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Title: Das Licht leuchtet in der Finsternis
Author: Tolstoy, Leo, graf
Language: German
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*** Start of this LibraryBlog Digital Book "Das Licht leuchtet in der Finsternis" ***

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FINSTERNIS ***



    Anmerkungen zur Transkription


    Das Original ist in Fraktur gesetzt. Im Original gesperrter Text
    ist _so ausgezeichnet_. Im Original in Antiqua gesetzter Text ist
    ~so markiert~. Im Original fetter Text ist =so dargestellt=.

    Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert.



    Leo Tolstoi

    Das Licht leuchtet in
    der Finsternis

    Drama in vier Aufzügen


    Aus dem
    Russischen übertragen und eingeleitet

    von Adolf Heß

    Verlag von Philipp Reclam jun. Leipzig



Alle Rechte vorbehalten.

Den Bühnen und Vereinen gegenüber als Manuskript gedruckt. Das Recht
der Aufführung ist allein durch _Oesterheld & Co._, _Berlin_ ~W.~ 15
(Abteilung für Bühnenvertrieb) zu erwerben.

        Berlin-Charlottenburg, Juni 1912.

            Adolf Heß.


Druck von Philipp Reclam jun. Leipzig



Einleitung.


In Tolstois Nachlaß fanden sich neben den erzählenden Schriften
zwei größere dramatische Werke vor; das vollendete: »Der lebende
Leichnam«[1] und das unvollendete: »Das Licht leuchtet in der
Finsternis ...« Der Titel dieses letzteren Dramas ist dem Evangelium
Johannis Kap. I, Vers 5 entnommen und erhält seinen vollen Sinn durch
die zweite Hälfte des Verses: »und die Finsternis hat es sich nicht zu
eigen gemacht.«

    [1] Deutsch von Fred M. Balte, Uni.-Bibl. Nr. 5364; von Adolf
        Heß im Verlage von Schulze & Co., Leipzig.

Das Drama umfaßt fünf Aufzüge, deren letzter nur skizziert,
nicht ausgeführt ist. Die gründlichste Bearbeitung hat der erste
Aufzug erfahren. Begonnen wurde das Werk in den achtziger Jahren;
weitergeführt wurde es in den neunziger. Das ist vorläufig alles, was
wir über die Entstehung wissen. Wenn einmal der _gesamte_ Nachlaß
Tolstois, besonders die Tagebücher, veröffentlicht sein werden, die
uns infolge bekannter unglücklicher Verhältnisse noch immer nicht
zugänglich sind, werden wir Näheres auch über diese Arbeit erfahren,
von deren Existenz bei Lebzeiten des Dichters selbst seine nähere
Umgebung nichts wußte.

Tolstoi behandelt in diesem Werk -- und das erklärt vieles -- in
bisweilen autobiographischer Form die Kämpfe, die er in seiner Familie
durchzufechten hatte; die Zweifel, die ihn überkamen, als er die
Wirkung seiner Gedanken auf seine Umgebung beobachtete; den Widerstand,
dem er beim Umsetzen der Gedanken in die Tat begegnete, und die
Konflikte, die zwischen idealen Bestrebungen und dem realen Leben
überall zutage treten.

Der wohlhabende russische Gutsbesitzer Sarynzew, der nach dem
Evangelium leben, seine Habe an die Armen verteilen, seine Nächsten
wie sich selbst lieben will; der das Christentum nicht als schöne
Gedankenrichtung, sondern als praktische Lebensweisheit auffaßt; der
die Kirche als schadenbringende Institution verwirft und der Obrigkeit
den Gehorsam kündigt -- dieser Sarynzew ist Tolstoi selbst. Wir wissen,
wie Tolstoi sich bemüht hat, als echter Christ zu leben, wie er gleich
Sarynzew seine Habe den Armen geben wollte und, als ihm das nicht
gelang, die Besitzung auf den Namen seiner Frau überschreiben ließ;
wie er auf dem Felde und in der Werkstatt arbeitete; wie junge, den
Militärdienst verweigernde und dafür grausam bestrafte Bauern mit ihm
in Briefwechsel standen; wie er Bauern aus dem Gefängnis befreite,
und anderes mehr. Über diese Beziehungen zwischen den Vorgängen im
Drama und in Tolstois Leben ließe sich noch manches sagen. Wir haben
es hier in erster Linie mit dem Drama zu tun. Da fällt zunächst auf,
daß Tolstoi in diesem Werk ein Problem behandelt, das gerade unserer
Zeit so recht den Stempel aufdrückt. Es ist der Kampf und Ausgleich
zwischen arm und reich, in dem sich alle idealen Bestrebungen der
Gegenwart vereinen. Tolstoi sucht den Frieden dadurch herbeizuführen,
daß er den Reichen auf Grund eigener Erkenntnis freiwillig auf sein
Gut verzichten läßt. Aber dieser Verzicht gelingt Sarynzew nur zum
Teil, nur für seine Person, nicht für Weib und Kinder. Daraus entstehen
neue, unlösbare Konflikte. Hinzu kommen die heftigen Vorwürfe einer
Mutter, deren Sohn angeblich durch Sarynzews Lehren ins Verderben
gestürzt ist. Bekehrungsversuche eines Bischofs, den die besorgte
Schwägerin verschrieben hat. Abfall eines jungen Geistlichen von der
Landeskirche mit baldigem reumütigem Zurückkehren in ihren Schoß usw.
Die Katastrophe tritt, nach dem Szenarium, dadurch ein, daß die Mutter
des verführten jungen Mannes, als eine Audienz beim Zaren ergebnislos
verlaufen ist, Sarynzew ersticht. Diese Katastrophe wirkt, als Faktum,
ohne Worte, nach dem sehr auf Innerlichkeit und tiefreichenden
Gedankenaustausch gestellten übrigen Teil des Dramas stark theatralisch.

Alles in allem bedeutet Tolstois unvollendet gebliebenes Drama, das dem
unbezwinglichen Drange des Dichters, die wichtigsten inneren Erlebnisse
und schwersten Seelenkämpfe poetisch darzustellen, entsprungen ist,
ein ebenso wichtiges Zeugnis für Tolstois Leben, wie ein starkes
Glaubensbekenntnis und erschütterndes Drama eines Propheten und
Apostels, der starr wie ein Fels in unsere Zeit hineinragt. Daneben
aber mahnt und erinnert es, ohne eine Lösung des sozialen Problems
bieten zu wollen, mit größter Kraft und Eindringlichkeit an die
Pflichten, die jeder gegen seine Nächsten hat -- Pflichten, die kein
Gesetz befiehlt und keine Verordnung, sondern nur das eigene Gewissen.

        Berlin, 1912.

            ~Dr.~ Adolf Heß.



Personen


    =Nikolai Iwanowitsch Sarynzew=
    =Maria Iwanowna Sarynzewa=, seine Gattin
    =Ljuba=, ihre Tochter
    =Stefan=, ihr Sohn
    =Wanja=, ihr Sohn
    =Missi=, ihre Tochter
    =Kleine Kinder Sarynzews=
    =Alexander Michailowitsch Starkowski=, Ljubas Verlobter
    =Mitrofan Jermilytsch=, Wanjas Hauslehrer
    =Gouvernante bei Sarynzews=
    =Alexandra Iwanowna Kochowzewa=, Frau Sarynzews Schwester
    =Peter Semjonowitsch Kochowzew=, deren Gatte
    =Lisa=, beider Tochter
    =Fürstin Tscheremschanowa=
    =Boris=, ihr Sohn
    =Tonja=, ihre Tochter
    =Jüngere Tochter der Fürstin=
    =Wassili Nikanorowitsch=, junger Priester
    =Kinderwärterin= } bei Sarynzews
    =Diener=         }
    =Iwan Sjabrem=, ein Bauer
    =Malaschka=, seine Tochter
    =Sein Weib=
    =Peter=, ein Bauer
    =Der Dorfpolizist=
    =Pater Gerassim=, Bischof
    =Ein Notar=
    =Ein Tischler=
    =Ein General=
    =Adjutant des Generals=
    =Ein Oberst=
    =Ein Regimentsschreiber=
    =Posten=
    =Zwei Eskortesoldaten=
    =Ein Gendarmerieoffizier=
    =Schreiber=
    =Regimentsgeistlicher=
    =Oberarzt=             }
    =Unterarzt=            } im Lazarett in der Abteilung für
    =Mehrere Wärter=       } Geisteskranke
    =Ein kranker Offizier= }
    =Klavierspieler=
    Bauern. Bäuerinnen. Studenten. Damen. Tanzende Paare.



Erster Aufzug.


Bedeckte Veranda eines vornehmen Landhauses.

    Vor der Veranda der Garten, Lawn-Tennis- und Krocketplatz.
    Die Kinder spielen mit der Gouvernante Krocket. Auf der
    Veranda sitzen Maria Iwanowna Sarynzew, mit vierzig Jahren
    hübsch, elegant; ihre Schwester Alexandra Iwanowna Kochowzew,
    fünfundvierzig Jahre alt, korpulent, energisch, dumm; und deren
    Gatte, Peter Semjonowitsch Kochowzew, ein dicker, aufgedunsener
    Herr im Sommeranzug und Pincenez. Auf dem gedeckten Tisch
    ein Samowar und Kaffeegeschirr. Man trinkt Kaffee; Peter
    Semjonowitsch raucht.


Erster Auftritt.

    =Maria Iwanowna=, =Alexandra Iwanowna= und =Peter
    Semjonowitsch=.

=Alexandra Iwanowna.= Wenn du nicht meine Schwester, sondern eine
fremde Person wärest und Nikolai Iwanowitsch nicht dein Mann, sondern
irgendein Bekannter, so würde ich seine Handlungsweise originell und
nett finden und ihn vielleicht sogar darin bestärken. Da ich aber sehe,
daß dein Gatte Narrheiten treibt, direkt Narrheiten, muß ich dir meine
Meinung sagen. Ihm, deinem Gatten, werde ich sie ebenfalls sagen. Angst
habe ich nicht.

=Maria Iwanowna.= Das kränkt mich durchaus nicht; ich sehe es ja selbst
ein. Glaubte nur nicht, daß die Sache so wichtig sei.

=Alexandra.= Ja, du glaubst es nicht; ich sage dir aber, wenn du den
Dingen ihren Lauf läßt, kommt ihr noch an den Bettelstab. So, wie er es
treibt!

=Peter Semjonowitsch.= Bettelstab! Bei ihrem Vermögen!

=Alexandra.= Jawohl: Bettelstab. Und du, mein Lieber, unterbrich mich
bitte nicht. Für dich ist natürlich alles gut, was Männer tun ...

=Semjonowitsch.= Ich weiß ja gar nicht, ich sage nur ...

=Alexandra.= Du weißt eben nie, was du sagst. Wenn ihr Männer einmal
anfangt, Dummheiten zu machen, gibt es kein Halten mehr. Ich sage nur,
ich an deiner Stelle würde das nicht erlauben. Würde dem schon einen
Riegel vorschieben. Was soll denn das heißen! Ein Mann, Familienvater,
beschäftigt sich mit gar nichts, gibt alles weg und spielt nach rechts
und links den Großmütigen. Ich weiß schon, wie das endet. Wir können
davon ein Lied mitsingen.

=Semjonowitsch= (zu Maria). So klären Sie mich doch endlich einmal
darüber auf, Maria, was diese neue Richtung bedeutet? Liberalismus:
Selbstverwaltung, Verfassung, Schulen, Lesehallen und was daran bimmelt
und bammelt -- das verstehe ich. Auch die Sozialisten mit ihren Streiks
und Achtstundentag sind mir noch begreiflich. Aber das hier? Was ist
das eigentlich? Erklären Sie es mir.

=Maria.= Er hat Ihnen gestern ja selbst die Erklärung gegeben.

=Semjonowitsch.= Offen gesagt, habe ich ihn nicht verstanden.
Evangelium, Bergpredigt; die Kirche sei überflüssig ... Wie soll man
denn da seine Andacht verrichten und alles?

=Maria.= Das ist es ja eben, daß er alles zerstört und nichts Neues an
die Stelle setzt.

=Semjonowitsch.= Wie hat es eigentlich angefangen?

=Maria.= Im vorigen Jahr. Mit dem Tode seiner Schwester. Er hatte sie
sehr lieb, und ihr Tod wirkte derart auf ihn, daß er ganz tiefsinnig
wurde, stets vom Sterben sprach und schließlich, wie Sie wissen, selbst
erkrankte. Dann, nach dem Typhus, war er wie umgewandelt.

=Alexandra.= Er war doch aber im Frühjahr bei uns in Moskau so lieb und
nett. Spielte Karten, genau wie andere ...

=Maria.= Und war doch schon ganz anders ...

=Semjonowitsch.= Ja, aber wie denn eigentlich?

=Maria.= Vollkommen gleichgültig gegen seine Familie und dabei von
dieser fixen Idee besessen. Ich meine das Evangelium. Er las tagelang
darin, schlief nachts nicht, stand auf, um zu lesen, machte sich
Notizen und Auszüge, fuhr dann zu Bischöfen und Mönchen und disputierte
mit ihnen.

=Alexandra.= Geht er denn zum Abendmahl?

=Maria.= Seit unserer Verheiratung, also seit fünfundzwanzig Jahren,
war er nicht hingegangen. Dann nahm er es einmal im Kloster, erklärte
aber hinterher sofort, es sei nicht nötig und der Kirchenbesuch
überflüssig.

=Alexandra.= Ich sage ja, keine Spur von Konsequenz.

=Maria.= Noch vor einem Monat hat er keinen Gottesdienst versäumt,
alle Fastentage streng gehalten -- und dann ist auf einmal alles
überflüssig. Da red’ einer mit ihm.

=Alexandra.= Ich habe mit ihm gesprochen und werde es tun.

=Semjonowitsch.= Aber das alles ist doch nicht so schlimm ...

=Alexandra.= Für dich ist nichts schlimm, weil ihr Männer keine
Religion habt.

=Semjonowitsch.= So laß mich doch ausreden. Ich meine, daß es darauf
doch nicht ankommt. Wenn er die Kirche verwirft, was soll ihm dann das
Evangelium?

=Maria.= Er sagt, man müsse nach dem Evangelium, nach der Bergpredigt
leben, alles hingeben.

=Semjonowitsch.= Wie soll man denn aber leben, wenn man alles hingibt?

=Alexandra.= Und wo hat er in der Bergpredigt dieses ~Shake hands~ mit
den Dienstboten gefunden? Da steht wohl: Selig sind die Sanftmütigen;
von Händedrücken steht aber nichts da.

=Maria.= Natürlich hat er sich wieder hinreißen lassen, wie das stets
bei ihm der Fall ist, und wie er sich eine Zeitlang von der Musik,
Jagd, von seiner Schule hinreißen ließ. Aber mein Los wird dadurch
nicht leichter.

=Semjonowitsch.= Wozu ist er denn wieder in die Stadt gefahren?

=Maria.= Das hat er mir nicht gesagt; ich weiß aber, daß es wegen
des Holzfrevels ist; die Bauern haben widerrechtlich bei uns Holz
geschlagen.

=Semjonowitsch.= In dem selbstangelegten Tannenwald?

=Maria.= Ja. Man hat die Täter auch zu Geld- und Gefängnisstrafe
verurteilt, und heute kommt, wie er mir sagte, die Sache im Plenum vor
dem Friedensrichter zur Verhandlung. Ich nehme an, daß er deswegen
hingefahren ist.

=Alexandra.= Er wird ihnen alles verzeihen, und morgen kommen sie dann
und schlagen unseren Park nieder.

=Maria.= Ja, so fängt die Sache an. Alle Apfelbäume haben sie
umgeknickt und den ganzen Rasen zertreten -- er sagt ihnen nichts.

=Semjonowitsch.= Sonderbar.

=Alexandra.= Eben deswegen mein’ ich: es kann nicht so bleiben. Wenn
das so fortgeht, bringt er alles durch. Meiner Ansicht nach bist du als
Mutter verpflichtet, deine Maßnahmen zu treffen.

=Maria.= Was kann ich dagegen tun?

=Alexandra.= Du? Ihn zurückhalten, sagen, daß es nicht so weitergeht.
Du hast Kinder! Was bekommen die für ein Beispiel!

=Maria.= Gewiß ist es schwer; aber ich ertrage alles in der Hoffnung,
daß es vergehen wird, wie die früheren Schwärmereien.

=Alexandra.= Sehr schön, aber es heißt: hilf dir selbst, so hilft dir
Gott. Man muß ihm zu verstehen geben, daß er nicht allein in der Welt
ist, und daß man so nicht leben kann.

=Maria.= Das Schlimmste ist, daß er sich nicht mehr um die Kinder
kümmert. Ich muß alles allein besorgen. Dabei habe ich das Kleine und
die Älteren, Mädchen und Knaben, die Aufsicht und Leitung verlangen.
Alles fällt mir zu. Früher ein so zärtlicher, besorgter Vater -- jetzt
ist ihm alles gleich. Ich sagte ihm gestern, daß Wanja nicht lernt und
sicher wieder durchs Examen fällt; da meinte er, es wäre viel besser,
wenn er das Gymnasium ganz verließe.

=Semjonowitsch.= Was soll er denn anfangen?

=Maria.= Nichts. Das ist ja das Schreckliche, daß er alles verurteilt,
selbst aber nicht sagt, was man tun soll.

=Semjonowitsch.= Sonderbar, sehr sonderbar.

=Alexandra.= Wieso sonderbar? Ist doch die gewöhnliche Art der Männer:
alles zu verurteilen und selbst nichts zu tun.

=Maria.= Stefan hat jetzt sein Studium beendet und muß sich für eine
Karriere entscheiden -- der Vater sagt ihm nichts. Anfangs wollte er in
eine Ministerialkanzlei eintreten, aber Nikolai Iwanowitsch meinte, das
sei eine überflüssige Tätigkeit; dann wollte der Junge zur Garde -- das
verwarf der Vater gänzlich. Schließlich fragt er ihn: was soll ich denn
eigentlich anfangen? Etwa pflügen? Da antwortet Nikolai Iwanowitsch:
warum nicht pflügen? Das ist weit nützlicher als in der Kanzlei
hocken. Also was soll er tun? Kommt natürlich zu mir, und ich muß die
Entscheidung treffen. Dabei hat er als Vater alles in Händen.

=Alexandra.= Das muß man ihm offen sagen.

=Maria.= Gewiß; und ich werde es auch tun.

=Alexandra.= Sag ihm direkt, du ertrügst es nicht länger. Du tätest
deine Pflicht, also müsse er die seinige erfüllen, oder dir alles
abtreten.

=Maria.= Ach, das ist so peinlich.

=Alexandra.= Wenn du willst, sage ich es ihm; ich nehme kein Blatt vor
den Mund.

=Ein junger Priester= (tritt verlegen und aufgeregt mit einem Buche in
der Hand ein; er begrüßt alle durch Händedruck).


Zweiter Auftritt.

    =Die Vorigen= und der junge =Priester=.

=Priester.= Ich wollte nämlich zu Nikolai Iwanowitsch, um ihm das Buch
zurückzubringen.

=Maria.= Er ist in die Stadt gefahren, kommt aber bald zurück.

=Alexandra.= Was haben Sie denn für ein Buch?

=Priester.= Ein Werk von Renan. »Das Leben Jesu« nämlich.

=Semjonowitsch.= Nun sieh einer! Solche Bücher lesen Sie!

=Priester= (zündet sich in der Verlegenheit eine Zigarette an). Nikolai
Iwanowitsch hat es mir zur Durchsicht gegeben.

=Alexandra= (verächtlich). So, so, Nikolai Iwanowitsch hat es Ihnen zur
Durchsicht gegeben. Sind Sie denn mit Nikolai Iwanowitsch und diesem
Herrn Renan einer Meinung?

=Priester.= Natürlich bin ich das nicht. Wenn es der Fall wäre, wäre
ich nämlich kein Diener der Kirche mehr.

=Alexandra.= Wenn Sie ein treuer Diener der Kirche sind, weshalb
überzeugen Sie dann Nikolai Iwanowitsch nicht?

=Priester.= In diesen Dingen kann nämlich jeder seine eigenen Gedanken
haben, und Nikolai Iwanowitsch hat in mancher Hinsicht recht. In der
Hauptsache aber, bezüglich der Kirche, hat er sozusagen unrecht.

=Alexandra= (verächtlich). In welcher Hinsicht hat denn Nikolai
Iwanowitsch recht? Etwa, daß man nach der Bergpredigt sein Vermögen an
Fremde geben und die eigene Familie betteln lassen soll?

=Priester.= Die Kirche heiligt sozusagen die Familie, und die
Kirchenväter haben sie gesegnet; die höhere Vollkommenheit fordert aber
doch sozusagen Verzicht auf irdische Güter.

=Alexandra.= Gewiß, Glaubensstreiter haben so gehandelt: einfache
Sterbliche aber, denke ich, müssen so handeln, wie es sich für brave
Christen geziemt.

=Priester.= Niemand kann wissen, wozu er berufen ist.

=Alexandra.= Sie sind natürlich verheiratet?

=Priester.= Gewiß.

=Alexandra.= Und haben Kinder?

=Priester.= Zwei.

=Alexandra.= Warum verzichten Sie denn nicht auf die irdischen Güter?
rauchen sogar Zigaretten?

=Priester.= Aus Schwäche, Unwürdigkeit sozusagen.

=Alexandra.= Ja, ich sehe, anstatt Nikolai Iwanowitsch zur Vernunft zu
bringen, bestärken Sie ihn in seiner Torheit. Muß Ihnen offen sagen,
das ist nicht hübsch.

=Wärterin= (tritt ein).


Dritter Auftritt.

    =Die Vorigen.= =Wärterin.=

=Wärterin.= Hören gnädige Frau denn nicht? Der Kleine schreit, will die
Brust haben.

=Maria.= Ich komme, komme schon. (Steht auf und geht ab.)


Vierter Auftritt.

    =Die Vorigen= ohne Wärterin und Maria Iwanowna.

=Alexandra.= Sie tut mir schrecklich leid, die Schwester. Ich sehe, wie
sie sich quält. Wahrhaftig keine Kleinigkeit, solch einen Hausstand
zu führen. Sieben Kinder, eins noch an der Brust; dazu er mit seinen
»Ideen«. Mir scheint wirklich bisweilen, daß er hier nicht ganz richtig
ist. (Sie deutet auf die Stirn. Zum Priester.) Ich frage Sie: was haben
Sie da eigentlich für eine neue Religion entdeckt?

=Priester.= Ich verstehe nicht ganz ...

=Alexandra.= Hören Sie doch auf mit Ihren Spiegelfechtereien! Sie
verstehen sehr gut, was ich meine.

=Priester.= Erlauben Sie ...

=Alexandra.= Ich frage, was das für eine Religion ist, aus der
hervorgeht, daß man allen Bauern die Hand drücken, ihnen den Wald
überlassen und Geld zum Schnaps geben, die eigene Familie aber im Stich
lassen muß?

=Priester.= Davon weiß ich nichts ...

=Alexandra.= Er sagt, das sei Christentum. Sie sind Priester der
rechtgläubigen christlichen Kirche, also müssen Sie unbedingt Bescheid
wissen, ob das Christentum zum Diebstahl treibt.

=Priester.= Aber ich kann doch ...

=Alexandra.= Wozu sind Sie denn Priester, tragen langes Haar und ein
Talar?

=Priester.= Danach werden wir nicht gefragt ...

=Alexandra.= Wieso nicht gefragt? Ich frage doch aber. Er sagte mir
gestern, im Evangelium stände: So dich einer bittet, dem gib. In
welchem Sinne ist das zu verstehen?

=Priester.= Ich denke, ganz wörtlich.

=Alexandra.= Ich denke aber: nicht. Uns hat man gelehrt, jedem sei das
Seine von Gott bestimmt.

=Priester.= Natürlich, indessen ...

=Alexandra.= Man merkt ganz deutlich, daß Sie tatsächlich, wie man mir
gesagt, auf seiner Seite sind. Und ich muß Ihnen offen gestehen, daß
ich das für unrecht halte. Wenn irgendeine Lehrerin oder ein unreifer
Junge seine Gedanken nachredet, so ist das begreiflich; Sie in Ihrem
Amt müßten aber bedenken, welche Verantwortung auf Ihnen ruht.

=Priester.= Ich bemühe mich ...

=Alexandra.= Was ist das für eine Religion, wenn er nicht zur Kirche
geht und die Sakramente nicht anerkennt! Und Sie, statt ihn zur
Vernunft zu bringen, lesen Renan mit ihm und legen das Evangelium auf
Ihre Art aus.

=Priester= (erregt). Darauf weiß ich nichts zu erwidern. Bin sozusagen
einfach sprachlos.

=Alexandra.= Ich sollte nur Bischof sein, dann würde ich Ihnen das
Renanlesen und Zigarettenrauchen schon austreiben!

=Semjonowitsch.= Um Himmels willen hör auf! Was nimmst du dir da heraus!

