel hinaus feststeht, so ist
zunächst gar kein Anlass vorhanden, anzunehmen, dass dies nicht auch
bei den Inhalten des Unbewussten der Fall wäre, gegenteilige Erfahrung
vorbehalten. Nach meiner Erfahrung besteht nun keineswegs ein
Anlass, die finale Orientierung unbewusster Inhalte zu bestreiten, im
Gegenteil; die Fälle, in denen eine befriedigende Erklärung nur durch
die Einführung des finalen Gesichtspunktes erreicht wird, sind recht
zahlreich. Wenn wir also z. B. die Vision des Saulus in Ansehung der
paulinischen Weltmission betrachten, und darum zum Schlusse kommen,
dass Saulus zwar bewusst ein Christenverfolger war, unbewusst aber
den christlichen Standpunkt adoptiert hatte und durch Überwiegen und
Irruption des Unbewussten zum Christen gemacht wurde, weil seine
unbewusste Persönlichkeit nach diesem Ziele strebte in instinktiver
Erfassung der Notwendigkeit und Bedeutsamkeit dieser Tat, so erscheint
mir diese Erklärung der Bedeutung dieses Tatbestandes adäquater zu
sein, als eine reduktive Erklärung durch persönliche Momente, obschon
letztere zweifellos in dieser oder jener Form mitbeteiligt waren,
denn das „Allzumenschliche“ fehlt nirgends. Ebenso ist die in der
Apostelgeschichte gegebene Andeutung einer finalen Erklärung der
Petrusvision weit befriedigender als eine physiologisch-persönliche
Mutmassung.

Zusammenfassend können wir also sagen, dass die P. sowohl kausal wie
final zu verstehen ist. Der kausalen Erklärung erscheint sie als ein
_Symptom_ eines physiologischen oder persönlichen Zustandes,
welcher das Resultat vorausgegangener Geschehnisse ist. Der finalen
Erklärung dagegen erscheint die P. als ein _Symbol_, welches
mit Hilfe der vorhandenen Materialien ein bestimmtes Ziel oder
vielmehr eine gewisse zukünftige psychologische Entwicklungslinie
zu kennzeichnen oder zu erfassen sucht. Weil die aktive P. das
hauptsächliche Merkmal der künstlerischen Geistestätigkeit ist, so
ist der Künstler nicht bloss ein _Darsteller_, sondern ein
_Schöpfer_ und darum ein _Erzieher_, denn seine Werke haben
den Wert von Symbolen, welche künftige Entwicklungslinien vorzeichnen.
Die beschränktere oder allgemeinere soziale Gültigkeit der Symbole
hängt ab von der beschränkteren oder allgemeineren Lebensfähigkeit der
schöpferischen Individualität. Je abnormer, d. h. je lebensunfähiger
die Individualität ist, desto beschränktere soziale Gültigkeit haben
die durch sie hervorgebrachten Symbole, wenn schon die Symbole für die
betreffende Individualität von absoluter Bedeutung sind. Man kann die
Existenz des latenten Sinnes der P. nur dann bestreiten, wenn man auch
der Ansicht ist, dass ein Naturvorgang überhaupt eines befriedigenden
Sinnes entbehre. Die Naturwissenschaft hat indes den Sinn des
Naturvorganges in Form der Naturgesetze herausgehoben. Die Naturgesetze
sind zugestandenermassen menschliche Hypothesen, aufgestellt zur
Erklärung des Naturvorganges. In dem Masse aber, als es sicher
gestellt ist, dass das aufgestellte Gesetz mit dem objektiven Vorgang
übereinstimmt, sind wir berechtigt von einem Sinn des Naturgeschehens
zu reden. In dem Masse nun, indem es uns gelingt, eine Gesetzmässigkeit
der P. aufzuweisen, sind wir auch berechtigt, von einem Sinn derselben
zu reden. Der aufgefundene Sinn ist aber nur dann befriedigend, oder
mit andern Worten: die nachgewiesene Gesetzmässigkeit verdient nur
dann diesen Namen, wenn sie das Wesen der P. adäquat wiedergibt. Es
gibt eine Gesetzmässigkeit am Naturvorgang und eine Gesetzmässigkeit
des Naturvorganges. Es ist zwar gesetzmässig, dass man träumt, wenn
man schläft; das ist aber keine Gesetzmässigkeit, welche etwas über
das Wesen des Traumes aussagt. Es ist eine blosse Bedingung des
Traumes. Der Nachweis einer physiologischen Quelle der P. ist eine
blosse Bedingung ihres Vorhandenseins, aber kein Gesetz ihres Wesens.
Das Gesetz der P. als eines psychologischen Phänomens kann nur ein
psychologisches sein.

Wir gelangen nun zum zweiten Punkte unserer Erklärung des Begriffes
der P., nämlich zum Begriff der _imaginativen Tätigkeit_.
Die Imagination ist die reproduktive oder schöpferische Tätigkeit
des Geistes überhaupt, ohne ein besonderes Vermögen zu sein, denn
sie kann sich in allen Grundformen des psychischen Geschehens
abspielen, im Denken, Fühlen, Empfinden und Intuieren. Die P. als
imaginative Tätigkeit ist für mich einfach der unmittelbare Ausdruck
der psychischen Lebenstätigkeit, der psychischen Energie, die dem
Bewusstsein nicht anders als in Form von Bildern oder Inhalten gegeben
ist, wie auch die physische Energie nicht anders in Erscheinung tritt,
denn als physischer Zustand, der die Sinnesorgane auf physischem
Wege reizt. Wie jeder physische Zustand -- energetisch betrachtet --
nichts anderes ist als ein Kräftesystem, so ist auch ein psychischer
Inhalt nichts anderes -- wenn energetisch betrachtet -- als ein dem
Bewusstsein erscheinendes Kräftesystem. Man kann daher von diesem
Standpunkt aus sagen, dass die P. als Phantasma nichts anderes sei
als ein bestimmter Libidobetrag, der dem Bewusstsein niemals anders
erscheinen kann, als eben in der Form eines Bildes. Das Phantasma ist
eine „idée-force“. Das Phantasieren als imaginative Tätigkeit ist
identisch mit dem Ablauf des psychischen Energieprozesses.

45. =Projektion.= P. bedeutet die Hinauslegung eines subjektiven
Vorganges in ein Objekt. (Dies im Gegensatz zur Introjektion (s. d.).)
Die P. ist demnach ein Dissimilationsvorgang, indem ein subjektiver
Inhalt dem Subjekt entfremdet und gewissermassen dem Objekt einverleibt
wird. Es sind ebenso wohl peinliche, inkompatible Inhalte, deren sich
das Subjekt durch P. entledigt, wie auch positive Werte, die dem
Subjekt aus irgend welchen Gründen, z. B. infolge Selbstunterschätzung,
unzugänglich sind. Die P. beruht auf der archaïschen Identität (s. d.)
von Subjekt und Objekt, ist aber erst dann als P. zu bezeichnen,
wenn die Notwendigkeit der Auflösung der Identität mit dem Objekt
eingetreten ist. Diese Notwendigkeit tritt ein, wenn die Identität
störend wird, d. h. wenn durch die Abwesenheit des projizierten
Inhaltes die Anpassung wesentlich beeinträchtigt und deshalb die
Zurückbringung des projizierten Inhaltes ins Subjekt wünschenswert
wird. Von diesem Moment an erhält die bisherige partielle Identität
den Charakter der P. Der Ausdruck P. bezeichnet daher einen
Identitätszustand, der merkbar und dadurch Gegenstand der Kritik
geworden ist, sei es der eigenen Kritik des Subjektes, sei es der
Kritik eines andern.

Man kann eine _passive_ und eine _aktive_ P. unterscheiden.
Erstere Form ist die gewöhnliche Form aller pathologischen und
vieler normalen P., welche keiner Absicht entspringen, sondern
lediglich automatisches Geschehen sind. Letztere Form findet sich als
wesentlicher Bestandteil des _Einfühlungsaktes_. Die Einfühlung
(s. d.) ist zwar als Ganzes ein Introjektionsprozess, indem sie dazu
dient, das Objekt in eine intime Beziehung zum Subjekt zu bringen. Um
diese Beziehung herzustellen, trennt das Subjekt einen Inhalt, z. B.
ein Gefühl, von sich ab, versetzt es ins Objekt, es damit belebend,
und bezieht auf diese Weise das Objekt in die subjektive Sphäre ein.
Die aktive Form der P. findet sich aber auch als Urteilsakt, der eine
Trennung von Subjekt und Objekt bezweckt. In diesem Fall wird ein
subjektives Urteil als gültiger Sachverhalt vom Subjekt abgetrennt
und ins Objekt versetzt, wodurch das Subjekt sich vom Objekt absetzt.
Die P. ist demnach ein Introversionsvorgang, indem sie im Gegensatz
zur Introjektion keine Einbeziehung und Angleichung, sondern eine
Unterscheidung und Abtrennung des Subjektes vom Objekt herbeiführt. Sie
spielt daher eine Hauptrolle bei der Paranoia, welche in der Regel zu
einer totalen Isolierung des Subjektes führt.

46. =Rational.= Das R. ist das Vernünftige, der Vernunft
entsprechende. Ich fasse die Vernunft als eine Einstellung auf, deren
Prinzip es ist, das Denken, Fühlen und Handeln gemäss objektiven
Werten zu gestalten. Die objektiven Werte stellen sich her durch die
durchschnittliche Erfahrung einerseits äusserer, andererseits innerer
psychologischer Tatsachen. Diese Erfahrungen könnten allerdings
keine objektiven „Werte“ darstellen, wenn sie vom Subjekt als solche
„bewertet“ würden, was allbereits ein Akt der Vernunft ist. Die
vernünftige Einstellung, welche uns erlaubt, objektive Werte überhaupt
als gültig zu erklären, ist nun aber nicht das Werk des einzelnen
Subjektes, sondern der Menschheitsgeschichte. Die meisten objektiven
Werte -- und eben damit die Vernunft -- sind seit Alters überkommene,
festgefügte Vorstellungskomplexe, an deren Organisation ungezählte
Jahrtausende gearbeitet haben mit derselben Notwendigkeit, mit der die
Natur des lebenden Organismus überhaupt auf die durchschnittlichen und
stets sich wiederholenden Bedingungen der Umwelt reagiert und ihnen
entsprechende Funktionskomplexe gegenüberstellt, wie z. B. das der
Natur des Lichtes vollkommen entsprechende Auge. Man könnte daher von
einer präexistierenden, metaphysischen Weltvernunft sprechen, wenn
nicht das der durchschnittlichen äussern Einwirkung entsprechende
Reagieren des lebendigen Organismus die unerlässliche Bedingung seiner
Existenz überhaupt wäre, welchen Gedanken schon _Schopenhauer_
geäussert hat. Die menschliche Vernunft ist daher nichts anderes als
der Ausdruck der Angepasstheit an das durchschnittlich Vorkommende,
das sich in allmählich festorganisierten Vorstellungskomplexen, welche
die objektiven Werte ausmachen, niedergeschlagen hat. Die Gesetze der
Vernunft sind also diejenigen Gesetze, welche die durchschnittliche
„richtige“, die angepasste Einstellung bezeichnen und regulieren. R.
ist alles, was mit diesen Gesetzen übereinstimmt, irrational (s. d.)
dagegen alles, was sich mit diesen Gesetzen nicht deckt.

R.-Funktionen sind Denken und Fühlen, insofern sie durch das Moment
der Überlegung ausschlaggebend beeinflusst sind. Sie erreichen
ihre Bestimmung am völligsten in einer möglichst vollkommenen
Übereinstimmung mit den Vernunftgesetzen. Irrationale Funktionen
dagegen sind solche, die eine reine Wahrnehmung bezwecken, wie
Intuieren und Empfinden, denn sie müssen des R., welches die
Ausschliessung alles Ausservernünftigen voraussetzt, so viel wie
möglich entbehren, um zu einer vollständigen Wahrnehmung alles
Vorkommenden gelangen zu können.

47. =Reduktiv.= R. bedeutet „zurückführend“. Ich gebrauche diesen
Ausdruck zur Bezeichnung jener psychologischen Deutungsmethode, welche
das unbewusste Produkt nicht unter dem Gesichtswinkel des symbolischen
Ausdrucks, sondern als _semiotisch_, als Zeichen oder als Symptom
eines grundliegenden Vorganges auffasst. Dementsprechend behandelt
die r. Methode das unbewusste Produkt im Sinne einer Zurückführung
auf die Elemente, auf die Grundvorgänge, seien sie nun Reminiszenzen
an wirklich stattgehabte Ereignisse oder seien sie elementare, die
Psyche affizierende Vorgänge. Die r. Methode ist daher rückwärts
orientiert (im Gegensatz zur construktiven Methode (s. d.)), entweder
im historischen Sinne oder im übertragenen Sinne einer Rückführung
einer komplexen und differenzierten Grösse auf Allgemeineres und
Elementareres. Die _Freud_sche, sowie die _Adler_sche Deutungsmethode
ist r., indem beide auf elementare Wunsch- oder Strebungsvorgänge,
in letzter Linie infantiler oder physiologischer Natur reduzieren.
Dem unbewussten Produkt kommt dabei notwendigerweise nur der Wert
eines uneigentlichen Ausdrucks zu, wofür der Terminus „Symbol“
(s. d.) eigentlich nicht verwendet werden sollte. Die Wirkung der
Reduktion ist in Bezug auf die Bedeutung des unbewussten Produktes
eine auflösende, indem es entweder auf seine historischen Vorstufen
zurückgeführt und dadurch vernichtet wird, oder indem es wieder
demjenigen Elementarvorgang integriert wird, aus dem es hervorgegangen
ist.

48. =Seele.= Ich habe mich im Verlaufe meiner Untersuchungen
der Struktur des Unbewussten veranlasst gesehen, eine begriffliche
Unterscheidung durchzuführen zwischen S. und _Psyche_. Unter
Psyche verstehe ich die Gesamtheit aller psychischen Vorgänge, der
bewussten sowohl wie der unbewussten. Unter S. dagegen verstehe ich
einen bestimmten, abgegrenzten Funktionskomplex, den man am besten
als eine „Persönlichkeit“ charakterisieren könnte. Um zu beschreiben,
was ich des Nähern damit meine, muss ich noch einige fernerliegende
Gesichtspunkte herbeiziehen. Es sind besonders die Erscheinungen des
Somnambulismus, der Charakterverdoppelung, der Persönlichkeitsspaltung,
um deren Erforschung sich in erster Linie französische Forscher
verdient gemacht haben, welche uns den Gesichtspunkt einer möglichen
Mehrheit von Persönlichkeiten in einem und demselben Individuum
nahegelegt haben.[372] Es ist ohne weiteres klar, dass bei einem
normalen Individuum eine solche Mehrheit von Persönlichkeiten niemals
in Erscheinung treten kann; aber die durch diese Fälle dargetane
Möglichkeit einer Persönlichkeitsdissociation dürfte wenigstens als
Andeutung auch in der normalen Breite existieren. Tatsächlich gelingt
es auch einer etwas geschärften psychologischen Beobachtung unter
nicht allzu grossen Schwierigkeiten bei normalen Individuen wenigstens
andeutungsweise Spuren einer Charakterspaltung nachzuweisen. Man muss
z. B. nur jemand unter verschiedenen Umständen genau beobachten,
dann wird man entdecken, wie auffallend seine Persönlichkeit beim
Übergang von einem Milieu ins andere sich verändert, wobei jedesmal ein
scharfumrissener und von dem frühern deutlich verschiedener Charakter
herauskommt. Der sprichwörtliche Ausdruck „Gassenengel-Hausteufel“
ist eine der alltäglichen Erfahrung entsprungene Formulierung
des Phänomens der Persönlichkeitsspaltung. Ein bestimmtes Milieu
erfordert eine bestimmte Einstellung. Je länger oder je öfter diese
dem Milieu entsprechende Einstellung erfordert ist, desto eher
wird sie habituell. Sehr viele Menschen von der gebildeten Klasse
müssen sich meistens in zwei total verschiedenen Milieus bewegen, im
häuslichen Kreise, in der Familie und im Geschäftsleben. Die beiden
total verschiedenen Umgebungen erfordern zwei total verschiedene
Einstellungen, die je nach dem Grade der Identifikation (s. d.) des
Ich mit der jeweiligen Einstellung eine Verdoppelung des Charakters
bedingen. Den sozialen Bedingungen und Notwendigkeiten entsprechend
orientiert sich der soziale Charakter einerseits nach den Erwartungen
oder den Anforderungen des geschäftlichen Milieus, andererseits nach
den sozialen Absichten und Bestrebungen des Subjekts. Der häusliche
Charakter dürfte sich in der Regel mehr nach den gemütlichen und den
Bequemlichkeitsansprüchen des Subjekts gestalten, woher es kommt, dass
Leute, die im öffentlichen Leben äusserst energisch, mutig, hartnäckig,
eigensinnig und rücksichtslos sind, zu Hause und in der Familie als
gutmütig, weich, nachgiebig und schwach erscheinen. Welches ist nun
der wahre Charakter, die wirkliche Persönlichkeit? Diese Frage ist
oft unmöglich zu beantworten. Diese kurze Überlegung zeigt, dass
auch beim normalen Individuum die Charakterspaltung keineswegs zu
den Unmöglichkeiten gehört. Man ist darum wohl berechtigt, die Frage
der Persönlichkeitsdissociation auch als ein Problem der normalen
Psychologie zu behandeln. Nach meiner Ansicht wäre -- um die Erörterung
fortzusetzen -- die obige Frage dahin zu beantworten, dass ein solcher
Mensch überhaupt keinen wirklichen Charakter hat, d. h. überhaupt nicht
_individuell_ (s. d.) ist, sondern _collektiv_ (s. d.), d. h.
den allgemeinen Umständen, den allgemeinen Erwartungen entsprechend.
Wäre er individuell, so hätte er nur einen und denselben Charakter bei
aller Verschiedenheit der Einstellung. Er wäre nicht identisch mit
der jeweiligen Einstellung und könnte und wollte es nicht hindern,
dass seine Individualität im einen wie im andern Zustand irgendwie zum
Ausdruck käme. Tatsächlich ist er individuell, wie jedes Wesen, aber
unbewusst. Durch seine mehr oder weniger vollständige Identifikation
mit der jeweiligen Einstellung täuscht er mindestens die andern,
oft auch sich selbst, über seinen wirklichen Charakter; er nimmt
eine _Maske_ vor, von der er weiss, dass sie einerseits seinen
Absichten, andererseits den Ansprüchen und Meinungen seiner Umgebung
entspricht, wobei bald das eine, bald das andere Moment überwiegt.
Diese Maske, nämlich die ad hoc vorgenommene Einstellung, nannte
ich _Persona_[373], was die Bezeichnung der Maske des antiken
Schauspielers war. Wer sich mit der Maske identifiziert, den nenne ich
„persönlich“ (im Gegensatz zu „individuell“).

Die beiden Einstellungen des obgedachten Falles sind zwei collektive
Persönlichkeiten, die wir schlechthin unter dem Namen Persona oder
Personae zusammenfassen wollen. Ich habe oben bereits angedeutet, dass
die wirkliche Individualität von beiden verschieden ist. Die Persona
ist also ein Funktionskomplex, der aus Gründen der Anpassung oder der
notwendigen Bequemlichkeit zustande gekommen, aber nicht identisch ist
mit der Individualität. Der Funktionskomplex der Persona bezieht sich
ausschliesslich auf das Verhältnis zu den Objekten.

Von der Beziehung des Individuums zum äussern Objekt ist nun die
Beziehung zum Subjekt scharf zu unterscheiden. Mit dem Subjekt meine
ich zunächst jene vagen oder dunklen Regungen, Gefühle, Gedanken
und Empfindungen, die nicht nachweisbar aus der Kontinuität des
bewussten Erlebens am Objekt zufliessen, sondern eher störend und
hemmend, bisweilen auch fördernd aus dem dunklen Innern, aus den
Unter- und Hintergründen des Bewusstseins auftauchen und in ihrer
Gesamtheit die Wahrnehmung vom Leben des Unbewussten ausmachen.
Das Subjekt, als „inneres“ Objekt aufgefasst, ist das Unbewusste.
Wie es ein Verhältnis zum äussern Objekt, eine äussere Einstellung
gibt, so gibt es auch ein Verhältnis zum innern Objekt, eine innere
Einstellung. Es ist verständlich, dass diese innere Einstellung wegen
ihres äusserst intimen und schwer zugänglichen Wesens eine bei weitem
unbekanntere Sache ist, als die äussere Einstellung, die jedermann
ohne weiteres sehen kann. Jedoch scheint es mir nicht zu schwierig,
sich von dieser innern Einstellung einen Begriff zu machen. Alle jene
sogenannten zufälligen Hemmungen, Launen, Stimmungen, vagen Gefühle und
Phantasiefragmente, welche bisweilen die konzentrierte Arbeitsleistung,
bisweilen auch die Ruhe des normalsten Menschen stören und bald auf
körperliche Ursachen, bald auf sonstige Anlässe zurückrationalisiert
werden, haben fast in der Regel ihren Grund nicht in den ihnen vom
Bewusstsein zugedachten Ursachen, sondern sind Wahrnehmungen von
unbewussten Vorgängen. Zu diesen Erscheinungen gehören natürlich
auch die Träume, die man ja, wie bekannt, gerne auf solche äussere
und oberflächliche Ursachen, wie Indigestionen, Rückenlage und
dergl. m. zurückführt, obschon eine solche Erklärung einer strengern
Kritik niemals standhält. Die Einstellung der einzelnen Menschen ist
diesen Dingen gegenüber eine ganz verschiedene. Der eine lässt sich
von seinen innern Vorgängen nicht im geringsten anfechten, er kann
darüber sozusagen gänzlich hinwegsehen, der andere aber ist ihnen im
höchsten Mass unterworfen; schon beim Aufstehen verdirbt ihm irgend
eine Phantasie oder ein widerwärtiges Gefühl die Laune für den ganzen
Tag, eine vage, unangenehme Empfindung suggeriert ihm den Gedanken
an eine heimliche Krankheit, ein Traum hinterlässt ihm eine düstere
Ahnung, obschon er sonst nicht abergläubisch ist. Andere wiederum sind
nur episodisch diesen unbewussten Regungen zugänglich oder nur einer
gewissen Kategorie derselben. Dem einen sind sie vielleicht überhaupt
noch nie zum Bewusstsein gekommen als etwas, worüber man denken
könnte, dem andern aber sind sie ein Problem täglichen Grübelns. Der
eine bewertet sie physiologisch, oder schreibt sie dem Verhalten des
Nächsten zu, der andere findet in ihnen eine religiöse Offenbarung.

Diese gänzlich verschiedenen Arten, mit den Regungen des Unbewussten
umzugehen, sind ebenso habituell wie die Einstellungen zum äussern
Objekt. Die innere Einstellung entspricht daher einem ebenso bestimmten
Funktionskomplex, wie die äussere Einstellung. Jene Fälle, in denen
die innern psychischen Vorgänge anscheinend gänzlich übersehen werden,
ermangeln ebenso wenig einer typischen innern Einstellung, wie jene,
welche konstant das äussere Objekt, die Realität der Tatsachen
übersehen, einer typischen äussern Einstellung ermangeln. Die Persona
dieser letzteren, nicht allzu seltenen Fälle hat den Charakter der
Beziehungslosigkeit, bisweilen sogar einer blinden Rücksichtslosigkeit,
die sich oft erst harten Schicksalsschlägen beugt. Es ist nicht
selten, dass oft gerade solche Individuen, deren Persona durch eine
starre Rücksichtslosigkeit und Beziehungslosigkeit gekennzeichnet
ist, den Vorgängen des Unbewussten gegenüber eine Einstellung
besitzen, deren Charakter eine äusserste Beeinflussbarkeit ist. So
unbeeinflussbar und unzugänglich sie aussen sind, so weich, schlaff
und bestimmbar sind sie gegenüber ihren innern Vorgängen. In diesen
Fällen entspricht daher die innere Einstellung einer von der äussern
diametral verschiedenen innern Persönlichkeit. Ich kenne z. B. einen
Menschen, der schonungslos und blind das Lebensglück seiner Nächsten
zerstört hat, der aber wichtige Geschäftsreisen unterbricht, um die
Schönheit eines Waldrandes, den er von der Eisenbahn aus erspäht hat,
geniessen zu können. Solche oder ähnliche Fälle sind gewiss jedem
bekannt, sodass ich die Beispiele nicht zu häufen brauche. Ebenso
gut, wie uns die alltägliche Erfahrung berechtigt, von einer äussern
Persönlichkeit zu sprechen, berechtigt sie uns auch, die Existenz einer
innern Persönlichkeit anzunehmen. Die innere Persönlichkeit ist die Art
und Weise, wie sich einer zu den innern psychischen Vorgängen verhält,
sie ist die innere Einstellung, der Charakter, den er dem Unbewussten
zukehrt. Ich bezeichne die äussere Einstellung, den äussern Charakter
als Persona, die innere Einstellung bezeichne ich als _Anima_,
als _Seele_. In demselben Masse als eine Einstellung habituell
ist, ist sie ein mehr oder weniger festgefügter Funktionskomplex, mit
dem sich das Ich mehr oder weniger identifizieren kann. Die Sprache
drückt es plastisch aus: wenn jemand eine habituelle Einstellung
gewissen Situationen gegenüber hat, so pflegt man zu sagen: Er ist
ein ganz _anderer_, wenn er dieses oder jenes tut. Damit ist die
Selbständigkeit des Funktionskomplexes einer habituellen Einstellung
dargetan: es ist, wie wenn eine andere Persönlichkeit vom Individuum
Besitz ergriffe, wie wenn „ein anderer Geist in ihn gefahren wäre“.
Dieselbe Selbständigkeit, wie sie der äussern Einstellung sehr oft
zukommt, beansprucht auch die innere Einstellung, die Seele. Es gehört
zu den allerschwierigsten Kunststücken der Erziehung, die Persona, die
äussere Einstellung zu ändern. Ebenso schwierig ist es, die Seele zu
ändern, denn ihre Struktur pflegt genau so fest gefügt zu sein, wie
die der Persona. Wie die Persona ein Wesen ist, das oft den ganzen
anscheinenden Charakter eines Menschen ausmacht und ihn gegebenen Falls
durch sein ganzes Leben unveränderlich begleitet, so ist auch seine
Seele ein bestimmt umrissenes Wesen von einem bisweilen unveränderlich
festen und selbständigen Charakter. Sie lässt sich darum öfters sehr
wohl charakterisieren und beschreiben.

Was den Charakter der Seele anbetrifft, so gilt nach meiner Erfahrung
der allgemeine Grundsatz, dass sie sich im grossen und ganzen zum
äussern Charakter _complementär_ verhält. Die Seele pflegt
erfahrungsgemäss alle diejenigen allgemein menschlichen Eigenschaften
zu enthalten, welche der bewussten Einstellung fehlen. Der von bösen
Träumen, düstern Ahnungen und innerlichen Ängsten geplagte Tyrann ist
eine typische Figur. Äusserlich rücksichtslos, hart und unzugänglich,
ist er innerlich jedem Schatten zugänglich, jeder Laune unterworfen,
wie wenn er das unselbständigste, bestimmbarste Wesen wäre. Seine
Seele enthält also jene allgemein menschlichen Eigenschaften der
Bestimmbarkeit und der Schwäche, die seiner äussern Einstellung,
seiner Persona gänzlich fehlen. Ist die Persona intellektuell, so
ist die Seele ganz sicher sentimental. Der Complementärcharakter der
Seele betrifft aber auch den Geschlechtscharakter, wie ich vielfach
unzweifelhaft gesehen habe. Eine sehr weibliche Frau hat eine
männliche Seele, ein sehr männlicher Mann eine weibliche Seele. Dieser
Gegensatz rührt daher, dass z. B. der Mann nicht durchaus und in
allen Dingen männlich ist, sondern er hat normalerweise auch gewisse
weibliche Züge. Je männlicher seine äussere Einstellung ist, desto mehr
sind darin die weiblichen Züge ausgemerzt; sie treten daher an der
Seele auf. Dieser Umstand erklärt, warum gerade sehr männliche Männer
charakteristischen Schwächen unterworfen sind: sie verhalten sich zu
den Regungen des Unbewussten weiblich-bestimmbar und beeinflussbar.
Umgekehrt sind oft gerade die weiblichsten Frauen gewissen innern
Dingen gegenüber von einer Unbelehrbarkeit, Hartnäckigkeit und
Eigensinnigkeit, welche Eigenschaften in solcher Intensität nur beim
Manne als äussere Einstellung zu finden sind. Es sind Züge männlicher
Art, die, von der weiblichen äussern Einstellung ausgeschlossen, zu
Eigenschaften der Seele geworden sind. Wenn wir daher beim Manne von
einer _Anima_ sprechen, so müssten wir folgerichtigerweise bei
der Frau von einem _Animus_ reden, um der Seele der Frau den
richtigen Namen zu geben. Wie beim Manne im allgemeinen in der äussern
Einstellung Logik und Sachlichkeit überwiegen oder wenigstens als
Ideale betrachtet werden, so bei der Frau das Gefühl. In der Seele
aber kehrt sich das Verhältnis um, der Mann fühlt nach Innen, die
Frau aber überlegt. Deshalb ist der Mann leichter total verzweifelt,
wo die Frau immer noch trösten und hoffen kann, darum bringt er sich
eher um als die Frau. So sehr die Frau den sozialen Umständen z. B.
als Prostituierte zum Opfer fallen kann, so sehr verfällt der Mann den
Impulsen des Unbewussten, dem Alkoholismus und andern Lastern.

Was die allgemein menschlichen Eigenschaften betrifft, so lässt sich
der Charakter der Seele aus dem Charakter der Persona deduzieren.
Alles, was normalerweise in der äussern Einstellung sein sollte,
dort aber auffallenderweise fehlt, findet sich unzweifelhaft in
der innern Einstellung. Dies ist eine Grundregel, die sich mir
immer wieder bestätigte. Was aber die individuellen Eigenschaften
anbetrifft, so lässt sich in dieser Hinsicht nichts deduzieren. Man
kann nur gewiss sein, dass, wenn jemand mit seiner Persona identisch
ist, die individuellen Eigenschaften mit der Seele associiert
sind. Aus dieser Association geht das in Träumen häufige Symbol
der Seelenschwangerschaft hervor, das sich an das urtümliche Bild
der Heldengeburt anlehnt. Das zu gebärende Kind bedeutet dann die
noch nicht bewusst vorhandene Individualität. So wie die Persona
als Ausdruck der Anpassung an das Milieu in der Regel stark vom
Milieu beeinflusst und geformt ist, so ist auch die Seele stark vom
Unbewussten und dessen Qualitäten geformt. Wie die Persona in einem
primitiven Milieu fast notwendigerweise primitive Züge annimmt, so
übernimmt die Seele einerseits die archaïschen Züge des Unbewussten,
andererseits den symbolisch-prospektiven Charakter des Unbewussten.
Daher stammt das „Ahnungsreiche“ und „Schöpferische“ der innern
Einstellung. Die Identität mit der Persona bedingt automatisch eine
unbewusste Identität mit der Seele, denn, wenn das Subjekt, das Ich,
ununterschieden ist von der Persona, so hat es keine bewusste Beziehung
zu den Vorgängen des Unbewussten. Es ist daher diese Vorgänge selber,
es ist identisch damit. Wer seine äussere Rolle unbedingt selber ist,
der ist auch unweigerlich den innern Vorgängen verfallen, d. h. er
wird gegebenenfalls seine äussere Rolle mit unbedingter Notwendigkeit
durchkreuzen oder sie ad absurdum führen (Enantiodromia, s. d.). Eine
Behauptung der individuellen Linie ist dadurch ausgeschlossen, und das
Leben verläuft in den unausweichlichen Gegensätzen. In diesem Falle
ist die Seele auch immer projiziert in ein entsprechendes, reales
Objekt, zu welchem dann ein fast unbedingtes Abhängigkeitsverhältnis
existiert. Alle Reaktionen, die von diesem Objekt ausgehen, haben eine
unmittelbare, von Innen angreifende Wirkung auf das Subjekt. Es handelt
sich oft um tragische Bindungen. (Siehe Seelenbild.)

49. =Seelenbild.= Das S. ist ein bestimmter Fall unter den
psychischen Bildern (s. d.), die das Unbewusste produziert. Wie die
Persona, die äussere Einstellung, in den Träumen durch die Bilder
gewisser Personen, welche die betreffenden Eigenschaften in besonders
ausgeprägter Form besitzen, dargestellt wird, so wird auch die Seele,
die innere Einstellung vom Unbewussten durch bestimmte Personen, welche
die der Seele entsprechenden Eigenschaften besitzen, dargestellt. Ein
solches Bild heisst S. Gelegentlich sind es auch ganz unbekannte oder
mythologische Personen. Bei Männern wird die Seele vom Unbewussten in
der Regel als weibliche Person dargestellt, bei Frauen als männliche
Person. In jenen Fällen, wo die Individualität unbewusst und darum mit
der Seele associiert ist, hat das S. gleichgeschlechtlichen Charakter.
In allen jenen Fällen, wo eine Identität mit der Persona (siehe Seele)
vorliegt, und daher die Seele unbewusst ist, ist das Seelenbild in eine
reale Person verlegt. Diese Person ist der Gegenstand einer intensiven
Liebe oder eines ebenso intensiven Hasses (oder auch der Furcht). Die
Einflüsse dieser Person haben den Charakter der Unmittelbarkeit und
des unbedingt Zwingenden, indem sie stets affektiv beantwortet werden.
Der Affekt rührt daher, dass eine wirkliche bewusste Anpassung an das
das S. vorstellende Objekt unmöglich ist. Wegen der Unmöglichkeit und
Nichtexistenz einer objektiven Beziehung staut sich die Libido auf
und explodiert in einer Affektentladung. Affekte finden sich stets an
Stelle missglückter Anpassungen. Eine bewusste Anpassung an das das
S. darstellende Objekt ist eben darum unmöglich, weil dem Subjekt die
Seele unbewusst ist. Wäre sie ihm bewusst, so könnte es sie vom Objekt
unterscheiden und damit auch die unmittelbaren Wirkungen des Objektes
aufheben, denn diese Wirkungen rühren von der Projektion des S. auf das
Objekt her.