=Alexandra.= Bitte keine Zurechtweisung! Batjuschka ist mir sicher
nicht böse, daß ich offen meine Meinung gesagt habe. Im Gegenteil, es
wäre schlimm, wenn ich hinter dem Berge hielte. Habe ich recht?

=Priester.= Verzeihen Sie, wenn ich mich nicht richtig ausgedrückt
habe; verzeihen Sie bitte.

    (Ungemütliches Schweigen.)

=Ljuba= und =Lisa= (kommen. Ljuba, Maria Iwanownas Tochter, ein
zwanzigjähriges, hübsches, energisches Mädchen; Lisa, Alexandra
Iwanownas Tochter, ist etwas älter. Beide tragen Kopftücher und Körbe,
um Pilze zu sammeln. Ljuba begrüßt die Tante und den Onkel, Lisa Vater
und Mutter, sowie den Priester).


Fünfter Auftritt.

    =Die Vorigen.= =Ljuba= und =Lisa=.

=Ljuba.= Wo ist denn Mama?

=Alexandra.= Eben fortgegangen, um den Kleinen zu nähren.

=Semjonowitsch.= Seht mal zu, daß ihr recht viel Pilze bringt. Ein
Mädchen hat heute herrliche weiße gebracht. Ich würde euch begleiten,
aber es ist so heiß.

=Lisa.= Komm doch mit, Papa.

=Alexandra.= Geh nur, geh; du wirst sonst zu dick.

=Semjonowitsch.= Also meinetwegen. Will nur Zigaretten holen. (Er geht
ab.)


Sechster Auftritt.

    =Die Vorigen= ohne Peter Semjonowitsch.

=Alexandra.= Wo steckt denn das junge Volk?

=Ljuba.= Stefan ist per Rad zur Station; Mitrofan Jermilytsch begleitet
Papa in die Stadt; die Kleinen spielen Krocket, und Wanja jagt mit den
Hunden herum.

=Alexandra.= Hat Stefan sich nun für etwas entschieden?

=Ljuba.= Ja, er will als Freiwilliger dienen. Hat selbst ein Gesuch
eingereicht. Gestern ist er schrecklich frech gegen Papa geworden.

=Alexandra.= Na ja, leicht hat er es auch nicht. Schließlich reißt
jedem einmal die Geduld. Will jetzt anfangen zu leben, und da sagt man
ihm: geh pflügen.

=Ljuba.= So hat Papa es ihm nicht gesagt. Er sagte ...

=Alexandra.= Ganz egal. Jedenfalls beginnt jetzt sein Leben, und was er
auch unternimmt, alles wird ihm zuwider gemacht. Aber da ist er selbst.

=Priester= (tritt beiseite, öffnet sein Buch und liest).

=Stefan= (fährt auf dem Rade vor).


Siebenter Auftritt.

    =Die Vorigen.= =Stefan.=

=Alexandra.= Wie der Wolf in der Fabel ... Eben war von dir die Rede.
Ljuba sagt, du hättest dich mit dem Vater gezankt.

=Stefan.= Absolut nicht. Nichts Besonderes. Er sagte mir seine Meinung,
ich ihm meine. Ich bin nicht schuld daran, daß unsere Ansichten
nicht übereinstimmen. Ljuba versteht gar nichts und will über alles
mitsprechen.

=Alexandra.= Was ist denn nun herausgekommen?

=Stefan.= Ich weiß nicht, was Papa beschlossen hat; fürchte, er ist
sich selbst nicht klar darüber. Ich für meine Person habe beschlossen,
als Einjähriger bei der Garde einzutreten. Hier wird aus allem so viel
Wesens gemacht; dabei ist die Sache ganz einfach. Mein Studium habe ich
beendet und muß nun meiner Dienstpflicht genügen. In der Linie unter
betrunkenen, rohen Offizieren ist das kein Vergnügen, deswegen diene
ich bei der Garde, wo ich Freunde habe.

=Alexandra.= Schön. Warum ist denn aber dein Papa dagegen?

=Stefan.= Ach der! Der steht jetzt ganz im Banne seiner fixen Idee
und sieht nur, was er sehen will. Er sagt, der Militärdienst sei der
abscheulichste von allen; deshalb dürfe man nicht dienen, und deswegen
gibt er mir kein Geld.

=Lisa.= Stefan, das hat er nicht gesagt! Ich war doch dabei! Er hat
gesagt, wenn man schon nicht anders könnte, sollte man wenigstens bis
zur Aushebung warten. Durch den Eintritt als Freiwilliger aber zeige
man, daß man diesen Dienst selbst wähle.

=Stefan.= Schließlich soll ich doch dienen und nicht er. Er hat ja
selbst gedient.

=Lisa.= Gewiß. Er sagt aber auch gar nicht, daß er dir kein Geld geben
will, sondern, daß er nicht an einer Sache teilnehmen kann, die gegen
seine Überzeugung geht.

=Stefan.= Es handelt sich hier nicht um Überzeugungen, sondern um den
Dienst, und damit basta!

=Lisa.= Und ich sage nur, was ich gehört habe.

=Stefan.= Ist ja ganz klar, daß du immer auf Papas Seite bist. Tante,
du weißt auch, daß Lisa stets Papa die Stange hält.

=Lisa.= Alles, was recht ist! ...

=Alexandra.= Für mich nichts Neues, daß Lisa stets alle Dummheiten
mitmacht. Sie wittert förmlich, wo eine Dummheit aushängt.

=Wanja= (kommt, von Hunden begleitet, in roter Bluse, ein Telegramm in
der Hand schwingend).


Achter Auftritt.

    =Die Vorigen.= =Wanja.=

=Wanja= (zu Ljuba). Rat mal, wer da kommt.

=Ljuba.= Wie kann ich das raten! Gib her. (Sie streckt die Hand nach
dem Telegramm aus. Wanja gibt es ihr nicht.)

=Wanja.= Ich geb’ es nicht und sage es nicht. Der, bei dem du immer so
rot wirst.

=Ljuba.= Dummheit, von wem ist das Telegramm?

=Wanja.= O, wie sie rot wird, wie sie rot wird! Tante Aline, ist sie
nicht ganz rot geworden?

=Ljuba.= Ach, laß die Dummheiten. Von wem ist es? Tante Aline, von wem
ist das Telegramm?

=Alexandra.= Von Tscheremschanows.

=Ljuba.= Ach so!

=Wanja.= Na, siehst du wohl: ach so! Und bei wem wirst du immer rot?

=Ljuba.= Tante, zeig bitte. (Sie liest.) »Mit Schnellzug, drei
Personen, Tscheremschanows«. Also die Fürstin, Boris und Tonja. Das
freut mich aber wirklich.

=Wanja.= Es freut sie aber wirklich! Stefan, sieh mal, wie sie rot
geworden ist.

=Stefan.= Hör doch endlich auf; immer ein und dasselbe.

=Wanja.= Jawohl, das sagst du nur, weil du selbst in Tonja verkeilt
bist. Da müßt ihr beide schon losen, denn das geht doch nicht, daß die
Schwester den Bruder nimmt und der Bruder die Schwester.

=Stefan.= Laß dein dummes Geschwätz. Wie oft hat man dir gesagt, du
sollst nicht überall deinen Senf dazu geben!

=Lisa.= Mit dem Schnellzug müssen sie bald hier sein.

=Ljuba.= Gewiß. Also gehen wir nicht zum Pilzsammeln.

=Semjonowitsch= (kommt mit Zigaretten).


Neunter Auftritt.

    =Die Vorigen= und =Peter Semjonowitsch=.

=Ljuba.= Onkel Peter, wir gehen nicht.

=Semjonowitsch.= Was ist denn los?

=Ljuba.= Tscheremschanows kommen bald. Laß uns lieber eine Partie
Tennis spielen. Stefan, machst du mit?

=Stefan.= Meinetwegen.

=Ljuba.= Ich spiele mit Wanja gegen dich und Lisa. Wollt ihr? Also ich
hole die Bälle und die Jungens. (Sie geht ab.)


Zehnter Auftritt.

    =Die Vorigen= ohne Ljuba.

=Semjonowitsch.= Das nennt man: versetzt.

=Priester= (will gehen). Ich habe die Ehre.

=Alexandra.= Nein, warten Sie, Batjuschka; ich möchte mit Ihnen
sprechen. Auch muß Nikolai Iwanowitsch gleich kommen.

=Priester= (setzt sich wieder und zündet sich eine Zigarette an). Es
dauert vielleicht noch lange.

=Alexandra.= Eben kommt jemand angefahren -- das muß er sein.

=Semjonowitsch.= Was für eine Tscheremschanow ist das eigentlich? Die
geborene Golizyn?

=Alexandra.= Nun ja, die mit ihrer Tante in Rom lebte.

=Semjonowitsch.= Wird mir ein Vergnügen sein. Haben uns seit Rom nicht
wiedergesehen. Ach, die schönen Duette! Wie reizend sie sang! Hat ja
wohl zwei Kinder, nicht wahr?

=Alexandra.= Ja; mit denen kommt sie.

=Semjonowitsch.= Ich wußte gar nicht, daß sie und Sarynzews so intim
sind.

=Alexandra.= Intim nicht. Sie waren voriges Jahr zusammen im Ausland;
und es kommt mir vor, als ob die Fürstin für ihren Sohn Absichten auf
Ljuba hat. Sie ist eine ganz Gerissene. Spekuliert auf eine große
Mitgift.

=Semjonowitsch.= Tscheremschanows waren doch selbst reich?

=Alexandra.= Das war einmal. Der Fürst lebt ja noch, hat aber alles
durchgebracht und vertrunken. Sie hat dann an höchster Stelle eine
Eingabe gemacht und wenigstens den Rest des Vermögens gerettet. Der
Mann hat sie verlassen, dafür aber den Kindern eine ausgezeichnete
Erziehung gegeben. Die Gerechtigkeit muß man ihm lassen. Die Tochter
ist sehr musikalisch; der Sohn hat die Universität absolviert und ist
ein lieber Bursche. Ich fürchte nur, unsere Hausfrau wird von den
Gästen jetzt nicht sehr erbaut sein. Aber da ist ja Nikolai!

=Nikolai= (tritt auf).


Elfter Auftritt.

    =Die Vorigen= mit =Nikolai Iwanowitsch=.

=Nikolai.= Guten Tag, Aline und Peter Semjonowitsch. (Zum Priester.)
Ach, Wassili Nikanorowitsch! (Er begrüßt ihn.)

=Alexandra.= Kaffee ist noch da. Soll ich dir eingießen? Er ist etwas
abgekühlt, aber man kann ihn wärmen. (Sie klingelt.)

=Nikolai.= Nein, danke. Ich habe schon getrunken. Wo ist meine Frau?

=Alexandra.= Sie nährt das Kind.

=Nikolai.= Fühlt sie sich wohl?

=Alexandra.= Es geht. Na, hast du deine Angelegenheiten erledigt?

=Nikolai.= Ja. Übrigens, wenn noch Tee oder Kaffee da ist, gib her.
(Zum Priester.) Haben Sie das Buch mitgebracht? Es gelesen? Ich habe
während der ganzen Reise an Sie gedacht.

=Ein Diener= (tritt ein).


Zwölfter Auftritt.

    =Die Vorigen= und ein =Diener=, der Nikolai Iwanowitsch
    begrüßt. Dieser reicht ihm die Hand. Alexandra Iwanowna tauscht
    achselzuckend mit ihrem Manne Blicke.

=Alexandra.= Wärmen Sie bitte den Samowar.

=Nikolai.= Ach das ist nicht nötig, Aline. Wenn ich trinken will,
trinke ich so.


Dreizehnter Auftritt.

    =Die Vorigen.= =Missi.=

=Missi= (die den Vater vom Krocketplatz erblickt hat, kommt auf ihn
zugelaufen und wirft sich ihm um den Hals). Papa, du sollst mitkommen!

=Nikolai= (sie streichelnd). Sofort, sofort, laß mich nur erst trinken.
Geh spielen, ich komme sofort.

=Missi= (geht ab).


Vierzehnter Auftritt.

    =Die Vorigen= ohne Missi.

=Alexandra.= Nun, sind die Bauern schuldig?

=Nikolai= (setzt sich an den Tisch, trinkt hastig Tee und ißt etwas
dazu).

=Alexandra.= Sind sie verurteilt?

=Nikolai.= Gewiß sind sie verurteilt; haben ja alles zugegeben. (Zum
Priester.) Ich habe mir gedacht, daß Renan Sie nicht überzeugen
würde ...

=Alexandra.= Du bist aber mit dem Urteil nicht einverstanden?

=Nikolai= (ärgerlich). Natürlich nicht. (Zum Priester.) Für Sie handelt
es sich nicht um die Gottheit Christi und nicht um die Geschichte des
Christentums, sondern um die Kirche ...

=Alexandra.= Was heißt das: die Bauern geben ihre Schuld zu, und du
widerlegst ihre Aussagen? Sie haben das Holz wohl nicht gestohlen,
sondern einfach genommen?

=Nikolai= (beginnt wieder mit dem Geistlichen zu reden, wendet sich
dann aber energisch an Alexandra Iwanowna). Liebe Aline, laß mich
endlich mit deinen Sticheleien und Anspielungen in Ruhe.

=Alexandra.= Aber ich habe doch gar nicht ...

=Nikolai.= Wenn du ernstlich wissen willst, weshalb ich wegen des
Holzes, das sie nötig hatten, mit den Bauern nicht prozessieren kann ...

=Alexandra.= Vielleicht haben sie diesen Samowar auch nötig ...

=Nikolai.= Also, wenn du wirklich wissen willst, weshalb ich es nicht
zulassen kann, daß diese Leute ins Gefängnis wandern, weil sie in dem
Walde, der als meiner gilt, zehn Bäume gefällt haben ...

=Alexandra.= Er _gilt_ nicht als deiner, er _ist_ es!

=Semjonowitsch.= Schon wieder Streit!

=Nikolai.= Ja, selbst wenn es, was ich nie zugeben kann, mein von
allen anerkanntes Eigentum ist, so besitze ich neunhundert Morgen
Wald, auf jeden Morgen kommen zirka fünfhundert Bäume, macht
vierhundertfünfzigtausend Bäume, nicht wahr? Zehn von diesen, das heißt
ein Fünfundvierzigtausendstel, haben sie gefällt. Nun frage ich: lohnt
es sich, darf man wegen solcher Lappalie jemanden von seiner Familie
losreißen und ins Gefängnis werfen?

=Stefan.= Ja; wenn sie aber wegen dieses einen
Fünfundvierzigtausendstel nicht bestraft werden, hauen sie
die übrigen vierundvierzigtausendneunhundertneunundneunzig
Fünfundvierzigtausendstel auch bald um!

=Nikolai.= Ich sage das nur der Tante. Tatsächlich habe ich gar kein
Recht auf diesen Wald. Der Grund und Boden gehört allen gemeinsam, kann
also nicht Eigentum eines einzelnen sein. Wir haben auf diesen Grund
und Boden keine Arbeit verwandt.

=Stefan.= Du hast ihn doch aber in Stand gehalten, bewachen lassen ...

=Nikolai.= Wie habe ich denn das gemacht? Hab’ doch nicht selbst die
Arbeit getan ... Aber das läßt sich nicht beweisen. Wenn jemand nicht
fühlt, wie schändlich es ist, einen andern zu ruinieren ...

=Stefan.= Das tut ja niemand.

=Nikolai.= Genau so, wie man jemandem, der sich nicht schämt, ohne
eigene Tätigkeit die Arbeit anderer zu benutzen, das nicht beweisen
kann. Und die ganze Nationalökonomie, die du auf der Universität
studiert hast, ist nur dazu da, um die sozialen Zustände, in denen wir
leben, zu rechtfertigen.

=Stefan.= Im Gegenteil: die Wissenschaft beseitigt alle vorgefaßten
Meinungen.

=Nikolai.= Übrigens lege ich darauf nicht viel Wert. Für mich ist
wichtig, zu wissen, daß ich an Stelle der Bauern genau so gehandelt
hätte und verzweifeln würde, wenn man mich dafür ins Gefängnis würfe.
Da ich nun gegen andere so handeln muß, wie ich selbst behandelt
werden möchte, kann ich sie unmöglich schuldig sprechen, sondern muß
alles tun, was ich kann, um sie frei zu bekommen.

  =Semjonowitsch.= Wenn das richtig ist, darf man      }
  überhaupt nichts besitzen.                           }
                                                       } (Alle
  =Alexandra.= Dann ist Stehlen weit vorteilhafter als } gleichzeitig.)
  Arbeiten.                                            }
                                                       }
  =Stefan.= Du gehst nie auf meine Argumente ein. Ich  }
  sage, wer Aufwendungen für einen Gegenstand macht,   }
  erwirkt dadurch ein Anrecht auf seine Benutzung.     }

=Nikolai= (lächelnd). Ich weiß nicht, wem ich zuerst antworten soll.
(Zu Peter Semjonowitsch.) Man darf auch nichts besitzen.

=Alexandra.= Wenn man nichts besitzen darf, darf man auch keine
Kleidung, kein Brot haben, sondern muß alles hingeben und darf
überhaupt nicht leben.

=Nikolai.= Man darf auch nicht so leben wie wir jetzt.

=Stefan.= Das heißt, den Tod vorziehen. Folglich taugt diese Lehre
nicht für das Leben.

=Nikolai.= Im Gegenteil: sie gilt nur für das Leben. Ja, man muß alles
hingeben. Das heißt, nicht den Wald, den man nicht benutzt und niemals
sieht, sondern Kleidung und Nahrung muß man hingeben.

=Alexandra.= Auch die der Kinder?

=Nikolai.= Auch die. Und nicht nur Kleidung und Nahrung muß man
hingeben, sondern sich selbst. Darin besteht die ganze Lehre Christi.
Alle Kraft muß man darauf verwenden, sich völlig hinzugeben.

=Stefan.= Das heißt mit anderen Worten: sterben.

=Nikolai.= Wenn du für deine Freunde stirbst, so ist das schön für dich
wie für sie. Freilich ist der Mensch nicht nur Geist, sondern Geist im
Fleische. Das Fleisch aber, der Körper, trachtet danach, für sich zu
leben, während der aufgeklärte Geist für Gott, für andere lebt. Unser
aller Leben ist kein tierisches, sondern es liegt auf der Mittellinie,
und je näher es dem göttlichen kommt, um so besser ist es. Deswegen
müssen wir möglichst nach Gott trachten; der Leib sorgt schon für sich
selbst.

=Stefan.= Wozu denn aber die Mittellinie? Wenn schon solches Leben gut
ist, muß man eben alles hingeben und sterben.

=Nikolai.= Gewiß; das ist sehr schön. Bemüh dich, trachte danach, so
wird dir wohl sein und andern.

=Alexandra=. Nein, das ist unklar, durchaus nicht einfach, sondern an
den Haaren herbeigezogen.

=Nikolai.= Was soll ich dazu sagen. Mit Worten läßt sich das nicht
erklären. Übrigens -- genug davon.

=Stefan.= Ja, wirklich genug. Ich verstehe es auch nicht. (Er geht ab.)


Fünfzehnter Auftritt.

    =Die Vorigen= ohne Stefan.

=Nikolai= (zum Priester). Also, welchen Eindruck hat das Buch auf Sie
gemacht?

=Priester= (erregt). Wie soll ich sagen: die historische Seite ist
genügend berücksichtigt, aber ganz zuverlässig, völlig überzeugend
wirkt das Ganze nicht, weil das Material nicht genügt. Die Göttlichkeit
oder Nichtgöttlichkeit Christi kann man historisch nicht beweisen; es
gibt nur einen unwiderleglichen Beweis ...

    (Während der Unterhaltung entfernen sich zunächst die Damen,
    dann auch Peter Semjonowitsch. Es bleiben nur der Priester und
    Nikolai Iwanowitsch.)

=Nikolai.= Sie meinen die Kirche?

=Priester.= Nun gewiß doch, die Kirche, das Zeugnis zuverlässiger,
heiliger Männer.

=Nikolai.= Allerdings wäre es schön, wenn solch eine sündlose
Gemeinschaft existierte, der man glauben könnte. Sogar sehr
wünschenswert. Daß etwas wünschenswert ist, beweist aber noch nicht,
daß es existiert.

=Priester.= Ich denke doch, gerade das beweist es. Gott konnte seine
Gebote nicht der Möglichkeit aussetzen, daß sie verdreht, entstellt,
falsch gedeutet wurden, sondern mußte eine Hüterin seiner Wahrheiten
einsetzen, die dafür sorgte, daß sie rein erhalten blieben.

=Nikolai.= Schön. In diesem Falle müssen Sie aber nicht nur die
Wahrheiten selbst, sondern auch die Daseinsberechtigung ihrer Hüterin
beweisen.

=Priester.= Daran muß man eben glauben.

=Nikolai.= Gewiß muß man glauben; ohne Glauben kommt man nicht aus.
Aber nicht an das muß man glauben, was andere einem sagen, sondern an
das, was die eigenen Gedanken, die eigene Vernunft einem zeigen ...
Dahin gehört der Glaube an Gott, an ein wahres, ewiges Leben.

=Priester.= Die Vernunft kann trügerisch sein; jeder hat seine eigene
Vernunft.

=Nikolai= (leidenschaftlich). Das ist eine schreckliche
Gotteslästerung! Nur dieses eine heilige Werkzeug zur Erkenntnis der
Wahrheit, das einzige, das uns alle vereinigen kann, hat Gott uns
gegeben. Und dabei glauben wir nicht daran!

=Priester.= Wie kann man auch, wo so viele Meinungsverschiedenheiten
existieren.

=Nikolai.= Wo sind die! Daß zweimal zwei vier ist; daß man einem
anderen nicht zufügen darf, was man sich selbst nicht wünscht; daß
alles in der Welt eine Ursache hat und ähnliche Wahrheiten anerkennen
wir alle, weil sie mit unserer Vernunft übereinstimmen. Daß aber Gott
sich auf dem Berge Sinai Moses geoffenbart, daß Buddha auf einem
Sonnenstrahl davongeflogen, oder Mohammed gen Himmel gefahren und
Christus ebenfalls -- in diesen und ähnlichen Dingen sind wir alle
verschiedener Meinung.

=Priester.= Nein, die in der Wahrheit sind, sind nicht verschiedener
Meinung. Wir sind alle eins in dem einen Glauben an Gott, Christus.

=Nikolai.= Nicht einmal darin sind wir einig. Und dann: warum soll ich
Euch mehr glauben als einem buddhistischen Lama? Nur, weil ich in Eurem
Glauben geboren bin?

    (Streit zwischen den Tennisspielern. Eine Stimme ruft: »~Out!~«
    -- »Nein, nicht ~out~!« _Wanja_: »Ich hab’ es gesehen!« --
    Während der Unterhaltung räumt ein Diener den Tisch auf und
    bringt wieder Tee und Kaffee.)

=Nikolai.= Sie sagen: die Kirche führt die Einigung herbei. Im
Gegenteil: die schrecklichste Zwietracht ist stets von der Kirche
ausgegangen. »Wie oft wollte ich euch sammeln, wie eine Henne die
Küchlein ...«

=Priester.= Das war vor Christus; Christus aber hat alle versammelt.

=Nikolai.= Wohl hat Christus alle versammelt, wir aber haben sie wieder
zerstreut, weil wir ihn verkehrt verstanden haben. Er hat alle Kirchen
zerstört.

=Priester.= Wie stimmt dazu das: »Sag es der Kirche.«

=Nikolai.= Es kommt nicht auf Worte an. Diese Worte sagen übrigens
gar nichts über die Kirche. Ausschlaggebend ist der Geist einer
Lehre. Die Lehre Christi ist für die ganze Welt bestimmt, schließt
alle Bekenntnisse in sich und läßt keine Sonderheiten, nichts
Ausschließliches zu; keine Auferstehung, keine Gottheit Christi, keine
Sakramente -- nichts, was die Menschen voneinander trennt.

=Priester.= Das ist denn doch wohl nur Ihre Auslegung der christlichen
Lehre. Diese Lehre selbst aber fußt durchaus auf der Gottheit und
Auferstehung.

=Nikolai.= Das ist ja gerade das Schreckliche an den Kirchen.
Eben dadurch säen sie Zwietracht, daß sie im Besitz der vollen,
unzweifelhaften, unfehlbaren Wahrheit zu sein behaupten. »Uns und
dem Heiligen Geist hat es gefallen« ... Das begann schon bei der
ersten Versammlung der Apostel. Seit der Zeit trat man mit der
Behauptung auf, im Besitz der völligen, ausschließlichen Wahrheit zu
sein. Wenn ich nämlich sage, es gibt einen Gott, einen Ursprung der
Welt, werden alle mir beipflichten. Dieses Bekenntnis vereint uns.
Wenn ich aber sage, es gibt einen Gott Brahma, oder einen Gott der
Juden, oder eine Dreieinigkeit -- so bewirkt eine solche Gottheit
Zwietracht. Die Menschen trachten nach Vereinigung und gebrauchen,
um sie herbeizuführen, alle möglichen Mittel. Vergessen aber das
eine, Unzweifelhafte: Streben nach Wahrheit. In der Art, wie wenn
Menschen, die in einem ungeheuren Gebäude, in das das Licht von oben
in die Mitte fällt, sich vereinigen wollen, und nun in den Ecken sich
versammeln, anstatt alle zusammen zum Licht zu wandeln, wo sie ohne
viel Nachdenken vereint werden.