Als realer Träger des S. eignet sich für den Mann am besten eine Frau,
wegen der weiblichen Qualität seiner Seele, für die Frau am ehesten ein
Mann. Wo immer eine unbedingte, sozusagen magisch wirkende Beziehung
zwischen den Geschlechtern besteht, handelt es sich um eine Projektion
des S. Da nun diese Beziehungen häufig sind, so muss auch die Seele
häufig unbewusst sein, d. h. es muss vielen Menschen unbewusst sein,
wie sie sich zu den innern psychischen Vorgängen verhalten. Weil diese
Unbewusstheit immer zusammengeht mit einer entsprechend vollständigen
Identifikation mit der Persona (s. Seele), so muss diese letztere
offenbar häufig sein. Dies trifft nun insofern mit der Wirklichkeit
zusammen, als tatsächlich sehr viele Menschen sich mit ihrer äussern
Einstellung völlig identifizieren und daher kein bewusstes Verhältnis
zu den innern Vorgängen haben. Immerhin kommt auch der umgekehrte Fall
vor, dass das S. nicht projiziert wird, sondern beim Subjekt bleibt,
woraus insofern eine Identifikation mit der Seele hervorgeht, als
das betreffende Subjekt dann überzeugt ist, dass die Art und Weise,
wie es sich zu den innern Vorgängen verhält, auch sein einziger und
wirklicher Charakter sei. In diesem Fall wird die Persona infolge ihres
Unbewusstseins projiziert und zwar auf ein gleichgeschlechtliches
Objekt, eine Grundlage für viele Fälle von offener oder mehr
latenter Homosexualität oder von Vaterübertragungen bei Männern und
Mutterübertragungen bei Frauen. Solche Fälle betreffen immer Menschen
mit defekter äusserer Anpassung und relativer Beziehungslosigkeit, denn
die Identifikation mit der Seele schafft eine Einstellung, die sich
vorwiegend an der Wahrnehmung innerer Vorgänge orientiert, wodurch dem
Objekt der bedingende Einfluss weggenommen wird.

Wird das S. projiziert, so tritt eine unbedingte affektive Bindung
an das Objekt ein. Wird es nicht projiziert, so entsteht ein relativ
unangepasster Zustand, den _Freud_ als _Narzissmus_ zum Teil
beschrieben hat. Die Projektion des S. entbindet von der Beschäftigung
mit den innern Vorgängen, so lange das Verhalten des Objektes mit
dem S. übereinstimmt. Dadurch ist das Subjekt in den Stand gesetzt,
seine Persona zu leben und weiter zu entwickeln. Auf die Dauer
wird allerdings das Objekt kaum imstande sein, den Anforderungen
des S. stets zu entsprechen, obschon es Frauen gibt, die unter
Hintansetzung des eigenen Lebens es fertig bringen, ihren Ehemännern
die längste Zeit hindurch das S. darzustellen. Dazu hilft ihnen der
biologische weibliche Instinkt. Dasselbe kann ein Mann unbewusst
für seine Frau tun, nur wird er dadurch zu Taten veranlasst, die im
Guten und im Schlechten schliesslich seine Fähigkeiten übersteigen.
Auch dazu hilft ihm der biologische männliche Instinkt. Wird das S.
nicht projiziert, so entsteht mit der Zeit eine geradezu krankhafte
Differenzierung der Beziehung zum Unbewussten. Das Subjekt wird in
zunehmendem Masse von unbewussten Inhalten überschwemmt, die es wegen
der mangelnden Beziehung zum Objekt weder verwerten noch irgendwie
sonst verarbeiten kann. Es ist selbstverständlich, dass solche Inhalte
das Verhältnis zum Objekt in hohem Masse beeinträchtigen. Diese
beiden Einstellungen sind natürlich äusserste Grenzfälle, zwischen
denen die normalen Einstellungen liegen. Wie bekannt, zeichnet sich
der Normale keineswegs durch eine besondere Klarheit, Reinheit oder
Tiefe seiner psychologischen Phänomene aus, sondern vielmehr durch
deren allgemeine Dämpfung und Verwischtheit. Bei Menschen mit einer
gutmütigen und nicht aggressiven äussern Einstellung hat das S. in der
Regel einen bösartigen Charakter. Ein literarisches Beispiel hiefür
ist das dämonische Weib, das den Zeus begleitet in _Spittelers_
Olympischem Frühling. Der verkommene Mann ist für idealistische
Frauen öfters ein Träger des S., daher die in solchen Fällen häufige
„Rettungsphantasie“, dasselbe bei Männern, wo die Prostituierte mit dem
Glorienschein der zu rettenden Seele umgeben ist.

50. =Selbst.= (Siehe =Ich=.)

51. =Subjektstufe.= Unter Deutung auf der S. verstehe ich
diejenige Auffassung eines Traumes oder einer Phantasie, bei der die
darin auftretenden Personen oder Verhältnisse als auf subjektive,
gänzlich der eigenen Psyche angehörende Faktoren bezogen werden.
Bekanntlich ist das in unserer Psyche befindliche Bild eines Objektes
niemals dem Objekt absolut gleich, sondern höchstens ähnlich. Es kommt
zwar durch die sinnliche Perception und durch die Apperception dieser
Reize zustande, aber eben durch Vorgänge, welche schon unserer Psyche
angehören und vom Objekt bloss veranlasst sind. Das Zeugnis unserer
Sinne deckt sich zwar erfahrungsgemäss weitgehend mit den Qualitäten
des Objektes, unsere Apperception aber steht unter fast unabsehbaren
subjektiven Einflüssen, welche die richtige Erkenntnis eines
menschlichen Charakters ausserordentlich erschweren. Eine so komplexe
psychische Grösse, wie sie ein menschlicher Charakter darstellt, bietet
zudem der reinen Sinnesperception nur sehr geringe Anhaltspunkte. Seine
Erkenntnis erfordert auch Einfühlung, Überlegung und Intuition. Infolge
dieser Komplikationen ist natürlich das endliche Urteil immer nur
von sehr zweifelhaftem Werte, sodass das Bild, das wir uns von einem
menschlichen Objekte formen, unter allen Umständen äusserst subjektiv
bedingt ist. Man tut darum in der praktischen Psychologie gut daran,
wenn man das Bild, die _Imago_ eines Menschen streng unterscheidet
von seiner wirklichen Existenz. Infolge des äusserst subjektiven
Zustandekommens einer Imago ist sie nicht selten eher ein Bild eines
subjektiven Funktionskomplexes als des Objektes selbst. Darum ist es
bei der analytischen Behandlung unbewusster Produkte wesentlich, dass
die Imago nicht ohne weiteres als mit dem Objekt identisch gesetzt,
sondern vielmehr als ein Bild der subjektiven Beziehung zum Objekt
aufgefasst wird. Dies ist die Auffassung auf der S.

Die Behandlung eines unbewussten Produktes auf der S. ergiebt das
Vorhandensein subjektiver Urteile und Tendenzen, zu deren Träger
das Objekt gemacht wird. Wenn nun in einem unbewussten Produkt eine
Objektimago auftritt, so handelt es sich also nicht eo ipso um das
reale Objekt, sondern ebensowohl, vielleicht sogar vorwiegend, um einen
subjektiven Funktionskomplex (s. Seelenbild). Die Anwendung der Deutung
auf der S. erlaubt uns eine umfassende psychologische Deutung nicht nur
des Traumes, sondern auch literarischer Werke, in denen die einzelnen
Figuren Vertreter für relativ selbständige Funktionskomplexe in der
Psyche des Dichters sind.

51. =Symbol.= Der Begriff eines S. ist in meiner Auffassung
streng unterschieden von dem Begriff eines blossen _Zeichens_.
_Symbolische_ und _semiotische_ Bedeutung sind ganz verschiedene
Dinge. _Ferrero_[374] spricht in seinem Buche streng genommen
nicht von S., sondern von _Zeichen_. Z. B. der alte Gebrauch, beim
Verkaufe eines Grundstückes ein Stück Rasen zu überreichen, lässt
sich vulgär als „symbolisch“ bezeichnen, ist aber seiner Natur nach
durchaus semiotisch. Das Stück Rasen ist ein _Zeichen_, gesetzt
für das ganze Grundstück. Das Flügelrad des Eisenbahnbeamten ist
kein S. der Eisenbahn, sondern ein Zeichen, das die Zugehörigkeit
zum Eisenbahnbetrieb kennzeichnet. Das S. dagegen setzt immer
voraus, dass der gewählte Ausdruck die bestmögliche Bezeichnung
oder Formel für einen relativ unbekannten, jedoch als vorhanden
erkannten oder geforderten Tatbestand sei. Wenn also das Flügelrad
des Eisenbahnbeamten als S. erklärt wird, so wäre damit gesagt, dass
dieser Mann mit einem unbekannten Wesen zu tun habe, das sich nicht
anders und besser ausdrücken liesse, als durch ein beflügeltes Rad.
Jede Auffassung, welche den symbolischen Ausdruck als Analogie oder
abgekürzte Bezeichnung einer bekannten Sache erklärt, ist _semiotisch_.
Eine Auffassung, welche den symbolischen Ausdruck als bestmögliche
und daher zunächst gar nicht klarer oder charakteristischer
darzustellende Formulierung einer relativ unbekannten Sache erklärt,
ist _symbolisch_. Eine Auffassung, welche den symbolischen Ausdruck
als absichtliche Umschreibung oder Umgestaltung einer bekannten Sache
erklärt, ist _allegorisch_. Die Erklärung des Kreuzes als eines S. der
göttlichen Liebe ist _semiotisch_, denn „göttliche Liebe“ bezeichnet
den auszudrückenden Tatbestand treffender und besser als ein Kreuz,
das noch viele andere Bedeutungen haben kann. Symbolisch hingegen
ist diejenige Erklärung des Kreuzes, welche es über alle erdenkbaren
Erklärungen hinaus, als einen Ausdruck eines annoch unbekannten und
unverstehbaren mystischen oder transscendenten, d. h. also zunächst
psychologischen Tatbestandes, der sich schlechthin am treffendsten
durch das Kreuz darstellen lässt, ansieht.

Solange ein S. lebendig ist, ist es der Ausdruck einer sonstwie nicht
besser zu kennzeichnenden Sache. Das S. ist nur lebendig, solange
es bedeutungsschwanger ist. Ist aber sein Sinn aus ihm geboren, d. h.
ist derjenige Ausdruck gefunden, welcher die gesuchte, erwartete
oder geahnte Sache noch besser als das bisherige S. formuliert,
so ist das S. _tot_, d. h. es hat nur noch historische Bedeutung.
Man kann deshalb von ihm immer noch als von einem S. reden, unter
der stillschweigenden Voraussetzung, dass man von ihm spricht, als
das, was es war, als es seinen bessern Ausdruck noch nicht aus sich
geboren hatte. Die Art und Weise, wie Paulus und die ältere mystische
Spekulation das Kreuzsymbol behandeln, zeigt, dass es für sie ein
lebendiges S. war, welches Unaussprechliches in _unübertrefflicher
Weise_ darstellte. Für jede esoterische Erklärung ist das S. tot, denn
es ist durch die Esoterik auf einen (sehr oft vermeintlich) bessern
Ausdruck gebracht, wodurch es zum blossen konventionellen Zeichen
für anderwärts völliger und besser bekannte Zusammenhänge dient.
Lebendig ist das S. immer nur für den exoterischen Standpunkt. Ein
Ausdruck, der für eine bekannte Sache gesetzt wird, bleibt immer ein
blosses Zeichen und ist niemals S. Es ist darum ganz unmöglich, ein
lebendiges, d. h. bedeutungsschwangeres S. aus bekannten Zusammenhängen
zu schaffen. Denn das so Geschaffene enthält nie mehr, als was darein
gelegt wurde. Jedes psychische Produkt, insofern es der augenblicklich
bestmögliche Ausdruck für einen annoch unbekannten oder bloss relativ
bekannten Tatbestand ist, kann als Symbol aufgefasst werden, insofern
man geneigt ist, anzunehmen, dass der Ausdruck auch das, was erst
geahnt, aber noch nicht klar gewusst ist, bezeichnen wolle. Insofern
jede wissenschaftliche Theorie eine Hypothese einschliesst, also eine
antizipierende Bezeichnung eines im wesentlichen noch unbekannten
Tatbestandes ist, ist sie ein S. Des Weitern ist jede psychologische
Erscheinung ein S. unter der Annahme, dass sie noch ein Mehreres und
Anderes besage oder bedeute, was sich der gegenwärtigen Erkenntnis
entziehe. Diese Annahme ist schlechterdings überall möglich, wo
ein Bewusstsein ist, das auf weitere Bedeutungsmöglichkeiten der
Dinge eingestellt ist. Sie ist nur da nicht möglich, und zwar
bloss für dieses selbe Bewusstsein, wo es selber einen Ausdruck
hergestellt hat, der genau soviel besagen soll, als die Absicht seiner
Herstellung wollte, also z. B. ein mathematischer Ausdruck. Für ein
anderes Bewusstsein aber besteht diese Einschränkung keineswegs.
Es kann auch den mathematischen Ausdruck als ein S. auffassen für
einen in der Absicht seiner Herstellung verborgenen, unbekannten
psychischen Tatbestand, insofern dieser Tatbestand demjenigen, der
den semiotischen Ausdruck geschaffen hat, nachweisbar nicht bekannt
ist und darum nicht Gegenstand einer bewussten Benützung sein konnte.
Ob etwas ein S. sei oder nicht, hängt zunächst von der Einstellung
des betrachtenden Bewusstseins ab, eines Verstandes z. B., der den
gegebenen Tatbestand nicht bloss als solchen, sondern auch als
Ausdruck von Unbekanntem ansieht. Es ist daher wohl möglich, dass
jemand einen Tatbestand herstellt, der seiner Betrachtung keineswegs
symbolisch erscheint, wohl aber einem andern Bewusstsein. Ebenso
ist der umgekehrte Fall möglich. Es gibt nun allerdings Produkte,
deren symbolischer Charakter nicht bloss von der Einstellung des
betrachtenden Bewusstseins abhängt, sondern sich von sich aus in einer
symbolischen Wirkung auf den Betrachtenden offenbart. Es sind dies
Produkte, die so gestaltet sind, dass sie jeglichen Sinnes entbehren
müssten, wenn ihnen nicht ein symbolischer Sinn zukäme. Ein Dreieck
mit einem darin eingeschlossenen Auge ist als reine Tatsächlichkeit
dermassen sinnlos, dass der Betrachtende es unmöglich als eine bloss
zufällige Spielerei auffassen kann. Eine solche Gestaltung drängt
eine symbolische Auffassung unmittelbar auf. Unterstützt wird diese
Wirkung entweder durch ein öfteres und identisches Vorkommen derselben
Gestaltung oder durch eine besonders sorgfältige Art der Herstellung,
welche nämlich der Ausdruck eines darauf verlegten besondern Wertes
ist. S., die nicht in dieser eben beschriebenen Weise aus sich wirken,
sind entweder tot, d. h. durch bessere Formulierung überholt, oder
Produkte, deren symbolische Natur ausschliesslich von der Einstellung
des betrachtenden Bewusstseins abhängt. Wir können diese Einstellung,
welche die gegebene Erscheinung als symbolisch auffasst, abgekürzt
als _symbolische Einstellung_ bezeichnen. Sie ist durch das Verhalten
der Dinge nur zum Teil berechtigt, zum andern Teil ist sie Ausfluss
einer bestimmten Weltanschauung, welche nämlich dem Geschehen, sei
es im Grossen oder Kleinen, einen Sinn beimisst und auf diesen Sinn
einen gewissen grössern Wert legt, als auf die reine Tatsächlichkeit.
Dieser Anschauung steht eine andere Anschauung gegenüber, die den
Akzent stets auf die reine Tatsächlichkeit legt und den Sinn den
Tatsachen unterordnet. Für diese letztere Einstellung gibt es überall
dort keine S., wo die Symbolik ausschliesslich auf der Art der
Betrachtung beruht. Dagegen gibt es auch für sie S., nämlich eben
solche, die den Betrachter zur Vermutung eines verborgenen Sinnes
auffordern. Ein stierköpfiges Götterbild kann zwar als ein Menschenleib
mit einem Stierkopf drauf erklärt werden. Diese Erklärung dürfte
aber der symbolischen Erklärung kaum die Wage halten, denn das S.
ist zu aufdringlich, als dass es übergangen werden könnte. Ein S.,
das seine symbolische Natur aufdringlich dartut, braucht noch kein
_lebendiges_ S. zu sein. Es kann z. B. bloss auf den historischen
oder philosophischen Verstand wirken. Es erweckt intellektuelles oder
ästhetisches Interesse. Lebendig heisst ein S. aber nur dann, wenn es
ein best- und höchstmöglicher Ausdruck des Geahnten und noch nicht
Gewussten auch für den Betrachtenden ist. Unter diesen Umständen
bewirkt es unbewusste Anteilnahme. Es hat lebenerzeugende und
-fördernde Wirkung. Wie Faust sagt:

„Wie anders wirkt dies Zeichen auf mich ein --“ Das lebendige S.
formuliert ein wesentliches unbewusstes Stück, und je allgemeiner
verbreitet dieses Stück ist, desto allgemeiner ist auch die Wirkung
des S., denn es rührt in jedem die verwandte Saite an. Da das S.
einerseits der bestmögliche und für die gegebene Epoche nicht zu
übertreffende Ausdruck für das noch Unbekannte ist, so muss es aus
dem Differenziertesten und Kompliziertesten der zeitgenössischen
geistigen Atmosphäre hervorgehen. Da das lebendige S. andererseits
aber das Verwandte einer grössern Menschengruppe in sich schliessen
muss, um überhaupt auf eine solche wirken zu können, so muss es gerade
das erfassen, was einer grössern Menschengruppe gemeinsam sein kann.
Dies kann nun niemals das Höchstdifferenzierte, das Höchsterreichbare
sein, denn das erreichen und verstehen nur die wenigsten, sondern es
muss etwas noch so Primitives sein, dass dessen Omnipräsenz ausser
allem Zweifel steht. Nur wenn das S. dieses erfasst und auf den
höchstmöglichen Ausdruck bringt, hat es allgemeine Wirkung. Darin
besteht die gewaltige und zugleich erlösende Wirkung eines lebendigen
sozialen S.

Das Gleiche nun, was ich hier vom sozialen S. sage, gilt für das
individuelle S. Es gibt individuelle psychische Produkte, die
offenkundig symbolischen Charakter haben, die ohne weiteres zu einer
symbolischen Auffassung drängen. Für das Individuum haben sie eine
ähnliche funktionelle Bedeutung, wie das soziale S. für eine grössere
Menschengruppe. Diese Produkte sind aber nie von einer ausschliesslich
bewussten oder ausschliesslich unbewussten Abstammung, sondern
gehen aus einer gleichmässigen Mitwirkung beider hervor. Die reinen
Bewusstseinsprodukte sowohl wie die ausschliesslich unbewussten
Produkte sind nicht eo ipso überzeugend symbolisch, sondern es bleibt
der symbolischen Einstellung des betrachtenden Bewusstseins überlassen,
ihnen den Charakter des S. zuzuerkennen. Sie können aber ebensowohl
auch als rein kausal bedingte Tatsachen aufgefasst werden, etwa in dem
Sinne, wie man das rote Exanthem des Scharlachs als ein „Symbol“ des
Scharlachs auffassen kann. Man spricht in diesem Fall allerdings mit
Recht von „Symptom“ und nicht von Symbol. _Freud_ hat m. E. darum
von seinem Standpunkt aus mit Recht nicht von _symbolischen_,
sondern von _Symptomhandlungen_[375] gesprochen, denn für ihn
sind diese Erscheinungen nicht symbolisch in dem hier definierten
Sinne, sondern symptomatische Zeichen eines bestimmten und allgemein
bekannten grundliegenden Prozesses. Es gibt natürlich Neurotiker, die
ihre unbewussten Produkte, welche in erster Linie und hauptsächlich
Krankheitssymptome sind, als höchst bedeutungsvolle S. auffassen. Aber
im allgemeinen ist dies nicht der Fall. Im Gegenteil, der Neurotiker
von heute ist nur zu sehr geneigt, auch das Bedeutungsvolle nur
als „Symptom“ aufzufassen. Die Tatsache, dass es zwei distinkte,
einander widersprechende und von hüben und drüben eifrig verfochtene
Auffassungen gibt über Sinn und Nichtsinn der Dinge, belehrt uns, dass
es offenbar Vorgänge gibt, die keinen besondern Sinn ausdrücken, die
blosse Konsequenzen, nichts wie Symptome sind, und andere Vorgänge,
welche einen verborgenen Sinn in sich tragen; die nicht bloss von etwas
abstammen, sondern vielmehr zu etwas werden wollen und die darum S.
sind. Es ist unserm Takt und unserer Kritik überlassen, zu entscheiden,
wo wir es mit Symptomen, und wo mit S. zu tun haben.

Das S. ist immer ein Gebilde höchst komplexer Natur, denn es setzt
sich zusammen aus den Daten aller psychischen Funktionen. Es ist
infolgedessen weder rationaler, noch irrationaler Natur. Es hat zwar
eine Seite, die der Vernunft entgegenkommt, aber auch eine Seite, die
der Vernunft unzugänglich ist, indem es nicht nur aus Daten rationaler
Natur, sondern auch aus den irrationalen Daten der reinen innern
und äussern Wahrnehmung zusammengesetzt ist. Das Ahnungsreiche und
Bedeutungsschwangere des Symbols spricht ebenso wohl das Denken, wie
das Fühlen an, und seine eigenartige Bildhaftigkeit, wenn zu sinnlicher
Form gestaltet, erregt die Empfindung sowohl wie die Intuition. Das
lebendige S. kann nicht zustande kommen in einem stumpfen und wenig
entwickelten Geiste, denn ein solcher wird sich am schon vorhandenen
S., wie es ihm das traditionell Bestehende darbietet, genügen lassen.
Nur die Sehnsucht eines hoch entwickelten Geistes, dem das gebotene
S. die höchste Vereinigung in _einem_ Ausdruck nicht mehr
vermittelt, kann ein neues S. erzeugen. Indem das S. aber eben aus
seiner höchsten und letzten geistigen Errungenschaft hervorgeht, und
zugleich auch die tiefsten Gründe seines Wesens einschliessen muss,
so kann es nicht einseitig aus den höchst differenzierten geistigen
Funktionen hervorgehen, sondern es muss auch im gleichen Masse
den niedersten und primitivsten Regungen entstammen. Damit diese
Zusammenwirkung gegensätzlichster Zustände überhaupt möglich wird,
müssen sie beide in vollstem Gegensatz bewusst neben einander stehen.
Dieser Zustand muss eine heftigste Entzweiung mit sich selbst sein
und zwar in dem Masse, dass sich Thesis und Antithesis negieren, und
das Ich doch seine unbedingte Anteilnahme an Thesis und Antithesis
anerkennen muss. Besteht aber eine Unterlegenheit des einen Teiles,
so wird das S. vorwiegend das Produkt des andern Teiles sein und eben
in selbem Masse auch weniger S. als Symptom sein, nämlich Symptom
einer unterdrückten Antithesis. In dem Masse aber, in welchem ein
S. blosses Symptom ist, ermangelt es auch der befreienden Wirkung,
denn es drückt nicht die völlige Existenzberechtigung aller Teile der
Psyche aus, sondern erinnert an die Unterdrückung der Antithesis,
auch wenn sich das Bewusstsein hievon nicht Rechenschaft ablegen
sollte. Besteht aber eine völlige Gleichheit und Gleichberechtigung
der Gegensätze, bezeugt durch die unbedingte Anteilnahme des Ich
an Thesis und Antithesis, so ist damit ein Stillstand des Wollens
geschaffen, denn es kann nicht mehr gewollt werden, weil jedes Motiv
sein gleich starkes Gegenmotiv neben sich hat. Da das Leben niemals
einen Stillstand erträgt, so entsteht eine Stauung der Lebensenergie,
die zu einem unerträglichen Zustand führen würde, wenn nicht aus der
Gegensatzspannung eine neue vereinigende Funktion entstünde, welche
über die Gegensätze hinausführt. Sie entsteht aber natürlicherweise
aus der durch die Aufstauung bewirkten Regression der Libido. Da
durch die gänzliche Entzweiung des Willens ein Fortschritt unmöglich
gemacht ist, so strömt die Libido nach rückwärts ab, der Strom fliesst
gleichsam zur Quelle zurück, d. h. bei Stillstellung und Inaktivität
des Bewusstseins entsteht eine Aktivität des Unbewussten, wo alle
differenzierten Funktionen ihre gemeinsame, archaïsche Wurzel haben,
wo jene Vermischtheit der Inhalte besteht, von der die primitive
Mentalität noch zahlreiche Überreste aufweist. Durch die Aktivität des
Unbewussten wird nun ein Inhalt zu Tage gefördert, der gleichermassen
durch Thesis und Antithesis konstelliert ist und sich zu beiden
kompensatorisch (s. d.) verhält. Da dieser Inhalt sowohl eine Beziehung
zur Thesis wie zur Antithesis aufweist, so bildet er einen mittleren
Grund, auf dem sich die Gegensätze vereinigen können. Fassen wir
z. B. den Gegensatz als den von Sinnlichkeit und Geistigkeit auf,
so bietet der mittlere aus dem Unbewussten geborene Inhalt vermöge
seines geistigen Beziehungsreichtums der geistigen Thesis einen
willkommenen Ausdruck, und vermöge seiner sinnlichen Anschaulichkeit
erfasst er die sinnliche Antithesis. Das zwischen Thesis und
Antithesis zerspaltene Ich aber findet in dem einen mittleren Grund
sein Gegenstück, seinen einen und eigenen Ausdruck, und es wird ihn
begierig ergreifen, um sich aus seiner Zerspaltung zu erlösen. Daher
strömt die Spannung der Gegensätze in den mittleren Ausdruck ein und
verteidigt ihn gegen den alsbald an ihm und in ihm beginnenden Kampf
der Gegensätze, welche beide versuchen, den neuen Ausdruck in ihrem
Sinne aufzulösen. Die Geistigkeit will aus dem Ausdruck des Unbewussten
etwas Geistiges machen, die Sinnlichkeit aber etwas Sinnliches, die
eine will Wissenschaft oder Kunst, die andere sinnliches Erleben
daraus schaffen. Die Auflösung des unbewussten Produktes in das
eine oder andere gelingt, wenn das Ich nicht völlig zerspalten war,
sondern mehr auf dieser als auf jener Seite stand. Gelingt nun der
einen Seite die Auflösung des unbewussten Produktes, so fällt nicht
nur das unbewusste Produkt an diese Seite, sondern auch das Ich,
wodurch eine Identifikation des Ich mit der meistbegünstigten Funktion
(s. minderwertige Funktion) entsteht. Infolgedessen wird sich der
Zerspaltungsprozess später auf einer höheren Stufe wiederholen. Gelingt
es infolge der Festigkeit des Ich weder der Thesis noch der Antithesis,
das unbewusste Produkt aufzulösen, so ist damit dargetan, dass der
unbewusste Ausdruck sowohl der einen wie der andern Seite überlegen
ist. Die Festigkeit des Ich und die Überlegenheit des mittlern
Ausdruckes über Thesis und Antithesis scheinen mir Korrelate zu sein,
die einander gegenseitig bedingen. Bisweilen will es scheinen, als
ob die Festigkeit der angebornen Individualität das Ausschlaggebende
wäre, bisweilen auch, als ob der unbewusste Ausdruck eine überlegene
Kraft besässe, welche das Ich zur unbedingten Festigkeit veranlasst.
In Wirklichkeit dürfte es aber vielleicht so sein, dass die Festigkeit
und Bestimmtheit der Individualität einerseits und die überlegene Kraft
des unbewussten Ausdruckes nichts als Zeichen eines und desselben
Tatbestandes sind. Bleibt der unbewusste Ausdruck dermassen erhalten,
so bildet er einen nicht aufzulösenden, sondern zu formenden Rohstoff,
der zum gemeinsamen Gegenstand für Thesis und Antithesis wird. Er
wird dadurch zu einem neuen, die ganze Einstellung beherrschenden
Inhalt, der die Zerspaltung aufhebt und die Kraft der Gegensätze in
ein gemeinsames Strombett zwingt. Damit ist der Stillstand des Lebens
aufgehoben und das Leben kann weiter fliessen mit neuer Kraft und neuen
Zielen.

Ich habe diesen eben beschriebenen Vorgang in seiner Totalität als
_transscendente Funktion_ benannt, wobei ich unter „Funktion“
nicht eine Grundfunktion, sondern eine komplexe, aus andern Funktionen
zusammengesetzte Funktion verstehe, und mit „transscendent“ keine
metaphysische Qualität bezeichnen will, sondern die Tatsache, dass
durch diese Funktion ein Übergang von der einen Einstellung in eine
andere geschaffen wird. Der von Thesis und Antithesis bearbeitete
Rohstoff, der in seinem Formungsprozess die Gegensätze vereinigt, ist
das lebendige S. In seinem für eine lange Epoche nicht aufzulösenden
Rohstoff liegt sein Ahnungsreiches und in der Gestalt, die sein
Rohstoff durch die Einwirkung der Gegensätze empfängt, liegt seine
Wirkung auf alle psychischen Funktionen. Andeutungen der Grundlagen des
symbolbildenden Prozesses finden sich in den spärlichen Berichten über
die Initiationsperioden der Religionsstifter, z. B. Jesus und Satan,
Buddha und Mara, Luther und der Teufel, Zwingli und seine weltliche
Vorgeschichte, die Erneuerung des Faust durch den Kontrakt mit dem
Teufel bei _Goethe_. In Zarathustra finden wir gegen den Schluss
ein treffliches Beispiel für die Unterdrückung der Antithese in der
Gestalt des „hässlichsten Menschen“.

53. =Synthetisch.= (Siehe konstruktiv.)

54. =Transscendente Funktion.= (Siehe =Symbol=.)

55. =Trieb.= Wenn ich von T. in dieser oder andern Arbeiten
spreche, so meine ich damit dasselbe, was gemeinhin unter diesem Worte
verstanden ist: nämlich _Nötigung_ zu gewissen Tätigkeiten. Die
Nötigung kann hervorgehen aus einem äussern oder innern Reiz, der den
Mechanismus des T. psychisch auslöst oder aus organischen Gründen,
die ausserhalb der Sphäre psychischer Kausalbeziehungen liegen.
_Triebmässig_ ist jede psychische Erscheinung, die aus keiner
durch Willensabsicht gesetzten Verursachung hervorgeht, sondern aus
dynamischer Nötigung, ob nun diese Nötigung aus organischen, also
ausserpsychischen Quellen direkt abstammt, oder wesentlich bedingt ist
von durch Willensabsicht bloss ausgelösten Energien; in letzterm Fall
mit der Einschränkung, dass das hervorgebrachte Resultat die durch die
Willensabsicht bezweckte Wirkung übersteigt. Unter den Begriff des T.
fallen m. E. alle diejenigen psychischen Vorgänge, über deren Energie
das Bewusstsein nicht disponiert.[376] Nach dieser Auffassung gehören
also die Affekte (s. d.) ebensowohl zu den T.-Vorgängen, wie auch
zu den Gefühlsvorgängen (s. Fühlen). Psychische Vorgänge, die unter
gewöhnlichen Umständen Willensfunktionen sind (d. h. also gänzlich
der Bewusstseinskontrolle unterstellt), können abnormerweise zu
T.-Vorgängen werden, dadurch, dass sich ihnen eine unbewusste Energie
zugesellt. Diese Erscheinung tritt überall da ein, wo die Sphäre
des Bewusstseins entweder durch Verdrängungen inkompatibler Inhalte
eingeschränkt wird, oder wo infolge von Ermüdung, Intoxikationen
oder überhaupt pathologischen Gehirnvorgängen ein „abaissement du
niveau mental“ (_Janet_) stattfindet, wo also mit einem Wort das
Bewusstsein die stärkstbetonten Vorgänge nicht mehr oder noch nicht
kontrolliert.

Ich möchte solche Vorgänge, die einstmals bei einem Individuum bewusst
waren, sich aber mit der Zeit _automatisiert_ haben, nicht
als T.-Vorgänge bezeichnen, sondern als automatische Vorgänge. Sie
verhalten sich auch normalerweise nicht als T., indem sie niemals unter
normalen Umständen als Nötigungen auftreten. Sie tun das nur, wenn
ihnen eine Energie zufliesst, die ihnen fremd ist.

56. =Typus.= T. ist ein den Charakter einer Gattung oder Allgemeinheit
in charakteristischer Weise wiedergebendes Beispiel oder Musterbild.
In dem engern Sinne der vorliegenden Arbeit ist der T. ein
charakteristisches Musterbild einer in vielen individuellen Formen
vorkommenden allgemeinen Einstellung (s. d.). Von den zahlreichen
vorkommenden und möglichen Einstellungen hebe ich in der vorliegenden
Untersuchung im ganzen _vier_ heraus, nämlich diejenigen, die sich
hauptsächlich nach den vier psychologischen Grundfunktionen orientieren
(s. Funktion), also nach Denken, Fühlen, Intuieren und Empfinden.
Insofern eine solche Einstellung _habituell_ ist und dadurch dem
Charakter des Individuums ein bestimmtes Gepräge verleiht, spreche ich
von einem psychologischen T. Diese auf die Grundfunktionen basierten
T., die man als _Denk-_, _Fühl-_, _Intuitions-_ und _Empfindungs-T._
bezeichnen kann, lassen sich gemäss der Qualität der Grundfunktion in
zwei Klassen scheiden: in die _rationalen_ und in die _irrationalen T._
Zu den ersteren gehören der Denk- und der Fühl-T., zu den letzteren
der intuitive und der Empfindungs-T. (s. rational, irrational). Eine
weitere Unterscheidung in zwei Klassen erlaubt die vorzugsweise
Libidobewegung, nämlich die _Introversion_ und _Extraversion_ (s. d.).
Alle Grundtypen können sowohl der einen wie der andern Klasse
angehören, je nach ihrer vorherrschenden mehr introvertierten oder
mehr extravertierten Einstellung. Ein Denk-T. kann zur introvertierten
oder zur extravertierten Klasse gehören, ebenso irgend ein anderer T.
Die Unterscheidung in rationale und irrationale T. ist ein anderer
Gesichtspunkt und hat mit Introversion und Extraversion nichts zu tun.