=Priester.= Wie kann man aber das Volk ohne ganz bestimmte -- nun sagen
wir: Wahrheiten leiten?

=Nikolai.= Das ist wieder das Schreckliche. Wir, jeder von uns muß
selbst seine Seele retten, selbst Gottes Werk tun; statt dessen bemühen
wir uns, andere zu retten und zu unterweisen. Und was bringen wir
ihnen bei? Es ist fürchterlich, daran zu denken. Jetzt, am Ende des
neunzehnten Jahrhunderts, lehren wir, Gott hätte die Welt in sechs
Tagen geschaffen, dann die Sintflut geschickt, alle Tiere in die Arche
gesperrt, und alle Dummheiten und Garstigkeiten des Alten Testamentes.
Dann, Christus habe geboten, alle mit Wasser zu taufen oder an den
Unsinn und das Abscheuliche einer Erlösung zu glauben, ohne die niemand
selig werden könne, und sei dann in den Himmel geflogen und säße dort,
im Himmel, der nicht existiert, zur Rechten des Vaters. Wir haben uns
an all diese Dinge gewöhnt, sie sind aber schrecklich. Ein frisches,
für alles Gute und die Wahrheit empfängliches Kind fragt uns, was
die Welt sei und welche Gesetze sie regierten? und anstatt ihm die
überlieferte Lehre der Liebe und Wahrheit mitzuteilen, geben wir uns
alle erdenkliche Mühe, den schrecklichsten Unsinn einzutrichtern. Das
ist fürchterlich. Das ist das schlimmste Verbrechen, das es gibt.
Und wir und Sie, samt Ihrer Kirche, begehen ununterbrochen dieses
Verbrechen. Verzeihen Sie.

=Priester.= Ja, wenn man die christliche Lehre so, sagen wir:
rationalistisch auffaßt, mag das der Fall sein.

=Nikolai.= Wie man sie auch auffaßt, es ist und bleibt so.

    (Schweigen.)

=Alexandra= (tritt ein).


Sechzehnter Auftritt.

    =Die Vorigen.= =Alexandra Iwanowna.=

=Alexandra.= Leben Sie wohl, Batjuschka. Er macht Sie ganz konfus;
hören Sie nicht auf ihn.

=Priester.= Nein, lesen Sie die Heilige Schrift. Die Sache ist zu
wichtig, um sie so leicht abzutun. (Er zieht sich zurück.)


Siebzehnter Auftritt.

    =Die Vorigen= ohne Priester.

=Alexandra.= Wirklich, Nikolai, du nimmst keine Rücksicht. Trotz seines
geistlichen Standes ist er doch noch so jung, kann noch keine festen
Überzeugungen haben ...

=Nikolai.= Man soll ihm wohl Zeit lassen, in seinen verkehrten
Ansichten fest und sicher zu werden. Nein, wozu das? So ein braver,
aufrichtiger Mensch!

=Alexandra.= Was würde aus ihm, wenn er dir glaubte?

=Nikolai.= Mir zu glauben braucht er nicht; es wäre aber gut für ihn,
wie für alle anderen, wenn er die Wahrheit einsähe.

=Alexandra.= Wenn das gut wäre, würden alle dir glauben; dir glaubt
aber niemand -- deine Frau am allerwenigsten. Sie kann einfach nicht.

=Nikolai.= Wer hat dir das gesagt?

=Alexandra.= Du magst ihr alles noch so deutlich erklären -- sie
wird dich nie begreifen, wie ich nicht, und wie die ganze Welt nicht
begreift, daß man sich um fremde Leute kümmern und seine eigenen Kinder
im Stich lassen muß. Das mach mal deiner Frau begreiflich!

=Nikolai.= Auch Mascha wird mich sicher einst verstehen. Und, nimm
es mir nicht übel, Aline, aber wenn hier keine fremden Einflüsse
mitwirkten, denen sie sehr leicht unterliegt, würde sie mich schon
verstehen und mit mir gehen.

=Alexandra.= Um ihre Kinder zugunsten des trunkenen Jefim und Konsorten
zu verstoßen? Niemals! Du wirst mir deswegen böse sein, aber verzeih
mir, ich kann nicht anders, ich muß dir das sagen.

=Nikolai.= Ich bin dir nicht böse. Im Gegenteil, ich freue mich, daß
du alles ausgesprochen hast und mir dadurch Veranlassung gibst, ihr
unumwunden meine Meinung zu sagen. Ich habe unterwegs alles überlegt
und werde es ihr sofort sagen, und du sollst sehen, daß sie mir
beistimmt, weil sie gut und verständig ist.

=Alexandra.= Das möchte ich doch bezweifeln.

=Nikolai.= Nein, es ist ganz sicher. Es handelt sich doch nicht um
etwas, das ich mir ausgedacht habe, sondern um das, was wir alle
wissen, was Christus uns geoffenbart hat.

=Alexandra.= Ja, deiner Auffassung nach hat Christus _das_ geoffenbart,
meiner Meinung nach etwas anderes.

=Nikolai.= Das kann nicht sein.

    (Geschrei bei den Tennisspielern. _Ljuba_: »~Out!~« _Wanja_:
    »Nein, wir haben nichts gesehen.« _Lisa_: »Ich hab’s gesehen,
    dort ist der Ball niedergefallen.« _Ljuba_: »~Out! Out! Out!~«
    _Wanja_: »Ist nicht wahr!« _Ljuba_: »Erstens ist es nicht fein,
    zu sagen: es ist nicht wahr.« _Wanja_: »Und erst recht nicht
    fein, die Unwahrheit zu sagen.«)

=Nikolai= (fortfahrend). Wart einen Augenblick; sag einmal nichts
dagegen, sondern hör mich an.

=Alexandra.= Schön. Ich höre.

=Nikolai.= Es ist doch wahr, daß wir alle jede Minute sterben können
und entweder in das Nichts eingehen oder zu Gott, der von uns ein Leben
nach seinem Willen verlangt.

=Alexandra.= Nun?

=Nikolai.= Was kann ich also in diesem Leben anderes tun, als nur das,
was der oberste Richter in meiner Seele, mein Gewissen, Gott verlangt?
Und dieses Gewissen, Gott, verlangt, daß ich alle Menschen für gleich
halte, allen diene, alle liebe.

=Alexandra.= Also auch die eigenen Kinder.

=Nikolai.= Gewiß, auch sie; aber dabei alles tue, was mir mein Gewissen
befiehlt. Die Hauptsache ist, daß ich begreife, daß mein Leben nicht
mir, deins nicht dir, sondern Gott gehört, der uns in dieses Leben
gesandt hat und verlangt, daß wir seinen Willen tun. Sein Wille aber ...

=Alexandra.= Davon willst du Mascha überzeugen?

=Nikolai.= Sicherlich.

=Alexandra.= So daß sie aufhört, ihre Kinder zu erziehen, wie es sich
gehört, und sie im Stich läßt? Niemals!

=Nikolai.= Nicht nur sie, auch du wirst es begreifen, wirst begreifen,
daß dir nichts anderes übrig bleibt.

=Alexandra.= Nie! Niemals!

=Maria Iwanowna= (tritt ein).


Achtzehnter Auftritt.

    =Die Vorigen.= =Maria Iwanowna.=

=Nikolai.= Nun, Mascha, ich habe dich heute morgen doch nicht geweckt?

=Maria.= Nein, ich schlief nicht. Nun, ist deine Reise glücklich
verlaufen?

=Nikolai.= Ja, sehr glücklich.

=Maria.= Du trinkst ja alles kalt? Aber jetzt muß man an die Gäste
denken. Du weißt, daß Tscheremschanows mit Sohn und Tochter kommen.

=Nikolai.= Freut mich, wenn sie dir angenehm sind.

=Maria.= Ich hab’ sie gern, und die jungen Leute ebenfalls. Nur kommen
sie nicht sehr gelegen.

=Alexandra= (sich erhebend). Sprich dich nur mit ihm aus; ich sehe beim
Spiel ein wenig zu.


Neunzehnter Auftritt.

    =Die Vorigen= ohne Alexandra Iwanowna. Schweigen. Dann beginnen
    beide auf einmal zu sprechen.

  =Maria.= Sie kommen ungelegen, weil wir uns aussprechen }
  müssen.                                                 }
                                                          }
  =Nikolai.= Diesen Augenblick sagte ich zu Aline ...     }

=Maria.= Was denn?

=Nikolai.= Nein, sprich du nur.

=Maria.= Ich wollte über Stefan mit dir reden. Da muß endlich eine
Entscheidung getroffen werden. Der arme Junge quält sich, weiß nicht,
was aus ihm wird. Er kommt zu mir, aber ich kann nichts entscheiden.

=Nikolai.= Was ist denn da zu entscheiden. Mag er doch selbst seinen
Entschluß fassen.

=Maria.= Du weißt, daß er als Freiwilliger bei der Garde eintreten
will. Dazu braucht er eine Bescheinigung von dir und die Mittel zum
Unterhalt; und die willst du ihm nicht geben! (Sie spricht erregt.)

=Nikolai.= Reg dich um Gottes willen nicht auf, Mascha. Hör mich an.
Weder will ich etwas geben noch nicht geben. Ich halte den freiwilligen
Eintritt beim Militär für dumm, sinnlos, für ein Zeichen von geringer
Bildung, wenn jemand das Abscheuliche des Berufes nicht kennt; oder
aber für niederträchtig, wenn Berechnung im Spiele ist ...

=Maria.= Für _dich_ ist jetzt alles dumm oder niederträchtig. Stefan
muß doch aber leben. _Du_ hast auch gelebt.

=Nikolai= (sich ereifernd). Das war, als ich noch nichts verstand
und niemand mich aufklärte. Hier handelt es sich aber nicht um mich,
sondern um ihn.

=Maria.= Wieso? Du bist doch der, der ihm kein Geld geben will.

=Nikolai.= Ich kann nicht geben, was mir nicht gehört.

=Maria.= Wieso nicht gehört?

=Nikolai.= Mir gehört nicht das, was andere Leute erarbeitet haben. Das
Geld, das ich ihm gebe, muß ich anderen abnehmen. Dazu habe ich kein
Recht, das kann ich nicht. Solange ich die Verfügung über das Gut habe,
kann ich nicht anders darüber verfügen, als mir mein Gewissen befiehlt.
Ich bringe es nicht fertig, die sauer erarbeiteten letzten Groschen der
Bauern für Leibhusarenzechen herzugeben. Nehmt mir das Besitztum, dann
bin ich nicht mehr verantwortlich.

=Maria.= Du weißt doch, daß ich das nicht will, nicht kann. Ich soll
die Kinder gebären, nähren, erziehen -- das ist zu viel! ...

=Nikolai.= Mascha, Liebling! Darum handelt es sich ja gar nicht. Als du
zu reden anfingst, fing ich auch an -- ich wollte einmal so recht von
Herzen mit dir sprechen. So geht es nicht weiter. Wir leben zusammen
und verstehen uns nicht. Es macht bisweilen den Eindruck, als sei das
Absicht.

=Maria.= Ich gebe mir alle erdenkliche Mühe, bringe es aber nicht
fertig. Ich verstehe dich nicht, verstehe nicht, was mit dir
vorgegangen ist.

=Nikolai.= Nun, dann will ich dir etwas sagen. Es ist zwar jetzt nicht
die Zeit dazu, aber Gott weiß, wann die ist. Bemüh dich weniger, mich
zu verstehen, als dich selbst, dein Leben. Man kann nicht so leben,
ohne zu wissen, wozu.

=Maria.= Wir haben es aber doch bislang getan und uns sehr wohl dabei
gefühlt. (Den ärgerlichen Ausdruck in seinem Gesicht bemerkend.) Nun
gut, ich höre schon.

=Nikolai.= Auch ich habe so dahingelebt, ohne nachzudenken, warum ich
lebe. Aber dann kam die Zeit, wo ich erschrak. Schön: wir leben von der
Arbeit anderer, zwingen andere, für uns zu arbeiten, setzen Kinder in
die Welt und erziehen sie zu ebensolchem Leben. Dann kommt das Alter,
der Tod, und ich frage mich: wozu habe ich gelebt? Um die Zahl solcher
menschlichen Parasiten wie ich zu vermehren? Was aber die Hauptsache:
solch ein Leben macht kein Vergnügen. Es ist noch erträglich, wenn, wie
bei Wanja, die Lebensenergie in einem überschäumt ...

=Maria.= Dabei leben doch alle so...

=Nikolai.= Und sind alle unglücklich.

=Maria.= Durchaus nicht.

=Nikolai.= Ich wenigstens habe eingesehen, daß ich sehr unglücklich bin
und dich und die Kinder ebenfalls unglücklich mache. Und da fragte ich
mich: Hat Gott uns wirklich dazu geschaffen? Und sobald ich darüber
nachdachte, fühlte ich, daß das nicht der Fall sei. Darauf fragte ich
mich: Wozu hat Gott uns eigentlich geschaffen?

=Ein Diener= (kommt).


Zwanzigster Auftritt.

    =Die Vorigen= und der =Diener=.

=Maria= (hört nicht auf ihren Gatten, sondern wendet sich dem Diener
zu). Bringen Sie etwas gekochte Sahne.

=Diener= (geht ab).

=Nikolai.= Und im Evangelium fand ich die Antwort, daß wir nicht um
unserer selbst willen leben. Das wurde mir klar, als ich einmal über
das Gleichnis von den Weingärtnern nachdachte. Kennst du es?

=Maria.= Ja, das von den Arbeitern.

=Nikolai.= Nun, dieses Gleichnis zeigte mir ganz klar, worin mein
Irrtum bestand. Wie die Weingärtner den Garten für ihr Eigentum
hielten, glaubte ich, mein Leben sei -- mein. Da war denn alles
schrecklich. Sobald ich aber begriff, daß mein Leben nicht mir gehöre,
sondern daß ich in die Welt gesandt sei, um das Werk Gottes zu
verrichten ...

=Maria.= Nun ja, das wissen wir alle.

=Nikolai.= Wenn das der Fall ist, können wir unmöglich derart weiter
leben, daß unser ganzes Leben nicht nur keine Erfüllung des Willens
Gottes, sondern im Gegenteil seine ununterbrochene Übertretung bedeutet.

=Maria.= Wie ist das möglich, wenn wir niemandem Böses tun?

=Nikolai.= Was heißt: niemandem Böses tun? Das ist ja genau die
Lebensauffassung der Weingärtner. Wir müssen doch ...

=Maria.= Ich kenne das Gleichnis. Er gab allen gleichen Lohn.

=Nikolai= (nach kurzem Schweigen). Nein, das ist nicht das Wesentliche.
Bedenk doch, Mascha, daß wir nur _ein_ Leben besitzen, das wir entweder
heiligen oder zugrunde richten können.

=Maria.= Ich bin nicht imstande, so viel zu denken und zu überlegen.
Nachts schlafe ich nicht, nähre das Kind, besorge den ganzen Haushalt,
und anstatt mir zu helfen, redest du mir Dinge vor, die ich nicht
verstehe.

=Nikolai.= Mascha!

=Maria.= Dazu nun noch der Besuch.

=Nikolai.= Schon gut. Wir werden uns schon verständigen. (Er küßt sie.)
Nicht wahr?

=Maria.= Ja; wenn du nur so bist, wie früher.

=Nikolai.= Das kann ich nicht; du mußt auf mich hören.

    (Es ertönt Schellengeläut und Wagenrollen.)

=Maria.= Jetzt ist keine Zeit. Die Gäste sind da. Ich muß zu ihnen.
(Sie geht um die Hausecke.)

=Ljuba= und =Stefan= (gehen auch dorthin).

=Wanja= (springt über eine Bank). Ich höre nicht auf, wir spielen die
Partie zu Ende. Ljuba! Na, also?

=Ljuba= (ernst). Bitte, mach keine Dummheiten.

=Alexandra Iwanowna= mit ihrem Gatten und =Lisa= (kommen auf die
Veranda).

=Nikolai Iwanowitsch= (geht nachdenklich auf und ab).


Einundzwanzigster Auftritt.

    =Nikolai Iwanowitsch.= =Alexandra Iwanowna.= =Peter
    Semjonowitsch= und =Lisa=.

=Alexandra.= Nun, hast du sie bekehrt?

=Nikolai.= Aline! Was zwischen uns vorgeht, ist etwas Großes,
Bedeutendes! Scherze sind hier nicht angebracht. Nicht ich bekehre sie,
sondern das Leben, die Wahrheit, Gott. Deswegen muß sie sich überzeugen
lassen, wenn nicht heute, so morgen, und wenn nicht morgen, dann ...
Schrecklich, daß nie jemand Zeit hat. Wer ist denn da gekommen?

=Semjonowitsch.= Tscheremschanows, Katja Tscheremschanowa, die ich
achtzehn Jahre nicht gesehen habe. Das letztemal sang sie mit mir: ~Là
ci darem la mano.~ (Singt.)

=Alexandra= (zu ihrem Gatten). Bitte, fall mir nicht ins Wort. Glaub’
nicht, daß ich mit Nikolai zanke. Ich sage die Wahrheit. (Zu Nikolai.)
Ich mache durchaus keinen Scherz, aber es kam mir sonderbar vor, daß du
Mascha gerade in dem Augenblick bekehren wolltest, als sie daran ging,
mit dir zu sprechen.

=Nikolai.= Schon gut, schon gut. Da kommen sie. Sag Mascha, daß ich in
meinem Zimmer bin. (Ab.)



Zweiter Aufzug.


Derselbe Schauplatz auf dem Lande, acht Tage später.

    Die Bühne stellt einen großen Saal dar. Der Tisch ist gedeckt.
    Samowar, Tee und Kaffee. An der Wand ein Flügel, Notenständer.
    Am Tisch sitzen Maria Iwanowna, die Fürstin Tscheremschanowa
    und Peter Semjonowitsch.


Erster Auftritt.

    =Maria Iwanowna.= =Peter Semjonowitsch= und die =Fürstin=.

=Semjonowitsch.= Ja, Fürstin, es ist lange her, daß Sie die Rosine
gesungen haben, und ich ... tauge nicht einmal mehr zum Don Basilio ...

=Fürstin.= Jetzt könnten unsere Kinder singen. Leider haben die Zeiten
sich geändert.

=Semjonowitsch.= Ja, man ist mehr für das Positive ... Ihre Tochter
spielt übrigens sehr gut. Was treibt die Gesellschaft, schlafen sie
wirklich noch?

=Maria.= Ja. Sind gestern bei Mondschein spazieren geritten und sehr
spät heimgekehrt. Ich hörte sie, als ich den Kleinen nährte.

=Semjonowitsch.= Und wann wird meine glaubenstüchtige Gemahlin wieder
hier sein? Habt ihr den Wagen geschickt?

=Maria.= Ja; sie ist schon früh fortgefahren. Muß bald zurück sein.

=Fürstin.= Ist sie wirklich nur hingefahren, um Pater Gerassim zu holen?

=Maria.= Ja. Gestern kam ihr der Gedanke, und sofort führte sie ihn aus.

=Fürstin.= Diese Energie. Ich bewundere sie.

=Semjonowitsch.= O, damit sind wir reichlich versehen. (Nimmt eine
Zigarre aus dem Etui.) Ich werde ein wenig rauchen und mit den Hunden
im Park spazierengehen, bis die liebe Jugend aufsteht. (Er geht ab.)


Zweiter Auftritt.

    =Fürstin.= =Maria Iwanowna.=

=Fürstin.= Ich weiß nicht, liebe Maria Iwanowna, aber es kommt mir vor,
als wenn Sie sich das alles zu sehr zu Herzen nehmen. Ich verstehe ihn
recht gut. Er befindet sich in gehobener Stimmung. Was ist schließlich
dabei, wenn er auch den Armen etwas zukommen läßt? Wir denken sowieso
zu viel an uns.

=Maria.= Wenn es dabei sein Bewenden hätte; aber Sie kennen ihn nicht,
wissen nicht alles. Das ist keine Armenunterstützung mehr, sondern
völlige Umwälzung, Vernichtung alles Bestehenden.

=Fürstin.= Ich möchte mich nicht in Ihr Familienleben mischen, wenn Sie
aber gestatten ...

=Maria.= Bitte sehr. Ich rechne Sie zur Familie, besonders jetzt.

=Fürstin.= Dann möchte ich Ihnen raten, offen und ehrlich Ihre
Forderungen auszusprechen und sich mit ihm zu einigen, bis zu welcher
Grenze ...

=Maria= (erregt). Da gibt es keine Grenzen! Alles will er fortgeben!
Verlangt, daß ich in meinen Jahren Köchin, Wäscherin werde.

=Fürstin.= Nicht möglich! Das ist allerdings erstaunlich!

=Maria= (zieht einen Brief aus der Tasche). Wir sind allein und ich
freue mich, daß ich Ihnen alles sagen kann. Gestern hat er mir diesen
Brief geschrieben. Ich will ihn Ihnen vorlesen.

=Fürstin.= Was? Er lebt mit Ihnen unter einem Dach und schreibt Ihnen
Briefe? Sonderbar.

=Maria.= Nein, das verstehe ich schon. Er regt sich beim Reden immer so
sehr auf. Ich fürchte nächstens für seine Gesundheit.

=Fürstin.= Was schreibt er denn?

=Maria.= Also: (Liest.) »Du machst mir den Vorwurf, ich zerstörte
unser früheres Leben, setzte aber nichts Neues an die Stelle, und
sagte nicht, wie ich mit der Familie zurechtkommen wollte. Wenn wir
das mündlich erörtern, regen wir uns zu sehr auf -- deswegen schreibe
ich dir. Warum ich nicht so weiterleben kann, wie bisher, habe ich
schon oft gesagt; dich überzeugen, daß man so nicht leben darf, sondern
christlich leben muß -- vermag ich brieflich nicht. Dir steht eins von
beiden frei: entweder glaubst du der Wahrheit und gehst aus freien
Stücken mit mir, oder du vertraust mir und folgst mir nach.« (Sie
unterbricht die Lektüre.) Ich kann weder das eine noch das andere.
Ich glaube nicht an die Notwendigkeit: so zu leben, wie er will; die
Kinder tun mir leid, ich kann ihm hierin nicht vertrauen. (Sie liest
weiter.) »Mein Plan ist folgender: Wir geben all unser Land den Bauern
und behalten nur fünfzig Morgen, den Garten, das Gemüseland und die
Rieselwiesen. Dann wollen wir sehen, daß wir das Land selbst bestellen,
ohne uns oder den Kindern Zwang anzutun. Das Land, das wir behalten,
kann uns immerhin fünfhundert Rubel abwerfen.«

=Fürstin.= Eine Familie mit sieben Kindern soll von fünfhundert Rubeln
leben? Das ist unmöglich.

=Maria.= Dann folgt hier der ganze Plan. Das Haus soll als Schule
dienen, wir selbst wohnen im Gärtnerhäuschen in zwei Zimmern.

=Fürstin.= Ich glaube nachgerade wirklich, daß die Sache krankhaft ist.
Was haben Sie ihm erwidert?

=Maria.= Ich sagte, ich brächte das nicht fertig. Allein würde ich ihm
überallhin folgen, aber mit den Kindern ... Bedenken Sie doch nur: der
Kleine bekommt ja noch die Brust. Ich sagte ihm: ich kann doch nicht
alles so hinwerfen. Habe ich denn dazu geheiratet? Ich bin schwach und
alt. Neun Kinder gebären und aufziehen ist doch keine Kleinigkeit.

=Fürstin.= Ich hätte nie geglaubt, daß die Sache schon so weit gekommen
ist.

=Maria.= So liegen die Dinge. Ich weiß nicht, was nun wird. Gestern hat
er den Bauern aus Dmitrowka den Pachtzins erlassen und will ihnen das
Land ganz und gar übergeben.

=Fürstin.= Meiner Meinung nach dürfen Sie das nicht zulassen. Sie haben
die Pflicht, Ihre Kinder sicherzustellen. Wenn er sein Besitztum nicht
mehr verwalten kann, soll er es Ihnen abtreten.

=Maria.= Das will ich nicht.

=Fürstin.= Sie sind es den Kindern schuldig. Die Besitzung kann ja auf
Ihren Namen eingetragen werden.

=Maria.= Das hat meine Schwester Sascha ihm schon gesagt. Er erwiderte
darauf, er hätte kein Recht dazu; das Land gehöre denen, die es
bearbeiteten; er sei verpflichtet, es den Bauern abzutreten.

=Fürstin.= Ja, jetzt begreife ich, daß die Sache weit ernster ist, als
ich glaubte.

=Maria.= Und der Priester, der Priester ist auf seiner Seite!

=Fürstin.= Ja, das habe ich gestern bemerkt.

=Maria.= Deshalb ist auch meine Schwester nach Moskau gefahren,
um mit dem Notar zu sprechen und hauptsächlich, um Pater Gerassim
mitzubringen, der ihn überzeugen soll.