Ich habe in zwei vorläufigen Mitteilungen der Typenlehre[377] den
Denk- und den Fühl-T. nicht vom introvertierten und extravertierten
T. unterschieden, sondern den Denk-T. mit dem introvertierten und den
Fühl-T. mit dem extravertierten T. identifiziert. Bei der völligen
Durcharbeitung des Materials habe ich aber eingesehen, dass man den
Introversions-T. sowohl wie den Extraversions-T. als den Funktions-T.
übergeordnete Kategorien behandeln muss. Diese Trennung entspricht auch
durchaus der Erfahrung, indem es unzweifelhaft z. B. zweierlei Fühl-T.
gibt, von denen der eine mehr auf sein Gefühlserlebnis, der andere mehr
auf das Objekt eingestellt ist.

57. =Unbewusst.= Der Begriff des U. ist für mich ein _ausschliesslich
psychologischer Begriff_, und kein philosophischer im Sinne eines
metaphysischen. Das U. ist m. E. ein psychologischer Grenzbegriff,
welcher alle diejenigen psychischen Inhalte oder Vorgänge deckt, welche
nicht bewusst sind, d. h. nicht auf das Ich in wahrnehmbarer Weise
bezogen sind. Die Berechtigung, überhaupt von der Existenz unbewusster
Vorgänge zu reden, ergibt sich mir einzig und allein aus der Erfahrung
und zwar zunächst aus der psychopathologischen Erfahrung, welche
unzweifelhaft dartut, dass z. B. in einem Falle von hysterischer
Amnesie das Ich von der Existenz ausgedehnter psychischer Komplexe
nicht weiss, dass aber eine einfache hypnotische Prozedur imstande ist,
im nächsten Moment den verlorenen Inhalt vollkommen zur Reproduktion
zu bringen. Aus den Tausenden von Erfahrungen dieser Art leitete man
die Berechtigung ab, von der Existenz unbewusster psychischer Inhalte
zu reden. Die Frage, in welchem Zustande sich ein unbewusster Inhalt
befindet, solange er nicht ans Bewusstsein angeschlossen ist, entzieht
sich jeder Erkenntnismöglichkeit. Es ist daher ganz überflüssig,
darüber Vermutungen anstellen zu wollen. Zu solchen Phantasien gehört
die Vermutung der Cerebration, des physiologischen Prozesses usw. Es
ist auch ganz unmöglich anzugeben, welches der Umfang des U. sei,
d. h. welche Inhalte es in sich fasse. Darüber entscheidet bloss die
Erfahrung. Vermöge der Erfahrung wissen wir zunächst, dass bewusste
Inhalte durch Verlust ihres energetischen Wertes unbewusst werden
können. Dies ist der normale Vorgang des Vergessens. Dass diese Inhalte
unter der Bewusstseinsschwelle nicht einfach verloren gehen, wissen wir
durch die Erfahrung, dass sie gelegentlich noch nach Jahrzehnten aus
der Versenkung auftauchen können unter geeigneten Umständen, z. B. im
Traum, in der Hypnose, als Kryptomnesie[378] oder durch Auffrischung
von Associationen mit dem vergessenen Inhalt.

Des fernern belehrt uns die Erfahrung, dass bewusste Inhalte ohne
allzu erhebliche Werteinbusse durch intentionelles Vergessen, was
_Freud_ als _Verdrängung_ eines peinlichen Inhaltes bezeichnet,
unter die Bewusstseinsschwelle geraten können. Eine ähnliche Wirkung
entsteht durch Dissociation der Persönlichkeit, eine Auflösung der
Geschlossenheit des Bewusstseins infolge heftigen Affektes oder
infolge eines nervous shock oder durch Persönlichkeitszerfall in der
Schizophrenie (_Bleuler_).

Ebenso wissen wir aus Erfahrung, dass Sinnesperceptionen infolge ihrer
geringen Intensität oder infolge Ablenkung der Aufmerksamkeit keine
bewusste Apperception erreichen und doch zu psychischen Inhalten
werden durch unbewusste Apperception, was wiederum z. B. durch Hypnose
nachgewiesen werden kann. Das Gleiche kann der Fall sein für gewisse
Schlüsse und sonstige Kombinationen, die wegen zu geringer Wertigkeit
oder wegen Ablenkung der Aufmerksamkeit unbewusst bleiben. Schliesslich
belehrt uns die Erfahrung auch, dass es unbewusste psychische
Zusammenhänge gibt, z. B. mythologische Bilder, welche niemals
Gegenstand des Bewusstseins waren, die also ganz aus unbewusster
Tätigkeit hervorgehen.

Soweit gibt uns die Erfahrung Anhaltspunkte zur Annahme der Existenz
unbewusster Inhalte. Sie kann aber nichts aussagen darüber, was
_möglicherweise_ unbewusster Inhalt sein kann. Es ist müssig,
darüber Vermutungen anzustellen, weil es ganz unabsehbar ist, was
alles unbewusster Inhalt sein könnte. Wo ist die unterste Grenze einer
subliminalen Sinnesperception? Gibt es irgend eine Massbestimmung für
die Feinheit oder Reichweite unbewusster Kombinationen? Wann ist ein
vergessener Inhalt total ausgelöscht? Auf diese Fragen gibt es keine
Antwort.

Unsere bisherige Erfahrung von der Natur unbewusster Inhalte erlaubt
uns aber eine gewisse allgemeine Einteilung derselben. Wir können
ein _persönliches_ U. unterscheiden, welches alle Acquisitionen
der persönlichen Existenz umfasst, also Vergessenes, Verdrängtes,
unterschwellig Wahrgenommenes, Gedachtes und Gefühltes. Neben diesen
persönlichen unbewussten Inhalten gibt es aber andere Inhalte, die
nicht aus persönlichen Acquisitionen, sondern aus der ererbten
Möglichkeit des psychischen Funktionierens überhaupt, nämlich aus
der ererbten Hirnstruktur stammen. Das sind die mythologischen
Zusammenhänge, die Motive und Bilder, die jederzeit und überall ohne
historische Tradition oder Migration neu entstehen können. Diese
Inhalte bezeichne ich als _collektiv unbewusst_. So gut wie die
bewussten Inhalte in einer bestimmten Tätigkeit begriffen sind, so
sind es auch die unbewussten Inhalte, wie uns die Erfahrung lehrt.
Wie aus der bewussten psychischen Tätigkeit gewisse Resultate oder
Produkte hervorgehen, so gehen auch aus der unbewussten Tätigkeit
Produkte hervor, z. B. Träume und Phantasien. Es ist müssig, darüber
zu spekulieren, wie gross der Anteil des Bewusstseins z. B. an den
Träumen sei. Ein Traum stellt sich uns dar, wir erschaffen ihn nicht
bewusst. Gewiss verändert die bewusste Reproduktion, oder gar schon die
Wahrnehmung vieles daran, ohne aber die Grundtatsache der produktiven
Regung von unbewusster Provenienz aus der Welt zu schaffen.

Das funktionelle Verhältnis der unbewussten Vorgänge zum Bewusstsein
dürfen wir als ein _compensatorisches_ (s. d.) bezeichnen, indem
der unbewusste Vorgang erfahrungsgemäss das subliminale Material, das
durch die Bewusstseinslage konstelliert ist, zu Tage fördert, also
alle diejenigen Inhalte, welche, wenn alles bewusst wäre, am bewussten
Situationsbilde nicht fehlen könnten. Die compensatorische Funktion des
Unbewussten tritt umso deutlicher zu Tage, je einseitiger die bewusste
Einstellung ist, wofür die Pathologie reichliche Beispiele liefert.

58. =Wille.= Als W. fasse ich die dem Bewusstsein disponible
psychische Energiesumme auf. Der Willensvorgang wäre demnach ein
energetischer Prozess, der durch bewusste Motivation ausgelöst wird.
Ich würde also einen psychischen Vorgang, der durch unbewusste
Motivation bedingt wird, nicht als Willensvorgang bezeichnen. Der W.
ist ein psychologisches Phänomen, das seine Existenz der Kultur und der
sittlichen Erziehung verdankt, der primitiven Mentalität aber in hohem
Masse fehlt.



Schlusswort.


In unserer Zeit, in der aus den Errungenschaften der französischen
Revolution, der Liberté, Egalité, Fraternité, sich eine weit
verbreitete soziale Geistesströmung entwickelt hat, welche nicht etwa
nur die politischen Rechte auf ein allgemeines und gleiches Niveau
herunterdrückt oder heraufhebt, sondern auch das Unglück durch äussere
Regulierungen und Gleichmachungen beheben zu können meint, in einer
solchen Zeit, ist es wohl eine undankbare Aufgabe, von der völligen
Ungleichartigkeit der Elemente, welche die Nation zusammensetzen,
zu reden. Trotzdem es gewiss eine schöne Sache ist, dass jeder vor
dem Gesetze gleich sei, dass jeder seine politische Stimme habe, und
dass keiner durch ererbte Standesvorrechte ungerechterweise seinen
Bruder überrage, so wird dieselbe Sache weniger schön, wenn man diesen
Gleichheitsgedanken noch auf andere Gebiete des Lebens ausdehnt. Es
muss jemand schon einen sehr getrübten Blick haben oder aus einer
sehr nebelhaften Distanz die menschliche Gesellschaft anschauen, wenn
er meinen sollte, dass durch gleichmässige Regulierungen des Lebens
eine gleichmässigere Verteilung des Glückes erzielt werden könne. Er
müsste schon etwa im Wahne befangen sein, dass z. B. der gleiche Betrag
an Einkommen, resp. an äusserer Lebensmöglichkeit für alle ungefähr
dieselbe Bedeutung besitzen müsse. Was tut ein solcher Gesetzgeber
aber mit allen jenen, deren grössere Lebensmöglichkeit innen liegt,
anstatt aussen? Er müsste, wenn er gerecht wäre, dem einen etwa doppelt
soviel geben wie dem andern, denn dem einen bedeutet es viel und dem
andern wenig. Über die psychologische Verschiedenheit der Menschen,
diesen notwendigsten Faktor der Lebensenergie einer menschlichen
Gesellschaft, wird keine soziale Gesetzgebung hinwegkommen. Darum ist
es wohl nützlich, von der Verschiedenartigkeit der Menschen zu reden.
Diese Unterschiede bedingen derartig verschiedene Glücksansprüche,
dass keine auch noch so vollkommene Gesetzgebung ihnen jemals auch
nur annähernd genügen könnte. Es wäre auch keine noch so billig und
gerecht erscheinende allgemeine äussere Lebensform zu erdenken, welche
nicht für den einen oder andern Typus Mensch eine Ungerechtigkeit
bedeuten würde. Dass trotzdem allerhand Schwärmer politischer,
sozialer, philosophischer und religiöser Natur am Werke sind, jene
allgemeinen und gleichartigen äussern Bedingungen, welche eine
allgemeine grössere Glücksmöglichkeit bedeuten sollen, ausfindig zu
machen, scheint mir auf der zu sehr am Äussern orientierten allgemeinen
Einstellung zu liegen. Wir können diese ins Weite gehenden Fragen
hier nur streifen, da wir uns ja nicht zur Aufgabe gesetzt haben,
sie zu behandeln. Wir haben uns hier nur mit dem psychologischen
Problem zu beschäftigen. Und die Tatsache der verschiedenen typischen
Einstellungen ist ein Problem erster Ordnung, nicht nur für die
Psychologie, sondern auch für alle jene Gebiete der Wissenschaft und
des Lebens, wo die menschliche Psychologie eine ausschlaggebende Rolle
spielt. Es ist z. B. eine dem gewöhnlichen Menschenverstande ohne
weiteres einleuchtende Tatsache, dass jede Philosophie, die nicht
gerade nur Geschichte der Philosophie ist, auf einer persönlichen
psychologischen Vorbedingung beruht. Diese Vorbedingung kann rein
individueller Natur sein, und gewöhnlich wurde sie auch als solche
aufgefasst, wenn überhaupt eine psychologische Kritik stattfand. Man
hielt damit den Fall für erledigt. Man übersah aber dabei, dass das,
was man als individuelles Präjudicium betrachtete, keineswegs unter
allen Umständen ein solches war, indem nämlich der Standpunkt jenes
Philosophen eine oft ansehnliche Gefolgschaft aufwies. Ihr sagte
dieser Standpunkt zu und zwar nicht bloss, weil sie ihn gedankenlos
nachgebetet hätte, sondern weil sie ihn völlig verstehen und anerkennen
konnte. Ein solches Verständnis wäre unmöglich, wenn der Standpunkt
des Philosophen bloss individuell bedingt wäre, denn dann könnte er
gar nicht völlig verstanden oder auch nur gebilligt werden. Die von
der Gefolgschaft verstandene und anerkannte Eigenart des Standpunktes
muss also vielmehr einer _typischen_, persönlichen Einstellung,
welche noch mehrere Vertreter in der Gesellschaft in gleicher oder
ähnlicher Form besitzt, entsprechen. In der Regel bekämpfen sich die
Parteien rein äusserlich, indem sie auf Lücken in der individuellen
Rüstung des Gegners zielen. Ein solcher Streit ist in der Regel von
geringer Fruchtbarkeit. Von erheblich höherm Werte wäre es, wenn der
Gegensatz auf das psychologische Gebiet verschoben würde, woher er
auch ursprünglich stammt. Die Verschiebung liesse bald erkennen, dass
es verschiedenartige psychologische Einstellungen gibt, die jede ein
Anrecht auf Existenz besitzt, obschon ihre Existenz zur Aufstellung
inkompatibler Theorien führt. Solange man versucht den Streit zu
schlichten durch äusserliche Kompromissbildungen, genügt man nur den
bescheidenen Ansprüchen seichter Köpfe, die sich noch nie an Prinzipien
zu erhitzen vermochten. Eine wirkliche Verständigung aber kann meines
Erachtens nur dann erreicht werden, wenn die Verschiedenheit der
psychologischen Vorbedingung anerkannt wird.

Es ist eine Tatsache, die mir in meiner praktischen Arbeit immer wieder
überwältigend entgegentritt, dass der Mensch nahezu unfähig ist,
einen andern Standpunkt als seinen eigenen zu begreifen und gelten zu
lassen. In kleinern Dingen hilft die allgemeine Oberflächlichkeit,
eine nicht gerade häufige Nachsicht und Toleranz und ein seltenes
Wohlwollen eine Brücke über den Abgrund der Verständnislosigkeit zu
schlagen. In wichtigern Dingen aber und besonders in solchen, wo die
Ideale des Typus in Frage kommen, scheint eine Verständigung meist
zu den Unmöglichkeiten zu gehören. Gewiss wird Streit und Unfrieden
immer zu den Requisiten der menschlichen Tragikomödie gehören, aber
es ist doch nicht zu leugnen, dass der Fortschritt der Gesittung vom
Faustrecht zur Gesetzesbildung geführt hat und somit zur Bildung einer
Instanz und eines Masstabes, die den streitenden Parteien übergeordnet
sind. Eine Basis zur Schlichtung des Streites der Auffassung könnte
nach meiner Überzeugung die Anerkennung von Typen der Einstellung sein,
aber nicht nur der Existenz solcher Typen, sondern auch der Tatsache,
dass jeder in seinem Typus bis zu dem Grade befangen ist, dass er des
völligen Verständnisses eines andern Standpunktes unfähig ist. Ohne
Anerkennung dieser weitgehenden Forderung ist eine Vergewaltigung des
andern Standpunktes so gut wie sicher. Ebenso, wie die streitenden
Parteien, die sich vor Gericht zusammenfinden, auf direkte Gewalttat
am andern verzichten und ihre Ansprüche der Gerechtigkeit des Gesetzes
und des Richters anvertrauen, so muss sich der Typus der Beschimpfung,
Verdächtigung und Herunterreissung des Gegners enthalten im Bewusstsein
seiner eigenen Befangenheit. Durch die Auffassung des Problems
typischer Einstellungen und durch ihre Darstellung im Umriss bestrebe
ich mich, den Blick meines Lesers auf dieses Gemälde vielfacher
Möglichkeiten der Auffassungsbildung zu lenken, in der Hoffnung,
dadurch wenigstens ein Kleines beizutragen zur Kenntnis der fast
unendlichen Variationen und Abstufungen der Individualpsychologie. Ich
hoffe, dass aus meinen Typenbeschreibungen niemand den Schluss ziehen
wird, dass ich meine, die 4 oder 8 Typen, die ich beschreibe, seien
alle, die überhaupt vorkämen. Das wäre ein Missverständnis. Ich zweifle
nämlich keineswegs an der Möglichkeit, die vorkommenden Einstellungen
auch unter andern Gesichtspunkten zu betrachten und zu klassifizieren.
Es gibt in dieser Untersuchung einige Andeutungen von andern
Möglichkeiten, wie z. B. eine Einteilung sub specie der Aktivität.
Was aber immer auch als Criterium einer Aufstellung von Typen dienen
möge, so wird eine Vergleichung der verschiedenen Formen habitueller
Einstellungen zur Aufstellung von ebenso vielen psychologischen Typen
führen.

So leicht es wohl sein wird, die vorkommenden Einstellungen unter
andern Gesichtswinkeln zu betrachten, als es hier geschehen ist, so
schwer dürfte es sein, Beweise gegen die Existenz von psychologischen
Typen beizubringen. Ich zweifle zwar nicht daran, dass meine Gegner
sich bemühen werden, die Typenfrage aus der wissenschaftlichen
Traktandenliste zu streichen, denn für jede, Allgemeingültigkeit
prätendierende Theorie komplexer psychischer Vorgänge muss das
Typenproblem ein zum mindesten sehr unwillkommenes Hindernis
sein. Jede Theorie komplexer psychischer Vorgänge setzt eine
gleichartige menschliche Psychologie voraus, nach Analogie jeder
naturwissenschaftlichen Theorie, welche als Grundlage auch ein und
dieselbe Natur voraussetzt. Mit der Psychologie aber hat es die
eigenartige Bewandtnis, dass bei ihrer Begriffsbildung der psychische
Vorgang nicht bloss Objekt, sondern zugleich auch Subjekt ist. Wenn
nun angenommen wird, dass das Subjekt in allen individuellen Fällen
eins und dasselbe sei, so kann man auch annehmen, dass der subjektive
Prozess der Begriffsbildung auch überall einer und derselbe sei.
Dass dem aber nicht so ist, erweist sich am eindrücklichsten aus der
Existenz der verschiedenartigsten Auffassungen vom Wesen komplexer
psychischer Vorgänge. Natürlich setzt eine neue Theorie gewöhnlich
voraus, dass alle andern Ansichten unrichtig gewesen seien, und zwar
meistens nur aus dem Grunde, weil der Autor subjektiv anders sieht, als
seine Vorgänger. Er berücksichtigt nicht, dass die Psychologie, die
er sieht, seine Psychologie und höchstens noch die Psychologie seines
Typus ist. Er erwartet daher, dass es für den psychischen Vorgang, der
ihm Objekt des Erkennens und Erklärens ist, nur eine wahre Erklärung
geben könne, nämlich eben die, die seinem Typus zusagt. Alle andern
Auffassungen -- ich möchte fast sagen, alle sieben andern Auffassungen,
die in ihrer Art ebenso wahr sind, wie die seine, gelten ihm als
Irrtum. Im Interesse der Gültigkeit seiner eigenen Theorie wird er also
einen lebhaften und menschlich verstehbaren Widerwillen gegen eine
Aufstellung von Typen menschlicher Psychologie empfinden, denn damit
verlöre seine Auffassung beispielsweise ⅞ ihres Wahrheitswertes; es
müsste denn sein, dass er neben seiner eigenen Theorie noch 7 andere
Theorien desselben Vorganges als gleich wahr denken könnte -- oder
sagen wir: wenigstens noch eine zweite Theorie als vollwertig neben der
seinigen.

Ich bin ganz überzeugt, dass ein Naturvorgang, der in hohem Masse
von der menschlichen Psychologie unabhängig ist und ihr daher nur
Objekt sein kann, nur einerlei wahre Erklärung haben kann. Ebenso
bin ich auch überzeugt, dass ein komplexer psychischer Vorgang, der
in keine objektiv registrierenden Apparate eingespannt werden kann,
notwendigerweise nur diejenige Erklärung erhalten kann, die er als
Subjekt selber erzeugt, d. h. der Autor des Begriffes kann nur einen
solchen Begriff erzeugen, welcher zu dem psychischen Vorgang, den er
zu erklären trachtet, stimmt. Der Begriff wird aber nur dann stimmen,
wenn er mit dem zu erklärenden Vorgang im denkenden Subjekt selbst
übereinstimmt. Wenn der zu erklärende Vorgang beim Autor selber gar
nicht vorkäme und auch keine Analogie davon, so stünde der Autor vor
einem, völligen Rätsel, welches zu erklären er dem überlassen müsste,
der den Vorgang selber erlebt. Wie eine Vision zustande kommt, kann
ich durch objektive Apparate niemals in Erfahrung bringen; ich kann
ihr Zustandekommen also nur erklären, wie ich es mir denke. In diesem
„wie ich es mir denke“ steckt aber die Befangenheit, denn bestenfalls
geht meine Erklärung daraus hervor, wie der Vorgang einer Vision sich
in mir darstellt. Wer aber gibt mir das Recht, anzunehmen, dass in
jedem andern der Vorgang der Vision sich gleich oder auch nur ähnlich
darstelle?

Man wird mit einem Anschein von Recht die universelle Gleichartigkeit
der menschlichen Psychologie in allen Zeiten und Zonen als Argument
zu Gunsten dieser Verallgemeinerung des subjektiv bedingten Urteils
anführen. Ich bin von dieser Gleichartigkeit der menschlichen Psyche
so tief überzeugt, dass ich sie sogar in den Begriff des collektiven
Unbewussten gefasst habe, als eines universellen und gleichartigen
Substratums, dessen Gleichartigkeit so weit geht, dass man dieselben
Mythen- und Märchenmotive in allen Winkeln der weiten Erde findet, dass
ein Neger der amerikanischen Südstaaten in Motiven der griechischen
Mythologie träumt und ein schweizerischer Handelslehrling in seiner
Psychose die Vision eines ägyptischen Gnostikers wiederholt. Von
dieser fundamentalen Gleichartigkeit hebt sich aber eine ebenso
grosse Ungleichartigkeit der bewussten Psyche ab. Welche ungemessenen
Distanzen liegen zwischen dem Bewusstsein eines Primitiven, eines
Themistocleïschen Atheners und eines heutigen Europäers! Welcher
Unterschied besteht zwischen dem Bewusstsein des Herrn Professors und
dem seiner Gattin! Wie sähe überhaupt unsere heutige Welt aus, wenn
eine Gleichartigkeit der Bewusstseine bestünde? Nein, der Gedanke
einer Gleichartigkeit der bewussten Psychen ist eine akademische
Chimäre, welche die Aufgabe eines Dozenten vor seinen Schülern
vereinfacht, die aber vor der Wirklichkeit in nichts zusammenfällt.
Ganz abgesehen von der Verschiedenheit der Individuen, deren innerstes
Wesen durch Gestirnsweite geschieden ist vom Nachbarn, sind schon die
Typen als Klassen von Individuen in sehr hohem Masse von einander
verschieden, und ihrer Existenz sind die Verschiedenheiten allgemeiner
Auffassungen zuzuschreiben. Um die Gleichartigkeit der menschlichen
Psychen aufzufinden, muss ich schon in die Fundamente des Bewusstseins
hinuntersteigen. Dort finde ich das, worin alle einander gleichen.
Gründe ich eine Theorie auf das, was alle verbindet, so erkläre ich
die Psyche aus dem, was an ihr Fundament und Ursprung ist. Damit aber
erkläre ich nichts von dem, was an ihr historische oder individuelle
Differenzierung ist. Mit einer solchen Theorie übergehe ich die
Psychologie der bewussten Psyche. Ich leugne damit eigentlich die
ganze andere Seite der Psyche, nämlich ihre Differenzierung von
der ursprünglichen Keimanlage. Ich reduziere gewissermassen den
Menschen auf seine phylogenetische Vorlage, oder ich zerlege ihn
in seine Elementarvorgänge, und wenn ich ihn aus dieser Reduktion
rekonstruieren wollte, so käme im erstem Fall ein Affe heraus und in
letzterm eine Anhäufung von Elementarvorgängen, deren Zusammenspiel
eine sinn- und zwecklose Wechselwirkung ergäbe. Zweifellos ist die
Erklärung des Psychischen auf der Grundlage der Gleichartigkeit nicht
nur möglich, sondern auch völlig berechtigt. Will ich aber das Bild
der Psyche zu seiner Vollständigkeit ergänzen, so muss ich mir die
Tatsache der Verschiedenartigkeit der Psychen vor Augen halten, denn
die bewusste individuelle Psyche gehört ebensowohl in ein allgemeines
Gemälde der Psychologie wie ihre unbewussten Fundamente. Ich kann
daher mit demselben Recht in meiner Begriffsbildung von der Tatsache
differenzierter Psychen ausgehen und denselben Vorgang, den ich
vorhin unter dem Gesichtswinkel seiner Gleichartigkeit betrachtete,
nunmehr vom Standpunkt der Differenzierung aus betrachten. Dies führt
mich natürlicherweise zu einer der frühern gerade entgegengesetzten
Auffassung. Alles was für jene Auffassung als individuelle Variante
ausser Betracht fiel, wird hier bedeutsam als Ansatz zu weitern
Differenzierungen und alles, was dort als gleichartig einen besondern
Wert erhielt, erscheint mir jetzt als wertlos, weil bloss collektiv.
Ich werde in dieser Ansicht immer darauf sehen, worauf etwas zielt und
niemals darauf, woher es kommt, während ich in der vorherigen Ansicht
mich nie um ein Ziel, sondern bloss um den Ursprung kümmerte. Ich kann
daher einen und denselben psychischen Vorgang durch zwei gegensätzliche
Theorien, die sich gegenseitig ausschliessen, erklären, wobei ich
weder von der einen noch von der andern Theorie behaupten kann, sie
sei unrichtig, denn die Richtigkeit der einen ist bewiesen durch die
Gleichartigkeit und die der anderen durch die Ungleichartigkeit der
Psychen.

Hier aber beginnt nun die grosse Schwierigkeit, welche dem Laien, sowie
dem wissenschaftlichen Publikum die Lektüre meines frühern Buches über
„die Wandlungen und Symbole der Libido“ so sehr erschwert hat, dass
viele sonst fähige Köpfe darob in Verwirrung geraten sind (wie mir ihre
bedenklichen Kritiken beweisen). Ich habe nämlich dort am concreten
Material die eine wie die andere Ansicht darzustellen versucht. Da nun
die Wirklichkeit bekanntlich weder aus Theorien besteht, noch nach
solchen geht, so ist in ihr beides, was wir getrennt denken müssen,
in einem beisammen und jedes lebendige Etwas in der Seele schillert
in mehreren Farben. Jedes ist Hergekommenes und meint Zukünftiges und
von keinem ist mit Sicherheit auszumachen, ob es bloss Ende und nicht
auch schon ein Anfang wäre. Jemandem, der meint, für einen psychischen
Vorgang könne es nur _eine_ wahre Erklärung geben, ist diese
Lebendigkeit des psychischen Inhaltes, die zu zwei gegensätzlichen
Theorien nötigt, eine Sache zum verzweifeln, besonders noch, wenn er
ein Liebhaber einfacher und unkomplizierter Wahrheiten und etwa unfähig
sein sollte, sie zugleich zu denken.

Ich bin wiederum nicht der Überzeugung, dass mit den zwei
Betrachtungsweisen, der reduzierenden und der construktiven --
wie ich sie einmal genannt habe[379] --, die Möglichkeiten der
Betrachtung erschöpft wären. Ich glaube im Gegenteil, dass für den
psychischen Vorgang noch einige andere ebenso „wahre“ Erklärungen
beigebracht werden können, und zwar ebenso viel als es Typen gibt.
Und diese Erklärungen werden sich miteinander ebenso gut oder
schlecht vertragen, wie die Typen selber in ihren persönlichen
Beziehungen. Falls also die Existenz von typischen Verschiedenheiten
der menschlichen Psychen zugegeben werden sollte -- ich gestehe,
dass ich keinen Grund sehe, warum dies nicht geschehen könnte -- so
sieht sich der wissenschaftliche Theoretiker vor das unangenehme
Dilemma gestellt, entweder mehrere einander widersprechende Theorien
desselben Vorganges nebeneinander bestehen zu lassen, oder dann den
von vornherein hoffnungslosen Versuch einer Sektengründung zu machen,
welche die allein richtige Methode und die allein wahre Theorie für
sich beansprucht. Erstere Möglichkeit verstösst nicht nur gegen die
schon erwähnte ausserordentliche Schwierigkeit einer doppelten und
innerlich gegensätzlichen Denkoperation, sondern auch gegen einen
der ersten Grundsätze intellektueller Moral: principia explicandi
non sunt multiplicanda -- praeter necessitatem. Die necessitas einer
Mehrheit von Erklärungen ist aber im Falle einer psychologischen
Theorie entschieden gegeben, denn zum Unterschied mit irgend einer
naturwissenschaftlichen Theorie, ist das Objekt der Erklärung in der
Psychologie von gleicher Natur wie das Subjekt: ein psychologischer
Vorgang soll den andern erklären. Diese bedenkliche Schwierigkeit hat
schon lange denkende Köpfe zu merkwürdigen Ausflüchten genötigt, wie
z. B. zur Annahme eines „objektiven Geistes“, der jenseits der
Psychologie stünde und darum objektiv seine ihm unterstellte Psyche
denken könne oder zur ähnlichen Annahme, dass der Intellekt ein
Vermögen sei, das auch noch ausserhalb sich selber sich stellen und
sich denken könne. Mit diesen und ähnlichen Ausflüchten soll jener
archimedische Punkt ausserhalb der Erde geschaffen werden, mittelst
dessen der Intellekt sich selber aus den Angeln heben soll. Ich
begreife das tiefgehende menschliche Bedürfnis nach Bequemlichkeit,
aber ich begreife nicht, dass die Wahrheit sich diesem Bedürfnis beugen
sollte. Ich begreife auch, dass es ästhetisch viel befriedigender
wäre, wenn man, statt der Paradoxie einander widersprechender
Erklärungen, den psychischen Vorgang auf irgend eine möglichst einfache
Instinktgrundlage reduzieren und sich dabei beruhigen, oder wenn man
ihm ein metaphysisches Erlösungsziel unterlegen und sich in dieser
Hoffnung zur Ruhe begeben könnte.

Was aber immer wir mit unserm Intellekt zu ergründen streben, wird
mit Paradoxie und Relativität endigen, wenn es ehrliche Arbeit und
nicht eine der Bequemlichkeit dienende petitio principii ist. Dass die
intellektuelle Erfassung des psychischen Vorganges zur Paradoxie und
Relativität führen _muss_, ist sicher, schon aus dem Grunde, dass
der Intellekt nur eine unter verschiedenen psychischen Funktionen ist,
welche von Natur aus dem Menschen zur Konstruktion seiner Objektbilder
dient. Man gebe sich nicht den Anschein, als ob man die Welt nur aus
dem Intellekt begriffe; man begreift sie ebenso sehr auch aus dem
Gefühl. Darum ist das Urteil des Intellektes höchstens die Hälfte der
Wahrheit, und muss, wenn es ehrlich ist, auch zum Eingeständnis seines
Ungenügens gelangen.

Die Existenz von Typen zu leugnen, hilft nichts gegen die Tatsache
ihres Daseins. In Ansehung ihrer Existenz muss daher jede Theorie
über psychische Vorgänge es sich gefallen lassen, selber wieder als
psychischer Vorgang zu gelten, und zwar als Ausdruck eines bestehenden
und daseinsberechtigten Typus menschlicher Psychologie. Aus diesen
typischen Darstellungen erst ergeben sich die Materialien, deren
_Cooperation_ eine höhere Synthese ermöglicht.



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    Perspektiven; er zeigt, wie die individuellen Konflikte der Kranken
    sich zuletzt als allgemeine Konflikte der Umgebung mit der Zeit
    enthüllen; wie wir der grossen Schlussabrechnung der christlichen
    Epoche nahe sind; der Wert und die Gefahr der unbewussten Mächte
    im Einzelnen und in Völkerkollektivitäten werden geistvoll
    demonstriert; die zurückgebliebene Sexualmoral unserer Zeit wird
    angegriffen usw. Wir dürfen dankbar sein, dem Verfasser auf seiner
    Entdeckungsfahrt im psychologischen Gebiet zu folgen, er hat eine
    Pflicht der Gesellschaft gegenüber erfüllt, indem er den Weg zu
    einer neuen Quelle beschrieb, die für die Gesellschaft nützlich
    ist.“

    Wissen u. Leben.

Rascher & C^{ie}, Verlag, Zürich



FUSSNOTEN:


[1] _Jung_: Contribution à l’étude des Types psychologiques. Arch. de
Psychologie. I. XIII p. 289.

id.: Psychological Types. Collected Papers on Analytical Psychology.
London, 1917, p. 287.

id.: Psychologie der unbewussten Prozesse. Zürich. II. Auflage. 1918.
p. 65.

[2] Dokumente der Gnosis. Jena, 1910.

[3] Begierde; wir würden etwa sagen: ungezähmte Libido, die als
εἱμαρμένη, Gestirns- und Schicksalszwang, den Menschen in Schuld und
Verderben führt.

[4] _Buber_: Ekstatische Konfessionen. 1909. p. 31 ff.

[5] Kr. der pr. Vernunft. p. 90 und 157 ff.

[6] _Charles de Rémusat_: Abélard. Paris, 1845.

[7] Lady Meux Manuskript Nr. 6. The book of Paradise by Palladius,
Hieronymus etc. Edited by E. A. Wallis Budge. London 1904.