=Fürstin.= Ja, ich denke auch, das Christentum besteht nicht darin,
seine Familie ins Unglück zu stürzen.

=Maria.= Leider glaubt er auch dem Pater nicht. Er ist so bestimmt in
allem, und wenn er spricht, kann ich ihm nichts erwidern. Das ist ja
das Schreckliche, daß es mir stets vorkommt, als hätte er recht.

=Fürstin.= Das kommt daher, daß Sie ihn lieben.

=Maria.= Ich weiß nicht, woher es kommt; jedenfalls ist es schrecklich.
Auf diese Weise bleibt alles unentschieden. Das soll nun Christentum
sein.

=Wärterin= (tritt ein).


Dritter Auftritt.

    =Die Vorigen.= =Wärterin.=

=Wärterin.= Bitte, gnädige Frau. Der Kleine ist aufgewacht und schreit.

=Maria.= Sofort; ich bin so unruhig, und der Kleine hat Leibschmerzen.
Ich komme schon.

=Nikolai= (tritt mit einem Schreiben in der Hand zur andern Tür ein).


Vierter Auftritt.

    =Maria Iwanowna.= =Die Fürstin.= =Nikolai Iwanowitsch.=

=Nikolai.= Nein, das darf nicht sein, das ist unmöglich!

=Maria.= Was denn?

=Nikolai.= Daß wegen dieser einen Tanne Peter ins Gefängnis kommt.

=Maria.= Wieso?

=Nikolai.= Ganz einfach. Er hat sie gefällt, wurde deswegen angeklagt
und jetzt vom Friedensrichter zu drei Monaten Gefängnis verurteilt.
Seine Frau ist da.

=Maria.= Nun, was ist denn dabei unmöglich?

=Nikolai.= Nein, es darf nicht sein! Eins kann ich: keinen Wald
besitzen. Und das werde ich. Aber was weiter? Ich werde zu ihm gehen
und sehen, ob ich nicht helfen kann bei dem Unglück, das wir verursacht
haben. (Er geht zur Veranda und stößt auf Boris und Ljuba.)


Fünfter Auftritt.

    =Die Vorigen.= =Boris= und =Ljuba=.

=Ljuba.= Guten Morgen, Papa. (Sie küßt ihn.) Wohin willst du?

=Nikolai.= Ins Dorf, wo ich war. Da wird ein hungriger Mensch ins
Gefängnis geschleppt, weil er ...

=Ljuba.= Wirklich -- Peter?

=Nikolai.= Ja, Peter. (Er geht ab.)

=Maria= (folgt ihm).


Sechster Auftritt.

    =Die Vorigen= ohne Nikolai Iwanowitsch und Maria Iwanowna.

=Ljuba= (setzt sich an den Samowar). Wünschen Sie Kaffee oder Tee?

=Boris.= Einerlei ...

=Ljuba.= Immer dasselbe. Ich weiß nicht, wie das endet.

=Boris.= Ich verstehe ihn nicht. Ich weiß, daß das Volk arm, unwissend
ist, daß man ihm helfen muß; aber nicht in der Art, daß man Diebe
ermutigt.

=Ljuba.= Wodurch denn?

=Boris.= Durch unsere ganze Tätigkeit. Unser ganzes Wissen, alle
Kenntnisse muß man in den Dienst des Volkes stellen -- sein Leben darf
man aber nicht hingeben.

=Ljuba.= Papa sagt, gerade das sei notwendig.

=Boris.= Das verstehe ich nicht. Man kann dem Volk dienen, ohne sein
Leben zugrunde zu richten. So will ich meine Zukunft einrichten. Wenn
du nur deinerseits ...

=Ljuba.= Ich will, was du willst. Ich fürchte mich nicht.

=Boris.= Und diese Ohrringe, das Kleid?

=Ljuba.= Die Ohrringe kann man verkaufen, das Kleid ist nicht viel
wert. Trotzdem braucht man ja nicht als Vogelscheuche herumzulaufen.

=Boris.= Ich möchte noch mit deinem Vater sprechen. Was meinst du, bin
ich ihm im Wege, wenn ich ihn im Dorf aufsuche?

=Ljuba.= Durchaus nicht. Ich sehe, daß er dich gern hat. Gestern wandte
er sich meistens an dich.

=Boris= (leert seine Kaffeetasse). Also ich gehe.

=Ljuba.= Ja, geh nur. Ich werde Lisa und Tonja wecken.

=Beide= (gehen ab).



Verwandlung.


Dorfstraße.

    Vor seiner Hütte liegt, mit dem Schafpelz bedeckt, Iwan Sjabrem.


Erster Auftritt.

    =Iwan= allein.

=Iwan= (ruft). Malaschka!

    (Hinter der Hütte kommt ein schmächtiges, kleines Mädchen mit
    einem Kleinen auf dem Arm zum Vorschein. Der Kleine schreit.)


Zweiter Auftritt.

    =Iwan= und =Malaschka= mit dem =Kleinen=.

=Iwan.= Wasser. Trinken!

=Malaschka= (geht in die Hütte -- dort hört man das Kind laut schreien.
Sie kommt mit einem Krug voll Wasser).

=Iwan.= Weshalb haust du den Kleinen immer, daß er schreit? Ich sag’s
der Mutter.

=Malaschka.= Das tu nur. Er schreit, weil er hungrig ist.

=Iwan= (trinkt). Solltest bei Demkins um etwas Milch bitten.

=Malaschka.= Da bin ich gewesen. Die haben nichts. Da ist auch niemand
zu Hause.

=Iwan.= Ach, wenn doch der Tod käme. Hat’s zu Mittag geläutet?

=Malaschka.= Schon vor ein paar Stunden. Da kommt der gnädige Herr.

=Nikolai Iwanowitsch= (tritt auf).


Dritter Auftritt.

    =Die Vorigen= und =Nikolai Iwanowitsch=.

=Nikolai.= Na? Du bist hier draußen?

=Iwan.= Ja, wegen der Fliegen. Und dann die Hitze.

=Nikolai.= Ist dir jetzt warm?

=Iwan.= Brennt alles wie Feuer.

=Nikolai.= Wo ist denn Peter? zu Hause?

=Iwan.= Ach wo, bei solchem Wetter. Auf dem Felde ist er, um
einzufahren.

=Nikolai.= Und da sagt man mir, er solle ins Gefängnis!

=Iwan.= Das stimmt; der Polizist will ihn gerade vom Felde holen.

    (Ein schwangeres Weib kommt mit einer Hafergarbe und Harke und
    schlägt Malaschka sofort in den Nacken.)


Vierter Auftritt.

    =Die Vorigen= und das =Weib=.

=Weib.= Weshalb läßt du den Kleinen allein! Hörst doch, wie er brüllt.
Immer nur auf der Straße herumlungern!

=Malaschka= (heult). Ich bin gerade herausgekommen. Vater wollte
trinken.

=Weib.= Ich werd’ dich kriegen! (Sie sieht den Herrn.) Ah, grüß Gott,
Väterchen Nikolai Iwanowitsch. Ist das ein Leiden hier! Alles muß ich
allein besorgen; hab’ schon keine Kraft mehr. Und da wirft man den
letzten, der noch arbeitet, ins Gefängnis. Der Taugenichts aber räkelt
sich da herum.

=Nikolai.= Was redest du! Er ist doch krank.

=Weib.= Schön krank! Bin ich nicht krank? Wenn’s an die Arbeit geht,
ist man krank. Aber faulenzen und mir die Zöpfe ausreißen -- das kann
er. Soll er doch verrecken wie ein Hund; was schert’s mich!

=Nikolai.= Das ist Sünde! Fühlst du das nicht?

=Weib.= Ich weiß, daß es Sünde ist, kann aber mein Herz nicht zwingen.
Trag’ ein Kind im Leib und arbeite für zwei. Die andern Bauern haben
abgeerntet; bei uns sind zwei Viertelmorgen noch nicht gemäht. Ich
müßte Garben binden, kann aber nicht. Bin zu Hause nötig, muß nach den
Kindern sehen.

=Nikolai.= Den Hafer will ich mähen lassen durch Arbeiter, und binden
auch.

=Weib.= Das Binden ist nicht schlimm -- das besorge ich selbst; wenn
nur erst gemäht ist. Was glauben Nikolai Iwanowitsch, muß er wohl
sterben? Geht ihm doch sehr schlecht.

=Nikolai.= Ich weiß nicht. Gewiß steht es schlecht mit ihm. Ich denke,
man bringt ihn ins Krankenhaus.

=Weib.= Ach Herrgott! (Sie beginnt laut zu weinen.) Bring ihn nicht
fort, laß ihn hier sterben. (Zu ihrem Manne.) Was hast du?

=Iwan.= Ins Krankenhaus will ich. Hier hab’ ich’s schlimmer als ein
Hund.

=Weib.= Nun weiß ich schon gar nichts mehr. Hab’ den Verstand verloren.
Malaschka, mach das Mittagessen zurecht.

=Nikolai.= Was habt ihr denn zu essen?

=Weib.= Was wird’s sein? Kartoffel und Brot. Und auch das reicht nicht.
(Sie geht in die Hütte. Man hört ein Schwein quieken und das Kind
schreien.)


Fünfter Auftritt.

    =Die Vorigen= ohne das Weib.

=Iwan= (stöhnt). Ach Gott, könnte ich doch sterben.

=Boris= (kommt).


Sechster Auftritt.

    =Die Vorigen= und =Boris=.

=Boris.= Kann ich Ihnen irgendwie nützlich sein?

=Nikolai.= Nützlich sein? Kaum. Das Leiden sitzt zu tief. Nützlich sein
können Sie nur sich selbst, indem Sie erkennen, worauf wir unser Glück
begründen. Da ist eine Familie, fünf Kinder, die Frau schwanger, der
Mann krank, nichts zu essen als Kartoffel. Jetzt entscheidet sich die
Frage, ob man im nächsten Jahre satt wird oder nicht. Helfen kann man
nicht. Womit auch? Ich besorge ihr einen Arbeiter. Wer ist aber dieser
Arbeiter? Eben solch armer Teufel, dessen Wirtschaft durch Trunkenheit,
Not zugrunde gegangen ist.

=Boris.= Verzeihung, was tun Sie denn aber hier?

=Nikolai.= Ich lerne meine Lage kennen, erfahre, wer unsern Garten
besorgt, unser Haus baut, uns kleidet und ernährt.

=Bauern= mit Sensen, =Weiber= mit Rechen (kommen und verbeugen sich).


Siebenter Auftritt.

    =Die Vorigen.= =Bauern= und =Bäuerinnen=.

=Nikolai= (hält einen an). Jermil, willst du ihnen nicht gegen Lohn den
Hafer mähen?

=Jermil= (den Kopf schüttelnd). Ich tät’s von Herzen gern, kann aber
unmöglich abkommen, hab’ das eigene noch nicht eingefahren. Gerade
wollen wir daran. Wie steht’s hier? wird der Iwan sterben?

=Ein anderer Bauer.= Ob Onkel Sebastian es übernehmen wird? He,
Sebastian! Da wird ein Mäher gesucht!

=Sebastian.= Vermiet _du_ dich doch. Heute schafft’s fürs ganze Jahr.

=Die Bauern= (gehen weiter).


Achter Auftritt.

    =Die Vorigen= ohne Bauern und Weiber.

=Nikolai.= Lauter halb verhungerte, kranke, oft schon alte Leute, die
allein von Brot und Wasser leben. Der Greis da hat einen Bruch, der ihm
viel Schmerzen macht; dabei arbeitet er von vier Uhr früh bis zehn Uhr
abends und lebt kaum noch. Wir dagegen? Wie kann unsereins, der das
versteht, ruhig weiterleben und sich für einen Christen halten? Was
sage ich: Christen? Wilde Tiere handeln so!

=Boris.= Was soll man denn tun?

=Nikolai.= An dem Bösen nicht teilnehmen; kein Land besitzen, nicht
die Frucht ihrer Arbeit verzehren. Wie das einzurichten ist, weiß ich
nicht. Hier handelt es sich darum ... wenigstens war das mit mir der
Fall. Ich habe gelebt, ohne zu wissen, wie; ohne zu begreifen, daß
ich Gottes Sohn, wie wir alle Gottes Söhne und Brüder sind. Als ich
das aber begriff, daß wir alle gleiches Recht auf das Leben haben,
wurde mein Leben ein ganz anderes. Doch das kann ich Ihnen jetzt nicht
erklären. Nur das eine will ich sagen, daß ich früher blind war, wie
die Meinigen zu Hause es noch sind. Jetzt aber bin ich sehend geworden
und kann nicht anders, ich muß sehen. Und weil ich sehe, kann ich nicht
so weiterleben. Übrigens davon später. Jetzt muß ich tun, was ich kann.

=Der Dorfpolizist=, =Peter=, sein =Weib= und =kleiner Knabe= (kommen).


Neunter Auftritt.

    =Die Vorigen.= =Der Polizist.= =Peter=, sein =Weib= und sein
    =Sohn=.

=Peter= (fällt Nikolai Iwanowitsch zu Füßen). Verzeih mir, um Christi
willen, ich gehe zugrunde! Was wird aus meinem Weibe! Könnte ich
wenigstens gegen Bürgschaft freikommen.

=Nikolai= (zum Polizisten). Ich fahre zum Gericht und mache die
Eingabe. Kannst du ihn jetzt nicht freilassen?

=Polizist.= Wir haben Befehl, ihn aufs Amt zu bringen.

=Nikolai.= Also dann geh mit; ich besorge Hilfe und tue, was ich kann.
Das bin ich selbst. Wie kann man nur so leben. (Er geht ab.)



Verwandlung.


Wieder auf dem Gut.

    Draußen Regen. Gastzimmer mit Flügel. Tonja hat eine Sonate
    von Schumann gespielt und sitzt noch am Flügel. Daneben steht
    Stefan. Boris sitzt. Ljuba, Lisa, Mitrofan Jermilytsch, der
    Priester -- alle sind vom Spiel ergriffen.


Erster Auftritt.

    =Tonja.= =Stefan.= =Boris.= =Ljuba.= =Lisa.= =Mitrofan.=
    =Priester.= =Bauern= von außen.

=Ljuba.= Wie entzückend, das Andante.

=Stefan.= Nein, das Scherzo. Alles wundervoll.

=Lisa.= Sehr schön.

=Stefan.= Ich hätte Sie nie für solche Künstlerin gehalten. Das ist
wirklich meisterhaftes Spiel. Technische Schwierigkeiten existieren
für Sie nicht; Sie denken nur an den Gefühlsinhalt und drücken alles
wunderbar zart aus.

=Ljuba.= Und vornehm.

=Tonja.= Ich fühle aber, daß es nicht so ist, wie ich möchte ... Mir
fehlt noch vieles.

=Lisa.= Wie ist das möglich? Ich finde alles wunderbar.

=Ljuba.= Schumann ist schön, aber Chopin greift doch mehr ans Herz.

=Stefan.= Er ist lyrischer.

=Tonja.= Man kann die beiden nicht vergleichen.

=Ljuba.= Kennst du sein Prélude?

=Tonja.= Das sogenannte George Sand-Prélude? (Sie spielt den Anfang.)

=Ljuba.= Nein, das nicht. Es ist schön, wird aber reichlich viel
gespielt. Nun, spiel nur, bitte.

=Tonja= (spielt, soweit sie kann, bricht dann aber plötzlich ab).

=Ljuba.= Nein, D-Moll.

=Tonja.= Ach, das -- das ist herrlich. Es hat so etwas Elementares,
Vorweltliches.

=Stefan= (lacht). Ja, ja. Nun, spielen Sie, bitte. Aber Sie sind müde.
Also haben wir wenigstens einen herrlichen Morgen verbracht -- dank
Ihnen.

=Tonja= (steht auf und schaut zum Fenster hinaus). Wieder die Launen.

=Ljuba.= Was die Musik alles vermag! Ich verstehe König Saul. Mich
quält kein böser Geist, aber ich begreife ihn. Keine Kunst läßt so
alles vergessen, wie die Musik. (Sie tritt zum Fenster.) Was wollt ihr?

=Bauern.= Wir haben Nikolai Iwanowitsch gebeten.

=Ljuba.= Er ist nicht hier. Wartet etwas.

=Tonja.= Und dabei heiratest du einen Menschen, der nichts von Musik
versteht.

=Ljuba.= Das ist nicht möglich.

=Boris= (zerstreut). Musik ... Nein, ich liebe sie, oder besser, ich
bin ihr nicht feind. Ziehe aber etwas Einfacheres vor, zum Beispiel ein
schlichtes Lied.

=Tonja.= Wieso? Ist denn diese Sonate nicht reizend?

=Boris.= Sie scheint mir nicht wichtig. Ich beneide die Leute, die
solchen Dingen Wichtigkeit beimessen.

    (Auf dem Tische stehen Süßigkeiten.)

=Alle= (essen davon).

=Lisa.= Das finde ich nett: ein Bräutigam und dann diese Süßigkeiten ...

=Boris.= Daran bin ich unschuldig. Das hat Mama besorgt.

=Tonja.= Ich finde es sehr nett.

=Ljuba.= Musik ist dadurch wertvoll, daß sie ergreift, erhebt und die
Wirklichkeit vergessen macht. Wie düster war vorhin alles -- nun hast
du gespielt, und plötzlich ist es ringsum licht geworden. Wirklich
licht geworden.

=Lisa.= Die Chopinschen Walzer sind etwas abgeleiert und dennoch ...

=Tonja.= Dieser zum Beispiel ... (Sie spielt.)

=Nikolai Iwanowitsch= (tritt ein und begrüßt alle Anwesenden einzeln).


Zweiter Auftritt.

    =Die Vorigen.= =Nikolai Iwanowitsch.=

=Nikolai.= Wo ist Mama?

=Ljuba.= Ich glaube im Kinderzimmer.

=Stefan= (ruft einen Diener).

=Ljuba.= Papa, wie wundervoll Tonja spielt. Wo warst du denn?

=Nikolai.= Ich war im Dorf.

=Der Diener= (tritt ein).


Dritter Auftritt.

    =Die Vorigen.= =Der Diener.=

=Stefan.= Bring noch einen Samowar.

=Nikolai= (begrüßt wieder den Diener mit Händedruck). Guten Tag!

=Der Diener= (geht verlegen ab).

=Nikolai= (geht ab).


Vierter Auftritt.

    =Die Vorigen= ohne Diener und Nikolai Iwanowitsch.

=Stefan.= Der unglückliche Bursche! Wie verlegen er war. Ich verstehe
das nicht! Als ob wir an etwas schuld wären.

=Nikolai Iwanowitsch= (kehrt ins Zimmer zurück).


Fünfter Auftritt.

    =Die Vorigen.= =Nikolai Iwanowitsch.=

=Nikolai.= Ich wäre fast in mein Zimmer gegangen, ohne euch
mitzuteilen, was ich empfinde. Und das halte ich nicht für gut. (Zu
Tonja.) Wenn Sie, als Gast, durch meine Worte verletzt werden, so
verzeihen Sie mir -- aber ich kann nicht anders. Du, Ljuba, sagst, die
Fürstin spiele wunderschön. Ihr sitzt hier mit sieben, acht gesunden
jungen Leuten, habt bis zehn Uhr geschlafen, gegessen, getrunken,
eßt noch jetzt, macht Musik und unterhaltet euch darüber. Dort aber,
wo ich jetzt herkomme, sind die Menschen um drei Uhr aufgestanden --
einige haben draußen beim Vieh die ganze Nacht nicht geschlafen -- und
nun sind alte, kranke, schwache Leute, Kinder, Frauen mit Säuglingen
und schwangere Frauen ununterbrochen bei der schwersten, ihre Kräfte
übersteigenden Arbeit, damit wir hier die Früchte ihres Schaffens
verzehren. Ja, noch mehr: soeben wird einer von ihnen, der beste,
einzige Arbeiter der Familie, ins Gefängnis geschleppt, weil er im
Frühjahr in »meinem« Walde -- das heißt angeblich meinem -- eine der
dort wachsenden hunderttausend Tannen gefällt hat. Wir aber sitzen
hier sauber gewaschen und gekleidet, indem wir den Dienstboten das
Reinigen des Nachtgeschirrs im Schlafzimmer überlassen, essen, trinken
und unterhalten uns geistreich darüber, ob Schumann oder Chopin uns
mehr ergreift und besser unsere Langeweile vertreibt. Diese Gedanken
kamen mir, als ich an euch vorüberging, und deswegen habe ich sie euch
gesagt. Denkt einmal nach, ob man solches Leben führen kann! (Er bleibt
in heftiger Erregung stehen.)

=Lisa.= Das ist wahr, wirklich wahr.

=Ljuba.= Wenn man sich solche Gedanken macht, kann man nicht leben.

=Stefan.= Weshalb? Ich sehe nicht ein, warum man nicht über Schumann
sprechen soll, wenn das Volk arm ist. Eins schließt das andere nicht
aus. Wenn die Leute ...

=Nikolai= (zornig). Wenn man kein Herz hat, wenn man sich so hölzern ...

=Stefan.= Schon gut, ich schweige schon.

=Tonja.= Eine schreckliche Frage, die Frage unserer Zeit. Man darf sich
aber nicht vor ihr fürchten, muß der Wirklichkeit mutig ins Auge sehen,
um die Frage zu lösen.

=Nikolai.= Auf Maßregeln der Gemeinde darf man nicht warten. Jeder von
uns kann heute, morgen sterben. Wie soll man mit solchem Zwiespalt im
Innern weiterleben?

=Boris.= Es gibt nur _ein_ Mittel: an solchem Leben nicht teilnehmen.

=Nikolai.= Also verzeiht, wenn ich euch wehgetan. Aber ich mußte meine
Empfindungen einmal aussprechen. (Er geht ab.)


Sechster Auftritt.

    =Die Vorigen= ohne Nikolai Iwanowitsch.

=Stefan.= Was heißt das: nicht teilnehmen? Unser ganzes Dasein ist ja
aufs engste damit verknüpft.

=Boris.= Eben deswegen sagt er ja: man darf vor allen Dingen kein
Eigentum haben, muß sein ganzes Leben ändern; es nicht so einrichten,
daß andere uns dienen, sondern daß wir anderen dienen.

=Tonja.= Du bist ja schon ganz auf seiner Seite!

=Boris.= Ja, ich habe ihn zum erstenmal richtig verstanden. Und dann
das, was ich im Dorfe sah. Man braucht nur die Brille abzunehmen,
durch die wir das Leben des Volkes betrachten, und den Zusammenhang
zwischen ihren Leiden und unsern Freuden wahrzunehmen, so wird alles
entschieden.

=Mitrofan.= Gewiß, aber das Mittel dazu besteht nicht darin, sein Leben
zu ruinieren.

=Stefan.= Wunderbar, Mitrofan Jermilytsch und ich nehmen einen ganz
verschiedenen Standpunkt ein und treffen in diesem Punkt doch zusammen:
sein Leben darf man nicht ruinieren, das sind meine Worte.

=Boris.= Sehr begreiflich. Ihr beide wollt ein angenehmes Leben führen
und trachtet daher nach Zuständen, die euch diese Annehmlichkeiten
garantieren. Sie (zu Stefan) möchten die jetzige Ordnung der Dinge
beibehalten, während Mitrofan Jermilytsch eine neue herbeizuführen
wünscht.

=Ljuba= (flüstert Tonja etwas zu).

=Tonja= (geht zum Flügel und spielt ein Notturno von Chopin).

=Alle= (verstummen).

=Stefan.= Das ist schön. Das löst alle Fragen.

=Boris.= Verdunkelt alles und schiebt die Entscheidung hinaus.

=Maria Iwanowna= und die =Fürstin= (sind während des Spiels leise
eingetreten, haben Platz genommen und hören zu).

    (Vor dem Ende des Notturnos ertönt Schellenläuten.)


Siebenter Auftritt.

    =Die Vorigen.= =Maria Iwanowna= und die =Fürstin=.

=Ljuba.= Da kommt Tante zurück. (Sie geht ihr entgegen.)

=Tonja= (spielt weiter).

=Alexandra Iwanowna=, =Pater Gerassim=, ein Priester mit dem
Brustkreuz, und der =Notar= (treten ein).

=Alle= (erheben sich).


Achter Auftritt.

    =Die Vorigen.= =Alexandra Iwanowna=, =Pater Gerassim= und der
    =Notar=.

=Pater Gerassim.= Bitte, lassen Sie sich nicht stören. Ich höre gern zu.

=Die Fürstin= und der =Priester= (bitten um seinen Segen).

=Alexandra.= Was ich mir vorgenommen, habe ich auch ausgeführt.
Pater Gerassim wollte gerade nach Kursk, aber ich habe ihn beredet,
mitzukommen. Und der Notar ist auch da. Alle Papiere sind fertig, es
fehlt nur die Unterschrift.

=Maria.= Wollen die Herrschaften nicht etwas frühstücken?

=Der Notar= (legt die Papiere auf den Tisch und geht ab).


Neunter Auftritt.

    =Die Vorigen= ohne Notar.