[8] Ich sage: „semiotisch“ im Gegensatz zu „symbolisch“. Was Freud als
Symbole bezeichnet, sind nichts anderes als _Zeichen_ für elementare
Triebvorgänge. Ein Symbol aber ist der bestmögliche Ausdruck für einen
Tatbestand, der noch nicht anders als durch eine mehr oder weniger nahe
Analogie ausgedrückt werden kann.

[9] Vergl. dazu: _Jung_: Inhalt der Psychose. II. Auflage. idem:
Psychologie der unbewussten Prozesse.

[10] Cotta’sche Ausgabe. 1826. Bd. XVIII.

[11] l. c. p. 22.

[12] l. c. p. 22.

[13] l. c. pag. 29.

[14] l. c. pag. 28.

[15] l. c. pag. 29.

[16] l. c. pag. 30 f.

Die Hervorhebungen im Text sind von mir.

[17] l. c. p. 33 f.

[18] 1. c. pag. 35 f.

[19] Émile: Livre I.

[20] Émile: Livre II.

[21] Andeutungen davon finden sich schon in den griechischen Mysterien.

[22] Erz. d. Menschen, pag. 39.

[23] l. c. pag. 50.

[24] Émile: Livre II.

[25] l. c. p. 51.

[26] l. c. p. 54.

[27] l. c. p. 54.

[28] l. c. p. 54.

[29] Vergl. dazu die Rede des Julian über die Göttermutter.

[30] Brief an Goethe, 5. Januar 1798.

[31] Brief an Schiller, April 1798.

[32] Brief an Schiller, 6. Januar 1798.

[33] Brief an Goethe, 31. August 1794.

[34] l. c. p. 55.

[35] l. c. p. 56.

[36] l. c. p. 57.

[37] d. h. „extravertiert“.

[38] d. h. „introvertiert“.

[39] „Formtrieb“ kommt bei Schiller mit „Denkkraft“ überein. cf.
l. c. p. 68.

[40] l. c. p. 59.

[41] Im weitern Verlauf kritisiert Schiller selber diesen Punkt.

[42] l. c. p. 61 f.

[43] l. c. p. 67.

[44] l. c. p. 64 f.

[45] Ich möchte hier zur Vermeidung von Missverständnissen bemerken,
dass diese Verachtung nicht dem Objekte gilt, wenigstens in der Regel
nicht, sondern bloss der Beziehung dazu.

[46] Im Gegensatz zu dem oben angeführten _reaktiven_ Denken.

[47] l. c. p. 90 f.

[48] l. c. p. 68.

[49] l. c. p. 76 f.

[50] l. c. p. 68 f.

[51] l. c. p. 69.

[52] l. c. p. 73.

[53] l. c. p. 74.

[54] l. c. p. 79.

[55] l. c. p. 156.

[56] Ich zitiere nach der lateinischen Übersetzung des Marsilius
Ficinus von 1497.

[57] l. c. p. 99 und 100.

[58] Vergl. dazu die Arbeit von _Nunberg_: Über körperliche
Begleiterscheinungen assoziativer Vorgänge. In _Jung_: Diagnost. Assoz.
stud. Bd. II. p. 196 ff.

[59] Wandl. und Symb. der Libido. p. 155 ff.

[60] Ich muss betonen, dass ich hier diese Funktion nur im Prinzip
darstelle. Weitere Beiträge zu diesem sehr komplexen Problem, bei
dem namentlich die Art der Aufnahme der unbewussten Materialien ins
Bewusstsein von grundlegender Bedeutung ist, finden sich in meiner
Arbeit: „La structure de l’Inconscient“ (Archives de Psychologie. Déc.
1916), sowie in meiner Broschüre: die Psychologie der unbewussten
Prozesse. (Rascher, Zürich, 1917.)

[61] l. c. p. 104.

[62] Wie Schiller richtig sagt, ist im ästhetischen Zustand der Mensch
Null. l. c. p. 108.

[63] l. c. p. 135.

[64] Ich verwende das Wort „Ästhetismus“ als einen abgekürzten
Ausdruck für „ästhetische Weltanschauung“. Ich meine daher nicht
jenen Ästhetismus mit dem übeln Beiklang des Ästhetisch-Tuns und der
Anempfindelei, was man vielleicht als Ästhetizismus bezeichnen könnte.

[65] Vergl. dazu _Schiller_: Über die notwendigen Grenzen beim Gebrauch
schöner Formen, p. 195. „Dafür nämlich, dass bei dem ästhetisch
verfeinerten Menschen die Einbildungskraft auch in ihrem freien Spiele
sich nach Gesetzen richtet, und dass der Sinn sich gefallen lässt,
nicht ohne Beistimmung der Vernunft zu geniessen, wird von der Vernunft
gar leicht der Gegendienst verlangt, in dem Ernst ihrer Gesetzgebung
sich nach dem Interesse der Einbildungskraft zu richten, und nicht ohne
Beistimmung der sinnlichen Triebe dem Willen zu gebieten.“

[66] l. c. p. 81.

[67] l. c. p. 81: „indem der weibliche Gott unsere Anbetung heischt“
etc.

[68] Ich habe diesen Punkt in meinem Buche „Wandl. und Symb. der
Libido“ weitläufig erörtert.

[69] l. c. p. 108.

[70] l. c. p. 118.

[71] l. c. p. 120.

[72] l. c. p. 121.

[73] l. c. p. 123.

[74] l. c. p. 124.

[75] l. c. p. 111.

[76] l. c. p. 142.

[77] l. c. p. 146.

[78] l. c. p. 151.

[79] _Schiller_: Über naive und sentimentalische Dichtung.

[80] l. c. p. 248.

[81] l. c. p. 250.

[82] l. c. p. 304.

[83] l. c. p. 303.

[84] l. c. p. 305.

[85] l. c. p. 307 f.

[86] l. c. p. 314.

[87] Les fonctions mentales dans les sociétés inférieures.

[88] l. c. p. 249.

[89] l. c. p. 250.

[90] l. c. p. 301.

[91] l. c. p. 303.

[92] l. c. p. 329 f.

[93] l. c. p. 331.

[94] l. c. p. 331.

[95] _Nietzsche_: l. c. p. 31.

[96] l. c. p. 19.

[97] l. c. p. 23.

[98] l. c. p. 57 ff.

[99] l. c. p. 24.

[100] l. c. p. 25.

[101] l. c. p. 27.

[102] Der Ästhetismus kann natürlich die religiösen Funktionen
ersetzen. Aber wie viele Dinge gibt es, die nicht dasselbe tun können?
Was haben wir nicht Alles kennen gelernt als Surrogat für eine
mangelnde Religion? Wenn der Ästhetismus auch ein sehr edles Surrogat
ist, so ist er eben doch nur Ersatzbildung an Stelle des mangelnden
Ächten. Die spätere „Bekehrung“ Nietzsches zu Dionysos zeigt übrigens
am besten, dass das ästhetische Surrogat auf die Dauer nicht Stand
gehalten hat.

[103] _Nietzsche_: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben.
II. Stück der unzeitgemässen Betrachtungen.

[104] p. 9 ff.

[105] pag. 35.

[106] p. 9, Diederichs, Jena, 1911.

[107] Vergl. _Jung_: La structure de l’inconscient. Arch. de Psych. T.
XVI.

[108] p. 24 f.

[109] l. c. p. 28.

[110] Vergl. dazu _Jung_: Inhalt der Psychose.

Idem: Wandl. und Symb. der Libido.

[111] Bezüglich des Motives des Kleinodes und der Wiedergeburt muss ich
auf mein Buch: Wandlungen u. Symbole der Libido, verweisen.

[112] _Spitteler_: l. c. p. 126.

[113] Spitteler stellt das famose Gewissen des Epimetheus
als ein kleines Tier dar. Es entspricht auch dem thierischen
Opportunitätsinstinkt.

[114] l. c. p. 132 ff.

[115] Spittelers „Heit“ und „Keit“.

[116] An ihre Stelle kann auch compensatorisch eine erhöhte
Geselligkeit, ein intensiver gesellschaftlicher Betrieb treten, in
dessen hastigem Wechsel Vergessen gesucht wird.

[117] Compensatorisch kann dafür eine krankhaft gesteigerte
Arbeitstätigkeit eintreten, welche ebenfalls der Verdrängung dient.

[118] Phileros = der den Eros liebt.

[119] Vergl. _Goethes_ „Geheimnisse“. Dort wird die rosenkreuzerische
Lösung versucht, nämlich die Vereinigung von Dionysos und Christus,
Rose und Kreuz. Das Gedicht lässt kalt. Man kann nicht neuen Wein in
alte Schläuche füllen.

[120] Es sind sehr oft die Vertreter ältern Volkstums, welche magische
Kräfte haben. In Indien sind es die Nepalesen, in Europa Zigeuner, in
protestantischen Gegenden Kapuziner.

[121] Manava-Dharmaçastra I, 26. Sacred Books. 25.

[122] Ramayana II, 84. 20.

[123] Manava-Dharmaçastra VI, 80 f. l. c.

[124] Bhagavadgita II.

[125] Qualitäten oder Faktoren oder Konstituenten der Welt.

[126] _Deussen_: Allg. Gesch. d. Phil. 1. 3. p. 511 ff.

[127] Yoga ist bekanntlich ein Übungssystem zur Erlangung höherer
erlöster Zustände.

[128] Kaushitaki-Upanishad. I. 4.

[129] Tejobindu-Upanishad 3.

[130] Mahabharata I, 119, 8 f.

[131] Mahabharata. XIV. 19, 4 ff.

[132] Bhagavata-Purana IX. 19, 18 f. „Nachdem er abgetan das
Nichtschweigen und das Schweigen, so wird er ein Brahmana.“
Brihadaranyaka-Up. 3, 5.

[133] Bhagavata-Purana IV. 22. 24.

[134] Garuda-Purana 16, 110.

[135] Ich verdanke diese für mich zum Teil unerreichbaren Zitate (Nr.
193, 201-205) der liebenswürdigen Mithilfe des Sanskritspezialisten Dr.
Abegg in Zürich.

[136] _Deussen_: Allg. Gesch. d. Phil. I, 2, pag. 117.

[137] Brihadaranyaka-Upanishad, 2, 3 (Engl. Übersetzung: the material
and the immaterial, the mortal and the immortal, the solid and the
fluid, „sat“ (being, definite) and „tya“ (that, indefinite). Sacred
Books. 15).

[138] Svetasvatara-Upanishad, 4, 17 f.

[139] Svetasvatara-Upanishad 5, 1. (_Deussen_.) Englische Übersetzung
(Sacred Books 15): „In the imperishable and infinite highest Brahman,
wherein the two, knowledge and ignorance are hidden, the one, ignorance
perishes, the other, knowledge, is immortal; but he, who controls both,
knowledge and ignorance, is another.“

[140] _Deussen_ übersetzt hier: „Er sitzt und wandert doch fernhin. Er
liegt und schweift doch allerwärts. Des Gottes Hin- und Herwogen, wer
verstände es ausser mir?“ Kâtha-Upanishad 1, 2, 20 f.

[141] Iça-Upanishad, 4-5. (_Deussen_.)

[142] Brihadaranyaka-Upanishad. 4, 3.

[143] Atharvaveda 10, 8, II (Deussen).

[144] Daher ist Brahman gänzlich unerkennbar und unverstehbar.

[145] _Jung_: Wandl. und Symbole der Libido. Leipzig u. Wien, 1912.

[146] Çatap. Brahm. 14, l, 3, 3 (Deussen).

[147] Taitt. Ar. 10, 63, 15 (Deussen).

[148] Çankh. Br. 8, 3 (Deussen).

[149] Vaj. Samh. 23, 48 (Deussen).

[150] Çatap. Br. 8, 5, 3, 7 (Deussen).

[151] Taitt. Br. 2, 8, 8, 8 ff. (Deussen).

[152] Atharvaveda. 2, l. 4, l. II, 5.

[153] Übung, Selbstbebrütung. Vergl. dazu: _Jung_: Wandl. und Symb. d.
Libido.

[154] Atharvaveda 11, 5, 23 f. (Deussen).

[155] _Deussen_: Allg. Gesch. d. Phil. I, 2. p. 93 ff.

[156] Taitt. Up. 2, 8, 5 (F. Max Müller).

[157] Brihadar. Up. 5, 15, 1 ff. (F. Max Müller).

[158] Khandogya-Up. 3, 13, 7 f. (F. Max Müller).

[159] Çatap. brahm. 10, 6, 3 (Deussen).

[160] Allg. Gesch. d. Phil. I, 1, p. 240 ff.

[161] Dafür spricht auch die Beziehung Brahman-prana-Matariçvan (der in
der Mutter Schwellende) Atharvaveda 11, 4, 15.

[162] _Jung_: Wandlungen und Symbole der Libido.

[163] Rigveda 10, 31, 6 (Deussen).

[164] Kosmisches Schöpferprinzip = Libido. Taitt. Samh. 5, 5, 2, 1: „Er
hat die Kreaturen, nachdem er sie erschaffen, mit Liebe durchdrungen.“

[165] Selbstbebrütung, Askese, Introversion.

[166] Die Feuererzeugung im Munde hat eine merkwürdige Beziehung zur
Sprache.

Vergl. dazu _Jung_: Wandl. u. Symb. d. Libido.

[167] Vergl. Dioskurenmotiv in _Jung_: Wandl. und Symb. d. Libido.

[168] _Deussen_: Gesch. d. Phil. I, 1, p. 206. Pancav. Br. 20, 14, 12.

[169] _Weber_: Ind. Stud. 9, 477.

Cit. _Deussen_: Gesch. d. Phil. I, 1. p. 206.

[170] Name eines Saman = Lied.

[171] _Deussen_: l. c. I, 1, 205. Pancav. Br. 7, 6.

[172] Çatap. Br. 11, 2, 3 (Deussen).

[173] Vergl. dazu _Jung_: Über die Psychologie der Dem. praecox. Halle,
1907.

[174] Andeutung von Pferd, was auf die _dynamische_ Natur des
Ritabegriffes hinweist.

[175] Agni wird Wagenlenker des rita genannt. Vedic Hymns. Sacred Books
46, p. 158, 7, p. 160, 3, p. 229, 8.

[176] Vergl. dazu _Oldenberg_: Nachr. d. Gött. Ges. d. Wiss. 1915, p.
167 ff. Religion des Veda. p. 194 ff. Ich verdanke diese Angabe der
Liebenswürdigkeit von Herrn Dr. Abegg in Zürich.

[177] _Deussen_: Allg. Gesch. d. Phil. I, 1, p. 92.

[178] Çatapatha-Brahmanam. 4, 1, 4, 10 (Eggeling).

[179] Atharvaveda 10, 10, 33 (Deussen).

[180] Atharvaveda 10, 12, 1, 61 (Bloomfield).

[181] Vedic Hymns. Sacred Books, 46, p. 54.

[182] Vedic Hymns. l. c. p. 61.

[183] Ved. Hymns. l. c. p. 393.

[184] Die Befreiung der Libido erfolgt durch _rituelle_ Arbeit. Die
Befreiung bringt die Libido zur bewussten Verwendbarkeit. Sie wird
domestiziert. Sie wird aus einem instinktiven, undomestizierten Zustand
in einen Zustand der Disponibilität übergeführt. Dies schildert ein
Vers, wo es heisst: „Wenn die Herrscher, die freigebigen Herren ihn
(Agni) durch ihre Kraft aus der _Tiefe, aus der Form des Stieres_,
hervorgebracht haben --“ (Ved. Hym. l. c. p. 147).

[185] Vedic Hymns. l. c. p. 147.

[186] Vergl. dazu das Tishtrya-Lied. _Jung_: Wandl. u. Symb. d. Libido.

[187] Vedic Hymns. l. c. p. 88.

[188] l. c. p. 103.

[189] l. c. p. 160, 2.

[190] Ved. Hymns. l. c. p. 244, 6 und p. 316, 3.

[191] Ved. Hymns. l. c. p. 153 und p. 8.

[192] Tao-te-king Cap. 4.

[193] Tao-te-king Cap. 25.

[194] l. c. Cap. 1.

[195] l. c. Cap. 16.

[196] l. c. Cap. 21.

[197] l. c. Cap. 40.

[198] l. c. Cap. 41.

[199] l. c. Cap. 56.

[200] Vergl. _Tetsujiro Inouye_: Die japanische Philosophie. (In
„Kultur der Gegenwart“. Leipzig u. Berlin, 1913.)

[201] „Illa terra virgo nondum pluviis rigata nec imbribus foecundata“,
etc.

[202] „Veritas de terra orta est, quia Christus de virgine natus est.“

[203] Die Beispiele hiefür sind zahlreich. Ich habe einiges erwähnt in
„Wandl. und Symbole der Libido“.

[204] _Pfeiffer_: Deutsche Mystiker. Bd. II.

[205] Von den Hindernissen an wahrer Geistlichkeit. _H. Büttner_.
Meister Eckeharts Schriften und Predigten. Diederichs, Jena, 1909, Bd.
II, 185.

[206] Geistl. Unterweisung. 4. H. Büttner, l. c. Bd. II. p. 8.