=Maria.= Ich bin Pater Gerassim sehr dankbar ...

=Pater Gerassim.= O bitte. Der Besuch liegt zwar nicht auf meinem
Reisewege, trotzdem hielt ich es für meine Christenpflicht, zu kommen.

    (Alexandra Iwanowna flüstert der Jugend etwas zu. Die jungen
    Leute besprechen sich miteinander und gehen dann, außer Boris,
    sämtlich auf die Veranda. Der Priester will ebenfalls gehen.)


Zehnter Auftritt.

    =Maria Iwanowna.= =Alexandra Iwanowna.= =Die Fürstin.= =Pater
    Gerassim.= =Der Priester.= =Boris.=

=Pater Gerassim.= Was ist denn? Bleiben Sie doch! Als Seelenhirt und
Beichtvater können Sie hier sich und andern nützen. Also bleiben Sie
nur, wenn Maria Iwanowna nichts dagegen hat.

=Maria.= Durchaus nicht; ich habe Pater Wassili gern und rechne ihn
zur Familie. Habe mich auch oft mit ihm beraten -- leider besitzt er,
infolge seiner Jugend, zu wenig Autorität.

=Pater Gerassim.= Gewiß, natürlich.

=Alexandra= (näher tretend). Sie sehen also, Pater Gerassim, wie die
Dinge hier liegen. Sie allein können helfen und ihn zur Vernunft
bringen. Er ist sonst so klug und gelehrt; aber Sie wissen, daß
Gelehrsamkeit oft nur Schaden anrichtet. Ganz allmählich hat sich
bei ihm eine Art geistiger Trübung entwickelt. Er behauptet, dem
Christentum zufolge dürfe man kein Eigentum besitzen. Kann das sein?

=Pater Gerassim.= Willkür, Überhebung, Lug und Trug! Die Kirchenväter
haben die Frage längst entschieden. Aber wie hat es nur so weit kommen
können?

=Maria.= Wenn ich Ihnen alles erzählen soll, so war er zunächst, als
wir heirateten, völlig gleichgültig gegen jede Religion. So lebten wir
in bestem Einvernehmen die ersten zwanzig Jahre. Dann begann er zu
grübeln. Vielleicht beeinflußte seine Schwester ihn, oder die Lektüre
-- jedenfalls grübelte er viel, las das Evangelium und wurde dann
plötzlich sehr religiös, ging in die Kirche und suchte Mönche auf. Dann
warf er das alles plötzlich beiseite, änderte seine ganze Lebensweise,
verrichtete alle Arbeit, ließ sich nicht mehr bedienen und beginnt
jetzt sogar sein Hab und Gut zu verteilen. Gestern hat er ein großes
Stück Wald verschenkt. Ich habe Angst wegen der sieben Kinder. Sprechen
Sie mit ihm. Ich werde ihn fragen, ob er Sie sehen will. (Sie geht ab.)


Elfter Auftritt.

    =Die Vorigen= ohne Maria Iwanowna.

=Pater Gerassim.= Groß ist heutzutage die Zahl der Abtrünnigen! Gehört
die Besitzung ihm oder der Frau?

=Fürstin.= Ihm. Das ist ja das Leiden.

=Pater Gerassim.= Und welchen Rang bekleidet er?

=Fürstin.= Keinen sehr hohen. Rittmeister, glaube ich. Er war Militär.

=Pater Gerassim.= So fallen viele von der Kirche ab. In Odessa
verschrieb sich eine Dame dem Spiritismus und richtete viel Unheil
an. Trotzdem hat Gott der Herr sie in den Schoß der heiligen Kirche
zurückgeführt.

=Fürstin.= Sie werden verstehen, um was es sich handelt. Mein Sohn
heiratet die eine Tochter. Ich habe meine Einwilligung gegeben. Aber
das Mädchen ist an Luxus gewöhnt und muß versorgt werden. Meinem Sohn
kann ich diese Last nicht zumuten, obgleich er sehr arbeitsam ist und
viel verspricht.

=Maria Iwanowna= und =Nikolai Iwanowitsch= (treten ein).


Zwölfter Auftritt.

    =Die Vorigen.= =Maria Iwanowna= und =Nikolai Iwanowitsch=.
    Später =Stefan=, =Ljuba=, =Lisa=, =Tonja= und =Diener=.

=Nikolai.= Guten Tag, Fürstin. Guten Tag ... Entschuldigen Sie, wie ist
Ihr Name?

=Pater Gerassim.= Meinen Segen wünschen Sie nicht?

=Nikolai.= Nein.

=Pater Gerassim.= Gerassim Fedorowitsch. Sehr angenehm.

=Ein Diener= (bringt Frühstück und Wein).

=Pater Gerassim.= Angenehme Witterung. Für die Ernte sehr günstig.

=Nikolai.= Ich nehme an, Sie sind auf Veranlassung meiner Schwägerin
in der Absicht gekommen, mich von meinen Verirrungen zu befreien und
mich wieder auf den wahren Weg des Heils zurückzuführen. Wenn das der
Fall ist, wollen wir nicht wie die Katze um den heißen Brei herumgehen,
sondern uns sofort ans Werk machen. Ich leugne nicht, daß ich mit der
Kirchenlehre nicht übereinstimme. Es war einmal der Fall: später wurde
ich anderer Meinung. Doch wünsche ich von ganzer Seele die Wahrheit
kennen zu lernen und nehme sie sofort an, wenn Sie sie mir zeigen.

=Pater Gerassim.= Wie können Sie sagen, daß Sie der Kirchenlehre nicht
glauben? Woran glauben Sie, wenn nicht an die Kirche?

=Nikolai.= Ich glaube an Gott und sein Gebot, das uns im Evangelium
gegeben ist.

=Pater Gerassim.= Das lehrt auch die Kirche.

=Nikolai.= Wenn sie es täte, würde ich ihr glauben; sie lehrt aber
gerade das Gegenteil.

=Pater Gerassim.= Sie kann nicht das Gegenteil lehren, weil sie von dem
Herrn selbst bestätigt ist. Es heißt: »Euch ist die Macht gegeben ...
und auf diesen Felsen will ich meine Gemeine bauen, und die Pforten der
Hölle sollen sie nicht überwältigen.«

=Nikolai.= Das hat damit nicht das geringste zu tun. Aber selbst
zugegeben, daß Christus eine Kirche gegründet hat -- woher weiß ich
denn, daß diese Kirche gerade Ihre ist?

=Pater Gerassim.= Weil es heißt: »Wo zwei oder drei versammelt sind in
meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen.«

=Nikolai.= Auch das hat hierauf gar keine Beziehung und beweist nicht
das geringste.

=Pater Gerassim.= Wie kann man nur so die Kirche verwerfen, die doch
allein alle Gnadenmittel besitzt.

=Nikolai.= Ich habe sie erst verworfen, als ich mich überzeugt hatte,
daß sie alle möglichen Einrichtungen unterstützt, die dem Christentum
direkt zuwiderlaufen.

=Pater Gerassim.= Die Kirche kann nicht irren, weil in ihr allein die
Wahrheit ist. Im Irrtum wandeln die Abtrünnigen; die Kirche aber ist
heilig.

=Nikolai.= Ich habe Ihnen schon gesagt, daß ich das nicht anerkenne.
Ich erkenne es deswegen nicht an, weil ich -- wie es im Evangelium
heißt: »an ihren Früchten sollt ihr sie erkennen,« weil ich erkannt
habe, daß die Kirche den Eid, Morde und Hinrichtungen segnet.

=Pater Gerassim.= Die Kirche erkennt die von Gott selbst eingesetzte
Obrigkeit an und segnet sie.

=Stefan=, =Ljuba=, =Lisa= und =Tonja= (treten im Verlauf des Disputs
nach und nach ein, setzen sich oder bleiben stehen und hören zu).

=Nikolai.= Ich weiß, daß es im Evangelium heißt, nicht nur: du sollst
nicht töten, sondern: du sollst nicht zürnen. Die Kirche aber erteilt
ganzen Armeen den Segen. Im Evangelium heißt es: du sollst nicht
schwören; die Kirche läßt den Eid zu. Im Evangelium heißt es ...

=Pater Gerassim.= Erlauben Sie, als Pilatus sagte: »Ich beschwöre dich
beim lebendigen Gotte ...« erkannte Christus den Eid an, indem er
antwortete: »Ich bin es.«

=Nikolai.= Ach, was reden Sie da! Das ist doch einfach lächerlich.

=Pater Gerassim.= Deswegen erlaubt die Kirche nicht jedem einzelnen,
das Evangelium auszulegen, damit er nicht in Irrtum verfällt, sondern
sie sorgt für ihn, wie eine Mutter für ihr Kind, und gibt jedem die
Auslegung, die für ihn paßt. Nein, lassen Sie mich zu Ende reden. Die
Kirche bürdet ihren Anhängern keine unerträglichen Lasten auf, sondern
verlangt nur die Erfüllung der Gebote: Liebe deinen Nächsten, du sollst
nicht töten, nicht stehlen, nicht ehebrechen.

=Nikolai.= Jawohl: du sollst mich nicht töten, mir nicht stehlen, was
ich selbst gestohlen habe. Wir alle haben das Volk bestohlen, haben ihm
den Grund und Boden genommen und erlassen hinterher Gebote: Du sollst
nicht stehlen. Die Kirche aber gibt allem ihren Segen.

=Pater Gerassim.= Arglist, Hochmut spricht aus Ihnen. Ihren Stolz
müssen Sie bezwingen.

=Nikolai.= Durchaus nicht. Ich frage Sie, wie ich nach christlichem
Gebote handeln muß. Ich habe meine Sünde erkannt, die darin liegt, daß
ich das Volk des Grundes und Bodens beraube und dadurch in Knechtschaft
halte. Was soll ich jetzt tun? Noch weiter Land besitzen und die
Dienstleistungen hungriger Menschen für solche Dinge benutzen? (Er
deutet auf den Diener, der das Frühstück und den Wein hereingebracht
hat.) Oder soll ich das Land denen zurückgeben, denen meine Vorfahren
es geraubt haben?

=Pater Gerassim.= Sie müssen handeln, wie es einem Sohn der Kirche
geziemt. Sie haben eine Familie und Kinder, für die Sie sorgen, die Sie
standesgemäß erziehen lassen müssen.

=Nikolai.= Warum?

=Pater Gerassim.= Weil Gott Sie in diese Lage versetzt hat. Wenn Sie
Wohltätigkeit üben wollen, tun Sie es, indem Sie einen Teil Ihrer Habe
den Armen geben und sie durch Zuspruch trösten.

=Nikolai.= Dem reichen Jüngling wurde doch aber gesagt, ein Reicher
könne nicht ins Himmelreich kommen.

=Pater Gerassim.= Mit dem Zusatz: Wenn du vollkommen sein willst.

=Nikolai.= Ich möchte eben vollkommen sein. Es heißt im Evangelium:
Seid vollkommen, wie auch euer Vater im Himmel vollkommen ist.

=Pater Gerassim.= Man muß aber auch wissen, worauf sich solche Worte
beziehen.

=Nikolai.= Ich bemühe mich darum. Alles, was in der Bergpredigt steht,
ist durchaus einfach und verständlich.

=Pater Gerassim.= Das sagt Ihr Hochmut.

=Nikolai.= Wieso Hochmut? Heißt es doch: Was den Weisen verborgen ist,
wird den Unmündigen offenbar.

=Pater Gerassim.= Den Sanftmütigen, von Herzen Demütigen, aber nicht
den Hochmütigen.

=Nikolai.= Wer ist denn hier hochmütig? Ich, der ich mich für genau
solchen Menschen halte wie alle anderen, und der deswegen genau wie
alle anderen von seiner Hände Arbeit in ebensolcher Not wie die Brüder
leben will -- oder diejenigen, die sich als besondere Wesen, als
Heilige betrachten, die im alleinigen Besitz der Wahrheit sich nicht
irren können und die Worte Christi nach ihrer Art auslegen?

=Pater Gerassim= (gekränkt). Verzeihen Sie, Nikolai Iwanowitsch, ich
hin nicht hergekommen, um mit Ihnen darüber zu streiten, wer von uns
beiden recht hat, und auch nicht, um Belehrungen entgegenzunehmen,
sondern ich bin auf Bitten Alexandra Iwanownas gekommen, um mit Ihnen
über verschiedene Dinge Rücksprache zu nehmen. Sie wissen aber alles
besser, deswegen schließe ich lieber die Unterredung. Nur möchte ich
Sie zu guter Letzt im Namen Gottes noch einmal bitten: kommen Sie zur
Besinnung; Sie sind in schrecklichem Irrtum befangen und richten sich
zugrunde. (Er erhebt sich.)

=Maria.= Wollen Sie nicht etwas frühstücken?

=Pater Gerassim.= Nein, danke. (Er geht mit Alexandra Iwanowna ab.)


Dreizehnter Auftritt.

    =Die Vorigen= ohne Alexandra Iwanowna und Pater Gerassim.

=Maria= (zum Priester). Nun, was wird jetzt?

=Priester.= Wieso? meiner Meinung nach hat Nikolai Iwanowitsch ganz
recht; Pater Gerassim hat ihn nicht widerlegt.

=Fürstin.= Er ist gar nicht zu Worte gekommen; besonders scheint es ihm
mißfallen zu haben, daß hier eine Art Turnier veranstaltet wurde. Alle
hörten zu. Da hat er sich aus Bescheidenheit entfernt.

=Boris.= Denkt nicht daran. Alles, was er sagte, war falsch. So
offenkundig falsch, daß er nicht weiter wußte.

=Fürstin.= Ich sehe, daß du bei deinem wetterwendischen Sinn dich schon
ganz auf Nikolai Iwanowitschs Seite schlägst. Wenn du aber so denkst,
darfst du eben nicht heiraten.

=Boris.= Ich sage nur: was wahr ist, muß wahr bleiben. In diesem Falle
kann ich nicht schweigen.

=Fürstin.= Du hättest am allermeisten Grund zu schweigen.

=Boris.= Warum?

=Fürstin.= Weil du arm bist und nichts zu verteilen hast. Übrigens geht
uns das alles nichts an. (Sie geht ab.)

=Alle übrigen= (folgen ihr außer Nikolai Iwanowitsch und Maria
Iwanowna).


Vierzehnter Auftritt.

    =Nikolai Iwanowitsch= und =Maria Iwanowna=.

=Nikolai= (sitzt nachdenklich da; lächelt dann über seine Gedanken).
Mascha! Wozu das? Warum hast du diesen kläglichen, im Irrtum befangenen
Menschen kommen lassen? Warum mischen sich diese laute Frau und dieser
Priester in unser intimstes Leben? Können wir unsere Angelegenheiten
nicht selbst ordnen?

=Maria.= Was soll ich tun, wenn du unsere Kinder ohne alle Mittel
lassen willst. Das kann ich nicht ruhig mit ansehen. Du weißt, daß ich
nicht selbstsüchtig bin und für mich nichts brauche.

=Nikolai.= Das weiß ich und glaube ich. Das Unglück ist, daß du nicht
glaubst, weder an die Wahrheit -- ich weiß, daß du sie siehst, du
kannst dich aber nicht entschließen, an sie zu glauben. Weder an die
Wahrheit glaubst du, noch an mich. Du glaubst dem Haufen -- der Fürstin
und den anderen.

=Maria.= Ich glaube dir, habe dir stets geglaubt; wenn du aber die
Kinder zu Bettlern machen willst ...

=Nikolai.= Das zeigt ja eben, daß du keinen Glauben hast. Meinst du,
ich hätte nicht gekämpft, nicht Angst ausgestanden? Dann habe ich mich
aber überzeugt, daß man so nicht nur handeln kann, sondern muß; daß es
so allein für die Kinder das Notwendige, Gute ist. Du sagst immer, wenn
die Kinder nicht wären, könnten wir leben wie wir wollten; dann würden
wir nur uns zugrunde richten. Wir richten sie aber zugrunde.

=Maria.= Was soll ich tun, da ich das nicht verstehe.

=Nikolai.= Und was soll _ich_ tun? Ich weiß ja, weshalb ihr diesen
kläglichen Menschen im Priesterkleid mit dem Kreuz auf der Brust
verschrieben, und weshalb Aline den Notar mitgebracht hat. Ich soll
die Besitzung auf deinen Namen schreiben lassen. Das kann ich nicht.
Zwanzig Jahre lang habe ich dich geliebt. Ich liebe dich noch und will
dein Bestes und kann deswegen das Gut nicht verschreiben. Wenn ich es
tue, sollen die es haben, denen es fortgenommen ist -- die Bauern. Ich
kann nicht anders, ich muß es ihnen geben. Und ich freue mich, daß der
Notar zugegen ist, und will das gleich jetzt tun.

=Maria.= Nein, das ist fürchterlich! Wie kann man nur so grausam sein.
Du hältst es für sündhaft, das Gut zu behalten; so gib es doch mir.
(Sie weint.)

=Nikolai.= Du weißt nicht, was du sprichst. Wenn ich es dir gebe, kann
ich nicht weiter mit dir leben, dann muß ich fort. Ich kann unter
diesen Bedingungen nicht weiterleben; kann es nicht mit ansehen, daß,
nicht mehr in meinem, sondern in deinem Namen, den Bauern das Mark aus
den Knochen gepreßt wird und man sie ins Gefängnis wirft. Also wähle.

=Maria.= Wie bist du grausam! Was ist denn das für ein Christentum?
Das ist ja Bosheit. Ich kann doch nicht so leben, wie du willst. Kann
meinen Kindern nicht alles nehmen, um es dem ersten besten zu geben.
Und deshalb willst du mich verstoßen? Gut, tue es. Ich sehe, daß du
mich nicht mehr liebst, und weiß auch, weshalb.

=Nikolai.= Also gut, ich unterschreibe. Aber du verlangst von mir etwas
Unmögliches, Mascha. (Er geht zum Tisch und unterschreibt.) Du hast es
gewollt. Ich kann so nicht leben.



Dritter Aufzug.


In Moskau. Großes Zimmer.

    Darin eine Hobelbank, Tisch mit Papieren, Bücherschrank,
    Spiegel und ein durch Bretter verstelltes Bild.


Erster Auftritt.

    =Nikolai Iwanowitsch= und ein =Tischler=.

    Nikolai Iwanowitsch arbeitet mit vorgebundener Schürze an der
    Hobelbank. Der Tischler hobelt.

=Nikolai= (nimmt ein Brett aus der Hobelbank). Ist es so gut?

=Tischler= (stellt seinen Schlichthobel). Nicht besonders. Sie müssen
stärker drücken; sehen Sie, so!

=Nikolai.= Sie haben gut reden. Es wird doch nichts.

=Tischler.= Wozu geben Ew. Gnaden sich auch mit der Tischlerei ab? Gibt
heutzutage so viele Tischler, daß man nicht mehr sein Auskommen findet.

=Nikolai= (wieder bei der Arbeit). Man schämt sich, zu faulenzen.

=Tischler.= Sie haben es doch nicht nötig. Ihnen hat ja Gott Vermögen
gegeben.

=Nikolai.= Ich bin eben der Meinung, Gott hat den Menschen nichts
gegeben, sondern sie haben es sich genommen, ihren Brüdern abgenommen.

=Tischler= (verwundert). Das ist schon richtig. Aber für Sie hat es
doch keinen Zweck.

=Nikolai.= Ich verstehe, daß Ihnen das wunderbar vorkommt. In diesem
Hause, wo so viel Überfluß herrscht will jemand arbeiten.

=Tischler= (lachend). Nein, das nicht gerade. Die Herrschaften sind mal
so; die machen alles. Jetzt fahren Sie mal mit dem Schrupphobel darüber
hin.

=Nikolai.= Sie werden es nicht glauben, werden wieder lachen -- und
doch sage ich Ihnen, daß ich früher ebenso gelebt und mich nicht
geschämt habe. Jetzt glaube ich aber an Christi Lehre, daß wir alle
Brüder sind, und geniere mich, so zu leben.

=Tischler.= Wenn es Sie geniert, verschenken Sie doch Ihr Vermögen.

=Nikolai.= Das wollte ich; es ist mir aber nicht geglückt. Ich hab’ es
meiner Frau übergeben.

=Tischler.= Sie können ja auch nicht; haben sich daran gewöhnt.

=Ljuba= (hinter der Tür). Papa, darf ich herein?

=Nikolai.= Gewiß, gewiß, du darfst immer.


Zweiter Auftritt.

    =Die Vorigen= und =Ljuba=.

=Ljuba= (eintretend). Guten Tag, Jakob.

=Tischler.= Wünsche guten Tag, gnädiges Fräulein.

=Ljuba.= Boris ist zum Regiment abgereist. Ich fürchte, er richtet da
etwas an oder sagt etwas Ungehöriges. Was glaubst du?

=Nikolai.= Was kann ich glauben? Er wird tun, was sein Inneres ihm
befiehlt.

=Ljuba.= Aber das ist schrecklich. Er hat nur noch so kurze Zeit zu
dienen und richtet sich nun plötzlich zugrunde.

=Nikolai.= Nur gut, daß er nicht zu mir gekommen ist; er weiß, daß ich
ihm nichts anderes sagen kann, als was ihm bereits bekannt ist. Hat mir
selbst gesagt, daß er deswegen seinen Abschied nähme, weil er einsieht,
daß es keine gesetzwidrigere, tierisch grausamere Tätigkeit gibt
als diese einzig auf Mord gerichtete, und daß nichts erniedrigender
und gemeiner ist, als sich dem ersten besten rangälteren Beamten
bedingungslos zu unterwerfen -- er weiß das auch alles.

=Ljuba.= Das fürchte ich ja gerade, daß er es weiß und nun danach
handeln will.

=Nikolai.= Darüber entscheidet sein Gewissen, der Gott, der in ihm
ist. Wenn er zu mir käme, würde ich ihm den einen Rat geben: nie aus
Berechnung handeln, sondern nur, wenn sein ganzes Wesen es fordert. Es
gibt nichts Schlimmeres. So wollte ich dem Gebot Christi gemäß Weib
und Kinder verlassen und Ihm nachfolgen und war schon im Begriff, das
auszuführen. Aber was war das Ende? Das Ende war, daß ich zurückkehrte
und mit euch in der Stadt von Luxus umgeben lebe. Weil ich etwas tun
wollte, was über meine Kräfte ging, geriet ich in diese erniedrigende
Lage ohne Sinn und Verstand. Ich will einfach leben und arbeiten;
dabei in dieser Umgebung mit Türhütern und Bedienten -- da muß ja
eine Komödie herauskommen. Eben diesen Augenblick sehe ich, wie Jakob
Nikanorowitsch mich auslacht ...

=Tischler.= Wie werde ich! Sie bezahlen mich, geben mir schönen Tee.
Dafür danke ich Ihnen.

=Ljuba.= Ich denke, ob ich nicht zu ihm fahren soll.

=Nikolai.= Mein Liebling, Täubchen, ich weiß, daß dir das alles schwer,
ja schrecklich vorkommt, obwohl es anders sein müßte. Ich bin jetzt
so weit, daß ich das Leben verstehe. Und ich sage dir: es kann nichts
Schlimmes geben. Alles was uns schlimm erscheint, ist für das Herz eine
Freude und Stärkung. Du mußt aber begreifen, daß jemand, der diesen
Weg geht, zunächst vor eine Wahl gestellt ist. Und es gibt Lagen, wo
das Göttliche und Teuflische sich das Gleichgewicht halten, wo die
Wage schwankt. Gerade dann geht Gottes Werk im Menschen vor sich und
gerade dann ist jede Einmischung äußerst gefährlich und verhängnisvoll.
Wie soll ich sagen, es ist, als ob jemand schreckliche Anstrengungen
macht, um eine Last zu schleppen -- dabei kann eine Berührung mit den
Fingerspitzen ihm das Kreuz brechen.

=Ljuba.= Wozu muß man denn aber leiden?

=Nikolai.= Das ist gerade, wie wenn eine Mutter sagt: Wozu die Wehen?
Es gibt keine Geburt ohne Wehen. Dasselbe ist im geistigen Leben der
Fall. Eins will ich dir sagen: Boris ist ein wahrer Christ und deswegen
im Innern frei. Und wenn du noch nicht so sein kannst wie er, nicht
wie er von selbst an Gott glauben kannst, so glaub durch ihn an den
Höchsten, an Gott.

=Maria= (hinter der Tür). Darf ich herein?

=Nikolai.= Immer herein. Das ist ja heute der reine Empfangstag.


Dritter Auftritt.

    =Die Vorigen= und =Maria Iwanowna=.

=Maria.= Unser Priester, Wassili Nikanorowitsch, ist da. Er fährt zum
Bischof, hat sein Amt niedergelegt.

=Nikolai.= Nicht möglich!

=Maria.= Hier ist er. Ljuba, ruf ihn. Er will dich sprechen.

=Ljuba= (geht).


Vierter Auftritt.

    =Die Vorigen= ohne Ljuba.

=Maria.= Ich möchte auch noch über Wanja mit dir sprechen. Er ist
schrecklich ungezogen und lernt so schlecht, daß er sicher nicht
versetzt wird. Wenn ich es ihm sage, wird er frech.

=Nikolai.= Mascha, du weißt doch, daß ich mit seiner ganzen Lebensweise
und mit der Erziehung nicht einverstanden bin. Immer wieder quält mich
die Frage: Darf ich ruhig zusehen, wie vor meinen Augen Wesen zugrunde
gehen ...?

=Maria.= Dann muß man eben andere bestimmte Maßregeln treffen. Was
schlägst du vor?

=Nikolai.= Ich kann nicht sagen, was. Ich will nur eins sagen: erstens,
man muß sich von diesem verderblichen Luxus befreien.

=Maria.= Damit die Kinder verbauern? Dazu kann ich meine Einwilligung
nicht geben.

=Nikolai.= Nun, dann frag mich nicht. Dann ist dir eben nicht zu helfen.

=Der Priester= und =Ljuba= (kommen).


Fünfter Auftritt.

    =Die Vorigen.= Der =Priester= und =Ljuba=.

=Der Priester= und =Nikolai= (küssen sich).

=Nikolai.= Haben Sie wirklich ein Ende gemacht?

=Priester.= Ich konnte nicht länger.

=Nikolai.= So schnell hatte ich das nicht erwartet.

=Priester.= Es ging nicht anders. In unserem Beruf kann man nicht
indifferent sein. Man soll die Beichte abnehmen, das Abendmahl reichen
-- und wenn man erkannt hat, daß das alles nicht die Wahrheit ist ...

=Nikolai.= Und was wird jetzt?

=Priester.= Jetzt fahre ich zum Bischof, zum Examen. Ich fürchte,
man schickt mich ins Kloster Solowezk. Anfangs dachte ich daran, ins
Ausland zu fliehen. Wollte Sie um Ihre Unterstützung bitten. Dann kam
ich zur Besinnung: es wäre Kleinmut. Das einzige ist: meine Frau.

=Nikolai.= Wo ist sie?

=Priester.= Zu ihrem Vater gereist. Ihre Mutter war bei uns und hat das
Söhnchen mitgenommen. Das tat weh. Ich hätte ihn gern ... (Er stockt,
drängt die Tränen zurück.)

=Nikolai.= Helf Gott Ihnen. Werden Sie bei uns bleiben?

=Die Fürstin= (kommt ins Zimmer gelaufen).


Sechster Auftritt.

    =Die Vorigen= und die =Fürstin=.

=Fürstin.= Das war zu erwarten. Er hat den Gehorsam verweigert und
sitzt im Arrest. Ich war dort, man hat mich nicht zu ihm gelassen.
Nikolai Iwanowitsch, fahren Sie hin.

=Ljuba.= Wieso den Gehorsam verweigert? Woher wissen Sie das?

=Fürstin.= Ich war selbst dort. Wassili Andrejewitsch hat mir alles
erzählt, ein Mitglied der Untersuchungskommission. Er kam einfach
herein und erklärte, er würde nicht dienen, den Fahneneid nicht leisten
-- kurz alles, was Nikolai Iwanowitsch ihm beigebracht hat.

=Nikolai.= Fürstin! Wie kann man das jemandem beibringen?

=Fürstin.= Das weiß ich nicht. Jedenfalls ist das kein Christentum. Wie
wäre das möglich? Sagen Sie doch ein Wort, Batjuschka.

=Priester.= Ich bin kein Batjuschka mehr.

=Fürstin.= Ganz egal. Sie sind ja ebenso. Freilich, Sie haben es gut.
Aber ich lasse die Dinge nicht so gehen. Und was ist das für ein
schändliches Christentum, durch das die Menschen leiden und zugrunde
gehen. Ich hasse dieses euer Christentum. Ihr habt es gut, da ihr wißt,
daß es euch nicht an den Kragen geht. Ich habe aber nur diesen einen
Sohn, und ihr habt ihn ins Verderben gestürzt.

=Nikolai.= So beruhigen Sie sich doch, Fürstin.

=Fürstin.= Sie, Sie haben das fertig gebracht. Sie haben ihn
unglücklich gemacht, Sie müssen ihn auch retten. Fahren Sie hin, reden
Sie ihm zu, daß er diese Dummheiten unterläßt. Reiche Leute können sich
das leisten, nicht aber wir.

=Ljuba= (weint). Papa, was soll nun werden?

=Nikolai.= Ich fahre hin. Vielleicht kann ich helfen. (Er nimmt die
Schürze ab.)

=Fürstin= (hilft ihm beim Ankleiden). Mich hat man nicht zu ihm
gelassen; wir fahren zusammen, dann erreiche ich mein Ziel. (Sie geht
ab.)



Verwandlung.


Militärkanzlei.

    Ein Schreiber sitzt am Tisch; vor der Tür gegenüber geht ein
    Posten auf und ab. Ein General mit seinem Adjutanten tritt ein.
    Der Schreiber springt auf, der Posten präsentiert.


Erster Auftritt.

    =General.= =Adjutant.= =Schreiber.=

=General.= Wo ist der Herr Oberst?

=Schreiber.= Bei dem Rekruten, Ew. Exzellenz.

=General.= Schön. Ich lasse ihn hierher bitten.

=Schreiber.= Zu Befehl, Ew. Exzellenz.

=General.= Was schreiben Sie da ab? Wohl die Aussagen des Rekruten?

=Schreiber.= Zu Befehl, jawohl, Ew. Exzellenz.

=General.= Geben Sie doch mal her.

=Schreiber= (übergibt das Schriftstück und geht ab).


Zweiter Auftritt.

    =Die Vorigen= ohne Schreiber.

=General= (gibt das Schriftstück dem Adjutanten). Lesen Sie bitte vor.

=Adjutant= (liest). »Auf die mir vorgelegten Fragen: 1) Warum ich den
Fahneneid nicht leiste, 2) warum ich mich weigere, die Befehle der
Vorgesetzten zu erfüllen, und 3) was mich dazu veranlaßt hat, nicht
nur gegen das Militär, sondern auch gegen die höchste Macht im Staate
kränkende Äußerungen zu tun -- erwidere ich zu 1) ich leiste den Eid
deswegen nicht, weil ich mich zum Christentum bekenne. Das Christentum
aber verbietet klar und deutlich den Eid, sowohl im Evangelium
Matthäi V, 33--37 wie auch in der Epistel des Jakobus V, 12.«

=General.= Schwadroneur. Der legt die Bibel auf seine Weise aus.

=Adjutant= (fortfahrend). »Im Evangelium heißt es: ›Ihr sollt überhaupt
nicht schwören. Eure Rede sei: Ja, ja, oder nein, nein; was darüber
hinausgeht, ist vom Bösen.‹ In der Epistel des Jakobus: ›Vor allem,
meine Brüder, schwört nicht; weder beim Himmel, noch bei der Erde,
noch sonst einen Schwur. Euer Ja sei Ja, euer Nein -- Nein, damit
ihr nicht unter das Gericht fallt.‹ Aber ich will von dieser ganz
klaren Vorschrift im Evangelium, daß man nicht schwören darf, ganz
absehen; selbst wenn diese Vorschrift nicht existierte, könnte ich
nicht schwören, die Befehle von Menschen auszuführen, da ich nach
christlichem Gebot stets den Willen Gottes tun muß, der dem der
Menschen widersprechen kann.«

=General.= Schwadroneur. Wenn es nach mir ginge, gäbe es das nicht.

=Adjutant= (liest). »Ich weigere mich aber, die Befehle von Leuten
auszuführen, die sich Vorgesetzte nennen, weil ...«

=General.= Diese Frechheit!

=Adjutant.= ... »weil diese Befehle verbrecherisch, schlecht sind.
Man verlangt von mir, ich soll in die Armee treten, mich zum Morde
vorbereiten und ihn erlernen. Das ist im Alten wie im Neuen Testament
verboten, und hauptsächlich verbietet es mir mein Gewissen. Auf die
dritte Frage ...«

=Der Oberst= (kommt mit dem Schreiber).

=Der General= (gibt ihm die Hand).


Dritter Auftritt.

    =Die Vorigen= und der =Oberst= mit dem =Schreiber=.

=Oberst.= Sie lesen das Protokoll?

=General.= Ja. Unverzeihliche Frechheiten. Nun, fahren Sie fort.

=Adjutant= (liest). »Auf die dritte Frage: was mich veranlaßt hat,
in der Verhandlung beleidigende Worte zu gebrauchen, erwidere ich,
daß mich dazu der Wunsch veranlaßt hat, Gott zu dienen und den Betrug
aufzudecken, der in Seinem Namen geschieht. Diesem Wunsch hoffe ich bis
zu meinem Tode zu willfahren. Und deshalb ...«

=General.= Nun, genug davon. Das Geschwätz nimmt ja gar kein Ende.
Es handelt sich darum, hier gründlich Remedur zu schaffen, damit die
Mannschaften nicht angesteckt werden. (Zum Oberst.) Haben Sie mit ihm
gesprochen?

=Oberst.= Jawohl, die ganze Zeit. Habe mich bemüht, ihm ins Gewissen zu
reden, ihn zu überzeugen, daß er damit gar nichts ausrichtet, daß es
das schlimmste ist, was er tun kann. Habe seine Familie erwähnt. Das
regte ihn sehr auf; trotzdem blieb er bei seinem Standpunkt.

=General.= Das viele Reden hat gar keinen Zweck. Wir sind Soldaten,
nicht um zu reden, sondern um zu handeln. Lassen Sie ihn mal vorführen.

=Adjutant= und =Schreiber= (gehen ab).


Vierter Auftritt.

    =General= und =Oberst=.

=General= (setzt sich). Nein, Herr Oberst, das ist nicht das richtige.
Mit solchen Burschen muß man anders umspringen. Da heißt es energisch
eingreifen, das kranke Glied schleunigst entfernen. Ein räudiges
Schaf steckt die ganze Herde an. Zarte Rücksichten sind hier nicht
angebracht; daß er Fürst ist, und eine Mutter und Braut hat, geht uns
gar nichts an. Für uns ist er Soldat, und wir haben den Willen unseres
allerhöchsten Vorgesetzten zu erfüllen.

=Oberst.= Ich bin der Meinung, daß man ihn durch Zureden leichter
schwankend macht.

=General.= Ganz und gar nicht. Bestimmtheit, nur Bestimmtheit. Habe
mit solchen Burschen schon zu tun gehabt. Der Mann muß fühlen, daß
er ein Nichts, ein Sandkorn unter einem Wagen ist, der dadurch nicht
aufgehalten wird.

=Oberst.= Ja, man muß die Sache untersuchen.

=General= (gerät allmählich in Wallung). Ach was, untersuchen. Ich habe
nichts zu untersuchen. Ich diene meinem Kaiser seit vierundvierzig
Jahren, bin diesem Dienst mit Leib und Seele ergeben, und nun kommt
plötzlich so ein Bürschchen und will mich belehren und mir den
Bibeltext lesen. Mag er sich mit Pfaffen darüber zanken, für mich ist
er Soldat oder Arrestant. Damit basta.

=Boris= (erscheint, von zwei Soldaten eskortiert).

=Adjutant= und =Schreiber= (hinter ihm).


Fünfter Auftritt.

    =Die Vorigen.= =Boris= mit zwei =Eskortesoldaten=, =Adjutant=
    und =Schreiber=.

=General= (mit dem Finger zeigend). Da stellt ihn hin.

=Boris.= Mich braucht man nicht hinzustellen. Ich stehe oder sitze, wo
ich will; Ihre Macht über mich kann ich nicht ...

=General.= Maul halten! Du erkennst keine Macht an? Ich werd’ dich
schon lehren!

=Boris= (setzt sich auf einen Stuhl). Wie unvernünftig, so zu schreien.

=General.= Aufrichten, hinstellen den Mann.

=Die Soldaten= (ziehen Boris in die Höhe).

=Boris.= Das können Sie, Sie können mich sogar töten, aber mich nicht
zwingen, Ihnen zu gehorchen ...

=General.= Maul halten, hab’ ich befohlen. Hör’ zu, was ich dir sage.

=Boris.= Ich will gar nicht hören, was _du_, _du_ sagst.

=General.= Der Mann ist übergeschnappt. Muß ins Lazarett, auf seinen
Geisteszustand untersucht werden. Weiter ist da nichts zu machen.

=Oberst.= Wir haben Befehl, ihn auch von der Gendarmerie vernehmen zu
lassen.

=General.= Na also, schaffen Sie ihn hin. Aber vorher: einkleiden.

=Oberst.= Er weigert sich.

=General.= Dann wird er gefesselt. (Zu Boris.) Hören Sie also, was
ich Ihnen sage. Mir ist es egal, was aus Ihnen wird. In Ihrem eigenen
Interesse aber rate ich Ihnen: kommen Sie zur Vernunft. Sie werden in
der Festung ja verfaulen. Und richten nicht das mindeste aus. Also
lassen Sie das. Haben sich ereifert und ich ebenfalls. (Klopft ihn
auf die Schulter.) Gehen Sie hin, leisten den Eid und unterlassen in
Zukunft solche Sachen. (Zum Adjutanten.) Ist der Priester da? (Zu
Boris.) Na, wie ist’s? (Boris schweigt.) Weshalb antworten Sie nicht?
Es ist wirklich besser so. Man kann doch nicht mit dem Kopf durch die
Wand rennen! Ihre Gedanken behalten Sie hübsch für sich. Dienen Ihr
Jahr ab -- wir werden Sie nicht zwiebeln. Na, wie ist’s?

=Boris.= Ich habe nichts weiter zu sagen.

=General.= Sie erwähnen da in Ihrer Aussage einen Bibelvers. Darüber
wissen die Popen besser Bescheid. Sprechen Sie mit Batjuschka und
überlegen sich die Sache. Es ist wirklich besser so. Also leben Sie
wohl; ich hoffe auf Wiedersehen, wenn Sie des Kaisers Rock tragen.
Schicken Sie den Geistlichen her. (Er geht ab.)

=Oberst= und =Adjutant= (folgen ihm).


Sechster Auftritt.

    =Boris.= Der =Schreiber= und die =Soldaten=.

=Boris= (zum Schreiber und den Soldaten). Da seht ihr, wie die Leute
reden. Sie wissen selbst, daß sie euch betrügen. Gehorcht ihnen nicht!
Legt die Waffen nieder! Geht auf und davon! Selbst wenn sie euch ins
Strafbataillon stecken und halbtot prügeln -- ist immer noch leichter
als diesen Betrügern gehorchen.

=Schreiber.= Wie kann man ohne Militär leben? Nein, das geht nicht.

=Boris.= Das ist nicht unsere Sache. Wir haben nur daran zu denken, was
Gott von uns will. Gott aber will, daß wir ...

=Soldat.= Es heißt doch aber immer: das christliche Heer?

=Boris.= Das steht nirgends. Das haben die Betrüger sich ausgedacht.

=Soldat.= Wie ist das möglich? Die Bischöfe müssen das doch wissen.

=Gendarmerieoffizier= mit =Schreiber= (tritt ein).


Siebenter Auftritt.

    =Die Vorigen.= =Gendarmerieoffizier= und =Schreiber=.

=Gendarmerieoffizier= (zum Schreiber). Ist hier der Rekrut Fürst
Tscheremschanow?

=Schreiber.= Zu Befehl. Da ist er.

=Gendarmerieoffizier.= Bitte sich hierher zu verfügen. Sind Sie Fürst
Boris Semjonowitsch Tscheremschanow, der den Fahneneid nicht leisten
will?

=Boris.= Ja.

=Gendarmerieoffizier= (setzt sich und deutet auf einen Platz
gegenüber). Bitte, setzen Sie sich.

=Boris.= Ich glaube, unsere Unterhaltung ist vollkommen überflüssig.

=Gendarmerieoffizier.= Das glaube ich nicht. Für Sie wenigstens
durchaus nicht, wie Sie sich sofort überzeugen werden. Mir ist
mitgeteilt, Sie weigern sich, zu dienen und den Eid zu leisten; es
besteht daher Verdacht, daß Sie zur revolutionären Partei gehören.
Das habe ich zu untersuchen. Wenn es richtig ist, müssen wir Sie vom
Militär fortnehmen und einsperren oder verbannen, je nach dem Grade
Ihrer Beteiligung an der Revolution. Anderenfalls überlassen wir Sie
der Militärbehörde. Sie sehen, daß ich offen mit Ihnen spreche und
hoffe, daß Sie uns ebensolches Vertrauen entgegenbringen.

=Boris.= Vertrauen kann ich zu Leuten, die das da tragen, (er deutet
auf die Uniform) nicht haben. Außerdem ist Ihre Tätigkeit derart,
daß ich sie durchaus nicht respektiere, sondern auf das gründlichste
verabscheue. Ihre Fragen aber werde ich beantworten. Was wünschen Sie
zu wissen?

=Gendarmerieoffizier.= Gestatten Sie zunächst: Ihr Name, Beruf,
Konfession?

=Boris.= Das wissen Sie alles; darauf antworte ich nicht. Für mich ist
nur eins wichtig: ich gehöre nicht zur griechisch-katholischen Kirche,
bin kein sogenannter Rechtgläubiger.

=Gendarmerieoffizier.= Welchen Glauben haben Sie denn?

=Boris.= Das läßt sich nicht so schnell sagen.

=Gendarmerieoffizier.= Nun, Sie werden doch irgendeine Antwort geben?

=Boris.= Also ich bin Christ, nach der Lehre der Bergpredigt.

=Gendarmerieoffizier.= Schreiben Sie.

=Schreiber= (tut es).

=Gendarmerieoffizier= (zu Boris). Sie betrachten sich doch aber als
Angehörigen eines bestimmten Staates und Standes?

=Boris.= Nein. Ich bezeichne mich als Mensch, Diener Gottes.

=Gendarmerieoffizier.= Warum bezeichnen Sie sich nicht als russischen
Staatsangehörigen?

=Boris.= Weil ich keinen Staat anerkenne.

=Gendarmerieoffizier.= Was heißt das? Wünschen Sie sein Aufhören?

=Boris.= Ohne Frage. Darauf arbeite ich ja hin.

=Gendarmerieoffizier= (zum Schreiber). Schreiben Sie. (Zu Boris.) Mit
welchen Mitteln arbeiten Sie darauf hin?

Boris. Indem ich den Betrug, die Lüge aufdecke und die Wahrheit
verbreite. Gerade als Sie eintraten, sagte ich zu diesen Soldaten, sie
sollten nicht an den Betrug glauben, den man an ihnen verübt.

=Gendarmerieoffizier.= Außer diesen Mitteln der Überredung gebrauchen
Sie doch noch andere?

=Boris.= Nein. Jede Gewalttat halte ich für die größte Sünde. Nicht nur
jede Gewalt, sondern sogar jede Heimlichkeit, jede List ...

=Gendarmerieoffizier.= Schreiben Sie. Es ist gut. Jetzt gestatten Sie,
daß ich mich nach Ihrem Umgang erkundige. Kennen Sie Iwaschenkow?

=Boris.= Nein.

=Gendarmerieoffizier.= Klein?

=Boris.= Ich habe von ihm gehört, ihn aber nie gesehen.

=Ein bejahrter Geistlicher= (mit Kreuz und Bibel tritt ein).

=Schreiber= (läßt sich von ihm segnen).


Achter Auftritt.

    =Die Vorigen= und der =Geistliche=.

=Gendarmerieoffizier.= Ich denke, ich kann hier Schluß machen. Ich
halte Sie nicht für gefährlich und nicht zu unserem Ressort gehörig.
Wünsche Ihnen, daß Sie bald freikommen. Grüße Sie. (Gibt ihm die Hand.)

=Boris.= Ich möchte Ihnen noch eins sagen. Verzeihen Sie mir, aber
ich kann nicht anders. Warum haben Sie diese schlimme, böse Tätigkeit
gewählt? Ich möchte Ihnen raten, sie aufzugeben.

=Gendarmerieoffizier= (lächelnd). Ich danke Ihnen für Ihren Rat. Das
hat seine Gründe. Also, ich empfehle mich. Batjuschka, ich trete Ihnen
meinen Platz ab. (Er geht mit dem Schreiber ab.)


Neunter Auftritt.

    =Die Vorigen= ohne Gendarmerieoffizier und Schreiber.

=Priester.= Wie können Sie nur der Obrigkeit solchen Kummer machen?
Ihre Christenpflicht nicht erfüllen, dem Zaren und Vaterlande nicht
dienen?

=Boris= (lächelnd). Gerade weil ich meine Christenpflicht erfüllen
will, kann ich nicht Soldat sein.

=Priester.= Warum nicht? Es heißt doch: »Wer sein Leben hingibt für
seine Freunde, der ist ein wahrer Christ ...«

=Boris.= Jawohl, sein Leben hingibt, aber nicht fremde vernichtet. Mein
Leben hingeben, das will ich ja gerade.

=Priester.= Sie urteilen nicht richtig, junger Mann. Johannes der
Täufer sagte zu den Kriegsknechten: »... Lasset euch genügen an eurem
Solde ...«

=Boris= (lächelnd). Das beweist nur, daß schon damals die Soldaten
plünderten, was er ihnen verbot.

=Priester.= Aber warum wollen Sie nicht schwören?

=Boris.= Sie wissen, daß das im Evangelium verboten ist.

=Priester.= Ganz und gar nicht. Als Pilatus sagte: »Ich beschwöre
dich beim lebendigen Gotte, bist du Christus?« antwortete Herr Jesus
Christus: »Du sagst es.« Das heißt, der Eid ist nicht verboten.

=Boris.= Schämen Sie sich wirklich nicht? Sie alter Mann ...

=Priester.= Legen Sie Ihren Trotz ab, rate ich Ihnen! Wir können die
Welt nicht ändern. Leisten Sie den Eid und alles geht gut. Was Sünde
ist und was nicht, das zu entscheiden überlassen Sie der Kirche.

=Boris.= Ihnen? Haben Sie denn keine Angst, so viel Sünde auf sich zu
nehmen?

=Priester.= Welche Sünde? Wer wie ich fest im Glauben erzogen ist und
dreißig Jahre lang das Priesteramt versehen hat, der ist nicht voll
Sünde.

=Boris.= Auf wen fällt denn die Sünde, daß ihr so viele Menschen
betrügt? Was steckt denn in all den Köpfen? (Er deutet auf den Posten.)

=Priester.= Das wollen wir lieber nicht untersuchen, junger Mann.
Dagegen würde uns Respekt vor dem Alter nicht übel anstehen.

=Boris.= Lassen Sie mich. Sie tun mir leid und sind mir gleichzeitig
widerwärtig. Wenn Sie noch wie jener General wären -- so aber kommen
Sie mit Kreuz und Bibel und wollen mich im Namen Christi bereden,
von Christus abzufallen. Gehen Sie fort. (Erregt.) Gehen Sie, lassen
Sie mich! Führt mich fort, daß ich niemand mehr sehe. Ich bin müde,
schrecklich müde.

=Priester.= Also dann leben Sie wohl.

=Adjutant= (tritt ein).


Zehnter Auftritt.

    =Die Vorigen= und der =Adjutant=. =Boris= sitzt im Hintergrund.

=Adjutant.= Nun, wie ist’s?

=Priester.= Schrecklicher Trotz und Eigensinn.

=Adjutant.= Er will also weder den Eid leisten noch dienen?

=Priester.= Unter keinen Umständen.

=Adjutant.= Dann muß er ins Lazarett.

=Priester.= Ach so, Sie wollen ihn für krank erklären? Das ist
allerdings bequemer. Solches Beispiel wirkt leicht ansteckend.

=Adjutant.= Er soll auf seinen Geisteszustand untersucht werden. Das
ist so befohlen.

=Priester.= Gewiß, gewiß. Ich habe die Ehre. (Er geht ab.)


Elfter Auftritt.

    =Die Vorigen= ohne Priester.

=Adjutant= (auf Boris zutretend). Bitte. Ich habe Befehl, Sie
fortzuführen.

=Boris.= Wohin?

=Adjutant.= Zunächst ins Hospital, wo Sie mehr Ruhe haben und Zeit zum
Nachdenken ...

=Boris.= Ich habe längst alles überlegt. Also fahren wir. (Er geht ab.)



Verwandlung.


Empfangszimmer im Lazarett.

    Ober- und Unterarzt, ein kranker Offizier im Kittel, Wärter in
    Blusen.


Erster Auftritt.

    =Ein kranker Offizier.= =Oberarzt.= =Unterarzt.= =Wärter.=

=Kranker.= Ich sage Ihnen, Sie machen mich hier krank. Habe mich
mehrfach schon ganz gesund gefühlt.

=Oberarzt.= Regen Sie sich nur nicht auf. Ich bin durchaus
einverstanden, Sie zu entlassen; aber Sie wissen selbst, daß die
Freiheit für Sie gefährlich ist. Wenn ich wüßte, daß Sie gute Pflege
haben ...

=Kranker.= Sie denken, ich würde wieder trinken? Nein, ich hab’ meinen
Denkzettel weg. Dagegen wirkt jeder Tag, den ich hier noch verbringe,
höchst schädlich auf mich. Sie tun das gerade Gegenteil von dem --
(erregt) was Sie müßten. Sie sind grausam. Sie haben es freilich gut ...