[207] Der Libidobegriff der Batak. _Warnecke_: Die Religion der Batak.
Leipzig, 1909, Tondi ist der Name für die magische Kraft, um die sich
sozusagen alles dreht.

[208] Etwas als Projektion erkennen, ist niemals als ein bloss
intellektueller Vorgang misszuverstehen. Die intellektuelle Erkenntnis
löst eine Projektion nur dann auf, wenn sie sowieso schon reif ist zur
Auflösung. Durch intellektuelles Urteil und durch Willen die Libido aus
einer Projektion, die nicht sowieso schon fällig ist, herauszuziehen,
ist unmöglich.

[209] _William Blake_, der englische Mystiker, sagt: „Energy is eternal
delight.“ Poetical Works. Vol. I. London, 1906. p. 240.

[210] _Büttner_, l. c. Bd. II, p. 195.

[211] Nach Eckehart ist die Seele ebensosehr das Begreifende, wie das
Begriffene. _Büttner_: l. c. Bd. I., p. 186.

[212] Literarische Beispiele hiefür sind: E. T. A. Hoffmann, Meyrink,
Barlach („Der tote Tag“) auf höherer Stufe: Spitteler, Goethe (Faust),
Wagner.

[213] Nietzsche im „Zarathustra“.

[214] Vergl. eine vorläufige Mitteilung in _Jung_: Psychol. der unbew.
Prozesse.

[215] Eckehart sagt: „Darum kehre ich wieder auf mich selber zurück, da
finde ich die tiefste Stätte, tiefer als die Hölle selber; denn auch
aus der treibt mein Elend mich fort: Ich kann mir doch nicht entrinnen!
Hierin will ich mich setzen und hierin will ich bleiben.“ _Büttner_
l. c. I, 180.

[216] _Büttner_, l. c. Bd. I. p. 198.

[217] _Büttner_, l. c. Bd. I. p. 147.

[218] _Büttner_: l. c. Bd. I. p. 148.

[219] _Spencer and Gillen_: The Northern Tribes of Central Australia.

[220] Vergl. _Jung_: Wandlungen und Symbole der Libido.

[221] _Spitteler_: l. c. p. 108.

[222] l. c. p. 127.

[223] l. c. p. 132.

[224] l. c. p. 129.

[225] l. c. p. 128.

[226] Paul Cassirer. Berlin. 1912. p. 16 f.

[227] _Spitteler_: l. c. p. 138.

[228] Jes. 7, 14.

[229] Jes. 11, 6 ff.

[230] „Wunderkind“ bei Spitteler.

[231] Vergl. oben meine Erörterungen zu den Schillerschen Briefen.

[232] Römer 8, 19.

[233] _Frobenius_: Das Zeitalter des Sonnengottes.

[234] Siehe Wandl. und Symb. der Libido. Mit der Erwürgung des
Leviathan geht bei Spitteler parallel die Überwältigung Behemoths.

[235] _Spitteler_ l. c. p. 163.

[236] _E. König_: Ahasver. 1907.

[237] _Spitteler_: l. c. p. 179.

[238] Vergl. dazu: Wandl. und Symb. der Libido. p. 58.

[239] Die Vulgata hat sogar: nervi testiculorum ejus perplexi sunt. Bei
Spitteler ist _Astarte_ die Tochter Behemoths -- bezeichnenderweise.

[240] Man vergleiche damit _Flournoy_: Une mystique moderne. Arch. de
Psych. T. XV. 1915.

[241] _Büttner_: l. c. I. p. 165.

[242] Dazu reichliche Belege: Wandl. und Symb. der Libido.

[243] Poetical works. 1. p. 249.

[244] The prolific = der Fruchtbare, der aus sich herausgebärt.

[245] The devouring = der verschlingt, in sich hinein nimmt.

[246] „Religion is an endeavour to reconcile the two!“

[247] Eine umgearbeitete, aber im Wesen unveränderte Darstellung der
Typen gibt Gross auch in seinem Buche: Ueber psychopathologische
Minderwertigkeiten. Braumüller, Wien und Leipzig, 1909. p. 27 ff.

[248] _Jung_: Diagnostische Associationsstudien.

[249] _Eberschweiler_: Untersuchungen über die sprachliche Komponente
der Association. Inaug. Diss. Zürich. 1908. Allg. Zeitschr. f.
Psychiatrie, 1908.

[250] An anderer Stelle (Psychopath. Minderw. p. 41) macht Gross, wie
mir scheint, mit Recht, einen Unterschied zwischen der „überwertigen
Idee“ und dem sogen. „wertüberhöhten Komplexe“. Letzteres Phänomen ist
nämlich nicht bloss für diesen Typus charakteristisch, wie Gross meint,
sondern auch für den andern. Der „Konfliktkomplex“ hat vermöge seiner
Gefühlsbetonung überhaupt beträchtlichen Wert, gleichviel, bei welchem
Typus er auch vorkommt.

[251] Vergl. dazu _P. Bjerre_: Zur Radikalbehandlung der chronischen
Paranoia. Jahrb. für psychoanalytische Forschungen. Bd. III. p. 795 ff.

[252] _Gross_: Über psychopathologische Minderwertigkeiten. p. 37.

[253] l. c. p. 59.

[254] Vergl. dazu die ähnliche Feststellung bei _Jordan_.

[255] Gross: p. 63.

[256] p. 64.

[257] p. 65.

[258] p. 65.

[259] p. 68 f.

[260] p. 12. Ebenso Gross in seinem Buch: Über pathologische
Minderwertigkeiten. Wien, 1909. p. 30 und p. 37.

[261] Diese Spannung oder Entspannung lässt sich gelegentlich sogar im
Tonus der Muskulatur nachweisen. In der Regel sieht man sie im Gesicht
ausgedrückt.

[262] _Worringer_: Abstraktion und Einfühlung. III. Auflage. München,
1911. (1. Aufl. 1908)

[263] _Lipps_: Leitfaden der Psychologie. II. Auflage 1906. p. 193 f.

[264] _Jodl_: Lehrbuch der Psychologie. 1908. Bd. II. p. 436.

[265] Unter Externalisation versteht _Jodl_ die Lokalisierung der
Sinneswahrnehmung im Raume. Wir hören die Töne nicht im Ohre und sehen
die Farben nicht im Auge, sondern am räumlich lokalisierten Objekt.
l. c. Bd. II. p. 247.

[266] _Wundt_: Grundzüge der physiologischen Psychologie. V. Aufl. Bd.
III. p. 191.

[267] l. c. p. 4.

[268] _Lipps_: Ästhetik. p. 247.

[269] _Worringer_: l. c. p. 16.

[270] l. c. p. 18.

[271] l. c. p. 21.

[272] _Spencer_ and _Gillen_: The Northern Tribes of Central Australia.
London. 1904.

[273] Weil die unbewussten Inhalte des Einfühlenden selber relativ
unbelebt sind.

[274] l. c. p. 26.

[275] l. c. p. 27.

[276] _Fr. Th. Vischer_ gibt in seinem Roman: „Auch Einer“ eine
treffliche Schilderung der belebten Objekte.

[277] Vergl. zum gerichteten Denken: _Jung_: Wandl. und Symbole der
Libido. p. 7 ff.

[278] W. _James_: Pragmatism. A new name for some old ways of thinking.
Longmans, London, 1911.

[279] p. 6.

[280] l. c. p. 7 f.

[281] l. c. p. 9.

[282] l. c. p. 10 ff.

[283] l. c. pag. 12 f.

[284] _Th. Flournoy_: La philosophie de W. James. Saint-Blaise, 1911,
pag. 32.

[285] _Flournoy_: l. c. p. 32.

[286] _Baldwin_: Handbook of Psychology. I, p. 312.

[287] _Herbart_: Psychologie als Wissenschaft. § 117.

[288] _Schopenhauer_: Welt als Wille und Vorstellung. I, § 8.

[289] _Jerusalem_: Lehrb. der Psychologie, pag. 195.

[290] _Kant_: Log. pag. 140 f.

[291] _Wundt_: Grundzüge der phys. Psychol. V. Auflage, Bd. III, pag.
582 f.

[292] _James_: Pragmatism. p. 13. Die Bostoner sind wegen ihres
„vergeistigten“ Ästhetismus bekannt. Cripple Creek ist ein bekannter
Bergwerksdistrikt in Virginia. Man kann sich also den Gegensatz leicht
vorstellen!

[293] _James_: l. c. p. 15.

[294] _Ostwald_: Grosse Männer. III. und IV. Aufl. Leipzig, 1910.

[295] _Ostwald_: l. c. p. 44.

[296] _Ostwald_: l. c. p. 44 f.

[297] l. c. p. 89.

[298] l. c. p. 94.

[299] l. c. p. 100.

[300] l. c. p. 100.

[301] l. c. p. 372.

[302] l. c. p. 374.

[303] l. c. p. 377.

[304] Ostwald: l. c. p. 380.

[305] Ostwald: l. c. p. 372 f.

[306] _Jung_: Diagnostische Associationsstudien. J. A. Barth. Leipzig.
1911. II. Auflage.

[307] _Sully_: Hum. mind. II c. 16.

[308] _Nahlowsky_: Das Gefühlsleben, p. 48.

[309] _Kant_: Log. § 6.

[310] _Bleuler_: Affektivität, Suggestibilität, Paranoia. 1906. p. 6.

[311] l. c. p. 13 f.

[312] Vergl. dazu _Wundt_: Grundz. der phys. Psych. V. Auflage. III, p.
209. ff.

[313] _Féré_: Note sur des modifications de la résistance électrique
etc. Comptes-Rendus de la Société de Biologie 1888. p. 217 ff.

_Veraguth_: Das psychogalvanische Reflexphänomen. Mon. schr. f. Psych.
u. Neurol. XXI p. 387.

_Jung_: On psychophysical relations etc. Journ. of Abnorm. Psych. I,
247.

_Binswanger_: Über das Verhalten des psychogalvanischen Phänomens etc.
Diagnost. Assoc. stud. II, 113.

[314] Vergl. _Wundt_: Grundz. der phys. Psych. I, 322.

[315] Vergl. dazu _Jung_: Wandl. u. Symb. der Libido.

[316] _Wundt_: Log. I, 20.

[317] Vergl. _Lipps_: Leitf. d. Psych. II. Auflage, p. 104.

[318] _Wundt_: Grundz. d. phys. Psych. III, 529.

[319] _Natorp_: Einl. in d. Psych. p. 11. Ebenso: _Lipps_: Leitfaden
der Psych. p. 3.

[320] Vergl. _Riehl_: (Z. Einf. in die Phil. 161.), welcher das B.
ebenfalls als „Aktivität“, als „Prozess“ auffasst.

[321] _Jung_: Zur Psych. der Dem. praec.

[322] In Anlehnung an einen Ausspruch J. _Burckhardts_. Vergl. _Jung_:
Wandl. u. Symb. der Lib. p. 35.

[323] _Jung_: Instinct and the Unconscious. The Journal of Psychology.
Vol. X, 1.

[324] Ein bemerkenswertes Beispiel eines archaïschen Bildes findet sich
_Jung_: Wandl. u. Symb. d. Lib. p. 94 f.

[325] Welt als Wille und Vorstellung. Bd. I. § 49.

[326] Kritik der reinen Vernunft. Kehrb. p. 279.

[327] _Lévy-Bruhl_: Les fonctions mentales dans les sociétés
inférieures, p. 27. ff.

[328] _Lévy-Bruhl_: l. c. p. 28 f.

[329] _Adler_: Über den nervösen Charakter. 1912.

[330] Andeutungen der Compensationslehre auch bei _Gross_, angeregt von
_Anton_.

[331] _Adler_: Studie über Minderwertigkeit von Organen, 1907.

[332] Id. Über den nervösen Charakter, p. 14.

[333] _Jung_: Collected Papers on Analytical Psychology, II Ed. p. 278
ff.

[334] _Jung_: Inhalt der Psychose. II. Auflage, p. 29 ff.

[335] Ein ausführliches Beispiel hiefür in _Jung_: Psych. u. Path. sog.
occult. Phaen. 1902.

[336] _Maeder_: Über das Traumproblem. Jahrb. f. psychoanalyt. u.
psychopathol. Forsch. Bd. V, 647.

[337] _Adler_: Über den nervösen Charakter.

[338] _Freud_: Traumdeutung.

[339] _Silberer_: (Probleme der Myst. und ihrer Symbole, p. 149 ff.)
drückt sich in der Formulierung der _anagogischen_ Bedeutung ähnlich
aus.

[340] _Jung_: Die Psych. der unbew. Prozesse. p. 95 ff.

[341] _Jung_: Wandl. u. Symb. d. Libido. p. 7 ff.

[342] l. c. p. 19.

[343] _James_: Grundriss der Psych. p. 464.

[344] _Bleuler_: Die negative Suggestibilität. Psych. Neur. Wochenschr.
1904, 27/28.

_Idem_: Zur Theorie des schizophrenen Negativismus. Psych. Neur.
Wochenschr. 1910, 18/21.

_Idem_: Lehrb. der Psychiatrie, p. 92, 285.

[345] Pflügers Arch. Bd. 45, 37.

[346] Gr. der Psychol. p. 44.

[347] Gr. der Psychol. I, 681 f.

[348] _Stobaeus_: Ekl. I, 58: εἱμαρμένην δὲ λόγον ἐκ τῆς ἐναντιοδρομίας
δημιουργὸν τῶν ὄντων.

[349] _Zeller_: Die Phil. der Griech. II. Auflage, I, 456.

[350] _Gomperz_: Griech. Denker. I, 53.

[351] _Diels_: Fragm. d. Vorsokr. I, 79.

[352] Zur Geschichte des Begriffes der Empfindung vergleiche: _Wundt_:
Grundz. d. phys. Psych. I, 350 ff.

_Dessoir_: Geschichte der neuern deutschen Psychologie.

_Villa_: Einl. in d. Psych. der Gegenwart.

_v. Hartmann_: Die moderne Psychologie.

[353] Zur Geschichte des Begriffes des Fühlens und zur Theorie des
Gefühls vergl.: _Wundt_: Grundz. d. phys. Psych. _Idem_: Grundr. d.
Psych. p. 35 ff.

_Nahlowsky_: Das Gefühlsleben in seinen wesentlichen Erscheinungen, etc.

_Ribot_: Psych. d. Gefühle.

_Lehmann_: Die Hauptgesetze des menschlichen Gefühlslebens.

_Villa_: Einleitung in d. Psych. d. Gegenwart, p. 208 ff.

[354] Zur Unterscheidung von Gefühl und Empfindung vergl. _Wundt_:
Grundz. d. phys. Psych. I, 350 ff.

[355] _Jung_: Zur Psychologie der Dem. praec. Halle. 1907. p. 45.

[356] Phil. Stud. VII, 13.

[357] Kr. d. reinen Vernunft. _Ed. Kehrbach._ p. 279 ff.

[358] Logik. p. 140.

[359] Kr. d. reinen Vernunft. Kehrbach.

[360] Welt als Wille und Vorstellung. Bd. I, § 25.

[361] l. c. § 49.

[362] Ästhet. I, 138.

[363] Log. III, p. 242 f.

[364] Wirklichkeit. p. 152, 154.

[365] Log. p. 14, 18.

[366] Menschl. Weltbegr. p. 25 ff.

[367] _Ferenczi_: Introjektion und Übertragung, p. 10 ff.

[368] Ähnlich _Bergson_.

[369] Das Verdienst, die Existenz dieses Typus entdeckt zu haben,
gebührt M. _Moltzer_.

[370] Vergl. dazu _Jung_: Wandl. und Symbole der Libido, p. 119.

_Idem_: Darstellung der psychoanalytischen Theorie, p. 30 ff.

[371] _Lévy-Bruhl_: Les fonctions mentales dans les sociétés
inférieures. Paris 1912.

[372] _Azam_: Hypnotisme -- Double Conscience. Paris 1887.

_Morton Prince_: The dissociation of a personality. 1906.

_Landmann_: Die Mehrheit geistiger Persönlichkeiten in einem
Individuum. 1894.

_Ribot_: Die Persönlichkeit. 1894.

_Flournoy_: Des Indes à la Planète Mars. 1900.

_Jung_: Zur Psychol. u. Pathol. sog. occulter Phaenomene. 1902.

[373] _Jung_: La structure de l’inconscient. Arch. de Psychologie. I.
XVI. p. 152.

[374] _Ferrero_: Les lois psychologiques du symbolisme. 1895.

[375] _Freud_: Zur Psychopathologie des Alltaglebens.

[376] Vergl. _Jung_: Instinct and the Unconscious. The Journal of
Psychology. Vol. X. 1.

[377] _Jung_: Contribution a l’étude des types psychologiques, Arch. de
Psychologie. T. XVI. p. 152.

_Idem_: Die Psychologie der unbewussten Prozesse. 1918.

[378] Vergl. _Flournoy_: Des Indes à la Planète Mars, 1900.

_Idem_: Nouvelles observations sur un cas de comnambulisme avec
glossolalie. Arch. de Psychologie. T. I. p. 101.

_Jung_: Zur Psych. und Path. sog. occulter Phaen. 1902.

[379] _Jung_: Inhalt der Psychose. II. Auflage. Zweiter Teil.





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