=Oberarzt.= Beruhigen Sie sich. (Er gibt den Wärtern ein Zeichen.)

=Wärter= (treten von hinten heran).

=Kranker.= Sie haben gut von Freiheit reden; was wird aber aus
unsereins zwischen all den Verrückten? (Zu den Wärtern.) Was schleichst
du da heran, Kerl! Scher dich fort!

=Oberarzt.= Ich bitte Sie, beruhigen Sie sich.

=Kranker.= Und ich bitte Sie und fordere Sie auf, mich zu entlassen.
(Er kreischt laut auf und stürzt vorwärts.)

=Wärter= (packen ihn).

    (Kampf; der Kranke wird abgeführt.)


Zweiter Auftritt.

    =Oberarzt.= =Unterarzt.=

=Unterarzt.= Geht die Sache wieder los? Beinah’ hätte er Sie gepackt.

=Oberarzt.= Säufer und ... nichts zu machen. Kleine Besserung ist
allerdings zu konstatieren.

=Adjutant= (tritt ein).


Dritter Auftritt.

    =Die Vorigen= und der =Adjutant=.

=Adjutant.= Guten Tag.

=Oberarzt.= Guten Morgen.

=Adjutant.= Ich bringe Ihnen einen interessanten Fall. Fürst
Tscheremschanow, der seiner Militärpflicht genügen soll, weigert sich
auf Grund der Bibel. Zunächst wurde er zur Gendarmerie geschafft; die
erklärt sich für inkompetent und findet ihn nicht verdächtig. Dann hat
der Pope ihn ins Gebet genommen -- ebenfalls umsonst.

=Oberarzt= (lacht). Und nun kommen Sie, wie stets, zu uns als letzter
Instanz. Na, schaffen Sie den Herrn mal her.

=Unterarzt= (geht hinaus).


Vierter Auftritt.

    =Die Vorigen= ohne Unterarzt.

=Adjutant.= Soll ein sehr gebildeter junger Mensch sein. Dabei eine
reiche Braut. Höchst merkwürdig. Ich glaube wirklich, daß er hier am
besten aufgehoben ist.

=Oberarzt.= Na ja, ~mania simplex~ ...

=Boris= (wird hereingeführt).


Fünfter Auftritt.

    =Die Vorigen= und =Boris=.

=Oberarzt.= Treten Sie näher. Setzen Sie sich, bitte. Wir wollen uns
etwas unterhalten. (Zum Adjutanten.) Lassen Sie uns allein.

=Adjutant= (geht ab).


Sechster Auftritt.

    =Die Vorigen= ohne Adjutant.

=Boris.= Wenn es sich einrichten läßt, möchte ich Sie bitten, falls Sie
mich einsperren wollen, dieses recht bald zu tun, damit ich zur Ruhe
komme.

=Oberarzt.= Entschuldigen Sie, wir müssen unbedingt die bestehenden
Vorschriften befolgen. Nur ein paar Fragen. Was empfinden Sie? Welches
Leiden haben Sie?

=Boris.= Gar keins. Ich bin vollkommen gesund.

=Oberarzt.= Gewiß; Sie handeln aber nicht so wie alle anderen Menschen.

=Boris.= Ich handle so, wie mein Gewissen mir befiehlt.

=Oberarzt.= Sie haben sich geweigert, Ihrer Militärpflicht zu genügen.
Wie motivieren Sie das?

=Boris.= Ich bin Christ und kann deswegen nicht töten.

=Oberarzt.= Man muß doch aber sein Vaterland gegen äußere Feinde
verteidigen, muß den Feind im Innern, den Feind der öffentlichen
Ordnung im Zaum halten.

=Boris.= Das Vaterland greift niemand an; Feinde der öffentlichen
Ordnung sind in den Kreisen der Regierenden weit häufiger als unter
denen, die von der Regierung vergewaltigt werden.

=Oberarzt.= Das heißt -- wie meinen Sie das?

=Boris.= Eine der Hauptursachen alles Elends bei uns in Rußland ist der
Branntwein. Er wird von der Regierung verkauft. Falsche Religionen,
die zu Lug und Trug verleiten, werden von der Regierung verbreitet.
Der Militärdienst, dessen Ableistung man von mir verlangt und der die
Sittlichkeit am meisten untergräbt -- wird von der Regierung verlangt.

=Oberarzt.= Ihrer Ansicht nach sind also Regierung und Staat
überflüssig?

=Boris.= Das weiß ich nicht. Dagegen weiß ich bestimmt, daß ich an dem
Bösen nicht teilnehmen darf.

=Oberarzt.= Was wird dann aber aus der Welt? Wir haben doch unsere
Vernunft bekommen, um sie auch für Zukünftiges zu gebrauchen.

=Boris.= Und ebenso, um einzusehen, daß die soziale Ordnung nicht
mittels Gewalt, sondern auf gütlichem Wege aufrechterhalten wird, und
daß die Weigerung eines einzelnen, am Bösen teilzunehmen, keine Gefahr
bedeutet.

=Oberarzt.= Jetzt möchte ich Sie ein wenig untersuchen. Bitte, legen
Sie sich hin. (Er beginnt ihn zu betasten.) Fühlen Sie hier Schmerz?

=Boris.= Nein.

=Oberarzt.= Und hier?

=Boris.= Nein.

=Oberarzt.= Holen Sie tief Atem. Halten Sie den Atem an. Ich danke.
Jetzt gestatten Sie. (Er holt ein Maß hervor und mißt Boris’ Stirn und
Nase.) Jetzt seien Sie so gut, schließen Sie die Augen und gehen ein
paar Schritte.

=Boris.= Schämen Sie sich nicht, solche Sachen zu machen?

=Oberarzt.= Was heißt, wie meinen Sie das?

=Boris.= All diese Dummheiten? Sie wissen doch, daß ich gesund bin;
daß man mich hierher geschickt hat, weil ich mich weigere, an den
Verbrechen der anderen teilzunehmen; daß man auf die Wahrheit nichts zu
erwidern weiß und daß man sich deswegen stellt, als hielte man mich für
anormal! Und dazu leisten Sie Beistand! Das ist häßlich, schändlich.
Lassen Sie das.

=Oberarzt.= Also, Sie wollen die paar Schritte nicht gehen?

=Boris.= Nein, ich will nicht. Sie können mich quälen, wie Sie wollen
-- aber ich werde Ihnen dabei nicht behilflich sein. (Erregt.) Lassen
Sie das!

=Der Oberarzt= (drückt auf die Klingel).

=Zwei Wärter= (treten ein).


Siebenter Auftritt.

    =Die Vorigen= und die =Wärter=.

=Oberarzt.= Beruhigen Sie sich. Ich begreife vollkommen, daß Ihre
Nerven aufgeregt sind. Wollen Sie nicht in Ihr Zimmer gehen?

=Unterarzt= (tritt ein).


Achter Auftritt.

    =Die Vorigen= und der =Unterarzt=.

=Unterarzt.= Da ist Besuch für Tscheremschanow.

=Boris.= Wer denn?

=Unterarzt.= Sarynzew nebst Tochter.

=Boris.= Ich möchte sie gern sehen.

=Oberarzt.= Lassen Sie sie nur kommen. Sie können sie hier empfangen.
(Er geht ab.)

=Unterarzt= und die =Wärter= (folgen ihm).

=Nikolai Iwanowitsch= und =Ljuba= (treten ein).

=Die Fürstin= (blickt zur Tür hinein). Geht vorauf, ich komme später.


Neunter Auftritt.

    =Boris=, =Nikolai Iwanowitsch= und =Ljuba=. Dann =Kranker= und
    =Wärter=.

=Ljuba= (eilt auf Boris zu, faßt ihn am Kopf und küßt ihn). Armer
Boris.

=Boris.= Nein, bedaure mich nicht. Mir ist so gut, so froh, so leicht.
Ich grüße Sie herzlich! (Er küßt Nikolai Iwanowitsch.)

=Nikolai.= Ich bin gekommen, um dir vor allen Dingen eins zu sagen:
in solcher Lage, wie du dich jetzt befindest, ist es weit schlimmer,
sein Vorhaben zu ändern, als es nicht vollständig auszuführen. Zweitens
muß man in solchen Fällen handeln, wie es im Evangelium heißt, nicht
fortwährend daran denken, was man tun und was man sagen wird: »Wenn
man euch vor die Obrigkeit und vor die Gewaltigen führt, so macht euch
keine Sorge, was ihr sagen werdet, denn der Geist Gottes wird aus euch
sprechen.« Das heißt, man muß nicht dann handeln, wenn die Überlegung
es einem befiehlt, sondern wenn man mit seinem ganzen Wesen fühlt, daß
man nicht anders kann.

=Boris.= Das habe ich auch getan. Ich habe nicht die Absicht gehabt,
den Dienst zu verweigern. Als ich aber diese ganze Verlogenheit sah,
diese dicken Folianten,[2] die Akten, Polizisten, Kommissionsmitglieder
mit der Zigarette im Munde -- _konnte_ ich nicht anders: ich _mußte_
das sagen, was ich sagte. Es war schrecklich, aber nur so lange, bis
ich begonnen hatte. Dann war alles einfach, froh und leicht.

    [2] Russisch: ~Serzalo~, etwa: Gerichtsspiegel. Es ist ein
        dreiteiliges mit dem Adler geschmücktes Gestell mit drei
        Ukasen Peters I. das in keinem Amtslokal fehlen darf.

            D. Ü.

=Ljuba= (sitzt da und weint).

=Nikolai.= Die Hauptsache ist: tu nichts um Menschenruhm, um den
Beifall derer zu erringen, auf deren Meinung du Wert legst. Von mir
kann ich sagen, daß wenn du jetzt den Eid leistest und dienst, daß ich
dich dann nicht weniger liebe und verehre, ja noch mehr als früher,
weil nicht das Wert hat, was in der äußeren Welt, sondern was in der
Seele geschieht.

=Boris.= Gewiß, denn was im Inneren geschehen ist, bewirkt auch in der
äußeren Welt Veränderungen.

=Nikolai.= Ja, das möchte ich dir ans Herz legen. Deine Mutter ist
hier. Sie ist schrecklich niedergeschlagen. Was du der tun kannst, um
was sie dich bittet, tu es. Das wollte ich dir sagen.

    (Im Korridor ertönt wahnsinniges Geheul.)

=Ein Kranker= (kommt hereingestürzt).

=Wärter= (hinter ihm, die ihn fortschleppen).

=Ljuba.= Das ist fürchterlich. Und in solcher Umgebung sollst du
bleiben? (Sie weint.)

=Boris.= Es schreckt mich nicht. Mir ist jetzt nichts mehr schrecklich.
Mir ist so gut. Nur eins macht mir Sorge: wie du das alles aufnimmst.
Du mußt mir helfen. Ich bin überzeugt, du wirst mir helfen.

=Ljuba.= Soll ich etwa vergnügt sein?

=Nikolai.= Nicht vergnügt. Das kann man nicht, das bin ich auch nicht.
Ich leide um ihn und würde von Herzen gern an seine Stelle treten;
trotzdem leide ich und weiß, daß das gut ist.

=Ljuba.= Schön. Wann wird er aber entlassen?

=Boris.= Das weiß niemand. Ich denke nicht an die Zukunft. Die
Gegenwart ist so schön. Und du kannst sie mir noch schöner machen.

=Die Fürstin= (tritt ein).


Zehnter Auftritt.

    =Die Vorigen= und die =Fürstin=.

=Fürstin.= Nein, ich kann nicht länger warten. (Zu Nikolai
Iwanowitsch.) Nun, haben Sie ihm zugeredet? Gibt er nach? Boris, mein
Liebling, begreif doch, was ich ausstehe. Fast dreißig Jahre habe ich
nur für dich gelebt, dich aufgezogen, meine Freude an dir gehabt. Und
jetzt, wo alles fertig, wo das Werk vollendet ist, soll ich plötzlich
allem entsagen! Ins Gefängnis -- diese Schande ... Nein, das ertrage
ich nicht. Boris ...

=Boris.= Mama, so hör doch.

=Fürstin.= Weshalb reden Sie denn keinen Ton? Sie haben ihn ins
Verderben gestürzt, Sie müssen ihn zur Vernunft bringen. Ljuba, sprich
du doch mit ihm.

=Ljuba.= Was kann ich ausrichten!

=Boris.= Mama, begreif doch endlich, daß es Dinge gibt, die man nicht
fertig bringt, ebensowenig fertig bringt wie das Fliegen. Dazu gehört
für mich das Dienen.

=Fürstin.= Ach, das bildest du dir ein. Unsinn, alle haben gedient
und dienen noch. Du und Nikolai Iwanowitsch, ihr habt euch da ein
Christentum ausgedacht, das gar keins ist. Eine Satanslehre, die nichts
als Leiden schafft.

=Boris.= Es steht so im Evangelium.

=Fürstin.= Gar nichts steht da, und wenn es so dasteht, ist das sehr
dumm ausgedrückt. Boris, mein Herzensjunge, hab doch Mitleid. (Sie
fällt ihm um den Hals und weint.) Mein ganzes Leben war nichts als
Kummer. Der einzige Sonnenstrahl warst du, und nun machst auch du mir
diese Schmerzen. Boris, hab doch Erbarmen.

=Boris.= Mama, es wird mir schrecklich schwer, aber ich kann dir nichts
sagen.

=Fürstin.= Schlag es mir nicht ab, versprich, daß du dienen wirst.

=Nikolai.= Sag, du würdest es dir überlegen, und tu das.

=Boris.= Also schön. Aber hab auch du mit mir Mitleid, Mama. Ich hab’
es auch nicht leicht. (Man hört wieder Geschrei im Korridor.) Ich bin
hier im Irrenhause und kann leicht selbst den Verstand verlieren.


Elfter Auftritt.

    =Die Vorigen= und der =Oberarzt=.

=Oberarzt= (eintretend). Durchlaucht, Ihr Besuch kann schädliche Folgen
haben. Ihr Sohn ist sehr aufgeregt. Ich glaube, es ist angebracht, den
Besuch zu beenden. Donnerstags und Sonntags ist Empfang, da kommen Sie
bitte um zwölf Uhr.

=Fürstin.= Schön, schön; also ich gehe. Leb wohl, Boris. Überleg es
dir, hab Mitleid mit deiner Mutter, die sich freut, dich Donnerstag
wiederzusehen. (Sie küßt ihn.)

=Nikolai= (reicht ihm die Hand). Überleg mit Gott, als ob du morgen
sterben müßtest. Nur dann triffst du das Richtige. Leb wohl.

=Boris= (tritt zu Ljuba). Und was wirst du mir sagen?

=Ljuba.= Ich kann nicht lügen. Ich verstehe nicht, warum du dich und
andere quälst. Ich verstehe es nicht und kann dir nichts sagen. (Sie
geht weinend ab. Hinter ihr alle übrigen, außer Boris.)


Zwölfter Auftritt.

    =Boris= allein.

=Boris.= Ach, wie ist das schwer. Ach, wie schwer! Herrgott, hilf mir.
(Er betet.)

=Wärter= (treten mit dem Anstaltskittel ein).


Dreizehnter Auftritt.

    =Boris= und die =Wärter=.

=Ein Wärter.= Kleiden Sie sich gefälligst um.

=Boris= (gehorcht).



Vierter Aufzug.


Ein Jahr später in Moskau.

    Saal in Sarynzews Haus, der zu einem Tanzabend mit
    Klavierbegleitung hergerichtet ist. Diener stellen
    Blattpflanzen vor dem Flügel auf. Maria Iwanowna tritt in
    elegantem Seidenkleid mit Alexandra Iwanowna ein.


Erster Auftritt.

    =Maria Iwanowna.= =Alexandra Iwanowna= und die =Diener=.

=Maria.= Was redest du da von einem Ball? Das ist doch kein Ball,
sondern einfach ein Tanzkränzchen, ~thé dansant~, wie man früher sagte.
Ich kann doch meine Kinder nicht nur bei anderen Leuten tanzen lassen.
Bei Makows haben sie Theater gespielt, überall getanzt -- da muß ich
mich doch revanchieren.

=Alexandra.= Ich fürchte nur, Nikolai ist nicht sehr entzückt davon.

=Maria.= Was kann ich dabei ändern? (Zu einem Diener.) Hier stellen
Sie die Pflanzen hin. Gott weiß, wie sehr ich mich bemühe, ihm alle
Unannehmlichkeiten aus dem Wege zu räumen. Ich glaube übrigens, er ist
jetzt schon nicht mehr so anspruchsvoll.

=Alexandra.= O nein; er zeigt es nur nicht mehr so. Nach Tisch ist er
sehr verstimmt in sein Zimmer gegangen.

=Maria.= Was kann ich dabei machen? Was soll ich anfangen? Wir müssen
doch alle leben. Sind jetzt sieben Kinder. Wenn man ihnen nicht ab und
an zu Hause ein kleines Vergnügen bietet, stellen sie Gott weiß was an.
Ich bin nur glücklich, daß es mit Ljuba so gekommen ist.

=Alexandra.= Hat er schon seinen Antrag gemacht?

=Maria.= So ungefähr. Er hat mit ihr gesprochen, und sie hat ihm ihr
Jawort gegeben.

=Alexandra.= Das ist wieder ein schwerer Schlag für ihn.

=Maria.= Aber er weiß es doch. Muß es längst wissen.

=Alexandra.= Er kann ihn nicht ausstehen.

=Maria= (zu den Dienern). Stellen Sie die Früchte aufs Büfett. -- Wen?
Alexander Michailowitsch? Natürlich liebt er ihn nicht, weil Alexander
der verkörperte Widerspruch gegen all seine Theorien ist: ein lieber,
guter, angenehmer Mensch und dabei Weltmann. Ach, dieser unglückliche
Boris, der wie ein Alp auf mir lastet -- was macht er eigentlich?

=Alexandra.= Lisa war bei ihm. Er ist immer noch »dort«. Soll
schrecklich abgemagert sein; die Ärzte fürchten für sein Leben oder
seinen Verstand.

=Maria.= Den hat er mit seinen Ideen tatsächlich so weit gebracht.
Warum mußte er zugrunde gehen! Ich habe die Verbindung übrigens nie
gewünscht.

=Ein Klavierspieler= (tritt ein).


Zweiter Auftritt.

    =Die Vorigen= und der =Klavierspieler=.

=Maria.= Sie sind der Klavierspieler?

=Klavierspieler.= Jawohl, gnädige Frau.

=Maria.= Bitte, nehmen Sie Platz. Es dauert noch etwas. Vielleicht
wünschen Sie Tee?

=Klavierspieler.= Nein, danke. (Er geht zum Flügel.)

=Maria.= War stets dagegen. Ich hatte Boris sehr gern, trotzdem war er
keine Partie für Ljuba. Besonders, als er sich für Nikolai Iwanowitschs
Ideen begeisterte.

=Alexandra.= Erstaunlich bleibt doch diese Überzeugungskraft! Was hat
er auszustehen! Man sagt ihm, wenn er nicht nachgäbe, würde er entweder
im Irrenhause bleiben oder auf Festung kommen. Trotzdem wiederholt er
stets dasselbe. Und wie Lisa sagt, ist er froh, ja heiter gestimmt.

=Maria.= Diese Fanatiker. Da ist übrigens Alexander Michailowitsch.

=Alexander Michailowitsch Starkowski= (elegante Erscheinung im Frack,
tritt ein).


Dritter Auftritt.

    =Die Vorigen= und =Starkowski=.

=Starkowski.= Ich komme wohl zu früh? (Er küßt beiden Damen die Hand.)

=Maria.= Um so besser.

=Starkowski.= Wie geht es Ihrem Fräulein Tochter? Sie wollte beim Tanz
alles Versäumte nachholen, und ich hatte die Absicht, ihr zu helfen.

=Maria.= Sie macht die Kotillonsachen zurecht.

=Starkowski.= Da werde ich ihr helfen -- darf ich?

=Maria.= Sehr liebenswürdig.

=Starkowski= (will gehen).

=Ljuba= (kommt ihm mit einem Kissen voll Orden und Bändern entgegen).


Vierter Auftritt.

    =Die Vorigen= und =Ljuba=.

=Ljuba= (in Abendtoilette, nicht dekolletiert). Ach, da sind Sie. Das
ist schön. Sie können mir helfen. Da im Gastzimmer liegen noch zwei
Kissen, die bringen Sie bitte her. Guten Abend, guten Abend!

=Starkowski.= Ich eile, ich fliege. (Er geht ab.)


Fünfter Auftritt.

    =Maria Iwanowna.= =Alexandra Iwanowna.= =Ljuba.=

=Maria= (zu Ljuba). Hör mal, Ljuba. Heute kommen Bekannte, die
Anspielungen machen und Fragen stellen. Darf ich die Verlobung
bekanntgeben?

=Ljuba.= Ach nein, Mama, nein. Wozu? Laß sie doch fragen. Es ist Papa
so unangenehm.

=Maria.= Aber er weiß es doch, oder errät es. Früher oder später muß
man ihn doch einweihen. Ich denke, es ist am besten, heute alles
bekanntzugeben. Es weiß ja jedes Kind ...

=Ljuba.= Nein, nein, Mama, bitte nicht. Du verdirbst mir den ganzen
Abend. Es ist wirklich nicht nötig.

=Maria.= Wie du willst, mein Kind.

=Ljuba.= Oder höchstens ganz gegen Schluß, eh’ wir zu Tisch gehen.

=Starkowski= (kommt).


Sechster Auftritt.

    =Die Vorigen= und =Starkowski=.

=Ljuba.= Nun, haben Sie die Sachen?

=Maria.= Also ich werde mal nach Natalie sehen. (Sie geht mit Alexandra
Iwanowna ab.)


Siebenter Auftritt.

    =Ljuba= und =Starkowski=.

=Starkowski= (trägt drei Kissen, von denen er eins mit dem Kinn stützt
und unterwegs fallen läßt). Bitte, bemühen Sie sich nicht, ich hebe es
sofort auf.

=Ljuba.= Ach, was haben Sie da gemacht! Hätten die Sachen richtig
verteilen müssen. Wanja, komm mal her.


Achter Auftritt.

    =Die Vorigen= und =Wanja=.

=Wanja= (bringt noch mehr Kissen). Jetzt sind es alle. Ljuba, Alexander
Michailowitsch und ich haben gewettet, wer am meisten Orden bekommt.

=Starkowski.= Du hast es gut, du kennst alle, ich dagegen muß die
Mädchenherzen erst erobern, um meine Belohnung zu erhalten. Trotzdem
gebe ich dir vierzig Points vor.

=Wanja.= Dafür bist du auch Bräutigam und ich noch ein Schuljunge.

=Ljuba.= Wanja, geh doch bitte in mein Zimmer und hol mir den Gummi und
das Nadelkissen von der Etagere.

=Wanja= (setzt sich in Bewegung).

=Ljuba.= Aber mach um Gottes willen nichts entzwei!

=Wanja.= Alles mach’ ich entzwei. (Er läuft fort.)


Neunter Auftritt.

    =Ljuba= und =Starkowski=.

=Starkowski= (faßt Ljuba bei der Hand). Ljuba, darf ich? Ich bin so
glücklich. (Er küßt ihre Hand.) Die Masurka ist mein, aber die genügt
mir nicht. Dabei kann man sich so wenig unterhalten. Und ich habe so
viel auf dem Herzen. Darf ich meinen Eltern telegraphieren, daß ich
glücklicher Bräutigam bin?

=Ljuba.= Ja, heute abend.

=Starkowski.= Und noch eins: wie wird dein Vater die Nachricht
aufnehmen? Habt ihr mit ihm gesprochen, ja?

=Ljuba.= Ich nicht. Aber ich werde es ihm sagen. Er wird die Nachricht
aufnehmen, wie alles, was die Familie betrifft; wird sagen: tu, was du
für richtig hältst. Aber innerlich wird er traurig sein.

=Starkowski.= Weil ich nicht Tscheremschanow bin, sondern Kammerjunker
und Adelsmarschall?

=Ljuba.= Ja. Ich habe mit mir selbst gekämpft, mich seinetwillen
belogen. Nicht, weil ich ihn zu wenig liebe, kann ich nicht auf das
eingehen, was er will, sondern weil ich mich nicht verstellen kann.
Mein sehnlicher Wunsch ist: leben, leben!

=Starkowski.= Das ist auch das einzig Wahre. Na, aber Tscheremschanow?

=Ljuba= (erregt). Sprich nicht von ihm. Ich könnte mich hinreißen
lassen, ihn zu verurteilen, jetzt, wo er leidet. Und ich weiß, daß das
daher rührt, daß ich vor ihm schuldig bin. Ich weiß aber auch, daß es
eine Liebe, eine wahre Liebe gibt, die ich für ihn nie empfunden habe.

=Starkowski.= Ljuba, ist das wahr?

=Ljuba.= Du möchtest von mir hören, daß ich diese wahre Liebe für dich
empfinde? Aber das kann ich nicht. Gewiß, ich liebe dich anders --
aber auch nicht richtig. Wenn man das eine und das andere zusammentun
könnte ...

=Starkowski.= Nun, ich bin schon zufrieden. Ljuba! (Er küßt ihr die
Hand.)

=Ljuba= (abwehrend). Nein, wir wollen hier aufräumen. Da kommen schon
Gäste.

=Die Fürstin= (kommt mit =Tonja= und einem kleinen Mädchen).


Zehnter Auftritt.

    =Die Vorigen= und die =Fürstin= mit =Tonja= und dem kleinen
    =Mädchen=.

=Ljuba.= Mama muß sofort erscheinen.

=Fürstin.= Sind wir die ersten?

=Starkowski.= Irgend jemand muß den Anfang machen. Vielleicht wird
nächstens eine Gummipuppe erfunden, die immer die erste ist.

=Stefan= (tritt ein).

=Wanja= (bringt die gewünschten Sachen).


Elfter Auftritt.

    =Die Vorigen.= =Stefan= und =Wanja=.

=Stefan.= Ich hoffte, Sie gestern bei den Italienern zu treffen?

=Tonja.= Wir waren bei Tante; haben Armenkleider genäht.

=Studenten=, =Damen=, =Maria Iwanowna=, eine =Gräfin= (kommen).


Zwölfter Auftritt.

    =Die Vorigen.= =Maria Iwanowna=, die =Gräfin=, =Studenten= und
    =Damen=.

=Gräfin.= Werden wir Nikolai Iwanowitsch nicht sehen?

=Maria.= Nein, er kommt nie aus seinem Zimmer.

=Starkowski.= Bitte zur Quadrille die Herrschaften. (Er klatscht in die
Hände. Man nimmt Aufstellung und tanzt.)

=Alexandra= (tritt zu Maria Iwanowna). Er ist schrecklich erregt. War
bei Boris, und als er nach Hause kommt, sieht er die Vorbereitungen
zum Ball. Jetzt will er fort. Ich stand an der Tür und hörte seine
Unterhaltung mit Alexander Petrowitsch.

=Maria.= Worüber denn?

=Starkowski.= ~Rond des Dames. Les cavaliers en avant.~

=Alexandra.= Er erklärt es für unmöglich, hier weiter zu leben, und
geht fort.

=Maria.= Was für ein Quälgeist ist dieser Mann! (Sie geht ab.)



Verwandlung.


Nikolai Iwanowitschs Zimmer.

    Gedämpfte Klänge der Musik. Nikolai Iwanowitsch, im Überzieher,
    legt einen Brief auf den Tisch. Bei ihm der zerlumpte Alexander
    Petrowitsch.


Erster Auftritt.

    =Nikolai Iwanowitsch= und =Alexander Petrowitsch=.

=Alexander.= Seien Sie unbesorgt, bis zum Kaukasus kommen wir ohne
einen Groschen. Und dort richten Sie sich schon ein.

=Nikolai.= Bis Tula fahren wir, und dann geht’s zu Fuß. Nun ist alles
fertig. (Er legt den Brief mitten auf den Tisch und will hinausgehen.
Da stößt er auf Maria Iwanowna.)


Zweiter Auftritt.

    =Nikolai Iwanowitsch=, =Alexander Petrowitsch= und =Maria
    Iwanowna=.

=Nikolai.= Nun, was willst du hier?

=Maria.= Was ich will? Ich will verhindern, daß du deine Grausamkeit
auf die Spitze treibst. Warum das? Warum?

=Nikolai.= Weil ich nicht länger so leben kann. Ich kann dieses
entsetzliche, durch und durch unmoralische Leben nicht ertragen.

=Maria.= Das ist fürchterlich. Mein Leben, das ich ganz dir und den
Kindern widme, soll plötzlich unmoralisch sein! (Sie erblickt Alexander
Petrowitsch.) ~Renvoyez au moins cet homme. Je ne veux pas qu’il soit
témoin de cette conversation.~

=Alexander.= ~Je comprends, madame; je pars aussitôt.~[3]

    [3] »Schick wenigstens diesen Menschen fort. Ich will nicht,
        daß er Zeuge dieser Unterhaltung wird.«

        »Ich verstehe, gnädige Frau. Ich reise sofort ab.«

=Nikolai.= Erwarten Sie mich dort, Alexander Petrowitsch, ich komme
sogleich.

=Alexander= (geht ab).


Dritter Auftritt.

    =Nikolai Iwanowitsch= und =Maria Iwanowna=.

=Maria.= Was kannst du mit solchem Menschen gemein haben? Weshalb steht
er dir näher als deine Frau? Das ist einfach unverständlich. Wohin
willst du jetzt?

=Nikolai.= Ich habe dir einen Brief hinterlassen. Ich wollte nicht mit
dir sprechen; es wird mir zu schwer. Wenn du aber willst, werde ich dir
alles sagen, so ruhig ich nur kann.

=Maria.= Nein, ich kann dich nicht verstehen. Weshalb haßt und
folterst du dein Weib, das dir alles hingegeben hat. Sag: habe ich
Bälle besucht, mich geputzt, kokettiert? Mein ganzes Leben gehörte der
Familie. Alle Kinder habe ich selbst genährt, erzogen; im letzten Jahre
lag die ganze Last der Erziehung und all die geschäftlichen Sorgen auf
meinen Schultern ...

=Nikolai= (sie unterbrechend). Das kam daher, weil du nicht so leben
wolltest, wie ich dir vorschlug.

=Maria.= Ach, das ist ja unmöglich. Frag die ganze Welt. Wie kann ich
die Kinder ohne jeden Unterricht lassen, wie deine Absicht ist, und
selbst waschen und kochen.

=Nikolai.= Das habe ich nie gewollt.

=Maria.= Na, dann ungefähr so. Nein, du willst Christ sein, willst
Gutes tun, sagst, du liebst die Menschen. Warum folterst du dann die
Frau, die dir ihr ganzes Leben hingegeben hat?

=Nikolai.= Wieso foltere ich dich? Ich liebe dich, aber ...

=Maria.= Ist das keine Tortur, wenn du mich verstößt und fortgehst? Was
werden die Leute sagen? Eins von beiden ist nur möglich: entweder bin
ich ein verworfenes Frauenzimmer, oder du bist verrückt.

=Nikolai.= Vielleicht bin ich verrückt; jedenfalls kann ich so nicht
weiterleben.

=Maria.= Was ist denn Schreckliches dabei, daß ich den ganzen Winter
ein einziges Mal -- in ewiger Sorge, es könnte dir unangenehm sein --
bei uns tanzen lasse! Frag Manja und Barbara Wassiljewna -- alle haben
mir gesagt, es ginge nicht anders, es sei unbedingt nötig. Und das soll
nun ein Verbrechen sein, für das ich diese Schande auf mich nehmen muß!
Ja, nicht nur Schande -- das Schlimmste ist, daß du mich nicht mehr
liebst; du liebst die ganze Welt, bis zu diesem betrunkenen Alexander
Petrowitsch -- -- und dennoch liebe ich dich, kann nicht ohne dich
leben. Warum das, warum? (Sie weint.)

=Nikolai.= Du willst mein Leben, mein geistiges Leben nicht verstehen.

=Maria.= Ich will es, kann es aber nicht. Ich sehe, daß dein
Christentum bewirkt, daß du mich, deine Familie haßt. Wozu das nötig
ist, begreife ich nicht.

=Nikolai.= Andere begreifen es.

=Maria.= Wer denn? Alexander Petrowitsch, der dich anbettelt?

=Nikolai.= Er und andere, wie Tonja und Wassili Nikanorowitsch. Aber
darauf kommt es nicht an. Wenn niemand mich verstehen würde, würde das
nichts ändern.

=Maria.= Wassili Nikanorowitsch hat Buße getan und sein Amt wieder
angetreten. Tonja tanzt in diesem Augenblick und flirtet mit Stefan.

=Nikolai.= Das ist sehr traurig, kann aber nicht bewirken, daß Schwarz
Weiß wird, und kann mein Leben nicht ändern. Mascha! Ich bin für
dich nicht nötig. Laß mich gehen. Ich habe versucht, an eurem Leben
teilzunehmen, in dieses Leben das hineinzutragen, was für mich alles
bedeutet. Es ist unmöglich. Die Folge ist nur, daß ich euch und mich
quäle. Mich nicht nur quäle, sondern das Werk, das ich vorhabe,
zuschanden mache. Jeder Mensch, wie zum Beispiel dieser Alexander
Petrowitsch, hat das Recht, mir zu sagen, ich sei ein Betrüger, der
nicht so handelt, wie er spricht, der nach dem Evangelium Armut
predigt, selbst aber in Luxus lebt unter dem Vorwande, alle Habe an
seine Frau abgetreten zu haben.

=Maria.= Du schämst dich vor den Leuten? Kannst du dich darüber nicht
erheben?

=Nikolai.= Ich schäme mich nicht -- oder doch nur wenig -- aber ich
richte das Werk Gottes zugrunde.

=Maria.= Du hast selbst gesagt, daß dieses Werk auch dann geschieht,
wenn wir uns ihm widersetzen. Doch darum handelt es sich nicht. Sag,
was du von mir forderst.

=Nikolai.= Das habe ich schon gesagt.

=Maria.= Aber Nikolai, du weißt doch, daß das unmöglich ist. Bedenk
doch, Ljuba soll jetzt heiraten. Wanja bezieht die Universität. Mischa
und Katja besuchen die Schule -- soll denn das alles unterbrochen
werden?

=Nikolai.= Also was soll ich jetzt tun?

=Maria.= Was du selbst predigst: ausharren, uns lieben. Wird dir das so
schwer? Ertrag nur unsere Gegenwart, entzieh dich uns nicht. Was quält
dich denn so?

=Wanja= (kommt hereingelaufen).


Vierter Auftritt.

    =Die Vorigen= und =Wanja=.

=Wanja.= Mama, du wirst gerufen.

=Maria.= Sag, ich könnte jetzt nicht. Geh, geh.

=Wanja.= Komm aber bald. (Er geht ab.)


Fünfter Auftritt.

    =Nikolai Iwanowitsch= und =Maria Iwanowna=.

=Nikolai.= Du willst nichts sehen und mich nicht begreifen.

=Maria.= Ich will schon, aber ich kann nicht.

=Nikolai.= Nein, du willst nicht, wir kommen immer mehr auseinander.
Dring einmal in mein Inneres ein, versetz dich einen Augenblick in
meinen Zustand, so wirst du mich verstehen. Zunächst ist unser ganzes
Leben hier unmoralisch. Du bist böse über dieses Wort, ich kann aber
ein Leben, das ganz und gar auf Ausbeutung anderer beruht, nicht
anders nennen. Das Geld, von dem ihr lebt, ist der Ertrag des Landes,
das ihr dem Volk abgenommen habt. Außerdem sehe ich, daß dieses
Leben die Kinder verdirbt. »Wehe dem, der dieser Geringsten einen
ärgert«, heißt es; ich aber sehe, wie die Kinder vor meinen Augen
verdorben werden und zugrunde gehen. Ich kann es nicht mit ansehen, daß
erwachsene Menschen, gleich Sklaven, in Livreen gesteckt werden und uns
bedienen müssen. Jedes Mittagessen ist für mich eine Qual.

=Maria.= Aber das war doch immer so, bei allen, im Auslande und überall.

=Nikolai.= Seitdem ich begriffen habe, daß alle Menschen Brüder sind,
kann ich das nicht mehr mit ansehen und darunter leiden.

=Maria.= Es steht doch aber jedem frei. Schließlich kann man sich alles
ausdenken.

=Nikolai= (erregt). Diese Verständnislosigkeit ist aber wirklich
schrecklich. Heute zum Beispiel. Ich bin morgens im Asyl für
Obdachlose, sehe, wie da ein Kind direkt vor Hunger stirbt, wie ein
Knabe Alkoholiker geworden ist, wie eine schwindsüchtige Wäscherin
Wäsche spült. Dann komme ich nach Hause, ein Diener in weißer Binde
öffnet mir die Tür; ich sehe, wie mein Herr Sohn sich von dem Diener
Wasser bringen läßt, sehe diese Armee von Bedienten, die für uns
arbeiten. Darauf fahre ich zu Boris, einem Menschen, der für die
Wahrheit sein Leben läßt, sehe, wie man den gesunden, kräftigen,
entschlossenen Mann mit Vorbedacht dem Wahnsinn und Verderben in
die Arme jagt, um ihn los zu werden. Die Leute wissen, daß er einen
Herzfehler hat, und erregen und reizen ihn, schleppen ihn ins
Irrenhaus. Nein, das ist fürchterlich, fürchterlich. Und dann komme ich
nach Hause und erfahre, daß die eine Tochter, die nicht mich, sondern
die Wahrheit verstanden hatte, daß die gleichzeitig ihrem Bräutigam,
dem sie ihre Liebe versprochen, und der Wahrheit entsagt hat und einen
Lakaien und Lügner heiraten will ...

=Maria.= Nennst du das christlich gedacht?

=Nikolai.= Nein, es ist häßlich, ich fühle mich schuldig; aber ich will
doch nur, daß du dein Ich einmal in das meinige hineinversetzt. Ich
sage nur, sie hat der Wahrheit entsagt ...

=Maria.= Du sagst: der Wahrheit; andere, die meisten, sagen: dem
Irrtum. Wassili Nikanorowitsch glaubte auch, er sei auf falschem Wege
-- jetzt ist er aber in den Schoß der Kirche zurückgekehrt.

=Nikolai.= Nicht möglich!

=Maria.= Er hat Lisa geschrieben; sie wird dir den Brief zeigen. Lauter
vorübergehende Erscheinungen. So auch mit Tonja; ganz zu geschweigen
von Alexander Petrowitsch, der die Sache einfach ausnutzt.

=Nikolai= (ärgerlich). Einerlei. Ich bitte nur, mich zu verstehen.
Wahrheit bleibt für mich stets Wahrheit. Aber das alles tut sehr weh.
Dort sterben Leute Hungers, hier sehe ich diesen Ball, der Hunderte
verschlingt. Ich kann so nicht leben. Hab Erbarmen mit mir, ich bin am
Ende meiner Kraft. Laß mich gehen. Leb wohl.

=Maria.= Wenn du gehst, gehe ich mit dir. Wenn ich dich nicht begleiten
kann, werfe ich mich unter die Räder des Zuges, mit dem du fortfährst.
Dann mögen alle zugrunde gehen, mit Mischa und Katja. Mein Gott, mein
Gott! Diese Qual! Wofür das, wofür? (Sie weint.)

=Nikolai= (in der Tür). Alexander Petrowitsch, gehen Sie nach Hause.
Ich fahre nicht. Ich bleibe, schön. (Er legt den Rock ab.)

=Maria= (umarmt ihn). Wir haben nicht mehr lange zu leben. Laß uns
unser Leben nicht nach achtundzwanzigjähriger Ehe verderben. Ich werde
keine Bälle mehr geben. Aber straf mich nicht auf diese Weise.


Sechster Auftritt.

    =Die Vorigen.= =Wanja= und =Katja=.

=Wanja= und =Katja= (kommen hereingelaufen). Mama, komm doch schnell.

=Maria.= Ich komme schon, ich komme. Also wollen wir uns gegenseitig
verzeihen. (Sie geht mit Wanja und Katja ab.)


Siebenter Auftritt.

    =Nikolai Iwanowitsch= allein.

=Nikolai.= Ein Kind, genau wie ein Kind, oder ein listiges Weib. Nein,
ein listiges Kind. Ja, ja. Herr Gott, ich sehe, du willst nicht, daß
ich an deinem Werk mitarbeite; ich soll erniedrigt werden, auf daß
alle mit dem Finger auf mich deuten und sagen: er redet, handelt aber
nicht. Nun, mag es so sein. Du weißt am besten, was not tut. Demut,
Herzenseinfalt. Wenn ich nur zu Ihm gelange.

=Lisa= (kommt).


Achter Auftritt.

    =Nikolai Iwanowitsch= und =Lisa=.

=Lisa.= Verzeihen Sie, ich bringe Ihnen einen Brief von Wassili
Nikanorowitsch. Er schreibt an mich, bittet aber, Ihnen Mitteilung zu
machen.

=Nikolai=. Ist es denn wahr?

=Lisa.= Ja. Soll ich vorlesen?

=Nikolai.= Lies nur.

=Lisa= (liest). »Ich schreibe Ihnen und bitte Sie, Nikolai Iwanowitsch
Mitteilung zu machen. Ich bedaure die Verirrung, in der ich offen
von der heiligen, griechisch-katholischen Kirche abgefallen bin, und
freue mich, in ihren Schoß zurückgekehrt zu sein. Ihnen und Nikolai
Iwanowitsch wünsche ich dasselbe. Bitte, verzeihen Sie mir.«

=Nikolai.= Wie wird man den Ärmsten gequält haben! Trotzdem ist es
schrecklich.

=Lisa.= Dann möchte ich Ihnen noch sagen, daß die Fürstin da ist.
Sie kam schrecklich erregt zu mir nach oben und will Sie unter
allen Umständen sprechen. Sie kommt von ihrem Sohn. Ich glaube, es
ist besser, Sie empfangen sie nicht. Was kann aus der Unterredung
herauskommen?

=Nikolai.= Nein, bring sie nur her. Dies scheint heute ein
schrecklicher Tag der Prüfungen zu sein.

=Lisa=. Also ich hole sie. (Sie geht ab.)


Neunter Auftritt.

    =Nikolai Iwanowitsch= allein.

=Nikolai.= Ja, ja, nur stets daran denken, daß das Leben im Dienste des
Höchsten besteht, daß, wenn Er mir Prüfungen schickt, es geschieht,
weil Er mich für stark genug hält, sie zu ertragen. Sonst wären es
keine Prüfungen ... Vater! hilf mir, nicht meinen, sondern Deinen
Willen zu tun.

=Die Fürstin= (tritt ein).


Zehnter Auftritt.

    =Nikolai Iwanowitsch= und die =Fürstin=.

=Fürstin.= Also man würdigt mich wirklich, empfangen zu werden. Alle
Achtung! Die Hand gebe ich Ihnen nicht, weil ich Sie hasse und verachte.

=Nikolai.= Was ist denn geschehen?

=Fürstin.= Ins Strafbataillon wird er gesteckt. Und das haben Sie
fertig gebracht.

=Nikolai.= Fürstin, wenn Sie etwas von mir wünschen, so sagen Sie
es; wenn Sie mich aber nur schelten wollen, schaden Sie sich selbst.
Kränken können Sie mich nicht, weil ich Sie von ganzem Herzen bedaure
und Mitleid mit Ihnen habe.

=Fürstin.= Schöne Mitleid, dieses Pharisäertum! Nein, Herr Sarynzew,
mich betrügen Sie nicht. Wir kennen Sie jetzt. Meinen Sohn haben Sie
zugrunde gerichtet, das macht Ihnen nichts aus -- aber Sie selbst
geben Bälle, und die Braut meines Sohnes, Ihre Tochter, heiratet einen
anderen, macht eine Partie, die Ihnen gefällt. Dabei predigen Sie
Einfachheit, Rückkehr zur Natur, machen Tischlerarbeit. O, wie ich Sie
verabscheue in Ihrem neuen Pharisäertum!

=Nikolai.= Fürstin, beruhigen Sie sich. Sagen Sie, was Sie von mir
wünschen. Sie sind doch nicht nur hergekommen, um mich zu beschimpfen.

=Fürstin.= Deshalb auch. Ich muß meinen Schmerz auslassen. Und ich
wünsche von Ihnen folgendes. Er wird ins Strafbataillon gesteckt. Das
ertrage ich nicht. Sie haben es dahin gebracht. Sie, Sie, Sie!

=Nikolai.= Nicht ich, sondern Gott. Und Gott sieht, wie sehr Sie mir
leid tun. Widersetzen Sie sich Gottes Willen nicht. Er will Sie prüfen.
Ertragen Sie diese Prüfung.

=Fürstin.= Das kann ich nicht. Mein Sohn war mein ganzes Leben; Sie
haben ihn mir genommen und ins Verderben gestürzt. Da kann ich nicht
ruhig sein. Ich bin zu Ihnen gekommen, um Ihnen das zu sagen. Es ist
mein letzter Versuch. Sie haben ihn unglücklich gemacht, Sie müssen ihn
retten. Fahren Sie hin, bewirken Sie, daß er freigelassen wird. Fahren
Sie zu den Vorgesetzten, zum Zaren, zu wem Sie wollen. Sie sind dazu
verpflichtet. Wenn Sie sich weigern, weiß ich, was ich tue. Sie sind
für ihn verantwortlich.

=Nikolai.= Sagen Sie mir, was ich tun soll. Ich bin zu allem bereit.

=Fürstin.= Ich wiederhole nochmals: Sie müssen ihn retten. Wenn Sie es
nicht tun, sollen Sie es büßen. Ich gehe. (Sie geht ab.)


Elfter Auftritt.

    =Nikolai Iwanowitsch= allein. Dann =Stefan=.

=Nikolai= (legt sich auf das Sofa).

    (Schweigen. Die Tür wird geöffnet. Man hört Musik:
    »Großvatertanz«.)

=Stefan= (eintretend). Papa ist nicht hier, kommt nur.

=Große= und =kleine Paare= (treten ein).


Zwölfter Auftritt.

    =Nikolai Iwanowitsch=, =Stefan= und die =Paare=.

=Ljuba= (erkennt den Vater). Ach, du bist hier, entschuldige.

=Nikolai= (erhebt sich). Es macht nichts.

=Die Paare= (ziehen vorüber).


Dreizehnter Auftritt.

    =Nikolai Iwanowitsch= allein.

=Nikolai.= Der junge Priester hat sich bekehrt; Boris habe ich ins
Unglück gestürzt; Ljuba heiratet. Bin ich wirklich auf falschem Wege?
Ist es verkehrt, an Dich zu glauben? Nein, nein! Vater im Himmel, hilf
mir!



188...; 1900; 1902.


Unter den nachgelassenen Manuskripten Tolstois findet sich weiter
folgende Skizze des fünften Aufzuges, der aus drei Auftritten bestehen
sollte:


Fünfter Aufzug.

    Strafbataillon. Arrestantenzelle. Arrestanten sitzen und liegen
    ringsum. Boris liest aus dem Evangelium vor und legt es aus.

    Ein Arrestant, an dem die Prügelstrafe vollzogen ist, wird
    hereingeführt. »Ach, daß kein Pugatschew über euch kommt!« Die
    Fürstin stürzt herein und wird hinausgetrieben. Zusammenstoß
    mit einem Offizier. Kommando: »Zum Gebet!« Boris wird in eine
    Einzelzelle geschafft, soll gepeitscht werden.


Verwandlung.

    Arbeitszimmer des Kaisers. Zigaretten, Nippsachen, Andenken.
    Die Fürstin wird gemeldet. »Soll warten.« Bittsteller,
    unterwürfig schmeichelnd. Dann die Fürstin. Wird abgewiesen.


Verwandlung.

    Maria Iwanowna spricht mit dem Arzt über die Krankheit Nikolai
    Iwanowitschs. Er hat sich verändert, ist milder geworden, aber
    gleichzeitig mutloser.

    Nikolai Iwanowitsch tritt ein, spricht mit dem Arzt. Alle
    Medizin sei unnütz; der »Geist« sei wertvoller. Seiner Gattin
    zuliebe gibt er nach.

    Es treten ein Tonja mit Stefan, Ljuba mit Starkowski.
    Unterhaltung über den Landbesitz, Nikolai Iwanowitsch bemüht
    sich, die anderen nicht zu kränken. Alle ab. Er bleibt mit
    Lisa. »Ich bin fortwährend im Zweifel, ob ich recht gehandelt
    habe. Ausgerichtet habe ich nichts; im Gegenteil: habe Boris
    ins Unglück gestürzt; Wassili Nikanorowitsch ist zur Kirche
    zurückgekehrt. Ich bin ein Beispiel der Schwäche. Offenbar
    will Gott nicht, daß ich Sein Diener sei. Er hat viele andere
    Diener, erreicht Sein Ziel auch ohne mich. Wenn ich mir das
    deutlich vorhalte, bin ich ruhig.« Lisa ab. Er betet. Die
    Fürstin stürzt herein, tötet ihn. Alle kommen herbeigeeilt;
    er sagt, er hätte sich aus Versehen selbst die tödliche Wunde
    beigebracht. Schreibt noch ein Bittgesuch an den Zaren. Der
    junge Priester kommt mit Duchoborzen. Er stirbt, froh darüber,
    daß der Betrug, den die Kirche verübt, enthüllt ist und daß
    sein Leben einen Sinn bekommen hat.

[Illustration]



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Leo Tolstoi

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    Anna Karenina. Roman. 2 Bände. Nr. 2810--15, 2816--20

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    Die Macht der Finsternis. Drama. Nr. 4133

    Volkserzählungen. Nr. 2556/57

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        *

    N. Gussew und L. Spiro. Gespräche mit Graf Leo Tolstoi in den
        letzten Jahren seines Lebens und Erinnerungen an ihn.
        Nr. 5573


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